Unzeitgemäße Techniken: Historische Narrative künstlerischer Verfahren [1 ed.] 9783412510596, 9783412509491


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Unzeitgemäße Techniken: Historische Narrative künstlerischer Verfahren [1 ed.]
 9783412510596, 9783412509491

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UNZEITGEMÄSSE TECHNIKEN HISTORISCHE NARRATIVE KÜNSTLERISCHER VERFAHREN

MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG, STEFANIE STALLSCHUS (HG.)

Interdependenzen Die Künste und ihre Techniken Band 4

Herausgegeben von Magdalena Bushart und Henrike Haug

Magdalena Bushart | Henrike Haug | Stefanie Stallschus (Hg.)

Unzeitgemäße Techniken Historische Narrative künstlerischer Verfahren

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Vorderseite: Details aus Farbabbildung 5, Abb. 1, Farbabbildung 10 und Abb. 51 in diesem Band Rückseite: Details aus Farbabbildung 7, Farbabbildung 2, Abb. 53 und Farbabbildung 3 in diesem Band Korrektorat: Elena Mohr, Köln Satz: Punkt für Punkt Mediendesign, Düsseldorf

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51059-6

Inhalt

7

Magdalena Bushart und Henrike Haug Die Historisierung künstlerischer Techniken

29

Rachel Danford Materials, techniques, and meanings of the stucco reliefs in Cividale del Friuli

47

Joanna Olchawa Von der Antike zum Alten Testament: Geschichte und Technikikonologie des karolingischen Bronzegusses

73

Antonia Putzger Rückgriff oder Simulation? Zu frühneuzeitlichen Kopierverfahren am Beispiel Michiel Coxcies

97

Elisabeth Furtwängler Facetten des Revivals künstlerischer Druckgrafik im Paris der Nachkriegszeit

119

Andreas Huth „Zum ersten Male wieder seit der Zeit der Renaissance“ Die Wiederentdeckung der Sgraffito-Technik im 19. Jahrhundert

145 Tafelteil 159

Daniel Parello Im Dämmerlicht des Mittelalters Zum Phänomen der Wiederentdeckung der Glasmalerei in der Romantik

179

Christian Berger Künstlerischer Neubeginn durch ein „altmodisches“ Verfahren Jasper Johns und die Enkaustik

195

Magdalena Bushart Unzeitgemäß zeitgemäß Hoch- und Tiefdrucktechniken in der Kunst der Gegenwart

Inhalt I 5

221

Anne Röhl Von Elektronen als Fäden Über den (un-)zeitgemäßen Einsatz textiler Handarbeit in den Videoarbeiten von Beryl Korot und Stephen Beck

245

Oliver Caraco Manets Druckgrafiken im Kontext des Revivals der Ätzradierung Zur materiellen Historizität von Bildpraktiken

267

Bettina Uppenkamp (Un)zeitgemäß und subversiv? Sticken bei Annette Messager und anderen feministischen Künstlerinnen in den 1970er Jahren

283

Olga Moskatova Zum Unzeitgemäßen des Handgemachten? Kameralose Filmpraktiken zwischen Malen mit Licht und „Full Body Film“

297 Bildnachweise

6 I Inhalt

Magdalena Bushart und Henrike Haug

Die Historisierung künstlerischer Techniken

Motive, Formen und Anlässe In unserer mechanisierten und digitalisierten Gegenwart sorgen die Reaktivierung längst totgesagter Verfahren wie der Daguerreotypie1 oder der künstlerisch-kunsthandwerk­ lichen Glasbläserei2, der Einsatz von Kulturtechniken wie Stricken, Häkeln und Sticken3 oder die Pflege traditioneller Medien wie Holzschnitt4 und analoge Fotografie5 für Aufmerksamkeit, aber auch für Irritation: Welchen Stellenwert hat die Wahl solcher unzeit­ gemäßen, weil vom Kanon abweichenden und in Kontrast zu den Rahmenbedingungen unserer Zeit stehenden Techniken, welche Botschaft sollen sie transportieren? Sind sie als bewusster Traditionalismus zu verstehen, als Beschwörung einer besseren Vergangenheit oder als gesellschaftliches Statement, etwa als Geste des Widerstandes gegen die Para­ meter moderner Produktion? Geht es in erster Linie um die Erzeugung besonderer ­äst­he­tischer ­Effekte oder eher um den Versuch, den geschichtlichen Ort der Werke zu ­bestimmen? Ist die Reaktivierung vergangener Techniken gar als Beitrag zu einer sehr zeitgemäßen Debatte zu sehen – wo doch Nachhaltigkeit, Achtsamkeit, Entschleunigung zu Sehnsuchtsworten immer schneller lebender Gesellschaften werden? Fragen nach der inhaltlichen Codierung solcher Anachronien stellen sich keineswegs nur für aktuelle Arbeiten, sondern auch für die Werke anderer Epochen, sofern sie auf nicht mehr allgemein gebräuchliche Techniken zurückgreifen.6 Das Interesse an den künstlerischen Errungenschaften der Vergangenheit, seit jeher ein wichtiger Impulsgeber für das Schaffen der Gegenwart, war zu keinem Zeitpunkt allein auf die äußere Gestalt beschränkt, sondern schloss stets auch die Verfahren mit ein, die ebenso intentional eingesetzt werden können wie die formalen Mittel. Im Mittelalter und in der italienischen ­Renaissance richtete sich der Blick in erster Linie auf die Antike und mit ihr auf Verfahren, deren Existenz durch überlieferte Artefakte bezeugt war, die aber zwischenzeitlich zum Teil nicht mehr geübt und deshalb erst wieder im künstlerisch suchenden Experiment, bisweilen auch durch das Studium von Quellentexten neu erlernt werden mussten. Dazu gehörten etwa der Steinschnitt, der großformatige Bronzehohlguss oder auch die Produktion filigraner Gläser.7 Seit dem späten 18. Jahrhundert gab dann die Archäologie ent-

Die Historisierung künstlerischer Techniken I 7

scheidende Impulse. So führte die Wiederentdeckung von Werken antiker Wandmalerei während der Ausgrabungen in Pompeji zu einer kurzzeitigen, meist auf ein höfisches Umfeld beschränkten Begeisterung für die Enkaustik, und hatten die Erkenntnisse über die Farbigkeit antiker Architektur und Skulptur die Beschäftigung mit farbig gefassten Bildwerken zur Folge.8 Während des 19. Jahrhunderts konnten sich neben dem Fixpunkt Antike weitere Leitbilder etablieren, die freilich nun jeweils nur für bestimmte Gruppen von Künstlern, Kunsttheoretikern und Mäzenen verbindlich wurden. Mal waren es die Fresken des Quattrocento, mal die altniederländischen und altdeutschen Gemälde, die Maler wie Peter Cornelius, Arnold Böcklin oder Otto Modersohn zur Beschäftigung mit Fresko- und Temperamalerei anregten. Dabei handelte es sich um Techniken, die zwar noch als Handwerkswissen präsent waren, aber nicht mehr zur Akademieausbildung gehörten.9 Unterstützung kam hier vor allem von Seiten der Kunsthistoriker und Restauratoren, die sich unter konservatorischen Gesichtspunkten mit dem malerischen Aufbau alter Werke beschäftigten. Die fortschreitende Industrialisierung schließlich brachte Reformbewegungen hervor, die eine generelle Rückkehr zur Handarbeit, bisweilen auch zu vorindustriellen Organisationsformen künstlerischer Produktionsformen propagierten: Man denke nur an William Morris und die auf seinen Ideen basierende englische Arts and Crafts-Bewegung oder an Vorschläge der Historiker Carl Alexander Heideloff und August Reichensperger, die mittelalterliche Bauhütte wieder zu beleben.10 Schon in den hier genannten Beispielen deutet sich an, dass dem retrospektiven Blick eine Vielzahl unterschiedlicher Motive innewohnen kann. Ob älteren oder neueren ­Datums: gemeinsam ist ihnen, dass sich der Einsatz der Verfahren mit dem Bewusstsein ihrer Historizität verbindet. Nur eine Technik, die einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort zugeordnet wird, kann als „unzeitgemäß“ wahrgenommen und daher auch „wiederbelebt“ werden. Mit ihrer Reaktivierung wird das wirkmächtige Narrativ ihrer Herkunft aufgerufen, durch ihren erneuten Einsatz die Vergangenheit evoziert. Und weil die ­Geschichtserzählung sowohl aus der Gegenwart heraus entworfen als auch genutzt wird, lässt sich mit ihrer Hilfe eine wie auch immer geartete „Zeitgenossenschaft“ ­betonen. ­Allerdings – auch das machen die Beispiele deutlich – wird dabei das Verhältnis von „einst“ und „heute“ in jedem Fall neu bestimmt und kann sehr eigene Definitionen erhalten. Schließlich sind die Begründungen für das vorgeführte Revival so unterschiedlich wie die ihnen innewohnenden gegenwärtigen Bedürfnisse und Befindlichkeiten.­ So beginnt das im ersten Teil noch aus dem 10. Jahrhundert stammende Traktat Von den Farben und Künsten der Römer mit der Klage über den Verlust der antiken Kunst­ techniken: Es ist die Zier des Geistes, der Roms Volk auszeichnet, gesunken und dahin die Sorgfalt eines ­weisen Senates, wer wird nun diesen Künsten nachgehen können, welcher jene Meister, reich an Begabung, sich ersannen, wer vermag sie uns zu zeigen?11

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Der Topos vom untergegangenen Ruhm der ewigen Stadt, der sich ähnlich auch in zahlreichen anderen Schriften findet, ist dazu angelegt, die kunsttechnologischen Anleitungen des folgenden Traktats aufzuwerten. Die dort versammelten Rezepte und Handlungs­ anweisungen werden so zu einem Beitrag der Rekonstruktion des verlorenen Wissens; ­ihnen zu folgen bedeutet, sich dem unerreichbaren Vorbild zumindest anzunähern. Dabei propagiert der Autor eine in die Gegenwart gewandte Rezeption antiker Kunstfertigkeit, die, statt in der Trauer um den Verlust zu verharren und das Wissen als unwiderruflich verloren zu definieren, zur Pflege und zur Wiederaufnahme der Künste anregt.12 Weniger das Überleben einiger vorbildlicher Spitzenwerke als der Verfall eines allgemeinen Kunstgeschmacks, der Verlust von Handwerkskunst aufgrund der immer stärker spürbaren Auswirkungen der industriellen Revolution sowie die damit einhergehenden sozialen Fragen waren es, die gut 700 Jahre später William Morris die englische Kunst des Mittelalters zum Vorbild für das Schaffen seiner Zeit erheben ließ. Ihm lag die Rettung bzw. Entwicklung eines neuen Handwerks am Herzen, das nicht nur bessere Produkte hervorbringen, sondern auch zu besseren Produktionsbedingungen für Arbeiter und Kunsthandwerker führen könnte. Die Grundlage dafür müsse, so Morris, ein genaues Studium von Werken der Vergangenheitskunst, insbesondere der „ancient art“ des Mittelalters bilden: For your teachers, they must be Nature and History: as for the first, that you must learn of it is so obvious that I need not dwell upon that now [...]. As to the second, I do not think that any man but one of the highest genius, could do anything in these days without much study of ancient art, and even he would be much hindered if he lacked it. If you think that this contradicts what I said about the death of that ancient art, and the necessity I implied for an art that should be characteristic of the present day, I can only say that, in these times of plenteous knowledge and meagre performance, if we do not study the ancient work directly and learn to understand it, we shall find ourselves influenced by the feeble work all round us [...]. Let us therefore study it wisely, be taught by it, kindled by it; all the while determining not to imitate or repeat it; to have either no art at all, or an art which we have made our own.13

Die direkte Anschauung schloss selbstverständlich auch die Auseinandersetzung mit den Verfahren ein, die für Morris untrennbar mit der Formgebung verbunden waren. Als er beispielsweise versuchte, nach alten Rezepten zu färben, um nicht auf die Vorgaben durch die (im Sinne der Zeit) modernen Anilin-Farben beschränkt zu werden, musste er feststellen, wie viel schon vom Handwerkswissen verloren gegangen war. Deshalb begann er 1872 selbst mit Färbeexperimenten und durchforstete alte Quellentexte nach Färbemitteln und Pflanzen.14 Bei Morris war die Ablehnung industrieller Entwürfe und der Wunsch, zur individu­ellen Handarbeit zurückzukehren, nicht allein kunsttheoretisch, sondern auch sozial begründet: In den von ihm produzierten Luxusprodukten spiegelte sich, paradox genug, die zeitgleich von

Die Historisierung künstlerischer Techniken I 9

Karl Marx formulierte These von der Entfremdung der Arbeit, da in ihren Herstellungsprozessen die Verwerfungen der industrialisierten Produktion wieder aufgehoben werden sollten. Auch die nostalgische Bevorzugung des Handwerkers vor dem Künstler war programmatisch, behauptete sie doch, dass erst die Renaissance die Einheit der Künste im Handwerk aufgegeben habe und die Kunst in der Ausbildung von virtuosen Spezialisten und einzelner Gattungen artifiziell geworden sei. Somit ist bei Morris (wie auch bei John Ruskin) die sozial/ politische Agenda nicht von kunsttheoretischen Positionen des 19. Jahrhunderts zu trennen, und die vermeintlich rein ästhetische Beschäftigung mit mittelalterlichen Ausdrucksmitteln ragt, als hochgradig differenzierte Technikreflektion, in den sozialen Kampf des frühkapitalistischen Arbeiters hinein. Die Mittelalter­begeisterung des 19. Jahrhunderts erweist sich – ähnlich wie die Antikensehnsucht der Renaissance des 15. Jahrhunderts  – nicht als reine ­Wiedergeburt der alten Formen, sondern ist in vielen Bereichen auch mit der Pflege alter Kunsttechnologien verbunden, zumal in Zeiten des nation building die Beschreibung, Sicherung, Pflege sowie die Rekonstruktion des kulturellen Erbes einer Nation grundlegendes handwerkliches Können und Wissen abverlangte. Der verstärkt einsetzende, sich institutionalisierende und teilweise staatlich lancierte und geförderte Denkmalschutz gab dabei neue und wichtige Impulse für die Rückbesinnung und Erforschung alter Verfahren.15 Für die Historisierung der Techniken bildeten bis weit in die Neuzeit hinein neben den Werken selbst und ihrem Status als Produkte einer anderen Zeit die in Techniktraktaten und kunsttheoretischen Schriften überlieferten Entstehungslegenden die wichtigste Grundlage. Schon in der Historia Naturalis des Plinius werden Techniken mit „Erfindern“ verbunden und damit ein „Ursprung“ einzelner Verfahren gesetzt. So berichtet Plinius in Buch 35, Kapitel 44, § 153: Der erste von allen aber, der es unternahm, das Bild eines Menschen am Gesicht selbst in Gips abzuformen und Wachs in diese Gipsform zu gießen und es dann zu verbessern, war Lysistratos aus Sikyon, der Bruder des bereits erwähnten Lysippos. Dieser machte es sich auch zur Aufgabe, den Bildern Ähnlichkeit zu verleihen; vorher bemühte man sich nur um eine schöne Ausführung. Er erfand es auch, von Standbildern Abgüsse zu formen, und dieses Verfahren breitete sich so aus, dass man kein Bildwerk oder Standbild ohne Ton[modell] herstellte. Hieraus geht hervor, dass diese Kunst älter gewesen ist als die Erzgießerei.16

Die vielen Lagen der Verortung und Verzeitlichung, die die Verbindung einer Technik mit einer Erfinderpersönlichkeit ermöglicht, werden hier exemplarisch vorgeführt: das Ver­ fahren ist ursächlich mit der griechisch-städtischen Kultur verbunden; der Erfinder des mechanischen Abformungsverfahrens lässt sich als Bruder von Lysipp, dem berühmten Künstler aus dem Umkreis Alexanders des Großen, genealogisch und historisch verorten. Und schließlich wird die Erfindung als Beitrag zu Kunstentwicklung definiert: Folgt man Plinius, dann bestand ihr Verdienst darin, erstmals eine äußerliche, formale „Ähnlichkeit“ zu generieren, wie sie bis dahin nicht bekannt und auch nicht möglich war.

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In der Tradition der Historia Naturalis sind die „Kunsterfinder“ in Vasaris Viten und – in Variation – in den Nova Reperta des Johannes Stradanus zu sehen. Auch diese Schriften verknüpfen immer wieder Techniken und Kunstfertigkeiten mit bestimmten Personen und Orten, um sie damit auch in ihrer Zeitlichkeit zu betonen. Nach Vasari geht etwa die ­Ölmalerei auf Jan van Eyck zurück, die revolutionären Neuerungen in der Glasmalerei auf Guillaume de Macillat, die Einführung der farbig glasierten Terrakotta auf Luca della ­Robbia und der Kupferstich auf Maso da Finiguerra. In anderen Fällen machen die Werke selbst auf den vermeintlichen Ursprung der jeweiligen Technik aufmerksam. Weil der Steinschnitt als Erfindung jüdischer Künstler verstanden wurde, finden sich beispielsweise auf Gemmen, die im 12. und 13. Jahrhundert am süditalienischen Hof der Staufer geschnitten wurden, auffällige hebräische Buchstaben.17 Dass diese Narrative einer Überprüfung nicht standhalten, versteht sich von selbst: Schließlich sind künstlerische Techniken in komplexe Handlungszusammenhänge eingebunden, entwickeln sich meist nicht momenthaft, sondern über längere Zeiträume hinweg und verändern sich, wenn sich die historischen Verwendungskontexte und Funktionen verändern. Den Autoren war die Problematik durchaus bewusst; Vasari beispielsweise erhielt spätestens 1564 durch Vincenzo Borghini Kenntnis von Cennino Cenninis um 1400 entstandenem Libro dell’arte, in dem sich unter anderem eine Anleitung zum Einsatz ölhaltiger Bindemittel findet. Dennoch sah er keinen Grund, seine Angaben zu van Eyck in der zweiten, erweiterten (Giunta-) Edition der Viten zu korrigieren. Ihm ging es vorrangig darum, eine Fortschrittsgeschichte zu schreiben und das „Alte“ als das „Überkommene“ zu charakterisieren.18 Techniken zu reaktivieren bedeutet jedoch nicht nur eine Position zur Vergangenheit zu beziehen, die unmittelbar auf die Gegenwart zurückwirkt. Es bedeutet auch, sich das Wissen um scheinbar obsolete Verfahren anzueignen und sie veränderten Produktionsbedingungen wie veränderten Formkonzepten anzupassen. Dabei erscheint zweitrangig, ob es sich um zwischenzeitlich verlorenes Wissen handelt, das erst mühsam rekonstruiert werden muss, um ein ungebrochen tradiertes Wissen, das lediglich an Bedeutung verloren hat, oder um Verfahren, die eigentlich neu sind, für die jedoch in einem bewussten Historisierungsprozess Vorläufer in früheren Epochen reklamiert werden. Gleiches gilt für die Umstände der „Wiederentdeckung“, die sich einem Zufall verdanken, aus einer gezielten Suche resultieren oder auf kunsthistorische Forschungsergebnisse reagieren kann. Selbst wenn das Revival reine Behauptung bleibt, weil sich das scheinbar Alte bei näherer Betrachtung doch als etwas vollkommen Neues entpuppt:19 entscheidend und gewollt ist die Markierung einer zeitlichen Distanz, die gleichzeitig hervor- und aufgehoben wird. Denn auch wenn die neuen Werke den alten gleichen mögen, entstehen sie doch unter anderen ästhetischen, funktionalen und gesellschaftlichen Vorzeichen. So groß die Faszination war, die im 16. Jahrhundert von Porphyr ausging, einem Material, das einst der kaiserlichen Repräsentation vorbehalten gewesen war, so intensiv man sich im Umkreis von Herzog Cosimo I. de’ Medici darum bemühte, ein Instrument zu finden, mit dem sich nach antikem Muster der harte Stein bearbeiten ließ: die Werke, die nun entstanden, hatten mit

Die Historisierung künstlerischer Techniken I 11

den Vorbildern nichts zu tun. Auch das Vorhaben der Nazarener, die „Wiedereinführung der Al fresco malerey, so wie sie zu Zeiten des großen Giotto bis auf den göttlichsten ­Raphael in Italien üblich war“20 zu betreiben, führte zu Resultaten, die sich nicht nur in formaler, sondern auch in technischer Hinsicht unübersehbar als Produkte des 19. Jahrhunderts präsentierten. Folgten die Künstler doch in ihren Fresken, die sie 1816/17 für die Casa Bartholdy schufen, keineswegs sklavisch der Tradition einer im feuchten Putz angelegten Malerei, die sie sich mühsam über Texte und über praktische Tipps von den beteiligten (und offensichtlich deutlich besser mit der Materie vertrauten) Handwerkern erarbeiten mussten. Vielmehr kombinierten sie die a fresco gearbeiteten Partien mit mehreren a secco aufgetragenen Schichten, um Farbwirkung und -modellierung des Wandbildes derjenigen eines Ölgemäldes anzugleichen, sie also dem Kunstgeschmack und den Seh­ erfahrungen der eigenen Zeit anzupassen.21 Dazu kommt, dass auch die Materialien und ihre Produktion einem steten Wandel unterliegen: Wer im 15. Jahrhundert mit Metallstift zeichnete, musste zuvor das Zeichenpapier mit einer Mischung aus Knochenmehl, Leim und Wasser grundieren. Als in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts englische Künstler begannen, sich wieder mit der zwischenzeitlich wenig geübten Technik zu beschäftigen, standen ihnen industriell grundierte „metallic notebooks“ mitsamt zugehörigem Stift zur Verfügung.22 Und wer um 1900 mit der Tempera experimentierte, konnte einfach zur ­Farbentube greifen, statt wie in früheren Zeiten Pigmente zu reiben und mit Bindemittel selbst zu mischen.23 Die umfassendste Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den Techniken bot sicherlich das genaue Studium der Objekte selbst, wie es etwa William Morris propagierte. In besonderem Maße gilt diese Art der Wissensaneignung für Kopisten und Fälscher, die sich mit ihren Vorlagen beziehungsweise Vorbildern nicht nur unter stilistischen, sondern auch unter technologischen Gesichtspunkten auseinandersetzen mussten.24 Sie brauchten das Wissen um die Materialien, die Instrumente und die Verfahren der alten Künstler, um ihre Werke täuschend echt nachzuahmen – wie heutige Steinmetze, die zur Schaffung von Marmorkopien nach älteren Vorbildern handgeschmiedete und nicht maschinell gefertigte Eisen einsetzen, um den Originalen vergleichbare Oberflächenstrukturen zu schaffen. Und auch wie die Maler, die im 16. Jahrhundert im Dienste der europäischen Herrscherhäuser Substitute für jene Gemälde anfertigten, die von ihren ursprünglichen Standorten entfernt und den fürstlichen Sammlungen einverleibt wurden; sie dürften das dafür benötigte Know-how vor allem auf dem Wege der Anschauung entwickelt haben. Nicht viel anders werden lange Zeit auch die Fälscher vorgegangen sein.25 Wie eng Nachschöpfung, Kopie, Fälschung und kunsttechnologisches Wissen miteinander verbunden sind, offenbart programmatisch das Werk von Icilio Federico Joni (1866–1946), der im Kontext der Wiederentdeckung der frühen Sieneser Tafelmalerei (und damit auch der Schaffung eines Kunstmarktes) aufstieg. 2004 widmete das Museo Santa Maria della Scala in Siena diesem Lokalhelden eine große Einzelausstellung und der Katalog fragte programmatisch „Falsificazione dell’arte o arte della falsificazione“?26 Joni teilte dabei sein Wissen

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nicht allein über sein Werk mit, sondern auch über seine Autobiografie, in der er einiges von seinem Handlungswissen beschrieb (Le memorie di un pittore di quadri antichi con alcune descrizioni sulla pittura a tempera e sul modo di fare invecchiare i dipinti e le dora­ ture, 1932). Die deutliche Bewunderung der vom Fälscher gezeigten Kunstfertigkeit und virtuosen Beherrschung der alten Kunsttechnologien überblendet dabei häufig die kriminellen Seiten der Tat. Die Faszination, die von Fälschern ausgeht, spiegelt sich in ihren Popularisierungen (etwa in dem Film How to Steal a Million von 1966 mit Audrey Hepburn und Peter O’Toole) und in der Schadenfreude, wenn Goebbels durch den berühmten Vermeerfälscher Han van Meegeren (1889–1947) mit seinem Werk Christus und die Ehe­ brecherin getäuscht wurde.27 Doch auch die erste Generation der Restauratoren war ausschließlich auf den Augenschein und den Selbstversuch angewiesen.28 Die Gründerfigur der modernen Restaurierung, Max Doerner, der sein Interesse für historische Techniken während seiner Ausbildung an der Münchner Kunstakademie entwickelte, studierte mit seinem Kommilitonen Ernst Würtenberger die Werke alter Meister in der Alten Pinakothek zunächst mit dem Ziel, Anregungen für die eigene Malerei zu gewinnen. Würtenberger erinnerte sich später an Doerners Fähigkeiten einer präzisen Analyse, rein aus der Anschauung heraus: Doerner besass eine fast genial zu nennende Gabe, das Technische eines Bildes durch alle Stufen des Aufbaues zu erkennen. Es war, als ob sein Auge unmittelbar auf den Grund eines Bildes sehen könnte, denn er vermochte die schwierigste Technik in allen ihren Stadien und Wechselfällen ­sofort aus jedem Bilde zu lösen. Wenn er mir eine Technik entwickelt hatte, probierte ich sie in allen Variationen aus.29

Kaum weniger hoch ist der Stellenwert der schriftlichen Überlieferung anzusetzen. Jede Zeit brachte ihre eigenen Rezeptsammlungen bzw. Traktate hervor, in denen technisches Wissen schriftlich fixiert ist und in dieser Form über die örtliche und zeitliche Begrenzung des unmittelbaren Werkstattzusammenhangs vermittelt.30 Mit der kritischen Sichtung und Edition als „Quellenschriften“ waren auch hier „Wiederentdeckungen“ zu verzeichnen, die der Diskussion um historische Verfahren neue Impulse gaben. Dabei fixierte man sich anfänglich auf einzelne Aspekte wie die „Erfindung“ der Ölmalerei, die Vasari Jan van Eyck zugeschrieben hatte, die aber, wie erstmals Gotthold Ephraim Lessing feststellte, ­bereits in der im 12. Jahrhundert kompilierten Schriftensammlung De diversis artibus ­erläutert wird. Auch die nächsten Editionen fokussierten mit einer erstaunlichen Ausschließlichkeit auf diesen Aspekt: Dies gilt für die Edition von Theophilus und der Heraclius-Handschrift, die Rudolf Erich Raspe im Trinity College in Cambridge entdeckt und 1871 unter dem Titel „A critical essay on oil-painting. Proving that the art of painting in oil was known before the pretended discovery of John and Hubert van Eyck to which are added Theophilus De arte pingendi Eraclius De artibus Romanorum etc.“31 herausgegeben hat, ebenso wie für die auszugsweise in englischer Übersetzung veröffentlichten Anwei-

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sungen32 aus dem Straßburger Malerbuch (Straßburger Manuskript), der ältesten in mittelhochdeutscher Sprache erhaltenen Sammlung von maltechnischen Anweisungen. Der Herausgeber Charles Lock Eastlake gab seinem Werk den Titel Materials for History of Oil Painting (1847) und zeigte damit erneut den Fokus des Interesses an.33 Eine besondere Karriere war dem schon erwähnten Libro dell´arte Cennino Cenninis beschieden. Im 19. Jahrhundert in der Biblioteca Laurenziana in Florenz wiederentdeckt und zunächst auf Italienisch publiziert34, erschien das Buch, das unterschiedliche Mal- und Zeichentechniken beschreibt, 1844 in London in englischer Übersetzung.35 Dort sicherte ihm die Begeisterung für die italienische Quattrocentomalerei von vornherein die Aufmerksamkeit von Künstlern und Publikum. In Paris gab der Maler Victor Louis Mottez eine französische Übersetzung von Cenninis Kunsthandbuch heraus, wobei er auf dessen ­Anweisungen bezüglich der Freskomalerei fokussierte.36 Mottez hatte an diesem Bereich großes Interesse, war er doch selbst als Freskomaler tätig und versuchte – vergleichbar den Nazarenern – diese alte Technik wiederzubeleben. Er hatte auf einer Italienreise 1835 begonnen, sich beim Studien der Originale dafür zu begeistern, wie ein Brief von ihm aus diesem Jahr bezeugt: J’ai copié à Padoue des portions de fresques du Titien, étonnante, les seules qu’il ait faites. Depuis j’ai fait des essais à fresque qui m’ont bien réussi. Je continuerai cette étude. Je conçois l’affection des anciens pour ce genre de peinture, simple de moyens et grand d’effet. Comme elle est peu couteuse et prompte, elle peut se faire pour peu.37

Seine Begeisterung für die alte Technik und Cennini teilte Mottez mit dem Maler Eugène Emmanuel Amaury-Duval. Duval allerdings erkannte auch, dass dem Kollegen trotz des Quellenstudiums das nötige Handwerkerwissen fehlte und er deswegen mit seinen eigenen Fresken an einer unpassenden Trägerwand scheitern musste: Il s’éprit en Italie pour la peinture à fresque, fit de nombreuses recherches, traduisit même un traité sur cette peinture par Cellino Cellini [sic], exécuta beaucoup d’essais en ce genre, et voulut introduire en France, ou plutôt y acclimater cette manière de peindre; malheureusement, il fit avec un peu de précipitation; les murs qu’on lui confia, humides et salpêtrés, ne pouvaient supporter la décoration d’aucun genre; sa peinture ne résista point.38

In deutscher Sprache erschien Cennino Cenninis Schrift mit leichter zeitlicher Verzögerung 1871 als erster Band der Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des ­Mittelalters und der Renaissance, die der Initiator und erste Direktor des k. k. Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie Rudolf Eitelberger herausgab.39 Die Quellen­ editionen waren als flankierende Maßnahme für die unter dem Eindruck der Weltaus­ stellungen international eingeforderte Reform des Kunstgewerbes gedacht. In der Kombination mit der musealen Präsentation historischer Artefakte sollten sie altes Hand-

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werkswissen auch einem breiteren Publikum nahebringen.40 Um die Jahrhundertwende traf das Buch von der Kunst (so der deutsche Titel) auf unterschiedliche Adressaten: Kunsthistoriker und Restauratoren lasen es, um den Aufbau historischer Werke besser zu verstehen und adäquate Modelle für konservatorische und restauratorische Maßnahmen zu gewinnen. Die Künstler suchten in ihm Anregungen für die eigenen Farbexperimente jenseits industriell gefertigter Malmittel und diskutierten die Ergebnisse in Briefen und Werken.41 In dem komplexen Zusammenspiel von Kunstgeschichte und Kunsttheorie beziehungsweise Kunstkritik und Künstlern ist die Relation von „alt“ und „neu“ umso schwieriger zu bestimmen, je stärker die Diskussion von Museumskuratoren und Galeristen geprägt wird. Das mag stellvertretend ein Beispiel aus jüngster Zeit illustrieren. 2015 zeigte die National Gallery of Arts in Washington in Kooperation mit dem British Museum in London unter dem Titel Drawing in Silver and Gold. Leonardo to Jasper Johns nicht nur die berühmten Metallstiftzeichnungen von Rogier van der Weyden, Leonardo da Vinci oder Hans Holbein (mit Rembrandts Saskia als spätem Nachzügler), sondern auch Werke der Moderne und Gegenwartskunst, etwa von Joseph Stella, Jasper Johns und Bruce Nauman.42 Zeitlich parallel zur amerikanischen Station waren in zwei New Yorker Galerien Metallstiftzeichnungen zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen zu sehen.43 Die Verlautbarungen zu allen drei Ausstellungen hoben die Eigenarten der Zeichentechnik hervor: die Präzision und Klarheit des Strichs auf dem präparierten Zeichengrund, die schimmernde Oberfläche, die der Metallabrieb erzeugt, die Haltbarkeit der Zeichnung auch über lange Zeiträume hinweg.44 Betont wurden aber auch Alter und wechselvolle Geschichte des Mediums, das nun zu neuen Ehren gekommen sei.45 Den Metallstift umgebe ein „air of archaism“, konsta­ tierte etwa die Kuratorin der Museumsschau Stacey Sell: „No other drawing medium is so closely linked with the Renaissance or so strongly compels artists to recall the draftsmen who used it centuries earlier.“46 Tatsächlich waren Metallstifte im 15. und 16. Jahrhunderts ein beliebtes Zeichenmittel, die im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend von Röthel, Kreide und Kohle verdrängt worden, freilich aber nie gänzlich in Vergessenheit geraten waren. Die Wiederentdeckungen, die das Medium seither erlebt hat, scheinen wesentlich durch die historische Forschung angeregt oder eben auch nur propagiert worden zu sein. Seine zweite Blüte um Mitte des 19. Jahrhunderts nämlich verdankte es wohl zuletzt der Publikation von Cenninis Libro dell´arte, in dem sich eine ausführliche Beschreibung dieser Technik findet. Erst zu diesem Zeitpunkt freilich wurde die Technik als „historisch“ klassifiziert und ihr Gebrauch zum „revival“.47 Der nächste Impuls zu Historisierung kam bezeichnenderweise von Seiten der Grafikforschung: 1909 veröffentlichte Joseph Meder, Direktor der Graphischen Sammlung der Albertina in Wien, das Büchlein vom Silberstift mit dem Ziel, die Technik „wiederum ans Licht zu bringen“.48 Gewidmet ist die sprachlich im Stil des 16. Jahrhunderts gehaltene Schrift Albrecht Dürer, den Meder zum handwerklichen wie moralischen Leitbild für die eigene Zeit erhob, in der die Künstler „mehr für den Mamon und nit für die Schönheit molen [...].“49 Der Leser sollte nicht nur durch histo-

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rische Vorbilder an das gestalterische Potenzial der Silberstiftzeichnung erinnert, sondern auch durch praktische Anleitungen zum Präparieren des Papiers sowie zur Herstellung und Handhabung des Stifts angeregt werden. Dem Werk war sogar ein Silberstift beigegeben, mit dem man die Besonderheiten des Verfahrens auch dann erproben konnte, wenn man sich nicht der Mühe des Selbermachens unterziehen wollte. Schließlich, so Meder: „Gar leichtiglich verlieren sich die Künst, aber schwerlich werden sie wieder erfunden.“50 Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde eine Renaissance des Mediums in den USA propagiert.51 Während Meder mit dem Silberstift eine Tradition aufrufen wollte, die er als spezifisch deutsch charakterisierte, wiesen die amerikanischen Autoren auf allgemeingütige Qualitäten hin: die Disziplinierung der Hand52, aber auch die perfekte Oberfläche, die sich mit ihm erzeugen lasse, standen dabei im Vordergrund: [...] lured by the magic of the medium, enticed into the search for the perfect surface and tempted into exploring the haunting qualities of silverpoint, contemporary artists are free from the limitations of materials that bound the old masters. Contemporary artists are using this revered old medium in unexpected new ways.53

Die Kuratoren der großen Silberstift-Ausstellung in Washington stellten sich ausdrücklich in die Tradition solcher Wiederbelebungsversuche, sahen sich sogar als „Akteure“: One may [...] wonder how metalpoint will be used in the next thirty years and whether the exhibition Drawing in Silver and Gold: Leonardo to Jasper Johns and this catalog will help generate an even wider and unexpected course of experimentation by artists from America and abroad who have become intrigued by the medium’s extraordinary qualities.54

Umgekehrt insistierten die flankierenden New Yorker Ausstellungen ganz aus der Gegenwart heraus auf der Relevanz der Technik. Schon der Titel der Schau in der Galerie Garvey/ Simon, Metalpoint now! machte diesen Anspruch unübersehbar deutlich. Allerdings zeigte sich hier auch, wie stark sich die Parameter verschoben hatten und wie deutlich sich die Mehrzahl der Künstler von einer rein historischen Aneignung des Mediums abgrenzte. Statt auf grundiertem Papier nämlich zeichnen sie auf Holz, Kunststoffobjekten oder ­Galeriewänden und setzen neben dem zarten Stift auch Silberlöffel, Fingerhüte und Lineale ein. Und doch: Der Verweis auf die „archaische“ Dimension des Metallstifts verleiht auch diesen Werken die Aura einer Tradition, die über das aktuelle Bezugssystem hinausgeht; sie betont die Bedeutung des Zeichenaktes, der dabei mindestens so wichtig wird wie das realisierte Werk. Dass sich Verfahren in einem bestimmten Zeitraum entwickeln, ihre „Hochzeiten“ ­haben und „historisch“ (im Sinne von „vergangen“) werden, wenn bestimmte Fertigkeiten nicht mehr nachgefragt werden, Rohstoffe nicht mehr verfügbar sind, neue Materialien, Instrumente und Technologien ins Spiel kommen oder veränderte Anforderungen an

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Funktion und Gestalt der Werke gestellt werden, zeigt sich nirgends deutlicher als bei der Technik des Mosaiks. Als antike Kunst einer (imperial/kaiserlichen) Prachtentfaltung trat sie, als seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts offizielle Kirchenbauten entstanden, in den Raum der christlichen Kunst ein. Ursprünglich aus dem Verlegen von verschiedenfarbigen ­Steinen als Schmuckelement von Fußböden entwickelt, hatte sich die Technik auf die Wände und Decken ausgebreitet und dabei das Material gewechselt: weg von den natürlichen und sehr haltbaren (betretbaren) Kieseln hin zu immer feiner werdenden, künstlich hergestellten tesserae. In ihrer luxuriösesten Fassung mit Goldstaub und geschmolzenem Glas überbrannt, ließen sich mit den Mosaiksteinen glänzende Oberflächen erschaffen. Nun schmückten sie die Wände von Kirchenbauten in Konstantinopel und anderen Teilen des oströmischen Reiches, aber auch in Rom und Ravenna, in Süditalien oder Venedig. Am Beispiel Venedigs lässt sich auch beobachten, wie die Technik in die Krise geriet – bzw., dass eine Modernisierung nur schwer gelingen konnte, wo das Material und die Technik so sehr mit der formalen Lösung „Goldgrund“ verbunden waren. Dies zeigen die späten Mosaiken, mit denen man in San Marco im 16. Jahrhundert versuchte, die neuen Anforderungen an ein Bild  – als Rahmen und Fenster, durch das man in einen weiten Raum schaut – mit der älteren Technik zu versöhnen. Wie beim Silberstift und vielen anderen Verfahren brachte auch hier das 19. Jahrhundert das Revival: allerdings unter so veränderten technischen Bedingungen, dass sich die Frage stellt, ob die Industrialisierung des Mosaiks eine alte Technik belebte oder vielmehr eine neue Technik erfand? Die Zeitgemäßheit der Reaktivierung vermeintlich obsoleter Techniken zeigt sich nämlich beim Mosaik und der dortigen Veränderung im Verfahren durch die Einführung des umgekehrten Setzverfahrens, das Antonio Salviati in Venedig um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte. Durch die von ihm vollzogene Trennung von Herstellungs- und Anbringungsort sowie die Parzellierung der Bildvorlage war eine arbeitsteilige Organisation der sonst langwierigen Setzung der tesserae in den Putz ge­ lungen. Und die Zerlegung erlaubte die Versendung der Mosaiken und damit eine neue Mobilität und neue Märkte.55 Ihren Höhepunkt erlebte die neue alte Mosaikkunst schließlich über die Berliner Firma Puhl & Wagner, die das alte Verfahren verbesserte und verfeinerte, wobei sie auf Fachleute zurückgreifen konnte, die über das notwendige Körper­ wissen verfügten bzw. dieses aus Italien mitbrachten.56 Die vielfältigen Aufgaben, die man dieser Technikaktivierung übertrug, aber auch ihre (politisch aufgeladene) Bedeutung zeigen sich deutlich im um 1920 durch die Firma veröffentlichten Katalog: Weiter ist die Anstalt seit dem Herbste des Jahres 1907 von Seiten des Karlsvereins in Aachen mit der Fortführung der Mosaikarbeiten im Aachener Münster betraut worden, nachdem sie den ersten Teil, die Mosaizierung der Wände des Octogons, bereits im Jahre 1903 zum Abschluß gebracht hatte. Ebenfalls nach den Plänen und unter der Oberleitung Professor Schapers entsteht hier ein Werk, das nach seiner, wenn auch erst in Jahren zu erwartenden Vollendung als würdig erachtet werden dürfte, den antiken Meisterwerken musivischer Kunstschöpfung an die Seite gestellt zu

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werden [...]. Handelt es sich hier um die Wiederherstellung des ältesten und kulturhistorisch ­bemerkenswertesten deutschen Baudenkmals an der Westmark unseres Vaterlandes, um die ­Palastkapelle der Kaiserpfalz Karls des Großen, so dient eine soeben in Angriff genommene Aufgabe dem Schmucke eines ähnlichen aber modernen Bauwerks an der Ostmark, der Kapelle des von Schwechten erbauten Kaiserschlosses in Posen. Im persönlichen Auftrage des Kaisers soll hier eine zweite „Cappella Palatina“ erstehen, deren künstlerische Ausgestaltung Professor Oetken übertragen wurde.57

An dieser Stelle laufen viele Fäden zusammen: einerseits ein Zugang rekonstruierender „Denkmalpflege“ an der Aachener Pfalzkapelle, die im Sinne des Historismus – und unter Zuhilfenahme vermeintlich alter Techniken – vollendet wurde. Die Bezugnahme auf weitere wichtige Bauten alter Mosaikkunst, wie der normannischen Cappella Palatina, die dann als Ort auch des staufischen Kaisertums im Nachbau in Posen für das neue deutsche Reich aktiviert werden konnte.58 Dabei wurden die „Westmark“ und die „Ostmark“ als die beiden Grenzbauten des neuen, zweiten Reiches unter preußischer Führung bei gleichzeitigem Einsatz von alten Techniken und der Betonung des überlegenen „heutigen“ Kunstschaffens den alten Bauten des deutschen Kaisertums als ebenbürtig eingereiht. Zugleich wurde die Technik in ihren visuellen Möglichkeiten auch von der Moderne geschätzt und wahrgenommen, nennt Julius Meier Graefe doch Seurat einen Mosaikisten mit dem Pinsel und schreibt in Der moderne Impressionismus: Die farbige Touche ist hier zum farbigen Steinchen geworden. Das Prinzip, das bei Seurat auf die individuelle Geschicklichkeit der Hand verzichtet, ist konsequent weitergegangen, indem es die Bearbeitung der Fläche überhaupt in andere, untergeordnete Hände legt, die mechanisch verrichten, was ihnen der Entwurf des Künstlers – des Architekten – vorschreibt.59

Der vorliegende Band fasst, leicht erweitert, die Vorträge der vierten InterdependenzenTagung zusammen, die im Juni 2015 mit Unterstützung der Thyssen-Stiftung am Fachgebiet Kunstgeschichte der TU Berlin stattgefunden hat. Mit der Betonung des Unzeitgemäßen im Bereich der künstlerischen Techniken schließt er an jüngere Forschungsarbeiten an, die sich von chronologischen Geschichtsmodellen abwenden, um komplexe Zeitstrukturen von Kunstwerken in den Blick zu nehmen. Insbesondere das Konzept der Anachronie hat seit den 1990er Jahren eine Konjunktur als historiografisches Instrument erlebt und dabei deutlich gemacht, dass das Unzeitgemäße, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit treffen, an grundsätzliche Fragen der Historiografie und der methodologischen Voraussetzungen kunsthistorischer Wissensproduktion rührt.60 Dabei überrascht, wie sehr das Konzept der Anachronie auf die Aktualisierung von Inhalten und Formen eingeschränkt wird, selbst wenn die Argumentation explizit bei konkreten technischen Verfahren ansetzt.61 Unsere Übersicht über die unzeitgemäßen Techniken ist, wie schon der Band zur „Spur der Arbeit“, gattungs- und epochenübergreifend angelegt: uns geht es darum, die unter-

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schiedlichen Akteure, Praktiken, Motive und Diskurse in einer vergleichenden Perspektive zu betrachten. Gefragt wird nach den Modellen des Revivals: nach den Gründen, Vergangenheit zu (re)konstruieren und zu (re)vitalisieren, nach den Formen der Wiedergewinnung, Transformation und Adaption der Verfahren und schließlich nach den inhaltlichen Bedeutungszuweisungen, die die Techniken in diesem Aktualisierungsprozess erfahren. Die ersten drei Beiträge sind den Renaissancen gewidmet, die im programmatischen Rückgriff auf die Vergangenheit Impulse für eine Erneuerung und Weiterentwicklung des künstlerischen Schaffens der eigenen Zeit gesucht haben. Solche Rückblicke sind nie rein formal, sondern stets auch mit der inventio alter Techniken verbunden – also dem Motiv der „Wiederauffindung“ wie der „Neufindung“ von als vorbildlich empfundenen Verfahren. Rachel Danford diskutiert in ihrem Beitrag die Voraussetzungen der frühmittelalter­ lichen lombardischen Stuckwerke im Versuch einer Entmystifizierung dieser scheinbar aus dem Nichts auftretenden lateinisch-christlichen Großplastik. Programmatisch lehnt sie die von Teilen der kunsthistorischen Forschung vertretenen Thesen eines Technologietransfers aus dem umayyadischen oder byzantinischen Osten sowie einen formalen Antikenbezug als Teil einer politisch motivierten karolingischen renovatio ab und und weist stattdessen auf eine fortlaufende Handwerkstradition und die Übernahme von technischem Wissen aus anderen Verfahren hin. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Joanna Olchawa mit Blick auf den karolingischen Bronzeguss. Auch sie stellt der Behauptung eines Neubeginns des Bronzegusses in nachantiker Zeit im Umfeld der Aachener Pfalzkapelle durch eine politisch gewollte renovatio  – die die Frage nach dem „Wie“ ignoriert  – die Tatsache ­entgegen, dass das technische Wissen um das Verfahren niemals gänzlich verloren war. So stehen auch die karolingischen Bronzewerke in der Kontinuität einer stets lebendig ­gebliebenen Handwerkstradition, einer Kontinuität, in der Überlieferung und Herkunft der Technik immer mitzudenken ist. Die Frage, wie sich ein Kopist seinem Vorbild annähern kann, von dem ihn die zeitliche Distanz von mehr als hundert Jahren trennt, steht im Zentrum von Antonia Putzgers Aufsatz zu den Kopien nach altniederländischen Gemälden, die der flämische Maler Michiel Coxcie gegen Ende des 16. Jahrhunderts angefertigt hat. Der Wunsch nach einer möglichst ähnlichen Kopie verband sich hier unübersehbar mit dem Verständnis, einer anderen Zeit anzugehören. Für die Druckgrafik im Paris der Nachkriegszeit beschreibt Elisabeth Furtwängler, welche Faktoren zur Wiederaufnahme einer Technik führen können. Dabei spielten neben ökonomischen Gesichtspunkten die ausführenden Drucker eine entscheidende Rolle. Sie wurden zu Akteuren, indem sie die Künstler an scheinbar veraltete Verfahren heranführten und ihnen so auch einen neuen Zugang zu den gestalterischen Möglichkeiten des Mediums verschafften. Um die Historismen, mit denen man im Zeitalter der Industrialisierung den Verunsicherungen durch die Moderne begegnete, geht es bei den nächsten beiden Beiträgen. Im 19. Jahrhundert wurden nicht nur Formen einer (nun vorzugsweise national definierten) Vergangenheit wiederbelebt, sondern auch Verfahren, die man mit eben dieser nationalen Vergangenheit assoziierte. Wesentliche Impulse gingen dabei von der kunsthistori-

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schen Forschung aus, die verlorenes Wissen durch technologische Untersuchungen und die Edition von Quellenschriften verfügbar machte. Andreas Huth stellt den Diskurs vor, der die Wiederaneignung der Sgrafitto-Technik im 19. Jahrhundert begleitete, und zeigt ­zugleich die Schwierigkeiten, die sich bei ihrer Wiederverwendung ergaben. Auch die Glasmalerei musste, wie Daniel Parello deutlich macht, für die romantische Sehnsucht nach bunten Verglasungen revitalisiert werden, weil die Technik völlig aus dem Gebrauch geraten war. Die historischen Referenzen, die über die Verfahren transportiert werden sollten, konnten unterschiedlicher kaum sein: Während man mit Sgrafitto-Dekorationen die Blütezeit sowohl der italienischen Renaissance aufrief, war die Glasmalerei eng an die Versuche gebunden, die Gotik als alt-neuen Nationalstil zu etablieren. Im dritten Themenblock geht es um Anachronismen des 20. Jahrhunderts, bei denen (wie beim oben zitierten Beispiel der Silberstiftzeichnung), weder die programmatische Erneuerung noch die Traditionsbildung im Vordergrund steht, sondern die Originalität des Unzeitgemäßen, das Bemühen um unverwechselbare Ausdrucksformen und die ästhetische Neubewertung des Überkommenen. Christian Berger führt in seiner Analyse von Jasper Johns enkaustischen Bildern exemplarisch vor, wie sehr der Rückbezug von Setzungen abhängig ist: Erst wenn das verwendete Material bzw. das angewandte kunsttechnische Verfahren durch den Künstler als Enkaustik benannt wird, verorten sich Werke wie Green Target oder Flag in einer vermeintlich seit der Antike ungebrochenen Tradition. In Magdalena Busharts Beitrag wird eine in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte und bis heute aktuelle Form des Graphic Revival angesprochen, die im Überformat und in der damit verbundenen körperlichen (und mentalen) Arbeit traditionelle Drucktechniken in das Bezugsfeld des eigenhändig „Gemachten“ rückt und damit letztlich auf die alte Frage nach der Präsenz des Autors beziehungsweise der Autorin im reproduzierten Bild reagiert. Anne Röhl zeigt am Beispiel von Videoarbeiten von Beryl Korot und Stephen Beck, wie ein „modernes“ elektronisches Medium (das Video) und eine alte Kulturtechnik (das Weben) von der Thematisierung des jeweiligen Verfahrens profitieren können und beide Verfahren strukturelle Gemeinsamkeiten entwickeln: Die Produkte der Webkunst werden losgelöst von ihrer Handwerklichkeit als technische Bilder gesehen und umgekehrt das Medium Video als gewebtes, prozessuales Bild gedeutet. Im vierten Themenblock schließlich werden Motive der Weiterführung beziehungsweise des Nachlebens von Techniken diskutiert, die im Kontext der industriellen Produktion als veraltet gelten, im künstlerischen Kontext aber neue Funktionen gewinnen: als Ausweis handwerklicher Arbeit, als Stellungnahme zur Genderproblematik oder als Geste des Widerstandes, um nur drei der möglichen Positionen zu nennen. Oliver Caraco untersucht in seinem Beitrag zur Druckgrafik in Frankreich und England, wie das Interesse an der Bewegung der Künstlerhand zur „Renaissance der Ätzradierung“ im 19. Jahrhundert führte. Um Widerstand geht es auch in Annette Messagers Stickbildern der 1970er Jahren. Hier wird, wie Bettina Uppenkamp deutlich macht, eine als weiblich codierte Kulturtechnik zum feministischen Statement; die narrativen Inszenierungen, die Revivals stets beglei-

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ten, sind also auch hier präsent. Dass sich sogar kameralose Praktiken mit Technik-Narra­ tiven verbinden lassen, führt Olga Moskatova in ihrer Untersuchung vor. Anders als in der feministischen Kunst, wo weibliche Handarbeiten ins Positive gewendet zu Empowerment und zur Emanzipation genutzt werden, steht das Distinktionsmerkmal „handgemacht“ hier für eine „analoge Nostalgie“, die als symptomatische Reaktion auf den Übergang von analoger zur digitalen Technologie zu deuten ist. Erneut wird durch die Etablierung einer neuen Technik beziehungsweise eines neuen Mediums die alte Technik/das alte Medium neu gedacht, wird der analoge Film materiell. Die Themenblöcke, nach denen die Beiträge in diesem Band geordnet sind, machen bereits deutlich, dass sich Strukturen, Motivationen und Erscheinungsformen der TechnikRevivals kaum sauber kategorisieren lassen, weil hier in der Regel eine Vielzahl von Faktoren ineinandergreifen. Dennoch sind in der Suche nach dem Zeitgemäßen im Unzeitgemäßen gemeinsame Muster zu erkennen: Es sind stets die Narrative, die den Blick zurück definieren und für die Gegenwart aufladen  – unabhängig davon, ob damit eher ein „Wieder(er)finden“ (im Sinne des Mittelalters oder der Renaissance) oder ein „Rekonstruieren“ (im Sinne des Historismus des 19. Jahrhunderts) gemeint ist, ob es um Abgrenzungsstrategien geht (im Sinne eines bewußten Anachronismus) oder um ein Festhalten an Vertrautem, schließlich, ob der Verweis auf die Vergangenheit deren Vorbildcharakter betonen oder ihn unterlaufen soll. Zugleich zeigen die Beiträge, dass sich auch in der Frage der Anachronien Formgebung und Verfahren kaum voneinander trennen lassen. Vielmehr sind die Verfahren als Instrumentarium zu begreifen, das mit jedem Einsatz neue formale Lösungen hervorbringt und dem dabei, den aktuellen Bedürfnissen entsprechend, auch jeweils neue Bedeutungen zugeschrieben werden können.

Anmerkungen 1

Chuck Close. Daguerreotypien, Ausst.-Kat. (München, Galerie Daniel Blau, 2000), München 2000.

2

Beispielsweise durch das Engagement von Nadania Idriss und Berlin Glas e. V., die seit 2011 verschiedene Künstler_innen in das Berlin Art Glas Studio einlädt; vgl. http://berlinglas.org/home/ visiting-artists/ [zuletzt aufgerufen 1.3.2018]. Vgl. zudem James Mongrain in the George R. ­Stroemple Collection. Reinterpreting Venetian Tradition, Ausst.-Kat. (Tacoma, Museum of Glass, 2017), hrsg. von Sheldon Barr und Linda Tesner, Seattle 2016; Glasstress New York. New Art from the Venice Biennales, Ausst.-Kat. (New York, The Museum of Arts and Design, 2012), hrsg. von Adriano Berengo, Mailand 2012.

3

Kate M. Daley, Crafty Entanglements. Knitting and Hard Distinctions in Aesthetics and Political Theory, in: Contemporary Aesthetics,11, 2013, http://www.contempaesthetics.org/newvolume/ pages/article.php?articleID=664 [zuletzt aufgerufen 1.3.2018]; Norma Broude, The Pattern and Decoration Movement, in: The Power of Feminist Art. The American Movement of the 1970s. History and Impact, hrsg. von Norma Broude und Mary D. Garrard, New York 1994, S. 208–225; Matilda Felix, Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegenwart, Bielefeld 2010; vgl. ferner den Aufsatz von Bettina Uppenkamp in diesem Band.

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 4 Stege, Grate, Inseln. Holzschnitte von Edvard Munch bis heute, Ausst.-Kat. (Emden, Kunsthalle Emden, 2008), Heidelberg 2008; vgl. ferner den Aufsatz von Magdalena Bushart im vorliegenden Band.  5 Margaret Iversen, Analogue: On Zoe Leonard and Tacita Dean, in: Photography, Trace and Trauma, Chicago und London 2017, S. 33–47; Celluloid – Tacita Dean, João Maria Gusmão & Pedro Paiva, Rosa Barba, Sandra Gibson & Luis Recoder, Ausst.-Kat. (Amsterdam, EYE Filmmuseum, 2016), hrsg. von Marente Bloemheuvel und Jaap Guldemond, Amsterdam 2016; Michael Fried, Why Photography Matters as Art as Never Before, Yale 2008  6 Zum Konzept der Anachronie vgl. Margreta de Grazia, Anachronism, in: Cultural Reformations. Medieval and Renaissance in Literary History, hrsg. von Brian Cummins und James Simpson, ­Oxford 2010, S. 13–32; Alexander Nagel und Christopher S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010; Miriam Lay Brander, Der Anachronismus als literatur- und kulturwissenschaftliche ­Kategorie, in: Anachronismen  – anachronismes  – anacronismi  – anacronismos (Atti del 5 Dies ­Romanicus Turicensis), hrsg. von Cristina Albizu u. a., Pisa 2011, S. 13–28.  7 Martin Hirsch, Die Wiederentdeckung des Steinschnitts in der Florentiner Renaissance, in: Techni­ sche Innovationen und künstlerisches Wissen in der Frühen Neuzeit (Interdependenzen. Die ­Künste und ihre Techniken 1), hrsg. von Magdalena Bushart und Henrike Haug, Köln u. a. 2015, S. 99–112; Donald B. Harden, Glass and Glazes, in: The Mediterranean Civilizations and the ­Middle Ages, c. 700 B. C. to 1500 A. D. (A History of Technology 2), hrsg. von Charles Joseph Singer, Oxford 1956, S. 311–346; Marco Verità, L’invenzione del cristallo muranese. Una verifica analitica delle fonti storiche, in: Rivista della Stazione Sperimentale del Vetro 15, 1985, S. 17–29; George Saliba, The World of Islam and Renaissance Science and Technology, in: The Arts of Fire. Islamic Influences on Glass and Ceramics of the Italian Renaissance, hrsg. von Catherine Hess, Los Angeles 2004, S. 55–74; Francesca Trivellato, Murano Glass. Continuity and Transformation (1400–1800), in: At the Centre of the Old World. Trade and Manufacturing in Venice and the Venetian Main­ land, 1400–1800, hrsg. von Paola Lanaro, Toronto 2006, S. 143–184. Michael Cole, Cellini’s blood, in: The Art Bulletin 81, 1999, S. 215–235; Edgar Lein, Ars aeraria. Die Kunst des Bronzegießens und die Bedeutung von Bronze in der florentinischen Renaissance, Mainz 2004; Victoria J. Avery, Vulcan’s Forge in Venus’ City. The Story of Bronze in Venice, 1350–1650, Oxford 2011; sowie den Beitrag von Joanna Olchawa in diesem Band.  8 Einen kurzen Überblick über die Vorstellungen bzw. zum Begriff „Entkaustik“ in der kunsthistorischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert gibt Yvonne Schmuhl, Mythen in der Fachliteratur zur antiken Malerei, in: Inkarnat und Signifkanz. Das menschliche Abbild in der Tafelmalerei von 200 bis 1250 im Mittelmeerraum, hrsg. vom Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft, TU München, sowie der Forschungsstelle Realienkunde, dem Doerner Institut und dem Opificio delle Pietre Dure (Florenz), München 2017, S. 153–159. Zur Farbigkeit in der Bildhauerei: Karina Türr, Farbe und Naturalismus in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhun­ derts. Sculpturae vitam insufflat pictura, Mainz 1994.  9 Eva Reinikowski, Tempera. On the History of a Technical Term, in: Painting in Tempera, c. 1900, hrsg. von Karoline Beltinger und Jilleen Nadolny, London 2016, S. 11–23. 10 August Reichensperger, Die Bauhütten des Mittelalters [1850], in: August Reichensperger, Ver­ mischte Schriften über christliche Kunst, Leipzig 1856, S. 156–157; Magdalena Bushart, Gemein­ schaft, Einheit, Gesamtkunstwerk. Das Modell Bauhütte und die Architekturdebatte nach dem Ersten Weltkrieg, in: Bericht über die 45. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung vom 30. April bis 4. Mai 2008 in Regensburg/Koldewey-Gesellschaft (Klaus Tragbar Red.), Dresden 2010, S. 69–77; Sybille Fraquelli, Im Schatten des Domes. Architektur der Neugotik in Köln 1815– 1914, Köln u. a., 2008, S. 71–72.

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11 Heraclius. Von den Farben und Künsten der Römer (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 4), hrsg. von Albert Ilg, Wien 1987, S. 2, lateinischer Text S. 3: Jam decus ingenii quod plebs Romana probatur / Decidit, ut periit sapientum cura senatum. / Quis nunc has artes investigare valebit, / Quas isti artifices, immensa mente potentes, / Invenere sibi, potens est ostendere nobis?“ 12 Das führt beispielsweise die berühmte Stelle aus dem 36. Gedicht des Erzbischofs von Tour, Hilde­ bert von Lavardin (1056–1136), exemplarisch und mit dem Ausruf „Roma fuit“ vor: „Nichts kommt, Rom, Dir gleich, und wenn in Trümmern Du daliegst; / Wie in der Blüte Du groß warst, verrätst Du im Fall. [...] Bringet nur Schätze und Marmor und Gunst der Himmlischen neu her, / lasset die Künstler neu schaffen mit emsiger Hand, / nicht wird dennoch ihr Bau je gleich den stehenden Mauern / noch auch richten sie je nur das Zertrümmerte auf. / So viel blieb, so vieles ist hin, dass nun die Ruine / niemals erreichbar steht, nie wieder herstellbar liegt [...].“ (Par tibi, Roma, nihil, cum sis prope tota ruina! / Quam magni fueris integra, fracta doces [...] Confer opes marmorque novum superumque favorem, / Artificum vigilent in nova facta manus – / Non tamen aut fieri par stanti machina muro, / Aut restaurari sola ruina potest. Tantum restat adhuc, tantum ruit, ut neque pars stand / equari possit, diruta nec refici.), Hildebert von Lavardin, De Roma, in: Hildeber­ tus Cenomannensis Episcopus Carmina Minora, hrsg. von A Brian Scott, Leipzig 1969, Nr. 36, S. 22–23; Roma aeterna. Lateinische und griechische Romdichtung von der Antike bis zur Gegen­ wart, hrsg. von Bernhard Kytzler, Zürich 1972, S. 344–346. 13 William Morris, Hopes and Fears of Art, https://www.marxists.org/archive/morris/works/1882/ hopes/hopes.htm [zuletzt aufgerufen 1.3.2018]. 14 Weiterführend zur Beschäftigung mit alten Techniken siehe Paolo Bensi, Il recupero delle tecni­ che artistiche dell’antichità tra la fine del Settecento e i primi decenni dell’Ottocento, in: L’idea dell’antico nel decennio francese (Atti del terzo Seminario di studi Decennio francese 1806–1815), hrsg. von Rosanna Cioffi und Anna Grimaldi, Neapel 2010, S. 101–116. 15 Nicht zufällig war William Morris 1877 mitbeteiligt an der Gründung der Gesellschaft zum Erhalt historischer Bauwerke (Society for the Protection of Ancient Buildings), einem der Vorläufer des National Trust. Denn „Konservierung“ als leitendes Motiv verlangt beides und fokussiert auf beides – im Verfahren und im Bau. Wie stark auch die Wiederbelebung antiker Formen und Formate im 15. und 16. Jahrhundert eine Technikrenaissance erfordert, bezeugen die Beiträge, die im 1. Band der hier vorliegenden Reihe publiziert wurden: Technische Innovationen und künstleri­ sches Wissen in der Frühen Neuzeit (Interdependenzen. Die Künste und ihre Techniken 1), hrsg. von Magdalena Bushart und Henrike Haug, Köln 2015. 16 Plinius, Farben, Malerei, Plastik (Naturkunde 35), hrsg. von Roderich König und Gerhard Winkler, Darmstadt 1997, S. 117, der lateinische Text auf S. 116: „Hominis autem imaginem gypso e facie ipsa primus omnium expressit ceraque in eam formam gypsi infusa emendare instituit Lysistratus Siconius, frater Lysippi, de quo diximus. Hic similitudines reddere instituit; ante eum quam pulcherrimas facere studebant. Idem et de signis effigie sexprimere inventi, crevitque res in tantum, ut nulla signa statuaeve sine argilla fierent. Quo apparet antiquiorum hanc fuisse scientiam quam fundendi aeris.“ 17 Philippe Cordez, La châsse des rois mages à Cologne et la christianisation des pierres magiques aux XIIe et XIIIe siècles, in: Le trésor au Moyen Âge. Discours, pratiques et objets, hrsg. von Lucas Burkart u. a. Florenz 2010, S. 315–332. 18 Angela Cerasuolo, Literature and Artistic Practice in Sixteenth Century Italy, Leiden/Boston 2017, S. 31–41 19 Zur Relation von alt und neu vgl. Kurt Möser, Fortdauer und Wiederkehr des Alten in der Technik, in: Techniknostalgie und Retrotechnologie (Karlsruher Studien Technik und Kultur 2), hrsg. von Andreas Böhn und Kurt Möser, Karlsruhe 2010, S. 17–40.

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20 Brief von Peter Cornelius an Joseph Görres vom 2.11.1814, in: Joseph Görres, Gesammelte Briefe, Band 2: Freundesbriefe von 1802–1821 (Joseph von Görres. Gesammelte Schriften 8, 2. Abt.), hrsg. von Franz Binder, München 1874, Brief 138, S. 433–439; vgl. auch Nils Büttner, Peter Cornelius. Fresken und Freskenprojekte, Band 1, Wiesbaden 1980, v. a. S. 63–76. 21 Eva Reinkowski-Häfner, Die Entdeckung der Temperamalerei im 19. Jahrhundert. Erforschung, Anwendung und Weiterentwicklung einer historischen Maltechnik, Petersberg 2014, S. 80–127; zum Auftrag; Peter Wilberg, Die Lukasbrüder um Johann Friedrich Overbeck und die Erneuerung der Freskomalerei in Rom. Die Wand- und Deckengemälde in der Casa Bartholdy (1816/17) und im Tasso-Raum des Casino Massimo (1819–1829), Berlin/München 2011; Magdalena Droste, Das Fresko als Idee. Zur Geschichte öffentlicher Kunst im 19. Jahrhundert (Kunstgeschichte, Form und Interesse 2), Münster 1980. 22 Kimberly Schenck, Drawings under Scrutiny. The Materials and Techniques of Metalpoint, in: Drawing in Silver and Gold. Leonardo to Jasper Johns, Ausst.-Kat. (Washington, National Gallery of Art und London, The British Museum, 2015), hrsg. von Stacey Sell und Hugo Chapman, Princeton 2015, S. 9–23. 23 Eva Reinkowski-Häfner, Tempera. Zur Geschichte eines maltechnischen Begriffs, in: Kunsttechnologie und Konservierung 8, 1994, 2, S. 297–317. 24 Vielfach thematisierten Ausstellungen das Thema, so beispielsweise Original bis ... Fälschungen zwischen Faszination und Betrug, Ausst.-Kat. (Halle, Stifung Moritzburg, 2014), hrsg. von Boje E. Hans Schmuhl, Hamburg 2014; Fake? The Art of Deception, Ausst.-Kat. (London, British Museum, 1990), hrsg. von Mark Jones, London 1990, dort auch mit einem Kapitel über Fälschungen von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert, S. 119–159, sowie zum Wissen und Vermögen der Fälscher („Art and Craft of Faking“), S. 247–274. Vgl. auch zum historischen Umgang mit dem Phänomen „Fälschung“ Jilleen Nadolny, Recipes for Deceit. Documentary Sources for the Production of Paintings Forgeries from 1300 to 1900, in: Sources on Art Technology. Back to Basics (Proceedings of the sixth symposium of the ICOM-CC Working Group for Art Technologie Source Research. Amsterdam Rijksmuseum 2014), hrsg. von Sigrid Eyb-Green u. a., London 2016, S. 51–64. 25 Ruben Suykerbuyk, Coxcie’s Copies of Old Masters. An Addition and an Analysis, in: Simiolus 37, 2013/14, Heft 1, S. 5–24; Ariane Mensger, Die exakte Kopie. Oder: die Geburt des Künstlers im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 59, 2009, S. 195–221; die Doktorarbeit von Antonia Putzger, Kult und Kunst, Kopie und Original. Fallstudien zu Aneig­ nung, Wiederholung und Ersatz altniederländischer und dürerzeitlicher Altarbilder in der Frühen Neuzeit ist im Druck. 26 Falsi d’autore. Icilio Federico Joni e la cultura del falso tra Ottocento e Novecento, Ausst.-Kat. (Siena, Santa Maria della Scala, 2014), hrsg. von Gianni Mazzini, Siena 2004. 27 Die unverhohlene Bewunderung, die der Figur des kriminellen Fälschers entgegengebracht wird, findet ihren Ausdruck in den fast reißerisch zu nennenden Titeln der ihn behandelnden Studien; vgl. Friso Lammertse, Van Meegeren’s Vermeers. The Connoisseur’s Eye and the Forger’s Art, ­(Boijmans studies 6), Rotterdam 2011; Edward Dolnick, The Forger’s Spell. A True Story of Ver­ meer, Nazis, and the Greatest Art Hoax of the Twentieth Century, New York 2008; Jonathan ­Lopez, The Man Who Made Vermeers. Unvarnishing the Legend of Master Forger Han van ­Meegeren, Orlando 2008. Zudem wurde das Leben von Van Megeren popularisiert, u. a. durch den Roman von Luigi Guarnieri (La doppia vita di Vermeer, Mailand 2004). 28 Und auch heute gehört das Studium der Werke zu den grundlegenden Methoden zur Rück­ gewinnung von altem Handwerkswissen, dazu u. a. In Artists’ Footsteps. The Reconstruction of Pigments and Paintings. Studies in Honour of Renate Woudhuysen-Keller, hrsg. von Lucy Wrapson, London 2012. In der Berliner Ausstellung Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die

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Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo M ­ onaco, Ausst.-Kat. (Berlin, Gemäldegalerie Staatliche Museen, 2008), hrsg. von Wolf-Dietrich Löhr und Stefan Weppelmann, München 2008, wurden die Malschritte anhand von verschiedenen Bildbearbeitungsschritten verdeutlicht und so Cenninis doppelter Bedeutung – als Künstler und als Schriftsteller, der Arbeitsschritte dokumentiert –, Rechnung getragen. 29 Ernst Würtenberger, Das Werden eines Malers. Erinnerungen, Heidelberg 1936, S. 137. 30 Mit Blick auf die Schriftquellen Pamela H. Smith [and The Making and Knowing Project], Histori­ ans in the Laboratory. Reconstruction of Renaissance Art und Technology in the Making and Knowing Project, in: Art and Technology in Early Modern Europe, hrsg. von Richard Taws und Genevieve Warwick, Chichester 2016, S. 20–43. Smith, S. 29, sieht die Rezepte als „invitation to action“, die in einer Art von „reverse engineering“ analysiert und entschlüsselt werden sollen. 31 Heute verwahrt in London, British Museum, Egerton MS 840 A, 2. Hälfte 13. Jahrhunderts. Eine deutsche Übersetzung erschien als Heraclius. Von den Farben und Künsten der Römer, (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 4), hrsg. ­Albert Ilg, Wien 1873. 32 Das Original der wohl im Elsass zusammengestellten Schrift befand sich in der Bibliothèque ­Municipale von Straßburg (Sig. A.VI.19) und verbrannte dort 1870 während des Deutsch-Französischen Krieges. Erhalten hat sich die Abschrift des Manuskripts durch Wilhelm Heinrich Ludwig Gruner, die dieser an Eastlake sandte; sie wird heute in der National Gallery in London mit der Signatur 75.023 STR verwahrt. Sylvie Neven, The Strasbourg Manuscript. A medieval tradition of artists’ recipe collections (1400–1570), London 2016. 33 Das Originalmanuskript wurde 1870 bei einem Brand der Straßburger Bibliothek vernichtet. Eine Zweitschrift des Manuskriptes befindet sich heute in der National Gallery in London. 34 Di Cennino Cennini trattato della pittura messo in luca la prima volta con annotazioni dal cavalier Giuseppe Tambroni, Rom 1821. 1859 erschien die erste Kritische Ausgabe des Libro dell‘arte in Florenz durch Gaetano und Carlo Milanesi, die mehrere Handschriften verglichen im Versuch, den Originaltext zu rekonstruieren 35 Englische Übersetzung von Marry P. Merrifield, A treatise of painting, written by Cennino Cennini in the year 1437, London 1844. 36 Le Livre de l’Art ou Traité de la peinture de Cennino Cennini mis en lumière pour la première fois avec des notes par le chevalier G. Tambroni, trad. par Victor Mottez, Paris 1858. Dem Druck wurde ein Brief von Auguste Renoir vorangestellt, der Mottez für die Drucklegung dankt und mit den Worten schließt (S. XII): „[...] la peinture est un métier comme la menuiserie et la ferronnerie, elle est soumise aux mêmes règles; ceux qui liront attentivement le livre si bien traduit par votre père s’en convaineront.“ 37 Der Auszug bei Gennaro Toscano, Victor Mottez et les primitifs italiens, in: Victor Mottez, un peintre lillois aux multiples facettes (Actes du colloque, Lille, Palais des Beaux-Arts 2013), Lille 2014, S. 93–116, hier S. 102. Mottez freskierte nach seiner Rückkehr nach Frankreich u. a. eine Kapelle in Saint-Séverin (1853–1857) und eine Kapelle in Saint-Sulpice (1859–1863). 38 Toscano 2014 (Anm. 37), S. 102. 39 Cennino Cennini. Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei (Quellenschriften für Kunst­ geschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 1), hrsg. von Albert Ilg, Wien 1871. 40 In der Ankündigung der Publikation wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Reihe „mit den Bestrebungen des Oesterr. Museums in directem Zusammenhang“ stehe und das Ziel verfolge, „die hervorragendsten Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, selbstverständlich mit Inbegriff der Quellenschriften des Orientes, in

Die Historisierung künstlerischer Techniken I 25

deutscher Übersetzung einem grösseren Publicum zugänglich zu machen“; Rudolf Eitelberg, Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, in: Mittheilungen des k. k. Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie. Monatszeitschrift für Kunstgewerbe 6, 1870, Nr. 63, S. 292–294, hier S. 292. Vgl. dazu Andreas Dobslaw, Die Wiener „Quellenschriften“ und ihr Herausgeber Rudolf Eitelberger von Edelberg. Kunstgeschichte und Quellenforschung im 19. Jahrhundert (Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege 1), Berlin/München 2009, S. 34–37. 41 Vgl. Karoline Beltinger unter Mitarbeit von Ester S. B. Ferreira und Karin Wyss, Kunsttechnolo­ gische Forschungen zur Malerei von Cuno Amiet 1883–1914, Zürich 2015. 42 Drawing in Silver and Gold. Leonardo to Jasper Johns, Ausst.-Kat. (Washington, National Gallery of Art und London, The British Museum, 2015), hrsg. von Stacey Sell und Hugo Chapman, Princeton 2015. 43 Metalpoint Now!, Galerie Garvey Simon; Musing Metallic; Curator Gallery. Als Kuratorin fungierte in beiden Fällen die Galeristin Elizabeth Garvey. 44 Zur Ausstellung in Washington vgl. Stacey Sell, Introduction, in: Drawing in Silver 2015 (Anm. 42) S. 1–6. Zu den Ausstellungen in New York: http://www.garveysimon.com/exhibitions/metalpointnow#4 und http://www.thecuratorgallery.com/musing-metallic-press-release/ [zuletzt aufgerufen 1.3.2018]. 45 Patricia Emison, Rezension zur Ausstellung Drawing in Silver and Gold: Leonardo to Jasper Johns http://www.caareviews.org/reviews/2823#.Wocsj-ciE2x [zuletzt aufgerufen 1.3.2018]. 46 Drawing in Silver 2015 (Anm. 42), S. 4. 47 Stacey Sell, „The Interesting and Difficult Medium“. The Silverpoint Revival in Nineteenth Century Britain, in: Master Drawing 51, 2013, Heft 1, S. 63–86; Susan Owens, „A dose of Paradise“. Some effects of Renaissance Dawings on Victorian Artists, in: Burning Bright. Essays in Honour of David Bindman, hrsg. von Diana Dethloff, Tessa Murdoch und Kim Sloan, London 2015, S. 180–189. 48 Joseph Meder, Das Büchlein vom Silbersteft. Ein Tractätlein für Moler. Beschreiben zu Nutz allen, so zu dieser Kunst Lieb tragen, Wien 1909, S. 3. Die Schrift ist im Kontext der Versuche zu sehen, durch Rückgriffe auf die Vergangenheit eine nationale Gegenwartskunst zu entwickeln, S. 17: „Darwider sag ich, daß all Mehrung und Bessrung der Künst nur kann kummen von den Alten, dann ihr Gemäl ehrberlich und wol gemacht ist, nicht aber von dem Frantzos, der unser teutschen Natian frembd ist und etlich Moler, so in Paris gewest, verderbet hat, dieweil sie nur in unbesunnen Werk und nacket Mennlein ihr Freid und Wolgefallen haben.“ 49 Meder 1909 (Anm. 48), S. 2. 50 Ebd., S. 10. 51 Die Verortung der Technik im Amerika unserer Tage postulierte bereits die erste Ausstellung in dieser Reihe, veranstaltet von Bruce Weber. Sie firmierte unter dem Titel: The Fine Line. Drawing with Silver in America, Ausst.-Kat. (West Palm Beach, Norton Gallery and School of Art, 1985), West Palm Beach 1985. 52 Thea Burns, The Luminous Trace. Drawing and Writing in Metalpoint, London 2012, S. 176. Auch hier ist der „renaissance of metalpoint in contemporary America“ ein ganzes Kapitel gewidmet; ebd. S. 176–181. 53 https://ephraimrubenstein.com/766/exhibitions/the-silverpoint-exhibition-at-the-national-arts-club/ [zuletzt aufgerufen 1.3.2018]. 54 Vgl. Bruce Weber, Modern and Contemporary Drawing in Metalpoint, in: Drawing in Silver 2015 (Anm. 42), S. 225–239, hier S. 238. 55 Antonio Salviati, Ueber Mosaiken im Allgemeinen und über die großen Vortheile, die Anwend­ barkeit und allgemeine Benutzung der Email-Mosaiken in der Vergangenheit und Gegenwart in

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architectonischen und anderen Verzierungen. Ein Aufsatz, verlesen vor der philosophischen und literarischen Gesellschaft zu Leeds, am 21. Februar 1865, London 1865, S. 33: „Man wird leicht einsehen, daß [die traditionelle, d. h. direkt in den Putz setzende] Arbeits-Methode eine lange Zeit erfordern und sehr viel Geld kosten muss [...], so daß die Kosten in unsern Zeiten die Kraft eines Verbotes haben würden. Es ist daher kein Wunder, daß die Leute in unserer Zeit durch die wahrscheinlichen Kosten der Anfertigung von Mosaiken zurückgeschreckt wurden, und dieser Ursache müssen wir den Verfall und das lange Brachliegen dieser Kunst zuschreiben.“ 56 In Kaiser’s und Onassis’ Diensten. Die Deutsche Glasmosaik-Anstalt Puhl und Wagner in Neukölln, Ausst.-Kat., (Berlin, Heimatmuseum Neukölln, 1985), Berlin 1985, S. 8: „Informationen über Verfahren der Mosaiktechnik erhielten sie von dem Italiener Francesco Pellarin, dem technischen Leiter des Hof-Stukkateurs und Kunstmarmorierers A. Detoma in Berlin, der vorher 20 Jahre lang bei Salviati in Venedig gearbeitet hatte. Er vermittelte auch zwei mosaikkundige Italiener, die ihre Mitarbeiter anlernen sollten.“ 57 Deutsche Glasmosaik-Gesellschaft Puhl & Wagner. Hoflieferanten Seiner Majestät des Kaisers. Rixdorf. Brief-Adresse Treptow-Berlin [ohne Jahr, um 1920], Verlagskatalog, S. 4. 58 Posen mit der letzten Kaiserpfalz wird damit zum Sinnbild des kulturellen Verdrängungskampfes der polnischen Kultur nach dem Vorbild Marienburg, die durch Conrad Steinbrecht restauriert wurde, der seine leitenden Motive 1896 formulierte: „Es ist mit einem Wort ein Schöpfungsbau, und den müssen wir mit allen Mitteln handgreiflich wiederherstellen: nicht bloß verständlich für den Kenner, sondern anschaulich für das Volk, damit das Deutschthum auf dem strittigen Boden an der Weichsel sich seines älteren Heimathrechtes und seiner höheren Culturaufgaben bewußt bleibt“; in: Die Wiederherstellung des Marienburger Schlosses, Berlin 1896. Vgl. auch Elisabeth Crettaz-Stürzel, Eine feste Burg – ein festes Reich. Die Rekonstruktion der Marienburg und der Hohkönigsburg als symbolische Grenzfesten des Deutschen Kaiserreichs und die politische ­Burgenrenaissance in Europa, in: Geschichte bauen: Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute, hrsg. Arnold Bartetzky, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 62–90. 59 Julius Meyer Graefe, Der moderne Impressionismus, Berlin 1903, S. 12. 60 Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, hrsg. Eva Kernbauer, Paderborn 2015, S. 9–26. 61 Symptomatisch in den wegweisenden Arbeiten von Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999; Alexander Nagel und Christopher Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010, u. a. S. 130 mit Blick auf das Giotto Denkmal im Dom von Florenz und dem in den 1490er Jahre einsetzenden Versuch von Lorenzo de’ Medici, die ‚verlorene‘ Technik des Mikromosaiks neu zu beleben. Siehe auch Christopher Wood, Forgery, Replica, Fiction. Temporalities of German Renaissance Art, Chicago 2008. Weiterführende Literaturen bieten Carlos Spoerhase Zwischen den Zeiten. Anachronismus und Präsentismus in der Methodologie der historischen Wissenschaften, in: Scientia Poetica 8, 2004, S. 169–230; Annette und Jonathan Barnes, Time out of Joint. Some Reflections on Anachronism, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 47, 1989, S. 253–261; Karl R. Krierer, „Fremde Zei­ ten“ – „Anachronismus und Aporie“, in: Fremde Zeiten. Festschrift für Jürgen Borchardt, hrsg. von Fritz Blakolmer, Wien 1996, Band 2, S. 421–457; Achim Landwehr, Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61, 2013, S. 5–29.

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Rachel Danford

Materials, techniques, and meanings of the stucco reliefs in Cividale del Friuli Introduction The six figures of female saints in the Oratory of Santa Maria in Valle in Cividale del Friuli, better known as the Tempietto Longobardo, are some of the largest figural sculptures preserved from the early Middle Ages. Made from stucco, they stand just under two meters tall and have been rendered in exceptionally deep relief. They occupy a single register on the west wall of the chapel and are arranged in two symmetrical groups of three around a window. The four outermost figures are dressed as aristocratic women and carry jewel-encrusted crosses and crowns. The two innermost ones wear simpler robes with veils and turn slightly toward the central window with their hands raised. All six have haloes rendered in relief behind their heads. Although the date of the Tempietto Longobardo is notoriously controversial, recent technical analyses on a closely related monument – the church of San Salvatore in Brescia – make an origin in the 750s or 760s for the chapel in Cividale likely.1 A date in the third quarter of the eighth century places the Cividale stucco reliefs in the middle of a historical era generally thought to lack large-scale, figural sculpture in stone. After the dissolution of the western Roman Empire, stone never disappeared completely as a sculptural material; but the medium underwent a range of formal and functional changes, including a tendency toward abstraction and flatter forms.2 Stone sculpture persisted especially on liturgical furnishings, but such carvings tended to be non-figural and low in relief. The move away from free-standing, stone statuary may have been motivated in part by Christian concerns over pagan cult practices, idolatry, and the implications of the Second Commandment;3 however, shifts in patronage practices and taste also played a role.4 The Tempietto Longobardo’s stucco saints share little in common with stone reliefs produced in the same place at roughly the same time, which are characterized by shallow dimensions and limited negative space. The birds and fantastic creatures on the Tegurium of Callixtus, Patriarch of Aquileia (c. 737–757), for example, appear pressed up against an

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1  Western wall of the Tempietto Longobardo, Cividale del Friuli, Monastero di Santa Maria in Valle e Tempietto Longobardo.

invisible barrier that constrains their projection; and ornamental motifs are squeezed into the corners of the canopy.5 The humans and angels on the Altar of Ratchis, King of the Lombards (c. 744–749), are equally flat, and an impulse to cover the entire surface guides the design.6 The angels’ improbably long arms and fingers stretch to span the surface area. Free-floating flowers and stars punctuate and fill the negative space. Neither the forms on the ­Tegurium of Callixtus nor those on the Altar of Ratchis approach the monumentality or depth of the Tempietto’s over life-size figures. Moreover, the all-over compositional tendencies exhibited by the Tegurium and Altar are also absent from the Tempietto’s stucco register; instead, the stucco workers designed each saint as a self-contained unit with a clear gap between each figure. The Cividale stucco saints thus appear anachronistic for the eighth century. They have more in common visually with antique Roman statues than they do with contemporary Lombard reliefs.7 As a result, the figures are often invoked as evidence of a “renaissance” moment in early medieval north Italy. Christian Beutler, for example, preferred a Carolingian date instead of a Lombard one for the chapel, since he believed that the stucco workers in Cividale must have relied on antique sculptures for models.8 What

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2  Tegurium of Callixtus, Cividale del Friuli, Museo Cristiano e Tesoro del Duomo.

Beutler perceived as the classical character of the stucco saints only made sense to him in the context of the early Carolingian renovatio. The argument seems to be based on intuition more than anything else, informed as it is by preconceptions about the Lombards

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3  Christ in Majesty, relief from the Altar of Ratchis, Cividale del Friuli, Museo Cristiano e Tesoro del Duomo.

as “outsiders” to the Roman Empire and an obdurate fascination with Charlemagne alone as one who recuperated classical culture around the year 800. More recently, there has been growing interest in accounting for the exceptional formal qualities of the Cividale stucco reliefs by attributing them to a workshop of stucco-working émigrés, who were familiar with materials and techniques used in Umayyad architectural sculpture, either because they came from lands under the direct political control of the Umayyad Empire or from neighboring Byzantium.9 The limited historical record is silent on the question of whether or not transplanted, eastern artisans were present in Cividale in the mid-eighth century, but Isabella Vaj and Bea Leal have both noted visual parallels between Umayyad stuccowork at sites in and around modern-day Syria and Jordan, such as the bath complex at Khirbat-al-Mafjar near Jericho, and Lombard stuccowork at sites in north Italy.10 Technical analysis has also revealed that the artisans responsible for the decorative program in Cividale employed materials that were more frequently used in the eastern half of the Mediterranean than in the West, such as gypsum (Gips, CaSO4) instead of lime (Kalk, CaCO3) for the stucco reliefs and cotton fibers for the frescoes’ intonaco.11 Therefore, a group identity for the stucco workers at Cividale could be inferred on the basis of the artistic practices they employed, which associate them with practices used in the East. If this is true, then the makers of the Tempietto ­Longobardo revived an antique aesthetic for sculpture by using foreign working methods. In other words, they would have looked to the temporally distant past for visual referents but to the geographically distant East for technological knowledge.

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The question of whether or not the artisans in Cividale had relocated from the eastern Mediterranean is impossible to resolve definitively today. Nonetheless, the idea is worth debating for it raises a number of rich questions. For instance, is it possible to identify a cohesive group of artisans, whose members shared a common cultural identity, based solely on the evidence of the technological processes they employed to make their art?12 What roles do mobile artisans play in narratives of disappearance and revival? Apart from traveling human beings, what other vectors might have existed for the transmission of long-distance knowledge in premodern eras? And finally, why does it seem that in art-historical accounts of innovation in the early medieval West, knowledge is routinely believed to have been imported from the East, yet is rarely thought to originate locally?13 In the present essay, I focus on the last question: the historiographical tendency to view the East as a wellspring of technical knowledge for art makers in the West. I recognize the value of models that situate monuments within long-distance networks and emphasize movement and exchange in the early medieval Mediterranean; but I have also found that such approaches tend to eclipse the possibility that innovation might have ­occurred closer to home. Indeed, even if some of the artisans at Cividale came from the eastern Mediterranean, their working methods must have been affected by encounters with Lombard artisans and patrons upon arrival in the region north of the Adriatic. It is difficult to imagine a scenario in which recently arrived craftsmen went out of their way to ignore locally available resources and to avoid conversations with resident craftsmen about how best to use the materials offered by their new environment. Therefore, my goal here will be to explore how methods for making the exceptional reliefs in the Tempi­ etto Longobardo could have been devised either by or in collaboration with artisans trained in the territories controlled by the Lombards. At the end of the essay, I will examine especially how artistic stimuli from contemporary, eighth-century Rome likely informed aspects of the chapel’s design.

A Sustained Technical Tradition A number of art-historical studies published in the past twenty years have argued that stucco relief in one form or another was produced continuously in the West during the same era when figural sculpture in stone fell out of fashion.14 However, a continuous ­tradition does not mean uniformity in style or consistency in use. The technical knowledge for how to produce reliefs in stucco was never lost, but the forms the medium took and the purposes it served evolved over time. For example, Bénédicte Palazzo-Bertholon’s investigations have revealed that a fundamental shift occurred in the materials used to produce stucco reliefs in western Europe in the early Middle Ages.15 Starting in the late eighth and early ninth centuries stucco workers in the West increasingly rejected lime-based stucco in favor of gypsum.16 The change may have been motivated by a desire to make

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larger, deeper reliefs, since gypsum can achieve greater plasticity and fuller forms than lime.17 Another significant fluctuation relates to subject matter and function. In the ­seventh century stucco relief does not seem to have been widely used to depict human figures; it occurred primarily in the form of vegetal and geometric motifs on liturgical furnishings and architectural elements. In this, artistic trends in stucco resemble trends in stone. Nonetheless, one significant difference is that large-scale, figural reliefs rendered in stucco lingered later and returned sooner than large-scale, figural sculpture in stone. A brief overview of the surviving archaeological and literary evidence illustrates the point. Stucco was used for figural reliefs in Christian contexts throughout the fifth and sixth centuries. One early example is the Mausoleum of Quirinus, also known as the Platonia, beneath San Sebastiano in Rome, which dates to around 400.18 Arcosolia originally lined the mausoleum’s walls, though only one arcosolium remains relatively intact today. It shows a standing male figure, wearing a toga and facing frontally with one arm raised. A similar but better-preserved group of 16 toga-clad, male figures standing beneath ­aediculae occurs in the Orthodox Baptistery in Ravenna.19 (colour fig. 1) These date to the third quarter of the fifth century. Yet another group of stucco fragments from Vouneuilsous-Biard near Poitiers show male figures standing beneath an arcade and probably date to the early sixth century.20 Ancient monuments like the tomb of the Valerii (c. 160) in Rome also adopted decorative schemes that lined walls in fictive arcades populated by stucco figures.21 Fifth- and sixth-century examples of figural stucco should thus be understood as instances where this earlier Roman tradition was sustained and adapted to Christian contexts.22 Literary sources reveal that the examples of figural stucco relief that survive today represent only a fraction of what once existed. Agnellus of Ravenna’s ninth-century Liber pon­ tificalis ecclesiae Ravennatis refers to figural reliefs that are no longer preserved. In Chapter 23, he described the stucco in the Ursiana basilica: “here and there they carved in stucco different allegorical images of men and animals and quadrupeds”23. In Chapter 41 on Santa Croce, he noted that the decoration ordered by Galla Placidia (388–450) included carved stucco, and archaeological excavations at the site have uncovered both human and animal forms.24 Another ninth-century writer, John the Deacon, mentions a tondo portrait in stucco of Gregory the Great (sed. 590–604) that was purportedly made in the time of the pope himself.25 The late sixth- or early seventh-century tondo no longer exists, but it may have inspired the tenth-century portrait of Saint Ambrose from Sant’Ambrogio in Milan.26 Interest in using stucco to depict human figures apparently waned in the seventh century. I am unaware of any examples of figural stucco relief — in either the archaeological or historical record — from the period, though accidents of preservation may play a factor. However, the practice of using stucco for ornamental architectural elements and liturgical furnishings endured. For example, Lombard legal codes like the Edict of Rotari (c. 643) ­indicate that there may have been a special subset of craftsmen responsible for working in both wood and stucco at construction sites in early medieval north Italy. Saverio Lomar-

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tire’s interpretation of such codes led him to suggest that liturgical furnishings made from wooden frameworks could have been covered in decorative stucco, which may account for why the same persons would have been responsible for working both materials.27 In the eighth and ninth centuries, the number of surviving figural reliefs increases again. In addition to Cividale, one of the most striking examples is a life-size Virgin and Child sculpture, currently held in the museum of the monastery of San Salvatore-Santa Giulia in Brescia.28

4  Virgin and Child, Brescia, Museo di Santa Giulia.

Though the provenance of the sculpture is uncertain, it may have come from the Benedictine abbey in Leno, founded by the Lombard king and queen, Desiderius (r. 756–774) and Ansa. Reeds inside the sculpture were dated using carbon-14 analysis, which placed it between the second half of the eighth century and the first half of the ninth century.29 With carbon-14 dating, any year within the chronological parameters provided should be

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­considered equally likely, and so the sculpture may be either eighth- or ninth-century. ­Regardless, the relief is certainly early medieval and dates to within a century of the Cividale reliefs. Between the fifth and eighth centuries, then, there were craftsmen living in the territories under the political control of the Lombards who knew how to work in stucco. The region was not a vacuum waiting to be filled with imported technical knowledge but had a living artistic tradition. Even the fact that the stucco saints at Cividale are formed from gypsum does not mean that the artisans responsible had to have come exclusively from the East.30 Palazzo-Bertholon has noted that while lime continued to be the material used for stucco at most sites in western Europe before the eighth century, a few port cities with strong ties to the eastern Mediterranean, such as Ravenna and Marseille, also employed gypsum in earlier centuries.31 Moreover, Mab van Lohuizen-Mulder and Bente Kiilerich have both suggested that late antique figural stuccoes in Ravenna could have inspired the Cividale reliefs.32 The fact that the Lombard king Aistulf (r. 749–756) took Ravenna from Byzantine control in 751 could have led to an interest in using figural stucco in the Tempi­ etto, which was likely constructed after that date and may have been commissioned by Aistulf himself.

Transfers of Techniques Across Media If a Ravennate decorative program, like the one in the Orthodox Baptistery, inspired the Tempietto Longobardo, then the relationship was a loose one, based on a general interest in using stucco to depict human subjects and in creating a multimedia aesthetic. Significant differences in style and execution exist between the saints in the Tempietto and the reliefs in the Baptistery (see figg. 1, 4). The Cividale saints are notably larger, deeper reliefs. Another key distinction lies in the approach to bodily ornament. Not only do the Cividale saints actually hold gemmed objects – crowns and crosses – their clothing also bears small stucco jewels, affixed to their hems. The saints probably had earrings made from glass or gold in their ears, which are pierced. The decision to render the ornaments in three-dimensional detail rather than paint them illusionistically draws attention to the material presence of the jewels and simultaneously hints at the saints’ immaterial vitues.33 In comparison, the bodily ornament in the Orthodox Baptistery is sparse; only ­incised gammadia adorn the figures’ robes. The differences between Ravenna and Cividale should not be surprising, given that three hundred years separate the two monuments. Yet, nothing closer in date compares well to the Tempietto’s saints either. The vegetal and geometric motifs on the arches in San Salvatore in Brescia provide an excellent comparison for the ornamental motifs in Cividale but not for the human figures.34 The only figural stucco relief from San Salvatore – a headless, male torso discovered in the crypt – is smaller and flatter than those in Cividale.35

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5  Torso, Brescia, Museo di Santa Giulia.

Densely packed striations form drapery folds that are more angular and abstract than the folds in the garments worn by the Cividale saints. The Tempietto’s reliefs are, therefore, unique. However, I argue that when dealing with stucco relief, a certain degree of innovation should be expected. Stucco is a versatile material that often borrows techniques from other forms of artistic production. To make stucco, either lime or gypsum must be baked, pulverized, and mixed with sand and water to create a substance that can be modeled directly onto a wall while wet, cast in molds, shaped with stamps, or carved when dry.36 Analogies may be drawn between working in stucco and working in clay, metal, wood, or stone. Equally, as a polychromed, plaster-based material that adheres to walls, stucco is also materially and functionally related to fresco painting.37 Stucco is thus an interstitial medium that falls somewhere between conventional categories of sculpture and painting.38 Anthropologists who perform comparative studies of technology have demonstrated that when artisans adopt techniques that are fundamental to one material but apply them to another, the intermedial transfer of techniques can lead to innovation and unexpected visual effects.39 It is probable that stucco’s innate versatility meant that the medium lent itself well to artistic experimentation through collaboration between artisans who knew how to work in different materials.

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Alternatively, a single artisan who had been trained in multiple materials could apply knowledge of one to another. An eighth-century decorative program from the monastery of St. Martin in Disentis, about 150 kilometers west of Müstair, illustrates how early medieval experiments with intermedial transfers of techniques can result in an idiosyncratic work of art. Over 12,000 plaster fragments dating to the middle of the eighth century were uncovered in excavations at Disentis; these depict both ornamental motifs and figural subjects, including an Apocalypse scene with seven over life-size trumpeting angels and a chorus of saints.40 The scenes are unusual, since they were painted in true fresco while the plaster was still wet, but the plaster was not applied evenly to the wall. The material beneath the figures’ prominent features, particularly the heads, was built up to give them real volume.41 The unexpected visual effect of the image program at Disentis seems to be the result of an artistic experiment, where craftsmen asked what would happen if a method natural to fresco painting (applying pigment while the plaster is still wet) were to be applied to a sculptural surface. The makers of the stuccoes in the Tempietto Longobardo also marshalled a combination of techniques drawn from other media. To describe these methods, I will rely on the information about production provided in Hans Peter L’Orange’s authoritative monograph.42 At Cividale, the female saints were formed from successive layers of plaster built up on the wall and held in place by stabilizing bars.43 Large features, like the garment folds and the flowers in the friezes, were modeled directly on the wall with a knife while the plaster was still wet.44 L’Orange compared the overall modeling of the figures to working in clay, but the use of a knife to marble carving and woodcarving techniques.45 The comparison to woodcarving is problematic, since there are considerable differences between wood and stucco. Foremost among these is the fact that wood is an organic material with a grain, which must be taken into account when it is carved, while stucco is not. However, Lomartire’s hypothesis that carpenters might have served double-duty as stucco workers at some early medieval construction sites makes L’Orange’s comparison to woodcarving an intriguing one.46 A slightly different working procedure was adopted for the bejeweled objects the saints hold and for the frame around the central lunette on the west wall. Each gem, stem, leaf, and cluster of grapes was shaped separately away from the wall, and in some cases molds may have been used. The disparate components were then arranged and affixed, piece-by-piece, onto the saints and onto the arch.47 Blue-green glass bottles in the floral friezes were also pressed, neck-first, into the wet stucco before it had completely dried.48 Finally, the stuccoes would have been painted a secco, although next to nothing of the original polychromy survives today.49 Although the reliefs were not painted in true fresco, there must have been a degree of cooperation between the painters and the sculptors. The frescoes in the middle register slightly overlap areas of coarse, unfinished stucco,

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­suggesting that the artisans conceived of the stucco and the painting as a unit, finishing the stucco first and using the painting to cover up the rough edges.50 The frescoists and stucco workers each had to be aware of what the other was doing in order to coordinate their efforts. It is possible that they were the same people. The stucco reliefs at Cividale, therefore, share much in common technically with other art forms. This raises questions regarding the workers’ training. I suspect that at early medieval sites, craftsmen were often proficient in more than one medium, and that this broad knowledge base, when brought to bear on a versatile material like stucco, could lead to the development of novel forms and effects. Instead of focusing on a notion of identity based exclusively on the geographic origins of the people responsible for the program at Cividale, it would be equally useful to ask about their professional identities as multitalented craftsmen.

Cividale and Rome The final question I address in this paper relates to the motivations that drove the craftsmen at Cividale to develop novel forms. The most common interpretation of the Tempi­ etto Longobardo understands the chapel as a visual affirmation of Lombard political authority, expressed through visual and material references to other imperial and royal monuments, specifically ancient Roman and contemporary Byzantine ones.51 Understood in this way, the stucco figures are deliberately classicizing. However, there are reasons to believe that some Lombard patrons would have wished to distance themselves from ancient Rome and contemporary Byzantium. This sentiment emerges in a pair of inscriptions from an earlier Lombard monument, the monastery church of St. Anastasius in Corteolona outside of Pavia, built by King Liutprand (r. 712–744).52 Though the church is now destroyed, the inscriptions are preserved in a sylloge collection. The first, according to Nicholas Everett’s translation, reads: Behold the house of the Lord, built with beautiful materials, it shines forth and glistens, decorated with various metals. Rome, the capital of the faith, has given it its precious marble, mosaics, and columns, how these give light to the eyes of the world! Hooray for prince Liutprand, the author of this holy work! Your deeds will proclaim you fortunate throughout time, you, who desiring to decorate the triumphs of your people, have stamped the whole country with inscriptions. 53

The text is interesting not only because it records how Liutprand took materials from Rome to Pavia, but also because it identifies Rome as the “capital of the faith”. The second inscription provides further insight. In what may be one of the earliest references to Byzantine Iconoclasm anywhere, it begins by referring to emperor Leo – presumably Liutprand’s contemporary, Leo III (r. 717–741) – as one who fell into schism:54 “When

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the emperor Leo fell into the pit of schism from the heights of the just, persuaded by a wretched philosopher, then I, King Liutprand, decided to build for myself baths with this beautiful marble and these columns”55. Liutprand’s desire to build baths, like an ancient Roman emperor, is implicitly associated with unorthodox rule by mentioning it in the same breath as Leo’s heresy.56 The inscription goes on: Then later I hastened as a devoted man to Rome itself, and when I reached it, I kissed the holy head of S. Anastasius, and suddenly you, Christ, show to me your servant of the ancestral place, in this heart of mine, that I am to build this house in which I pray, holding the palms of my hands towards the stars, ‘Son of God, on behalf of a faithful people, you who rule the angelic assembly and govern all things, I pray that you make the Catholic faith grow with me, and that you favor this temple, just as was said unto Solomon himself’.57

The Corteolona inscriptions offer a portrait of a Lombard ruler who used a monumental commission to express his piety, looked to contemporary Rome for spiritual guidance, and engaged with current theological debates.58 Equally important is how the second inscription aligns Liutprand with a righteous biblical model, the builder of the First Temple in Jerusalem. Ancient Roman and contemporary Byzantine emperors are both considered negative exemplars, whose examples Liutprand rejects in favor of the revered, transtemporal model of Solomon. The inscription, therefore, raises doubts regarding the degree to which Lombard rulers would have consciously sought to align themselves with the ancient Roman past or the Byzantine present. By extension, art historians should reassess whether or not the stucco saints in the Tempietto Longobardo should be understood as deliberately classicizing. Indeed, evidence internal to the chapel suggests that the makers looked to the same conceptual models as Liutprand: Solomon’s Temple in Jerusalem and monuments in contemporary Rome. Referring to churches and chapels as “temples” was habitual in Lombard Italy. For example, the donor inscription on the Altar of Ratchis declares that bejeweled temples should be constructed everywhere (see fig. 3).59 A fragmentary donor inscription on the south wall of the Tempietto itself also mentions “[a]RCES IA[m] TEMPLO [beato]”.60 The chapel, therefore, took the Temple in Jerusalem as a conceptual model and, by extension, looked ahead to the architecture of the Heavenly Jerusalem. Revelation 21:19 describes the heavenly city as being made up of precious stones, and playing off of this description, the columns around the male saints in the Tempietto’s frescoes are encrusted in fictive gems. As previously described, the emphasis on rendering bodily ornament in three-dimensional detail in the stucco also draws attention to the jewels. A desire to create a bejeweled temple, evocative of the Heavenly Jerusalem, could account for some of more unusual formal aspects of the stucco in Cividale. Works of art well-known in eighth-century Rome may also have provided important points of reference. Many scholars, myself included, believe that the chapel’s donors were

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probably an elite married couple, Aistulf (r. 749–756) and Giseltrude, who were the duke and duchess of Friuli before being crowned king and queen of the Lombards in 749.61 If Aistulf was one of the patrons, then the relics that were housed in the Tempietto Lon­ gobardo may have originally come from Rome.62 As king, Aistulf threatened to attack Rome on more than one occasion. The Liber Pontificalis’ life of Stephen II (sed. 752–757) records how once Aistulf set siege to the city for three months and absconded with relics from the local cemeteries: Everything outside the city this pestilential Aistulf devastated with fire and sword, and thoroughly wrecked and consumed it, pressing mightily on so that he could capture the city of Rome. He even dug up the sacred cemeteries of the saints and stole many of their bodies, which was greatly to his soul’s detriment.63

The damning tone with which Aistulf is portrayed is consistent with the overall narrative in the papal biographies, which tend to cast Lombard rulers as violent enemies of the Church.64 Aistulf himself may have viewed his actions in a different light, more like Liutprand piously gathering building materials from Rome for his church in Corteolona. One aspect of the image program in Cividale may also hint at a connection to Rome; the fresco inside the lunette on the west wall may allude to a famous Roman panel painting, the Lateran acheropsita.65 Today, the Lateran panel is badly deteriorated and almost unintelligible, though later copies indicate that it depicted a long-haired Christ, enthroned and facing frontally with one hand raised in a speaking gesture and the other grasping a scroll.66 The Cividale lunette depicts a half-length figure of a long-haired, beardless Christ flanked by the archangels, Michael and Gabriel, who are identified by inscriptions. The Cividale Christ is not a perfect replica of the Lateran panel, but the strict frontality of the pose and the combination of one hand raised while the other holds a text is reminiscent of the Roman image. The shared compositional elements allow for an association to be drawn between the Cividale fresco and the famous cult image. The Lateran painting is first mentioned in the historical record in the Liber Pontificalis’ life of Stephen II. The passage records how early in Aistulf’s reign, he reneged on a peace treaty and threatened to attack Rome. In response, the pope staged an elaborate procession “in the usual way” to ask for divine assistance, during which he carried the Lateran painting on his shoulders to Santa Maria Maggiore.67 The fact that the procession was conducted “in the usual way” indicates that the Lateran Savior was already a prominent image in the city by the middle of the eighth century.68 Aistulf would have no doubt been aware of the Lateran acheropsita’s importance, and it is within the realm of possibility that the lunette fresco on the west wall was intended to evoke it. Indeed, if the Tempiet­ to’s relics also came from Rome, then the decoration of chapel could have declared the relics’ pedigrees by visually invoking a famous work of art from the city where they originated.69

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Conclusion The Tempietto Longobardo is the only monument of its kind to survive today. To account for its exceptional formal qualities, scholars have traditionally looked to temporally and geographically distant sources: the Roman past or the contemporary Byzantine and Umayyad East. This paper has suggested an alternative way in which the Tempietto Lon­ gobardo may be interpreted, namely as an artistic experiment carried out by technically versatile craftsmen, who were embedded in a specific historical context, the northern Lombard kingdom in the mid-eighth century. Historical distance will always complicate the task of recovering information about the practical conditions under which early medieval monuments were constructed. With this in mind, it is perhaps understandable that art historians tend to prioritize the overriding concepts envisioned by patrons over the nuts-and-bolts details of art production. Removed from any sense of what it takes to transform an idea into material reality, some monuments truly do appear to spring from nowhere, to be anachronistic for their times. However, it is possible to demystify such monuments by redistributing the responsibility for creativity between patrons and craftsmen alike and by recognizing that innovative processes of making, such as the transfer of working knowledge across media, could account for some of the more unusual monuments of the early Middle Ages.

Notes 1

Gian-Pietro Brogiolo, Archeologia e architettura delle due chiese di San Salvatore, in: Dalla corte regia al monastero di San Salvatore – Santa Giulia di Brescia, ed. by Gian-Pietro Brogiolo and Francesca Morandini, Mantua 2014, p. 35–87, here p. 77–78.

2

Harald Keller, Zur Entstehung der sakralen Vollskulptur in der ottonischen Zeit, in: Festschrift für Hans Jantzen, ed. by Kurt Bauch, Berlin 1951, p. 71–91; Hubert Schrade, Zur Frühgeschichte der mittelalterli­ chen Monumentalplastik, in: Westfalen 35, 1957, p. 33–64; Millard Fillmore Hearn, Romanesque Sculpture. The Revival of Monumental Stone Sculpture in the Eleventh and Twelfth Centuries, Ithaca 1981; Meyer Schapiro, Romanesque Architectural Sculpture, ed. by Linda Seidel, Chicago 2006; Beate Fricke, Ecce Fides. Die Statue von Conques, Götzendienst, und Bildkultur im Westen, Munich 2007, esp. p. 105–111.

3

Hans-Rudolf Meier, Ton, Stein, und Stuck. Materialaspekte in der Bilderfrage des Früh- und Hoch­

4

Benjamin Anderson, The Disappearing Imperial Statue. Towards a Social Approach, in: The After­

mittelalters, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 30, 2003, p. 35–52. life of Greek and Roman Sculpture. Late Antique Responses and Practices, ed. by Troels Myrup Kristensen and Lea Margaret Stirling, Ann Arbor 2016, p. 290–309. 5

Laura Chinellato, Il battistero di Callisto, l’altare di Ratchis e i marmi del Museo Cristiano. Spunti per una rilettura, in: Forum Iulii 35, 2011, p. 59–84.

6

Laura Chinellato, L’altare di Ratchis, in: L’VIII secolo. Un secolo inquieto (Atti del Convegno internazionale di studi, Cividale del Friuli, 2008), ed. by Valentino Pace, Udine 2010, p. 83–92.

7

As Christian Sapin has described them, the stucco saints in Cividale, along with the life-size stucco figures in Corvey produced a century later, “rappellent une esthétique antique, renouent avec un

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monumentalité et une distribution architecturée des espaces où s’impose une nouvelle iconographie”. Christian Sapin, Germigny-des-Prés et les décors carolingiens, in: Le Stuc. Visage oublié de l’art médiéval, exhib. cat. (Poitiers, Musée Sainte-Croix, 2004), ed. by Christian Sapin, Paris 2004, p. 164–169, here p. 165.   8 Christian Beutler, Statua. Die Entstehung der nachantiken Statue und der europäische Individu­ alismus, Munich 1982, p. 203–205.   9 Sergio Tavano has argued that the makers of the chapel had to be Byzantine, because the proportions of the chapel’s architecture appear to follow Byzantine building conventions. Sergio Tavano, Il Tempietto Longobardo di Cividale, Udine 1990, p. 43. 10 Isabella Vaj, Il tempietto di Cividale e gli stucchi omayyadi, in: Cividale Longobarda. Materiali per una rilettura archeologica, ed. by Silvia Lusuardi Siena, Milan 2002, p. 175–204; Bea Leal, The Stuccoes of San Salvatore, Brescia, in their Mediterranean Context, in: Brogiolo 2014 (note 1), p. 221–246. 11 Aurora Cagnana, et al., Gli affreschi altomedievali del Tempietto di Cividale. Nuovi dati da recenti analisi di laboratorio, in: Forum Iulii 27, 2004, p. 143–153; Aurora Cagnana, et al., Indagini ar­ cheometriche sui materiali da costruzione del ‘Tempietto’ di Santa Maria in Valle di Cividale del Friuli. Gli affreschi altomedievale, in: Archeologia dell’architettura 8, 2004, p. 69–87. 12 Heather Lechtman, Style in Technology. Some Early Thoughts, in: Material Culture. Styles, Organ­ ization, and Dynamics of Technology, ed. by Robert Merrill and Heather Lechtman Merrill, St. Paul, Minnesota, 1977, p. 3–20, here p. 3; K. Patrick Fazioli, Rethinking Ethnicity in Early Medieval Archaeology. Social Identity, Technological Choice, and Communities of Practice, in: From West to East. Current Approaches to Medieval Archaeology, ed. By Scott D. Stull, Newcastle upon Tyne 2014, p. 20–39. 13 For a discussion of how art historians “are not conditioned to see influence running from West to East” see Leslie Brubaker, The Introduction of Painted Initials in Byzantium, in: Scriptorium 45, 1991, no. 1, p. 22–46, here p. 27. 14 Stuck des frühen und hohen Mittelalters. Geschichte, Technologie, Konservierung (Akten des ­Tagungs des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS und des Dom- und Diözesanmuseums Hildesheim, 1995), ed. by Matthias Exner, Munich 1996; Laura Pasquini, La decorazione a stucco in Italia fra Tardo Antico e Alto Medioevo, Ravenna 2002; Le Stuc 2004 (note 7); Stucs et décors de la fin de l’Antiquité au Moyen Âge (Ve–XIIe siècle) (Actes du colloque international, Poitiers, 2004), ed. by Christian Sapin, Turnhout 2006; Martina Corgnati, L’arte dello stucco in Europa dalla tarda antichità all’età gotica, Perugia 2010. 15 Bénédicte Palazzo-Bertholon, La nature des stucs entre le Ve et le XIIe siècle dans l’Europe médiévale. Confrontation de la caractérisation physico-chimique des matériaux aux contextes géologiques, techniques et artistiques de la production, in: Stucs et décors 2006 (note 14), p. 13– 48, here p. 20. 16 Lisa Accurti, Origini e sviluppi della tecnologia e del gusto dell’ornamentazione a stucco nella cultura architettonica occidentale, in: De gypso et coloribus (Atti dei corsi estivi dell’Accademia Albertina di Belle Arti di Torino, Aramengo d’Asti, 2000/1), ed. by Gian Luigi Nicola, Turin 2002, p. 16–27, here p. 17; Palazzo-Bertholon 2006 (note 15), p. 14. 17 Palazzo-Bertholon 2006 (note 15), p. 15. 18 Massimo Bonelli, S. Sebastiano, in: Roma e l’età carolingia (Atti delle giornate di studio, Rome, 1976), ed. by Istituto di storia dell’arte dell’Università di Roma, Rome 1976, p. 302–304; Pasquini 2002 (note 14), p. 73–76. 19 Maria Teresa Pinza, Decorazioni in stucco degli edifici di culto paleocristiani di Ravenna, in: Felix Ravenna 99/100, 1969, p. 31–64.

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20 Bénédicte Palazzo-Bertholon and Christian Sapin, Les décors de stuc de Vouneuil-sous-Biard, in: Le Stuc 2004 (note 7), p. 64–73, here p. 72. 21 Harald Mielsch and Henner von Hesberg, Die heidnische Nekropole unter St. Peter in Rom (Pontificia Accademia Romana di Archeologia 16), 2 vols., Rome 1995, vol. 2, p. 150–199. 22 Claudine Allag and Nicole Blanc, Vouneuil et la tradition des stucs antiques, in: Stucs et décors 2006 (note 14), p. 105–114. 23 “[...] hinc atque illinc gipseis metallis diuersa hominum animalium que et quadrupedum enigmata inciderunt et ualde optime composuerunt.” Agnellus of Ravenna. Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis, ed. by Deborah Mauskopf Deliyannis, Brepols 2006, CCCM 199, p. 170; Agnellus of Ravenna. The Book of Pontiffs of the Church of Ravenna, trans. by Deborah Mauskopf Deliyannis, Washington 2004, p. 119. 24 “Galla uero augusta aedificauit ecclesiam sanctae Crucis, preciosissimis lapidibus structam et gipsea metalla sculpta.” Agnellus of Ravenna 2006 (note 23), p. 200; Gino Pavan, Il problema della decorazione a stucco nelle basiliche ravennati, in: Lo stucco da Bisanzio a Roma barocca. Ravenna e l’Emilia Romagna. I segni di una tradizione ininterrotta, ed. by Silvano Onda, Sonia Celeghin, and Daniele Vistoli, Venice 1996, p. 151–166, here p. 163–165. 25 “Sed et in absidula post fratrum cellarium Gregorius ejusdem artificis magisterio in rota gypsea pictus ostenditur, statura justa et bene formata.” John the Deacon. Sancti Gregorii Magni Vita, ed. by Jacques Paul Migne, Paris 1849, PL 75, col. 230B. 26 Corgnati 2010 (note 14), p. 13. 27 Saverio Lomartire, Commacini e marmorarii. Temi e tecniche della scultura tra VII e VIII secolo nella Langobardia Maior, in: I Magistri commacini. Mito e realtà del medioevo lombardo (Atti del XIX Congresso internazionale di studi sull’alto Medioevo, Varese/Como, 2008), ed. by Centro italiano di studi sull’alto Medioevo, Spoleto 2009, p. 151–210, here p. 174–175. 28 Pier Fabio Panazza, Vierge ‘Théotokos’, in: Le Stuc 2004 (note 7), p. 184–185, Cat.-Nr. 160. 29 Maurizio Tagliapietra, La Madonna in stucco conservata presso il museo della città in Santa Giulia a Brescia, in: Stucs et décors 2006 (note 14), p. 197–202. 30 The stucco at Cividale is mostly gypsum supplemented by a small amount of lime. For the chemical composition see Roberto Salvi, Analisi chimiche degli stucchi, in: La chiesa di San Salvatore in Brescia (Atti dell’VIII Congresso di Studi sull’Arte dell’Alto Medioevo), es by. Gaetano Panazza and Adriano Peroni, 2 vols., Milan 1962, vol. 2, p. 316–321. 31 Bénédicte Palazzo-Bertholon, Confronti tecnici e decorativi sugli stucchi intorno all’VIII secolo, in: L’VIII secolo 2010 (note 6), p. 285–296, here p. 287. 32 Mab van Lohuizen-Mulder, Stuccoes in Ravenna, Porecˇ, and Cividale of Coptic Manufacture, in: Bulletin Antieke Beschaving 65, 1990, p. 139–151, here p. 147; Bente Kiilerich, The Rhetoric of Ma­ terials in the Tempietto Longobardo at Cividale, in: L’VIII secolo 2010 (note 6), p. 93–102, here p. 95. 33 On gems as symbols of saintly virtue see, Cynthia Hahn, Strange Beauty. Issues in the Making and Meaning of Reliquaries, 400–circa 1204, University Park 2012, p. 36–44. 34 Leal 2014 (note 10), p. 227–228. 35 Pasquini 2006 (note 14), p. 100. 36 For a general discussion of how to make stucco see, Hermann Kühn, Was ist Stuck? Arten, Zusam­ mensetzung, Geschichtliches, in: Stuck des frühen und hohen Mittelalters 1996 (note 14), p. 17–24. 37 Roland Möller, Zur Farbigkeit mittelalterlicher Stuckplastik, in: Stuck des frühen und hohen Mittelalters 1996 (note 14), p. 79–93. 38 Martin Hoernes, Dreidimensionale Wandmalerei? Die gotische Stuckausstattung des Regens­ burger “Dollingersaales“, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 145, 2005, p. 19–43.

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39 Heather Lechtman and Arthur Steinberg, The History of Technology. An Anthropological Point of View, in: The History and Philosophy of Technology, ed. by Gearge Bugliarello and Dean B. Doner, Chicago 1979, p. 135–160, here p. 147; Cross-Craft and Cross-Cultural Interactions in Ceramics, ed. by Patrick E. McGovern, Westerville 1989; Knowledge Networks and Craft Traditions in the ­Ancient World. Material Crossovers, ed. by Katharina Rebay-Salisbury, Ann Brysbaert and Lin Foxhall, London 2014. 40 Walter Studer struggled to develop an adequate vocabulary to describe the scenes in his monograph on the site. He decided to classify the reliefs at Disentis as a special subset of fresco by ­defining the images as paintings with underlying plasticity or paintings that had been rendered on top of a volumetric surface. Walter Studer, Byzanz in Disentis. Die Reste einer plastisch unter­ legten Monumentalmalerei byzantinischer Provenienz des 8. Jahrhunderts aus dem Kloster Disen­ tis. Schlüsselergebnisse der Forschung, Zurich 2007, p. 8. 41 Studer 2007 (note 40), p. 252. 42 Hans Peter L’Orange, La scultura in stucco e in pietra del Tempietto, Rome 1979. 43 L’Orange 1979 (note 42), p. 27. 44 L’Orange 1979 (note 42), p. 27–28. 45 L’Orange 1979 (note 42), p. 29–30. 46 Lomartire 2009 (note 27), p. 174. 47 L’Orange 1979 (note 42), p. 28. 48 Ian Freestone and Francesca Dell’Acqua, Early medieval glass from Brescia, Cividale and Salerno, Italy. composition and affinities, in: Il vetro nell’Alto Medioevo (Atti delle VIII Giornate Nazionali di Studio, Spoleto, 2002), ed. by Daniela Ferrari, Bologna 2005, p. 65–75, here p. 65. 49 Bente Kiilerich, Color and Context. Reconstructing the Polychromy of the Stucco Saints in the Tempietto Longobardo at Cividale, in: Arte medievale Ser. NS 7, 2008, no. 2, p. 9–24. 50 L’Orange 1979 (note 42), p. 27. 51 John Mitchell, Artistic Patronage and Cultural Strategies in Lombard Italy, in: Towns and their Territories between Late Antiquity and the Early Middle Ages, eds. Gian Pietro Brogiolo, Nancy Gauthier, and Neil J. Christie, Leiden 2000, p. 347–370; John Mitchell, The Power of Patronage and the Iconography of Quality in the Era of 774, in: 774. Ipotesi su una transizione (Atti del Seminario di Poggibonsi, Poggibonsi, 2006), ed. Stefano Gasparri, Turnhout 2008, p. 263–288; Tavano 1990 (note 9), p. 43. 52 Nicholas Everett, Literacy in Lombard Italy, c. 568–774, Cambridge 2003, p. 248. 53 “Ecce domus domini perpulchro condita textu / Emicat et vario fulget distincta metallo, / Marmora cui pretiosa dedit museumque columnas / Roma, caput fidei, illustrant quam lumina mundi./Euge auctor sacri, princeps Leutbrande, laboris!/Te tua felicem clamabunt acta per aevum, / Qui propriae gentis cupiens ornare triumphos, / His titulis patriam signasti denique totam.”, Sylloge lau­ reshamensis (MGH Poetae 1), ed. Ernst Dümmler, Berlin 1881, p. 105; trans. Everett 2003 (note 52) p. 248. 54 Brubaker and Haldon have questioned the extent to which Leo III actually promoted iconoclastic policies, since the textual evidence from the early eighth century is so sparse. Leslie Brubaker and John Haldon, Byzantium in the Iconoclast Era, c. 680–850, Cambridge 2011, p. 79–93. 55 “Quando Leo cecidit, misero doctore suasus, / Scismatis in foveam recto de culmine Caesar, / Tunc ego regales statui his mihi condere thermas / Marmoribus pulchris Leutbrant rex atque columnis.” Sylloge 1881 (note 53), p. 106; trans. Everett 2003 (note 52), p. 248. 56 Everett 2003 (note 52), p. 250. 57 “Sed Romam properans postquam devotus ad ipsam / Perveni atque sacro capiti mea basia fixi / Sancti Anastasii, servus tuus, ecce repente / Paterna de sede meo hanc in pectore,

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Christe, / Praeclaram fundare domum sub culmine monstras. / Talibus unde meas tendens ad sidera palmas / Vocibus oro: ‘Dei fili, pro plebe fideli, / Qui regis angelicos coetus, qui cuncta gubernas, / Fac, precor, ut crescat mecum catholicus ordo, / Et templo concede isti ut Salomoni locutus.’” Sylloge 1881 (note 53), p. 106; trans. Everett 2003 (note 52), p. 248–249. 58 Everett 2003 (note 52), p. 250–251. 59 “[ma]XIMA DONA XPI AD CLARIT SUBLEMI CONCESSA PEMMONI UBIQUE DIRUTO [fo]RMARENTUR TEMPLA NAM ET INTER RELIQUA [dom]UM BEATI JOHANNIS ORNABIT PENDOLA TEGURO PULCHRO ALTARE DITABIT MARMORIS COLORE RATCHIS HIDEBOHOHRIT.” Nicolette Gray, The Paleography of Latin Inscriptions in the Eighth, Ninth, and Tenth Centuries in Italy, in: Papers of the British School at Rome 16, 1948, p. 38–162, here p. 66. 60 Tavano 1990 (note 9), p. 80–81; for a summary of the differing reconstructions for the inscription see Silvia Cernuschi, L’iscrizione dipinta del Tempietto, in: Cividale Longobarda 2002 (note 10), p. 161–174. 61 Hjalmar Torp, Il Tempietto Longobardo. La cappella palatina di Cividale, ed. by Valentino Pace, Cividale del Friuli 2006, p. 14. 62 There were no famous early Christian martyrs in Cividale. An early modern copy of a thirteenth-century inventio reliquarium records the discovery of a trove of relics inside the chapel, which occurred on May 5, 1242. Carlo Guido Mor, Notizie storiche sul Monastero di Santa Maria in Valle, in: Hjalmar Torp, L’Architettura del Tempietto, Rome 1977, p. 245–256, here p. 252. 63 “Omnia extra urbem ferro et igne devastans atque funditus demoliens consumsit, imminens vehementius hisdem pestifer Aistulfus ut hanc Romanam capere potuisset urbem. Nam et multa corpora sanctorum, effodiens eorum sacra cymiteria, ad magnum anime sue detrimentum abstulit.” Le Liber Pontificalis. Texte, introduction, et commentaire, ed. by Louis Marie Oliver Duchesne, 3 vols., Paris 1955–1957, vol. 1, p. 451–452; The Lives of the Eighth-Century Popes (Liber Pontifica­ lis). The Ancient Biographies of Nine Popes from AD 715 to AD 817, trans. by Raymond Davis, Liverpool 1992, p. 69–70. 64 Neil Christie, From Constantine to Charlemagne. An Archaeology of Italy, AD 300–800, Burlington 2006, p. 49. 65 I have adopted the spelling from the Liber Pontificalis. 66 Nino Zchomelidse, The Aura of the Numinous and its Reproduction. Medieval Paintings of the Savior in Rome and Latium, in: Memoirs of the American Academy in Rome 55, 2010, p. 221–262, here p. 223. 67 “In una vero dierum cum multa humilitate solite procedens in letania cum sacratissima imagine domini Dei et salvatoris nostri Iesu Christi, quae acheropsita nuncupatur, simulque et cum ea alia diversa sacra mysteria eiciens, proprio umero ipsam sanctam imaginem cum reliquis sacerdotibus hisdem sanctissimus papa gestans, nudisque pedibus tam ipse quamque universa plebs incedentes, in ecclesia sanctae Dei genetricis, quae ad Praesepem nuncupatur.” Liber Pontificalis 1955 (note 63), p. 443. 68 Gerhard Wolf, Salus Populi Romani. Die Geschichte römischer Kultbilder im Mittelalter, Weinheim 1990, p. 60–73. 69 Gillian Mackie has made a similar argument about the image program in San Venanzio in Rome. The mosaics in the chapel declare the origins of the relics by imitating portrait types from the relics’ original shrines in Dalmatia. Gillian Mackie, Early Christian Chapels in the West. Decoration, Function, and Patronage, Toronto 2003, p. 222–223.

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Joanna Olchawa

Von der Antike zum Alten Testament: Geschichte und Technikikonologie des karolingischen Bronzegusses Die Technik des Bronzegusses unter dem Aspekt des Anachronismus zu betrachten – und ihn damit zu einer bestimmten Zeit als ‚unzeitgemäß‘ zu bezeichnen – erscheint vermessen und ein nahezu unmögliches Unterfangen. Denn wie kaum eine andere künstlerische Technik war die Herstellung von Objekten aus Bronze beziehungsweise Messing in den verschiedenartigsten, zeitlich wie auch geografisch weit voneinander entfernt liegenden Kulturen bekannt.1 Vor etwa 5.000 Jahren entwickelt, breitete sich das Verfahren rasch in Europa, Afrika, Asien bis in das nördliche Sibirien aus; vor allem im hellenistischen Griechenland und der römischen Kaiserzeit wurde ein mannigfaltiges Spektrum an Werken geschaffen, die aufgrund ihrer Materialeigenschaften, der Formen und des annähernd einwandfreien Gusses auch noch heute große Faszination ausüben.2 Dies wird in den die Bronze thematisierenden Ausstellungen deutlich, in denen die Artefakte um kunst- und kulturhistorische Betrachtungen, naturwissenschaftliche Analysen sowie Material- und Technikgeschichte(n) ergänzt werden.3 Dieser durch die Objekte bezeugten Tradition steht entgegen, dass in Überblickswerken zur Geschichte des Bronzegusses im vormodernen Europa häufig eine lineare Darstellung mit mehreren ‚Brüchen‘ vermittelt wird: Den kunsthistorischen Erzählungen zufolge ging mit dem Untergang des Römischen Reichs das Wissen um das Verfahren verloren und erfuhr erst im frühen 9. Jahrhundert unter Karl den Großen eine neue Förderung. Die Bronzeproduktion stagnierte dann angeblich im 10. Jahrhundert, um mit den Werkstätten des Hildesheimer Bischofs Bernward (993–1022) zu einer neuen Blüte zu gelangen.4 Nach einer wiederholten ‚Unterbrechung‘ wurde die Bronze schließlich in der italienischen ­Renaissance – gemeinsam mit dem Marmor – zum beliebtesten Material zur Schaffung von Bildwerken.5 Dies ist heute nicht nur anhand der Werke selbst, sondern auch an den überlieferten Namen der beteiligten Meister wie Lorenzo Ghiberti, Donatello oder Benvenuto Cellini fassbar. Auffällig ist im Kontext dieser Geschichte, dass immer wieder mit dem Begriff der ‚Renaissance(n)‘ und dementsprechend mit einem implizierten Antikenbezug

Geschichte und Technikikonologie des karolingischen Bronzegusses I 47

gearbeitet wird. Die Verwendung von Bronze sowie dem Gussverfahren werden hierbei als kulturelle und politische Rezeption und Erneuerungen gedeutet, die eine Zeit ‚vorher‘ benötigen, in der sowohl das Material als auch die Technik nicht oder kaum bekannt ­waren. Dieses Narrativ verstellt den Blick darauf, dass solche ‚Brüche‘ nicht stattgefunden ­haben und somit das technische Wissen um den Bronzeguss niemals gänzlich verloren war. Auch werden hierbei wesentliche Aspekte in der Entwicklung und Verbreitung simplifiziert. Denn das Verfahren ist stets aufwendig und arbeitsteilig konzipiert, zudem müssen sowohl die Zugriffsmöglichkeiten auf die benötigten Rohstoffe Kupfer und Galmei als auch die Verfügungsgewalt über das technische Vermögen des Herstellens der Legierung und des Gießens gewährleistet sein. Damit verbunden ist, dass es mehrere Varianten des Gusses gab wie das Massiv- und das Hohlgussverfahren, das Gießen in einem Prozess oder das anschließende Montieren oder Zusammenlöten der einzelnen Teile (direktes und indirektes Wachsausschmelzverfahren) sowie die Verwendung von Modeln, die eine multiple Herstellung des Tonkerns oder aber der ganzen Form ermöglichten.6 Die kunsthistorischen Erzählungen von den Brüchen und Neuanfängen in der Produktion von Bronze werden auch in Teilen durch das Desinteresse des Fachs an den tatsächlichen technisch-mechanischen Verfahren gestützt: Zwar werden des Öfteren in Ausstellungen die Verfahren um die Herstellung der Legierung sowie des eigentlichen Bronzewerkes veranschaulicht und häufig die einzelnen Arbeitsschritte mit Angabe der Werkzeuge dezidiert rekonstruiert,7 doch finden diese Aspekte der „schmutzige[n] und rauchige[n] Arbeit“, wie Pomponius Gauricus dies in der Renaissance beschreibt,8 kaum in der wissenschaftlichen, kunsthistorischen Literatur breitere Aufmerksamkeit. Die stärkere Beachtung der verwendeten technischen Verfahren aber ist für die Erforschung von größter Bedeutung, weisen doch die Bronzegüsse neben ihrem Material und ihren formalen Lösungen noch eine weitere Perspektive auf: Wie das Material Bronze kann auch die Technik als Bedeutungsträger fungieren. So bewunderte schon Augustinus den Wechsel der flüssigen Legierung in einen festen Gegenstand, wenn beim Guss die Gestaltlosigkeit des Materials die ihr zugewiesene Form annahm.9 Hinzu kommt, dass sich anhand der gewählten Technik spezifische Intentionen, historische und topografische Bezüge ablesen lassen, so dass in Analogie zu einer Materialikonologie der Bronze auch eine Technikikonologie postuliert werden kann.10 Für die Diskussion und Analyse der mannigfaltigen mit dem Bronzeguss verknüpften Bedeutungen sind insbesondere die karolingischen Werke prädestiniert. Nicht nur wurde bereits 1911 in Aachen nahe der Pfalzkapelle der Schmelzplatz mit Öfen ausgegraben, der eine Entstehung von Monumentalbronzen in situ unter Beweis stellt, auch bezeugen die dort erhaltenen Gitter, Türen und Türzieher sowie weitere, in angrenzenden Regionen hergestellte Werke eine herausragende Qualität des Gusses. Zudem lassen sich an diesen Objekten verschiedene technische Varianten verifizieren, die die vielfach gerade im Kontext der ‚karolingischen Renaissance‘ behauptete Orientierung an der Antike stark relativieren11 und verdeutlichen können, welche

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anderen Bezugspunkte bei der Wahl der Technik ausschlaggebend waren. Ergänzend lassen sich über Schriftquellen heute verlorene Werke rekonstruieren, die die beachtliche Quantität der karolingischen Bronzeproduktion vor Augen führen und somit ein neues und verbessertes Bild der weiten Verbreitung des technischen Know-how entwerfen. Dementsprechend bildet bei einer systematischen Untersuchung der karolingischen Bronzen der spezifische Blick auf Phänomene der Anachronie eine hilfreiche Fokussierung. Denn er verdeutlicht erstens, dass die vermeintlichen ‚Brüche‘ in der Geschichte des Bronzegusses vor und nach den karolingischen Werkstätten nicht stattgefunden haben. Zweitens fordert er die Prüfung der Thesen von Bezugnahmen auf die realiter erhaltenen Bronzen der Antike sowie auf die im Alten Testament beschriebenen Artefakte. Auf diese Weise kann veranschaulicht werden, dass die Technik weniger als Fortführung der Antike zu verstehen ist, als vielmehr diese zu übertrumpfen sucht. Damit werden die Anachronismen sowohl zur Entstehungszeit der Objekte als auch durch heutige Untersuchungen nachvollziehbar.

Bronzen unter Karl dem Großen (768–814) Karl der Große konzentrierte sich bei der Ausstattung der Aachener Pfalzkapelle mit Bronzewerken offenbar primär auf Objekte monumentalen Ausmaßes. Obwohl zahlreiche Stiftungen aus Gold und Silber schriftlich überliefert sind, werden keinerlei kleinformatige Bronzen mit ihm oder der ursprünglichen Einrichtung der Marienkirche in Verbindung gebracht. Vorhandene Stiftungen werden heute vielmehr im Zusammenhang mit anderen weltlichen und geistlichen Eliten seiner Zeit gesehen.12 Auf den kaiserlichen Auftrag ­gehen insbesondere die prominenten, heute noch in der Aachener Pfalzkapelle befind­ lichen Bronzegitter und -türen zurück, die 1965 Wolfgang Braunfels zu den Worten veranlassten: „Es gibt im ganzen Mittelalter nur wenig bessere Bronzen“13. Diese Bewertung bezog sich auf den annähernd einwandfreien Guss, der bereits von Zeitgenossen Karls große Bewunderung hervorgerufen hatte: Dem Biografen des Kaisers und Leiter der ­Hofwerkstätten Einhard (770–840) zufolge erbaute jener „die wunderschöne Kirche in Aachen, die er mit Gold und Silber, mit Leuchtern und mit Gittern und Türen aus massivem Metall ausschmückte“14. Auffällig ist, dass die Bronzewerke explizit genannt und als „massiv“ bezeichnet werden. Diese Betonung ist jedoch nicht wörtlich zu verstehen (entstanden doch sowohl Gitter als auch die Türen zumindest teilweise im Hohlgussverfahren), sondern bezieht sich wohl vielmehr auf die Herstellung in einem Prozess.15 Im Obergeschoss des Kirchenraumes stehen – die Empore nach innen abgrenzend – die erhaltenen acht Brüstungsgitter, die durch ihre Muster jeweils als Paar aufeinander bezogen sind und aus einer Rahmung mit einem mehrfach gegliederten Innenteil bestehen.16 Der Osten und Westen als Hauptrichtungen werden durch drei- bzw. fünfteilige Gitter betont, während vierteilige Brüstungen die restlichen Seiten des Oktogons schmücken.

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6  Das Westgitter in der Aachener Pfalzkapelle, Aachen, um 800.

Seit der Studie von Wolfgang Braunfels werden die Gitter des Öfteren als „fränkisch“, „römisch“ und „klassizistisch“ bezeichnet, auch wenn seine Klassifizierungskriterien eher ideologisch geprägt sind und sich somit heute nicht als haltbar erweisen.17 Eine neue Deutung formulierte Bruno Reudenbach, der darauf verwies, dass die antik geprägten Motive wie die Akanthusranken bei den Gittern eher in die äußere Randzone gedrängt werden, während die zentralen Felder durch Geometrisierung geprägt und im Kontext der mittelalterlichen Kosmosikonografie von Kreis, Kreuz oder Raute zu verstehen sind.18 Aus räumlicher sowie technischer Perspektive ist das Gitter im Westen vor dem Thron von besonderer Bedeutung: Die Rahmung teilt es in fünf Felder, wobei das mittlere ausgelassen ist. An Scharnieren ist eine Tür angebracht, die beim geöffneten Zustand den Blick auf den gegenüberliegenden Altar im Untergeschoss frei gibt. Wie das östliche Gitter ist es zwar, den anderen Brüstungen gleich, in einem Stück gegossen, jedoch nachträglich vom Tonkern im Inneren befreit.19 Dies ist beispielsweise ­zwischen den vorderen und hinteren Akanthusblättern der Rahmung zu erkennen. (Farbabb. 2) Da der Osten und der Westen die liturgisch bedeutsamen Richtungen sind, liegt die Vermutung nahe, dass die aufwändigere Bearbeitung die hierarchisch herausragenden Standorte betonen, auch wenn der technische Unterschied zu den anderen Gittern kaum mit dem Auge zu erfassen ist.

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7  Sogenannte Wolfstür, Aachen, um 800, Westvorhalle.

Die ursprünglich fünf, heute nur noch vier erhaltenen Doppelflügeltüren der Aachener Pfalzkapelle entstanden – wie der Baubefund verdeutlicht – im Verlauf der Bauarbeiten und werden heute wie die Gitter in die Zeit um 800 datiert.20 Die größere, sogenannte Wolfstür bildete einst den Zugang von der offenen Westvorhalle zum Kirchenraum und ist heute am Außenportal dieser Vorhalle zu sehen. Die drei kleineren Türen sind an den Nebenportalen im Norden und Süden, namentlich an der Karls-, Hubertus- und Annakapelle positioniert. Alle Türen bestehen aus zwei in einem Stück gegossenen Flügeln, an denen nur die Türzieher separat montiert wurden. Gegliedert sind sie durch rechteckige Kompartimente, die eine Rahmung aus Eier- und Perlstab sowie Blattzungenfries aufweisen. Zusätzlich umrahmt eine umlaufende Leiste die Felder. Die große Tür scheint massiv gegossen, während die kleinen offenbar im Hohlgussverfahren entstanden sind, da spätere Ausbrüche den Tonkern im Inneren andeuten. Zwar wird auch hier das Vermögen angedeutet, zwei Techniken zu beherrschen, jedoch überwiegen wahrscheinlich technische und statische Gründe für die unterschiedliche Anfertigung.

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Die sorgfältig gearbeiteten Löwenkopf-Türzieher sind mit Nieten an den Türen befestigt, bei den kleinen Türen in den mittleren Feldern und bei der Wolfstür im zweiten Kompartiment von unten. Letztere besitzen einen nach unten gesenkten Kopf mit großen, plastisch modellierten Augen und eine fein gewellte Zottelmähne. Gerahmt wird der Kopf jeweils durch einen Streifen mit Akanthusblättern. Die Türzieher der kleineren Türen hingegen tragen nach vorn ausgestreckte Köpfe mit großen Augen, einer umrahmenden Lockenmähne und einem feinen, äußeren Perlrand. Ursula Mende unterschied hierbei zwei Varianten, von denen sich ‚Typ B‘ auch bei den anderen Türen wiederhole und somit die Arbeit mit Modeln bezeuge.21 Mit Karl dem Großen werden noch weitere, jedoch nur schriftlich überlieferte Bronzen verbunden: Einen ‚ehernen Adler‘ mit wohl ausgebreiteten Flügeln ließ er offenbar auf dem Giebel seiner Pfalz anbringen. Der Reimser Chronist Richer von Saint-Remi (940–980) erwähnt diesen bei seiner Schilderung des Überfalls von König Lothar auf Aachen im Jahr 978, bei dem Kaiser Otto II. fliehen musste. Als politisches Zeichen, dass Aachen nun zum Westreich gehörte, drehte man den Adler gen Osten.22 Auch Thietmar von Merseburg (975–1018) überliefert dieses Ereignis und berichtet zum Adler: „Er steht auf der Ostseite des Palasts, und allen Besitzern dieses Ortes war es Brauch, ihn auf ihre Reiche auszurichten“23. Es könnte sich bei dem Adler um eine Spolie gehandelt haben – vergleichbar dem im 11. oder frühen 12. Jahrhundert auf dem Pisaner Dom aufgestellten islamischen Bronzegreifen24 – oder aber um ein von Karl dem Großen in Auftrag gegebenes und damit neu hergestelltes Werk, was die dem Artefakt zukommende politisch-repräsentative Bedeutung nahelegt.25 Der Kaiser stiftete außerhalb Aachens womöglich noch eine weitere Großbronze, ­einen Siebenarmigen Leuchter für die Salvatorkirche in Aniane. Dieser bestand aus sieben Lampen, „aus deren Schaft Stiele, kleine Kugeln und Rohre und nussförmige Becher ­hervorgehen“, die „nach dem Vorbild jenes Leuchters gemacht“ sind, „den Beseleel mit erstaunlicher Hingabe herstellte“.26 Bedeutsam für den hier diskutierten Kontext ist auch eine mit dem Kaiser einhergehende liturgie- und technikgeschichtlich relevante Veränderung. Er bestimmte nämlich im Aachener Kapitular von 801, dass „alle Priester ihre Glocken zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten läuten“27 sollten. So wurde im Jahre 817 verfügt, dass jede Pfarrei mindestens zwei, jede Stiftskirche drei und jede Bischofskirche mindestens sechs Glocken besitzen müsse. Vor dem Hintergrund dieser Neuregelung kann man sich die Quantität der von diesem Zeitpunkt an hergestellten Glocken vorstellen. Wurde bisher auf das Werk von Canino in Italien aus dem 9. Jahrhundert als der ältesten erhaltenen gegossenen Glocke verwiesen,28 sind 2015 zwei nah beieinander liegende Glockengussanlagen mit Ton-, Keramik-, Holzkohle- und Bronzeresten in Dülmen (Kreis Coesfeld) geborgen worden. Sie verweisen auf zwei gegossene Glocken (eine davon mit einem Durchmesser von 90 Zentimetern), die auf der Basis von C14-Analysen der Kohlestücke in der Anlage in die Zeit zwischen 665–775 und 670–775 datiert werden können, wobei derzeit „vor/um 775“ ange-

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nommen wird.29 Bereits vor den Werkstätten Karls des Großen in Aachen waren also große Gussanlagen für monumentale Werke vorhanden, die aber mit seiner Missionierung im Zusammenhang standen. Schriftlich überliefert ist ferner, dass Papst Leo III. bereits im Jahr 799 bei seinem B ­ esuch in Sachsen eine heute nicht mehr erhaltene Glocke für eine Kapelle in Berchkerken (Minden) weihte und 809 dem Kaiser eine weitere schenkte.30 Bekannt ist ferner der Topos von dem betrügerischen Glockengießer Tanco, der dem Kaiser angeboten hatte, eine Glocke aus Silber zu gießen, dieses Material aber entwendete und stattdessen eine Glocke aus Zinn anfertigte.31 Außerhalb Aachens sind nur wenige großformatige Werke aus der Zeit Karls des G ­ roßen bekannt. Bisher wurde lediglich ein im 7. oder 8. Jahrhundert hergestelltes Gitterfragment in Pavia genannt, das ebenfalls massiv und in einem Stück gegossen wurde und erstaunliche formale Parallelen zum Westgitter in Aachen aufweist.32 Es besitzt ein Rautenmuster, bei dem die Kreuzungspunkte durch einen Ring betont sind. Erhalten sind ­ferner einige Ausstattungselemente wie Türzieher und Weihrauchfässer.33 Archäologen ergänzten den Bestand mit weiteren, vornehmlich aus Haithabu und Westfalen stammenden Kleinfunden wie Fibeln, Gürtelschnallen, Pferdegeschirr, Schlüsseln.34 Auch diese Werke sind gegossen, wobei teils mit ein- oder zweiteiligen Modeln gearbeitet wurde und sie als massiv zu bezeichnen sind. Diese Objekte weisen aufgrund ihrer Vervielfältigung auf eine massenhafte Herstellung für den Handel und somit auf eine andere Situation als die kaiserlichen Großbronzen hin. Dennoch verdeutlichen sie, dass das technische Guss­verfahren bekannt und regional sowie zeitlich weit verbreitet war. Die von Wolfgang Braunfels gestellte Frage nach der Herkunft der für die Aachener Türen und Gitter verantwortlichen Handwerker35 kann somit mit dem Verweis auf die kleinformatigen Werke ad acta gelegt werden: Sie waren bereits vor Ort, arbeiteten kontinuierlich und mussten das Verfahren nicht ‚neu‘ erfinden, sondern nur in neue Kontexte, auf neue Motive und neue Formate übertragen. Verstärkt werden kann dieser Befund durch weitere produktionstechnische Aspekte: Die im Jahr 1911 durchgeführten Grabungen des Regierungsbaurates Erich Schmidt an der Westseite des heutigen Katschhofes in Aachen ließen Reste eines Ofens, wahrscheinlich zum Aufschmelzen von Bronzeschrott oder zur Herstellung von Bronze- oder Messingrohmasse, zu Tage treten.36 Neben dem runden Ofen, der wahrscheinlich mit einer Lehmkuppel ausgestattet war, wurden zwei ‚Gussformfragmente‘ gefunden, die jedoch während des Zweiten Weltkrieges oder kurz darauf verloren gingen. Eine erhaltene Abbildung veranschaulicht, dass es sich entweder um das Fragment eines Wachsmodels zur Herstellung der eigentlichen Gussform oder aber lediglich einen Ausguss des Fundes handelt.37 Eine direkte Verbindung zu den in Aachen erhaltenen Großbronzen aus dem Umfeld von Karl dem Großen ist leider nicht möglich: Der am Rand des Fragmentes sichtbare Perlstab entspricht nicht dem Verzierungselement auf einer der Türen; entweder gehörte er ursprünglich zu der heute nicht mehr erhaltenen Tür oder er zeigt einen misslungenen Model- oder Gussversuch.38

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8  Gussformfragment, gefunden im Katschhof, nördlich des Domes, ehemals Aachen, Dommuseum (Kriegsverlust).

Weitere für die Buntmetallherstellung verantwortliche Werkstätten konnten in Haithabu, aber auch an zentralen Orten wie Paderborn, Dortmund, Höxter, Münster und Soest, in Klöstern wie in Corvey oder in ländlichen Siedlungen wie Kückshausen anhand vielfältiger archäologischer Funde lokalisiert werden.39 Als bedeutsam und aussagekräftig für die Rekonstruktion gelten die aufgefundenen Fragmente von Schmelzöfen und Tiegeln, in denen sowohl der Galmei mit dem Kupfer vermischt werden konnte als auch die fertige Kupferlegierung für den eigentlichen Guss vorbereitet wurde.40 Dass die Werkstätten an diesen Orten ansässig waren, bezeugen zudem geborgene Gießereimaterialien mit Rohund Fehlgüssen, Werkstücken, Formen und Modeln.41

Der Bronzeguss vor Karl dem Großen Die genannten archäologischen Funde und Objekte belegen nicht nur die Existenz von mehreren Bronzegusswerkstätten vor den Großaufträgen Karls des Großen, sondern auch deren Kontinuität. Innerhalb der Geschichte des Bronzegusses – die in dieser Zeit vornehmlich anhand von Kunstwerken geschrieben wird – muss folglich die insbesondere in der kunsthistorischen Forschung tradierte Ansicht von der Wiederaufnahme der Technik „after

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a break of some 400 years“ als obsolet erachtet werden.42 Dies bestätigen weitere metallurgische, insbesondere die Verhüttung betreffenden Untersuchungen. Schon seit der ­Römerzeit war Galmei für die Herstellung von Bronze bzw. Messing bekannt und wurde südöstlich von Aachen bei Stolberg und Gressenich abgebaut. Auch in den Harzbergen kann neueren Forschungen zufolge der Beginn der Verhüttungsaktivität bereits um etwa 700 angesetzt werden. So sind die sächsischen Burgen Syburg bei Dortmund und Eresburg bei Marsberg mit Montanaktivitäten verknüpft. Christoph Bartels nahm sogar an, dass „der Griff nach dem Sachsenland auch auf diese Rohstoffe und Produktionsstandorte zielte, und möglicherweise der Harzraum gerade wegen seiner metallischen Rohstoffe und ihrer Verhüttung dem Frankenreich einverleibt wurde“43. Hinzu kommen über 10.000 merowingische und wikingerzeitliche Gussformfragmente aus Ton, die in Norddeutschland, England und Skandinavien zum Vorschein kamen, und die die weitverbreitete und massenhafte Herstellung von Bronzeartefakten eindrucksvoll bezeugen können.44 All dies bedeutet jedoch nicht, dass die Referenzen auf die römische und Bezugnahmen auf eine als ‚imperial‘ aufgefasste Antike innerhalb der karolingischen Bronzepolitik keine wichtige Rolle spielten. Gerade die schriftliche Tradition überlieferte das Wissen um die antiken Großbronzen ins Mittelalter: Großformatige Plastiken waren in antiken S­tädten nicht nur für jedermann sichtbar aufgestellt, sie verwandelten diese geradezu in „Statuenwälder“45. Noch nach der Christianisierung und der Verwüstung Roms durch­Totila im Jahr 546 sind dort zwei Kolosse, 22 Reiterstatuen und 3.785 Bronzestatuen dokumentiert.46 Dabei wurden die zahlreichen Gebrauchs- und Ausstattungsgegenstände wie Säulen, Gitter oder Türen in den Schriftquellen kaum beachtet, gleichwohl mehrere Türen beispielsweise in Rom die Gebäude zierten.47 Für Aachen war sicherlich die Mainzer porta aurea als ideeller Bezugspunkt bedeutsam, eine 1845 dort in der Albanschanze ausgegrabene antike Zweiflügeltür mit Durchbruchsornamentik. Von dieser sogenannten Transennentür konnte jedoch nur die linke Hälfte gerettet werden.48 Der Flügel gliedert sich innerhalb einer umlaufenden Rahmung in zwei unterschiedlich große offene Felder mit einem Rautengitter oben sowie einem Schuppenmuster unten und wird aufgrund dieser stilistisch-ornamentalen Eigenschaften in die Zeit zwischen 40 und 70 n. Chr. datiert.49 Wahrscheinlich schmückte diese Tür bereits zur karolingischen Zeit den Eingang der Kirche des Benediktinerklosters St. Alban. Der Fund macht in Bezug auf ‚Karls Bronzen‘ dreierlei deutlich: Erstens wurden die karolingischen Gitter und Türen nicht unbedingt in Ermangelung antiker Originale geschaffen; zweitens fungierte die durchbrochene Form mit der floralen Rahmung als eine der visuellen Referenzen für die Brüstungsgitter (was bisher kaum beachtet wurde) und drittens unterschieden sich die antiken und die mittelalterlichen Techniken gravierend voneinander. Denn nahezu alle antiken (griechischen und römischen) Großbronzen zeichnen sich durch die Anwendung des indirekten Wachsausschmelzverfahrens aus – sie sind folglich in mehreren Teilen gegossen und anschließend zusammengelötet worden, während die ­karolingischen Werke in einem Stück gegossen sind.50

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9  Bronzeplastik in Gestalt einer Bärin, griechisch, 3. Jahrhundert v. Chr., Aachen, Domvorhalle.

Diese antike Bronzegusstechnik wird in Aachen durch die Bärin vor Augen geführt, einer heute an der Südwand der Domvorhalle in Aachen aufgestellten Bärenplastik. Auch wenn keine Quellen eine Überführung durch oder Verbindung mit Karl dem Großen dokumentieren, wird vermutet, dass er sie aus Rom mitbrachte, wo sie wiederum als griechische Spolie aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. aufgestellt war.51 Dass sie durch den Kaiser ihren Weg nach Aachen fand (und nicht etwa erst später in der Ottonenzeit transloziert wurde), lassen die von Hermann Schnitzler und Ursula Mende herausgestellten stilistischen Parallelen zwischen dem Kopf der Bärin mit dem Mähnenkranz, der sich verjüngenden Schnauze, den großen Augen und den vergleichbaren Formen der karolingischen Türzieher vermuten.52 Dies kann jedoch aufgrund der allgemeinen Charakteristika in Frage gestellt werden. Der Schlitz an der rechten Halsseite lässt sich als eine Stichwunde verstehen, die gemeinsam mit der Sitzposition des Tieres andeutet, dass das Objekt ehemals zentraler Teil eines Jagdgruppen-Ensembles gewesen ist.53 Dieses transitorische Moment zwischen dem Verenden des Tieres und seinem letzten Aufbäumen interpretierte Horst Bredekamp in Bezug auf die Technik, „[a]ls Guss ist sie die erstarrte Form von Bewegung und damit latent beweglich“54, was jedoch für alle anthropomorphen und zoomorphen Bronzen gelten könnte. Aus dem 7. Jahrhundert sind ferner – wenn auch nicht mehr erhalten – mehrere Bronzen schriftlich überliefert oder gar ihr Verbot erwähnt.55 Auf der Synode von Reims (624/625) wurde die Herstellung und der Gebrauch von Priester- oder Messkelchen aus Bronze resp. Messing aus Gesundheitsgründen verboten.56 Aus St. Hilaire

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zu Poitiers stammte ein freistehendes, mit Evangelisten und anderen Figuren geschmücktes Adlerpult, das im 7. Jahrhundert nach Saint-Denis gelangte.57 Dort befand sich auch eine zweiflügelige Bronzetür, die offenbar figürliche Reliefs mit Darstellungen des hl. Diony­sius und des Stifters, des Mönches Airardus, besaß.58 Begleitet von einer Inschrift präsentierte sich der vermeintliche Stifter bei der Übergabe der Türflügel an den Heiligen.

Der Bronzeguss nach Karl dem Großen Auch nach dem Tod Karls des Großen oder der Teilung des Reiches 843 brach die Kontinuität in der Herstellung von Bronzegüssen nicht ab. In die Zeit um 870 ist eine der prominentesten kleinformatigen Bronzen datiert, die noch mit dem Kaiser in Verbindung ­gebracht wird: die im Pariser Louvre aufbewahrte Reiterstatuette.59 Das aus einem Reiter in fränkischer Tracht und königlichen Attributen sowie einem proportional sehr ­kleinen Pferd bestehende Ensemble hat vornehmlich aufgrund seiner ungeklärten tech­ nischen Fragen und damit verbundenen Datierungsschwierigkeiten viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt. Denn es ist eines der wenigen kleinformatigen Werke, das aus ­mehreren miteinander verschraubten, teils hohlförmig gegossenen Teilen besteht. Es entsteht der Eindruck, als würden sie nicht ursprünglich zusammengehören, so dass für das Pferd eine Entstehung in der Antike oder in der Renaissance vorgeschlagen wurde. Legierungsuntersuchungen aber unterstreichen trotz unterschiedlicher Zusammensetzungen die stilanalytische Annahme von einer Herstellung aller Teile im 9. Jahrhundert. Neu den erhaltenen Großbronzen des 10. Jahrhunderts zugeordnet ist die Tür in Augsburg, für die kürzlich aufgrund stilistischer Eigenschaften der Tafeln mit Darstellungen von Sternzeichen, Tierkreiszeichen, Jahreszeiten und Monatsarbeiten sowie dendrochronologischer Untersuchungen der Gerüsthölzer im Dom eine Datierung zwischen 995 und 1006 angenommen wird.60 Die Flügel zeigen rechts drei und links zwei Reihen einzelner auf den Holzgrund montierter Tafeln, auf denen meist Einzelfiguren vor einem neutralen Hintergrund zu sehen sind. Gerahmt werden sie von einer umlaufenden Leiste, die von Appliken in Gestalt menschlicher Köpfe an den Kreuzungspunkten unterbrochen wird. Eine Besonderheit ist, dass viele Bildfelder doppelt oder gar dreifach ausgeführt sind, also die Arbeit mit (Holz-)Modeln sichtbar wird.61 Bezüglich der in einem Stück gegossenen Glocken kann neben derjenigen in Canino, die bis zu den Funden in Dülmen mit einer Datierung ins 9. oder 10. Jahrhundert als die älteste galt,62 auf die aus dem Hafen von Haithabu bei Schleswig geborgene Glocke ­verwiesen werden. Sie besitzt einen steilen, kegelstumpfförmigen Körper, einen schmalen Schlagrand und vier kreuzförmig angelegte Winkel auf der Schulter und wird in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts datiert.63 In Vreden hingegen wurden Teile von

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­Glockenwandungen, Glockengut, eine ‚Klangscheibe‘, Barrenstücke und eine Gussgrube, ebenfalls aus dem 10. Jahrhundert, gefunden.64 Diese in einem Guss entstandenen Artefakte verdeutlichen die Fortführung und weite Verbreitung des Verfahrens und widersprechen somit deutlich der Annahme, dass die Bronzewerkstätten nach dem Tod des Kaisers im Jahr 814 generell ihre Arbeit einstellten und das Verfahren nicht mehr prak­ tiziert wurde. Schriftlich überliefert sind des Weiteren siebenarmige Leuchter und eine vom Abt ­Folcuin (965−990) erwähnte, um 970 auf dem Lettner seiner Klosterkirche in Lobbes im Hennegau aufgestellte gegossene Adlerfigur.65 Das Lobgedicht des Ermoldus Nigellus auf Kaiser Ludwig den Frommen von 826 beschreibt zudem die kaiserliche Pfalz Ingelheim: „Dort ist ein Tempel des heiligen Gottes, geschmückt mit Metallen, die Pfosten daran von Erz, aber die Türen von Gold“66, wobei man sich hierbei vergoldete oder golden schimmernde Bronzetüren vorstellen kann. Die Kirche der Abtei Corvey hingegen war mit zehn aus Bronze gegossenen Säulen geschmückt, die als Stiftungen des Abtes Thietmar (983– 1001) galten.67 Erstmals sind sie in einem 1641 angefertigten Inventar erwähnt, während in einem weiteren Verzeichnis zwischen 1664 und 1670 nur noch von sechs Säulen die Rede ist, die in sechs Arkaden an den Seitenwänden stehen.68 Im Corveyer Inventar von 1641 ist ferner ein ebenfalls von Abt Thietmar gestifteter Radleuchter, eine „große messings k ­ ronen“, verzeichnet, der bereits 1655 der Zerstörung anheimfiel.69 Möglich wäre, dass er nicht aus getriebenen Kupferplatten bestand, sondern gegossen war.70 Bei archäologischen Untersuchungen im Westbereich des Atriums wurden zudem Spuren einer mutmaßlichen Gussanlage freigelegt. Weitere Radleuchter sind als Stiftungen von Bischof Meinwerk von Paderborn (975–1036) und Bischof Gebhard II. von Konstanz (949–995) bekannt.71 Daher lässt sich konstatieren, dass im frühen 11. Jahrhundert der Erzbischof Willigis von Mainz (975–1011) sicherlich nicht der Erste nach Karl dem Großen war, der Türen aus Bronze hat gießen lassen, obwohl die Inschrift auf dem Objekt dies so wirkmächtig postuliert: Nachdem der große Kaiser Karl sein Leben der Natur zurückgegeben hatte, war Erzbischof Willigis der erste, der aus Metall hat Türflügel machen lassen. Berenger, der Künstler dieses Werkes, bittet inständig, o Leser, du mögest zu Gott für ihn beten.72

Diese Behauptung wurde nicht nur in der kunsthistorischen Forschung wortwörtlich genommen und kaum in Frage gestellt: Sie wurde zudem generell auf das Gießen von monumentalen Bronzen ausgeweitet, so dass ein gänzlich falsches Bild vom Wissen um das Bronzegussverfahren entstand. Denn dieses ist – wie hier dargelegt – für die Produktion der mannigfaltigsten Objekte unterschiedlichen Formats eingesetzt worden, und mit nur wenigen Ausnahmen sind sämtliche Werke in einem Stück mit verlorener Form ge­ gossen.

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Antike und Altes Testament. Deutungsmöglichkeiten der Aachener Bronzegüsse Nach dem historischen Blick auf die Werke und die Werkstätten zur Zeit Karls des Großen sowie der Betonung der Kontinuität in der Zeit davor und danach lässt sich die Untersuchung mit weiteren Quellen zur Bedeutung der Technik des Bronzegusses komplettieren. Diese nennen das Verfahren oder die gegossenen Werke in Kontexten, die im Gegensatz zu den lediglich deskriptiven Quellen auch eine Deutung der Technik miteinbeziehen. ­Kulturgeschichtlich sind bisher von der Forschung vor allem zwei Auffassungen diskutiert worden – der Bezug der Aachener Bronzen zu den auf dem Lateran aufgestellten Objekten und zu den im Alten Testament genannten bronzenen Ausstattungselementen des Salomonischen Tempels. Dabei wurden mehrheitlich allein das Material und die Formen der Werke hervorgehoben. Doch diese Annahmen lassen sich durchaus mit technik­ geschichtlichen Aspekten ergänzen und zum Teil auch korrigieren. Für die Deutung des Bronzegusses spielen die überlieferten Rezeptsammlungen, wie sie in De probatione auri et argenti, der Mappae clavicula oder im sogenannten Steinbuch des Pseudo-Aristoteles zu finden sind, kaum eine Rolle.73 Auch im Rechenexempel des ­Beraters Karls des Großen Alcuin (735−804) scheint das genannte Material recht will­kürlich herausgegriffen worden zu sein.74 Kommentare zur Technik sind im Allgemeinen jedoch bereits in Plinius‘ Naturgeschichte, der um 77 n. Chr. kompilierten Enzyklopädie, nachzulesen. Im 34. Buch berichtet der Autor, der Erfolg des Materials Bronze verdanke sich vor allem der Kühnheit (audacia) der Gießer, auch wenn er hierbei nur auf Kolosse verweist, die im indirekten Verfahren entstanden sind.75 Offenbar hat Plinius selbst miterlebt, wie der Koloss des Nero in der Werkstatt Meister Zenodoros entstanden ist, er erwähnt bewundernd das Tonmodell, das eine außergewöhnliche Ähnlichkeit mit dem Kaiser aufweise, und das aus kleinen Stäben bestehende Gerüst. Ferner lobt er den Umgang mit Ziselierwerkzeugen bei der Kaltarbeit.76 Gleichzeitig weist er darauf hin, dass schon bei jenem Koloss das Wissen um die Gießkunst verloren gegangen und seit langem keine Plastik mehr entstanden sei, die dem Anspruch, dem Recht der Kunst (ius artis) genüge.77 So offenbart Plinius bereits eine kritische Sicht auf die Technik seiner Zeit. Interessant ist, dass ein Guss abhängig vom Kontext und den Intentionen des über ihn schreibenden Autors sowohl positiv als auch negativ bewertet werden konnte. In diesem Zusammenhang kann auf das Reiterstandbild des ostgotischen Königs Theoderich ver­ wiesen werden, welches Karl der Große aus Ravenna nach Aachen überführte. Die positive Sicht verdeutlicht der Bischof Agnellus von Ravenna, der von der Rückkehr Karls des Großen ins Frankenreich nach der Krönung berichtet und hierbei erwähnt, dass­ dieser in Ravenna das „herrliche Bild“ gesehen habe und sogleich ins Frankenreich habe bringen lassen, um es in Aachen aufzustellen.78 Auch beschreibt er das Werk ausführlich:

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Vor beider Angesicht war ein Sockel, der aus viereckigen zweischichtigen Steinen bestand und sechs Ellen hoch war, darauf aber befand sich das Pferd aus Erz, das mit blinkendem Gold überzogen war. Sein Reiter, der König Theoderich, hielt mit dem linken Arm den Schild, in der erhobenen Rechten die Lanze. Aus den geöffneten Nüstern und dem Maul des Pferdes flogen Vögel heraus und bauten ihre Nester unter seinem Bauch.79

Bereits 829 beschreibt Walahfried Strabo in einem Gedicht die vermeintliche Figur sowie deren Begleiter auf eine negative Weise und kontrastiert damit die Ausführung des ­Agnellus: „Dass die Bestie auf ihrem Pferd über Steine, Blei und hohles Metall läuft, bedeutet, dass sie hochmütig mit hartem Gemüt, trägem Herzen und leerem Sinn regiert“80. Der rhetorische Angriff auf Karl den Großen, den der Autor offenbar mit Theoderich identifizierte, ist kaum zu übersehen.81 Gleichzeitig gibt dieser Text aber Auskunft über die Instrumentalisierungsstrategien bezüglich der Technik: Die Hohlförmigkeit des Denkmals aus vergoldeter Bronze, an sich eine technische Meisterleistung und dem angewandten Verfahren geschuldet, wird pejorativ mit „leerem Sinn“ gleichgesetzt. Für eine solcherart negative Deutung findet sich kein zweites Beispiel. Die Theoderich-Statue wird forschungsgeschichtlich jedoch noch in einem anderen Kontext betrachtet. So wie die nach Aachen translozierte Bärinnenplastik bereits von Stephan Beissel 1890 und anschließend von Richard Krautheimer 1942 als Äquivalent zur sogenannten Lupa Capitolina gesehen wurde,82 ist beim Theoderich eine materialkundliche und formale Parallele zu der Reiterstatue des Mark Aurel hergestellt worden.83 Die beiden römischen Bronzen standen offenbar gemeinsam mit Fragmenten einer kolossalen Figur, der sogenannten Lex Regia, dem Dornenauszieher und möglicherweise noch einer Widderfigur seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts auf dem Lateranplatz, wobei ihre Aufstellung nicht zwangsläufig auf eine einzige Initiative zurückgehen musste.84 Die vermeintlichen formalen Parallelen der Tier- und Reiterstatuen in Rom und Aachen wurden in der (kunst-) historischen Literatur dazu genutzt, die Vorstellung eines ‚Aachener Laterans‘ zu unterstreichen – dem Versuch Karls des Großen, die römische Topografie nach­zuahmen, um seinen Anspruch als Erbe des Imperiums auch baulich und über Denkmale zu untermauern.85 Die Bronzen lassen sich jedoch schwerlich in jenes Konzept einfügen, wie bereits ­kritisch angemerkt wurde86 und wie sich im Detail noch weiter unterstreichen lässt: Erstens ist nicht gesichert, ob sich die Reiterstatue des Mark Aurel schon vor dem 10. Jahrhundert auf dem Lateran befand.87 Die These vom ‚römischen Aachen‘ wird zudem durch das ­Faktum geschwächt, dass zweitens die Lupa aufgrund technischer Eigenschaften, namentlich der Herstellung im direkten Wachsausschmelzverfahren mit verlorener Form, neuerdings als ein Werk des späten 12. oder frühen 13. Jahrhunderts erkannt wurde88 und nicht bekannt ist, wie die seit dem 9. Jahrhundert auf dem Lateranplatz aufgestellte Wölfin ausgesehen hat und aus welchem Material sie bestand. Des Weiteren handelt es sich drittens bei der Bärin um eine hellenistische Plastik, so dass die Herkunft aus Rom oder den Umweg über Rom nicht gesichert sind. Viertens bleibt fraglich, auf welche Weise sich

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­weitere, bisher kaum beachtete Bronzespolien in Aachen – wie die bronzenen Basen aus dem 6. Jahrhundert, die auf der Empore standen und wohl aus Ravenna stammten89 – in jenes ‚Programm‘ intergieren lassen. Fünftens handelt es sich bei den Lateranbronzen um im Freien aufgestellte Werke, was in Aachen lediglich für die Bärin, die Reiterstatue und den Adler auf dem Dach gelten kann. Und sechstens besitzen die Aachener Werke nicht ausschließlich einen dezidiert repräsentativen Charakter: Fungieren doch die Türen, Gitter und Säulenbasen zugleich als Ausstattungselemente der Aachener Marienkirche. Ferner waren siebtens in vielen größeren Städten Bronzewerke allgegenwärtig, wie sich beispielsweise an den zahlreichen archäologisch geborgenen Fragmenten entlang des Limes rekonstruieren lässt, was eine Sonderstellung von Rom und Aachen fraglich macht.90 So waren auch in Konstantinopel bronzene Statuen omnipräsent, wie in der Konstantinsvita von dem Geschichtsschreiber Eusebius von Caesarea (260/264–339 oder 340) zu erfahren ist: „Völlig angefüllt wurde aber die Stadt, welche den Namen des Kaisers führt, mit dem, was im ganzen Heidentum durch kunstvolle Bearbeitung des Erzes geheiligt war“91. Auch wenn dieser Autor eine Verspottung der Götterbilder beabsichtigt, klingt doch die ­Bewunderung der „kunstvollen Bearbeitung“, also der Technik deutlich an. Der Kirchenhistoriker Sozomenos (gest. um 450) nimmt ebenfalls diese Perspektive auf: Was aber künstlerisch aus Erz gegossen war, wurde von allen Orten in die nach dem Kaiser ­benannte Stadt zur Zierde derselben gebracht, und steht noch jetzt öffentlich auf den Straßen und im Hippodrom und im Kaiserpalast. So die Pythia vom Orakel des Apollo, und die Musen vom Helikon, und die Dreifüße aus Delphi, und der berühmte Pan, den der Lacedämonier Pausanias und die hellenischen Städte nach dem Krieg gegen die Meder weihten.92

Natürlich formulierte auch Karl der Große durch die Aufstellung und Ausstattung Aachens mit Bronzewerken einen Machtanspruch, doch war dieser sicher nicht ausschließlich in Bezug auf Rom und damit die antike Kaiseridee ausgerichtet. Vielmehr ist hinsichtlich der Werke noch vorgeschlagen worden, sie als Teil eines größeren Konzeptes, der imitatio veteris Testamenti, zu verstehen.93 Diese Lesart erfolgt zunächst auf der Basis der Schriftquellen, wie dem retrospektiven Bericht Notgers I. von St. Gallen (840−912): Zuvor will ich die Bauten, die der hocherhabene Kaiser Karl bei Aachen nach dem Beispiel des hochweisen Salomo für Gott wie für sich selbst und alle Bischöfe, Äbte und Grafen und (überhaupt) alle Gäste, die vom ganzen Erdkreis her (zu ihm) kamen, in wundervoller Art erbauen ließ, wenigstens kurz und knapp erwähnen. Als der äußerst regsame Kaiser Karl (einmal) etwas Ruhe hatte finden können, wollte er doch nicht müßig und träge sein, sondern sich (weiter) im Dienste Gottes abmühen, so nämlich, dass er auf heimatlichem Boden eine Basilika, herrlicher als die Werke der alten Römer, nach eigener Anordnung zu erbauen unternahm und sich in Kürze der Vollendung seines Vorhabens erfreuen konnte. Zu diesem Bau berief er aus allen Gegenden diesseits des Meeres Meister und Werkleute aller hierzu geeigneter Kunstrichtungen.94

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Durch die Passage kommt der Anspruch einer superatio zum Ausdruck, sollte die Aachener Pfalzkapelle doch „herrlicher als die Werke der alten Römer“ werden. Dieser Überbietungstopos wird möglicherweise auch in der Wahl der Technik verdeutlicht. Denn während die antiken Bronzen im indirekten Wachsausschmelzverfahren ausgeführt waren, was bedeutet, dass sie aus mehreren anschließend zusammengelöteten Teilen bestanden, ließ Karl der Große die Gitter und die Türen im aufwendigeren direkten Wachsausschmelzverfahren, also in einem Stück, gießen. Zudem wird Karl mit Salomo nicht allein aufgrund des Baus der Basilika, sondern auch ob seiner ‚Weisheit‘ gleichgesetzt. Der Bezug zu alttestamentlichen Personen ist in jener Zeit nicht ungewöhnlich, auch Einhard, der Leiter der Hofkunstwerkstätten, erhielt in Anlehnung an den im Alten Testament genannten Bronzegießer den Beinamen Beseleel, der „mit göttlichem Geiste erfüllt [wurde], mit Weisheit, mit Verstand und mit Kenntnis in jegliche Arbeit: Pläne zu entwerfen und sie in Gold, Silber und Kupfer auszuführen“ (Ex 31,3).95 Beseleel war für die bronzene Einrichtung des Stiftszeltes verantwortlich, zu der „Leuchter aus reinem Gold mit allen seinen Geräten und den Rauchopferaltar, den Brandopferaltar mit allen seinen Geräten und das Becken mit seinem Gestell“ (Ex 31,8–9) gehörten. Doch werden in diesem Zusammenhang auch „ein Gitterwerk, ein Netzgitter aus Kupfer“ (Ex 27,4) genannt. Es kann also vermutet werden, dass diese Passage die Inspiration zur Schaffung der Gitter für die Aachener Pfalzkapelle gab. Ebenso kann angenommen werden, dass die Erwähnungen eben jener Gitter und Türen, die an anderen Stellen des Alten Testaments aufgeführt werden (z. B. 2 Chr 4,22), in den zeitgenössischen karolingischen Schriftquellen die Funktion hatten, als pars pro toto auf die alttestamentlichen Bauten und deren Ausstattung zu verweisen. Für die Architektur und Ausstattung der Pfalzkapelle spielte jedoch neben des Stiftszeltes auch der Salomonische Tempel eine wichtige Rolle.96 Beschrieben wird in der Bibel, wie König Salomo einen Bronzegießer namens Hiram aus Tyrus kommen lässt, der „mit Weisheit, Verstand und Geschick begabt [war], um jede Bronze-Arbeit auszuführen“ (1 Kön 7,13–14).97 Zu den beschriebenen Arbeiten zählen zwei bronzene und innen hohlförmige Säulen, zwei Kapitelle „aus Bronze gegossen“, Geflechte für die Kapitelle und Granatäpfel, das „Eherne Meer“ – ein bronzenes Reinigungsbecken mit mitgegossenen Rankengebilden –, ein Gestell mit Rädern und Achsen sowie Füßen mit Ansätzen, die „unterhalb des Kessels angegossen“ waren, ein Gestell mit Rädern, deren „Halter, Felgen, Speichen und Naben [...] alle gegossen“ waren (1 Kön 7,33), des Weiteren zehn Gestelle, die „alle gleichen Guss, gleiches Maß und gleiche Gestalt“ besaßen (1 Kön 7,37). Angedeutet wird auch das Gussverfahren mit den Worten: „In der Jordanau zwischen Sukkot und Zaretan ließ sie der König in Formen aus festem Lehm gießen“ (1 Kön 7,46), was einzig ein Wachsausschmelzverfahren meinen kann. Bemerkenswert ist bei dieser Aufzählung nicht nur die fortwährende Erwähnung des bronzenen Materials, sondern vielmehr noch jene des Gussverfahrens, wird doch sogar die Verwendung von Modeln (Gleichheit von Guss, Maß und Gestalt) angesprochen.98 Die zwei Architektur- und Ausstattungszitate umreißen

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die Tragweite bzw. die Bedeutung des Gussverfahrens in einem Stück. Es galt, die antiken Werke zu übertreffen und sich darüber hinaus in die alttestamentlichen Traditionen einzuschreiben. Vor diesem Hintergrund gewinnen vor allem die Gitter und die Türen gegenüber der Theoderich-Statue (eventuell auch der Bärin und dem Adler) eine neue, herausragende Bedeutung.

Zum Anachronismus und einer kunsthistorischen Technikikonologie Betrachtet man die aufgeführten Werke und ihre Technik unter dem Aspekt des Anachronismus, so stellt dies gewissermaßen selbst einen Anachronismus dar. Ist doch das griechische Wort erst im 16. Jahrhundert nachweisbar und bezeichnet eine ‚falsche‘ zeitliche Einordnung von Personen, Sachen und Ereignissen oder eine durch die Zeit überholte, unzeitgemäße Praxis.99 Eine solche Vorstellung von einer zeitlichen Abfolge war jedoch dem Mittelalter fremd: Der Bezug Karls des Großen auf Salomon, Einhards auf Beseleel und der Aachener Pfalzkapelle auf die Stiftshütte sowie den Salomonischen Tempel kann vielmehr als ein typologisches Konzept verstanden werden. Friedrich Ohly zufolge äußert sich dies in einem allgemeingültigen Wiederholungprozess, jedoch mit einer Steigerung gegenüber dem Alten.100 Dieses rückwärtsgewandte, Klammern bildende Übertreffungsmotiv lässt sich durchaus mit den Bronzewerken und vor allem ihrer Herstellungstechnik in Zusammenhang bringen. Erklärt doch gerade die Bezugnahme auf das Alte Testament und die damit verbundene superatio gegenüber den antiken Referenzen aus heutiger Perspektive die Verwendung des vielfach risikoreicheren und komplexeren Verfahrens in einem Guss. Anstelle des Gießens mit mehreren Formen, die anschließend zusammen­ gelötet oder montiert werden konnten, bevorzugte man das Gießen in einem Stück und in verlorener Form; dort, wo beide Techniken nebeneinander auftraten, wurde eine spezifische Hierarchie intendiert. Analog und ergänzend zu einer Materialikonologie muss ­daher der Begriff der Technikikonologie stärker in den Fokus rücken, der bisher bemerkenswert selten angewandt wurde.101 Dieser ermöglicht hinsichtlich des Gussverfahrens eine präzisere Analyse der historischen und topografischen Bezüge und erlaubt ferner eine systematische Diskussion der exegetischen Erwähnungen. Der zweite Anachronismus ist in der Kunsthistoriografie zu beobachten, die auf ihrer Suche nach Ursprüngen die Gitter und die Türen an den ‚Anfang‘ der Entwicklung der mittelalterlichen Skulptur in Europa stellte und so die Werke zum Festschreiben eines ­Anfangs instrumentalisierte.102 Einen solchen Anfang hat es jedoch nicht gegeben, die erhaltenen Funde und Quellen bezeugen eine ungebrochene Tradition zwischen antiken und frühmittelalterlichen Bronzewerkstätten. Auch die anderen ‚Brüche‘ in der Tradierung des technischen Wissens und der Verwendung des Verfahrens lassen sich nicht nachvollziehen, sofern die Schriftquellen miteinbezogen sowie den kleinformatigen Artefak-

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ten Beachtung geschenkt wird. Dadurch rücken die karolingischen Großwerke wie auch später die unter Bischof Bernward in Hildesheim entstandenen Bronzen oder gar diejenigen der italienischen Renaissance aus ihrer exponierten Position in der Kunstgeschichtsschreibung zurück in eine fortlaufende Reihe von Bronzekunstwerken.

Anmerkungen 1

Ich danke Philippe Cordez sowie meinen Kolleginnen und Kollegen des BMBF-geförderten Projektes „Innovation und Tradition. Objekte und Eliten in Hildesheim, 1130–1250“ für den intensiven und fruchtvollen Austausch zu mittelalterlichen Bronzewerken. Als Prämisse sei vorangestellt, dass die Bezeichnung „Bronze“ im Allgemeinen eine Kupfer-Zinn-Legierung meint, in der kunsthistorischen Literatur der Begriff jedoch für Objekte sämtlicher Kupferlegierungen verwendet wird, da nur selten Materialproben vorliegen. Der Begriff „Buntmetall“, wie er in der Archäologie und Metallurgie üblich ist, hat sich bisher nicht durchgesetzt; vgl. Thilo Rehren, Zur Klassifi­ zierung und Interpretation antiker Kupferlegierungen. Glossar zu Peter Hammer: „Zur Gruppierung von Kupferlegierungen – Der Terminus ‚AES‘ bei Plinius“, in: Metalla 7, 2000, S. 33– 36. Zu Technik als Teil von Kultur: Herausforderung Technik. Philosophische und technikgeschicht­ liche Analysen, hrsg. von Hans Poser, Frankfurt/Main 2008.

2

Zur ältesten Zinnbronze, gefunden in Plocˇnik in Serbien: Miljana Radivojevic´ u. a., On the Origins of Extractive Metallurgy. New Evidence from Europe, in: Journal of Archaeological Science 37, 2010, S. 2775–2787; zum Verfahren: Leslie Bernard Hunt, The Long History of Lost Wax Casting. Over Five Thousand Years of Art and Craftmanship, in: Gold Bulletin 13, 1980, S. 63–79; Christopher J. Davey, The Early History of Lost-Wax Casting, in: Metallurgy and Civilisation. Eurasia and Beyond, hrsg. von Juanjun Mei und Thilo Rehren, London 2009, S. 147–154; zu den einzelnen Bronzewerke herstellenden Kulturen sei nur exemplarisch verwiesen auf: Shadreck Chirikure, Me­ tals in Past Societies. A Global Perspective on Indigenous African Metallurgy, Heidelberg u. a. 2015; Arkadij V. Baulo, Drevnjaja bronza iz etnograficˇeskich komplesov slucˇajnych sborov, Novosibirsk 2011; Götz Lahusen und Edilberto Formigli, Römische Bildnisse aus Bronze. Kunst und Technik, München 2001.

3

Aus der Vielfalt sei herausgegriffen: Bronze. The Power of Life and Death, Ausst.-Kat. (Leeds, Henry Moore Institute, 2005/2006), hrsg. von Martina Droth und Fritz Scholten, Leeds 2005; Bronze, Ausst.-Kat. (London, Royal Academy of Arts, 2012), hrsg. von David Ekserdjian, London 2012; Power and Pathos. Bronze Sculpture of the Hellenistic World, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Strozzi u. a., 2015/2016), hrsg. von Jens M. Daehner, Florenz 2015.

4

Solche Darstellungen finden sich beispielsweise bei: George Savage, A Concise History of Bronzes, London 1968; Ernst Günther Grimme, Bronzebildwerke des Mittelalters, Darmstadt 1985; Frances Parton, Visual Arts, in: Handbook of Medieval Culture. Fundamental Aspects and Conditions of the European Middle Ages, hrsg. von Albrecht Classen, Berlin/Boston 2015, Bd. 1, S. 80–101.

5

Edgar Lein, Ars Aeraria. Die Kunst des Bronzegießens und die Bedeutung von Bronze in der flo­ rentinischen Renaissance, Mainz 2004, S. 9.

6

Vgl. Gegossene Götter. Metallhandwerk und Massenproduktion im Alten Ägypten, Ausst.-Kat. (Bonn, Ägyptisches Museum u. a., 2014/2015), hrsg. von Martin Fitzenreiter u. a., Rahden/Westfalen 2014; Multiples in Pre-Modern Art, hrsg. von Walter Cupperi, Zürich 2014.

7

So zum Beispiel in: Bild & Bestie. Hildesheimer Bronzen der Stauferzeit, Ausst.-Kat. (Hildesheim, Dommuseum, 2008), hrsg. von Michael Brandt, Regensburg 2008.

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 8 Pomponio Gaurico. De Sculptura, hrsg. von Paolo Cutolo, Neapel u. a. 1999, S. 226.  9 Augustinus. Enarrationes in Psalmos, Ps. LXVII: 39,18–20; vgl. Jochem Wolters, Schriftquellen zum Wachsausschmelzverfahren, in: Bild & Bestie 2008 (Anm. 7), S. 42–64. Vgl. die vielzähligen Bedeutungszuschreibungen in: Magdalena Bushart und Henrike Haug, formlos – formbar. Bronze als künstlerisches Material, in: Formlos – formbar. Bronze als künstlerisches Material, hrsg. von dies., Berlin 2016, S. 7–18. 10 Zur Materialikonologie: Norberto Gramaccini, Zur Ikonologie der Bronze im Mittelalter, in: StädelJahrbuch 11, 1987, S. 147–170; Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, München 1994; Gerhard Lutz, Der dumpfe Geist erhebt sich zur Wahr­ heit durch das, was materiell ist. Überlegungen zur Ikonographie der Bronze im Mittelalter, in: Bild & Bestie 2008 (Anm. 7), S. 17–28. Der Begriff der Technikikonologie bisher nur in: Philippe Cordez, Werkzeuge und Instrumente in Kunstgeschichte und Technikanthropologie, in: Werk­ zeuge und Instrumente, hrsg. von Philippe Cordez und Matthias Krüger, Berlin 2012, S. 1–20, hier S. 12; implizit: Hiltrud Westermann-Angerhausen, Mittelalterliche Weihrauchfässer von 800 bis 1500 (Bronzegeräte des Mittelalters 7), Petersberg 2014. 11 Hierzu kritisch: Bruno Reudenbach, Rectitudo als Projekt: Bildpolitik und Bildungsreform Karls des Großen, in: Artes im Mittelalter, hrsg. von Ursula Schaefer, Berlin 1999, S. 283–308. 12 Mechthild Schulze-Dörrlamm, Zeugnisse der Selbstdarstellung von weltlichen und geistlichen ­Eliten der Karolingerzeit (751–911), in: Aufstieg und Untergang. Zwischenbilanz des Forschungs­ schwerpunktes „Studien zu Genese und Struktur von Eliten in vor- und frühgeschichtlichen ­Gesellschaften“, hrsg. von Markus Egg und Dieter Quast, Mainz 2009, S. 153–216. 13 Wolfgang Braunfels, Karls des Großen Bronzewerkstatt, in: Karolingische Kunst (Karl der Große. ­Lebenswerk und Nachleben 3), hrsg. von Wolfgang Braunfels und Hermann Schnitzler, Düsseldorf 1965, S. 168–202. Zu den Bronzen auch: Norberto Gramaccini, Die karolingischen Großbronzen. Brü­ che und Kontinuitäten in der Werkstoffikonographie, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1995, S. 130–140; Ittai Weinryb, The Bronze Object in the Middle Ages, Cambridge 2016, S. 16–23. 14 „[...] ac propter hoc plurimae pulchritudinis basilicam Aquisgrani exstruxit auroque et argento et luminaribus atque ex aere solido cancellis et ianuis adornavit“, siehe: Einhardi Vita Karoli Magni (MGH Script. Rer. Germ. 25), hrsg. von Oswald Holder-Egger, Hannover 1911, S. 30–31. Übers. nach: Einhard. Leben Karls des Großen. Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, übers. von Otto Abel und Julius von Jasmund, bearb. von Reinhold Rau, Darmstadt 1968, S. 197, 199; vgl. Ulrike Heckner, Der Tempel Salomos in Aachen – Datierung und geometrischer Entwurf der karolingi­ schen Pfalzkapelle, in: Die karolingische Pfalzkapelle in Aachen. Material, Bautechnik, Restaurie­ rung, hrsg. von dies., Worms 2012, S. 25–62, hier S. 31. 15 Vgl. Bronzen von der Antike bis zur Gegenwart. Ex aere solido. Eine Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin aus den Beständen ihrer Staatlichen Museen, Ausst.-Kat. (Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, 1983), hrsg. von Peter Bloch, Berlin 1983. In der Chronik von Moissac mit einer Berichtzeit von 800–816 wird nur darauf verwiesen, dass Karl der Große Türen und Gitter aus Bronze herstellen ließ („[...] cuius portas et cancella fecit aerea [...]“, Chronicon Moissiacense (MGH SS 1), hrsg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1826, S. 280–313, hier S. 303); vgl. Walter Kettemann, Subsidia Anianensia. Überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte Witiza-Benedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten „anianischen Reform“, (Onlinepublikation 2000), URL: http://duepublico.uniduisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-19910/Kettemann_Diss.pdf [zuletzt aufgerufen: 30.10.2017], Beilage 2, S. 85. 16 Zu den Gittern: Katharina Pawelec, Aachener Bronzegitter. Studien zur karolingischen Ornamen­ tik um 800, Köln 1990; Reudenbach 1999 (Anm. 11), S. 294−295. Die Anordnung der Gitter wurde

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wahrscheinlich 1843 verändert, als sie nach der Rückkehr aus Paris neu eingesetzt wurden. Allerdings ist davon auszugehen, dass die westlichen und östlichen Gitter ihren ursprünglichen Aufstellungsort beibehielten; vgl. Braunfels 1965 (Anm. 13), S. 171. 17 „Die Grundlagen für diese Zuordnungen bleiben unklar“: Pawelec 1990 (Anm. 16), S. 24–25; zu Braunfels: Philippe Cordez, 1965: Karl der Große in Aachen. Geschichten einer Ausstellung, in: Karl der Große. Karls Kunst, Ausst.-Kat. (Aachen, Centre Charlemagne, Neues Stadtmuseum ­Aachen, 2014), hrsg. von Peter van den Brink und Sarvenaz Ayooghi, Dresden 2014, S. 17–29. 18 Reudenbach 1999 (Anm. 11), S. 294−295. 19 Bereits bei: Braunfels 1965 (Anm. 13), S. 170; Pawelec 1990 (Anm. 16), S. 35. 20 Ursula Mende, Die Bronzetüren des Mittelalters, 800–1200, München 1994 [Erstveröffentlichung 1983], S. 131. Die vierte der kleinen Türen ist wahrscheinlich seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr erhalten; vgl. S. 133. Zu den Türen auch: Hermann Fillitz, Die Bronzetüren des Aachener Mün­ sters, in: Le porte di bronzo dall’antichità al secolo XIII, hrsg. von Salvatorino Salomi, Rom 1990, Bd. 1, S. 139–144; Horst Bredekamp, Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bild­ politik des Körpers, Berlin 2014, S. 94–100. 21 Ursula Mende, Die Türzieher des Mittelalters (Bronzegeräte des Mittelalters 2), Berlin 1981, S. 16–20. 22 „Aeream aquilam que in vertice palatii a Karolo Magno acsi volans fixa erat, / in vulturnum converterunt“. Richer von Saint-Remi. Historiae (MGH SS 4), hrsg. von Hartmut Hoffmann, München 2000, S. 208; vgl. Bernd Schneidmüller, Wahrnehmungsmuster und Verhaltensformen in den frän­ kischen Nachfolgereiche, in: Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter, hrsg. von Joachim Ehlers, Stuttgart 2002, S. 263–302, hier S. 281. 23 „Haec stat in orientali parte domus, morisque fuit omnium hunc locum possidentium ad sua eam vertere regna“. Thietmar von Merseburg. Chronicon (MGH SS rer. Germ. N.S. 9), hrsg. von Robert Holtzmann, Berlin 1935, S. 106; vgl. Schneidmüller 2002 (Anm. 22), S. 281. 24 Vgl. Lamia Balafrej, Saracen or Pisan? The Use and Meaning of the Pisa Griffin on the Duomo, in: Ars Orientalis 42, 2012, S. 31–40. 25 Vgl. auch die Deutung als „further example of the technological abilities of the Aachen casters“: Weinryb 2016 (Anm. 13), S. 43. 26 „Septem scilicet candelabra fabrili arte mirabiliter producta, de quorum stipite procedunt hastilia, sphaerulaeque ac lilia, calami, ac scyphi in nucis modum ad instar videlicet illius facta, quod Beseleel miro composuit studio“. Vita Benedicti abbatis Anianensis (MGH SS 15), hrsg. von Georg Waitz, Hannover 1887, S. 198–220, c. 17, 11a–12c. Peter Bloch wies darauf hin, dass die sieben Lampen zu einem Leuchter gehören; vgl. Peter Bloch, Siebenarmige Leuchter in christlichen Kir­ chen, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 23, 1961, S. 55–190, S. 89, Nr. 3. Möglicherweise geht die Stiftung auch auf Benedikt von Aniane (750–821) zurück. 27 „Ut omnes sacerdotes horis competentibus diei et nocti suarum sonent ecclesiarum signa“. MGH Capit. 1, S. 106; vgl. Friedrich Hagen, Geschichte Aachens von den Anfängen bis zum Ausgange des sächsischen Kaiserhauses (1024), Aachen 1868, S. 66. Es muss jedoch beachtet werden, dass die Zuschreibung der Kapitulare sehr unsicher ist; vgl. Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karo­ lingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn 1989, S. 123–126. 28 Beispielsweise: Weinryb (Anm. 13), S. 101. 29 Maríon Bayer, Eindrücke einer Landschaft  – 70 Zeugnisse der Geschichte im Kreis Coesfeld, ­Münster 2017, S, 26. Vgl. auch: Gerard Jentgens und Hans-Werner Peine, Wem die Glocke schlägt – 1200 Jahre Kirche und Siedlung in Dülmen, in: Archäologie in Westfalen-Lippe 2015, 2016, S. 79−83. 30 Hans Drescher, Die Glocken der karolingerzeitlichen Stiftskirche in Vreden, Kreis Ahaus, in: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, Ausst.-Kat.

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(Paderborn, Diözesanmuseum, 1999), hrsg. von Christoph Stiegemann, Mainz 1999, Bd. 3, S. 356– 364, hier S. 356. 31 „Erat ibidem alius opifex in omni opere aeris et vitri cunctis excellentior“. Monachi Sangallensis de Gestis Karoli Imperatoris (MGG Scriptore rer. Germ. N.S. 12), hrsg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1829, S. 744; vgl. Andrea zur Nieden, Der Alltag der Mönche. Studien zum Klosterplan von St. Gallen, Hamburg 2008, S. 51−52; Wilfried Hartmann, Das Karlsbild des Notker Balbulus, in: Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft, hrsg. von Franz Fuchs und Dorothea Klein, Würzburg 2015, S. 15−28. 32 Pavia, Museo Civico; vgl. Pawelec 1990 (Anm. 16), S. 128, Abb. 166. 33 Türzieher in der Benediktinerinnen-Klosterkirche St. Maria in Frauenchiemsee, um 860/866 oder 2. Hälfte 9. Jahrhundert datiert. Siehe: Mende 1981 (Anm. 21), S. 205–206, Nr. 5. Als frühestes Weihrauchfass gilt das Objekt in Split, Muzej Hrvatskih Artheolokih Spomenika, Inv. Nr. 1760, welches Hiltrud Westermann-Angerhausen als ostfränkisch, 2. H. 8. Jahrhundert bis um 800 erkannte; vgl. Westermann-Angerhausen 2014 (Anm. 10), S. 121, Nr. I 1. Siehe auch die anderen, wenig später hergestellten Werke, Nr. I 2– I 9. 34 Vgl. Stefan Krabath u. a., Die Herstellung und Verbreitung von Buntmetall im karolingischen Westfalen, in: 799 – Kunst und Kultur 1999 (Anm. 30), Bd. 3, S. 430–437; Gerhard Fingerlin, Auf Äckern und Baustellen aufgelesen. Kleinfunde aus Buntmetall – seltene Zeugnisse des profanen Kunsthandwerkes der Karolingerzeit, in: Archäologische Nachrichten aus Baden 74/75, 2007, S. 32–43. 35 Braunfels 1965 (Anm. 13), S. 169. 36 Sebastian Ristow, Buntmetallherstellung für die Pfalz, in: Karolinger – Ottonen – Salier, 763–1137 (Aachen – Von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), hrsg. von Thomas R. Kraus, Aachen 2013, S. 188–193, hier S. 189; Sebastian Ristow und Daniel Steiniger, Naturwissenschaft und Archäologie im Aachener Dom Karls des Großen, in: Wunder Roms im Blick des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart, Ausst.-Kat. (Paderborn, Erzbischöfliches Diözesanmuseum, 2017), hrsg. von Christoph Stiegemann, Petersberg 2017, S. 180−187. 37 Ristow 2013 (Anm. 36), S. 189. 38 Ristow 2013 (Anm. 36), S. 189. 39 Zur Übersicht: Krabath 1999 (Anm. 34), S. 430. 40 Krabath 1999 (Anm. 34), S. 432. 41 Hans Drescher, Metallhandwerk des 8.–11. Jahrhunderts in Haithabu auf Grund der Werkstattab­ fälle, in: Archäologische und philologische Beiträge (Das Handwerk in vor- und frühchristlicher Zeit. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren 1977 bis 1980 2), hrsg. von Herbert Jankuhn u. a., Göttingen 1983, S. 174–192. 42 Art. Door, in: The Grove Encyclopedia of Medieval Art & Architecture, hrsg. von Colum Hourihane, Oxford 2012, Bd. 1, S. 315. 43 Christoph Bartels u. a., Kupfer, Blei und Silber aus dem Goslarer Rammelsberg von den Anfängen bis 1620. Die Entwicklung des Hüttenwesens von den frühmittelalterlichen Schmelzplätzen im Wald bis zur Metallerzeugung in großem Maßstab am Beginn des 17. Jahrhunderts nach den ­archäologischen und schriftlichen Quellen, Bochum 2007, S. 73–74, Zitat S. 74. 44 Torsten Capelle, Zur Verbreitung wikingischer Gussformen, in: Frühmittelalterliche Studien 13, 1979, S. 430–438, hier S. 430. 45 Vgl. Lahusen und Formigli 2001 (Anm. 2), S. 9. 46 Henri Jordan, Topographie der Stadt Rom im Alterthum, Berlin 1871, Bd. 2, S. 149; vgl. Franz Alto Bauer, Stadt, Platz und Denkmal in der Spätantike. Untersuchungen zur Ausstattung des öffentli­ chen Raums in den spätantiken Städten Rom, Konstantinopel und Ephesos, Mainz 1996, S. 310–311.

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47 Vgl. Ernst und Susanna Künzl, Das römische Prunkportal von Ladenburg (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 94), Stuttgart 2003. 48 Sie befindet sich heute im Museum Wiesbaden, Sammlung Nassauischer Altertümer, Inv. Nr. 281; vgl. Mechthild Schulze-Dörrlamm, Die karolingische Chorschranke und die Porta Aurea der Klo­ sterkirche St. Alban (787–805) bei Mainz, in: Jahrbuch des römisch-germanischen Zentralmuseums Mainz 54, 2007, 2, S. 629–661. 49 Franz J. Hassel, Die Bronzetür von der Albansschanze in Mainz, in: Jahrbuch des römisch-germanischen Zentralmuseums Mainz 22, 1977, S. 141–152, hier S. 141. 50 Lahusen und Formigli 2001 (Anm. 2), S. 483. 51 Zur Bärin vor allem: Ernst Künzl, Die antike Bärin im Dom zu Aachen, in: Jahrbuch des RömischGermanischen Zentralmuseums Mainz 49, 2002, S. 1–40. Zweifel an der These der Überführung: Ludwig Falkenstein, Der „Lateran“ der karolingischen Pfalz zu Aachen, Köln 1966, S. 51–52. 52 Hermann Schnitzler, Der Dom zu Aachen, Düsseldorf 1950, S. 12–13; Mende 1981 (Anm. 21), S. 17. 53 Künzl 2003 (Anm. 51), S. 26–28. Wo – wenn überhaupt – Karl der Große das Werk entdeckte, um es nach Aachen zu bringen, kann nicht beantwortet werden. 54 Bredekamp 2014 (Anm. 20), S. 67. 55 Ausgeklammert werden soll der sogenannte Dagobert-Thron (Paris, Bibliothèque nationale de France, Inv. Nr. 55.651). Die einzelnen Bestandteile sind stilistisch zu heterogen, um das Werk als eine ‚merowingische‘ oder ‚karolingische‘ Arbeit zu betrachten. Vgl. aber: Katharina Corsepius, Der Dagobertthron in Saint-Denis als „profane Reliquie“, in: Opus Tesselatum, Modi und Grenz­ gänge der Kunstwissenschaft, Festschrift für Peter Cornelius Claussen, hrsg. von dies. u. a., Hildesheim 2004, S. 139–151. 56 „De aere aut orichalco non fiat calix, quia ob vini virtutem aeruginem partier, quae vomitum provocat.“ Monitum in Concilium Remense, c.VI; vgl. Carol Neumann de Vegvar, A Feast to the Lord: Drinking Horns, the Church, and the Liturgy, in: Objects, Images, and the Lord: Art in the Service of the Liturgy (Index of the Christian Art Occasional Papers 6), hrsg. von Colum Hourihane, Princeton 2003, S. 231–256. 57 „Aquilani vero in medio chori dedeauratam [...] reaurari fecimus“. Abt Suger. Liber de rebus in administratione sua gestis, in: Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelal­ ters, hrsg. von Julius von Schlosser, Wien 1896, S. 280; vgl. Heinrich G. Lempertz, Adlerpult, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte I, Stuttgart 1933, Sp. 187–195. 58 HOC OPUS AIRARDUS CAELESTI MUNERE FRETUS, OFFERT ECCE TIBI, DIONYSI, PECTORE MITI; vgl. Jean Mabillon, Annales Ordinis Sancti Benedicti, Paris 1704, Bd. 2, S. 263; Blaise de Montesquiou-Fezensac, Les Portes de bronze de Saint-Denis, in: Bulletin de la Société nationale des Antiquaires de France 1945–1947, 1950, S. 128–137; Mende 1994 (Anm. 20), S. 22. 59 Florentine Mütherich, Bemerkungen zur Metzer Reiterstatuette, in: Kolloquium über Spätantike und Frühmittelalterliche Skulptur, hrsg. von Vladimir Milojcic, Mainz 1972, Bd. 3, S. 39–44; Danielle Gaborit-Chopin, La statuette equestre de Charlemagne, Paris 1999; Horst Bredekamp, Theo­ derich als König der Aachener Thermen, in: Kaiser und Kalifen. Karl der Große und die Mächte am Mittelmeer um 800, hrsg. von Barbara Segelken, Darmstadt 2014, S. 278–289. 60 Dorothea und Peter Diemer, Die Bronzetür des Augsburger Domes. Mit einem Anhang: Technische Überlegungen anlässlich der Restaurierung 1998−2004, von Kerstin Brendel, Brigitte Diepold und Ste­ phan Rudolph, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 65, 2011, S. 9–92, hier S. 71. 61 Diemer 2011 (Anm. 60), S. 17. 62 Simone Piazza, La campana di Canino al Museo Pio Cristiano. Chronologia, modalità tecnico-ese­ cutive, provenienza, attribuzione; appendice paleografica, in: Studi romani 52, 2004, S. 426−439; Weinryb 2016 (Anm. 13), S. 101.

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63 Karl der Große. Karls Kunst, Ausst.-Kat. (Aachen, Centre Charlemagne, Neues Stadtmuseum ­Aachen, 2014), hrsg. von Peter van den Brink und Sarvenaz Ayooghi, Dresden 2014, S. 183–184, Nr. 214. 64 Drescher 1999 (Anm. 30), S. 358. 65 „[...] fusilem [...] aquilam optime deauratam, quae interdum alas stringebat, interdum alis expansis (extensis) capacem evangeliorum codici locum pandebat, colloque, quasi pro libitu, artificiose ad audiendum retorto, et iterum reducto, immissis prunis fragrantiam superimpositi thuris ­emittebat“; Gesta abbatum Lobiensium (MGH SS 4), Hannover 1841, S. 52–74, hier S. 70–71; vgl. Etudes sur les fonts baptismaux de Saint-Barthélemy à Liège, hrsg. von Geneviève Xhayet und Robert J. Halleux, Lüttich 2006, S. 248. 66 Ermoldus Nigellus. Lobgedicht auf Kaiser Ludwig und Elegien an König Pippin, übers. von Theodor Gottfried Pfund, Berlin 1856, S. 72; vgl. Mende 1994 (Anm. 20), S. 22. 67 Stefan Krabath, Die hoch- und spätmittelalterlichen Buntmetallfunde nördlich der Alpen. Eine archäologisch-kunsthistorische Untersuchung zu ihrer Herstellungstechnik, funktionalen und zeitlichen Bestimmung, 2 Bd., Rahden/Westf. 2001, Bd. 1, S. 280. 68 „De sex columnis, quas dominus abbas Thiomarus fundi curavit. Hae columnae stabant in sex fornicibus [...]“; Münster, Staatsarchiv, Msc. I, S. 135; vgl. Krabath 2001 (Anm. 67), S. 280. 69 Krabath 2001 (Anm. 67), S. 283. 70 Vgl. Wilhelm Effmann, Der ehemalige frühromanische Kronleuchter in der Klosterkirche zu ­Korvey, in: Zeitschrift für christliche Kunst 3, Düsseldorf 1890, Sp. 211–214, hier Sp. 213. 71 Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis (MGH SS 11), hrsg. von Franz Tenckhoff, Hannover 1921, S. 124; vgl. Bernhard Gallistl, Bedeutung und Gebrauch der großen Lichterkrone im Hildesheimer Dom, in: Concilium medii aevi 12, 2009, S. 43–88, hier S. 47. Zu Konstanz: Otto Lehmann-Brockhaus, Die Kunst des 10. Jahrhunderts im Lichte der Schriftquellen, Straßburg 1935, S. 32. 72 + POSTQV(M) MAGNV(S) IMP(ERATOR) KAROLVS / SVV(M) ESSE IVRI DEDIT NATVRAE / + WILLIGISVS ARCHIEP(ISCOPV)S EX METALLI SPECIE / VALVAS EFFECERAT PRIMVS / BERENGERVS HVIVS OPERIS ARTIFEX LECTOR / VT P(RO) EO D(EV)M ROGES POSTVLAT SVPPLEX; vgl. Ursula Mende, „Was das Feuer nahm, das Erz hat es wiedergegeben“. Das Bronzeportal am Dom zu Mainz, in: Basilica nova Moguntina. 1000 Jahre Willigis-Dom St. Martin in Mainz, hrsg. von Felicitas Janson und Barbara Nichtweiß, Mainz 2010, S. 79−104. 73 Vgl. Mark Clarke, The Earliest Technical Recipes. Assyrian Recipies, Greek Chemical Treatises and the Mappae Clavicula Text Familiy, in: Craft Treatises and Handbooks. The Dissemination of Tech­ nical Knowledge in the Middle Ages, hrsg. von Ricardo Córdoba, Turnhout 2013, S. 9–31; Krabath 2001 (Anm. 67), S. 322–324. 74 „Est discus, qui pensat libras XXX sive solidos DC, habens in se aurum, argentum, aurichalcum et stannum. Quantum habet auri, ter tantum habet argenti; quantum argenti, ter tantum aurichalci; quantum aurichalci, ter tantum stagni. Dicat qui potest, quantum in una quaque species penset.“ Menso Folkerts, Die älteste mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache: Die ­Alkuin zugeschriebenen Propositiones ad acuendos iuvenes. Überlieferung, Inhalt, Kritische Edi­ tion, Wien 1978. S. 48; vgl. schon: Arthur Peltzer, Geschichte der Messingindustrie und der künst­ lerischen Arbeiten in Messing (Dinanderies) in Aachen und den Ländern zwischen Maas und Rhein von der Römerzeit bis zur Gegenwart, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 30, 1908, S. 235–463. 75 C. Plinius Secundus. Naturalis historia/Naturkunde, hrsg. von R. König und K. Bayer, München/ Zürich 1989, Buch 34,38 S. 36–37, vgl. Lahusen und Formigli 2001 (Anm. 2), S. 501. 76 Plinius Secundus 1989 (Anm. 74), 34,46, S. 40–41.

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77 Plinius Secundus 1989 (Anm. 74), 34,46, S. 40–41. Wahrscheinlich meint er damit, dass sich die Legierung von Kupfer mit Gold und Silber zu Kupfer mit Blei geändert habe; vgl. Lahusen und Formigli 2001 (Anm. 2), S. 501. 78 Agnelli liber pontificalis ecclesiae Ravennatis (MGH SS rer. Langob.), hrsg. von Oswald Holder-­ Egger, Hannover 1878, S. 265–391, S. 338; vgl. auch: Agnello Ravennatis Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis (CCCM 199), hrsg. von Deborah Mauskopf Deliyannis, Turnhout 2006. Übers. nach: Agnellus von Ravenna. Liber pontificalis/Bischofsbuch, hrsg. von Claudia Nauerth, Freiburg/Breis­ gau u. a. 1996, S. 361. 79 „In aspectus ipsorum piramis tetragonis lapidibus et bisalis, in altitudinem quasi cubiti sex; desuper autem equus ex aere, auro fulvo perfusus, ascensorque eius Theodoricus rex scutum sinistro gerebat humero, dextro vero brachio erecto lanceam tenens. Es naribus vero equi patulis et ore volucres exibant in alvoque eius nidos haedificabant“. Agnellus 1996 (Anm. 78), S. 359; vgl. Bredekamp 2014 (Anm. 20), S. 71. 80 „Quodque super lapides plumbumque et inane metallum / currit equo, signat se pectore belua duro, / Corde pigro sensuque cavo regnare superbiam.“ Walahfrid Strabo. De imagine Tetrici (MGH Antiquitates. Poetae Latini medii aevi 2), hrsg. von Ernst Dümmler, Berlin 1884, S. 370–378. Übers. nach: Alois Däntl, Walahfrid Strabos Widmungsgedicht an die Kaiserin Judith und die Theoderichstatue vor der Kaiserpfalz zu Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 52, 1930, S. 1–38; vgl. Felix Thürlemann, Die Bedeutung der Aachener Theoderich-Statue für Karl den Großen (801) und bei Walahfrid Strabo (829). Materialien zu einer Semiotik visueller Objekte im frühen Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 59, Köln/Weimar/Wien 1977, S. 25–65; Weinryb 2016 (Anm. 13), S. 39−44. 81 Bredekamp 2014 (Anm. 20), S. 81. 82 Stephan Beissel, Die Wölfin des Aachener Münsters, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 12, 1890, S. 317–320; Richard Krautheimer, The Carolingian Revival of Early Architecture, in: The Art Bulletin 24, 1942, S. 1–38, hier S. 35. 83 Krautheimer 1942 (Anm. 82), S. 35. Zur Kritik: Falkenstein 1966 (Anm. 51), S. 50–52. 84 Ingo Herklotz, Der Campus Lateranensis im Mittelalter, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 22, 1985, S. 1–44, insbesondere S. 34, 42; vgl. Adalbert Erler, Lupa, Lex und Reiterstand­ bild im mittelalterlichen Rom, Wiesbaden 1972. 85 Chronicon Moissiacense, Beschlüsse der ersten Versammlung von Äbten und Mönchen 816 in Aachen und Synodalakten von 817 und 836; vgl. Mayke de Jong, Sacrum palatium et ecclesiae. L’autorité religieuse royale sous les Carolingiens (790−840), in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 58/6, 2003, S. 1243−1270; Philippe Cordez, Schatz, Gedächtnis, Wunder. Die Objekte der Kirchen im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim 10), Regensburg 2015, S. 26. 86 Vgl. Falkenstein 1966 (Anm. 51), S. 53; Mario D’Onofrio, Roma e Aquisgrana, Rom 1983; Herklotz 1985 (Anm. 84). 87 Vgl. Herklotz 1985 (Anm. 84), S. 24. 88 Maria R. Alföldi u. a., Die römische Wölfin. Ein antikes Monument stürzt von seinem Sockel, Stuttgart 2011; Gilda Bartolini, La lupa capitolina. Nuove prospettive di studio, Rom 2010. 89 Vgl. 799 – Kunst und Kultur 1999 (Anm. 30), Bd. 1, S. 110, Nr. II.69 (Cord Meckseper). 90 Gebrochener Glanz. Römische Großbronzen am UNESCO-Welterbe Limes, Ausst.-Kat. (Bonn, Landesmuseum und Aalen, Limesmuseum, 2014/2015), red. von Stephanie Müller, Mainz 2014. 91 Übers. nach: Friedrich Wilhelm Unger, Quellen der byzantinischen Kunstgeschichte, Wien 1878, Bd. 1, S. 10–11, Nr. 3; vgl. Bauer 1996 (Anm. 46), S. 312. 92 Übers. nach Unger 1878 (Anm. 91), S. 11, Nr. 4; vgl. Bauer 1996 (Anm. 46), S. 313.

70 I Joanna Olchawa

 93 Gramaccini 1995 (Anm. 13), S. 134.  94 „[...] prius de edificiis, quae Cesar Augustus imperator Karolus apud Aquasgrani iuxta sapientissimi Salomonis exemplum Deo, vel sibi, vel omnibus episcopis, abbatibus, comitibus, et cunctis de toto orbe venientibus hospitibus mirifice construxit, iuxta pauca satis et minima commemorem. Cum strenuissimus imperator Karolus aliquam requiem habere potuisset, non ocio torpere, sed divinis servitiis voluit insudare, adeo, ut in genitali solo basilicam antiquis Romanorum operibus praestantiorem fabricare propria dispositione molitus, in breve se compotem se voti sui gauderet. Ad cuius fabricam de omnibus cismarinis regionibus magistros et opifices omnium id genus atrium advocavit“. Monachi Sangallensis 1829 (Anm. 31), S. 744. Übers. nach: Walter Kaemmerer, Vor- und Frühzeit (Quellentexte zur Aachener Geschichte 2), Aachen 1960, S. 9.  95 Vgl. Max Buchner, Einhard als Künstler. Forschungen zur karolingischen Kunstgeschichte und zum Lebensgange Einhards, Straßburg u. a. 1919; Gramaccini 1995 (Anm. 13), S. 135.  96 Heckner 2012 (Anm. 14), S. 55–57.  97 Ihm werden offensichtlich die gleichen Eigenschaften zugeschrieben wie Beseleel, wobei seine Begabung nicht auf Jahwe zurückgeführt wird.  98 Vgl. Das erste Buch der Könige, Kapitel 1–16, übers. und erklärt von Ernst Würthwein, Göttingen/ Zürich 1985, S. 74−84.  99 Tilman Borsche, Die rückwirkende Kraft der Geschichte, in: Anachronismen (Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland [AGPD] vom 3. bis 6. Oktober 2001 in der Würzburger Residenz), hrsg. von Andreas Speer, Würzburg 2003, S. 51–70, hier S. 51, und Guido Löhrer, Anachronismus und Akairie. Wie mit Elementen der philosophischen Tradition umgehen? Beispiel: Anselm von Canterburys Begriff der „rectitudo“, im gleichen Band, S. 95–116, hier S. 98. 100 Friedrich Ohly, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hrsg. von ders. u. a., Stuttgart 1995, S. 445−472. 101 Vgl. Cordez 2012 (Anm. 10), S. 12. 102 Diese Beobachtung auch in: Gramaccini 1995 (Anm. 13), S. 130. Vgl. die Suche nach den Wurzeln in der Philosophie: Anachronismen 2003 (Anm. 99), S. 12.

Geschichte und Technikikonologie des karolingischen Bronzegusses I 71

Antonia Putzger

Rückgriff oder Simulation? Zu frühneuzeitlichen Kopierverfahren am Beispiel Michiel Coxcies Ohne Zweifel ist das Kopieren im Sinne der Nachahmung bestimmter Motive, Ornamente und Darstellungsweisen ein zentrales Moment und ein wichtiger Motor der bildenden Künste – schon in der Antike und im Mittelalter war die Verwendung von Vorlagen allgegenwärtig.1 Zahlreiche römische Kopien nach griechischen Statuen legen außerdem nahe, dass die Wiederholung ganzer Werke bereits in der Antike einen ersten Höhepunkt erfuhr.2 In der westlichen Malerei aber wird die Kopie im heutigen Sinne – also die genaue, deutlich als solche erkennbare Wiedergabe eines vorhandenen Bildes mit dem Resultat von annähernd verwechselbaren Fassungen – zuerst an der Schwelle von Mittelalter und Früher Neuzeit greifbar. Ihr Auftreten in der nordalpinen Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts wurde daher in einem Zusammenhang mit der Wertschätzung von Malerei als Kunst im neuzeitlichen Sinne3 und mit der Erkundung des mimetischen Potenzials der Ölmalerei im Rahmen der sogenannten ars nova gesehen4: letzteres auf Basis der Annahme, dass die künstlerischen Fähigkeiten, die eine detaillierte Wiedergabe der sichtbaren Welt und besonders der Stofflichkeit ihrer Oberflächen erlauben, auch die genaue Wiederholung von anderen Bildern ermöglichen.5 Der angenommene Zusammenhang zwischen dem genauen Kopieren und der mimetischen Repräsentation der sichtbaren Welt im Bild impliziert demnach eine Verknüpfung von technisch-avancierter Kunstfertigkeit, erprobten Methoden und Malmaterialien sowie dem genauen Hinschauen als Basis für eine gelungene Wiederholung von Bildern. Damit ließe sich das kopierende Abmalen als komplexes Zusammenspiel verschiedener handwerklicher und kognitiver Fähigkeiten, externer und interner Prozesse begreifen. Die Fähigkeit zur mimetischen Darstellung, die eine bestimmte Form künstlerischen (Hin-)Sehens impliziert, wäre – folgt man dieser These – eine Bedingung der Möglichkeit genauen Kopierens.6 Doch wie getreu konnten Kopisten in früheren Zeiten ihre Vorgänger in technischer Hinsicht nachahmen? Während heutige Analyseverfahren es ermöglichen, die komplexen Schichten von Gemälden offenzulegen sowie in der Kopie den Malprozess und die Mittel der Vorlage rekonstruierend nachzuvollziehen, blieb früheren Kopisten der Blick unter die

Rückgriff oder Simulation? I 73

Oberflächen ihrer Vorlagen verwehrt.7 Ihre Herangehensweise basierte also auf der direkten Anschauung der Vorlage, auf tradiertem Wissen und vertrauten Übertragungs- und ­Maltechniken. Bei Kopien, die mit großem zeitlichen Abstand zu ihren Vorlagen entstanden und deren älteres Erscheinungsbild überzeugend wiederzugeben vermochten, lässt sich im Anschluss die Frage stellen, ob die unzeitgemäße Anmutung solcher Kopien auch mit dem Nachahmen unzeitgemäßer Techniken verbunden war. Diese Frage ist gerade für die Untersuchung der Kopien, die der Flame Michiel Coxcie (1499–1592) nach altnieder­ ländischen Werken angefertigt hat, relevant. Denn die flämische Malerei hatte sich in den je gut hundert Jahren zwischen der Entstehung der Originale und der Kopien in ikonografischer, stilistischer und technischer ­Hinsicht verändert, wobei unter anderem Einflüsse aus Italien und aus der spanischen Hofkunst sowie die Entwicklung von Methoden des Vorlagentransfers und der Druckkunst eine Rolle spielten. Deshalb dürfte das Kopieren dieser Bilder Coxcie vor besondere Herausforderungen gestellt haben. Die Kopien wiederum dürften schon in ihrer Herstellungszeit als anachronistisch – aus ihrer Zeit gefallen – erschienen sein, galten doch ihre Vor­lagen längst als ‚alt‘.8 Ihre Verwendung fanden sie folgerichtig in Kontexten, in denen die Anknüpfung an die historische Herkunft ihrer Vorlagen eine besondere Rolle spielte – sei es, weil die Kopie das Altarbild in seinem Ursprungskontext ersetzen oder weil mittels der Kopie eine repräsentative Rückbindung an die Entstehungszeit der Vorlage erzielt werden sollte.9 Die eingangs formulierte konzeptuelle Annäherung an das frühneuzeitliche Kopieren mittels Annahme einer Kompetenz zur mimetischen Nachbildung von Bildern bedarf also einer weiteren Ebene im Hinblick auf das Kopieren von Vorlagen, die ihrerseits bereits historisch waren: Ein erheblicher zeitlicher Abstand zwischen der Herstellung der Vorlage und der Kopie schafft einen Zeitraum, in dem sich künstlerische Techniken anders entwickelt haben können. Auch könnten damit andere künstlerische Vorstellungen von der überzeugenden Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit verbunden gewesen sein: Es ist möglich, dass das, was ein Künstler des 16. Jahrhunderts als eine wirklichkeitsgetreue Nachahmung empfand, von dem, was man in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts darunter verstand, abwich – abgesehen davon, dass die Reduzierung auf das Ziel, die sichtbare Welt nachzubilden, natürlich ohnehin für die Malerei beider Zeiträume eine zu große Vereinfachung darstellen würde. Der Kopist musste sich also im Bemühen um größtmögliche Nähe zu seiner Vorlage in deren Eigenheiten eindenken und sie mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nachahmen. Doch mit dieser Einschränkung war unter Umständen auch ein Vorteil verbunden: So lässt sich die These aufstellen, dass der historische Abstand einen klareren Blick auf die formalen Eigenheiten der Vorlage bewirkte. Das Kopieren einer älteren Vorlage konnte also vom Kopisten die Bereitschaft verlangen, von seinem eigenen Verständnis einer wirklichkeitsnahen Bildschöpfung abzuweichen und sich auf die spezifischen Bedingungen der Vorlage einzulassen. Zugleich konnte es diese Bereitschaft begünstigen. Auch mit diesem Abstraktionsvermögen steht unsere Frage nach der Rekonstruktion oder Simulation der älteren Techniken, mit denen das Erscheinungsbild der Vorlage erzielt wurde, in einem Zusammenhang.

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Insgesamt muss der getreu kopierende Künstler als aufmerksamer und scharfäugiger historischer Rezipient seiner Vorlagen anerkannt werden. Je genauer er arbeitete, umso mehr erfüllt er daher ein – aus heutiger Sicht – der Kopiertätigkeit eigenes Paradox: die Verbindung von maximaler Annäherung an das Vorbild und zugleich maximaler kritischer Distanz als Bedingung für die genaue Wahrnehmung und Wiedergabe von dessen Eigenheiten. Letzteres ist eine Kernkompetenz von Kopisten, die im Vorwurf des ‚sklavischen‘, unfreien Kopierens oft übersehen wird. Da die perfekte Kopie im Bereich der manuellen Wiederholung jedoch unmöglich ist, schreibt sich der Kopist zudem immer in mehr oder weniger sichtbarer Form in die Kopie ein.10 Größere und kleinere motivische Abweichungen ebenso wie mehr oder weniger Genauigkeit in der formalen Übernahme lassen daher Rückschlüsse zum Blick des Kopisten auf seine Vorlage sowie zu seiner Auseinandersetzung mit den technischen und künstlerischen Mitteln ihres Schöpfers zu. Ebenso verfehlt wie der Begriff des ‚sklavischen Kopierens‘ erscheint in diesem Licht die Annahme, dass sich eine Kopie nur mit der Epidermis des Originals befasse und daher selbst nur Oberfläche sein könne.11 Diese Kritik Peter Blochs erkennt keine eigene Schwierigkeit in der Herstellung eben jener Oberfläche und spricht damit gerade jenen Kopien, die das Original genau, jedoch vermeintlich „um seine historische Dimension verkürzt“12 wiedergeben, eine eigene komplexe Materialität und somit auch eine eigene historische Dimension ab. So wird der Wiederholung eines bereits existierenden Werks eine gewisse Einfachheit unterstellt oder die Schwierigkeit dieser Aufgabe auf die genaue Übernahme der Umrisslinien der Komposition reduziert. Diese der Kopie oft unterstellte Oberflächlichkeit lässt sich aber mithilfe der kunsttechnologisch informierten Analyse von Kopien in Frage stellen. Eine solche Analyse kann zeigen, dass getreue Kopien – wie ihre Vorlagen – auch in materieller Hinsicht technisch komplex aufgebaut und in vielen Schritten entstanden sind. Sie kann zudem aufdecken, ob und wie genau sich der Kopist auch nach den technischen Vorgaben seiner Vorlagen ausrichtete. Nachfolgend werden daher Coxcies Kopien nach zwei berühmten altniederländischen Altarbildern im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegende oder besser: die in diesen Kopien verkörperte Auseinandersetzung mit den formalen und technischen Eigenheiten ihrer Vorlagen untersucht. Dies geschieht unter der Prämisse, dass in der Kunstproduktion Idee und Form, Material und Technik einander bedingen und dass sie dies bei Kopien in spezifischer Weise tun.

Michiel Coxcies Kopien nach Jan van Eyck und Rogier van der Weyden Michiel Coxcie war sowohl im Hinblick auf seine eigenen Kompositionen als auch auf seine Kopien einer der erfolgreichsten flämischen Maler des 16. Jahrhunderts. Das überlieferte Œuvre umfasst zahlreiche religiöse Gemälde, einige mythologische Darstellungen und Porträts sowie eine Anzahl von Fresken in römischen Kirchen. Außerdem lieferte er nach-

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weislich Entwürfe für Tapisserien und Glasmalereien.13 Im Auftrag der Habsburger Regentin Maria von Ungarn und ihres Neffen, des spanischen Königs Philipp II., fertigte Coxcie zudem Kopien nach zwei großformatigen Altarbildern an, die heute als zentrale Werke der altniederländischen Malerei gelten: der mehrheitlich Rogier van der Weyden zugeschriebenen Kreuzabnahme Christi sowie dem Genter Altar von Jan (und Hubert?) van Eyck.14 Über Coxcies Ausbildung ist wenig bekannt, doch geht man davon aus, dass er sich die Techniken der Tafelmalerei und die Entwurfspraxis in der Brüsseler Werkstatt des Bernard van Orley angeeignet hat.15 Um das Jahr 1529 ging er für einige Jahre nach Italien, wo er die Freskotechnik lernte und Werke Raffaels kopiert haben soll.16 Durch die Erfahrungen in Brüssel und Italien verfügte Coxcie demnach schon über ein Spektrum an Techniken sowie über unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten, bevor er als Kopist für Maria von Ungarn und Philipp II. tätig wurde. Seine Arbeit mit Medien wie der Glas- und Wandmalerei, die eine genaue Übertragung von ausdifferenzierten Entwurfszeichnungen voraussetzten, lässt darauf schließen, dass er zudem über Erfahrungen mit und Kenntnisse von verschiedenen Übertragungstechniken verfügte – eine gute Voraussetzung für das Kopieren großformatiger Bildkompositionen. Im Berliner Bode-Museum hängt eine Kopie nach Rogiers Kreuzabnahme, die Coxcie auf Basis ihrer kunsttechnologischen Untersuchung und Datierung im Zusammenhang mit historischen Quellen überzeugend zugeschrieben wird.17

10  Michiel Coxcie, Kreuzabnahme Christi, um 1548, Öl auf Holz, 201,0 x 168,5 cm, Berlin, Bode-Museum.

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11  Rogier van der Weyden, Kreuzabnahme Christi (vor 1443), Öl auf Holz, 204,5 x 261,5 cm, Madrid, Prado.

Etwas anders verhält es sich mit den auf Museen in Brüssel, Berlin und München verteilten Tafeln seiner Kopie nach dem Genter Altar (1557–1559): Eine Inschrift auf der Mitteltafel, die die Anbetung des Gotteslammes zeigt, nennt das Datum der Fertigstellung und den Künstler. Zwar ist die Zuschreibungsfrage damit geklärt, doch greifen bisherige Untersuchungen dieses Werks, das einst als Altarbild in der Kapelle des Madrider Königspalastes Alcazar diente (nachfolgend daher als Alcazar-Retabel bezeichnet) und das seine Vorlage nicht in allen Teilen treu wiedergibt, sowohl in inhaltlicher als auch maltechnischer Hinsicht noch zu kurz: So gibt es bislang keine umfassende Deutung dieses Bildes, die seinen Auftragskontext konsequent miteinbezieht, und noch keine ausführliche maltechnische Studie, die die treu kopierten und frei adaptierten Teile vergleichend untersucht. Doch geben sowohl der Berliner Restaurierungsbericht von Cornelia Rüth zur KreuzabnahmeKopie als auch die Diplomarbeit der Restauratorin Stefanie Thomas zu Coxcies GottvaterChristus-Kopie nach Jan van Eyck sowie eine kurze Studie von Anne Dubois und Pascal Syfer-d’Olne zu den Brüsseler Tafeln Teilantworten auf die Frage nach Coxcies Techniken, die bei der Bestimmung seines Kopierverfahrens weiterhelfen.19

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Same same but different  – Coxcies Berliner Kreuzabnahme In der Abfolge der uns bekannten Kopien und Nachschöpfungen von Rogier van der Weydens Kreuzabnahme ist die Berliner Tafel wahrscheinlich die älteste der mit dem Original im Madrider Prado weitreichend übereinstimmenden Kopien.20 Ihr Einsatz als Substitut des Originals im sakralen Kontext der Löwener Armbrustschützenkapelle erforderte neben ihrer Treue im Maßstab offenbar auch eine besondere visuelle Nähe zum Vorbild.21 Anders als der Löwener Edelheer-Altar (1443), der die Komposition Rogiers genau übernimmt, nicht jedoch die Proportionen von Figuren und Kreuz sowie deren Verortung im Bildraum, anders auch als die kreativen Aneignungen und Umformulierungen durch den Meister des Bartholomäus-Altars, übernimmt die Berliner Kopie (mit Stephan Kemperdick gesprochen) auch „die Kunst“ ihrer Vorlage.22 Dazu gehört die eigenartige Bildraumgestaltung mit der vielfach ineinander verschränkten Figurengruppe der Leichenträger und Trauernden, die – in einem scheinbar nach oben hin sich verengenden Schreinkasten reliefartig gestaffelt – maßgeblich für die Dichte und Unmittelbarkeit der Darstellung ist. Die Umrisslinien der Komposition stimmen bis auf wenige Abweichungen und Verschiebungen mit dem Original überein – ein typisches Merkmal von genauen Kopien, das auf die Übertragung der Konturen mittels eines Pausverfahrens hindeutet.23 Im Anschluss scheint die Kopie in unmittelbarer Anschauung der Vorlage angefertigt worden zu sein; dafür spricht die genaue Übernahme von kleinsten Details – Elemente also, die nicht mittels des Übertragungsmediums schon in die Unterzeichnung eingefügt wurden, wie beispielsweise die Lichtreflexe auf dem Gürtel der Maria Magdalena am rechten Bildrand. Bemerkenswert ist auch, dass im blauen Mariengewand das teure Pigment Ultramarin nachweisbar ist, was – ebenso wie das im Hintergrund vermalte Gold – auf den Status und Kostenaufwand der Kopie hinweist.24 Doch fallen bei einem genauen Vergleich der Kreuzabnahme-Kopie mit ihrer Vorlage neben der weitreichenden Ähnlichkeit auch Unterschiede auf. Einige motivische Änderungen sind schnell benannt und wurden an anderen Stellen schon besprochen:25 die geraden statt der abgerundeten Seitenstreben der ans Kreuz gelehnten Leiter, die abweichenden Muster auf dem Mantel des Nikodemus und den Ärmeln der Magdalena, der anatomisch korrigierte Adamsschädel am unteren Bildrand. Dafür, beim Nikodemus-Mantel auf das etwas modernere Granatapfelmuster umzusteigen, mag es inhaltliche Gründe gegeben haben, zu denen sich fundierte Mutmaßungen anstellen lassen.26 Doch ließe sich hier auch ein Problem des Kopisten bei der Wiedergabe seiner Vorlage vermuten: Da solche Stoffe in der flämischen Malerei des 16. Jahrhunderts sehr viel seltener dargestellt wurden, fehlte ihm möglicherweise das technische Know-how oder die manuelle Geschicklichkeit für die Wiedergabe des pelzbesetzten Goldbrokatstoffs, der im Original besonders kunstvoll gemalt ist. Jenseits dieser Kopie zeigt sich Coxcie in seinem Frühwerk nicht als Experte in diesem Metier. Dabei erschwert allerdings der heutige, stark beschädigte Zustand von Coxcies Nikodemus-Mantels eine gerechte Beurteilung seiner ursprünglichen Qualität.27

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Die Frage nach möglichen Schwierigkeiten in der technischen Auseinandersetzung Coxcies mit der Kreuzabnahme Rogier van der Weydens leitet von den motivischen Abweichungen der Kopie zu einer grundsätzlichen Unterscheidung in der Erscheinung der beiden Bildoberflächen über: So weist die Berliner Kopie bei aller Ähnlichkeit eine andere stoffliche Qualität als das Original auf: Die Farben und Konturen treten weniger klar hervor als die der Vorlage und die Tonalität ist insgesamt etwas wärmer; obwohl die Gesichtszüge und Gewandfalten der Vorlage genau entsprechen, wirken sie doch weicher. Die Kopie erscheint insgesamt opaker, die Oberfläche weniger strahlend. Auch der Einsatz von Licht und Schatten unterscheidet sich: Stärker noch als im Original dient er in der Kopie dazu, die räumliche Tiefe von Körpern und Faltenwürfen zu modellieren und das plastische Hervorstehen bestimmter Elemente, beispielsweise der Knie des Leichnams Christi, anzuzeigen. Lässt sich also die optische Unterscheidbarkeit der beiden Tafeln darauf zurückführen, dass der Kopist sich an dem bereits gealterten Erscheinungsbild seiner Vorlage orientieren musste, dass er seine eigenen Vorstellungen und stilistischen Eigenheiten einbrachte oder aber darauf, dass Coxcie – obgleich er wie Rogier mit Öl auf Holz malte – anders mit dem Material verfuhr als jener? Dem Restaurierungsbericht Cornelia Rüths zu Coxcies Kreuzabnahme lässt sich entnehmen, dass ihre Unterzeichnung sparsam ist und bis auf kleine Abweichungen deckungsgleich mit der Oberflächenkonturierung.28 Die Unterzeichnung der Vorlage hingegen ist flüssiger und skizzenhafter ausgeführt und zeigt mehr Schattierungen sowie Abweichungen im Vergleich zur Malschicht.29 Der Goldgrund der Kopie ist als Ölvergoldung ausgeführt und nicht wie bei Rogier als Polimentvergoldung. Interessanterweise bemerkt Rüth aber: „Im Maßwerk wird eine Polimentvergoldung durch die Farbgebung Gelb-Ocker-Rot imitiert.“30 Offenbar simulierte hier also der Kopist eine ältere Technik, die er nicht anwandte. Unterschiede zwischen Coxcies und Rogiers Technik lassen sich auch an der untersten Farbschicht feststellen: Die Berliner Kreuzabnahme trägt eine graue Imprimitur auf der weiß grundierten Holztafel, während Rogiers Kreuzabnahme von einer dünnen fleischfarbenen Schicht ausgeht.31 Darauf folgen bei beiden Bildern mehrere Farblasuren: So besteht die Kopie den kunsttechnologischen Untersuchungen nach im Gewand des Johannes aus fünf Farbschichten über der Imprimitur.32 Der Kopist griff also die Technik des mehrschichtigen lasierenden Farbauftrags auf, die typisch für die altniederländische Malerei ist – wenn auch die Schichten selbst nicht gleich in Aufbau und Abfolge sind. Dies zeigt besonders die Gestaltung der Inkarnate: Statt von helleren zu dunkleren Farbschichten und Schattierungen überzugehen, arbeitete der Kopist die Inkarnate aus einem dunkleren Mittelton heraus, der dem jeweiligen Hautton angepasst ist.33 Darauf malte Coxcie die Schattierungen und weißen Höhungen, was für ein altniederländisches Bild untypisch wäre. Zwar zeigt die Betrachtung der Kreuzabnahme im Prado, dass die verschiedenen Inkarnate schon im altniederländischen Original eine wichtige Rolle spielen, um Leben und Tod sowie Alter, Geschlecht und den seelischen Zustand der Figuren anzuzeigen. Doch anders als Michiel Coxcies Untermalung der Inkarnate hat Rogier van der Weydens fleischfarbene

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Imprimitur wohl keinen Einfluss auf die Wirkung der Hauttöne.34 Trotzdem fand das ­Wissen um den Einsatz einer solchen vorbereitenden Malschicht bei den älteren Malern noch um 1600 Eingang in Karel van Manders Schilderboek.35 Es war also nicht ganz in Vergessenheit geraten, dass auch die älteren Maler mit farbigen Untermalungen gearbeitet hatten, und es liegt nahe zu vermuten, dass man jene farbige Schicht im 16. Jahrhundert als Vor­ bereitung der Hauttöne interpretierte. Mit ihrer grauen Imprimitur und der jeweiligen Untermalung der Inkarnate ist Coxcies Kopie in technischer Hinsicht demnach klar in ihrer eigenen Herstellungszeit Mitte des 16. Jahrhunderts verortet – einer Zeit, in der die niederländischen Maler gerade die adäquate Darstellung und technische Ausführung von Fleischtönen beschäftigte, was die Vorbereitung des Hauttons in der Untermalung einschloss.36 Im Hinblick auf die Differenzierung alter und neuer Techniken in Coxcies Kopierverfahren stellt sich aber die Frage, ob er versuchte, mittels der farbigen Untermalung der Inkarnate eine vermeintlich alte Technik zu imitieren oder mit einer state of the art-Technik einen vergleichbaren visuellen Effekt zu erzielen, das Vorbild vielleicht gar zu übertreffen.

12  Michiel Coxcie, David enthauptet Goliath, um 1545/1550, Öl auf Holz, 140 x 133 cm, El Escorial, Monasterio de San Lorenzo.

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Zwar lässt sich diese Frage anhand der technischen Analysen nicht abschließend klären, doch kann ein Vergleich mit anderen Gemälden Coxcies, die auf eigenen Kompositionen beruhen, weiterhelfen: Ziehen wir Coxcies zeitnah zur Kreuzabnahme-Kopie entstandenes Gemälde des Kampfes von David und Goliath zum Vergleich heran, sehen wir, dass die Inkarnate der beiden Kämpfenden deutlich opaker, gröber, ‚malerischer‘ erscheinen als die der Figuren auf der Kreuzabnahme-Kopie. Sein Kreuztragender Christus im Prado wiederum wirkt glatt in der Pinselfaktur, zeigt aber statt klarliniger Konturen ein subtil abgestuftes sfumato auf.37 Es könnte also sein, dass sich Coxcies Verständnis davon, was eine lebendige Darstellung von Haut ausmachte, von dem Rogier van der Weydens prinzipiell unterschied und er sich, um der älteren Vorlage nahe zu kommen, teilweise von seinen eigenen Vorstellungen befreien musste. So legt der optische Abgleich der beiden soeben genannten Gemälde mit der Kreuzab­ nahme-Kopie nahe, dass der kopierende Coxcie bei den Inkarnaten eine seiner Vorlage angemessene feinere, transparente Oberflächenstruktur erzeugen wollte, die visuelle Wirkung der Vorlage also durchaus zu simulieren suchte. Obwohl sie nicht mit dem Verfahren Rogiers übereinstimmt, lässt sich Coxcies differenzierte Anlage der Malschichten bei den Hauttönen damit auch als Versuch der Annäherung an das Vorbild werten. Demgegenüber sind andere Abweichungen auf der Kopie – so die Korrektur des Adamsschädels und das veränderte Muster des Nikodemus-Mantels – so auffällig oder stehen derart im Kontrast zu akribisch übernommenen Details, dass hier eine behutsame Modernisierung der Vorlage unterstellt werden darf.38

Rekonstruktion und Simulation historischer Techniken in Coxcies Kopie des Genter Altars Coxcies Auseinandersetzung mit seinerzeit bereits historischen Techniken lässt sich besser an seinem in großen Teilen treu nach dem Genter Altar kopierten Alcazar-Retabel ab­ lesen: Bei ihrer maltechnischen Untersuchung der Kopie der mittleren Bekrönung mit dem Thronenden Gottvater/Christus39 im Vergleich mit dem Original stellte Stefanie Thomas ­einen abweichenden Aufbau der Malschichten fest, der zum Teil an den Befund zur Kopie der Kreuzabnahme erinnert: Auf der weißen Grundierung der Tafel wurde zunächst die Unterzeichnung aufgebracht, die in ihrer Übereinstimmung – sowohl mit der Vorlage als auch mit ihren eigenen Oberflächenkonturen  – eine Übertragung mittels einer Pause ­nahelegt, auch wenn sich die Art des Verfahrens nicht eindeutig bestimmen lässt.40 (Farb­ abbildung 3 und 4) Darauf folgen die Imprimitur, die dunkler ausfällt als jene van Eycks, der Pressbrokat, die Hintergrundvergoldung und die Malschichten. Bei der Herstellung des goldenen Hintergrundes entschied sich Coxcie ebenso wie bei der Kopie der Kreuzabnahme für eine Ölvergoldung  – ein Verfahren, das im Vergleich mit der komplizierteren Polimentver­

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goldung des Genter Altars schneller umzusetzen war. Dass aber überhaupt der im 16. Jahrhundert – ebenso wie die Brokatstoffe – zunehmend unübliche Goldgrund beibehalten wurde, zeigt auf, dass das mittlerweile historische Erscheinungsbild der Vorlage übernommen werden sollte, was sicherlich seitens des fürstlichen Auftraggebers des Alcazar-Reta­ bels so gewünscht war. Auch bei der Imitation des Pressbrokats der Draperie hinter Gottvater ging Coxcie ­einen von Jan (und Hubert?) van Eyck abweichenden Weg, indem er mit verschiedenen Zusammensetzungen der Prägemasse experimentierte und das Stoffmuster entgegen der Technik des 15. Jahrhunderts erst nachträglich (und nicht bereits bei der Prägung der Masse) auftrug.41 Thomas schließt daraus, „dass Coxcie zwar durch das Studium der Werke früherer Meister mit der Wirkung von Pressbrokaten vertraut war, wahrscheinlich aber recht wenig Erfahrung in der Herstellung derselben hatte“42. Im Gegensatz zum Mantel des Nikodemus hielt er sich hier jedoch an das Stoffmuster der Vorlage, das er getreu und unter Rekonstruktion der ihm nicht vertrauten Technik wiederzugeben suchte. Als Grundlage für Coxcies technische Lösung könnte neben der visuellen Erschließung der Vorlage laut Thomas auch das Studium von und Experimentieren mit verschiedenen überlieferten Rezepten gedient haben.43 Auch wäre denkbar, dass Coxcie der Zusammensetzung des Pressbrokats durch aufmerksames Befühlen des Reliefs der Bildoberfläche näherkam. An dieser Stelle wird somit eine gezielte Auseinandersetzung des Kopisten mit einer nicht mehr geläufigen Technik greifbar. Immerhin hätte es auch die Möglichkeit gegeben, die Brokatstoffe ohne Verwendung von Prägemasse und Metallauflage wiederzugeben, sie also in die ‚Sprache‘ der Ölmalerei zu ‚übersetzen‘, wie Coxcie es offenbar bei der Simu­ lation einer Polimentvergoldung im Maßwerk der Kreuzabnahme-Kopie getan hatte. Dies wäre durchaus im Sinne italienischer kunsttheoretischer Vorstellungen gewesen: So empfahl Leon Battista Alberti bekanntermaßen die Darstellung von Gold in der Malerei mittels Farben statt der Verwendung von Blattgold und Metallen und erhob somit den Wert der Kunstfertigkeit über den Materialwert des Bildes.44 Eine derartige technische Erneuerung hätte allerdings zu einer deutlich größeren Abweichung der Oberflächenstruktur und -erscheinung in der Kopie geführt. Bei den Malschichten schließlich „zeigen die entnommenen Proben einen sehr differenzierten, vielschichtigen Aufbau, in dem Pigmentschichten und Farblacke gemeinsam die gewünschte optische Wirkung erzielen“45. Wie Thomas feststellt, nimmt die Pigmentierung der Farbschichten zur obersten Schicht hin ab und der Anteil an Farblacken zu.46 Dies erlaubt den Schluss, dass Coxcie die transparente Wirkung der van Eyck’schen Oberfläche mit einer ähnlichen lasierenden Technik wiederzugeben suchte. Doch unterscheidet sich – wie auch in der Kreuzabnahme-Kopie – seine Maltechnik in einem Punkt massiv von der von Jan (und Hubert?) van Eyck: „Während im Genter Altar Licht- und Schattenpartien durch Bleiweißuntermalungen quasi vormodelliert und in einem späteren Arbeitsgang durch aufliegende Malschichten und Lasuren abgetönt wurden, setzte Coxcie Weiß als Farbe nur da ein, wo sie im vollendeten Zustand des Gemäldes auch optisch in Erschei-

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nung tritt“, nutzte sie also mehr auf der Oberfläche, so für das Aufsetzen einzelner Höhungen.47 Damit ist er wiederum mehr in seiner eigenen Zeit verortet. Insgesamt gibt Thomas zu bedenken, dass Coxcie bei der Herstellung der Kopie unter Zeitdruck stand, was die Vereinfachung der Mittel und andere, den Malprozess beschleunigende Schritte bedingte, so die Ölvergoldung der Hintergründe und Zusätze von Blei­ pigmenten, die die Trocknung der Prägemasse und Farben vorantrieben. Hier zeigt sich eine kopienspezifische Differenzierung im Hinblick auf die unter anderem von Ann-Sophie Lehmann untersuchte transformative agency des Mediums Öl, dessen Einfluss also auf die Verarbeitung der Pigmente und die Wirkung der Farben.48 Nutzte der Kopist auch dasselbe Material, um seine Vorlage nachzubilden, wendeten sich doch bestimmte Eigenschaften des Mediums gegen sein Anliegen, schnell und trotzdem genau zu arbeiten – etwa der langsame Trocknungsprozess der einzelnen Schichten.49 Dass Coxcie offenbar nach Wegen suchte, die Herstellung der Kopie zu beschleunigen, deutet auf eine lösungsorientierte technische Versiertheit im Umgang mit diesem Medium unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Zeit und Mittel hin. Nach Thomas sind die Notwendigkeit, beim Kopieren ökonomischer vorzugehen sowie die größeren und kleineren Abweichungen im maltechnischen Aufbau für die nun unterschiedliche Leuchtkraft und Lichtdurchlässigkeit der Farben in Kopie und Original verantwortlich. Sie schließt daraus, dass die kopierte Tafel direkt nach ihrer Fertigstellung der Originaltafel wesentlich ähnlicher gewesen sein müsse, sich die beiden seither aber durch Abnutzung und chemische Prozesse auseinanderentwickelt haben.50 Hätte Coxcies Kopie der Gottvater/Christus-Tafel aufgrund ihres anderen maltechnischen Aufbaus erst im Laufe der Zeit an Schärfe verloren, könnte dies analog auch für seine Kopie der Kreuzabnahme bedeuten, dass der beschriebene Unterschied in der Gesamtwirkung nach der Fertigstellung des Originals noch nicht so augenfällig war wie heute. Es wäre also möglich, die kunsttechnologischen Befunde zu Coxcies Kopien dahingehend zu interpretierten, dass der Kopist – zum Teil mittels der Rekonstruktion von Techniken, die ihm nicht vertraut waren – nach Wegen suchte, ein mit der Vorlage identisches Erscheinungsbild zu erzielen, und darin auch größtenteils erfolgreich war. Dieser Schluss wäre jedoch noch etwas zu einfach: Wie die Zusammenschau der beiden bislang analysierten Tafeln zeigt, setzen sich die von Coxcie verwendeten Kopierverfahren aus gängigen Übertragungstechniken, der Simulation eines älteren Erscheinungsbildes mittels neuerer Techniken (Ölvergoldung, ­anderer Aufbau der Malschichten), dem Versuch der Rekonstruktion historischer Techniken (Pressbrokat) sowie einer zurückhaltenden Korrektur einzelner Details und Aktua­lisierung des Gesamterscheinungsbildes zusammen. Im Hinblick auf die Änderungen sind intendierte und unbewusste Abweichungen schwer voneinander abzugrenzen, hier muss das Ziel des Kopisten, der Vorlage gerecht zu werden, noch genauer hinterfragt werden.

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Technik, Malweisen und Stil Dass Coxcie seine Verfahrensweisen für das Kopieren historischer Vorlagen und das Anfertigen eigener Kompositionen durchaus bewusst der jeweiligen Aufgabe anpasste, lässt sich anhand einer Gesamtschau seines Alcazar-Retabels genauer nachvollziehen: Die ­Innenseite mit der Anbetung des Gotteslammes, den darauf zulaufenden Prozessionen von heiligen Märtyrern, Fürsten und Eremiten im unteren, Gottvater/Christus, Johannes dem Täufer und Maria im oberen Register ist größtenteils detailgetreu übernommen, nur die Tafel der berittenen Streiter wurde um die zeitgenössischen Bildnisse Karls V., Philipps II., und Michiel Coxcies selbst ergänzt. Auf dem Sockel des Lebensbrunnens erscheint ­zudem eine Inschrift mit dem Namen des Malers und der Datierung der Kopie: „MICHAEL DE COXIE ME FECIT. ANNO 155[8?]“. Die Bildnisse, die wohl auch für zeitgenössische ­Betrachter klar auf die Auftragssituation und Bestimmung der Kopie hindeuteten, sind in einer anderen, lockereren Malweise ausgeführt, die sich von der glatten Oberfläche der kopierten Streiter abhebt.51

13  Michiel Coxcie, Alcazar-Retabel, Innenseite, Detail aus der kopierten Tafel der Streiter Christi Öl auf Holz, 147 x 52 cm, Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique mit den von Coxcie eingefügten Bildnissen.

Der durch die Einfügung bewirkte Anachronismus im Kontext des schon zu damaliger Zeit berühmten Werkes des 15. Jahrhunderts wird erst durch die Malweise richtig sichtbar, sonst würden die neu eingefügten Köpfe in der Masse der dargestellten Köpfe kaum auffallen. Die stark abgeänderte Außenseite des Coxcie-Retabels bestärkt den Eindruck einer ­bewussten Gegenüberstellung von verschiedenen Malweisen im Rahmen dieses Retabels: Hier wurden die van Eyck’schen Johannes-Figuren und Stifterporträts im unteren Register durch Darstellungen der vier Evangelisten in antikisierenden Gewändern und Haltungen sowie in zeitgenössischem, pastoserem Pinselduktus ersetzt, zum Teil in Anlehnung an

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14  Michiel Coxcie, Alcazar-Retabel, Rekonstruktion der noch vorhandenen Teile der Außenseite Tafeln heute in Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique)

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Vorbilder aus der italienischen Malerei und Bildhauerei.52 Anstelle der van Eyck’schen ­Konfrontation der als steinerne Statuen präsentierten Johannes-Figuren mit den ‚lebens­ echten‘ Bildnissen des Stifterehepaars vereint Coxcie diesen mimetischen Gegensatz in seinen Evangelisten: Sie sind zwar in Grisaille gemalt, haben aber weniger Ähnlichkeit mit Statuen, sondern setzen sich in entspannten Schrittbewegungen über die Grenzen ihrer Nischen hinweg und wenden sich einander zu. Nur die Figur des Evangelisten Johannes ist noch deutlich an die Vorlage angelehnt und zeigt damit sehr schön wie Coxcie van Eycks scheinbar in Stein gemeißelte harte Formen mit seinem Pinsel gleichsam verlebendigt. Dass dies sowohl an den Mythos von Pygmalion und Galatea als auch an die zeitgenössisch geführten Paragone-Diskussionen denken lässt, mag kein Zufall sein, sondern könnte sich gezielt an das höfische Umfeld, für das das Retabel entworfen war, richten.53 Auch eine religiöse Bedeutungsdimension dieser Malweise ist denkbar: In Anknüpfung an Koenraad Jonckheere lässt sich überlegen, ob die lockerere

15  Michiel Coxcie, Alcazar-Retabel, Außenseite, Detail aus der kopierten Tafel des Verkündigungsengels Öl auf Holz, 163,7 x 70 cm, Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique.

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Haltung und Malweise von Coxcies Figuren eine Überwindung der statuarischen Darstellung in der Vorlage aufzeigen sollten – eines Motivs also, dass laut Jonckheere zu jener Zeit in der gegenreformatorischen Kritik stand und von dem sich die Maler abzugrenzen suchten.54 In jedem Fall bilden Coxcies Evangelisten einen auffälligen Kontrast zu den eher statischen Figuren der Verkündigung im mittleren Register, das auf den ersten Blick die van Eyck’sche Vorlage sehr getreu wiedergibt. Auch wenn wir davon ausgehen können, dass die altniederländische Malerei nicht nur in unseren, sondern auch in den Augen der Zeitgenossen Coxcies weiterhin einen hohen Grad an Realitätsnähe erreichte55, so müssen wir – wie einführend bemerkt und wie diese Gegenüberstellung zeigt – damit rechnen, dass sich Coxcies Vorstellungen von dem, was eine realistische und lebensnahe Darstellung im Bild ausmachte, von denen Jan van Eycks unterschieden. Dies lässt sich bei genauem Hinsehen auch innerhalb der treu kopierten Passagen nachvollziehen: Vergleicht man die bauschigen Flügel des Verkündigungsengels und ihre gesteigerte Licht-Schattenwirkung mit den scharfkantigen Flügeln des van Eyck’schen Vorbilds, wird deutlich, dass auch hier nicht exakt dieselbe Oberflächenerscheinung erzielt und vielleicht auch nicht angestrebt wurde. Dieses Detail lässt darauf schließen, dass der Kopist die überzeugende Darstellung eines flugfähigen Engelsflügels nicht zwingend in der sauberen Aufreihung der einzelnen ­Federn suchte. Doch auch wenn in den treu kopierten Teilen vielfach solche Ambivalenzen erkennbar sind, lassen sich anhand der gesamten Außenansicht des Alcazar-Retabels das in jener Zeit historische Erscheinungsbild der kopierten Verkündigung und das ‚moderne‘ der hinzugefügten Evangelisten als unterschiedliche Darstellungstypen oder Stile begreifen.56 Diese wiederum beruhen auf unterschiedlichen malerischen Herangehensweisen, mittels derer zwei historisch und regional verortete Vorstellungen von Lebendigkeit thematisiert werden.57 Somit wird besonders an Coxcies Alcazar-Retabel eine Reflexion des Künstlers über die ihm zur Verfügung stehenden Mittel und die damit zusammenhängenden Ausdrucksweisen greifbar. Tritt diese Reflexion der künstlerischen Möglichkeiten zweier voneinander abgrenzbarer Formensprachen in der Kreuzabnahme-Kopie nicht gleichermaßen offen zutage, so wird auch hier Coxcies visuelle und technische Schulung an italienischen Vorbildern fühlbar. Bei der Schattierung der Muskulatur des dem Betrachter in so eindrücklicher Weise präsentierten Christuskörpers kommen die Stilmittel des sfumato und chiaroscuro zum Einsatz, was den Körper weniger mager erscheinen lässt und ihn näher an die Ideale des 16. Jahrhunderts rückt.58 Deshalb habe ich an anderer Stelle die These formuliert, dass in der Kreuzabnahme-Kopie neben bewussten Veränderungen motivischer Art auch unbewusste visuelle Abweichungen sichtbar werden, in denen sich der durch seine eigene Zeit und seinen künstlerischen Werdegang geprägte – wenn man so will – ‚manieristische Blick‘ des Kopisten auf die Vorlage manifestiert.59 Bewusste Änderungen, behutsame Aktualisierungen und unbewusste Blickverschiebungen lassen sich hier jedoch schwieriger unterscheiden als bei der Analyse des Alcazar-Retabels.

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Abschließende Überlegungen zur technischen und theoretischen Verortung von Kopien Coxcie war nicht der erste Künstler, der überzeugende Kopien nach altniederländischen Bildern herstellte: Wie zu Beginn erwähnt treten schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden sehr genaue Kopien auf, die ihren Vorlagen zum Verwechseln ähnlich sind: Prominente Beispiele hierfür sind das Bildnis eines feisten Mannes nach einer Vorlage des Meisters von Flémalle, eine Kopie der Brunnen-Madonna Jan van Eycks sowie die im Maßstab verkleinerten Wiederholungen des Johannes-Altars und MirafloresAltars Rogier van der Weydens.60 Coxcies Kopien heben sich von diesen früheren zum ­einen durch ihr großes Format ab, zum anderen aufgrund der veränderten technischen und ästhetischen Bedingungen. Zwar sind die Kopien Michiel Coxcies ebenso mit Ölfarben auf Holz gemalt wie ihre Vorlagen. Doch der Umgang mit dem Material unterscheidet sich im Hinblick auf die Zusammensetzung und den Aufbau der Malschichten und geht mit leichten Veränderungen der Form und Bildwirkung einher – ein optischer Eindruck, der durch offenbar bewusst eingefügte ‚Korrekturen‘ noch verstärkt wird. Bei der Wiederholung altniederländischer Bilder im 16. Jahrhundert tritt somit das mimetische Verhältnis zwischen Kopie und älterer Vorlage in ein Spannungsverhältnis mit dem mimetischen Verhältnis zwischen Kopie und sichtbarer Welt. Zwar können uns kunsttechnologische Analysen solcher Kopien dabei helfen, zwischen tradierten, wiederbelebten und neu hinzukommenden Verfahrensweisen zu unterscheiden und zu begründeten Schlüssen im Hinblick auf intendierte Ähnlichkeit und Unterschiede zu kommen. Anhand der hier vorgebrachten, in Teilen vermeintlich widersprüchlichen Deutung von Coxcies Kopiertechniken wird aber auch ein größeres Problem einer jeden kunstwissenschaftlichen Einordnung kunsttechnologischer Erkenntnisse greifbar: Technische Befunde geben zwar Aufschluss über die Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Kopisten, jedoch nicht über die Gründe und Ziele seiner praktischen Entscheidungen und auch nicht über sein, sei es aus Zeitmangel oder anderen Gründen, nicht angewandtes Wissen. Ebenso wie der ikonografische Gehalt eines Werks sind kunsttechnologische Ergebnisse daher Gegenstand für Interpretationen, die sie einerseits dem Bereich der vermeintlich objektiven, naturwissenschaftlichen Erkenntnis entheben, derer sie andererseits aber dringend bedürfen, um aussagekräftig zu werden. Mit der durchaus sehr fruchtbaren Untersuchung von Übertragungstechniken und Unterzeichnungen hat sich die kunsttechnologische Kopienforschung oft auf den Aspekt genauer Kopien konzentriert, der bei treuen Kopien den höchsten Grad der Übereinstimmung mit der Vorlage aufweist.61 Doch sind händisch erstellte Kopien – im Gegensatz zu technischen Reproduktionen – wesentlich durch ihren komplexen Aufbau gekennzeichnet: Zwischen Bildträger und Oberfläche liegen diverse Schichten, deren Untersuchung Rückschlüsse auf Verfahrensweisen des Kopisten erlaubt.62 Gerade hier blieb dem Kopisten im Nachvollzug der Form Raum für die Gestaltung des Materials – ein Experimentier-

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feld, auf dem zeitgenössische und unzeitgemäße Verfahrensweisen, Neuerungen, Rückgriffe sowie Simulationen älterer Techniken zum Einsatz kommen konnten. Die technische Expertise des Kopisten sowie seine Grenzen und Suchbewegungen lassen sich am Aufbau der einzelnen Schichten nachvollziehen. Im Vergleich zur ‚Erfindung‘ eines ‚neuen‘ Werks brachte demnach die kopierende Auseinandersetzung mit einem Vorbild, das zugleich ein konkreter Gegenstand mit eigener Materialität war, ihre eigenen Schwierigkeiten und Möglichkeiten mit sich. Gerade anhand getreuer Kopien, wie denen Michiel Coxcies, lässt sich der forschende Blick und das differenzierende Hinschauen des Kopisten nachvollziehen – eine wortlos praktizierte und praxisorientierte Kennerschaft eigener Art. Diese Form der kritischen Beschäftigung mit und Einordnung von älteren Bildern zeigt sich als selbstreflexives Moment der frühneuzeitlichen Kunstproduktion und ist damit dann doch stark in ihrer eigenen Zeit verankert. Es wirft im Übrigen ein interessantes Licht auf das Kunstverständnis von Coxcies fürstlichen Auftraggebern, dass eben diese Expertise des genauen Kopierens als künstlerische Leistung angesehen wurde, die in Coxcies Alcazar-Retabel ­eigenen Kompositionen direkt gegenüberstand und sich ebensolcher Wertschätzung erfreute. So zeigt schließlich die Untersuchung solcher Kopien, dass eine Interpretation des betriebenen Aufwands und der eingesetzten Mittel möglich ist, die nicht auf eine negative Beurteilung des vermeintlich Oberflächlichen abhebt: Angesichts ihrer komplexen Zusammensetzung und Herstellungsbedingungen wäre es ebenso unangemessen, den Kopien Oberflächlichkeit vorzuwerfen, wie ihnen eine eigene historische Dimension abzusprechen. Vielmehr wirft der Blick auf die Materialität der Bilder andere Fragen im Hinblick auf Kopierverfahren auf, als die rein theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Kopie – Fragen, die jedoch auch theoretisch wirksam werden können, wie jene nach dem experimentellen, forschenden Umgang des Kopisten mit der Vorlage. Dabei führt die ­Erforschung der kopierenden Auseinandersetzung der frühneuzeitlichen Malerei mit ­ihren Vorläufern auf eine Deutungsebene, die das Material und die Technik automatisch in die Interpretation von Form und Darstellung miteinbezieht.

Anmerkungen 1

Wenngleich kein Überblickswerk zur Kopie von der Antike bis heute existiert, gibt es doch eine zunehmende Anzahl von Sammelbänden und Ausstellungskatalogen zur Kunstgeschichte der Kopie, nachfolgend eine Auswahl in chronologischer Reihenfolge: Retaining the Original. Mul­ tiple Originals, Copies and Reproductions, hrsg. von Kathleen Preciado, Washington 1989; Pro­ bleme der Kopie von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. von Christian Lenz, München 1992; Mustergültig. Gemäldekopien in neuem Licht, Das Reiff-Museum der RWTH Aachen, Ausst.Kat. (Aachen, Suermondt-Ludwig-Museum, 2008/2009), hrsg. von Martina Dlugaiczyk und Alexander Markschies, Berlin 2008; Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der frü­ hen Neuzeit. Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung, hrsg. von Wolfgang Augustyn

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und Ulrich Söding, Passau 2010; Reproduktion. Techniken und Ideen von der Antike bis heute. Eine Einführung, hrsg. von Jörg Probst, Berlin 2011; Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, Ausst.-Kat. (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 2012), hrsg. von Ariane Mensger, Bielefeld 2012; Multiples in Pre-modern Art, hrsg. von Walter Cupperi, Zürich/Berlin 2014; Nichts Neues Schaffen. Perspektiven auf die treue Kopie 1300–1900, hrsg. von Marion Heisterberg, Susanne Müller-Bechtel und Antonia Putzger, Berlin/Bosten 2018. 2

Hierzu zuletzt Serial/Portable Classic. The Greek Canon and its Mutations, Ausst.-Kat. (Mailand, Fondazione Prada, und Venedig, Fondazione Prada, 2015), hrsg. von Salvatore Settis, Anna Anguissola und Davide Gasparotto, Mailand 2015.

3

Vgl. z. B. Jochen Sander, Die Entdeckung der Kunst. Niederländische Kunst des 15. und 16. Jahr­ hunderts in Frankfurt, Ausst.-Kat. (Frankfurt/Main, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, 1995/1996), Mainz 1995; Amy Powell, A Point „ceaselessly pushed back“. The Origin of Early Netherlandish Painting, in: The Art Bulletin 88, 2006, Heft 4, S. 707–728.

4

Zur sogenannten ars nova vgl. u. a. Sander, Jochen, Die „Ars Nova“ und die europäische Malerei im 15. Jahrhundert, in: Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ausst.-Kat. (Berlin, Gemäldegalerie, 2008/2009, und Frankfurt/Main, Städel Museum, 2009), hrsg. von Stephan Kemperdick und Jochen Sander, Ostfildern 2008, S. 31–37.

5

Zur Verknüpfung von Kopie und Mimesis siehe Artur Rosenauer, Bemerkungen zur Kopie im Mittelalter, in: Probleme der Kopie 1992 (Anm. 1), S. 25–35, hier S. 33.

6

Dies wäre auch ein Erklärungsansatz, warum wir in der mittelalterlichen Malerei trotz des häufigen Auftretens von zum Teil recht genauen Wiederholungen von Motiven und ganzen Kompositionen kaum Kopien finden, die auch nach heutigen visuellen Maßstäben ihren Vorlagen zum Verwechseln ähneln. Natürlich wäre es aber zu einfach, dem Mittelalter – ohnehin ein viel zu weiter Begriff – pauschal eine Naivität oder gar Unfähigkeit zur mimetischen Darstellung zu attestieren. Eher muss man bezweifeln, dass die genaue Nachbildung der sichtbaren Welt oder einer vorhandenen Bildvorlage überhaupt das Ziel vieler mittelalterlicher Werke war. Zur Erforschung und theoretischen Fundierung von Ähnlichkeitskonzepten vgl. den Band Similitudo. Konzepte der Ähnlichkeit in Mittelal­ ter und Früher Neuzeit, hrsg. von Martin Gaier, Jeanette Kohl und ­Alberto Saviello, München 2012.

7

So verfuhren zum Beispiel norwegische Restauratoren bei der Herstellung einer Kopie des Antependiums von Tingelstad aus dem späten 13. Jahrhundert, die das mittlerweile ins Museum verlagerte Original in seinem ursprünglichen Kontext substituieren sollte. Ziel war es, dem ursprünglichen – nicht dem gealterten  – Erscheinungsbild des Originals besonders nah zu kommen. Vgl. Katrine S. Scharffenberg und Anne Millnes, Experiencing the Authentic. The Reconstruction of the Tingel­ stad Frontal, a Norwegian Altar Frontal from the 13th Century, in: Authenticity and Replication. The „real thing“ in Art and Conservation, hrsg. von Rebecca Gordon, Erma Hermens und Frances Lennard, London 2014, S. 169–179; ebenda, S. 174: „Based on earlier analysis and research we knew from the start how the paint layers had been built up. This made it relatively easy to plan our work [...].“ Gleichzeitig wird die Rekonstruktion von Malschichten auch als Methode der Erforschung der Zusammensetzung historischer Gemälde betrieben; vgl. In Artists’ Footsteps. The Reconstruction of Pigments and Paintings. Studies in Honour of Renate Woudhuysen-Keller, hrsg. von Lucy Wrapson und Renate Woudhuysen-Keller, London 2012; darin zum Aufbau altniederländischer Bilder: Abbie Vandivere, Reconstructing Intermediate Layers in Early Netherlandish Painting, S. 63–76.

8

In seinem oft zitierten Reisebericht beschrieb der spanische Adlige Vicente Alvarez aus dem Gefolge Philipps II. die Kreuzabnahme nicht nur als das beste Bild im ganzen Schloss Binche, sondern schätzt sie auch als über 150 Jahre alt: „[la capilla] tenia un retablo del descendimiento dela Cruz, ~ que era la mejor pieça que avuia en la casa, y vn creo q en todo el mundo, porque vi en aquellas partes muchas, y muy buenas pinturas, y ninguna de pinzel, llegaua aquella de muy natural,

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~ y deuota, y deste parecer fueron todos los q lo vieron: aquel retablo dizen que ha mas de ciento, ~ y cincuenta años q es hecho, y estaua en Lobayna, donde la Reyna Maria lo mando traer, y dexo alla vn retracto del quasi tan bueno, y muy bien facado al natural, y de muy buena mano, mas toda via le hazia mucha ventaja el propio [...].“ Vincente Alvarez, Relacion del camino y buen viaje que hizo el Principe de Espana Don Phelipe nuestro senor, ano del nascimiento de nuestro Salvador, y Redemptor IESV CHRISTO de 1548 anos: que passo de Espana en Italia, y fue por Ale­ mania hasta Flandres donde su padre el Emperador y Rey don Carlos senor estava en la villa de Bruselas [1548], o. O. 1551, http://www.bsb-muenchen-digital.de/web1017/bsb10179406/images/ [zuletzt aufgerufen 3. September 2017], Image 00157.  9 Die miteinander verknüpften Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen dieser und anderer ­Kopien sowie die damit verbundene Frage nach der Umwertung der Originale habe ich in meiner 2017 abgeschlossenen Dissertationsschrift untersucht: Antonia Putzger, Kult und Kunst, Kopie und Original. Fallstudien zu Aneignung, Wiederholung und Ersatz von Altarbildern in der Frühen Neuzeit, (unveröffentlichte Diss. TU Berlin 2017). 10 Zur doppelten Zeitlichkeit der Kopie vgl. Cesare Brandi, Teoria del restauro, Turin 2000 [Erstausgabe 1963], S. 67. 11 Vgl. Peter Bloch, Original – Kopie – Fälschung, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 16, 1979, S. 41–72, hier S. 42. 12 Bloch 1979 (Anm. 11), S. 42. Hinter dieser Aussage scheint ein oft zitierter Gedanke Walter Benjamins zu stehen: „An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen geworden ist. [...] Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.“ Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro­ duzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1970 [zuerst 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung], S. 7–63, hier S. 13–14. 13 Die vielen Facetten von Coxcies Schaffen zeigen bereits die Beiträge zu dem länger zurückliegenden Tagungsband Michel Coxcie, pictor regis (1499–1592), hrsg. von Raphael de Smedt, Mecheln 1993, auf. Einige Publikationen der letzten Jahre sowie die große Löwener Ausstellung 2013/2014 verdeutlichen zudem Coxcies wichtige Rolle als Maler von Altarbildern sowie als Hofkünstler der spanischen Habsburger: Michiel Coxcie. De Vlaamse Rafael, Ausst.-Kat. (Löwen, M-Museum, 2013/2014), hrsg. von Koenraad Jonckheere, Löwen 2013; Michiel Coxcie and the Giants of his Age, hrsg. von Koenraad Jonckheere, Turnhout 2013. 14 Weitere Kopien gelten als Werke Coxcies: eine Heilige Familie (Glasgow, Kelvingrove Art Gallery and Museum) und ein Johannes der Täufer als Kind nach Raffael (Antwerpen, Privatsammlung, vgl. Ausst.-Kat. Michiel Coxcie 2013 [Anm. 13], S. 45), eine Kopie nach Hieronymus Boschs Garten der irdischen Lüste (wohl in Privatbesitz) sowie eine Tamyris mit dem Kopf des Kyros, wohl nach einem verlorenen Werk des Meisters von Flémalle (vgl. Ruben Suykerbuyk, Coxcie’s Copies of Old Masters. An Addition and an Analysis, in: Simiolus 37, 2013/2014, Heft 1, S. 5–24). Siehe außerdem die Beiträge von Hélène Dubois, Sandra Hindriks, Ariane Mensger, Julius Redzinski und Johannes Rössler zu Aspekten von Coxcies Kopien, speziell nach dem Genter Altar im Band Der Genter ­Altar. Reproduktionen, Deutungen, Forschungskontroversen, hrsg. von Stephan Kemperdick u. a., Petersberg 2017. Auch zwei maßstabsgetreue Kopien der Kreuzabnahme Rogier van der Weydens in Spanien werden Coxcie manchmal zugeschrieben. Vgl. Ana Dieguez Rodriguez, Precisio­ nes a la historia documental de las copias de Michiel Coxcie del descendimiento de Roger van der Weyden en las colecciones reales, in: Quintana 2010, Heft 9, S. 105–117. Allerdings sind diese Zuschreibungen zum Teil recht ungesichert. Die Tendenz, dem für seine Kopien bekannten Maler weitere Kopien zuzuschreiben, muss daher hinterfragt werden.

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15 Zur Ausbildung Coxcies vgl. Ausst.-Kat. Michiel Coxcie 2013 (Anm. 13), S. 7–9; Nicole Dacos, Michiel Coxcie dans l’atelier de Bernard Van Orley, in: Michel Coxcie, pictor regis 1993 (Anm. 13), S. 31–54. 16 Vgl. Eckhard Leuschner, The Young Talent in Italy, in: Michiel Coxcie and the Giants of his Age 2013 (Anm. 13), S. 50–63. Zu Kopien nach Raffael vgl. Anm. 14. 17 Für eine Datierung ab 1540 spricht u. a. die dendrochronologische Untersuchung des Bildträgers, die ein frühestmögliches Fälldatum von 1532 ergab; vgl. Cornelia Rüth, Die Kreuzabnahme Chri­ sti. Kopie nach Rogier van der Weyden. Kat-Nr. 534, Restaurierungsbericht 2002–2003, [unveröffentlicht], bes. Teil 3: Auswertung naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden zur Maltechnik. Die Identifizierung dieses Bildes mit der Kopie, die Michiel Coxcie laut der Löwener Chronik des Johannes Molanus und zwei weiteren Schriftquellen der spanischen Adligen Vicente Alvarez und Calvete Estrella um das Jahr 1548 im Auftrag Marias von Ungarn angefertigt hatte, wurde sowohl von Stephan Kemperdick als auch von Ariane Mensger auf Basis der dendrochronolo­ gischen und maltechnischen Untersuchung (und bei Kemperdick auf Basis der Provenienz der ­Kopie) vorgenommen: Stephan Kemperdick, Von der Vorlage zum Kunstwerk. Rogier van der Weydens Große Kreuzabnahme, in: Original – Kopie – Zitat 2010 (Anm. 1), S. 207–230; Ariane Mensger, Die exakte Kopie. Oder: die Geburt des Künstlers im Zeitalter seiner Reproduzierbar­ keit, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 59, 2009, S. 195–221; allgemeiner zu den Kopien nach der Löwener Kreuzabnahme und den Umständen ihrer Entstehung, noch ohne Zuordnung der Berliner Kreuzabnahme Amy Powell, The Errant Image. Rogier van der Weyden’s Deposition from the Cross and its Copies, in: Art History 29, 2006, S. 540–562. 18 Für die inhaltliche Deutung dieses Retabels sei auf das entsprechende Kapitel meiner Dissertation verwiesen, dass das Alcazar-Retabel im Kontext der Madrider Palastkapelle genau untersucht und dabei inhaltliche Bezüge sowohl zum räumlichen als auch zum zeremoniellen Kontext (u. a. der Corpus-Christi-Verehrung der spanischen Habsburger und der Einbindung in die Ordensrepräsentation des Ritterordens vom Goldenen Vlies) erkennt. Putzger 2017 (Anm. 9), Kapitel II.2. 19 Vgl. Rüth 2002/2003 (Anm. 17); Stefanie Thomas, Zur Maltechnik der Kopien von Michiel Coxcie (1499–1592), (Diplomarbeit TU München 2006); dies., Michiel Coxcies Trinität. Eine maltechnische Untersuchung, in: Der Genter Altar der Brüder van Eyck. Geschichte und Würdigung, hrsg. von Stephan Kemperdick und Johannes Rößler, Berlin 2014, S. 139–143; Anne Dubois und Pascal Syfer-d’Olne, La copie du polyptyque de l‘agneau mystique par Michiel Coxcie. Etude des ­panneaux conserves aux Musees Royaux des Beaux-Arts de Belgique, in: La peinture ancienne et ses procé­ dés. Copies, répliques, pastiches (Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture 15), hrsg. von Hélène Verougstraete-Marcq, Jacqueline Couvert und Roger Van Schoute, Löwen 2006, S. 234–241. An dieser Stelle geht mein Dank an Beatrix Graf und Stephan Kemperdick für die Möglichkeit, die Restaurierungsunterlagen zur Berliner Kreuzabnahme zu sichten, sowie an ­Stefanie Thomas für die freundliche Bereitstellung ihrer unveröffentlichten Diplom­arbeit. 20 Die Untersuchung der Provenienzen und der Kontexte der in Spanien erhaltenen Kopien legt nahe, dass sie erst nach der Überführung der Kreuzabnahme nach Spanien und wahrscheinlich erst nach 1560 entstanden. Vgl. Putzger 2017 (Anm. 9), Kapitel II.3. 21 Vgl. Mensger 2009 und Kemperdick 2010 (Anm. 17); Putzger 2017 (Anm 9). 22 Kemperdick 2010 (Anm. 17), S. 224; zum Edelheer-Altar vgl. Hélène Dubois, The Edelheere Trip­ tych. The Earliest Copy of Rogier van der Weyden’s Descent from the Cross. History, Examination and Conservation Treatment, in: Rogier van der Weyden in Context (Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture 17), hrsg. von Lorne Campbell u. a., Löwen u. a. 2012, 195–205. 23 Vgl. Rüth 2002/2003 (Anm. 17), S. 7 (3.2. Unterzeichnung). Zu verschiedenen Paus- und Kopierverfahren, allerdings in italienischen Werkstätten, vgl. Carmen C. Bambach, Drawing and Painting in

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the Italian Renaissance Workshop. Theory and Practice, 1300–1600, Cambridge 1999, Kapitel 2 (Processes, Materials, Tools, and Labor) und Kapitel 3 (Traditions of Copying). 24 Vgl. Rüth 2002/2003 (Anm. 17), Verzeichnis zur Fotodokumentation: hier eine Aufstellung der Schichten in den Gewändern Marias und des hl. Johannes; die beiden in Spanien erhaltenen Kopien weisen hingegen keinen Ultramarinanteil auf; vgl. Laura Alba, El Descendimiento de Rogier an der Weyden Aspectos técnicos de sus copias más fieles, in: Rogier van der Weyden. y España, hrsg. von Lorne Campbell und José Juan Perez Preciado, Madrid 2016, S. 142–153, hier S. 150 u. 152. 25 Vgl. Mensger 2009 und Kemperdick 2010 (Anm. 17). Jenseits der Frage nach ihrer Interpretation sind die Unterschiede nützlich für die Bestimmung des Verhältnisses dieser Kopie nicht nur zum Original, sondern auch zu den beiden anderen maßstabsgetreuen Kopien, die sich in Spanien erhalten haben. 26 Hierzu Suykerbuyk 2014 (Anm. 14), S. 20–21, und Putzger 2017 (Anm. 9), S. 79. 27 Vgl. Rüth 2002/2003 (Anm. 17), S. 8–9. (3.3.3. Gewänder): „Auf der Ocker bis ins Rot-Braun gehenden Gewandmodellierung war das Granatapfelmuster mit roten und grünen Lasuren differenziert gestaltet, Goldfäden fein strichelnd mit hellem Ocker, Gelb und Weiß imitiert.“ Zur motivischen Darstellung von Brokatstoffen in der Malerei nördlich und südlich der Alpen vgl. Rembrandt Duits, Gold Brocade and Renaissance Painting. A Study in Material Culture, London 2008. 28 Vgl. Rüth 2002/2003 (Anm. 17), S. 7 (3.2. Unterzeichnung): Bis auf die „Richtungsverläufe der Falten“ ist keine Binnenzeichnung festzustellen, was laut Rüth auf die Verfügbarkeit des Originals als Vorlage im Kopierprozess hinweist. 29 Zur Maltechnik und Unterzeichnung des Originals siehe Johan Rudolph Justus Asperen de Boer und Roger Van Schoute, Algunas cuestiones técnicas del „Descendimiento de la Cruz“ de Roger van der Weyden, in: Boletín del Museo del Prado 4, 1984, 10, S. 39–50; sowie Johan Rudolph Justus Asperen de Boer u. a., Underdrawing in Paintings of the Rogier van der Weyden and Master of Flémalle Groups, Zwolle 1992, S. 137–143; zuletzt Ana González Mozo, The New IRRs of the Descent from the Cross in the Prado, in: Rogier van der Weyden in context 2012 (Anm. 22), S. 229–235. 30 Rüth 2002/2003 (Anm. 17), S. 9 (3.3.4 Goldgrund und Gotisches Maßwerk). 31 Eine solche fleischfarbene Schicht konnte für Rogier van der Weydens Kreuzabnahme nachgewiesen werden. Vgl. Vandivere 2012 (Anm. 7), S. 69 und S. 75, Anm. 23–25; zu Coxcie vgl. Rüth 2002/2003 (Anm. 17), S. 7–8. (3.3. Malschichtaufbau): Rüth beschreibt die Imprimitur als „in breitem streifenförmigen Pinselduktus aufgetragen[e]“, graue Farbschicht. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd., S. 8 (3.3.2. Inkarnate): Rüth stellt „jeweilig verschiedene Ausmischungen der Untermalung von Ocker bis hin zu einem satten Sienaton“ fest. 34 Vandivere (Anm. 7) zeigte durch eine Rekonstruktion der Schichten im Motiv einer Hand der Maria, dass die dünne Imprimitur die Oberflächenwirkung von Rogiers Inkarnaten nicht durch die darüberliegenden Malschichten hindurch beeinflussen kann. Zur altniederländischen Maltechnik, insbesondere von Jan van Eyck, vgl. Thomas 2014 (Anm. 19), S. 142–143. 35 Um das Jahr 1600 berichtet der Künstlerbiograph Karel van Mander, die älteren Maler hätten mit transparenten fleischfarbenen Imprimituren gearbeitet. Karel van Mander, Het schilder-boeck, Faksimile der ersten Ausgabe [Haarlem 1604], Utrecht 1969, http://www.dbnl.org/tekst/mand001schi01_01/mand001schi01_01_0014.php [zuletzt aufgerufen 26.8.17], im Original: fol. 47v und 48r: „Ons moderne Voorders voor henen plochten, [...] Dan hebbenser aerdich over ghegheven / Een dunne primuersel, alwaer men even / Wel alles mocht doorsien, ghestelt voordachtich: / End’ het primuersel was carnatiachtich.“ 36 Vgl. Ann-Sophie Lehmann, Fleshing out the Body. The „Colours of the Naked“ in Workshop Prac­ tice and Art Theory, 1400–1600, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 58, 2007/2008, S. 86–109;

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Arie Wallert, The Impact of Oil. 16th Century Netherlandish Responses to Italian Challenges, in: The Rijksmuseum Bulletin 56, 2008, Heft 1/2, S. 214–227, S. 266–268, analysiert auf S. 218–220 die Technik Jan van Scorels beim Malen von Hauttönen und verweist auf das 1549 datierte Illuminier­ buch des Valentinus Boltz von Ruffach, das die Anlage der unterschiedlichen Hauttöne für Mann, Frau und Kind beschreibt. Ebd., S. 219 und S. 225, Anm. 15, 20 und 21. 37 Eine hochauflösende Abbildung dieses um wohl 1555 entstandenen Werkes im Madrider Prado (Öl auf Holz, 81 x 50 cm) findet sich unter: https://www.museodelprado.es/en/the-collection/ art-work/christ-bearing-the-cross/9a5cd6e0-5aaf-48a1-847e-c787b49a9779 [zuletzt aufgerufen 19.9.2017]. 38 Eine andere Möglichkeit wäre höchstens, dass diese Details noch nach dem Versand der Vorlage – zunächst nach Binche, später nach Spanien – fertig gestellt werden mussten. 39 Die ikonografische Frage, ob es sich bei der im Original dargestellten Person um Gottvater oder Christus handelt, spielt an dieser Stelle keine Rolle. 40 Thomas 2006 (Anm. 19), S. 87, erwägt die Verwendung einer Durchdruckpause mit Kohlepapier oder einer Schablone für die Übertragung der Umrisslinien; vgl. Thomas 2014 (Anm. 19), S. 139– 140. Zum maltechnischen Vergleich mit der Originaltafel siehe Thomas 2006 (Anm. 19), S. 104– 109. Als Grundlage für den Vergleich diente Thomas die umfassende maltechnische Untersuchung des Genter Altars im Jahr 1953: Paul Coremans, L’agneau mystique au laboratoire. Examen et traitement (Les primitifs flamands 3: Contributions à l’étude des primitifs flamands 2), Antwerpen 1953. Diese wird ihrerseits mittlerweile durch viele Einzelstudien zur Maltechnik Jan van ­Eycks ergänzt, zuletzt in: Van Eyck Studies (Papers Presented at the Eighteenth Symposium for the Study of Underdrawing and Technology in Painting, Brüssel 2012), hrsg. von Christina Currie u. a., Löwen u. a. 2017. 41 Thomas 2006 (Anm. 19), S. 90–94; Thomas 2014 (Anm. 19), S. 140–142. 42 Thomas 2014 (Anm. 19), S. 140. 43 Thomas 2006 (Anm. 19), S. 90–94, verweist in diesem Zusammenhang auf das spätmittelalterliche Liber Illuministarum aus dem Kloster Tegernsee; zur Herstellung von Pressbrokaten und zu den Anleitungen für Pressbrokate in dieser Handschrift vgl. Brigitte Hecht, Betrachtungen über Press­ brokate. Rekonstruktionsversuche unter besonderer Berücksichtigung des sog. Tegernseer Manu­ skripts, in: Maltechnik, Restauro 86, 1980, S. 22–49. Die Auseinandersetzung von Kopisten mit Rezepten und Quellen wäre ein eigenes Thema für eine größere Untersuchung. 44 Vgl. Leon Battista Alberti. Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei [1435?/1436]. hrsg. von Oskar Bätschmann u. Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 290/291. 45 Thomas 2014 (Anm. 19), S. 142. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Vgl. Ann-Sophie Lehmann, Das Medium als Mediator. Eine Materialtheorie für (Öl-)Bilder, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 57, 2012, Heft 1, S. 69–88. 49 Die Trocknung des Öls ist nicht nur im Hinblick auf Kopien ein Thema. Auch für die Malereien Jan van Eycks wird die Zusammensetzung des verwendeten Öls immer noch untersucht. Vgl. Van Eyck Studies 2017 (Anm. 40); vgl. auch Lehmanns durchaus kritische Analyse zur Suche nach dem „Geheimnis“ des Öls bei Jan van Eyck, die sie zur Frage der Technik bzw. „dem Verhältnis zwischen Material, Werkzeug und Maler“ führt: Lehmann 2012 (Anm. 48), S. 79–80. 50 „Michiel Coxcie kopierte den Genter Altar mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und der Maltechnik des 16. Jahrhunderts. Er ging dabei vom Erscheinungsbild der Oberfläche des Vorbildes aus, es kann angenommen werden, dass die Kopie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung optisch kaum vom Original zu unterscheiden war. Der heute deutlich wahrnehmbare Unterschied im Er-

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scheinungsbild ist nicht nur eine Frage des Zustandes, sondern auch in der Maltechnik Coxcies begründet.“ Thomas 2006 (Anm. 19), S. 110. 51 Vgl. Dubois und Syfer-d’Olne 2006 (wie Anm. 19). 52 So orientieren sich die drei hinzugekommenen Evangelisten möglicherweise an den Darstellungen von Philosophen und Gelehrten auf Raffaels Fresko der Schule von Athen, den Apostelstichen von Marcantonio Raimondi, eventuell auch an Vorbildern des Quattrocento wie Donatellos Heiligem Markus in Florenz. Vgl. Putzger 2017, Kapitel II.2. 53 Zum Paragone-Streit, dessen Höhepunkt die von Benedetto Varchi 1547 präsentierten Lezioni unter Mitwirkung wichtiger Bildhauer und Maler seiner Zeit bildeten; vgl. u. a. Benedetto Varchi. Paragone – Rangstreit der Künste, Italienisch und Deutsch, hrsg. von Oskar Bätschmann und Tristan Weddigen, Darmstadt 2013. 54 Koenraad Jonckheere, Images of Stone. The Physicality of Art and the Image Debates in the Six­ teenth Century, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 62, 2012, S. 116–147. 55 Vgl. z. B. das in Anm. 8 zitierte Urteil jenes spanischen Adligen zur Kreuzabnahme Rogier van der Weydens („muy natural“). 56 Für eine ausführlichere Analyse im Hinblick auf das differenzierte Verständnis von Manier bzw. Stil, das in diesem Retabel verkörpert ist, siehe Antonia Putzger, Distinktion von Stilen und Stil als Distinktion. Zur retrospektiven Kategorisierung der „mañera flamenca“ und ihrer Aneignung durch die Spanischen Habsburger, in: Akten des Kongresses „Stil als (geistiges) Eigentum“ (Rom, 2016) [Publikation in Vorbereitung]. 57 Diese Analyse wäre über den visuellen Befund hinaus noch durch genauere kunsttechnologische zu ergänzen. Allein, dass sich die Unterzeichnung der Evangelisten-Tafeln nicht mittels der Infrarotreflektografie sichtbar machen ließ, zeigt, dass hier eine andere Technik angewendet wurde als in den treu kopierten Tafeln. Vgl. Dubois und Syfer-d’Olne 2006 (Anm. 19), S. 238. 58 Zum Verhältnis und technischen Austausch zwischen der niederländischen und der italienischen Ölmalerei vgl. Wallert 2008 (Anm. 36). 59 Putzger 2017 (Anm. 9). 60 Vgl. Der Meister von Flémalle 2008 (Anm. 4), S. 317–327, Kat. 29 und 30 (Stephan Kemperdick), sowie ebd., S. 352–359, Kat. 37 und 38 (Jochen Sander); ebenso bemerkenswert ist eine ganze Serie von Kopien nach Rogier van der Weydens Bild Der Hl. Lukas zeichnet die Madonna. Als Original gilt die Version im Museum of Fine Arts in Boston, MA. Sehr getreue Kopien befinden sich in Brügge (Groeningemuseum), München (Alte Pinakothek) und St. Petersburg (Eremitage). Zur Brügger Kopie vgl. ebd., Kat. 48, S. 386–389 (Jochen Sander), und Van Eyck bis Dürer – altnie­ derlandische Meister und die Malerei in Mitteleuropa, Ausst.-Kat. (Brügge, Groeninge-Museum, 2010/2011), hrsg. von Till-Holger Borchert, Stuttgart 2010, Kat. 74, S. 213 (ders.). 61 In der ganzen Breite, jedoch mit Schwerpunkt auf die Unterzeichnung, wurden kunsttechnologische Forschungen zu Gemälden (auch zu Kopien) publiziert in: Le Dessin Sous-Jacent dans la Peinture (Colloque 8, 1989), hrsg. von Hélène Verougstraete-Marcq und Roger Van Schoute, ­Löwen 1991, sowie in weiteren Bänden zu dieser Tagungsreihe aus den Jahren 1979 bis 1995, seit 1997 dann unter dem Titel Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture, hervorzuheben bes. La peinture ancienne et ses procédés 2006 (Anm. 19). 62 Verschiedene Möglichkeiten der kunsttechnologischen Erforschung von Kopien zeigen die ­Beiträge zu European Paintings 15th–18th Century. Copying, Replicating and Emulating (CATS Proceedings I, 2012), hrsg. von Erma Hermens, Copenhagen 2014 auf. Dabei spielt in einigen der Beiträge auch die vergleichende Untersuchung des Aufbaus der Malschichten eine Rolle.

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Elisabeth Furtwängler

Facetten des Revivals künstlerischer Druckgrafik im Paris der Nachkriegszeit Auf den ersten Seiten seines Erfolgsromans Les Choses (1965), in dem es um das Lebens­ gefühl in der Konsumgesellschaft der 1960er Jahre geht, beschreibt Georges Perec minutiös eine Wohnungseinrichtung, die als Prototyp für den Lebensstandard der Mittelklasse dieser Zeit gelten konnte. Es fällt auf, dass in jedem der beschriebenen Zimmer Druck­ grafiken an der Wand hängen.1 Drucke, das lässt sich daraus ablesen, waren Teil der Grundausstattung des privaten Lebensraums geworden. Bernard Gheerbrant, Inhaber der bekannten Librairie-Galerie La Hune, schreibt rückblickend, dass er diese Entwicklung bereits als junger Buchhändler, kurz nach der Libération, vorhergesehen habe: Ich habe da gespürt, dass Druckgrafik, über den Bereich des Künstlerbuchs hinaus, dank ihres bescheidenen Preises zeitgenössische Kunst in die jungen Haushalte bringen würde, die sich mit dem wiederkehrenden Frieden vermehren würden.2

Auch der erfolgreiche Galerist und Grafikverleger Aimé Maeght war der Überzeugung, dass man an den Wänden der zahlreichen neuen Wohnungen moderne Bilder und keine Relikte der Vergangenheit sehen wolle.3 Im Jahre 1959 konstatierte der Kunstkritiker René de Solier zwar mit Bedauern einen Rückgang des Malerbuchs, doch sei dafür eine neue Art der Grafik feststellbar, die mehr und mehr zum autonomen Werk werde, das die Möglichkeit mitbringe, in die Lebensräume des Menschen vorzudringen, sodass sich das Bild dem Blick darbiete und so endlich wieder zu seinem Recht gelange.4 In der Druckgrafik, die bislang vor allem in Künstlerbüchern begleitend zu Lyrik erschien und sich in dieser Form an einen kleinen, elitären Kreis von Bibliophilen richtete, entwickelten sich nun Erscheinungsarten und -formate, die eine breitere Öffentlichkeit fanden. So lässt sich die nach 1945 allmählich zunehmende Beschäftigung junger Künstler mit den verschiedenen druckgrafischen Techniken, vor allem mit Ätzverfahren und Lithografie, durchaus im Zusammenhang mit den Demokratisierungstendenzen und -forderungen in der Kunst der 1960er Jahre sehen, der Zeit, in der man von einem regelrechten Grafikboom sprechen kann. Zu diesem Boom trugen auch bereits vor dem Krieg arrivierte Maler-Grafiker der älteren Generation bei, wie Pablo Picasso oder Joan Miró, deren umfangreiche druckgrafischen Œuvres zum größten Teil nach 1945 entstanden.

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Die verstärkte Beschäftigung mit den traditionellen Drucktechniken resultierte aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren. So kam selbstverständlich den Verlegern und Händlern eine wichtige Rolle zu, die, wie die oben zitierten Gheerbrant und Maeght, aber auch zum Beispiel Heinz Berggruen oder Nesto Jacometti, die Gunst der Stunde nach der Libération erkannten. Sie reagierten auf das mit dem allmählich aufkommenden Wohlstand entstehende Bedürfnis nach originaler Kunst, die auch für kleinere Budgets finanzierbar war, indem sie aktiv künstlerische Druckgrafik förderten. Im Folgenden werden Aspekte betrachtet, die über den sich mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung entwickelnden Kunstmarkt und Grafikhandel hinaus zum Wiederaufleben der Druckkunst beigetragen haben. Dabei wird abschließend der Topos der Druckgrafik als archaische Kulturpraxis beleuchtet, der von vielen Künstlern als narrative Legitimierung und Aufwertung dieser Kunstgattung wie der Beschäftigung mit ihr verbreitet wurde.

Die Ateliers Für die druckgrafische Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind zwei Persönlichkeiten von besonderer Bedeutung: Stanley William Hayter und Johnny Friedlaender. Hayter kam 1951 aus dem New Yorker Exil zurück nach Paris, um sein bereits in den 1930 Jahren legendäres Atelier 17 neu zu gründen.5 Friedlaender eröffnete 1949 zusammen mit Albert Flocon eine école de gravure.6 In diesen grafischen Werkstätten konnte jeder Interessierte – unabhängig von den offiziellen Kunstakademien – die verschiedenen Tiefdrucktechniken erlernen, die eine unerschöpfliche Fülle ästhetischer Effekte ermöglichten. Man arbeitete und experimentierte dort zusammen mit anderen. Diese Gemeinschaftlichkeit war entscheidend, da es darum ging, von den experimentellen Ergebnissen der anderen profitieren zu können und sie gegebenenfalls für sich weiter zu entwickeln. „Ein einzelner“, so Hayter, “ wird nichts erreichen, weil ihm nichts wiederfährt.“7 Während Hayter großen Wert darauf legte, dass man ohne Vorentwurf in écriture automatique direkt auf der Platte arbeitete, um so die Scheu vor dem Material abzulegen, war es Friedlaender wichtig, dass man lernte, die Techniken zu beherrschen, um dann darauf aufbauend möglichst frei und ungehemmt kreieren zu können. Mit ihrem großen Engagement in der Vermittlung druckgrafischer Methoden sowie ihrer Fähigkeit, eine inspirierende Arbeitsatmosphäre zu schaffen, leisteten Hayter und Friedlaender Pionierarbeit. Denn neben vielen namhaften Maler-Grafikern, von denen manche, wie Marie-Helene Vieira da Silva oder Zao Wou-Ki, sogar in beiden Ateliers tätig waren, arbeiteten dort Künstler unterschiedlichster Nationalität, die ihr Wissen in ihrer Heimat an andere weitergaben, sodass die methodischen Kenntnisse große Verbreitung erfuhren und sich Druckgrafik als Medium des freien künstlerischen Ausdrucks auch international weiter durchsetzen konnte. Im Laufe der 1960er Jahre wurden in Paris weitere Ateliers gegründet,8 etwa auch das von

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Henri Goetz, der ebenfalls zu den wichtigen Vermittlern von druckgrafischen Techniken gehörte.9 So urteilt Gheerbrant, in dessen Librairie-Galerie La Hune mehrfach Ausstellungen der Mitglieder sowohl von Hayters wie auch von Friedlaenders Atelier stattfanden: „Der Tiefdruck, die Druckgrafik im Gesamten hat dort [in den großen Ateliers] ihren Aufschwung begonnen [...]. Es sind die Lehrmeister, die in starkem Maße dafür verantwortlich sind.“10 Von zentraler Bedeutung für die Hochphase druckgrafischer Kunst waren nicht zuletzt die Drucker, d. h. die Handwerker, mit denen die Künstler zusammenarbeiteten. Diese beherrschten die komplexen technischen Abläufe in höchster Perfektion, sodass die Drucke so aus den Pressen kamen, wie die Künstler es sich vorstellten. Paris bot eine für die Druckkunst besonders günstige infrastrukturelle Voraussetzung: Es gab dort eine große Anzahl traditionsreicher Druckereien, die zum Teil seit dem 18. Jahrhundert existierten und in denen Drucker mit jahrelanger Erfahrung arbeiteten. Aus dem Druckgrafikkatalog der II. documenta geht hervor, dass nicht nur französische, sondern beispielsweise auch deutsche Künstler ihre Platten in den 1940er und 1950er Jahren weitestgehend in Paris drucken ließen.11 So stellte der deutsche Kunstkritiker Will Grohmann fest: „die Franzosen [haben] die besten Drucker, Meister wie Mourlot oder Lacourière haben wir nicht.“12 Doch während künstlerische Druckgrafik besagte Hochphase erlebte, starb das klassische Handwerk eines Lithografen wie Fernand Mourlot und eines Tiefdruckers wie Roger Lacourière allmählich aus. Viele Druckereien, die sich hauptsächlich durch gewerbliche Aufträge finanzierten, kämpften ums Überleben. Tiefdruck und zunehmend auch Lithografie waren wirtschaftlich nicht mehr rentabel und wurden von kostengünstigeren, auflagenstärkeren Techniken verdrängt. So erscheint der vermehrte künstlerische Einsatz von Ätzverfahren und Steindruck vor dem Hintergrund des Endes ihrer wirtschaftlichen Nutzung als ein kunsthistorischer Anachronismus. Im Kontext des Themas dieses Bandes, des „Unzeitgemäßen“ künstlerischer Techniken, soll das vielfältige Wirken einzelner Drucker in der hier fokussierten Epoche in Paris an den prominentesten Beispielen beleuchtet werden, um ihren Beitrag zum Aufleben der Druckkunst während des allgemeinen Niedergangs ihres Handwerks hervorzuheben.

Die Drucker als „die ewig Verkannten“ Noch bis etwa 1900 wurden die Druckplatten für die Produktion kommerzieller Druckerzeugnisse wie Briefmarken, Tickets, Kataloge oder Etiketten für Luxusprodukte im Ätzverfahren hergestellt. Dann wurden die gewerblichen Einsatzbereiche des Tiefdrucks weitgehend von der billigeren Lithografie abgelöst. Der Beruf des taille-douciers kämpfte mit Nachwuchsmangel.13 Kaum jemand war mehr bereit, sich über viele Jahre in einem unterbezahlten und unsicheren Handwerk ausbilden zu lassen. Zahlreiche Druckhäuser mussten schließen. Über den Zweiten Weltkrieg konnten sich die wenigsten hinwegretten.14 Die

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verbliebenen maîtres imprimeurs en taille-douce mit langjähriger Erfahrung und der Befähigung, die vertracktesten Situationen bei der Anfertigung eines Druckes zu lösen, waren solche, die ihren Schwerpunkt im künstlerischen Bereich gesetzt hatten, also beispielsweise Kunstreproduktionen herstellten. Sie arbeiteten oft schon in der zweiten oder dritten Familiengeneration in diesem Beruf: so zum Beispiel Georges Leblanc und Raymond Haasen, deren Väter Charles Leblanc und Paul Haasen gemeinsam und noch während der letzten Hochphase künstlerischer Druckgrafik im späten 19. Jahrhundert bei dem berühmten Eugène Delâtre ausgebildet worden waren. Ebenfalls aus einer Familie von Kupferstechern und Druckern stammte Roger Lacou­ rière, einer der bekanntesten Drucker der taille-douce des 20. Jahrhunderts, der mit zahlreichen namhaften Vertretern der École de Paris wie etwa mit Picasso, Georges Braque, Marc Chagall, André Masson und vielen anderen zusammenarbeitete. Er war gelernter Farbreproduktionsstecher und hatte über drei Jahrzehnte für zahlreiche Künstler Werk­ reproduktionen geschaffen, die jedoch ihrer enormen Kosten wegen kaum noch bestellt wurden. Dank Picasso, der ihm wichtige Aufträge verschaffte, hatte Lacourière seinen Betrieb über den Krieg retten können. Zusammen mit seiner Frau Madeleine, die ab 1951 auch Originaldrucke und Editionen herausgab, konnte er renommierte wie noch unbekannte Künstler für druckgrafische Kunst gewinnen, so etwa Pierre Soulages, den Mme Lacourière ermutigte, bei ihnen Radierungen anzufertigen. Nach anfänglichem Zögern kam er und fand mit Lacourières Rat und Hilfe zur Aquatinta, in der er von da an fast ausschließlich seine Druckplatten bearbeitete. Soulages bewunderte Lacourières geistige Freiheit gegenüber seinem Beruf, in dem das Gewicht der Geschichte und die Ehrfurcht vor der Vergangenheit oftmals zu einem in Traditionen erstarrten Akademismus führe. Doch dank dessen freien Einstellung gegenüber den Mitteln und den verschiedenen Methoden habe er, Soulages, die lähmende Scheu vor der alten, traditionsschweren Ätzkunst verloren.15 Auf diese Weise gelangte er zu der Verfahrensweise, die zum besonderen ­Charakteristikum seiner Druckgrafik werden sollte: Er ließ eine Platte zu lange im Säurebad liegen, weshalb sie an einigen Stellen durchätzt wurde. Durch die auf diese Weise erzeugten Freistellen in der Platte dringt das Papier im fertigen Druck hervor, tritt in Kontrast zum bedruckten Bereich und erhält so eine ganz neue, gestaltende Bedeutung. Als Folge dieser Entdeckung gab Soulages schließlich auch das klassische Rechteck der Platte auf und beschnitt sie, so dass ihre Silhouette nun nicht mehr das auf der Platte Dargestellte rahmte, sondern formgebender Teil der Darstellung wurde.16 Über Lacourière sagte Soulages: „Alles was er war, sein Sinn fürs Erforschen und für Abenteuer, seine Phantasie, auch seine Zerstreuung, führten über Wissen und Rezepte hinaus. Ihm verdanke ich, dass ich es geliebt habe, zu gravieren.“17 Ganz ähnlich äußerten sich etwa auch Zoran Mušicˇ oder Miró, der, wie Soulages, seine erste Platte bei Lacourière bearbeitet hatte. Der auf Akribie und technische Perfektion geschulte Reproduktions­ stecher verstand es offensichtlich, Künstlern Radiertechniken so zu vermitteln, dass sie sie sich gerade nicht von vermeintlichen technischen Dogmen irritieren und bremsen ließen,

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16  Pierre Soulages im Atelier Lacourière, 1957, Fotografie: Izis.

sondern die Mittel experimentell einsetzten. Auf diese Weise trug er dazu bei, dass die Künstler Druckgrafik verstärkt als Medium des freien künstlerischen Gestaltens nutzten und neuartige Ausdrucksformen in den Ätzverfahren entwickeln konnten. Auch der taille-doucier Georges Visat, der selbst malte, stellte seine handwerklichen Fähigkeiten in den Dienst der Kunst. Er übernahm die Druckerei für Heiligenbildchen, in der er ausgebildet worden war, und druckte dort vorzugsweise Platten von Vertretern des ihn faszinierenden Surrealismus, vor allem von Max Ernst. Auch er gab Grafikeditionen heraus und richtete schließlich ein reines atelier de création ein, in dem er sich ganz darauf konzentrierte, in enger Zusammenarbeit mit den Künstlern die ihren Ideen entsprechenden druckgrafischen Ausdruckmittel zu finden. Die wohl letzten großen Meisterdrucker der taille-douce mit internationalem Renommee waren Aldo und Piero Crommelynck, die noch bei Lacourière ausgebildet worden waren und für die Künstler der Nouvelle École de Paris wie auch für Jasper Johns, Cy Twombly, Pierre Alechinsky oder Louise Bourgeois druckten. Ab 1963 verbachten sie über zehn Jahre abwechselnd mehrere Monate in dem provenzalischen Ort Mougins, um dem

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dort lebenden Picasso, mit dem Aldo bereits seit 1952 zusammenarbeitete, ständig zur Verfügung zu stehen.18 Ohne dieses persönliche Engagement der beiden Drucker wäre die enorme Produktivität, die Picasso in seinen letzten Lebensjahren in der Radierung entwickelte – es entstanden über 750 Werke – nicht möglich gewesen. Der große Respekt und die Wertschätzung, die die Künstler diesen Handwerkern entgegenbrachten, sowie das Bewusstsein, dass ihr hochspezialisiertes Können für die Kunst zukünftig verloren sein würde, geht aus einer Äußerung Alechinskys hervor, der über Piero Crommelynck nach dessen Tod im Jahre 2001 sagte: „Mit ihm ist ein ganzes Wissen verloren gegangen. Man sagt, niemand sei unersetzbar. Dabei ist nichts falscher als das.“19 Auch die wirtschaftliche Situation lithografischer Druckereien änderte sich im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, da die Technik nun endgültig nicht mehr rentabel war. Bereits vor dem Krieg war ihre kommerzielle Verwendung deutlich zurückgegangen. Seit 1932 wurde in Frankreich immer häufiger die Offsetlithografie eingesetzt. Zum Durchbruch dieses Verfahrens kam es schließlich in den 1960er Jahren, als man begann, es für den Druck von Fotografien zu nutzen. In der Folge wurden viele alte lithografische Pressen und Handpressen ausrangiert. Weil es keine sicheren Berufsaussichten mehr in der Industrie gab, beendete etwa die École Estienne, die renommierteste Schule für Druck und Buchbinderei in Paris, die Ausbildung von Lithografen. Der wohl prominenteste Lithograf des 20. Jahrhunderts war ohne Zweifel Fernand Mourlot, der vor allem durch künstlerische Ausstellungsplakate zu großer Bekanntheit gelangt war.20 In den 1890er Jahren, als die (Werbe-)Plakatkunst mit Namen wie Henri de Toulose-Lautrec, Théophile Steinlen oder Jules Chéret eine außergewöhnliche Hochphase erlebte, waren Plakate, die Ausstellungen bewarben, noch die Ausnahme. Das änderte sich erst im Laufe der 1930er Jahre, als Mourlot begann, in Kooperation mit Künstlern Plakate für deren eigene Ausstellungen herzustellen. Diese Praxis wurde nach dem Krieg zunehmend von Galeristen gefördert, wodurch sie bald gang und gäbe wurde. Zunächst fertigten Mourlot oder einer seiner Mitarbeiter die Plakate noch nach Vorlagen an, doch bald assistierten sie immer häufiger den Künstlern, die die Herstellung selbst in die Hand nahmen. Der Kunstkritiker Pierre Cabanne schrieb über Mourlot: „Sein Geniestreich war es, über den Weg des Plakates die Künstler dazu zu bringen, direkt auf dem Stein zu arbeiten.“21 So machte etwa Miró im Jahre 1947 erste lithografische Erfahrungen bei Mourlot. In den kommenden Jahren schuf er, neben zahlreichen farbenfrohen Drucken, rund 150 Ausstellungsplakate. Mourlot berichtet über Mirós Vorgehen: Er führte erst den Titel aus, den er mit der Hand zeichnete, dann wurde dieser wieder gelöscht und Miró amüsierte sich damit, die Platte mit weiteren Sujets voller Phantasie anzureichern, vom Ganzen wurden Abzüge gemacht und so entstanden sehr hübsche Drucke, die großen Erfolg ­hatten.22

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Sicherlich darf man Mirós Lithografien nicht, wie diese Schilderung es nahelegt, als eine Art Nebenprodukt seiner Plakate werten. Doch hat die von Mourlot vorangetriebene Herstellung von Werbeplakaten für die eigenen Ausstellungen sicherlich ganz allgemein dazu beigetragen, dass Künstler vermehrt lithografisch arbeiteten und so das Interesse an der Lithografie und speziell der Farblithografie wieder erwachte. Weniger prominent, aber von besonderer Bedeutung für das Aufleben speziell ab­ strak­ter stilistischer Tendenzen in der Lithografie war der Maler und ausgebildete Drucker Jean Pons, der in kommerziellen lithografischen Werkstätten arbeitete, dessen ganzes Interesse aber der zeitgenössischen Kunst galt. Schließlich richtete er seine eigene lithografische Werkstatt mit Handpresse im Keller unter der Schneiderei seiner Frau ein, um dort künstlerische Lithografien zu schaffen, zu deren Finanzierung er weiterhin kommerzielle Druckaufträge ausführte. Im Salon des Réalités Nouvelles, wo er selbst seine Malerei ausstellte, kam er in Kontakt mit anderen abstrakten Künstlern. Diese lud er in seinen Keller ein und konnte so, seinem eigenen Bericht zufolge, einige von ihnen für die Lithografie begeistern.23 Auch Hans Hartung arbeitete einige Zeit in Pons’ Keller und führte dort seine ersten eigenen Lithografien aus.24 Vermutlich war es Pons, der ihn dazu anregte, ohne Vorentwurf direkt auf dem Stein zu arbeiten, und ihm so zu einer größeren Spontaneität in seinem gestisch-abstrakten Ausdruck verhalf. Ab 1952 betätigte sich Pons regelmäßig als Verleger von Sammelmappen der in seinem Atelier entstandenen Werke. Die Leistung der Drucker, die lange Zeit die „éternels méconnus du monde de l’estampe“, die ewig Verkannten der druckgrafischen Welt waren,25 wird unterdessen in der Kunstgeschichtsschreibung stärker gewürdigt und in Monografien zum druckgrafischen Werk einzelner Künstler berücksichtigt. Hier soll nun hervorgehoben werden, dass es sich in den Nachkriegsjahrzehnten um die letzte Generation hochversierter Drucker für gravure und Steindruck handelte und dies ein wichtiger Teilaspekt des Comebacks dieser künstlerischen Techniken in jener Zeit war. Durch das Wegfallen gewerblicher Aufträge und Einkünfte wendeten sich die wenigen verbliebenen Tiefdrucker seit Beginn des 20. Jahrhunderts, später auch Lithografen, verstärkt der künstlerischen Druckgrafik zu. So ging – wie an den vorgestellten Beispielen gezeigt wurde – der persönliche Einsatz mancher Drucker weit über das fachmännische Drucken der Platten hinaus. Sie bemühten sich verstärkt um die Zusammenarbeit mit Künstlern und ergriffen zum Teil selbst die Initiative, um Maler an Druckgrafik heranzuführen. Dabei konnten sie einerseits, da sie das künstlerische Handwerk der Plattenbearbeitung in gravure, taille-douce oder Lithografie beherrschten, technisch anleiten und zur Hand gehen. Andererseits waren sie offen gegenüber unorthodoxen Vorgehensweisen. Eine wichtige Voraussetzung, denn zuvor hielt so mancher Druckhandwerker an konventionellen technischen Grundsätzen fest und lehnte unkonventionelle Experimente ab. Ausgebildete Drucker wie Visat oder Pons, die selbst Künstler waren, entwickelten Methoden für andere und unterstützten sie in ihrer Suche nach den ihnen entsprechenden ästhetischen Mitteln. Es ging also darum, mit Gespür für die künstlerische Persönlichkeit auf deren individuelles Ausdrucksstreben ein­

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zugehen. Dabei konnten die Handwerker Wege weisen, die in manchen Fällen ausschlaggebend für das gesamte druckgrafische Werk eines Künstlers wurden. Die Künstler brachten den Druckern, die es vermochten, ihre Bildvorstellungen nachzuempfinden und sie mit dem richtigen Gespür für Charakter und Farbgebung im Druck umzusetzen, große Anerkennung entgegen und standen häufig in freundschaftlicher Beziehung zu ihnen. Im Zuge der Grafikbooms in den 1960er Jahren wurden auf Künstlergrafik spezialisierte Drucke­ reien neugegründet, in denen neben hochmodernen Druckmaschinen auch zu Relikten gewordene Tief- und Steindruckpressen vorhanden und für die Künstler nutzbar waren. Doch waren diese dort immer häufiger mit ihren Materialien auf sich allein gestellt. Eine intensive und kenntnisreiche handwerkliche Betreuung erhielten sie kaum mehr.

Die Malträtierung der Materie Was könnte nun Druckgrafik für Künstler in den beiden Nachkriegsjahrzehnten reizvoll gemacht haben? Inwiefern passte die Auseinandersetzung mit den alten Techniken zum künstlerischen Zeitgeist? Lässt sich, neben dem auflebenden Kunst- und Grafikhandel sowie der eben beschriebenen technikhistorischen Entwicklung, ein rein künstlerischer Anspruch an das Medium Druckgrafik ausmachen? Ab Mitte der 1940er Jahre sind Materie und Materialität ein dominanter Gegenstand künstlerischer Fragestellung. Man denke an die Serie der Hautes Pâtes von Jean Dubuffet, die der Otages (Geiseln) von Jean Fautrier oder auch die pastosen Gemälde von Wols. Ungefähr zur gleichen Zeit, in der diese neuartige Malerei entstand, schufen alle drei Künstler, jeweils in einer anderen Technik, ähnlich ungewöhnliche Druckgrafiken. Viele dieser Drucke zeugen von einem impulsiven, das ­Material herausfordernden Schaffensprozess. Fautrier arbeitete mit der Radierung. Häufig nutzte er die Direktätzung, bei der Säure direkt auf die Platte aufgetragen wird und sich breitflächig in das Metall ätzt statt nur, wie bei der Radierung üblich, in die Vertiefungen einzudringen, die in eine auf die Platte aufgetragene, säureresistente Schicht geritzt wurden. In verschiedenen Blättern aus der Folge der Otages lässt sich der Säurefraß gut erkennen, so etwa im Falle von Visage rapace („rapace“ bedeutet bezeichnenderweise „gierig“). Ein in zittriger Konturlinie angedeuteter Kopf scheint über einem verätzt wirkenden Grund zu schweben. Die Serie der Otages schuf Fautrier in Reaktion auf die traumatisierende Erfahrung der Erschießung von Geiseln während der deutschen Besatzung. In den Gemälden hat er aus schwerer, pastoser Masse stark stilisierte Köpfe und Körper auf die Leinwand gebracht, die wie geschundene, rein physische Überreste menschlichen Lebens wirken. Auch in seiner Druckgrafik hat Fautrier das Thema der Otages ausführlich bearbeitet. Hier ist die Reduktion auf den körperlichen, also materiellen Rest gewissermaßen noch symbolisch gesteigert, handelt es sich doch um den Abdruck der vom gierigen Säurefraß übriggelassenen Rest zersetzter Materie.

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17  Jean Fautrier, Le visage rapace, aus dem Malerbuch Fautrier l’enragé, 1947, Radierung, Direktätzung und Lavistechnik, 17,6 × 20,5 cm.

Einige der Kaltnadelradierungen von Wols lassen zum Teil die an Gewalt grenzende Kraft erkennen, mit der er die Platten bearbeitete. In Große Tache I (Grohmann 32) bewegen sich in scharfem Auf und Ab bzw. Hin und Her geritzte Striche um eine imaginäre Vertikal­ achse und verdichten sich in der Mitte. Während im äußeren Bereich dieser wilden Strichformation miniaturhafte Zeichnungen in zarten Linien zu erkennen sind, werden die von der Nadel in das Metall gerissenen Striche zur Mitte hin immer tiefer und breiter. Die Dynamik der Gestik ist bis an die Grenze zur Gewalt gesteigert. Dieses (Zer-)Kratzen lässt sich synästhetisch nachempfinden. Man glaubt, das Kreischen und Knirschen der Nadel auf dem Metall zu hören, wodurch eine idiosynkratrische Reaktion, ein ekelähnlicher Widerwillen ausgelöst wird und man unwillkürlich zusammenzuckt.26 Bei diesem offengelegten Bearbeitungsprozess behandelt Wols das Material wie eine Epidermis, die er aufreißt, in die er hineinsticht und -schneidet, die er verwundet.27 In den Jahren 1948 und 1949 beschäftigte sich Wols intensiv mit der Kaltnadelradierung. Die Gemälde aus dieser Zeit sprechen formal eine sehr ähnliche Sprache.28 Materiellen Widerstand, den in der Kaltnadelradierung das Kupfer bietet, leistet in der Malerei die Substanz der Farbe, in die er ebenfalls hineinkratzt.

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18 Wols, Große Tache, Grohmann XXXII (WK 32), Kaltnadelradierung, 12,4 × 9,9 cm.

Auch Dubuffet begegnete dem druckgrafischen Material – in seinem Fall dem lithogra­ fischen Stein – in einigen seiner frühen Arbeiten noch mit physischer Kraft. Seine ersten Lithografien fertigte er 1944 in Mourlots Druckerei an, die später mit dem begleitenden Text Matière et Mémoire von Francis Ponge ediert wurden. In dem Text gibt Ponge seine Eindrücke von der bei Dubuffet beobachteten Kunst des Lithografierens wieder. Er charakterisiert den lithografischen Stein wie eine Person mit individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen, mit der der Künstler kommuniziert und deren Aufmerksamkeit er ­gewinnen muss. Ponges Wortwahl erzeugt stellenweise den Eindruck eines libidinös-sadistischen Verhältnisses eines Mannes zu einer Frau, etwa wenn es heißt, dass selbst der „verliebteste Künstler die Steinplatte ein wenig brutal angehen muss, damit sie ihm ihr Verlangen offenbart, ihm ihr Äußerstes zurückgibt.“29 Eine ausbleibende oder nur langsame Reaktion der Steinplatte könne den Künstler gelegentlich so reizen, dass er sie mit Rasierklingen, Glasscherben und ähnlichem malträtiere.30 Diese Art der Materialbehandlung lässt sich etwa in den Blättern zum Gedichtzyklus Les Murs von Eugèn Guillevic erkennen, in denen sie zudem inhaltliche Bedeutung er-

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19  Jean Dubuffet, M ­ ur historié, aus dem Malerbuch Les Murs, Januar–März 1945, Lithografie, 37 × 28 cm.

langt. Dargestellt sind Mauern in unterschiedlichen Zuständen, die Dubuffet schuf, indem er den zuvor eingefärbten Druckstein – stellvertretend für die (Stein-)Mauer – bekritzelte und zerkratzte. Das verwendete Material, die eingesetzten Mittel und die Spuren des Schaffensprozesses entsprechen dem dargestellten Gegenstand – in beiden Fällen handelt es sich um zerkratzte Steinoberfläche.31 In seiner Malerei begann Dubuffet zeitgleich, Sand, Glassplitter, Teer oder Hanf zu verwenden und so tatsächliche Stofflichkeit zu erzeugen. Der von ihm praktizierte und er­läuterte Herstellungsprozess dieser Bilder erinnert an die Anfertigung eines Graffitos, wie er sie auch in Les Murs sowohl verbildlichte als auch im wörtlichen Sinne erzeugte.32 ­Du­buffet erklärt, dass man, nachdem man mit vollen Händen eine Mauer mit „Erden und ­Pasten“ zugekittet habe, diese, „mit den bloßen Händen oder indem man sich mit [...] ­einer zufällig vorhandenen Klinge, einem kurzen Stock oder einem abgebrochenen Stein behilft“, bearbeiten müsse, um darin „die Spuren seines Denkens so unmittelbar wie möglich“ einzuprägen. Diese Instrumente, die wohlgemerkt auch bei seinen Lithografien zum Einsatz kamen, dienten dazu, ungehemmt „die Rhythmen und Triebkräfte, die in seinen

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Arterien pulsieren und in seinen Nervenbahnen fließen“, weiterzuleiten, ohne diese zu unterbrechen oder zu schwächen.33 Wie Mechthild Haas betont, lässt auch Dubuffets sprachliche Ausdrucksweise erkennen, dass „für ihn künstlerisches Gestalten einem körperlichen Kraftakt gleich[kommt].“34 Es scheint, als suchten die drei wichtigen Wegbereiter des Informel, Fautrier, Dubuffet und Wols, die in ihrer Malerei die Materialität der Mittel geltend machten, in der Druckgrafik die Konfrontation mit dem Widerstand des Materials als Impuls für ihren Ausdruckswillen. Hans Hartung antwortete auf die Frage, was für ihn den Reiz der gravure ausmache, er liebe es zu schneiden, zu kratzen, eine Materie zu malträtieren und in ihr die genauen Spuren seiner Handlungenzu hinterlassen.35 Raoul Ubac, ebenfalls passionierter Druckgrafiker, der zufällig das Material Schiefer entdeckt hatte und auch damit druckte, schrieb: Ich habe mich nach den Gründen für geschnittene oder gestochene Graphik gefragt, die mich oft viel mehr berührt als ihr gezeichnetes oder gemaltes Äquivalent. Wenn der Maler das Papier oder die Leinwand als ein bequemes, aber passives Hilfsmittel benutzt, verkörpert sich der Graphiker noch mehr in der gewählten Materie, weil er hartes, widerstrebendes Material verwendet.36

So ist vielen Äußerungen von Künstlern über Druckgrafik in dieser Zeit zu entnehmen, dass die herausfordernde Resistenz der Materie diese Techniken reizvoll mache, da sie eine intensive Art der Ausdrucksmöglichkeit böte. Diesem Narrativ lieferte der Philosoph Gaston Bachelard in verschiedenen Texten eine literarische Grundlage.

Instinktiv und archaisch Bachelard, der von 1940 bis 1954 Wissenschaftsgeschichte und -theorie an der Sorbonne unterrichtete, wurde allgemein in Künstlerkreisen stark rezipiert. Vor allem sein 1947 erschienenes Buch La terre et les rêveries de la volonté fand große Beachtung. Darin legt er dar, wie die Imagination des Menschen durch die Konfrontation mit der Materie auf spezifische Weise stimuliere, die „dynamische“ und die „imaginierende“ Vorstellungskraft des Menschen erwecke und aus den Tiefen des Unterbewusstseins archetypische Bilder, images imaginées, hervorrufe. Die Resistenz irdischer Materie mache diese unmittelbar zum Objekt des menschlichen Willens, ihr Herr zu werden und sie den images imaginées entsprechend zu gestalten. Die Bearbeitung der Materie, die Tätigkeit des werkenden, schöpfenden Menschen sei instinktives, ursprüngliches Handeln des Menschen in Reaktion auf die materiellen Gegebenheiten seiner Umwelt.37 Für die Mitglieder der von 1948 bis 1951 bestehenden, internationalen Künstlergruppe CoBrA (Akronym für Copenhagen Brüssel Amsterdam) war Bachelard eine Art Spiritus ­Rector.38 CoBrA stand für eine experimentelle, spontane Kunst, die unverfälscht, direkt aus

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20  Albert Flocon, Paysage, Kupferstich, reproduziert in: COBRA 6, April 1950, S. 15.

dem Unterbewusstsein, ohne Regeln und Vorgaben entstehen sollte. In der von CoBrA herausgegebenen gleichnamigen Zeitschrift werden immer wieder die Bedeutung der Materie in der Kunst, vor allem in den Farben der Malerei betont und dazu Bachelards Betrachtungen angeführt. In einer der COBRA-Ausgaben findet sich auch ein Text von Bachelard selbst, der interessanterweise Druckgrafik behandelt.39 In Notes d’un philo­ sophe pour un graveur betrachtet er einzelne Kupferstiche von Albert Flocon.40 Auf dem Stich Paysage ziehen sich durchfurchte Äcker über eine hügelige Landschaft. Im Vordergrund nimmt die bewegte Landschaft die Form eines weiblichen Körpers an. In seiner Betrachtung überträgt Bachelard die bereits in La Terre et les rêveries de la volonté formulierten Anschauungen auf den Graveur, indem er dessen Tätigkeit mit der des Bauern vergleicht, der seine Felder so pflüge und bestelle, wie der Graveur Parzelle um Parzelle mit dem Grabstichel bearbeite. Die Konfrontation mit der Erde bzw. mit dem Kupfer rege dazu an, mit der Kraft des Köpers und mithilfe von Werkzeugen auf diesen Untergrund einzuwirken. Nach Bachelard’scher Vorstellung entsteht durch solche Stimulanz der Sinne eine das gestaltende Handeln leitende image imaginée, was in diesem Fall wohl als Transmutation des Ackerbodens zum weiblichen Körper zu verstehen sein dürfte. Die ­Farben, die der Maler bräuchte, um die Felder zu beleben, so Bachelard, lenkten nur ab. Sie umschmeichelten und schmückten lediglich. Bachelard zufolge sei das Gravieren besser als die Malerei mit ihren Farben dazu geeignet, Körper und kreativen Geist zu stimulieren und authentische, aus dem Unterbewusstsein hervorgerufene Kunst zu schaffen. Doch nicht nur das Gravieren und Kupferstechen, sondern auch die Ätzkunst könne diesen ­Effekt haben. Während eines Besuchs in Johnny Friedlaenders Atelier habe Bachelard, wie sein Schüler, der bereits zitierte Buch- und Grafikhändler Bernard Gheerbrant, berichtet,

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die verschiedenen Materien, über die er in seinen Essais geschrieben hatte,41 vereint gefunden: die Flamme des Feuers zur Schwärzung der Platte, die Luft mit dem speziellen Nordlicht des Ateliers, die Erde, aus der die Metalle kommen, und das Wasser, das schon den Namen eau-forte prägt und das die Platten von der Säure befreit.42 Gheerbrant erkannte in der Vielfalt druckgrafischer Techniken das von seinem Lehrer poetisch beschriebene Wirken der Elemente: [...] die unendliche Diversität der Techniken, die Druckgraphik bietet, erlaubt es dem Künstler [...] die Welt wieder zu entdecken, im Kontakt mit ihren elementaren Kräften. Ein Bachelard würde dem die Bedeutung einer poetischen Transmutation beimessen; denn der Künstler entdeckt gleichzeitig die Erde in ihrem doppelten Aspekt des Vegetabilen und des Mineralischen, das Wasser unter dem Aspekt der Säure, wie sie uns der Regen bringt, und das Feuer in all seiner Alchemie der rituellen Gesten, aus der ein Gesicht der Kunst hervorgeht, das so ewig wie einzigartig ist.43

Im einleitenden Text des Künstlerbuchs A la gloire de la main der Gruppe Graphies, in der sich Druckgrafiker, darunter auch Fautrier, zusammengetan hatten, um der Druckgrafik als freiem künstlerischem Ausdrucksmedium mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, schreibt Bachelard: [...] für ihn [den Druckgraphiker] existiert die Materie [...] sofort unter seiner schaffenden Hand. Sie ist Stein, Schiefer, Holz, Kupfer, Zink [...] die Materie ist so der erste Gegner des Handpoeten. Sie besitzt die ganze Vielfalt der feindseligen Welt, die es zu dominieren gilt. Der wahrhaftige Druckgraphiker beginnt sein Werk in einer Träumerei des Willens.44

Den zitierten Äußerungen nach sind es der alchemistische Charakter sowie die Konfrontation mit der Materie in den verschiedenen Techniken, die sich besonders dazu eignen, die kreativen Kräfte des Unterbewusstseins zu aktivieren. Demnach wären sie für die künstlerischen Absichten von CoBrA besonders passend. Tatsächlich waren die Künstler der Gruppe auf dem Gebiet der Druckgrafik sehr produktiv.45 In ihren Schriften finden sich jedoch keine Äußerungen über das Medium. Der einzige Text, der die Druckgrafik behandelt, ist der erwähnte, in der sechsten Ausgabe von COBRA erschienene Artikel Bachelards. Betrachtet man jedoch einzelne Arbeiten in Zusammenhang mit Äußerungen der Künstler, zeichnet sich eine Tendenz in der Wertung von Druckgrafik ab. Unter den von CoBrA-Künstler gemeinschaftlich geschaffenen Werken finden sich auch einige Lithografien, etwa der 1949 entstandenen Steindruck Some of these days, der von sechs Personen zusammen angefertigt wurde.46 Relativ gleichmäßig über die Bildfläche verteilt, sieht man Phantasiegestalten, hybride Figuren aus Tier und Mensch sowie Formstrukturen, jede einzelne in schnellem Duktus gezeichnet. Die individuelle Urheberschaft ist kaum zu bestimmen.47 Am unteren Rand sind die Namen der Beteiligten zu einer langen Kette aneinandergefügt, wodurch ver-

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21  Karel Appel, Constant, Corneille, Carl Otto Hultén, Anders Österlin, Max Walter Svanberg, Some of these days, 25.11.1949, Lithografie, 38 × 49 cm.

deutlicht wird, dass eine genaue Zuschreibung nicht beabsichtigt war und man vielmehr betonen wollte, das Werk als Gruppe geschaffen zu haben. Vereinzelte Fingerabdrücke, Flecken und Randspuren des lithografischen Steins zeugen von einem spontanen, schnellen Schaffensprozess. Auch der in Spiegelschrift entlang des linken Bildrands geschriebene Titel Some of these days lässt erkennen, dass man keinen Wert darauf legte, die Buch­ staben kontrolliert und überlegt seitenverkehrt zu setzen, um sie auf dem Abzug richtig herum erscheinen zu lassen. In einem Brief an Alechinsky schreibt Corneille: „Wir haben gemeinsam eine Lithografie gemacht, ist gar nicht so schlecht geworden [...]. Es war ein regelrechtes indianisches Fest rund um einen Stein.“48 Nina Zimmer unterstreicht die ­Doppelbedeutung des Steins als Kultobjekt und lithografischem Druckträger, auf die Corneille anspielt.49 Die CoBrA-Künstler interessierten sich sehr für die Kunst von indigenen Gemeinschaften, für Relikte vorindustrieller Kulturen, Folklore sowie für Kinderzeichnungen, in denen sie unverfälschte Zeugnisse menschlicher Schöpferkraft sahen. Corneilles

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Faszination für archaisch-mystische Rituale, die auf ein zentrales Objekt – beispielsweise ein ­Totem – fokussiert sind, wird hier deutlich. Im Sinne Bachelards ließen sich Corneilles Worte so deuten, dass die Materie des lithografischen Steins gleich einem Totem unterbewusste kreative Kräfte stimuliert und so den physischen Schaffensprozess aktiviert, der sich wie bei einer Kulthandlung in rauschähnlichem Zustand, in einer écriture automa­ tique äußert. Die Eigenschaft, die Bachelard der Druckgrafik zuspricht, durch materielle Resistenz originär im Unterbewusstsein Vorhandenes freizusetzen, geht damit einher, dass ihr ein archaischer Charakter zugeschrieben wird. In dem bereits zitierten Text aus dem Künstlerbuch der Gruppe Graphies, bezeichnet Bachelard die Druckgrafik als „primitiv“ (im Sinne von urtümlich) und prähistorisch.50 Damit berührt er ein Leitmotiv in den Äußerungen der Graphies-Künstler, die in einer von ihnen mitgestalteten Ausgabe der Zeitschrift Art d’Aujourd’hui abgedruckt sind.51 Auch an anderen Stellen stößt man immer wieder auf entsprechende Erwähnungen. Pierre Courtin betont, dass der Mensch schon von Anfang an graviert und schon sehr bald auch gedruckt habe, wie es über 9000 Jahre alte sume­ rische Siegel belegten. Seit dieser Zeit habe sich nichts grundlegend verändert, mit Ausnahme der irgendwann erfolgten Ersetzung von Ton durch Papier.52 Raoul Ubac wiederum, der ebenfalls bei Graphies aktiv war, hebt hervor, dass das Gravieren die erste Geste des Menschen gewesen sei und der Graveur heutzutage nichts anderes tue, als diese identische Geste zu wiederholen.53 Ähnlich äußert sich auch Stanley William Hayter, der in den ersten Keilschriften in Lehm und Stein „alle Voraussetzungen“ für die Druckgrafik gegeben sieht, deren Erfindung durch die Produktion von Papier vollendet worden sei.54 In all diesen Bewertungen werden die Handlungen des Kratzens und Zeichnens in und auf den Druckstock, sei er nun aus Stein, Kupfer oder Holz, sowie die des Abdruckens zu „ursprünglichen“ Praktiken der Bilderzeugung stilisiert, weil sie einem natürlichen, instinktiven Bedürfnis des Menschen entspringen und daher bereits seit Anbeginn der Menschheit ausgeübt werden. Diese ideell aufwertende Lesart, nach der druckgrafische Arbeit eine archaische Form der Bilderzeugung sei, die im instinktgeleiteten Schaffensprozess zu einem nicht durch akademische Schulung verfälschten, sondern authentischen, künstlerischen Ergebnis führe, kann im Kontext eines speziellen, zeittypischen „Primitivismus“ gesehen werden. Auch die archaisierende Ästhetik der Aquatinten von Soulages oder die an korrodiertes Gemäuer erinnernden Drucke von Pierre Courtin ließen sich in diesem Zusammenhang anführen.55 Das Interesse von CoBrA für nicht-europäische Kunst und Kinderzeichnungen zeugt ebenso davon, wie etwa Dubuffets Begeisterung und Sammelleidenschaft für Außenseiterkunst, die ihn 1947 zusammen mit André Breton die Compagnie de l’Art brut haben gründen lassen. Vor diesem Hintergrund intensivierte sich die ideelle und künstlerische Auseinandersetzung mit Druckgrafik, deren bis auf die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurückprojizierten Praktiken des Spurenbildens und -abdruckens es fortzuführen galt, da man in

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ihnen – wenn sie auch technisch überholt, wirtschaftlich unrentabel und somit „unzeitgemäß“ geworden waren – die Voraussetzungen fand, um eine der Zeit gemäße, ästhetische Formsprache zu entwickeln.

Anmerkungen 1

Vgl. Georges Perec, Les Choses, Paris 1965; dt. Ausg.: ders., Die Dinge. Eine Geschichte der sechzi­ ger Jahre, Stuttgart 1984, S. 9–14.

2

„Je pressentis là que l’estampe, prolongeant l’effet du livre d’art, permettait par son prix modeste de faire pénétrer la création contemporaine dans les jeunes foyers qui [...] allaient se multiplier la paix revenue.“ Bernard Gheerbrant, A La Hune. Histoire d’une librairie-galerie à Saint-Germain-desPrés, Paris 1988, S. 21. Wenn nicht anders angegeben, stammen Übersetzungen von der Autorin.

3

„He believed that with so much newly built wall space, people would want images of modernity rather than relicts of the past.“ The Maeght Family, A Passion for Modern Art, hrsg. von Yoyo Maeght, Isabelle Maeght und Franck Maubert, New York 2007, S. 217.

4

„Si le livre est moins fréquent [...] on le regrette. [...] Il faut aussi attirer l’attention sur cette venue d’une nouvelle gravure [...]. On ne peut dire qu’un nouveau genre soit en train de naître. [...] une œuvre tenant au mur, à chance de pénétrer aussi dans les lieux de l’homme. Que l’image, à la portée du regard, retrouve enfin ses droits! [...] la gravure devient œuvre, autonome, qui situe à une autre échelle [...].“ René de Solier, Gravure 1959, in: XV. Salon de Mai 1959, Musée de la Ville de Paris, 9.–31. Mai 1959, S. 3.

5

Zum Atelier 17 siehe v. a. Hayter e l’Atelier 17, Ausst.-Kat. (Rom, Accademia di San Luca, 1990), hrsg. von Carla Esposito, Mailand 1990, sowie Hayter et l’Atelier 17, Ausst.-Kat. (Gravelines, ­Musée du dessin et de l’estampe originale Arsenal de Gravelines 1993), hrsg. von Dominique Tonneau-Ryckelynck u. a., Paris 1993.

6

Johnny Friedlaenders Schulatelier war noch nicht Gegenstand einer eigenen Publikation, aber wird in den wenigen Monographien über Friedlaender thematisiert. Siehe Johnny Friedlaender, Ausstellung zum 80. Geburtstag: Radierungen – Zeichnungen – Aquarelle – Gemälde und Map­ penwerke, Ausst.-Kat. (Bonn, Bundeskanzleramt, Mainz: Landesmuseum, 1992), hrsg. von Berthold Roland, Mainz 1992; Johnny Friedlaender Le graveur dans son temps, Ausst.-Kat. (Paris, Galerie Colbert, 2008/09), hrsg. von Isabelle Cahn und Fanny Lambert, Paris 2008.

7

„[...] il m’est arrivé, à travers mon équipe, un tas de choses, alors qu’un isolé n’arrive à rien, car il ne lui arrive rien.“ Stanley William Hayter zitiert nach Michel Conil Lacoste, L’Atelier 17, in: L’Œil. Revue d’art mensuelle 53, 1959, S. 56–65, S. 61. Die im Atelier 17 entstandenen Methoden hat Hayter publiziert, sodass sie für jeden zu nutzen waren. Vgl. Stanley William Hayter, New ways of gravure, London 1949.

8

In einem themenspezifischen répertoire der Nouvelles de l’Estampe veranschaulicht ein Schaubild die Zunahme von Druckgrafikschülern an den staatlichen Institutionen. Das répertoire listet die privaten Ateliers mit kurzen Angaben zu Entstehung sowie technischem und künstlerischem ­Profil auf. Aus dieser Liste geht hervor, dass im Laufe der 1960er zahlreiche Ateliers gegründet wurden Vgl. Répertoire des enseignements de la gravure en France, in: Nouvelles de l’Estampe 34–35, 1977, S. 13–36.

9

Neben Friedlaenders und Hayters wird auch Goetz’ Atelier als eines der wichtigen in einer Spezialausgabe zur Druckgrafik der Zeitschrift Cimaise vorgestellt. Vgl. Jean-Jacques Lévêque, 3 ateliers Goetz, Hayter, Friedlaender, in: Cimaise, arts et architecture actuels 113–114, 1973, S. 101–104.

Facetten des Revivals künstlerischer Druckgrafik im Paris der Nachkriegszeit I 113

10 „La gravure, l’estampe dans son ensemble, a pris là son essor [...]. Ce sont les éducateurs qui en sont largement responsables.“ („J’ai connu Friedlaender trés tôt“. Entretien de Bernard Gheer­ brant, fondateur de la librairie La Hune, avec Isabelle Cahn, in: Johnny Friedlaender 2008 (Anm. 6), S. 37. 11 Vgl. Documenta 2, Kunst nach 1945, Druckgraphik (Bd. 3), Ausst.-Kat. (Kassel, Schloß Bellevue, 1959), Köln 1959. 12 Will Grohmann, Einführung, in: Moderne französische Graphik, Ausst.-Kat. (Köln, Galerie Ferdinand Möller), Köln 1955, S. 3. Zu den in Frankreich gedruckten Grafiken deutscher Künstler siehe: Graphische Kunst seit 1945. Zeichnungen und Druckgraphik aus dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Ausst.-Kat. (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, 1990/91), hrsg. von Gelinde Brandenburger, Karlsruhe 1990, S. 8. 13 Siehe hierzu: Table ronde sur la situation actuelle des imprimeurs en taille-douce. Compte rendu de la réunion organisée le 26 Juin 1974 par le Comité national de la gravure Française, in: Nouvelles de l’Estampe 16, 1974, S. 28–29. 14 Die Anzahl der Druckerwerkstätten in Paris schrumpfte bereits zwischen 1860 und 1915 ungefähr um die Hälfte. In den 1960er Jahren wurden wieder einige Tiefdruckwerkstätten eröffnet, bei denen es sich aber weitestgehend um gemeinschaftliche Trägerschaften, die die instrumentellen Voraussetzungen zum Drucken ohne fachmännische Unterstützung boten. Vgl. Françoise Woimant, Répertoire des imprimeurs de gravures (taille-douce, bois, linogravure),in: Nouvelles de l’Estampe 16, 1974, S. 17–28. 15 „Ce qui de suite m’a frappé chez cet homme plein d’humour, de cocasserie et de cœur c’est la liberté d’esprit qu’il avait devant son métier, ce métier où pourtant le poids et le respect du passé conduisent si souvent à une tradition sclérosée et académique. [...] il m’a aidé à échapper aux contraintes, aux précautions paralysantes, à la minutie appliquée des débutants et des copistes.“ Pierre Soulages, Beitrag vom 10. Oktober 1966 zu Hommage à Roger Lacourière, in: Nouvelles de l’Estampe 5, 1967, S. 163. 16 Zu Soulages Druckgrafik siehe v. a. Soulages. L’œuvres imprimés, Ausst.-Kat. (Paris, Bibliothèque nationale de France, 2003), hrsg. von Pierre Encrevé und Marie-Cécile Miessner, Paris 2003, sowie Soulages. Eaux-fortes, lithographies, 1952–1973, hrsg. von Christian Labbaye, Paris 1974. 17 „Tout ce qu’il était, son goût de recherche et de l’aventure, sa fantaisie, ses distractions mêmes, le portent à préférer ce qui dépasse le savoir et les recettes. C’est grâce à lui que j’ai aimé graver.“ Soulages 1967 (Anm. 16), S. 163. 18 Vgl. Pat Gilmour, Picasso and his printers, in: The Print Collector’s Newsletter 18, 3, 1987, S. 81–90, S. 89. 19 „Avec lui tout un savoir a disparu. Personne n’est irremplaçable, dit-on lors même que rien n’est plus faux.“ Pierre Alechinsky, Entretien avec Pierre Alechinsky, in: Les impressions de Pierre Alechinsky, Ausst.-Kat. (Paris: Bibliothèque Nationale de France, 2005), hrsg. von Céline Chicha, Marie-Françoise Quignard und Pierrette Crouzet, Paris 2005, S. 39–47, S. 40. 20 Den bei Mourlot entstandenen Ausstellungsplakaten wurden mehrfach eigene Ausstellungen gewidmet, so etwa 1952 in der Galerie Kléber in Paris, 1954 in Krefeld, 1964 im Smithonian Institute in Washington, 1966 in der Redfern Gallery in London. Mourlots Lebenswerk wurde 1976 in Sainte Omer und 1978 in Avignon mit Ausstellungen gewürdigt. Er selbst hat seine Erinnerungen in verschiedenen Publikationen veröffentlicht: Fernand Mourlot, Souvenirs et portraits d’artistes, Paris 1974; ders., Gravés dans ma mémoire: cinquante ans de lithographie avec Picasso, Matisse, Chagall, Braque, Miró, Paris 1979; ders., Cinquante années de lithographie, Paris 1983. Seine Bekanntheit wird auch dadurch deutlich, dass er noch 1979 auf der Titelseite der Zeitschrift art abgebildet wurde. In der Nähe seiner Werkstatt im Pariser Viertel Montparnasse ist ein Platz nach

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ihm benannt. Umfangreiche Informationen über Fernand Mourlot sowie Archivalien sind auf der Webseite der im Besitz seiner Familie befindlichen Galerie Bordas bereitgestellt: www.galeriebordas.com sowie http://mourlot.free.fr/index.html [zuletzt aufgerufen 21. 9.2016]. 21 „Le coup de génie de Fernand Mourlot fut d’appeler, par le biais de l’affiche, les artistes à travailler directement sur la pierre.“ Pierre Cabanne, Présentation, in: Mourlot 1983 (Anm. 21), S.7–16, hier S. 10. 22 „Il exécutait d’abord le titre qu’il dessinait à la main, puis on l’effaçait, et Miró s’amusait à enrichir cette planche d’autres sujets pleins de fantaisie, on tirait le tout et ça faisait de très jolies ­estampes qui avaient beaucoup de succès.“ Mourlot 1979 (Anm. 21), S. 145. 23 „Je leur parlais de la lithographie. Ils eurent envie de visiter mon antre. A la vue des pierres, de la presse à bras et de moi-même, en travailleur de force occupé à tirer des épreuves, en noir, puis en couleurs, le désir leur vint de faire des lithographies eux-mêmes. Il s’agissait d’artistes tels que De Staël. Schneider, Deyrole, Bazaine, Lapicque, Manessier, Lanskoy, Bram Van Velde, Hartung, Poliakoff, Atlan, Gromaire, Dubuffet, André Masson.“ Jean Pons in: La vie d‘un atelier. De Jean Pons à Elisabeth Pons. Un demi-siècle de lithographie traditionelle, Paris 1989, o. P. 24 Hartungs erste bei Pons gedruckten Lithografien stammen aus dem Jahr 1948, auch wenn er sich zu erinnern glaubte, im Jahr 1953 dort seine ersten Lithografien angefertigt zu haben. Bei bereits 1946 in der Druckerei Desjobert entstandenen Drucken handelt es sich um übertragene ­Vorkriegszeichnungen, die Hartung vermutlich hat ausführen lassen. Vgl. Geneviève Laplanche, La vie de l’artiste en gravure / Das Leben des Künstlers als Druckgraphiker, in: Hartung 2010, S. 18– 47, bes. S. 24–27. 25 Jean Adhémare, Hommage aux Imprimeurs, in: Nouvelles de l’Estampe 16, 1974, S. 9. Jean Adhémare war von 1932 bis 1978 Chefkonservator am Cabinet des Estampes der Bibliothèque Nationale und Mitgründer der Nouvelles de l’Estampe. 26 Bezeichnenderweise handelt es sich bei dem Blatt um eines von dreien, die begleitend zu Auszügen aus Jean Paul Sartres Erfolgsroman La Nausée (Der Ekel, 1938) und einem Abschnitt aus einer unveröffentlichten Erzählung Sartres, betitelt mit Nourritures (Nahrung) erschienen sind (Jean Paul Sartre, Nourritures. Suivi d’extraits de La Nausée, Paris 1949). Darin wird eine Vielzahl von Sinneseindrücken beschrieben, die in dem Erzähler das unangenehme Gefühl des Ekels auslösen, das auch zum vorherrschenden Empfinden im Alltagserleben des Protagonisten von La Nausée wird. Siehe hierzu: Christiane Lukatis, Von Antonin Artaud bis zu Jean-Paul Sartre. Zu den Buchil­ lustrationen von Wols, in: Wols: Aufbruch nach 1945, Ausst.-Kat. (Kassel, Museumslandschaft Hessen Kassel, Neue Galerie, 2014/15), hrsg. von Bernd Küster, Petersberg 2014, S. 26–57. 27 Der Begriff der „Wunde“ wurde mehrfach von Interpreten mit Wols’ Bildsprache in Verbindung gebracht. So greift Laszlo Glozser die Wunde als „Metapher für das verwundete Leben des Künstlers“ auf und spürt ihr als Motiv im Werk Wols’ nach. Vgl. Laszlo Glozer, Wols. Photograph, München 1978, bes. S. 7–14, Zitat S. 12. 28 Rathke betont, Wols habe sich „nicht ohne Zufall in den Jahren 1948 und 1949 intensiv mit den Radierungen beschäftigt. Ihre technischen Möglichkeiten entsprachen seinen gestalterischen ­Absichten, wie sie sich in der Malerei manifestierten [...].“ Ewald Rathk, Druckgrphfik, in: Wols: Bilder, Aquarelle, Zeichnungen, Photographien, Druckgraphik, Ausst.-Kat. (Zürich, Kunsthaus; Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 1989/90), Zürich 1989, S. 375. 29 „[...] il arrive parfois que l’artiste, même le plus amoureux de la pierre, ait besoin de la brutaliser quelque peu pour lui faire avouer ses désirs, lui faire rendre son maximum.“ Francis Ponge, ­Matière et Mémoire (1945), in: Œuvre complètes, Bd.1, hrsg. von Bernard Beugnot u. a., Paris 1999, S. 116–123, bes. S. 120. Hier ist „la pierre“ (dt. der Stein) mit „Steinplatte“ übersetzt, um das weibliche Geschlecht des französischen Wortes beizubehalten.

Facetten des Revivals künstlerischer Druckgrafik im Paris der Nachkriegszeit I 115

30 „Il est parfois agacé par le manque de réactions, ou par leur lenteur [...]. Alors, coups de tampons, coups de chiffons [...] griffures au tesson de bouteilles, rayures au papier de verre, grinçant de grattages à la lame de rasoir ou à la lime à bois [...].“ Ebd. 31 Vgl. Andreas Franzke, Künstlerbücher, in: Jean Dubuffet „...das Papier beleben“, Ausst.-Kat. (München, Literaturhaus, 2009), hrsg. von Andreas Franzke, Köln 2009, S. 15–65, bes. S. 23–24. 32 Mechthild Haas merkt an, dass die Arbeitsweise Dubuffets der Anfertigung von Graffitis gleicht. Vgl. Mechthild Haas, Jean Dubuffet. Materialien für eine „andere Kunst“ nach 1945, Berlin 1997, S. 83. 33 „Ne pas étendre avec une petite plume [...] mais plonger ses mains dans de pleins seaux ou cuvettes et de ses paumes et de ses doigts mastiquer avec ses terres et pâtes le mur qui lui est offert, [...] y imprimer les traces les plus immédiates qu’il se peut de sa pensée et des rythmes et impulsions qui battent ses artères et courent au long de ses innervations, à mains nues ou en s’aidant (de) [...] – quelque lame de hasard ou court bâton ou éclat de pierre – qui ne coupent ni affaiblissent les courants d’ondes.“ Jean Dubuffet, Prospectus et tous écrits suivants, Bd. 1, Paris 1967. S. 71. 34 Haas 1997 (Anm. 33), S. 83. 35 „La gravure a un caractère un peu agressif, acide, même quelquefois coupant: enfin, j’aime beaucoup couper, gratter, maltraiter une matière si je peux, y laisser la trace exacte et précise de ces actions.“ Hans Hartung, Sur la gravure et la lithographie. Entretien avec Daniel Abadie, 28 Avril 1977, in: Hans Hartung; Œuvres sur papier; Rétrospective 1922–1978, Ausst.-Kat. (Les Sablesd’Olonne, Musée de l’Abbaye Sainte-Croix, 1978), hrsg. von Henry Cousseau und Daniel Abadie, Les Sables-d’Olonne 1978, o. P. 36 Raoul Ubac, Meine Schnitte (1961), abgedruckt in: Raoul Ubac – Rolf Ubach 1910–1985. Skulptu­ ren Gemälde, Zeichnungen, Photographien, Ausst.–Kat. (Aachen, Suermondt-Ludwig-Museum, Malmedy: Musée National du Papier, 1996), hrsg. von Adam C. Oellers, Eupen 1996, S. 51. 37 Vgl. Gaston Bachelard, La terre et les rêveries de la volonté. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1948, Neuauflage 2004. 38 CoBrA-Mitglied Joseph Noiret schreibt: „Sans doute rencontre-t-on peu d’exemples, au moins à notre époque, d’une influence aussi durable de la pensée d’un philosophe sur les membres d’un mouvement artistique et littéraire.“ Josephe Noiret, Gaston Bachelard et Henri Lefebvre dans Cobra, in: Cobra en Fange Vandercam – Dotremont Dessin-Écriture-Matière (1958–1960), hrsg. von Michel Draguet, Brüssel 1994, S. 37–55, hier S. 43. 39 Gaston Bachelard, Notes d’un philosophe pour un graveur, in: COBRA 6, April 1950, S. 15. 40 Bachelard hatte die Notes d’un philosophe pour un graveur zu einer Serie von Stichen Flocons mit dem Titel Paysages geschrieben. Darin hatte Flocon, seinerseits inspiriert von den Schriften Bachelards, metamorphotische Verschmelzungen von Mensch und Natur dargestellt. Zur Zusammenarbeit Flocons und Bachelards vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Gaston Bachelard et Albert Flocon, La rencontre d’un philosophe avec un graveur, in: Revue de Synthèse 3, 2013, S. 354–372. Die aus der Kooperation beider hervorgegangenen Werke sind in deutscher Übersetzung in einer Publikation erschienen. Siehe Albert Flocon, Gaston Bachelard, Paul Eluard, Die Bücher des Albert Flo­ con, Düsseldorf/Bensheim 1991. 41 Neben La terre et les rêveries de la volonté (1948) hatte Bachelard drei weitere Essais zum Thema der Elemente verfasst: L’Eau et le Rêves (1942), L’Air et les Songes (1943), La terre et les rêveries du repos (1948). 42 „Bachelard eut reconnu toutes les belles matières sur quoi il aimait rêver: le feu d’abord – la flamme bleuâtre de gaz, la flamme épaisse, fuligineuse du flambeau à noircir, l’air, c’est-à-dire la lumière blanche et grise, un peu éteinte parce que les fenêtres d’un atelier doivent être orientées au nord; la terre d’où viennent les métaux d’un grain si pur tel le cuivre qui brille comme l’or;

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l’eau enfin, l’eau-forte et ses reflets verts, l’eau claire de la source qui lavera le métal de toutes traces d’acides.“ Lévêque 1973 (Anm. 8), S. 103–104. 43 „[...] l’infinie diversité des techniques qu’offre l’estampe permet à l’artiste, [...] à redécouvrir le monde, en contact avec ses forces élémentaires: un Bachelard signifierait là une transmutation poétique; car l’artiste découvre à la fois la terre dans son double aspect minéral et végétal, l’eau sous son aspect acide que nous apporte la pluie, et le feu dans toutes ses alchimies de gestes rituels d’où sort un visage de l’art à la fois éternel et singulier.“ Bernard Gheerbrant, L’estampe est à la mode, in: XXe siècle: Ecriture Plastique 10, 1958, erneut abgedruckt in: Gheerbrant 1988 (Anm. 1), S.133–141, hier S. 134. 44 „[...] pour lui [le graveur] la matière existe. Et la matière existe tout de suite sous sa main œuvrante. Elle est pierre, ardoise, bois, cuivre, zinc [...] la matière est ainsi le premier adversaire du poète de la main. Elle a toutes les multiplicités du monde hostile, du monde à dominer. Le graveur véritable commence son œuvre dans une rêverie de la volonté.“ Gaston Bachelard, ­Matière et Main, in: A la Gloire de la Main, Paris 1949, S. 9–13, hier S. 9. Erneut abgedruckt in: Art d’Aujourd’hui N° 9, April 1950, o. P. 45 Janine Bailly-Herzberg listet CoBra in einer enzyklopädischen Übersicht über Druckgrafikervereinigungen auf. Vgl. Janine Bailly-Herzberg, Dictionnaire de l’Estampe en France 1830–1950, Paris 1985, S. 363. Die Bedeutung der Druckgrafik innerhalb des Gruppenunternehmens CoBrA wird immer wieder betont, doch gilt die Aufmerksamkeit meist deren publizistischem Einsatz in Zeitschriften und Monografien und nicht dem künstlerischen Ausdrucksmedium an sich. Nur Dominique Durinckx beleuchtet weitere Aspekte der Druckgrafik, etwa deren spätere Entwicklung bei einzelnen CoBrA-Künstlern. Vgl. Dominique Durinckx, Cobra & co. Lithographs and Prints, in: Cobra, Ausst.-Kat. (Brüssel, Palais des Beaux-Arts, 2008/09), hrsg. von Anne Adriaens-Pannier u. a., Tielt/Lanno 2008, S. 276–296. 46 Karel Appel, Constant, Corneille, Carl Otto Hultén, Anders Österlin, Max Walter. Vgl. Jean-­ Clarence Lambert, COBRA – un art libre, Paris/Antwerpen 1983, S. 153. 47 Von Gruppen geschaffene Gemeinschaftswerke lassen in den wenigsten Fällen, und erst ab dem 20. Jahrhundert, keine individuelle Autorschaft erkennen. Dies ist meist bei experimentell-prozessualem Vorgehen der Fall, wie bei Arbeiten der Gruppen SPUR und CoBrA. Vgl. Nina Zimmer, SPUR und andere Künstlergruppen, Gemeinschaftsarbeiten in der Kunst um 1960 zwischen ­Moskau und New York, Berlin 2002, S. 46–76, bes. S. 72. 48 „Nous avons fait une lithographie en commun, ça n’a pas trop mal réussi [... ]. Une véritable fête indienne autour d’une pierre.“ Corneille zitiert nach Lambert 1983 (Anm. 46), S. 153. 49 Vgl. Zimmer 2002 (Anm. 48), S. 73. 50 „Elle (la gravure) est primitive, préhistorique, préhumaine.“ Bachelard 1949 (Anm. 45), S. 12. 51 Art d’Aujourd’hui 1950 (Anm. 45). 52 Vgl. Pierre Courtin, Lamentation du graveur, in: Pierre Courtin, Ausst.-Kat. (Paris, Galerie Berggruen & Cie. 1962), erneut abgedruckt in: ders., L’œuvres gravé 1944–1972, Paris 1973, S. 17–22, bes. S. 18. 53 Vgl. Raoul Ubac, L’ardoise gravée, in: Art d’Aujourd’hui 1950 (Anm. 45). 54 Vgl. Stanley William Hayter, About Prints, London 1962, S. 3–11, S. 5–6. 55 Emmanuel Pernoud erkennt vor allem in der Darstellung von Stein Courtins Adaption des in den 1950er Jahren aktuellen „okzidentalen Primitivismus“, der sich in der Druckgrafik der Zeit beispielsweise darin äußere, dass die Spuren des (lithografischen) Steins, ähnlich wie die des Holzes in den Drucken der Schule von Pont-Avent und der Fauves, beabsichtigter Teil des Werkes und stilprägend seien. Vgl. Emmanuel Pernoud, Sumer-sur-Seine, in: Pierre Courtin, la gravure tactile, Ausst.-Kat. (Paris, Bibliothèque nationale de France, 1998), hrsg. von Emmanuel Pernoud, Paris 1998, S. 3–20, hier S.17.

Facetten des Revivals künstlerischer Druckgrafik im Paris der Nachkriegszeit I 117

Andreas Huth

„Zum ersten Male wieder seit der Zeit der Renaissance“ Die Wiederentdeckung der Sgraffito-Technik im 19. Jahrhundert

Die Wiederaufnahme nicht mehr praktizierter künstlerischer Techniken ist gewiss kein Spezifikum einer bestimmten Epoche. Dennoch ist die Feststellung nicht übertrieben, dass gerade im 19. Jahrhundert mit der Begeisterung für die vorbarocken Bauformen auch das Interesse an historischen Techniken anwuchs und ihre praktische Anwendung eine bis dahin unbekannte Breite erreichte. Dies gilt im Bereich der Architektur beispielsweise für die Fassadengestaltung mit Sichtziegeln (und insbesondere mit Formsteinen), die ­Verwendung von glasierter Terrakotta für die Bauplastik oder den Rückgriff auf künst­ lerische Techniken wie Mosaik und Fresko. Ein beinahe idealtypisches Beispiel ist die ­Wiederaufnahme der Sgraffito-Technik, deren Geschichte im Folgenden nachzuzeichnen ist. Sgraffito bezeichnet eine Form der Putzdekoration, bei der in die (zumeist geweißte) Oberfläche einer (zumeist gefärbten) Putzschicht Ornamente und Bilder geritzt bzw. geschabt werden.1 Anfang des Trecento in Florenz zu einer eigenständigen Dekorationstechnik entwickelt, wurde das Sgraffito im 15. Jahrhundert von einer eher handwerklichen Art des Fassadendekors zu einer von angesehenen Künstlern ausgeübten Kunstform.2 Allein für das 14. und 15. Jahrhundert lassen sich in Florenz etwa fünfunddreißig Gebäude3 nachweisen, deren Fassaden oder Innenhöfe auf diese Weise geschmückt waren, unter ihnen so prominente Bauwerke wie der Palazzo Davizzi-Davanzati (Dekoration ca. 1360), die Castellani-Kapelle in S. Croce (zwischen 1385–1390), der Palazzo Medici (1452), der Palazzo Rucellai (ca. 1455) und der Palazzo della Signoria (zwischen 1460–1466).4 Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden auch in Rom im Umfeld des stark von der Florentiner Baukultur geprägten Papsthofs erste Sgraffito-Dekorationen.5 Das früheste bekannte und noch dazu inschriftlich präzise datierte Beispiel in Rom ist die Fassade des unter Papst ­Nikolaus V. Parentucelli neuerrichteten Flügel des vatikanischen Palastes von 1454;6 wenig später folgten der Palazzo di Rodrigo Borgia (heute Sforza-Cesarini, ca. 1463) und der ­Palazzetto di Marco Barbo (auch Casa dei Cavalieri di Rodi, ca. 1470).7 Wie in einer Zeitkapsel ist diese Phase im winzigen Städtchen Pienza konserviert: Von Pius II. Piccolomini vorübergehend zur päpstlichen Residenz erhoben,8 entstanden hier innerhalb von zwei

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Jahrzehnten fünfzehn Gebäude mit Sgraffito-Dekorationen,9 unter ihnen der Palazzo ­Piccolomini, der Palazzo Ammannati, der Palazzo dei Priori und das Kanoniker-Haus neben dem Dom.10 Ende des 15. Jahrhundert brachten italienische Spezialisten die weiterhin vor allem in Florenz und Rom erfolgreiche Technik in die Schweiz, nach Österreich, in den süddeutschen Raum, nach Böhmen, Mähren, Pommern und Schlesien, wo bis heute zahlreiche Fassaden erhalten sind.11 Im 17. Jahrhundert wurde Sgraffito durch andere Formen der Fassadengestaltung ersetzt und verschwand weitgehend aus der Baupraxis.12 Erst Anfang des 19. Jahrhunderts lässt sich ein erneutes Interesse an Sgraffito-Dekorationen beobachten, das sich zunächst aber auf Beschreibungen und Darstellungen in Publikationen beschränkte. Deren Grundlage wiederum waren vor allem die großen Stichwerke mit zahlreichen Grund- und Aufrissen sowie Bau- und Schmuckdetails überwiegend römischer und florentinischer Bauwerke, die ab Ende des 18. Jahrhunderts erschienen und rasch in weiten Teilen Europas Verbreitung fanden.13 Zu nennen sind hier vor allem Carlo Lasinios Werk Ornati presi da graffiti e pitture antiche, esistente a Firenze von 178914, Pierre-­ François-Léonard Fontaines und Charles Perciers 1798 erschienener Band Palais, maisons et autres édifices modernes dessinés à Rome15, Pierre Clochars Palais, maisons et vues d’Italie (1809)16 sowie insbesondere das 1806 veröffentliche und schon 1815 wieder aufgelegte Werk Architecture toscane, ou palais ou autres édifices de la Toscane, mesurés et dessinés von August-Victoire Grandjean de Montigny und Auguste Famin17. Letzteres bildet nicht nur prominente Florentiner Bauwerke ab, sondern nennt und zeigt erstmalig SgraffitoDekorationen als Bauschmuck, so in der Ansicht der Innenhöfe des Palazzo Medici, des Palazzo della Signoria und des Palazzo Bartolini Salimbeni und im Fassadenprospekt des Palazzo Dei-Guadagni.18 Auch wenn die Darstellungen zum Teil reine Erfindungen sind, wird in ihnen die neue Aufmerksamkeit gegenüber den lange ignorierten Dekorationstechniken fassbar, die sich nicht zuletzt in der Erweiterung des klassizistischen Formen­ repertoires um Architektur- und Dekorelemente der italienischen Renaissance und ihrer regionalen Eigenformen manifestiert, die ab den 1820er Jahren in verschiedenen Ländern Europas und des Commonwealth in untereinander vage verwandten Stilrichtungen mündeten und deren Heterogenität sich in einer Vielzahl von Bezeichnungen als Neorenaissance, Italianate, Renaissance Revival usw. spiegelt.19 Das erste vergleichbare Projekt in Deutschland waren Julius Eugen Ruhls Hefte Kirchen, Palaeste und Kloester in Italien nach den noch vorhandenen Monumenten gezeichnet von I. E. Ruhl, die ab 1821 in Darmstadt erschienen.20 Bereits kurz nach dem Erscheinen des Stichwerks von Percier und Fontaine wurde es von Friedrich Gilly beim ersten Treffen der Privatgesellschaft junger Architekten 1799 in Berlin vorgestellt,21 zu deren sieben Mitgliedern auch der erst 18jährige Schinkel zählte. Als Schinkel vier Jahre später erstmals nach Italien reiste, war er durch die gemeinsamen Diskussionen in der Privatgesellschaft hervorragend präpariert:22 Sein Interesse galt indes vor allem der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Architektur; Barock und Antike stießen ihn ab oder langweilten ihn.23 Ob und wie Schinkel bereits auf dieser ersten Reise

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Sgraffito-Fassaden wahrnahm, ist nicht überliefert.24 Auf seiner zweiten, in Begleitung des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Waagen absolvierten Romreise notierte Schinkel am 8. Oktober 1824 nach einem Besuch in den Farnesischen Gärten auf dem Palatin in sein Reisetagebuch:25 „Die Pavillons sind ohne Dächer, die äußere Wandbekleidung aber war in der Arbeit, die man Sgraffito nennt; eine Art Frescomalerei, grau in grau mit eingekratzten Schatten.“26 Seine Beschreibung der Dekorationen als „grau in grau mit eingekratzten Schatten“ verrät, dass er zu diesem Zeitpunkt von deren Ausführung keine genaue Vorstellung hatte, sie aber in Anlehnung an Vasari („specie di pittura ch’è disegno e pittura insieme“)27 als Maltechnik betrachtete. Möglicherweise weckten solche Beobachtungen Schinkels Interesse. In einem Dokument von 1845 schrieben jedenfalls seine Schüler Carl Ferdinand Busse und Friedrich August Stüler: Der verewigte Ober Landes Bau Director Schinkel hegte stets den Wunsch den Sgraffito Putz bei passender Gelegenheit in Anwendung zu bringen; seine Bemühungen dafür haben sich jedoch auf kleinere Versuche beschränken müssen, weil die Kentnißlosigkeit der Handwerker im Wege stand, theils aber zu seiner Zeit, noch weniger [Geld] als jetzt auf würdige Ausstattung der A­rchitectur verwendet werden durfte. 28

Tatsächlich war Schinkels Einsatz für die Technik wenig Erfolg beschieden. Die ersten zaghaften Versuche in Preußen datieren nach seinem Tod: ein paar Ornamente am Schloss Liegnitz (1843) und ein schmales Friesband an der Potsdamer Villa Tieck (1846).29 1847 entstand, angeblich auf Vorschlag Alexander von Minutolis,30 am Berliner Stadtgericht ein heute verlorener Fries nach Entwürfen des Berliner Malers und Akademie-Professors ­Eduard Daege.31 Wie Schinkel reiste auch der junge Eugène Viollet-le-Duc nach Italien. 1836 und 1837 hielt er sich zwei Mal für einige Wochen in Florenz auf,32 wo einige Veduten (zum Teil später koloriert), Studien von Gebäuden und architektonischen Details sowie Skizzen nach Gemälden entstanden.33 Am 10. Oktober 1836, kurz vor seiner Abreise nach Siena, zeichnete Viollet-le-Duc mit der für ihn typischen Präzision eine Fassade in der Via Larga (heute Via Cavour) und notierte auf der Rückseite des Blattes neben Ortsangabe und Datum: „gelber Stein und gefärbter Putz“34. Die vermutlich bald darauf kolorierte Zeichnung zeigt die Front des Palazzo Dardinelli, wie sie sich vor der Mitte des 19. Jahrhunderts vorgenommenen Erweiterung präsentierte:35 Die Rücklagen der architektonischen Gliederung sind vollständig in Sgraffito dekoriert.36 Der stilistische Befund legt eine Ausführung der Dekoration Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts nahe,37 womit der dem Florentiner Künstler Santi di Tito zugeschriebene38 Palazzo Dardinelli das früheste bekannte Beispiel für die Wiederaufnahme der Technik in Europa ist.39 Wahrscheinlich war es gerade der moderne Gebrauch der historischen Technik, der Viollet-le-Ducs Aufmerksamkeit erregte, zumal ihr Einsatz hier mit einer dem klassizistischen Zeitgeschmack entsprechenden Architektur korrespondierte.

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22  Florenz, Via de’ Servi, Palazzo Dardinelli-Fenzi, Fassade mit Sgraffito-Dekoration, Anfang 19. Jahrhundert (mehrfach restauriert, Situation 2017).

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Die nachhaltige Bedeutung der überwiegend französischen Stichwerke für den deutschsprachigen Raum belegt das der ersten Versammlung der deutschen Architekten im September 1842 auf Initiative eines Leipziger Verlegers mitgegebene Verzeichniss von grösse­ ren architectonischen Werken mit Abbildungen,40 auf dessen erstem Blatt zur „Modernen Kunst“ sogleich die Werke von Percier und Fontaine sowie Grandjean de Montigny und Famin aufgelistet sind. Dass auch die auf der letzten Seite im Verzeichniss aufgeführten Viten Giorgio Vasaris und konkret die in der Introduzione alle tre arti del disgeno enthaltene Beschreibung der Sgraffito-Technik (Cap. 26) bekannt waren,41 belegt ein im gleichen Jahr in der in Wien erschienenen Allgemeinen Bauzeitung von Ludwig Förster publizierter Artikel, der erstmalig die Technik – ohne freilich Vasari als Quelle zu benennen – dem Fachpublikum vorstellt.42 Als Beispiel führt der Autor die von Schinkel erwähnten Pavillons auf dem Palatin an: Wie sehr sich bei dieser Malerei eine große Haltbarkeit mit Schönheit vereinigt, kann man außer mehreren kleinern Gebäuden in Rom, namentlich an der von Vignola zwischen 1550 und 1560 erbauten sogenannten Farnesiane, einem bei den Farnesischen Gärten gelegenen, dermalen ganz dem Verfall Preis gegebenen Palais ersehen. Das Aeußere desselben, welches mit einem ganz feinen Spritzbewurf überzogen ist, wurde von einer nicht ungeschickten Hand mit schön schraffierten Zeichnungen geschmückt, wodurch dasselbe auf eine wohlfeile und zugleich dauerhafte Weise verziert worden ist.43

Zu diesem Zeitpunkt hatte Gottfried Semper bereits, wie dem gewöhnlich hervorragend informierten Ludwig Förster sicher bekannt war, am neuen Hoftheater Dresden die ersten modernen Sgraffito-Dekorationen außerhalb Italiens ausführen lassen. Noch deutlicher äußert sich jedoch das zunehmende Interesse am Thema in dem im Zusammenhang mit Schinkel schon erwähnten Schriftstück aus dem Jahr 1845, das geradezu ein Schlüsseldokument für die Wiederaufnahme der Technik im mitteleuropäischen Raum darstellt. Hierbei handelt es sich um ein Gutachten, das drei der höchsten Beamten der preußischen Oberbaudeputation am 14. November 1845 dem königlichen Finanzminister Eduard von Flottwell schickten.44 Die Autoren Friedrich August Stüler, Carl Ferdinand Busse und Gotthilf Hagen nehmen darin zu Alexander von Minutolis Vorschlag Stellung, die Fassaden des im Umbau befindlichen Schlosses in Liegnitz (wieder) in Sgraffito-Technik zu gestalten:45 Die Wichtigkeit des Gegenstandes ist eben so wenig, wie die Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Methoden zu verkennen; und wir dürfen die gegebene Anregung um so mehr willkommen heißen, als besonders die erstgenannte Verzierungsart [Sgraffito] mit verhältnismäßig geringem Kostenaufwande verbunden, zur Zeit nur noch höchst unvollkommen im Kurfürstenthum Hessen, bei ländlichen Gebäuden angewendet wird, für die höhere Architektur aber fast gänzlich verloren gegangen ist, und auch derseitige Bemühungen mehrerer Architekten der neueren Zeit nicht hinreichend bekannt geworden zu sein scheint.46

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Die drei Beamten sind offensichtlich mit den neuesten Entwicklungen außerhalb Preußens  – Sempers Dekorationen am neuen Hoftheater in Dresden (1841)  – vertraut und ­ziehen daher die Verwendung von Sgraffito für das Schloss Liegnitz in Betracht. Auch wenn die Oberbauräte von einer Gestaltung der gesamten Schlossfront in Sgraffito ab­ raten, ist ihr die Technik insgesamt betreffendes Fazit eindeutig: Der Professor Semper in Dresden hat einen Theil der Facade des dortigen Theaters in dieser Art geschmückt, und der mitunterz: Ober Bau Rath Stüler Einleitungen getroffen, dieselbe bei Decoration der inneren Höfe des neuen Museums [in Liegnitz] anzuwenden. Hiernach können wir nur wünschen, daß auch an anderen Orten zur Wiederbelebung dieses ­Arbeitszweiges bei[ge]tragen werde, wir selbst werden nicht unterlaßen auf passende Gelegenheiten aufmerksam zu machen, die in unserem Geschäftskreise sich darbieten sollten. Dabei wird man jedoch anfangs zu große Ausdehnung der zu verzierenden Flächen, und namentlich auch solche Ornamente, zu deren Ausführung eine künstlerische Durchbildung erforderlich ist, vermeiden müssen, um durch das mögliche Mißlingen, nicht von weiteren Versuchen abzuschrecken.47

Der Brief schließt mit einigen denkmalpflegerischen Empfehlungen, wobei die Autoren wiederum auf Alexander von Minutoli verweisen, der zu diesem Zeitpunkt in Liegnitz eine Mustersammlung für Handwerk und Kunstgewerbe aufbaute. In Schlesien sind übrigens, wie Herr von Minutoli richtig anführt, noch an manchen alten Gebäuden Sgraffito Verzierungen vorhanden, deren Erhaltung wünschenswerth ist; hierauf kann jedoch, sofern die betreffenden Gebäude im Besitz von Privatpersonen sich befinden, nur selten mit ­Erfolg eingewirkt werden, weshalb es rathsam erscheint, von einigen, werthvollen Ueberresten der Art wenigstens genaue Zeichnungen aufnehmen zu lassen, wozu z. B. dem Schlosse zu Wartau bei Bunzlau, dessen Fassaden mit reichen zum Theil wohl erhaltenen Sgraffito Ornamenten bedeckt sind – [Einschub unleserlich] Dieselben sind nach Angabe des mitunterzeichneten G. O. B. R. Busse, welcher im Jahre 1843 sie gesehen, und in diesem Jahre näher untersucht hat, mit ziemlicher Gewandtheit ausgeführt, und eignen sich deshalb zu Vorbildern, für Handwerker, welchen die Ausführung von Arabesken und Linienornamenten in dieser Manier aufgetragen werden möchte. Die Darstellung jener Verzierungen ist nicht ohne Geschmack, und deshalb eine genaue Aufnahme der gedachten Fassade wünschenswerth.48

Wie die von Alexander von Minutoli vorgeschlagenen Sgraffito-Dekorationen in Liegnitz ausgesehen hätten, ist unbekannt, doch es ist anzunehmen, dass sich seine Vorstellungen mehr an den schlesischen Fassaden orientierten als an den italienischen.49 Alexander von Minutoli (1806–1887), Sohn des preußischen Offiziers, Prinzenerziehers und Altertums­ forschers Heinrich Menu von Minutoli, war 1839 Dezernent für Gewerbeförderung in

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Schlesien geworden.50 An frühere Forschungen zur regionalen Architekturgeschichte in Brandenburg anknüpfend,51 begann er bald darauf mit der Erfassung der noch in ­großer Zahl erhaltenen schlesischen Sgraffito-Fassaden des 16. und 17. Jahrhunderts, wie einem vermutlich von ihm 1853 im Deutschen Kunstblatt lancierten Artikel zu entnehmen ist52: Hr. v. Minutoli, der sich schon seit 12 Jahren bemüht hat, dieser alten trefflichen und gerade für die Provinz so geeigneten Verzierungsweise wieder Eingang zu verschaffen, hat auch, wie wir vernehmen, seine weitere Vermittlung zur Herstellung des Denkmals geboten. Es würde eine solche um so gewünschter erscheinen, als die gering gewordene Zahl der Reste dieser Kunst täglich sich noch vermindert. Vom Jahre 1839 an, wo Hr. v. M. die damals noch ziemlich zahlreich vorhandenen Denkmäler dieser Art notirte und theils selbst aufnahm, theils durch Künstler aufnehmen ließ, sind vielleicht bereits neun Zehntheile derselben vernichtet. Um sie der Nachwelt zu erhalten, hat er, wie uns aus sicherer Quelle zugeht, schon im Jahre 1840 die Herausgabe seiner interessanten Zeichnungen vorbereitet, wurde aber durch seine amtlichen Geschäfte an der Emanirung behindert. Möchte er sich doch veranlasst fühlen, recht bald mit der Bekanntmachung dieser für die Bau- und Kunstgeschichte so höchst interessanten Denkmäler vorzugehen und hierin das für die Anwendung so wichtiger Ueberreste geeignetste Mittel zu ergreifen.53

Angesichts der rapide fortschreitenden Zerstörung der schlesischen Sgraffito-Fassaden setzte sich Minutoli für ihre Erhaltung ein.54 In Anbetracht der Eigentümerrechte waren aber, wie das Gutachten der Oberbaudeputation beklagt, die Möglichkeiten gering bzw. auf die Erfassung des Bestandes beschränkt. Wohl auch deshalb bemühte sich Alexander von Minutoli als für die Gewerbeförderung zuständiger Regierungsrat um die Wieder­ belebung der Sgraffito-Technik. Sein Vorschlag, sie am Liegnitzer Schloss anzuwenden, korrespondierte mit seinem Plan, dort eine „Ausstellung einer Vorbildersammlung für Handwerker und Gewerbetreibende“ einzurichten. Minutoli wollte durch die Gründung eines Kunstgewerbe-Museums – dem ersten in Europa – dem lokalen Handwerk durch die Orientierung an historischen Vorbildern und die Wiederaufnahme vergessener Techniken neue Perspektiven eröffnen.55 Hierin unterschied sich sein Zugang zur Sgraffito-Kunst eindeutig von dem der zeitgenössischen Architekten, denen die italienischen Beispiele aus dem 16. Jahrhundert als alleiniger Maßstab galten. Quasi zeitgleich mit Minutolis Projekt zur Erfassung der schlesischen Fassaden entstanden 1841 in Dresden Gottfried Sempers erste Sgraffito-Dekorationen. Dieser hatte dort, wie im Liegnitzer Gutachten knapp erwähnt, die oberen Wandfelder an der Fassade des Königlichen Hoftheaters in Kratzputz verzieren lassen.56 Semper war 1834 zum Professor an der Dresdener Akademie der bildenden Künste berufen worden;57 der 1835 konzipierte und drei Jahre später begonnene Theaterneubau sollte als sein (neben der Synagoge) erstes Großprojekt in der sächsischen Hauptstadt den Auftakt zur Neugestaltung des östlichen Zwingerareals bilden.58 Die von ihm an der Theaterfassade verwendeten Architek-

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turelemente waren ganz der Baukunst an der Wende zum Cinquecento verpflichtet, mit der Semper nicht zuletzt durch seine beiden Italienaufenthalte zwischen 1830–1833 aus eigener Anschauung vertraut war. In Rom, Florenz und Pisa hatte er gewiss auch SgraffitoFassaden gesehen,59 vermutlich sogar die von Viollet-le-Duc beinahe zeitgleich (1836) gezeichnete aktuelle Dekoration des Palazzo Dardinelli in Florenz. Auch wenn es hierfür keinen Beleg gibt, so ist diese Annahme angesichts der Lage desselben an einer der Hauptachsen der Stadt, unweit des Palazzo Medici-Ricardi und von San Marco durchaus berechtigt. In Dresden selbst war die zu Sempers Zeit längst verlorene Fassadengestaltung des Residenzschlosses (Sgraffito, 1550–1552) und am Stallhof (Chiaroscuro, 1587–1591) in Gemälden, Stichen und einem detailreichen Schlossmodell präsent geblieben.60 Auf das Residenzschloss nimmt Semper allerdings in keiner seiner Veröffentlichungen Bezug. In dem 1849 erschienenen, in doppeltem Folio-Format gedruckten Stichwerk Das Königliche Hoftheater zu Dresden äußert sich der Architekt im Text zu Tafel II (Ansicht des Theaters) allein zur Technik, zur beabsichtigten Wirkung und zur Haltbarkeit: Die genannte volle Mauer ist von dem Maler Herrn Rolle aus Dresden mit Arabesken in sgraffito verziert. Zu dem Ende wurde sie zuerst mit einer Schicht von grauschwarzem Mörtel beworfen, zu dessen Anfertigung die Schlacke der Steinkohle statt des Sandes diente, und darüber ein dünner Ueberzug von reinem Kalk gelegt. Die Eingrabung der Figuren in den weissen Ueberzug, geschah unmittelbar nach dem Bewurf in den nassen Putz; weshalb der Bewurf nur stückweise, wie bei der Freskomalerei, nach Maasgabe des Fortschreitens der Zeichnungen auszuführen war. Diese Verzierungsweise ist an hohen Orten, die aus der Ferne sichtbar sind, besonders empfehlenswerth und der Sculptur aus dem Grunde vorzuziehen, weil letztere entweder, wenn sie flach (en bas-relief) ist, von weiter Entfernung aus gar nicht wirkt, oder, wenn sie hoch (en ronde bosse) gehalten ist, dadurch ihre Wirkung verfehlt, weil, von einem niedrigen Standpunkt aus betrachtet, Theile des Bildes durch die hohen Vorsprünge versteckt werden, und die Untersichten der ­Figuren auf unnatürliche Weise zu effektvoll hervortreten. Der während des Zeitraumes von 6 Jahren, seit der Zeit ihres Entstehens, bis jetzt unverändert gebliebene Zustand dieser Verzierungen, bürgt für die grosse Dauerhaftigkeit der Methode, ­wodurch letztere sich zu öfterer Anwendung auch in unserem rauhen Clima besonders eignet.61

Im letzten Satz spielt Semper auf das kurz vor der Publikation des Stichwerkes für seinen Bruder, den Apotheker Wilhelm Semper, zwischen 1842 und 1846 erbaute Wohnhaus in Hamburg an.62 Wie am Hoftheater übertrug er die Gestaltung und Ausführung der die gesamte Fassade überziehenden Sgraffito-Dekoration dem Dresdener Maler Karl Gottlieb Rolle. In einem (unsignierten) Artikel in Ludwig Försters Allgemeiner Bauzeitung von 1848 wird das Gebäude vor allem wegen seiner Außengestaltung gelobt: ja, es müsse sogar „als eines der künstlerisch gediegensten Werke angesehen werden, welche seit dem großen Brande in Hamburg [8. Mai 1842] entstanden sind und welche diese Stadt überhaupt besitzt.“63 Zeitgleich zur Ausführung der Fassade in Hamburg hatte sich Semper mit einem

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Brief an den Erbgroßherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar gewandt, um ihn – vergeblich – von einer Sgraffito-Dekoration an der dem Weimarer Stadtschlosses gegenüberliegenden Fassade des Vorwerks zu überzeugen.64 Vergleicht man Sempers heute verlorene, aber durch Stiche, Aufrisse und Fotografien dokumentierte Gestaltungen in Dresden und Hamburg mit den Fassaden des 16. Jahr­ hunderts sind die Unterschiede unübersehbar: Während in der Renaissance in der Regel die hellen Ornamente vor einem dunklen Hintergrund stehen und so an ihre Herkunft aus der Bauplastik erinnern, ist bei Semper und den meisten seiner Nachfolger die Anordnung umgekehrt. Semper rechtfertigt dies damit, dass „die schwarze Masse an der weißen Masse zehrt“ und argumentiert stattdessen für „die reine Zeichnung, wobei nur die Umrisse der Figuren herausgekratzt und die inneren Partien derselben mit Schraffirungen herausgehoben werden.“65 Die Darstellung architektonischer Elemente hält er für ungeeignet: „Im Ganzen gilt der Satz: die Mauerfläche muß Fläche bleiben. Die Dekoration überschreite das Gebiet der Flächenverzierung so wenig wie möglich; sie werde nicht zu plastisch, naturalistisch, sie vermeide Löcher und Vorsprünge.“66 Dies lässt sich auch bei Sempers berühmtester SgraffitoArbeit, der Fassade am Zeichensaal-Trakt des Züricher P ­ olytechnikums beobachten.

23  Zürich, Tannenstraße, Eidgenössische Technische Hochschule, Fassade mit Sgraffito-Dekoration nach Entwürfen von Gottfried Semper, 1858 und 1864 (rekonstruiert).

Semper hatte nach mehrjährigen Exil wegen seiner Beteiligung am Dresdener Mai-Aufstand von 1849 im Jahr 1855 auf Vermittlung seines Mitkämpfers Richard Wagner eine Professur für Baukunst am gerade gegründeten Eidgenössischen Polytechnikum erhalten;

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kurz darauf begannen die Arbeiten an dem von Semper entworfenen neuen Hochschulgebäude.67 Die Ausführung nach Sempers im Archiv der ETH Zürich erhaltenen Zeichnungen übernahmen die Dresdener Historienmaler Karl Gottlob Schönherr und Adolf Wilhelm Walther.68 Sie wirken wie ins Monumentale vergrößerte Stiche, womit sie den Bildern in den französischen Stichwerken näher stehen als den immer wieder aufgerufenen italienischen Dekorationen. Der Bewunderung von Sempers Sgraffito-Fassaden tat das keinen Abbruch, im Gegenteil, sie wurden nun zum Vorbild.

Die Etablierung der Sgraffito- Technik ab den 1860er Jahren Sempers, durch seine Bauwerke und mit Hilfe seiner Publikationen propagierte Wiederentdeckung der Technik, Försters Interesse und Minutolis Forschungen, aber auch die wachsende Aufmerksamkeit von Kunsthistorikern wie Jacob Burckhardt, der im 1855 erstmals veröffentlichen Cicerone Sgraffito-Fassaden in Florenz und Rom beschreibt,69 trugen dazu bei, Kratzputzfassaden für Architekten und Auftraggeber zu einer interessanten und, wie immer wieder betont wurde, kostengünstigen Alternative zu anderen Arten der Fassadendekoration werden zu lassen. Ihren Durchbruch erlebte die Technik – als „die absolut stilvollste Behandlungsart der kalkverputzten Mauer“70 gepriesen – jedoch erst kurz nach der Mitte der 1860er Jahre. In vielen deutschen, österreichischen und böh­mischen Städten wurden neuerrichtete Gebäude mit Sgraffito-Dekorationen versehen,so beispielsweise das Universitätsgebäude in Rostock (1868),71 Heinrich von Ferstels k. k. Österreichisches Museum für Kunst und Industrie (heute: Museum für Angewandte Kunst in Wien, 1870–1871)72 und die Vyšší dívcˇí škola (Städtische Schule für Höhere Töchter, 1868–1871) in der Prager Neustadt.73 Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 reklamierte der italienische Pavillon Sgraffito als italienischen Nationalstil.74 Seine Außenwände waren mit einer gekratzten DiamantQuaderung versehen, wie sie vor allem an Fassaden in Rom zu beobachten ist, das zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht italienische Hauptstadt war. Regierungssitz war stattdessen bis 1870 Florenz, wo die Technik ebenfalls unübersehbar seit Jahrhunderten zum Stadtbild gehörte und nun wieder in Mode kam.75 Die frühe klassizistische Fassadengestaltung des Palazzo Dardinelli hatte dort allerdings keine Nachfolge gefunden; die von Florentiner Künstlern 1854 im Auftrag der Familie Buturlin am Palazzo Niccolini in der Via de’ Servi (1542–48) ausgeführten Sgraffito- und Freskodekorationen nahmen sich stattdessen Fassaden der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Vorbild.76 Das wachsende Interesse an historischen Techniken und Dekorationsformen wurde in Florenz von der in Reaktion auf den Flächenabriss im Rahmen des risanamento erfolgten Wiederentdeckung des ­Firenze antica in den 1880er Jahren befeuert.77 Bedauerlicherweise zog jedoch die neue Wertschätzung des alten Florenz nicht die Bewahrung weitgehend erhaltener früher Sgraffito-Fassaden nach sich, sondern manifestierte sich zuerst in deren selbstbewusster

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24 Prag, Vyšší dívcˇí škola (Städtische Schule für höhere Töchter), Fassade mit Sgraffito-Dekoration, 1868–71 (restauriert).

Rekonstruktion, die sich zumeist nur sehr allgemein am überkommenen Bestand orientierte. Neben den Rekonstruktionen entstanden in Florenz zahlreiche neue Sgraffito-Fassaden,78 die nicht nur die Begeisterung für die wiederentdeckte Technik bezeugten, sondern auch als Propagandisten eines neuen Lokalpatriotismus fungierten. Dies ist bei zwei Projekten besonders augenfällig: Im Jahr 1874 entwarfen mehrere Maler und Architekten anlässlich von Michelangelos 400. Geburtstag (1875) für die Fassade der Casa Buonarroti eine aufwändige, allerdings nie ausgeführte Sgraffito-Dekoration,79 und 1886 erhielt der zum 500. Geburtstag von Donatello am Palazzo Naldini angebrachte Relieftondo mit Widmungstafel eine Rahmung mit Sgraffito-Ornamenten.80 Die Qualität der zahlreichen Nachund Neuschöpfungen erwies sich jedoch als so mangelhaft, das ihre Erhaltung bis heute ein denkmalpflegerisches Problem darstellt.81

Sgraffito gedruckt Begleitet wurde die Sgraffito-Mode der 1860er Jahre von zahlreichen Artikeln in Kunstund Architektur-Zeitschriften und sogar Büchern.82 Neben deutschsprachigen Blättern thematisierten vor allem tschechische Zeitungen  – wegen der starken böhmischen

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­Sgraffito-Tradition mit einem nationalen Unterton – die Wiederaufnahme der Technik;83 italienische Beiträge aus dieser Zeit sind hingegen erstaunlich rar. Unter den deutschen Publikationen markieren zwei Beiträge den Beginn der intensiven publizistischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Im Januar 1867 erschien in der Zeitschrift für Bauwesen der Artikel „Die Sgraffitomalereien der Burg Tschocha in der Lausitz“.84 Sein Autor ist der erst 22jährige Max Lohde, Sohn des Berliner Architekten, Kunsthistorikers und Bauforschers Ludwig Lohde (1806–1875),85 der in den 1840er Jahren zur Redaktion der Allgemeinen Bau­ zeitung von Ludwig Förster gehört hatte.86 Bevor Lohde zum eigentlichen Thema seines zwei Seiten langen Textes kommt, führt er seine Leserinnen und Leser in die Thematik ein: Herkunft des Begriffs, Herstellungstechnik, Vasaris Beschreibung, Beispiele aus Florenz und Rom, Darstellungen in den maßgeblichen französischen Stichwerken, Ausbreitung nach Deutschland, Böhmen und Österreich. Auf die Beschreibung der Fassaden in Tzschocha folgt eine ausführliche Würdigung der Bemühungen Minutolis um die Erfassung des schlesischen Bestandes, aus dessen unpublizierten Schriften er eine längere Passage zitiert. Lohde schließt mit dem Verweis auf die jüngst erfolgte Wiederaufnahme der Technik, dem fast obligatorischen Lob von Sempers Verdiensten und einem höchst pathetischen Satz: Hoffentlich werden dies nicht die einzigen Versuche sein die langweilende Eintönigkeit unserer Façaden durch freie künstlerische Zier-Elemente wohlthuend zu unterbrechen, denn keine Technik bietet dem Architekten die Möglichkeit, monumentale Malerei auf so billige und dauerhafte Weise anwenden zu können, als das allo sgraffitto.87

Sein Engagement für das Dekorieren von Gebäuden in Sgraffito blieb nicht unbeachtet: Noch 1867 konnte er stolz vermelden: „[D]er Herr Handelsminister empfahl es allen Regierungen“ des Königreiches Preußen.88 Im selben Jahr wurde in München und Berlin das Buch Die Anwendung des Sgraffito für Façaden-Decoration. Nach italienischen Original­ werken dargestellt und bearbeitet von Emil Lange und Joseph Bühlmann, Architekten, unter Mitwirkung von Ludwig Lange, Baurath & Professor an der k. Akademie zu Mün­ chen veröffentlicht.89 Es bietet auf zwei Seiten einen allgemein gehaltenen Überblick zur Geschichte des italienischen Sgraffito und zu dessen Wirkung sowie knappe Informationen zur technischen Ausführung. Hierfür berufen sich die Autoren auf Vasaris Beschreibung in der Introduzione alle tre arti del disegno und ein Rezept von Emilio De Fabris, der heute vor allem für seine neogotische Eingangsfassade des Florentiner Doms bekannt ist.90 An den Text schließen fünf Tafeln mit sauber gestochenen Fassadenaufrissen, Details und Ornamenten an, die ältere Darstellungen wiederholen, offenbar aber auch Neuaufnahmen wie von der Fassade des Palazzo Spinelli in Florenz beinhalten. Der beigegebene Text wirbt wie Lohdes Artikel für eine Wiederaufnahme der Sgraffito-Kunst: Der gleiche Schmuck und die gleiche künstlerische Belebung, wie sie das Sgraffito bei Werken der Renaissance hervorbringen konnte, lassen sich mit Recht auch bei Bauten einfacher Art in der

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Neuzeit erwarten, um so mehr als die moderne Anwendung dieses Verfahrens auch ausserhalb Italien[s], wie in Deutschland von Prof. Semper (Sgraffito-Decorationen am Dresdener Theater, Züricher Polytechnicum, sowie an einigen Privatbauten) mit Erfolg durchgeführt, dessen Werth und Bedeutung auch für unser nordisches Klima zu begründen half.91

Das Buch von Lange und Bühlmann wurde im Jahr darauf in mehreren Blättern rezensiert, unter anderem von Max Lohde in der Zeitschrift für Bauwesen.92 Lohde hatte zu diesem Zeitpunkt schon erste eigene Arbeiten in Sgraffito geschaffen und seine Entwürfe umgehend in einem großformatigen Tafelwerk drucken lassen.93 Wenige Monate später erschien ein weiterer Artikel Lohdes, für den er begeistert Nachrichten zum Thema Sgraffito zusammengetragen hatte: ein paar Bilder in einem neuen Buch aus England, unbekannte Fassaden in Florenz, Pavia, Brescia und der Lausitz, Sgraffito auf der Weltausstellung in Paris usw. Sein erklärtes Ziel: „Mögen diesselben aber hauptsächlich für das Sgraffito immer mehr und mehr warme und thätige Freunde gewinnen.“94 Über die Entwicklung in Österreich konnte man im März 1868 in Kunst und Gewerbe. Zeitschrift zur Förderung deutscher Kunst-Indus­ trie in einem nicht gezeichneten Artikel lesen: „Autoritäten wie Hansen, Ferstel etc. reden dem Sgraffito eifrig das Wort und so werden wohl in Bälde unsre [sic] Gebäude mit einem Schmuck bekleidet erscheinen, der passender nicht gedacht werden kann.“95 Bereits im ­Januar 1868 hatte sich Gottfried Semper in der Kunstchronik selbst zu Wort gemeldet,96 ohne aber auf das kurz zuvor erschienene Buch von Lange und Bühlmann einzugehen. Er habe, wie er schreibt, „von verschiedenen Seiten um Auskunft gebeten“, „einige Notizen“ aufgesetzt.97 Semper konstatiert mit Befriedigung, dass sich „die allgemeine Aufmerksamkeit der Architekten und Dekorateurs endlich diesem uralten Verzierungsverfahren wieder zugewandt“ habe, nachdem er „dasselbe schon vor mehr als 20 Jahren zum ersten Male seit der Zeit der Renaissance für Deutschland in’s Leben gerufen hatte.“ Nachdem Semper noch einmal die üblichen Basisinformationen zur Geschichte und Wirkung von Sgraffito zusammengefasst hat, liefert er ein eigenes, „durch viele Versuche auf rein empirischem Wege“ gewonnenes Rezept. Vasaris ausführliche Beschreibung der Technologie benutzt und erwähnt er nicht. Mit seinem Rezept komme man, so Semper, zu einem Bewurf, „der wie zu Glas erhärtet, niemals blättert oder Risse bekommt, jeder Witterung trotzt und jeden gewöhnlichen, ja selbst den Cement-Mörtel an Dauer und Festigkeit übertrifft.“

Haltbarkeit und Erhaltung von Sgraffito -Dekorationen des 19. Jahrhunderts Semper steigert in seiner Lobrede auf das von ihm entwickelte unverwüstliche Sgraffito die seit Vasari mit der Technik verbundene Vorstellung größter Haltbarkeit in bislang unbekannte Dimensionen. Schon im Zusammenhang mit den Dekorationen an seinem Dresdener Theater hatte Semper „die grosse Dauerhaftigkeit der Methode“ gelobt98, eine nur

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noch schwer überprüfbare Aussage, denn 1869 brannte das Gebäude ab. Die offenbar rasch entstandenen unschönen Flecken auf der Sgraffito-Fassade in Hamburg schiebt Semper in seinem Aufsatz dem ausführenden Künstler in die Schuhe.99 Auch Max Lohde wird nicht müde, die „Dauerhaftigkeit“ von Sgraffito zu preisen und kritisiert die falsche Ritztechnik anderer Künstler.100 Zu den Dekorationen am Berliner Stadtgericht, die nach nur zwei Jahrzehnten nicht mehr zu erkennen waren, schreibt er: „Ob die Ursache im Putze lag oder in der vielleicht zu reichen Anwendung der Strichlagen, die den Kalk in zu kleine Theilchen schnitten, vermag der Verfasser nicht zu entscheiden [...].“101 Obwohl Lohde am Berliner Sophien-Gymnasium (Weinmeister-Straße 15) versuchte, diesen Fehler zu vermeiden, war sein Fassadenfries innerhalb weniger Jahre so verwittert, dass er durch nach seinen Entwürfen bemalte Terrakottaplatten ersetzt werden musste.102 Er selbst hatte selbst keine Gelegenheit mehr, seine Technik zu korrigieren, da er noch 1868 auf einer ItalienReise starb.103

25  Berlin, Weinmeister-Straße 15, ehem. Sophiengymnasium, Fassade mit Terrakotta-Fries nach Max Lohdes Sgraffito, ca. 1866.

Ein vergleichbares, aber prominenteres Beispiel für die Reproduktion einer rasch verfal­ lenen modernen Sgraffito-Dekoration in einem haltbareren Material ist der Dresdener Fürstenzug. 1864 nahm der Maler Adolf Wilhelm Walther, durch die Arbeit an Sempers Züricher Polytechnikum mit der aktuellen Ausführungspraxis vertraut, am Wettbewerb um die Neugestaltung der Stallhof-Fassade teil.104 Seinen Vorschlag, die 102 m lange Rückfront des Gebäudes mit einem monumentalen Sgraffito-Fries zu schmücken, durfte Wal-

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ther ab 1869 umsetzen; die Arbeit dauerte sieben Jahre. Schon zwei Jahrzehnte Jahre nach der Fertigstellung waren die Schäden so gravierend, dass, wie das 1903 erschienene Buch Der Fürstenzug auf dem Sgraffito-Fries am Königl. Schloss zu Dresden vermeldet, „die unbegrenzte Haltbarkeit des Frieses selbst in Frage gestellt ist“ und „eventuell für später eine Erneuerung mit Keimscher Kasein-Farbe in Aussicht genommen werden soll“.105 Als 1906 das Bild schließlich abgeschlagen wurde, ersetzte man es im Jahr darauf „durch in der Fläche bemalte, hydraulisch gepresste Hartporzellanplatten“106, die den Entwürfen Walthers folgten. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts konnte freilich die Technologie verbessert und so die Haltbarkeit der Dekorationen gesteigert werden, auch wenn sie an die Qualität der italienischen Putze des 15. und 16. Jahrhunderts nicht heranreichten. Die parallel unternommenen Versuche, der gefärbten Putzschicht und dem Überzug durch Zugabe von ­Pigmenten eine andere Wirkung als den klassischen Grau/Weiß-Kontrast zu geben, mündeten in der Entwicklung von Techniken, die mehrere Farben gleichzeitig zuließen.

Eine Sgraffito -Dekoration des späten 19. Jahrhunderts in Berlin Ein Beispiel für den routinierteren Umgang mit der Sgraffito-Technik konnte ich für das Berliner Landesdenkmalamt im Frühjahr 2015 selbst untersuchen.107 Ziel des Auftrags war es, die Sgraffito-Dekorationen an den 1878–1882 von den Architekten Martin Gropius und Heino Schmieden als Klinische Universitäts-Anstalten errichteten Gebäuden in der Ziegelstraße 5–9 in Berlin-Mitte zu dokumentieren und Vorschläge zum Umgang mit dem erhaltenen Bestand zu entwickeln. Von den straßenseitigen Dekorationen sind nur noch sechs Felder übrig. Sie sind von Olivenzweigen, Girlanden und Eichenlaub umgebenen und von einer Schale mit Flammen bzw. Obst bekrönten Kartuschen mit Drache bzw. Äskulapstab verziert. Die Felder sind stark verschmutzt, der Kalkputz ist entfestigt, die gefasste Oberfläche vergipst und zum Teil ausgewaschen. In den unteren, stärker bewitterten Bereichen zeigen sich zahlreiche Fehlstellen bis hin zum vollständigen Verlust der Gestaltung. An der Stirnseite des westlichen Pavillons im Hof befinden sich zwei weitere Sgraffito-Felder. Während das rechte ein ähnliches Schadbild wie die straßenseitigen Dekorationen aufweist, ist das linke, momentan durch eine Verbretterung geschützte Feld überraschend gut erhalten. (Farbabb. 5) Zu sehen ist hier eine Kombination verschiedener Zierelemente: eine Vase mit Blüten und Ananas, ein geflügelter Puttenkopf, ein von gekreuzten Zweigen hinterfangenes ­Medaillon mit einer Öllampe und einer Flammenschale. Die beiden Grundfarben – der braun-violette Putzton und der gelbe Überzug – ergänzen farbig gefasste Partien in Rot (Medaillon) und Grün (Blätter). Die chemische Untersuchung zweier in diesem Bereich entnommener Proben ergab als Farbpigment für den Mörtel Caput Mortuum, ein braun-

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violettes Eisen(III)-oxid, und für den Überzug einen Zusatz von ungebranntem Ocker; die Rot- und Grüntöne wurden nicht bestimmt. Die Ausführung entspricht nur in etwa dem klassischen Sgraffito, noch weniger aber den zum Teil phantastischen zeitgenössischen Rezepten. Auf dem Mauerwerk liegen ein grober und ein feinerer Unterputz, darüber der gefärbte Mörtel, dann der Anstrich mit Kalkfarbe – hier vermutlich, darauf lässt das Krakelee schließen, mit Kasein- bzw. vielleicht sogar Leinölzusatz. (Farbabb. 6) Die Übertragung der Motive erfolgte wahrscheinlich mit Schablonen, worauf schmale, neben der eigentlichen Ritzung liegende Linien hinweisen. Anschließend wurden ausgewählte Bereiche in Rot und Grün ausgelegt. Das darauf folgende Einritzen der Motive beschränkte sich im Wesentlichen auf die Konturen; wie gewohnt wurde auf das in der Renaissance übliche Freischaben des Hintergrundes verzichtet. Das Gutachten empfiehlt die Bewahrung der Sgraffito-Felder an ihrem Anbringungsort. In Anbetracht ihres pre­ kären Zustandes und ihrer Position werden jedoch die Restaurierung und das anschließende Monitoring für den Träger mit Kosten verbunden sein. Eine Entscheidung über ihre Zukunft ist noch nicht getroffen; zu hoffen ist, dass die Denkmalschutzbehörde die Er­ haltung der Dekorationen in situ durchsetzt, denn abgesehen davon, dass sie zu einem komplexen gestalterischen Konzept gehören, sind solche Arbeiten bewahrenswert, weil sie vergleichsweise frühe und authentische Zeugnisse einer Wiederaufnahme bzw. Neu­ erfindung einer historischen Technik sind.108 Zum Zeitpunkt der Entstehung der Sgraffito-Dekorationen in der Berliner Ziegelstraße hatten sich in Europa sowohl die Technik als auch der verwendete Formenschatz bereits erheblich ausdifferenziert: Die ‚unzeitgemäße’ Technik traf offenbar den Zeitgeschmack. Hierin offenbart sich aber weniger ein Paradox als die der Frage nach der Rolle der ‚unzeitgemäßen Techniken’ im 19. Jahrhundert innewohnende Dialektik. Wiederaufnahme, Anpassung, Transfer und Umkodierung von Techniken vergangener Epochen lassen sich geradezu als entscheidendes Charakteristikum der historistischen Architektur bezeichnen. Hinter dem Interesse an den Dekorationstechniken stand die Erwartung, durch ihre Wiederaufnahme und Praktizierung zur – selbstverständlich imaginierten – Kraft, Reinheit und Unverdorbenheit der (Bau-)Kunst des Mittelalters und der Renaissance zurückzufinden, ein Konstrukt mit erheblichem semantischen Potenzial. So wurde die Sgraffito-Technik gleich in mehreren Ländern zum Merkmal und adäquaten Ausdruck der jeweiligen ‚nationalen’ Architektur erklärt und entsprechend eingesetzt.109 Ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Nebeneffekt dieser Aufladung war die Entwicklung denkmalpflegerischer Ansätze, die freilich sowohl die Bewahrung des Bestandes als auch die ­Zerstörung historischer Dekorationen durch nachahmende Rekonstruktionen mit sich brachte.

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Anmerkungen  1 Andreas Huth, Albaria insignita. Zur Technologie der Sgraffito-Dekorationen des 15. Jahrhun­ derts in Florenz, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 28, 2014, S. 5–28; ders., Florentiner Sgraffito-Dekorationen des 14. und 15. Jahrhunderts, (Diss. FU Berlin, 2016), 2 Bde., hier: Bd. 1, S. 96–122 [Publikation erscheint 2018]. Einen internationalen Überblick zu SgraffitoTechniken bietet Rafael Ruiz Alonso, Esgrafiado. Materiales, técnicas y aplicaciones (Corrientes nacionales e internacionales del esgrafiado 1), Segovia, 2015. Für 2018 ist die Veröffentlichung der auf der Tagung Sgraffito im Wandel/Sgraffito in Change (2.–4. November 2017, HAWK Hildesheim, hrsg. von Angela Weyer) gehaltenen Vorträge angekündigt, bei denen überwiegend technologische und konservatorische Probleme im Mittelpunkt standen.  2 Zur Erfindung der Technik und ihrer Entwicklung in Florenz im 15. Jahrhundert: Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 1, S. 49–68. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisteten Christel Thiem und Gunther Thiem, Toskanische Fassaden-Dekoration in Sgraffito und Fresko. 14.–17. Jahrhundert (Italieni­ sche Forschungen 3), München 1964. Über den Zeitrahmen der genannten Arbeiten hinausreichend: Andreas Huth, „Degli sgraffiti delle case ...“ Die Sgraffito-Technik in Italien von ihrer Ent­ deckung im Trecento bis zur Gegenwart, in: Sgraffito im Wandel/Sgraffito in Change 2018 (Anm. 1).  3 Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 2 – Katalog.  4 Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 2 – Katalog, Nr. 2, 4, 20, 22, 32.  5 Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 1, S. 215–216. Die römischen Sgraffito-Dekorationen erfassen: Umberto Gnoli, Facciate graffite dipinte a Roma. Elenco delle case graffite e dipinte in Roma, in: Il Vasari 14/15, 1936/37, Heft 3–4, S. 101–123; ders., Facciate graffite dipinte a Roma (Fortsetzung des Elenco delle case graffite e dipinte in Roma, 1936/37), in: Il Vasari 16, 1938, Heft 4, S. 24–49; Le case romane con facciate graffite e dipinte, Ausst.-Kat., (Rom, Museo di Roma, 1960), hrsg. von Cecilia Pericoli Ridolfini, Rom 1960; Maria Errico u. a., Ricognizione e schedatura delle facciate affreschate e graffite a Roma nei secoli XV e XVI, in: Bollettino d’arte 33/34, 1985, S. 53–134.  6 Franz Ehrle, Enrico Stevenson, Gli affreschi del Pinturicchio nell’Appartamento Borgia del Palazzo Apostolico Vaticano, Rom 1897, S. 31–33, hier S. 32.  7 Zur Sgraffito-Dekoration im Palazzo di Rodrigo Borgia: Christoph Luitpold Frommel, Il Palazzo Sforza Cesarini nel Rinascimento, in: Palazzo Sforza Cesarini, hrsg. von Lucia Calabrese u. a., Rom 2008, S. 23–44; Errico 1985 (Anm. 5), S. 78–79, Kat. Nr. 8. Zur Sgraffito-Dekoration des Palazzetto di Marco Barbo: Errico 1985 (Anm. 5), S. 118–120, Kat. Nr. 29.  8 Enzo Carli, Pienza. La città di Pio II, Rom 1966; Nicholas Adams, The Acquisition of Pienza, 1459– 1464, in: Journal of the Society of Architectural Historians 44, 1985, Heft 2, S. 99–110; Charles Randall Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, Ithaca/London 1987; Andreas Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus (Veröffentlichungen der Bibliotheca Hertziana 26), München 1990; Nicholas Adams, Pienza, in: Il Quattrocento (Storia dell’architettura italiana 2), hrsg. von Francesco Paolo Fiore, Rom 1998, S. 314–329.  9 Siehe u. a. Karte in Giancarlo Cataldi und Fausto Formichi, Pienza forma urbis. Materiali per il Museo della Città e del Territorio, Florenz 2004, S. 112–113; Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 1, S. 223. 10 Zu den Gebäuden zuletzt und mit Literaturübersicht: Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 1, S. 224–227. 11 Einen Überblick hierzu bietet: Margit Kohlert, Sgraffito-Fassaden nördlich der Alpen, in: Le fac­ ciate a sgraffito in Europa e il restauro della facciata del Palazzo Racani-Arroni in Spoleto (Miscellanea/Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 10), Spoleto 2000, S. 17–34. Unter den neueren Studien zur regionalen Verwendung von Sgraffito sind zu nennen: Wolfgang Westerhoff, Sgraf­ fito in Österreich: eine Übersicht (Medium aevum quotidianum 23/24), Krems 2009; Pavel Waisser,

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Renesancˇní figurální sgrafito na pru˚cˇelích moravských meˇstských domu˚, Olomouc 2014; Tadeusz M. Rudkowski, Polskie sgraffita renesansowe, Warszawa 2006; Marzanna Jagiełło-Kołaczyk, Sgraffita na S´la¸sku: 1540–1650, Wrocław 2003. Eine umfassende Arbeit zur Verwendung von Sgraffito im deutschsprachigen Raum insgesamt fehlt bislang ebenso wie vertiefende Untersuchungen zu einzelnen Regionen. 12 Das schloss den Einsatz der Technik für Reparaturen und Ergänzungen nicht aus. So wurde in Florenz die Fassade des Palazzo di Dietisalvi Neroni (um 1450) im Jahr 1682 an der Nordseite um zwei Achsen verlängert. Die Ergänzung erreicht jedoch nicht die Qualität der Quattrocento-Dekoration; Fabrizio Bandini u. a., Il graffito quattrocentesco della facciata del Palazzo Gerini-Bar­ bolani di Montauto in Firenze e il suo restauro, in: OPD Restauro 13, 2001, S. 61, 78; Thiem und Thiem 1964 (Anm. 2), S. 59 (mit leicht abweichender Datierung der Ergänzung), Kat. 12; hierzu zuletzt: Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 2, Nr. 19, S. 19/8. 13 Zur Wirkung der Stichwerke in Frankreich: Jean-Philippe Garric, Recueils d’Italie. Les modèles italiens dans les livres d’architecture français, Sprimont 2004, bes. Kap. 5. 14 Carlo Lasinio, Ornati presi da graffiti, e pitture antiche esistenti in Firenze. Disegnati ed incisi in 40 rami, Florenz 1789. 15 Charles Percier, Pierre François Léonard Fontaine, Palais, maisons et autres édifices modernes des­ sinés à Rome, Paris 1798. Zum Band von Percier/Fontaine: Garric 2004 (Anm. 13), S. 128–145. 16 Pierre Clochar, Palais, maisons et vues d’Italie, Paris 1809. Zum Band: Garric 2004 (Anm. 13), S. 149–153. 17 August-Victoire Grandjean de Montigny und Auguste Famin, Architecture toscane, ou palais ou autres édifices de la Toscane, mesurés et dessinés, Paris 1806 (2. Aufl. 1815). Zum Band: Garric 2004 (Anm. 13), S. 146–149. 18 Grandjean de Montigny und Famin 1815 (Anm. 17), S. 29, 32, 41, 43, 64. Explizit erwähnt wird die Technik in den Beschreibungen zu den Palästen Guadagni („Le premier et le second étage, percés de croisées cintrées, sont décorés d’arabesques et de bas-reliefs exécutés en sgraffitto [...]“, zit. nach: ebd., S. 12) und Bartolini Salimbeni („Les stylobates [...] sont décorés de compositions arabesques [...] toutes ces frises sont exécutées en sgraffitto“, zit. nach: ebd. S. 24). In einer Fußnote zum Palazzo Guadagni erläutern die Autoren auf Grundlage von Vasaris Beschreibung die Technik, ebd., S. 12. 19 Eine komprimierte Darstellung hiervon findet sich bei: Henry-Russell Hitchcock, Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 47–139; Eva Börsch-Supan, Berliner Baukunst nach Schinkel 1840–1870 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts 25), München 1977, S. 138–143 („Der romanisierende und der renaissancehafte Rundbogenstil“; „Der florentinische Stil“) und S. 174–180 („Die Neurenaissance“). Zur ‚Neorenaissance‘ Sempers bzw. in Dresden: Henrik Karge, Die moderne Renaissance der Baukunst. Gottfried Semper und die Dresdner Architektur des 19. Jahrhunderts, in: Gottfried Semper. Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Kün­ ste, hrsg. von Henrik Karge München/Berlin 2007, S. 9–32, bes. S. 19–29. 20 Julius Eugen Ruhl, Kirchen, Palaeste und Kloester in Italien nach den noch vorhandenen Monu­ menten gezeichnet von I. E. Ruhl, Kassel 1821 (auch als Denkmaeler der Baukunst in Italien, Darmstadt 1821–1824). 21 Zu Gillys Beitrag zu den Treffen: Susanne Deicher, Kunstform und Ursprung, in: Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, hrsg. von Joseph Imorde und Jan Pieper, Tübingen 2008, S. 31–63, bes. S. 31. 22 Deicher 2008 (Anm. 21), bes. S. 31, 33. 23 Helmut Börsch-Supan, Das Italien-Erlebnis Schinkels 1803–1804, in: Italien in Preußen, Preußen in Italien (Kolloquium der Winckelmann-Gesellschaft, des Forschungszentrums Europäische Aufklärung und der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam, 2002), Stendal 2006, S. 109–115, hier S. 111.

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24 Schinkel passierte auf dieser Reise Ende August 1803 und Mitte September 1804 Florenz; Georg Friedrich Koch. Die Reisen nach Italien 1803–1805 und 1824 (Karl Friedrich Schinkel – Lebenswerk 19), hrsg. von Helmut Börsch-Supan und Gottfried Reimann, München 2006, S. 35 (Zeittafel zur ersten Reise), S. 69–70 (Tagebuch). Bei diesen Aufenthalten kann er im Innenhof des Palazzo Vecchio die Sgraffito-Dekorationen aus der zweiten Quattrocento-Hälfte gesehen haben, weil diese erst während der Renovierung 1809–1812 entfernt wurden. In Rom blieb er von September 1803 bis Februar 1804 und von Juli bis September 1804, ebd. S. 35 (Zeittafel zur ersten Reise). 25 Auf seiner zweiten Italienreise (1824) kam Schinkel im August (Hinreise) und im Oktober (Rückreise) nach Florenz. Laut Tagebüchern sah er dort u. a. den Palazzo Medici, in dessen Innenhof zu diesem Zeitpunkt noch die Sgraffito-Gestaltung aus dem 15. Jahrhundert sichtbar war. In Rom hielt er sich vom 29. September bis zum 24. Oktober 1824 auf, ebd., S. 286–321 (Tagebuch). Zur Begleitung durch Waagen ebd., S. 591–592. 26 Reisen nach Italien 2006 (Anm. 24), S. 295. 27 In der Giuntina (1568) leicht abweichend: „[...] sorte di pittura ch’è Disegno, & pittura insieme“, zit. nach Giorgio Vasari, Introduzione alle tre arti del disegno, in: ders., Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori, Florenz 1568, Bd. 1, Cap. 26, S. 55; Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori, hrsg. von Rosanna Bettarini und Paola Barocchi, Florenz 1967–1987, Bd. 1, Introduzione, Cap. 26, S. 142. 28 GStA PK, I. HA Rep. 93 D Technische Oberbaudeputation, Nr. 342, „Bauten und Reparaturen in der Stadt Liegnitz“, Bd. 2, 1830–1852, Bl. 75–77 vs. (laut freundlicher Auskunft von Christiane Brandt-Salloum, Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz). Hier zitiert nach der Transkription in: Bernd Vogelsang, Beamteneinkauf. Die Sammlungen des Freiherrn von Minutoli in ,

Liegnitz. Eine Dokumentation zur Geschichte des ersten deutschen Kunstgewerbemuseums Dortmund 1986, S. 39–41, hier S. 40. Ergänzung um [Geld] nach: Günther Grundmann, Karl Friedrich Schinkel. Schlesien. Berlin, 1941, S. 245. 29 Die Villa Tieck sollte 1845 nach Entwürfen von Ludwig Persius umgebaut werden. Nach Persius’ Tod wurden die Pläne vermutlich von Ludwig Ferdinand Hesse, vielleicht auch von Friedrich August Stüler verändert; zur Ausführung kam wohl der Entwurf Hesses; Ludwig Persius (1803–1845). Bau­ berichte, Briefe und architektonische Gutachten. Eine kommentierte Quellensammlung, bearb. von Andreas Meinecke, München/Berlin 2007, S. 747, Anm. 11; Ludwig Persius. Architekt des Königs. Baukunst unter Friedrich Wilhelm IV., Ausst.-Kat. (Potsdam, Schloss Babelsberg, 2003), Werkübersicht, Nr. III. 3, S. 151–152. In der zur Villa Tieck erhaltenen Korrespondenz von Persius finden sich keine Hinweise auf eine geplante Sgraffito-Dekoration; Ludwig Persius 2007, S. 741–750. 30 Max Lohde, Die Sgraffito-Bilder im Treppenhause des Sophien-Gymnasiums zu Berlin, entworfen und ausgeführt von Max Lohde, Berlin 1868, S. 2. 31 Lohde 1868 (Anm. 30), S. 2. 32 Le Voyage d’Italie d’Eugène Viollet-le-Duc 1836–1837, Ausst.-Kat. (Paris, École nationale supérieure des Beaux-Arts,1980; Florenz, Accademia delle arti del disegno, 1980), hrsg. von Franco Novati und Manola Miniati, Florenz 1980, S. 66. 33 Voyage 1980 (Anm. 32), S. 183–202 und Kat. Nr. 184–210. 34 Kolorierte Zeichnung auf Papier, Bleistift, Tusche, in Braun und Grau laviert, 391 mm x 254 mm, Aufschriften: „E.V. Leduc“, „10 octobre 1836“, „PETIT PALAIS DANS LA VIA LARGA A FLORENCE“, „PIERRE JAUNE, ET STUC COLORÉ“; Paris, CRMH, Inv. Nr. 62; Voyage 1980 (Anm. 32), Kat. Nr. 207, S. 201. 35 Palazzo Dardinelli-Fenzi, Via Cavour 39, Florenz; zur Bau- und Erhaltungsgeschichte des Gebäudes zuletzt: Claudio Paolini und Vincenzo Vaccaro, Via Cavour, una strada per Firenze capitale (Quaderni del Servizio Educativo 30/31), Florenz 2011, S. 76–81.

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36 Eleonora Pecchioli, Florentia Picta. Le facciate dipinte e graffite dal XV al XX secolo, Florenz 2005, S. 160–163; Marianne Stockebrand, Fassadendekorationen in Sgraffito in Florenz im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1983, S. 124–122 (Bindefehler!), Kat. Nr. 9; Thomas Danzl, Zur poly­ chromen Fassadendekoration in Florenz, in: Fassadenmalerei. Forschungsprojekt Eurocare 492 Muralpaint – Painted façades, Klosterneuburg 1995, S. 41–51, hier S. 46, Anm. 56. 37 Die in eine strenge Felderung gezwungene Ornamentik verbindet die Sgraffito-Dekoration mit der klassizistischen Architekturauffassung, wie sie während der Herrschaft Pietro Leopoldos und seines Nachfolgers in der Toskana gepflegt wurde. Thomas Danzls Annahme eines „ersten Sgraffitorevivals im 18. Jht. [sic]“ bzw. seine Aussage, „im Frankreich des Ancien Régime etwa um 1770“ sei „kurzzeitig die Mode der Sgraffito-Dekoration aufgekommen“  sein, sind mangels ­Beispielen oder sonstigen Belegen schwer nachzuvollziehen; Danzl 1995 (Anm. 36), S. 46 und Anm. 56 bzw. S. 44 und Anm. 42. Stockebrand 1983 (Anm. 36) und Pecchioli 2005 (Anm. 36) ­verzichten auf eine eigene Datierung der Sgraffito-Dekoration des Palazzo Dardinelli. Paolini und Vaccaro vermuten eine Ausführung im Kontext der Fassadenerweiterung von 1851, der allerdings die Zeichnung Viollet-le-Ducs von 1836 entgegensteht; Paolini/Vaccaro 2011 (Anm. 35), S. 76–81. 38 Hierzu zuletzt: Amadeo Belluzzi und Gianluca Belli, La Villa dei Collazzi. L’architettura del tardo rinascimento a Firenze, S. 77, Anm. 132 et pass., und Rosy Mattatelli, La casa di Santi di Tito in via delle Ruote – dimensione abitativa, arte e vita quotidiana di un artista a Firenze tra XVI e XVII secolo, in: Bollettino della Società di Studi Fiorentini, 22/2013(2014), S. 344–355, hier S. 336, Anm. 77. Siehe auch Renzi Chiarelli, Contributi a Santi di Tito architetto, in: Rivista dell’arte 1939, S. 126–155, hier S. 131–132. Die früheste dokumentierte Zuschreibung findet sich in einer mit „Architettura di Santi di Tito“ beschrifteten Darstellung des Palazzo Dardinelli bei Ferdinando Ruggieri, Studio d’Architettura civile, Florenz 1722–1755, Bd. 3, Taf. 59; auch Ferdinando Milizia geht von Santi di Tito als Architekt aus, verbindet seine Zuschreibung aber mit deutlicher Kritik; Ferdinando Milizia, Le vite de’ più celebri Architetti, Rom, 1768, S. 294. 39 Vgl. auch Danzl 1995 (Anm. 37), S. 44. 40 Rudolph Weigel, Verzeichniss von grösseren architectonischen Werken mit Abbildungen [...], Leipzig 1842. Das Verzeichnis enthält sechs Seiten Literaturangaben zur „Mittelalterlichen Kunst“ und neun Seiten zur „Modernen Kunst“, zu der sowohl Vasaris Viten als auch tagesaktuelle Publikationen zählen. 41 Vasari 1568 (Anm. 27), Bd. 1, Cap. 26; Bettarini und Barocchi 1967–1987 (Anm. 27), Bd. 1, S. 142– 143; zu Vasaris Beschreibung im Vergleich zur Ausführungspraxis des 15. Jahrhunderts: Huth 2014 (Anm. 1), S. 5–28, bes. S. 9–12. 42 Ludwig Förster, Beschreibung einer sehr dauerhaften und wohlfeilen Art Malerei zur Dekorazion des Aeußern der Gebäude, in: Allgemeine Bauzeitung von Ludwig Förster, 1842, S. 75. Den Text übernimmt kurz darauf Johann Andreas Romberg leicht gekürzt und ohne Quellenangaben in sein Handbuch für Hausbesitzer und die es werden wollen; Johann Andreas Romberg, Der Rath­ geber bei dem Bau und der Reparatur der Wohngebäude. Handbuch für Hausbesitzer und die es werden wollen, Leipzig 1845, S. 168. Försters „Sgraffitt-Malerei“ verballhornt Romberg zu einer „Schraffit-Malerei“. 43 Ebd. 44 Siehe Anm. 28. 45 Zum nicht erhalten Vorschlag Minutolis: Vogelsang 1986 (Anm. 28), S. 38–39. Ob Alexander von Minutoli oder die Gutachtern von den vermutlich aus dem 17. Jahrhundert stammenden, im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Brand von 1835 zerstörten Sgraffito-Dekorationen Kenntnis hatten, ist unklar; im Gutachten der Oberbaudeputation findet sich hierauf kein Hinweis. Zur Sgraf-

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fito-Dekoration des Liegnitzer Schlosses: Jagiełło-Kołaczyk 2003, S. 384; Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler in Polen – Schlesien, hrsg. von Ernst Badstübner u. a., 2005, München/Berlin, S. 530. 46 Vogelsang 1986 (Anm. 28), S. 40. 47 Vogelsang 1986 (Anm. 28), S. 40. 48 Vogelsang 1986 (Anm. 28), S. 40–41. 49 Möglicherweise waren Alexander von Minutoli italienische Sgraffito-Dekorationen seit seiner Italien-Reise von 1828 bekannt; zu Minutolis Reise: Dorothea Minkels, Reisen im Auftrag preußischer Könige, gezeichnet von Julius von Minutoli, Norderstedt 2013, S. 17 (ohne Quellenangaben). 50 Dorothea Minkels, 1848 gezeichnet: der Berliner Polizeipräsident Julius von Minutoli, Norderstedt 2003, S. 34 (ohne Quellenangaben). 51 Alexander von Minutoli, Denkmäler mittelalterlicher Baukunst in den Brandenburgischen Mar­ ken, Berlin 1836. 52 Adolf Sammter, Sgraffito in Schlesien, in: Deutsches Kunstblatt 4/27, 1853, S. 230; Minutolis Einflussnahme bei der Veröffentlichung vermutet Vogelsang 1986 (Anm. 28), S. 35. Als junger Mann hatte Minutoli Reisen mit dem späteren preußischen ‚Konservator der Denkmäler‘ Ferdinand von Quast unternommen; Minkels 2013 (Anm. 49), S. 39 (ohne Quellenangaben). 53 Zit. nach: Sammter 1853 (Anm. 52), S. 230. Im 1854 erschienen 14. Band von Brockhaus’ Conversa­ tions-Lexikon wird auf Minutolis Forschungen in Schlesien verwiesen; die übrigen Angaben zum Thema Sgraffito sind größtenteils inkorrekt; Sgraffito, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Leipzig 1854, Bd. 14, S. 78. 54 Bei dem von Adolf Sammter im Deutschen Kunstblatt 4/27 (Anm. 52) beschriebenen Liegnitzer Objekt war Minutolis Bemühen erfolgreich: Im Dezember 1853 meldet die Zeitung, dass der preußische König „dem Besitzer der von Hrn. A. v. Minutoli entdeckten und in No. 27 besprochenen Sgraffito-Malerei zur Erhaltung dieses interessanten Kunstdenkmals ein Gnadengeschenk von 600 Thlrn. zu bewilligen geruht“ habe; Deutsches Kunstblatt, 4/51, 1853, S. 449. 55 Vogelsang 1986 (Anm. 28); Barbara Mundt,, Die deutschen Kunstgewerbemuseen im 19. Jahrhun­ dert (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts 22), München 1974, S. 31­–32. 56 Undatierte fotografische Abbildung in: Volker Helas, Architektur in Dresden 1800–1900, Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 27, Abb. 26. 57 U. a. Volker Helas, Dresden 1834–1849, in: Gottfried Semper 1803–1879. Baumeister zwischen ­Revolution und Historismus, München 1980, S. 29. 58 Hans Joachim Neidhardt, Sempers Dresdner Theater und ihre Vorgängerbauten, in: Hella Bartnig und Hans Joachim Neidhardt, Semperoper. Gottfried Sempers Operhaus zu Dresden, Dresden 1995, S. 7–80, bes. S. 31–39. 59 Unter den 142 bekannten Reise-Skizzen aus Italien finden sich keine Darstellungen von SgraffitoFassaden oder Ornamenten; Gottfried Semper: zeichnerischer Nachlass an der ETH Zürich. Kriti­ scher Katalog, hrsg. von Martin Fröhlich, Basel 1974, S. 206–212 (unter Nr. 211 Reiseskizzen und Bauaufnahmen aus Italien). 60 Die Sgraffito-Dekorationen am Residenzschloss waren 1550–1552 unter der Leitung der norditalienischen Künstler Gabriele und Benedetto da Tola aus Brescia ausgeführt worden; einige polychrome Partien schuf Francesco Ricchino; Ulrike Heckner, Im Dienst von Fürsten und Reformation. Fassadenmalerei an den Schlössern in Dresden und Neuburg an der Donau im 16. Jahrhundert, München/Berlin 1995, S. 30–44; Entwürfe Benedetto da Tolas: Abb. 37–40. In der Folgezeit wurden die von der Witterung geschädigten Motive wiederholt in Kalkfarbe nachgezogen. Nach den Zerstörungen durch den Brand von 1701 und der fortdauernden Beeinträchtigung durch Verwitterung verzichtete man auf eine erneute Wiederherstellung; Heckner 1995, S. 65–77. Das Aus­

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sehen überliefern u. a. die Stiche von Anton Weck in: Anton Weck, Der Churfürstlichen Sächsi­ schen weitberuffenen Residentz- und Haupt-Vestung Dresden Beschreib- und Vorstellung, Nürnberg 1679. Zur Sgraffito-Dekoration im Kleinen Schlosshof (1590–1594) und am Stallhof: Heckner 1995, S. 163 bzw. S. 144–158. Ein während der Restaurierung/Rekonstruktion des Residenzschlosses freigelegtes Sgraffito-Fragment ist abgebildet in: Heckner 1995, Abb. 13. Abbildungen nach Stichen und Gemälden in: Fritz Löffler, Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten, Frankfurt am Main, 1987, S. 56, Abb. 60–62 (Schloss), S. 59, Abb. 68 (Schloss), S. 64–65, Abb. 76, 77, 79 (Stallhof); Dirk Syndram, Das Schloss zu Dresden. Von der Residenz zum Museum, München/ Berlin 2001, S. 25–26 (Schloss); Syndram 2006, S. 34, 37 (Stallhof); Angelica Dülberg u. a., Das Dresdner Residenzschloss, Berlin/München 2009, S. 42 (Stallhof), S. 87 (Schloss). Zahlreiche Abbildungen in: Heckner 1995, Abb. 18–32, 34, 36. Auch das 1960 zerstörte Schlossmodell (vermutlich um 1580 von Paul Bucher gefertigt, mit Veränderungen des späten 17. Jahrhunderts) zeigte die reichen Sgraffito-Dekorationen; Abb. u. a. in: Dirk Syndram und Peter Ufer, Die Rückkehr des Dresdener Schlosses, Dresden 2006, S. 42–43; Heckner 1995, Abb. 14–17. Zu den italienischen Vorbildern und böhmischen Parallelen: Heckner 1995, S. 60–65. 61 Zit. nach: Gottfried Semper, Das königliche Hoftheater zu Dresden, Braunschweig 1849, S. 11: Erklärung der Kupfertafeln, Tafel 2; Schreibweise und Interpunktion wie gedruckt. Zum ersten Hoftheater: Dieter Schölzel, Sempers erstes Dresdner Hoftheater 1838–1841, in: Gottfried Semper 1803– 1879. Baumeister zwischen Revolution und Historismus, München 1980, S. 177–186. Obwohl eine solche Assoziation naheliegt, findet sich bei Semper kein direkter Hinweis auf eine Verbindung seiner Bekleidungs- bzw. Stoffwechseltheorie mit der Fassadengestaltung in Sgraffito. Zum „Prinzip der Bekleidung in der Baukunst“: Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunst, Braunschweig 1851, S. 56–58; ders., Entwurf eines Systemes der verglei­ chenden Stillehre (Vortrag, gehalten in London 1853), in: Kleine Schriften (Gottfried Semper. Gesammelte Schriften 4), hrsg. von Henrik Karge, Hildesheim u. a. 2008, S. 259–291, bes. S. 285–291: ders., Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst (Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde 1), Frankfurt am Main 1860. Zu Sempers ‚Bekleidungstheorie’ v. a. in Beziehung zur Architekturpolychromie siehe u. a. Heidrun Laudel, Das Bekleidungsprinzip. Sempers künstleri­ sches Credo, in: Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Indu­ strie und Kunst“, hrsg. von Rainald Franz und Andreas Nierhaus, Wien 2007, S. 17–37; Heinz Quitzsch, Gottfried Semper. Praktische Ästhetik und politischer Kampf, Berlin 1962, S. 86–105. 62 Das Haus befand sich bis zu seinem Abriss 1896 in der Großen Bäcker-Straße 22, nur wenige Schritte von der Börse entfernt; Haus des Apothekers Herrn Semper in Hamburg. Erbaut nach Plänen des Prof. Semper in Dresden, in: Allgemeine Bauzeitung von Ludwig Förster 13, 1848, S. 279–282, Abb. S. 207–208; zu Sempers Wiederaufbauprojekten für Hamburg nach dem Brand von 1842: Hermann Hipp, Der Hamburger Gottfried Semper, in: Gottfried Semper. Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Künste, München/Berlin 2007, S. 77–100. 63 Zit. nach: Haus des Apothekers Herrn Semper 1848 (Anm. 62), S. 282. 64 Brief Gottfried Sempers vom 28. Februar 1846; Weimar, Thüringen, Hauptstaatsarchiv, Kammerakten, Sectio XI, Locat 25, Nr. 112, Blatt 3; Angaben nach: Laudel 2007 (Anm. 61), S. 36, Anm. 46. Teile des Weimarer Schlosses waren kurz nach der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Sgraffito-Dekorationen versehen worden, Abb. in: Heckner 1995 (Anm. 60), Abb. 139; ob dies Semper bewusst war bzw. für ihn eine Rolle spielte, ist unklar. 65 Gottfried Semper, Die Sgraffito-Dekoration, in: Kunstchronik. Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst 3, 1868, S. 45–48, hier S. 47. 66 Semper 1868 (Anm. 65), S. 47.

140 I Andreas Huth

67 Andreas Hauser, Sempers Wahlspruch. Der Konflikt um das Bildprogramm des Eidgenössischen Polytechnikums, in: Gottfried Semper. Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Künste, München/Berlin 2007, S. 301–310, bes. 302–303. 68 Unter den Zeichnungen Sempers befinden sich einige mit Tusche und Pinsel auf Pauspapier ausgeführte Blätter mit Entwürfen und Vorzeichnungen (z. T. 1:1) für die Sgraffito-Dekorationen: Gottfried Semper: zeichnerischer Nachlass 1974 (Anm. 59), S. 244, Bl. 300-1-154, bes. S. 278–284, Nr. 300-1-639 bis Bl. 300-1-759, die Blätter sind z. T. datiert: 1860, 1863). Das im Band abgebildete Blatt 300-1-640 zeigt den „Entwurf für den Schmuck des ersten Stocks am Mittelrisalit der Nordseite“ des Hauptgebäudes; ebd., S. 279. Die ausführenden Künstler Schönherr und Walther nennt u. a.: Hans Urbach, Geschichtliches und Technisches vom Sgraffitoputz, Berlin 1928, S. 79. Nach Ansicht von Andreas Hauser sind die gelochten 1:1-Pausen nicht von Semper, sondern 1924 im Zuge der Rekonstruktion der Fassade entstanden; Hauser 2007 (Anm. 67), Anm. 7. 69 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, Basel 1855, S. 294. 70 Zit. nach Bruno Meyer, Das Sgraffito und sein neuester Bearbeiter, in: Ergänzungsblätter zur Kenntnis der Gegenwart 4, 1869, S. 706–713, hier S. 707. 71 Die Sgraffito-Dekorationen am vom Schweriner Hofbaurat Hermann Willebrand entworfenen und 1866 bis 1870 errichteten Hauptgebäude wurden 1868 nach Entwürfen Max Lohdes durch Karl Becker ausgeführt; Meyer 1869 (Anm. 70), S. 713. In seiner Willebrand-Monografie verweist Olaf Bartels auf ein Zusammentreffen Hermann Willebrands mit dem zu dieser Zeit mit „Sgraffitomalerei“ (Bartels) experimentierenden Gottfried Semper 1843 in Schwerin. Auch wenn die erst ein Vierteljahrhundert später ausgeführte Rostocker Fassadengestaltung hiermit, wie er einräumt, nicht direkt zu verbinden ist, so entspräche sie jedoch Sempers ‚Bekleidungstheorie’; Olaf Bartels, Der Architekt Hermann Willebrand 1816–1899, Hamburg/München 2001, S. 68–69; siehe auch Werkeliste, S. 94 (mit Bibliografie). 72 Heinrich von Ferstel (1828–1883). Bauten und Projekte für Wien, Ausst.-Kat. (Wien, Hermesvilla, 1983–1984), hrsg. von Renata Kassal-Mikula, Wien 1983, S. 66–70, Kat. Nr. 129, 130, 134–140; Fassadenaufrisse, Schnitte, Fassaden- und Hofdetails auch in: Museum der Kunst und Industrie von Architekt Heinrich Ritter v. Ferstel (Separat-Abdruck aus der Allgemeinen Bauzeitung, 36. Jg.), Wien 1871. 73 Das Gebäude wurde 1866–1867 im Auftrag der Stadt unter der Leitung des Prager Architekten Vojteˇch Ignac Ullmann erbaut. 74 Der Pavillon ist abgebildet in: L’Esposizione Universale del 1867 illustrata. Pubblicazione interna­ zionale autorizzata dalla commissione imperiale dell’esposizione, hrsg. von François Ducuing, Mailand u. a. 1867, S. 317. Eine präzise Beschreibung liefert: Max Lohde, Das Sgraffito in Gruner’s Terra-cotta-Architecture. – Das Sgraffito auf der Pariser Weltausstellung. – Zwei- und mehrfarbige Sgraffiten aus Florenz. – Die Sgraffiten des Klostergutes Sächsisch-Haugsdorf in der Lausitz, in: Zeitschrift für Bauwesen 18, 1868, Heft 3, Sp. 201–212, hier S. 204. 75 „In Italien weist vorzüglich Florenz neue reiche Sgraffito-Façaden auf, während, wie oben schon erwähnt, das Verfahren auch in Deutschland Eingang hält“; zit. nach: Emil Lange u. a., Die An­ wendung des Sgraffito für Façaden-Decoration. Nach italienischen Originalwerken dargestellt und bearbeitet von Emil Lange und Joseph Bühlmann, Architekten, unter Mitwirkung von Lud­ wig Lange, Baurath & Professor an der k. Akademie zu München, München/Berlin 1868, [o. S.], „Ursprung und Wesen des Sgraffito“. 76 Pecchioli 2005 (Anm. 36), S. 172–179; Stockebrand 1983 (Anm. 36), S. 171–173, Kat. Nr. 40; Ursula Schädler-Saub, Zur Wertschätzung historischer Fassadendekorationen in Florenz im 19. und 20. Jahrhundert. Von der Rekonstruktion zur Restaurierung, in: Welterbe Konstantinsbasilika

Zum ersten Male wieder seit der Zeit der Renaissance I 141

Trier. Wandmalerei in freier Bewitterung als konservatorische Herausforderung (Internationale Tagung des Deutschen Nationalkommitees ICOMOS in Zusammenarbeit mit der HAWK Hildesheim, Holzminden, Göttingen, Trier, 2011), hrsg. von Nicole Riedl, Berlin 2012, S. 92–106, hier S. 95. Auch der Palazzo Niccolini scheint lange eine Ausnahme geblieben zu sein: Erst für 1865 ist die vereinfachende Rekonstruktion der aufwendigen Sgraffito-Dekoration des 1938 abgerissenen Palazzo Nelli bei San Lorenzo bezeugt; Anmerkung von Adolf Gnauth, in: Semper 1868 (Anm. 65), S. 45; Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 2, Kat. Nr. 11. Dass es in dieser Zeit jedoch schon einige weitere Fassaden gegeben haben muss, belegt folgende Nachricht in der Allgemeinen Zeitung (München): „In Italien ist die Kunst des Sgraffito mehrfach wieder in Aufnahme gekommen, namentlich an Palästen in Florenz, wo man zur Vermeidung des grellen Gegensatzes von Weiß und Schwarz, dem Untergrund eine braune, dem Ueberzug eine gelbliche Farbe gegeben hat.“ Rezension zu Lange/Bühlmann in: Allgemeine Zeitung (München), 1–3 (Jan. 1868), S. 387. 77 Schädler-Saub 2012 (Anm. 76), S. 94; Danzl 1995 (Anm. 36), S. 44–47. Zur Rolle historischer Dekorationsformen in Architektur und Kunsthandwerk im 19. Jahrhundert in Italien: Ornella Selvafolta, Rinascimento e Neorinascimento nell’Ottocento italiano. Interpretazioni e percorsi tra le riviste di arti applicate e di architettura, in: Le XIXe siècle et l’architecture de la renaissance, hrsg. von Frédérique Lemerle u. a., Paris 2010, S. 197–214. 78 Schädler-Saub 2012 (Anm. 76); Stockebrand 1983 (Anm. 36), S. 57–73. 79 Adriano Bimbi und Stefano Corsi, Una facciata ottocentesca per la Casa Buonarroti, Ausst.-Kat. (Florenz, Casa Buonarroti, 2002), Florenz 2002. 80 Arte e Storia 5/37, 1886, S. 272; Arte e Storia 5/41, 1886, S. 296; Arte e Storia 6/14, 1887, S. 97–98. 81 Huth 2016 (Anm. 1), Bd. 2, S. 27. 82 So beispielsweise in der Allgemeinen Zeitung (Augsburg) in einem euphorischen Bericht über einen Neubau in Stuttgart („Möge dieser ermunternde schöne Vorgang viel Nachfolge in unserer Stadt finden!“); Allgemeine Zeitung (Augsburg), 82 (9.10.1867), S. 4515, und in der Rezension zum Sgraffito-Band von Lange und Bühlmann; Allgemeine Zeitung (Augsburg), 26 (26.1.1868), S. 387. 83 Dass man in Prag Sgraffito als ‚nationale’ Besonderheit wahrnahm, verdeutlicht ein auf die Vyšší dívcˇí škola (Städtische Schule für Höhere Töchter) bezogener Kommentar von 1867, wonach man Sgraffito „abgesehen von Italien, nirgends so häufig findet wie in Böhmen“; zit. nach: Michaela Marek, Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Na­ tionsbildung, Köln 2004, S. 204, Anm. 528, S. 302, Anm. 404. Zur ‚nationalen‘ Interpretation von Sgraffito in Tschechien im 19. Jahrhundert: ebd., S. 302–311. 84 Max Lohde, Die Sgraffitomalereien der Burg Tschocha in der Lausitz, in: Zeitschrift für Bauwesen 17/1, 1867, Sp. 31–36. 85 Siehe auch Nekrolog in der Zeitschrift für bildende Kunst; Friedrich Fischbach, Ludwig Lohde, in: Zeitschrift für bildende Kunst 11, 1876, Sp. 512–514. 86 Ludwig Lohde zeichnete für auch für mehrere Artikel in der oben erwähnten Ausgabe der Allgemeinen Bauzeitung von 1842 (Anm. 42) verantwortlich, in der erstmalig über Sgraffito-Dekorationen informiert wurde. 87 Zit. nach Lohde 1867 (Anm. 85), bes. 36. 88 Zit. nach Lohde 1868 (Anm. 74), bes. 201. 89 Lange 1868 (Anm. 75). 90 Hierzu u. a.: Mauro Cozzi, Il dibattito e i progetti ottocenteschi per S. Maria del Fiore. „non che delle mattaccinate che il popolo e il comune hanno fatto per raggiungere il fine desiderato di una facciata“, in: Carlo Cresti u. a., Il Duomo di Firenze 1822–1887. L’avventura della facciata, Florenz 1987, S. 30–190, bes. S. 126–132. 91 Zit. nach: Lange 1868 (Anm. 75), [o. S.], Einleitung.

142 I Andreas Huth

 92 Max Lohde, Rez. von Lange 1868 (Anm. 75), in: Zeitschrift für Bauwesen 18/1, 1868, bes. 141–144.  93 Lohde 1868 (Anm. 30).  94 Lohde 1868 (Anm. 75), bes. 212.  95 Kunst und Gewerbe. Zeitschrift zur Förderung deutscher Kunst-Industrie 2/10, 7.3.1868, S. 75.  96 Semper 1868 (Anm. 65), S. 45–48.  97 Diese und die folgenden Zitate nach: Semper 1868 (Anm. 65), S. 45–48. Für die „Notizen“ griff Semper auf einige in seinem Brief an den Weimarer Erbgroßherzog von 1846 vorgetragenen Gedanken zur Thema Sgraffito zurück; Gottfried Semper und Wien 2007 (Anm. 61), S. 36, Anm. 47.  98 Zit. nach Semper 1849 (Anm. 61).  99 Semper 1868 (Anm. 65), S. 46. Über die Fassade schreibt Hans Urbach, dass „deren gefälliges Aussehen allerdings dadurch schon bald nach der Fertigstellung Einbuße erlitt, daß sich infolge des Zusatzes nicht einwandfreier oder zu großer Mengen Erdfarbe zur leichten Tönung der grell­ weißen Deckschicht unter dem Einfluss von Feuchtigkeit häßliche Flecken bildeten.“ Zit. nach: Urbach 1928 (Anm. 68), S. 76. 100 Lohde 1868 (Anm. 30), S. 2. 101 Lohde 1868 (Anm. 30), S. 2. 102 Die Platten sind laut Urbach von der „Fabrik Ernst March und Söhne in Charlottenburg an Hand der alten Entwurfszeichnungen“ angefertigt worden. Um das neue Material zu kaschieren sind „[d]ie Stoßfugen der Platten sehr geschickt an die [sic] Körperlinien der Darstellungen entlang geführt, so daß die Vortäuschung einer echten Sgraffitoarbeit verblüffend gut gelang.“ Zit. nach: Urbach 1928 (Anm. 68), S. 75–76. 103 Meyer 1869 (Anm. 54), S. 708–713. 104 Urbach 1928 (Anm. 68), S. 79. Urbachs Darstellung, Walther habe am Wettbewerb unaufgefordert teilgenommen, ist nicht zu belegen. Neben Vorstudien im Verhältnis 1:5 (im Dresdner Landesamt für Denkmalpflege verwahrt) und kleineren Entwürfen (Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv. C 1986-1 und Inv. C 1995-877) hat sich auch der monumentale Karton im Verhältnis 1:1 erhalten (ebd., Inv. C 6840). Die Papierbahnen sind auf Leinwand aufgelegt und auf vier Rollen verteilt. Eine dieser Rollen wurde jüngst in der Ausstellung EINZIGARTIG! Unika und Seltenheiten (30.6.–25.9.2017) präsentiert, eine komplette Auswertung steht noch aus. Für die Auskünfte zu Walthers Material danke ich herzlich Marion Heisterberg, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. 105 Zit. nach Clemens von Hausen, Der Fürstenzug auf dem Sgraffito-Fries am Königl. Schloss zu Dres­ den. Gedanken bei der Betrachtung desselben, Dresden 1903, S. 10. 106 Urbach 1928 (Anm. 68), S. 80. 107 Landesdenkmalamt Berlin, 154513/I. 108 Die Restaurierung der Sgraffito-Felder ist für 2018 vorgesehen. 109 Zuletzt beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Gdan´sk; siehe u. a. Anna Kriegseisen, Kolory­ styka gdan´skich elewacji renesansowych i manierystycznych, in: Kolorystyka zabytkowych ele­ wacji od s´redniowiecza do współczesnos´i, hrsg. von Karol Guttmejer, Warszawa 2010, S. 83–95; Jacek Friedrich, Neue Stadt in altem Gewand: Der Wiederaufbau Danzigs 1945–1960, übers. aus dem Polnischen, Köln 2010, v. a. S. 150–151.

Zum ersten Male wieder seit der Zeit der Renaissance I 143

Tafelteil

Farbabb. 1 Ravenna, Prophets, Stucco reliefs from the Orthodox Baptistery, Ravenna.

Tafelteil I 145

Farbabb. 2  Westgitter in der Aachener Pfalzkapelle (Detail), um 800, Aachen.

146 I Tafelteil

Farbabb. 3  Michiel Coxcie, Gottvater/Christus (1557–59), Öl auf Holz, SMPK, Berlin.

Farbabb. 4  Jan van Eyck, Gottvater/Christus, Detail der Innenseite des Genter Altars, um 1432, Sankt Bavo, Gent.

Tafelteil I 147

Farbabb. 5  Berlin, Ziegelstraße 5–9, ehem. Klinische Universitäts-Anstalten, Kopfbau des westlichen Pavillon auf dem Innenhof, Sgraffito-Dekoration, 1878–1882 (Situation 2015).

Farbabb. 6  Berlin, Ziegelstraße 5–9, ehem. Klinische Universitäts-Anstalten, Kopfbau des westlichen Pavillon auf dem Innenhof, Sgraffito-Dekoration, 1878–1882 (Situation 2015).

148 I Tafelteil

Farbabb. 7  Fensterflügel aus alten Glasmalereien und neuen kaleidos­kop­ artig zusammengefügten Signalgläsern. Ehemals Durbach, Burg Staufenberg, Karlsruhe, Badisches Landesmuseum, um 1832.

Tafelteil I 149

Farbabb. 8  Köln, Dom, Südquerhaus, Apostelkonzilfenster (Ausschnitt), Königliche Glasmalereianstalt, München 1871–76. Trotz der späten Ausführung orientiert sich das Fenster noch am malerischen Stil der frühen Bayernfenster.

150 I Tafelteil

Farbabb. 9  Jasper Johns, Flag, 1954–55 (rückseitig datiert 1954), Enkaustik, Öl und Collage auf Stoff, auf Sperrholz montiert (drei Teile), 107,3 x 153,8 cm, The Museum of Modern Art, New York, Schenkung von Philip Johnson zu Ehren von Alfred H. Barr jr.

Tafelteil I 151

Farbabb. 10  Franz Gertsch, Schwarzwasser I, Holzschnitt von einer Platte, 276 x 217 cm (Blatt), 234 x 181 cm (Druck). Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.

152 I Tafelteil

Farbabb. 11  Jan Svenungsson, First Chimney – Stockholm, 1996–1998. Vierfarbenholzschnitt, 102 x 84 cm (Blatt), 80 x 64 cm (Druck). Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.

Tafelteil I 153

Farbabb. 12a und 12b  Stephen Beck, Video Weavings, 1976, 9:18 min, Farbe, Ton. © Stephen Beck (http://www.stevebeck.tv/), Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York.

154 I Tafelteil

Farbabb. 13  Beryl Korot, Text and Commentary, 1976–77, Fünf-Kanal-Video (s/w, Ton), Webstücke, Patronenzeichnungen und Piktogramme, Dimensionen variable, 30 Minuten, Loop. Courtesy bitforms gallery, New York, Foto: John Berens.

Tafelteil I 155

Farbabb. 14a, 14b, 14c  Annette Messager, Ma Collection de Proverbes, Stickerei auf Baumwolle, 1974 abgeschlossen, Hamburg, Kunsthalle (Details).

156 I Tafelteil

Farbabb. 15  Aussteuerschrank mit Stickereien verziert, Hauenstein, Deutsches Schuhmuseum.

Tafelteil I 157

Daniel Parello

Im Dämmerlicht des Mittelalters Zum Phänomen der Wiederentdeckung der Glasmalerei in der Romantik Die Glasmalerei erlebte im 19. Jahrhundert eine regelrechte Wiedergeburt.1 Hatten die farbig verglasten Fenster im Mittelalter noch zum festen Inventar der Sakralarchitektur gezählt, so nahm das Interesse an diesem Kunstzweig mit Beginn der Neuzeit allmählich ab. Schon im ausgehenden Mittelalter ging man vielerorts dazu über, nicht mehr ganze Fensterflächen, sondern nur mehr Teile davon farbig zu verglasen. Der Wunsch nach hellen und lichten Innenräumen war sicher ein wesentlicher Grund, warum die Glasmalereien aus den Sakralbauten allmählich verschwanden  – ein Tatbestand, der für Neubauten ebenso wie für ältere Gebäude galt. Während die Kirchenbauten der Barockzeit meist ohne Glasmalereien auskamen, ersetzte man die bunten Fenster in den alten Kirchen – sofern man es sich leisten konnte – häufig gegen eine lichte Blankverglasung aus Butzen, Rauten- oder Wabenmuster. Die abnehmende Nachfrage nach Glasmalereien hatte Folgen für das technische wie künstlerische Niveau des Glaserhandwerks, wodurch wiederum eine fachgerechte Instandhaltung alter Glasmalereien kaum mehr gewährleistet war. Vielerorts ging man dazu über, die Bestände ohne Rücksicht auf die Bildkomposition mit alten Scherben zu flicken, was die Lesbarkeit der oftmals kleinteiligen Darstellungen weiter einschränkte. Der schlechte Erhaltungszustand erleichterte wiederum die Entscheidung, die Glasmalereien schließlich ganz zu entfernen.

Neubewertung der Glasmalerei in romantischpatriotischer Zeit Es war vor allem der Adel, der bezeichnenderweise die bunten Farbverglasungen in einer Zeit als Sammlungsgegenstand wiederentdeckte, als die Kirchen sich dieser Objekte noch bereitwillig entledigten: Das seit 1773 errichtete gotische Haus in Wörlitz, die seit 1793 erbaute Löwenburg in Kassel-Wilhelmshöhe oder der Rittersaal in Schloss Erbach von 1805 sind nur einige Beispiele für die Umnutzung und Wiederverwendung alter Glasmalereien.2 Nach einer aus England kommenden Mode gestaltete man einzelne Räume oder ganze Gebäude in gotischer Bauweise und versammelte darin bevorzugt die unterschied-

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26  Wörlitz, Gotisches Haus, Kriegerisches Kabinett, Blick nach Nordosten, 1785/86.

lichsten Artefakte des Altertums wie Rüstungen und Waffen, wozu als Curiosa auch die aus den Kirchen translozierten, farbigen Glasfenster gehörten. Über ihren Altertumswert hinaus leisteten die Glasmalereien mit ihrem farbigen Licht dabei auch einen wichtigen Beitrag zur stimmungsvollen Inszenierung dieser Räume. Die alten Scheiben wurden in

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ihrer neuen Umgebung zunächst nur mit geometrisch zurecht geschnittenen bunten Glasstücken kaleidoskopartig eingefasst, zum einen, weil man das bunte Farbenspiel schätzte, zum anderen, weil für aufwendigere Rahmungen offenbar kein Glasmaler mehr verfügbar war, der sich auf diese Kunst verstanden hätte.3 (Farbabb. 7) Adelige avancierten somit zu den ersten Förderern einer in Vergessenheit geratenen Kunst, verlangte doch die Präsentation und Betreuung der Sammlung nach geeigneten, mit der Materie vertrauten Kräften. Zudem bewahrte gerade der Erwerb die Glasmalerei vor endgültiger Zerstörung, selbst wenn die Sammler dadurch historische Zeugnisse aus ihrem vielschichtigen und heute oft nur mühsam zu rekonstruierenden Kontext gelöst haben. Man kommt dem durch Umnutzung eingetretenen Bedeutungswandel von Glasmalereien vielleicht näher, wenn man sich die Funktion solcher quasimusealen Gedächtnisräume vor Augen hält. Die Relikte längst vergangener Zeiten ließen die Erinnerung an eine ruhmreiche Epoche des Feudalismus lebendig werden, aus welcher der Adel seinen gesellschaftlichen Führungsanspruch ableitete und welchen er mit dem Untergang des Alten Reiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts endgültig zu verlieren drohte. Der soziale und politische Umbruch, den die napoleonische Fremdherrschaft und die anschließenden Befreiungskriege noch vertieften, bereitete damals auf breiter gesellschaftlicher Ebene den Boden für ein Streben nach nationaler Identität. Auf der Suche nach dem „Deutschen“ erschuf sich die patriotische Bewegung das Epochenbild einer mittelalterlichen Idealgesellschaft, die in Religion und Königtum harmonisch vereint war, und gab dies als Zielvorstellung einer künftigen Ordnung aus. An der Verwirklichung dieses Ziels arbeiteten sich Kunsttheore­ tiker und Kunstschaffende gleichermaßen ab, unter anderem, indem sie die Kunst in naiver Verkennung ihrer Wesenhaftigkeit von „fremden“ Einflüssen befreien wollten und sich stattdessen auf die „eigenen“ künstlerischen Traditionen besannen.4 Goethe hat den Zustand der Kunst in einem 1817 erschienenen Beitrag über neu-deutsche und religiös-patriotische Kunst kritisch beschrieben: Gegenwärtig herrscht bei vielen wackeren Künstlern und geistreichen Kunstfreunden eine leidenschaftliche Neigung zu dem ehrenwerten, naiven, doch etwas rohen Geschmack, in welchem die Meister des 14. und 15. Jahrhunderts verweilten [...]. Inzwischen war der Anstoß gegeben, der Hang zum Altertümlichen in dem Volke wachgeworden, der nunmehr unter patriotisch-nationaler Form hervortrat. Groß, ja übertrieben wurden die Äußerlichkeiten einer besser geglaubten ­Vorzeit wertgeschätzt, man wollte recht mit Gewalt zur alten Deutschheit zurückkehren [...]. Da aber jener Nationalenthusiasmus nach erreichtem großen Zweck [gemeint sind die napoleonischen Befreiungskriege, Anm. D.P.] den leidenschaftlichen Charakter ohne Zweifel wieder ablegen und in die Grenzen einer anständigen würdigen Selbstschätzung zurücktreten wird, so kann sich alsdann auch die Kunst verständig fassen lernen und die beengende Nachahmung der älteren Meister aufgeben [...]. Möge alle falsche Frömmelei aus Poesie, Prosa und Leben baldmöglichst verschwinden und kräftigen heiteren Aussichten Raum geben.5

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Goethes Hoffnung auf ein baldiges Ende dieser Bewegung sollte sich vorerst nicht erfüllen. Im Gegenteil: Die von ihm belächelten Nazarener fassten an den vormals verpönten Akademien Fuß und konnten dort ihre Ideen von der Vorbildhaftigkeit der mittelalter­ lichen Kunst verbreiten. Es ist kaum verwunderlich, wenn in diesem ideologischen, na­ tional-religiösen Umfeld die Glasmalerei in den Fokus rückte und die Wiederbelebung dieses Kunsthandwerks auf breiter Basis gefördert wurde. Zwar gelangten damals auch andere historische Techniken wie etwa das Fresko in der Wandmalerei oder drucktechnische Verfahren zu neuer Blüte, der Glasmalerei aber kam aus mehreren Gründen eine Sonderstellung zu: Schien sie doch mehr als andere Gattungen tief im religiösen Kontext verwurzelt, da sie ausschließlich mit sakraler Kunst in Verbindung gebracht wurde und ihre Bildthemen der Verherrlichung des Glaubens dienten. Die monumentale Glasmalerei blieb – so dachte man – vom Ruch des Profanen unberührt, weil sie mit der Glaubens­ spaltung untergegangen war. Zudem sah man in ihr eine genuin mittelalterliche Kunstform, die zu jener Zeit ihre größte Blüte erlebt hatte, die somit frei war von den virtuosen Künstlichkeiten der „Verfallszeit“ nach 1500 und die in der Retrospektive der Kunsttheoretiker des frühen 19. Jahrhunderts als wahrhaftige und innige Kunst verklärt wurde. Zudem entsprach der kontemplative Farbzauber von Glasmalereien der romantischen Grundhaltung in geradezu idealer Weise, standen doch die Romantiker den Klassizisten und deren Fixierung auf die Linie kontrovers gegenüber. Die Nazarener griffen gerne auf grelle Farbwirkungen zurück und gestalteten ihre Bilder sogar häufiger so, als seien sie Glasmalereien mit absichtlich hart aufeinandertreffenden Farbflächen und ohne Abschattierungen. Die unnatürliche Dominanz des Lokalkolorits oder der Verzicht auf Luft­per­ spektive gründete auf der Anschauung, dass die Farbe Gefühlsstimulans und Träger geistiger Inhalte sein müsse. Anhand einer Ecce-Homo-Darstellung etwa führte Friedrich Schlegel die alles übersteigende Wirkung nicht nur auf die Stärke der gerade der Glas­ malerei zur Verfügung stehenden Farbtöne zurück, sondern auch auf die innere Übereinstimmung zwischen Bildmotiv und Farbwahl: [...] die enorme Wirkung die es [das Glasgemälde] macht, rührt doch wohl größtentheils nur von der brennenden Farbenkraft her, worin keine andre Art es der Glasmahlerei gleich thun kann. So wie die grellen Dissonanzen in der Musik von großen Meistern oft zum Ausdruck der höchsten, fast an Verzweiflung gränzenden Leidenschaft mit größter Bedeutsamkeit benutzt worden sind, so dürfen die beinahe schreienden Farben der Glasmahlerei vorzüglich geschickt seyn, die ganze Tiefe der höchsten Leiden und Leidensgeschichten mit voller Gewalt in Auge und Herz der ­Beschauer einzudrücken.6

Die Glasmalerei besitzt also in mehrfacher Hinsicht eine besondere Affinität sowohl zu den Positionen der patriotisch-romantischen Bewegung als auch zur Haltung des damals wiedererstarkenden Katholizismus. Gerade daher, so scheint es, neigten die kunsttheore-

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tischen Texte der Zeit – aber auch die Künstler selbst – dazu, die Gattung zu instrumen­ talisieren, indem sie ihr die eigenen Wunschvorstellungen überstülpten und in ein damit kohärentes Geschichtsbild zu Wesen und Entwicklung der Glasmalerei zwängten. Die ideologische Vereinnahmung setzte dabei eine dogmatische Technik- und Stildiskussion in Gang, welche die Rolle und das Erscheinungsbild der Glasmalerei für Jahrzehnte bestimmte.

Wie Phönix aus der Asche: Die „Wiedergeburt“ der Glasmalerei als Topos Da ist zunächst die Idee der Wiedererfindung eines vollständig untergegangenen Kunsthandwerks, die in der zeitgenössischen Literatur geradezu zum Topos wurde.7 Tatsächlich aber stammen die wichtigsten Lehrbücher zur Herstellung von Farbverglasungen aus barocker Zeit, die berühmte, erstmals 1679 verlegte Ars vitraria experimentalis von Johann Kunckel erlebte bis in das 18. Jahrhundert hinein mehrere Auflagen.

27  Johann Kunckel, Ars vitraria experimentalis, Frontispiz, 1679.

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Weiterhin erschien im Jahr 1774 L’art de la peinture sur verre et de la vitrerie von Pierre Le Vieil, das kurz darauf in einer deutschen Übersetzung durch Johann Conrad Harrepeter vorlag. Hinzu trat die im gleichen Jahr von Gotthold Ephraim Lessing aufgefundene ­Schedula diversarum artium des Theophilus Presbyter, eine Handschrift des 12. Jahrhunderts, in der neben anderen Künsten auch die Herstellung von Glasmalereien beschrieben wird und die noch heute als eine der wichtigsten Quellen zu hochmittelalterlichen kunsttechnologischen Verfahren gilt. Daneben gelangten im 18. Jahrhundert eine Reihe von weiteren Traktaten zur Glasfarbenbereitung auf den Büchermarkt. Das theoretische Wissen war also vorhanden, bei richtiger Anwendung der Rezepturen und Verfahrenstechniken stand einer Herstellung von Glasmalereien nichts im Wege. Das so griffige wie unrichtige Bild vom Niedergang und der phönixgleichen Wiedererweckung der Glasmalerei fügte sich jedoch hervorragend in eine patriotisch unterfütterte Ideologie, deren Vertreter für ein Erstarken der Nation auf eigener kultureller Grundlage eintraten und diesem Ziel dadurch einen Schritt nähergekommen schienen.8 Zweifellos werden hinter dieser Anschauung die Konturen eines Entwicklungsmodells sichtbar, dessen sich schon Giorgio Vasari bedient hatte. In seinen Viten klassifizierte der Hofschreiber der Medici erstmals Künstler und ihre Werke auf der Referenzfolie der Antike, mit dem Ziel, die Errungenschaften seiner Generation als den Gipfelpunkt der Antikennachahmung herauszuheben, wobei er nicht müde wurde, hierbei stets den Primat seiner toskanischen Heimat über Rom zu betonen. Der von Vasari entliehene Gedanke von Aufstieg, Höhepunkt, Verfall und erneuter Wiedergeburt der Künste erweist sich in der Kunstliteratur der Romantik als geschickter Kunstgriff zur Beschwörung eines Zeitalters einer eigenen, explizit deutschen Renaissance. Angelehnt an die Idee von der Wiedergeburt der Künste aus dem Geist der Antike erschuf sich die Künstlergeneration Schlegels aus dem Geist des Mittelalters ihre vorbildlichen Werke und stellte sie den Leistungen der Antike als ebenbürtig gegenüber. Innerhalb dieses Narrativs überrascht es nicht, wenn die Glasmalerei im nationalen Überschwang der Zeit als eine genuin deutsche Erfindung gefeiert wurde.9

Die „Wiederentdecker“ Andreas und Lorenz Helmle als Fallbeispiel Zutreffend ist aber auch, dass das Glasmalereihandwerk in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum kaum mehr ausgeübt wurde. Die wenigen monumentalen Neuschöpfungen entstanden meist im Zusammenhang mit der Wiederherstellung alter Kirchenfenster und wurden von Dilettanten angefertigt, also von Tüftlern, die eine entsprechende Ausbildung zum Glasmaler nie erhalten hatten. Für den deutschsprachigen Südwesten lassen sich etwa der Lebkuchenbäcker und Kupferstecher JohannAdolph Dannegger benennen, der 1756 am Straßburger Münster tätig war, oder die Klos-

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terbrüder Michael und Anton Pfluger, die für den klassizistischen Neubau der Klosterkirche von St. Blasien im Schwarzwald Farbverglasungen herstellten.10 St. Blasien darf als ein erstaunlich frühes Beispiel für die gestiegene Wertschätzung von Glasmalereien in Kirchenbauten gelten. Der amtierende Abt Gerbert hatte im Jahr 1783 eine ganze Reihe hervorragender Renaissancefenster aus dem aufgehobenen Freiburger Kartäuserkloster erworben, um damit die Fenster seines Neubaus zu schmücken. Da die Scheiben zur Füllung sämtlicher Fensteröffnungen nicht ausreichten, betraute der Abt Michael und Anton Pfluger mit der Herstellung neuer Figurenfenster. Diese wandten sich, wie zuvor bereits Dannegger, zur Lösung der technischen Probleme an eine der vielen Glashütten des Schwarzwaldes. Sie profitierten dabei von der jahrhundertelangen Erfahrung in der Hohlund Flachglasproduktion und bestellten dort für ihr Vorhaben gelbes, blaues, violettes, türkisfarbenes und rotes Glas. Auf diese Spuren begaben sich vierzig Jahre später auch die Brüder Helmle, als sie die ersten monumentalen Glasmalereien für das Freiburger Münster schufen.11 Freiburg hatte unter den epochalen Umwälzungen besonders stark gelitten. Der Herrschaftswechsel des Jahres 1806 – von den jahrhundertealten Bindungen mit den Habsburgern hin zu den ungeliebten badischen Kurfürsten  – zwang die Bürgerschaft zu einer Neuausrichtung ­ihrer historischen Bezugskoordinaten. Als Nachfahren der Zähringerherzöge, die einst die Stadt gegründet hatten, verwiesen die neuen Landesherren auf das mittelalterliche Münster als steingewordenes Zeugnis eines traditionell fürsorglichen Verhältnisses von Herzog und Untertanen, hatte doch der Zähringer Berthold V. einst selbst in grauer Vorzeit den Grundstein zu dessen Neubau gelegt.12 Die Pfarrkirche war im Zuge der Bistumsneuordnung zum Sitz des Erzbischofs erhoben worden und sollte in der Folge unter Leitung einer sogenannten „Verschönerungskommission“ einen ihrem hohen Alter angemessenen, ­„gothischen“ Schmuck erhalten. Hierzu wurde das Innere – wie auch andernorts üblich – von späteren Ausstattungsstücken befreit und mit „stilreinen“ Neuschöpfungen versehen. Um die zahlreichen Lücken in der immer noch weitgehend original erhaltenen Farbver­ glasung zu füllen, fehlte es jedoch an einem dazu befähigten Glasmaler. Daher ließ man zunächst den Glasmacher Lorenz Hermann aus dem Schwarzwald holen, der unter anderem das schwer herzustellende rote Überfangglas mitbrachte und auch die Technik des Bemalens beherrschte.13

Exkurs: Zur Technik der Herstellung von Glasmalereien Zum besseren Verständnis sei die komplexe Herstellungstechnik hier kurz referiert: Das Ausgangsmaterial für Glasmalereien, das verschiedenfarbige Glas, wurde in den Glashütten hergestellt.14 Diese befanden sich in waldreichen Gebieten, da dort einerseits Brennholz zur Befeuerung des Ofens, andererseits die nötige Holzasche zur Reduzierung des Schmelzpunktes von Sand verfügbar war. Das Gemisch aus Sand und Holzasche wurde bei

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1200 Grad im Ofen geschmolzen. Mit der Glasmacherpfeife entnahm man einen Teil aus der zähfließenden Fritte und blies die glühende Glasmasse (Kölbel) zu einem Zylinder auf, den man anschließend längs aufschnitt und flachlegte. Zur Färbung der Fritte wurden kleinere Mengen verschiedener Metalloxide zugegeben, vor allem Eisen und Kupfer. Die Herstellung des roten Überfangglases gestaltete sich etwas aufwendiger, da in der Masse gefärbtes rotes Glas lichtundurchlässig ist. Für die Glasfenster allerdings benötigt man durchscheinendes Glas; um dies zu erreichen wurde zunächst farbloses Glas aus der Fritte geholt, das in eine zweite Fritte mit roter Glasschmelze getaucht oder überfangen wurde, bevor man es zu einem Zylinder formte. Zur Herstellung der figürlichen oder ornamentalen Glasmalereien trug der mittelalterliche Glasmaler eine Vorzeichnung der gewünschten Darstellung auf einer grundierten Holztafel auf und legte darauf den späteren Bleiverlauf und die Farbigkeit der einzelnen Gläser fest.15 Dieses Verfahren wurde bereits von Theophilus beschrieben.16

28a und 28b  Grundierte Holztafel mit Entwurfszeichnung, 14. Jh., Girona, Museu de la cathedral, sowie die nach dem Entwurf ausgeführte Verglasung, 14. Jh., Girona, Kathedrale.

Mit dem Trenneisen, einem heißen Eisenkolben, wurden dann die Gläser zurechtgeschnitten. Anstelle der Holztafeln kam im 15. Jahrhundert das Papier in Gebrauch. Nach dem originalgroßen Karton ließen sich Schablonen anfertigen, mit deren Hilfe wiederum die Gläser zugeschnitten wurden. Danach wurde die Zeichnung mit Schwarzlot, einem ­Gemisch aus Eisenhammerschlag und bleihaltigem Glas, auf die farbigen Glasfelder aufgetragen, das anschließend im Brennofen bei etwa 600 Grad dauerhaft eingebrannt wurde.

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Die verschiedenfarbigen Glasstücke wurden dann – einem Mosaik aus verschiedenfarbigen Steinen vergleichbar – auf dem Arbeitstisch zusammengefügt, in H-förmige Bleiruten gefasst und an den Berührungspunkten verlötet. Auf diese Weise erhielt man Felder von bis zu einem Quadratmeter Größe, die an den bauseitig mit Armierungseisen versehenen Fensteröffnungen befestigt werden konnten. All diese Arbeitsschritte scheint der Schwarzwälder Glasmacher Hermann beherrscht zu haben. Allerdings, das sei nicht verschwiegen, mangelte es ihm an künstlerischer Begabung, er war also für anspruchsvolle Arbeiten nicht geeignet. Bezeichnenderweise ist es wiederum einem Förderer aus den Reihen des alten Adels, dem Deutschordenskomtur Ludwig Ferdinand Benedikt von Reinach-Werth, zu verdanken, wenn die „Verschönerungskommission“ zur Behebung dieses Missstands nun die Uhrenschild- und Porträtmaler Andreas und Lorenz Helmle aus dem Schwarzwald an das Münster berief, die von Hermann die notwendige Verfahrenstechnik erlernten.17 Etwa dreihundert Jahre nachdem das Straßburger Atelier um Hans Ropstein die letzten großformatigen Glasmalereien für das Münster geschaffen hatte, entstand im Jahr 1823 erneut eine monumentale – wenn auch künstlerisch eher mediokre – Farbverglasung für ein Maßwerkfenster des Langhauses. Die zur Darstellung gebrachten Evangelisten wurden nach den bronzenen Apostel­ figuren des Sebaldusgrabes in der Nürnberger Sebalduskirche von Peter Vischer d. J. (1510–1512) umgesetzt, die aufgrund ihrer Vorbildlichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts weite druckgrafische Verbreitung gefunden hatten. In der Folgezeit verbesserten die Brüder mit finanzieller und ideeller Unterstützung ihres adligen Gönners ihre Technik und steigerten die Qualität ihrer Arbeiten. Unter Heranziehung der einschlägigen Fachliteratur stellten die beiden Tüftler bald selbst Schmelzfarben her, die man wie das Schwarzlot auf den Glasträger aufbrachte und anschließend einbrannte; auf diese Weise ließ sich ohne Einsatz von weiteren Bleiruten eine größere farbliche Differenzierung der Bilder erzielen. Darüber hinaus pflegten Andreas und Lorenz Helmle einen intensiven Austausch mit den Glashütten im Schwarzwald, die auf Nachfrage eine zunehmend größere Palette an farbigen Glastafeln liefern konnten.18 Die Glasmaler setzten zunächst nur druckgrafische Vorlagen um, später stand ihnen aber mit dem Basler Künstlerfreund Hieronymus Hess ein hervorragender Zeichner zur Seite, der ebenso originelle wie künstlerisch anspruchsvolle Entwürfe zu liefern imstande war.19 Das Wissen um die Herstellung von Glasmalereien war also nicht gänzlich verloren gegangen und musste auch nicht mühsam durch praktische Versuche neu gefunden ­werden. Das Problem bestand vielmehr darin, dass diese Kunst das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Handwerksdisziplinen war, welches aber aufgrund mangelnder Nachfrage nicht mehr praktiziert wurde, so dass die Verfahrensweisen erst wieder einstudiert und ausgeübt werden mussten. In Freiburg hatte man die verfügbare Literatur und das Know-how von Hüttentechnikern, Glasern, Malern und Schlossern zusammengeführt und war auf diese Weise zu einem überzeugenden Ergebnis gelangt.

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29  Andreas und Lorenz Helmle nach Entwurf von Hieronymus Hess, Allegorie der Künste vor dem Gebäude der Basler Lesegesellschaft, 1833, Basel, Haus der Lesegesellschaft.

Die Freiburger Glasmaler wurden damals in den einschlägigen Organen, darunter in Schorns Kunstblatt, der führenden deutschen Kunstfachzeitschrift, euphorisch als Pioniere und ­Wiederentdecker der Glasmalerei gefeiert.20 Andreas und Lorenz Helmle waren allerdings bei weitem nicht die einzigen, die sich auf diesem häufig von Adligen geförderten Gebiet versuchten, und so ist in der Literatur der Zeit häufig von Wiederentdeckern die Rede.

Alchemie und Geheimniskrämerei Zur ideellen Überhöhung der Glasmalerei trug noch ein zweiter Aspekt bei: Der technische Prozess der Herstellung von Glasmalereien war auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch von einer geheimnisumwobenen alchemistischen Aura umgeben,

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der die Positionen und Interessensgebiete der Romantik ganz vorzüglich bediente. Ein wichtiges Leitmotiv der Romantiker stellte die Suche nach den elementaren Kräften dar, die hinter der vordergründig sichtbaren Welt im Verborgenen auf Natur und Mensch wirkten. Die Chemie der Elemente spielt bekanntlich auch in den bedeutendsten literarischen Werken der Romantik eine Schlüsselrolle, so etwa im 1802 erschienenen Roman Heinrich von Ofterdingen von Novalis. Als Bergbaufachmann trieb Novalis selbst Studien in Chemie und Alchemie.21 Goethes Faust von 1808 ist ein alchemistisches Drama und seine Wahlverwandtschaften handeln, wie der Titel ankündigt, von der Chemie der menschlichen Bindung und dem Versuch, das Paarungsverhalten auf jene im Dunkeln waltenden chemischen Zusammenhänge zurückzuführen.22 Obwohl das notwendige Wissen zur Herstellung des Glases und seiner unterschiedlichen Farben bekanntlich in der Fachliteratur vorlag, wiesen die Praktiker gerne auf ihre speziellen Geheimrezepturen hin, die sie vorgeblich auf der Grundlage zahlloser Versuche in ihren Laborküchen entwickelt hatten.23 In der zeitgenössischen Kunstliteratur stieß die Herstellung der roten Farbe dabei auf besonderes Interesse, welche eng mit dem Namen von Kunckel und seinen alchemistischen Experimenten auf der Berliner Pfaueninsel verbunden war: Hier rückte vor allem sein aufwendiges Verfahren in den Vordergrund, bei dem unter Verwendung von Gold sogenanntes Goldrubinglas hergestellt werden konnte. Dabei werden geringe Goldmengen in Königswasser gelöst und der Schmelze zugegeben. Erst durch ein zweites Anwärmen des geblasenen Glases ballten sich die Nanopartikel zu größeren Teilchen zusammen und entwickelten die rubinrote Färbung. Wenngleich diese Technik unter anderem schon von Kunckel beschrieben worden war, spielte sie jedoch in der Glasmalerei keine bedeutende Rolle, weil das bereits beschriebene kostengünstige Verfahren zur Herstellung des Überfangrots mit einwertigem Kupfer- oder Eisenoxid die gängige Methode darstellte.24 Die Glasmaler haben es mitunter gut verstanden, aus dieser sonderbaren Mode der Alchemie finanziellen Nutzen zu ziehen, und haben Geheimniskrämerei als Geschäfts­ gebaren kultiviert. So wollte etwa der Kölner Glasmaler Birrenbach im Jahr 1818 gegen Zahlung einer lebenslänglichen Pension sein „Geheimnis“ zur Herstellung von Glasmalereien an den Staat verkaufen.25 In Bayern war man glücklicherweise schon besser informiert: dort hieß es, dass bereits vor mehr als 15 Jahren die Glasmalerei durch Michael ­Sigmund Frank „erfunden“ worden sei. Franks eigener Lebenslauf ist übrigens ein Lehrstück für geschickte Verhandlungsführung. Der bayerische König Max I. Joseph hatte damals im Überschwang für die Kunst der Glasmalerei Franks Forderungen nach 1.000 Gulden und kostenloser Logis nur allzu bereitwillig erfüllt, um in den Genuss dieser begehrten Kunstobjekte zu gelangen. Für Frank war es ein Leichtes, einzelne Felder für 500 Gulden an den Mann zu bringen. Nicht der Herstellungsprozess selbst rechtfertigte solche hohen Summen, sondern allein die Nachfrage der überwiegend adligen Interessenten. Im Jahr 1813 erhielt Frank auch eine Anstellung am Schloss Ludwigs von Oettingen-Wallerstein. Der Fürst plante dort neben einer lithografischen Anstalt auch die Errichtung eines chemi-

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schen Labors, einer Glasmalereianstalt und eines botanischen Gartens. Nach drei Jahren hatte sich allerdings Franks Arbeitgeber tief verschuldet, ohne ihm das „Geheimnis“ abgekauft zu haben. An seinem späteren Arbeitsplatz, der Nymphenburger Porzellanmanu­ faktur, wurde Frank endlich zur Niederschrift seines Arcanums verpflichtet. Der Hauptprobierer weigerte sich jedoch, danach Versuche anzustellen, da die Rezepte „in öffentlichen Schriften vollständiger vorhanden seien“.26 Praktiker und Handwerker ließen sich demnach nicht so schnell wie die romantisch versponnenen Adligen hinters Licht führen. „Von einer eigentlich neuen Erfindung kann im Grunde keine Rede sein“, heißt es in der Stellungnahme. „Das bunte Glas selbst hervorzubringen ist Sache der Glas- und Schmelz­ hütten. Was den Glasmaler [...] betrifft, so hat sich dieser lediglich mit der Bereitung der schwarzen und braunen, allenfalls mit der gelben Farbe zu beschäftigen.“27

Kunstindustrie und Materialgerechtigkeit Ich komme zu einem letzten, wiederum stark ideologisch geprägten Punkt, der einen erheblichen Einfluss auf die Stildiskussion der damaligen Zeit ausübte, zumal sich daran auch dezidierte Überlegungen zur Anwendung der richtigen künstlerischen Techniken anschlossen. Franz Hubert Müller, Galeriedirektor in Darmstadt und Herausgeber des Mappenwerks zur Oppenheimer Katharinenkirche, setzte sich wie viele seiner Zeitgenossen für eine christlich-patriotische Erneuerung der Kunst ein. Müller konstruierte in seinen erstmals 1832 erschienenen „Beiträgen einer deutschen Geschichtskunde“ ein kunsthistorisches Entwicklungsmodell vom Aufstieg, Höhepunkt und Verfall der Glasmalerei, die ihre Blütezeit im 13. Jahrhundert erreicht habe.28 In ihrem erhabenen Ernst und der frommen Einfachheit spiegele sich, so der Autor, die harmonische, im christlichen Glauben geeinte Gesellschaft. Diese Harmonie habe auch den mittelalterlichen Bauhüttenbetrieb geprägt, in dem alle Künste unter einem Dach vereint gewesen seien und im freien Austausch miteinander gestanden hätten, um gemeinsam das Gesamtkunstwerk der Kathedrale erstehen zu lassen. Der Glasmalerei wies Müller dabei einen besonderen Rang zu, weil sie ihm geradezu als exemplarisches Beispiel für das richtige Zusammenwirken der verschiedenen Disziplinen galt. Vorbildhaft waren ihm die Werke des 13. Jahrhunderts, die sich aus seiner Sicht noch durch Materialgerechtigkeit auszeichneten: Die Farbverglasungen hatten die Funktion des Fensterverschlusses, und das hierzu notwendige Material formte auch das künstlerische Erscheinungsbild der Verglasungen. Charakteristisch hierfür waren daher teppichartige und flächenhafte Kompositionen, die gestalterischen Qualitäten des Bleinetzes und das kontraststarke Kolorit. Seiner Überzeugung nach kam es mit der Lösung aus dem Bauhüttenverband im Zeitalter der Glaubensspaltung zu einer unnatürlichen Trennung von Kunsthandwerkern und Künstlern, die auch für das Erscheinungsbild der Glasmalereien Folgen hatte. Leider hätten sich die Glasmaler, so Müller, damals vom ­Wesen der Glasmalerei entfernt und sich weltlichen Reizen geöffnet, indem sie zunehmend

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30  Peter Graß, Ursula- und Clemens-Fenster, Köln, Dom, Stephanuskapelle, 1852. Graß lehnt sich hier technisch wie stilistisch an den musivischen Stil der originalen Chorverglasung um 1330 an.

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auf die Gestaltungsmittel der Maler zurückgriffen. Dies zeige sich etwa in der körperhaften Modellierung, der illusionistischen Gestaltung und der Verwendung von Schmelz­ farben anstelle von farbigen Hüttengläsern, was zu einer Reduktion der Verbleiung ­geführt habe. In den Augen Müllers und vieler seiner Zeitgenossen stellten die Renaissanceverglasungen bereits Produkte des Verfalls dar. Die Idee, dass die Kunst nur auf dem Nährboden der Religion und im engen Austausch mit den verschiedenen Disziplinen gedeihen könne, war auch ein wesentlicher Gedanke der Neugotiker, die auf die kirchliche Kunstproduktion der folgenden Jahrzehnte zunehmend Einfluss ausübten.29 Die Stildogmatiker besaßen in Kirchenkreisen eine starke Lobby und überzeugten die Auftraggeber von der Notwendigkeit materialgerechter Glasmalerei. An den Glasmalereien des Kölner Doms lässt sich diese Entwicklung gut nachverfolgen. (Farbabb. 8) Während man zunächst noch die so genannten Bayernfenster der von König Ludwig errichteten Glasmalereianstalt in München willkommen geheißen hatte, die durch reiche Verwendung von Schmelzfarben der Wirkung von Gemälden nahe stehen und auch stilistisch Werke der Renaissance zum Vorbild haben, konnten sich seit der Jahrhundertmitte wieder die musivische Technik und der einfache Stil des Hochmittelalters durchsetzen.30 Wesentlichen Anteil daran hatte der Kölner Friedrich Baudri, der sich in seiner Glas­ malereiwerkstatt sogar um eine entsprechende bauhüttengerechte Produktionsweise ­bemühte, indem er Künstler und Handwerker am selben Ort zusammenarbeiten ließ. ­Baudri war ein anerkannter Führer des politischen Katholizismus in Köln und bezog im heraufziehenden Kulturkampf gegen die liberale Politik der preußischen Herrschaft klar Position für die Sache der Katholiken. Den künstlerischen Rückgriff auf die Epoche des Mittelalters, die als Blütezeit der noch geeinten Kirche hochgehalten wurde, verstand Baudri als politisches Programm zur Festigung der Institution. Sein Freund und Parteikollege von der Zentrumspartei, August Reichensperger, fasste die Notwendigkeit zur Erneuerung der Künste in einer Rede in der preußischen Abgeordnetenkammer von 1852 wie folgt zusammen: Das Überleben der Kunst hängt davon ab, ob sich die höhere Kunstübung wieder mit dem Handwerk verbinde, und dass sich alle Künste wieder auf dem Boden der Architektur sammelten, auf welchem sie entsprossen sind. Durch ihre Lostrennung ist die Kunst in den höheren Regionen verdunstet, weil sie ihre geschichtliche, volkstümliche Grundlage eingebüßt hat, während das Handwerk mechanisch und dem Fabrikwesen leibeigen geworden ist, mit dem es die Konkurrenz unmöglich aushalten kann; es muss die Kunst wieder vom Volk zum Volke reden, Fleisch von seinem Fleische, Leben von seinem Leben werden. [...] Beseitigen Sie den vornehmen Apparat der Kunstakademien. Verpflanzen Sie den Katheder wieder in die Bauhütte. Die Engländer verstanden es besser, sich das Franzosentum und Neuheidentum vom Halse zu halten. England hat stets an seinen alten Traditionen festgehalten. Der Bildungsapparat ist dort nicht nötig, er fördert nicht nur nicht, sondern er lähmt auch die schöpferischen Kräfte.31

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31  Heinrich Oidtmann, im drucktechnischen Verfahren hergestellte Ornamentverglasung, Jesionowo (Eschenau), Polen, Kath. Filialkirche, 1870er bis 1890er Jahre.

Zur gleichen Zeit wuchs den Dogmatikern aber in den eigenen Reihen ein Feind heran. Der Rheinländer Friedrich Oidtmann näherte sich der Produktion von einer ganz anderen, viel pragmatischeren Seite. Als klassischer Vertreter der Industrialisierung mischte der gelernte Arzt den Markt gehörig auf, indem er erstmals fabrikmäßig hergestellte Massenware anbot.32 Seiner Meinung nach sollte sich der Glasmaler die modernen technologischen Errungenschaften wie fotografische Verfahren und Drucktechniken zunutze machen, weil dadurch eine gleichmäßige Qualität und eine günstigere Produktion ermöglicht werde. Seine Firma setzte auf die zeitgemäßen Standards von Rationalisierung und Arbeits­teilung und stand damit den Positionen der katholischen Ideologen diametral gegenüber. Im Zeitalter des Kirchenbaubooms hatte Oidtmann & Cie mit seinen Erzeugnissen beträchtlichen Erfolg. Besonders die vielen kleineren Kirchen, die nur über ein schmales Budget ver­ fügten, wussten den günstigen Preis dieser Werke – zum großen Ärger der Neugotiker –

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zu schätzen. Dabei standen sich die Gegner in einem Punkt, nämlich der Nachahmung mittelalterlicher Vorbilder, durchaus nahe: Gerade die ständige Rückbindung an das vorbildhaft empfundene Mittelalter lähmte die stets beschworenen schöpferischen Kräfte und brachte vielerorts seelenlose Werke hervor.33 Die Produkte der Neugotiker hielten hier den selbst gesteckten Zielen, die künstlerische Qualität zu heben, keineswegs stand. Genau daran setzten aber auch die industriellen Erzeugnisse Oidtmanns an. Seine Errungenschaft, mittels drucktechnischer und fotografischer Verfahren die alten Vorbilder ohne verfälschende Zutaten auf das Glas übertragen zu können, war im Grunde nur die letzte Konsequenz eines unfreien Nachahmungszwangs, dem die Neugotiker bereits den Weg bereitet hatten.34 Der Historismus bildete den Nährboden für das Wiederaufblühen künstlerischer Verfahrenstechniken, aber auch ganzer Kunstzweige, die mangels Nachfrage über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten waren. Es war vorzugsweise der Adel, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Sammeln alter Glasmalereien pflegte und ihren Stellenwert als historische Zeugnisse vergangener Epochen erkannte. Ein vertieftes historisches Bewusstsein und Traditionspflege mögen hierfür wesentliche Beweggründe gewesen sein, zumal der Adel in mittelalterlicher Zeit zu den häufigsten 32  Jan Thorn-Prikker, Phönix mit Kreuzfahne, Köln, St. Georg, 1928–31.

Stiftern von Glasmalereien zählte. Er gehörte aber nicht allein aufgrund der Notwendigkeit, Sammlungen instand zu halten und zu präsentieren, zu

den ersten Förderern einer Wiederbelebung dieses Kunstzweigs. Mit der Rückbesinnung auf alles Vaterländische zu Beginn des 19. Jahrhunderts geriet die Glasmalerei als eine tief in mittelalterlicher Zeit und im Religiösen verwurzelte Gattung früh in den Fokus kunst­ politischer Überlegungen. Das Erstarken der reaktionären Kräfte in Politik und Kirche hatte schließlich die ideologische Vereinnahmung zur Folge, wobei die Kirche als bald mächtigster Auftraggeber über die korrekte Ausübung mittelalterlicher Verfahrenstechniken und die Wahl von Stil und Ikonografie wachte. Unter solchen Voraussetzungen waren die Möglichkeiten einer künstlerischen Entwicklung der Glasmalerei im 19. Jahrhundert

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stark eingeschränkt. Erst im Jugendstil und Expressionismus fand sie zu künstlerisch eigenständigeren Ausdrucksformen, die sich gleichwohl der Ideen der Materialgerechtigkeit bedienten. In den letzten Jahrzehnten hat hier die Entwicklung innovativer technischer Verfahren den Künstlern neue Möglichkeiten der Gestaltung eröffnet und zur Entideologisierung der Diskussion beigetragen.

Anmerkungen 1

Der vorliegende Beitrag geht in seinen Grundzügen auf einen Vortrag aus dem Jahr 2006 zurück, den ich auf dem 22. Colloquium des Internationalen CVMA in Tours gehalten hatte. Er liegt in publizierter Form vor: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Wiederbelebungsmythen im Zeit­ alter nationaler Selbstfindung, in: Le Vitrail et les traités du Moyen Âge à nos jours (Actes du XXIIIe colloque international du Corpus Vitrearum Tours, 3–7 Juli 2006), textes réunis par Karine Boulanger et Michel Hérold., Bern u. a. 2008, S. 225–240 und Farbabb. XII (auch als Vorabpublikation im Internet: Programme et résumés des communications, S. 34–36, o. O. 2006: http://www. centrechastel.paris-sorbonne.fr/sites/default/files/content/file/news/vitrail_traites_livret.pdf [zuletzt aufgerufen 5.11.2017]).

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Zu Wörlitz siehe Mylène Ruoss und Barbara Giesicke, Die Glasgemälde im Gotischen Haus zu Wörlitz, hrsg. von Rüdiger Becksmann, 2 Bde., Berlin 2012; zum Bau der Löwenburg zuletzt Anja Dötsch, Die Löwenburg im Schlosspark Kassel-Wilhelmshöhe. Eine künstliche Ruine des späten 18. Jahrhunderts (Studien zum Kulturerbe in Hessen), Regensburg 2006; zur Herkunft der mittelalterlichen Verglasung vgl. Daniel Parello, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen (CVMA Deutschland III,3), Berlin 2008, S. 216–240, S. 254–260, S. 280–283; zu Erbach und seiner Sammlung alter Glasmalereien siehe Daniel Hess, „Modespiel“ der Neugotik oder Denkmal der Vergangenheit? Die Glasmalereisammlung in Erbach und ihr Kontext, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50, 1995/96, S. 227–248, sowie Uwe Gast, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Oppenheim, Rhein- und Südhessen (CVMA Deutschland III,1), Berlin 2011, S. 109–137. Uwe Gast hat jüngst in einem Beitrag zur Geschichte von GlasmalereiSammlungen darauf hingewiesen, dass Glasmalereien bereits in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance- und Barockzeit verschiedentlich als Sammlungsgegenstand anzutreffen waren. Die damals nicht nur vom Adel, sondern auch vom Patriziat und dem wohlhabenden Bürgertum aufgebauten Sammlungen umfassten unterschiedlichste Objekte aus Natur, Wissenschaft und Kunst, die mit enzyklopädischem Anspruch erworben und bisweilen nach diversen Kategorien museologisch klassifiziert wurden. Uwe Gast, Glasmalerei-Sammlungen um 1750– 1850 – Formen und Funktionen, in: Collections of Stained Glass and their Histories (Transactions of the 25th International Colloquium of the Corpus Vitrearum in Saint Petersburg, The State Hermitage Museum, 2010), hrsg. von Tim Ayers, Brigitte Kurmann-Schwarz, Claudine Lautier & Hartmut Scholz, Bern u. a. 2012, S. 13–26, sowie demnächst ders., The Beginnings of Stained Glass Collecting in Germany, in: Reading Medieval Sources: Stained Glass, hrsg. von Elizabeth Pastan und Brigitte Kurmann-Schwarz, Leiden 2018 [im Druck].

3

Daniel Parello, Neueberstein Castle and its Collection of Stained Glass, in: Collecting Through Connections. Glass and Stained-Glass Collectors and Their Networks in the 19th CenturyRevista da História da Arte 3, 2015, S. 29–44 (Onlinepublikation: http://revistaharte.fcsh.unl.pt/rhaw3/ RHAw3.pdf [zuletzt aufgerufen 25.10.2017]).

Im Dämmerlicht des Mittelalters I 175

 4 Zu den Entstehungsprozessen des Patriotischen in der Kunst siehe jetzt den anregenden Sammelband: Klassizismus – Gotik. Karl Friedrich Schinkel und die patriotische Baukunst, hrsg. von Annette Dorgerloh, Michael Niedermeier und Horst Bredekamp, München/Berlin 2007.  5 Johann Heinrich Meyer, Johann Wolfgang Goethe, Neu-deutsche religiös-patriotische Kunst, in: Über Kunst und Altertum in den Rhein- und Maingegenden 1, 1817, Heft 2, zit. nach: Wolfgang Beyrodt und Werner Busch, Kunsttheorie und Malerei, Kunstwissenschaft (Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Texte und Dokumente 1), Stuttgart 1986, S. 129–133.  6 Friedrich Schlegel, Zweiter Nachtrag alter Gemählde, in: Europa 2, 1805, Heft 2, S. 32. Schlegel berichtet hier von einem Besuch im Musée des Monuments français in Paris.  7 So etwa Franz Hubert Müller, Beiträge zur deutschen Kunst- und Geschichtskunde durch Kunst­ denkmale mit vorzüglicher Berücksichtigung des Mittelalters 1, Leipzig/Darmstadt 1832, S. 68–70 (2. Aufl. 1837).  8 Vgl. Müller 1832 (Anm. 7), S. 68–70, zit. nach der 2. Aufl. von 1837.  9 Vermutlich als Reaktion auf die Behauptung Le Vieils, wonach Deutsche und Engländer die Kunst von den Franzosen erlernt hätten, bezweifelt ein mit BG signierender Autor in Friedrich Schillers Württembergischem Repertorium der Literatur von 1781 nicht nur die frühe Entstehung der Glasmalereien von Abt Suger in Saint Denis, er stellt dem jene, später berühmt gewordene Nachricht des Abtes Gozbert im bayerischen Kloster Tegernsee gegenüber, der im Jahr 983 von einem Grafen Arnold gemalte Fensterscheiben erhält. Der Autor schließt mit den Worten: „Und so ergiebt sich bei weiteren Untersuchungen vielleicht mit Gewißheit, daß auch die Glasmahlerei eine echt deutsche Erfindung ist“. Wirtembergisches Repertorium der Litteratur II, Heilbronn/Ulm 1782, Nr. II, S. 225–228. Fiorillo wird später im ersten Band seiner Geschichte der zeichnenden Künste dankbar darauf zurückgreifen. Siehe Johann Dominico Fiorillo, Geschichte der zeichnenden ­Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden, Bd. 1, Hannover, 1815, S. 199. 10 Zu Danegger siehe Hans Haug, Aux confins de l’art populaire. Jean-Adolphe Dannecker 1700– 1776, in: Cahiers Alsaciens d’Archéologie, d’Art et d’Histoire 9, 1965, S. 71–92; zuletzt Rüdiger Becksmann, Die verschollene Denkschrift des Jean-Adolphe Dannegger oder die verpaßte Chance einer Wiedergeburt der monumentalen Glasmalerei in Straßburg um 1750, in: Auf der Suche 2008 (Anm. 1), S. 205–224; zu Pfluger vgl. Johannes Gut, Die Farbfenster der frühklassizistischen Klosterkirche St. Blasien, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 25, 1988, S. 108–159. 11 Daniel Parello, Von Helmle bis Geiges. Ein Jahrhundert historistischer Glasmalerei in Freiburg (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau 31), Freiburg im Breisgau 2000, S. 33–52. 12 Hierzu Hans Schadek, Zwischen Baden und Österreich. Zähringertradition als Instrument städti­ scher Politik, in: Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau, hrsg. von Heiko Haumann und Hans Schadek, Bd. 3, Stuttgart 1993, S. 43–53. 13 Ebd., S. 36–41. 14 Siehe dazu Sebastian Strobl, Glastechnik des Mittelalters, Stuttgart 1990. 15 In Girona/Katalonien sowie in Brandenburg an der Havel haben sich auf diese Weise verwendete Holztafeln erhalten. Zu Girona siehe Joan Villa-Grau, El vitrall gòtik a Catalunya. Descoberta de la Taula de vitraller de Girona, Barcelona 1985; zuletzt Anna Santolaria Tura, Glazing on WhiteWashed Tables. La taula de Girona, Girona 2014. Zu Brandenburg an der Havel: Karl-Joachim Maercker, Überlegungen zu drei Scheibenrissen auf dem „Böhmischen Altar“ im Dom zu Bran­ denburg, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 40, 1986 (Festschrift für Eva Frodl-Kraft zum 70. Geburtstag), S. 183–189.

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16 Erhard Brepohl, Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk. Gesamtausgabe der Schrift ‚de diversis artibus’ in zwei Bänden, Bd. I: Malerei und Glas, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 145–165, bes. S. 154–155. 17 Parello 2000 (Anm. 11), S. 36–44. 18 Das Farbglas wurde von den Glashütten in Bubenbach bei Titisee-Neustadt und Gaggenau bei Baden-Baden geliefert; Parello 2000 (Anm. 11), S. 38–41. Zum Glashüttenbetrieb im Schwarzwald siehe Bertram Jenisch und Hansjosef Maus, Schwarzwälder Waldglas. Glashütten, Rohmaterial und Produkte der Glasmacherei vom 12.–19. Jahrhundert (Alemannisches Jahrbuch 1997–1999), S. 325–524. 19 Anne Nagel und Hortensia von Roda, „Der Augenlust und dem Gemüth“. Glasmalerei in Basel 1830–1930, Basel 1998, S. 156–212; Parello 2000 (Anm. 11), S. 100–111. 20 Siehe etwa die Besprechung der Werke der kgl. Glasmalereianstalt in München in: Schorns KunstBlatt 10, 1829, S. 193–194, 358, und 13, 1832, S. 97–104. 21 Herbert Uerlings, Die Bedeutung des Bergbaus für den Heinrich von Ofterdingen, in: Bergbau und Dichtung. Friedrich von Hardenberg (Novalis) zum 200. Todestag, hrsg. von Eleonore Sent, Weimar/Jena 2003, S. 25–55. 22 Zum Stellenwert der Chemie in der Literatur der Romantik grundlegend: Peter Kapitza, Die früh­ romantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie (Münchener Germanistische Beiträge 4), München 1968. 23 Schon Pierre Le Vieil räumt im XVIII. Kapitel seines Fachbuchs zur Glasmalerei mit diesem gängigen Vorurteil auf: „C’est par erreur qu’on s’imagine que le secret du verre de couleur est perdu“. Pierre Le Vieil, L’art de la peinture sur verre et de la vitrerie, Paris 1774, S. 84. 24 Walter Spiegl, Magie und Geheimnis des Rubinglases. Johannes Kunckel und die Erfindung des Goldrubins, in: Weltkunst 19, 1988, S. 2819–2821. Zur Herstellung des Überfangrots durch Johann Georg Bühler und Jacques Fr. Schweighäuser in den Schwarzwälder Glashütten (um 1808) siehe Elgin Vaassen, Bilder auf Glas. Glasgemälde zwischen 1780 und 1870 (Kunstwissenschaftliche ­Studien 70), München/Berlin 1997, S. 41–43. 25 Vaassen 1997 (Anm. 26), S. 180. 26 Ebd., S. 159–162. 27 Ebd., S. 159–160. 28 Müller 1832 (Anm. 7), S. 68–70. 29 Auf diesem kunstideologischen Unterbau gründen noch die Versuche des Kölner Malers Friedrich Baudri, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit der Kölner Bauhütte stilechte Glasmalereien herstellen wollte. Vgl. hierzu Daniel Parello, Anspruch und Wirklichkeit in der religiösen Kunstindustrie am Beispiel der rheinischen Glasmalereiwerkstätten Baudri und Oidtmann, in: Renaissance der Gotik. Widerstand gegen die Staatsgewalt? (Kolloquium zur Kunst der Neugotik im Museum für Kunst und Kulturgeschichte Goch 26.–28.4.2002), hrsg. von Ulrike Schubert und Stephan Mann, Kleve 2003, S. 171–185. 30 Zu den von König Ludwig I. gestifteten Fenstern siehe jetzt Stephan Dahmen, Die Bayernfenster des Kölner Domes. Kirchenausstattung zwischen Kunst, Theologie und Politik (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 29), Köln 2009. 31 Rede Reichenspergers auf der Generalversammlung des Kölner Dombauvereins in: Kölner Dom­ blatt. Amtliche Mittheilungen des Central-Dombau-Vereins Nr. 70 (1.12.1850); hierzu auch August Reichensperger, Ueber das Kunsthandwerk. Vortrag gehalten zu Köln in der Wolkenburg am 4. März 1875, Köln 1875 (Sonderabdruck der Kölner Volkszeitung); zur Kunstpolitik Reichenspergers siehe: August Reichensperger. Koblenz – Köln – Europa. Ausst.-Kat. (Koblenz, MittelrheinMuseum und Köln, 2005), hrsg. von Mario Kramp, Rolf Lauer und Werner Schäfke, Koblenz 2005.

Im Dämmerlicht des Mittelalters I 177

32 Daniel Parello. Zur Firmengeschichte der Oidtmannschen Werkstatt, in: Hauset. Seine neogoti­ sche St. Rochus- und Genoveva-Kirche und die alte St. Rochuskapelle, hrsg. von Emiel Ignace de Wilde u. a., Antwerpen 1995, S. 150–156. 33 Bemerkenswerterweise wies gerade der profilierteste Verfechter der Neugotiker, August Reichensperger, auf diesen Missstand der Langeweile in der zeitgenössischen religiösen Kunstproduktion hin und erkannte die Ursache hierfür im fehlenden Humor der Künstler: „Der Humor ist in meinen Augen ein Prüfstein; wo kein Humor mehr herrscht, ist das wahre, das echte Kunstleben zurückgetreten, möge die Langeweile sich auch noch so ‚klassisch‘ geberden“. Reichensperger 1875 (Anm. 33), S. 17. 34 Hierzu: Ueber Pyrophotographie. Referat nach Oidtmann’s Abhandlung, gegeben von Theodor Prümm, in: Photographische Mitteilungen, Zeitschrift des Vereins zur Förderung der Photographie 6 (1870), S. 88–94, sowie Hermann Wilhelm Vogel, Die chemischen Wirkungen des Lichts und die Photographie in ihrer Anwendung in Kunst, Wissenschaft und Industrie, Leipzig 1874, S. 247– 250. Beispiele für im Steindruck sowie im Lichtdruck hergestellte Farbverglasungen in: Glasmale­ rei des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Ausst.-Kat. (Erfurt, Angermuseum, 1993), hrsg. von ­Monika Böning u. a., Leipzig 1993, S. 212–215, sowie Die Tätigkeit der Glasmalereiwerkstatt Dr. H. Oidtmann in Ost- und Westpreussen in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts, hrsg. von Myriam Wierschowski, Deutsches Glasmalereimuseum Linnich 2007.

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Christian Berger

Künstlerischer Neubeginn durch ein „altmodisches“ Verfahren Jasper Johns und die Enkaustik

Ein spektakuläres Debüt Jasper Johns’ Flag zählt sicherlich zu den Schlüsselwerken der US-amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts. (Farbabb. 9) Die großformatige Ins-Bild-Setzung einer Flagge der Vereinigten Staaten frappiert bis heute nicht nur durch ihren Gegenstand, sondern auch durch ihre Machart: Die Oberfläche erscheint betont malerisch gestaltet, einzelne Pinselstriche sind ebenso deutlich sichtbar wie festgetrocknete Farbtropfen. Durch die stellenweise halbtransparente Farbschicht ist eine Lage aus Zeitungsausschnitten als weitere Oberflächenschicht über dem Bildgrund zu erkennen. Sowohl die partielle Transparenz als auch die plastische Qualität der Oberfläche gehen auf Johns’ ungewöhnliche Technik zurück, die auf der Verwendung von Wachs als Bindemittel basiert. Da Wachs bei Raumtemperatur fest ist, muss es durch Erhitzung verflüssigt werden, um als Farbmasse mit einem Pinsel oder Spachtel aufgetragen und verteilt ­werden zu können. Anschließend erkaltet es recht schnell, sodass Pinselstriche wie eingefroren erscheinen und hinabfließende Farbtropfen in der Bewegung erstarren. In seiner klassischen Form wird dieses Verfahren als „Enkaustik“ bezeichnet. Der Begriff leitet sich vom altgriechischen enkaio her, was „dem Feuer ausgesetzt“ bedeutet; wörtlich ließe sich Enkaustik als „Einbrennverfahren“ übersetzen.1 Zu den ersten Zeugnissen zählen ägyptische Mumienporträts, also bemalte Holztafeln, die am Kopfende von Mumien eingelassen waren.2 Über die antiken Verfahren ist wenig bekannt; die spätere Literatur bezieht sich vor allem auf die Naturalis Historia Plinius’ des Älteren aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.3 Dabei ist unklar, wie präzise die Kenntnisse der tatsächlichen Verfahren als Grundlage für diesen Bericht waren.4 Dennoch betrachteten spätere Autoren, etwa der Comte de Caylus im 18. Jahrhundert, Plinius’ Naturkunde als autoritative Quelle.5 Die ersten antiken Mumienporträts wurden Ende des 19. Jahrhunderts gefunden und stießen gerade hinsichtlich ihrer Maltechnik auf großes Interesse.6 Das Verfahren war – und ist bis heute – einerseits recht ungewöhnlich, andererseits grundsätzlich bekannt und in Handbüchern zur Maltechnik präsent.7 In Bezug auf Johns’

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33  Jasper Johns, Green Target, 1955, Enkaustik auf Zeitungspapier und Stoff über Leinwand, 152,4 x 152,4 cm, The Museum of Modern Art, New York, Richard S. Zeisler Fund.

Beginn der Arbeit mit wachsbasierten Verfahren Mitte der 1950er Jahre erscheint somit der Bericht seiner engen Bekannten Rachel Rosenthal aus jener Zeit plausibel: Rosenthal erinnerte sich an „ein dickes Buch über künstlerische Techniken“, an das Johns im Zuge seiner Nebentätigkeit in der Buchhandlung Marboro gekommen sei und dem er den Hinweis auf das enkaustische Verfahren entnommen habe.8 Über die tieferen Motivationen der Wahl dieser Technik ist damit allerdings noch nichts ausgesagt. Flag entstand in den Jahren 1954 bis 1955. Der Galerist Leo Castelli sah das Gemälde zusammen mit weiteren Bildern 1957 in Johns’ Atelier in der New Yorker Pearl Street, als er den im gleichen Gebäude arbeitenden und mit Johns befreundeten Robert Rauschenberg besuchte. Obwohl Castelli zuvor bereits ein, wie er schreibt, „sehr eigenartiges Ge-

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mälde“ von Johns, Green Target, in einer Ausstellung im Jewish Museum in New York aufgefallen war, schildert er den Besuch als veritables Entdeckungserlebnis: Dort, in seinem Studio, inmitten einer Unzahl der seltsamsten Malsujets – amerikanische Flaggen, Zielscheiben, Serien von Ziffern und Zahlen – überkam mich eine untrügliche Ahnung seiner herausragenden Größe. Noch am selben Tag, ohne mir Zeit zum Überlegen zu geben, bat ich Johns, ein Künstler meiner Galerie zu werden.9

Im darauffolgenden Jahr präsentierte Castelli siebzehn Werke von Johns in einer Ausstellung, darunter zwei weitere Flaggenbilder und mehrere Arbeiten, die Zielscheiben oder Ziffern zum Gegenstand hatten. Alfred H. Barr, der Gründungsdirektor des Museum of Modern Art, erwarb aus dieser ersten Einzelausstellung des erst 27-jährigen Johns drei Werke für sein Haus, darunter Green Target. Vor dem Ankauf von Flag schreckte Barr jedoch zurück, aus Furcht vor politischen Kontroversen im Ankaufskomitee des Museums – hätte das Bild von dessen Mitgliedern doch für unpatriotisch gehalten werden können. Stattdessen überzeugte er den Architekten Philip Johnson, das Gemälde zu erwerben und zu einem späteren Zeitpunkt dem Museum zu schenken. Insgesamt wurden nur zwei der siebzehn bei Castelli gezeigten Gemälde nicht verkauft.10

34  Jasper Johns, Target with Four Faces, 1955, Enkaustik und Zeitungspapier auf Stoff über Leinwand, darüber vier farbige Gipsabgüsse von Gesichtern in einem Holzkasten mit aufklappbarer Vorderseite, Gesamtmaße bei geöff­ netem Kasten: 85,3 x 66 x 7,6 cm; Leinwand: 66 x 66 cm; Kasten (geschlossen): 9,5 x 66 x 8,9 cm, The Museum of Modern Art, New York, Schenkung Mr. und Mrs. Robert C. Skull.

Künstlerischer Neubeginn durch ein „altmodisches“ Verfahren I 181

Mit der Ausstellung wurde der vorher weitgehend unbekannte, erst fünf Jahre zuvor nach New York gezogene Johns schlagartig berühmt. Die Ausstellung war publizistisch gut vorbereitet: Im Monat der Eröffnung war Target with Four Faces auf der Titelseite der Zeitschrift Artnews zu sehen. Daneben führt die Forschung den extremen Erfolg vor allem auf den Neuigkeitswert von Johns’ Werken zurück, der auf der ungewöhnlichen Kombination alltäglicher kultureller Zeichen mit einer dezidiert malerischen Faktur basierte – einer Gestaltung, die untrennbar mit seiner spezifischen Maltechnik verknüpft ist.11 Die Besonderheit von Johns’ enkaustischen Verfahren und der daraus resultierenden Erscheinung seiner Werke wurde zwar immer wieder diskutiert, war aber überraschenderweise kaum Gegenstand gesonderter Untersuchungen.12 Letztlich lassen sich innerhalb der Forschung zwei Interpretationsstränge unterscheiden: Während der erste auf die Modelle einer primär formalistisch orientierten Kunstkritik und Geschichtsschreibung zurückgreift, betont der zweite einen durch die Wahl der Technik und des Materials hervorgebrachten Effekt von Körperhaftigkeit.13 Im vorliegenden Artikel hingegen soll die mögliche Relevanz der Tradition des enkaustischen Verfahrens als einer aus der Antike überlieferten und damit in gewisser Hinsicht „unzeitgemäßen“ Technik im Zentrum stehen. Insbesondere wird zu zeigen sein, wie das enkaustische Verfahren nicht nur eine wichtige ästhetische Funktion für Johns’ Arbeiten erfüllte, sondern bereits der begrifflichen Referenz auf „Enkaustik“ eine strategische Bedeutung im Bestreben des Künstlers zukam, die Geschichtsschreibung über sein Œuvre mitzubestimmen.

Erklärungsansätze Die Bestandsaufnahme des einflussreichen Überblickswerks Art Since 1900 soll hier stellvertretend für eine recht gängige Einordnung von Johns’ Malerei stehen, die sie nach formalen Kriterien innerhalb ihrer Zeit situiert und in Reaktion auf die damals herrschenden künstlerischen Tendenzen begreift. Diese Art der Geschichtsschreibung orientiert sich maßgeblich an dem normativen Geschichtsmodell des in den 1950er und 1960er Jahren äußerst einflussreichen Kritikers Clement Greenberg, das auch unter dem Begriff „Modernismus“ gefasst wird.14 Nach der Lesart von Rosalind Krauss und ihren Mitautoren trieb Johns die „Flachheit“ und die „All-over“-Struktur des im New York jener Zeit dominanten Abstrakten Expressionismus einerseits auf die Spitze und konterkarierte sie andererseits durch die Ins-Bild-Setzung vertrauter Gegenstände. Von seiner Auseinandersetzung mit dieser Art von Malerei, so die Argumentation weiter, zeuge auch sein gestischer und doch unpersönlich und repetitiv wirkender Pinselstrich. Diese Gleichzeitigkeit wiederum sei durch die besondere Technik ermöglicht worden: Im wachsbasierten Malverfahren der Enkaustik habe Johns sein „perfektes Medium“ gefunden.15 Greenberg selbst wertete in einem Artikel von 1962 die malerische Oberfläche als letztlich „überflüssig“, da „die ursprüngliche Flächigkeit der Leinwand nebst ein paar schablo-

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nenartig aufgetragenen Umrissen schon genügt, um adäquat das darzustellen, was ein Bild von Johns tatsächlich darstellt.“16 Hierin sieht er die besondere Pointe von Johns’ Malerei. Diese Feststellung ist im Kontext seiner gleichzeitigen Kritik an der malerischen Tendenz im Abstrakten Expressionismus zu lesen, für die beispielhaft der Name Willem de Kooning steht. Problematisch an Greenbergs Lektüre erscheinen allerdings die strikte Zweiteilung in Motiv und Malerei sowie die Annahme, Johns’ Oberflächen würden primär die Freiheit der Malerei feiern, was sich weder mit dem Erscheinungsbild seiner teils repetitiven Pinselstriche noch mit dem komplexen, mehrstufigen Entstehungsprozess der Werke deckt. Eher noch wäre die von Greenberg aufgemachte Trennung als eine zwischen Nah- und Fernsicht anzusehen.17 Das aus der Distanz sofort erkennbare, vertraute Motiv verunklärt sich bei der Betrachtung aus der Nähe, während umgekehrt die Faktur sichtbar wird. Auch für Stefan Neuner, der Johns’ Kunst als Auseinandersetzung mit der Malerei de Koonings diskutiert, ist die Technik der Enkaustik als ein veritabler Fund von Johns anzusehen, der bald zu einem Markenzeichen wurde.18 Zugleich betont Neuner, im Rekurs unter anderem auf Krauss und den Künstler Robert Morris, die durch die Enkaustik unterstrichene Objekthaftigkeit des resultierenden Werks.19 Diese Einschätzung, nach der die Enkaustik zur objekthaften Erscheinung von Johns’ Werken beitrage, erscheint überzeugender als Greenbergs strikt malereibasierter Ansatz. Gerade im Falle von Flag ergibt sich aus einer Analyse des Entstehungsprozesses die schlüssige Beobachtung, Johns habe eher ein Objekt konstruiert, als ein Bild gemalt.20 So sind die Sterne der Flagge einzeln auf den Grund geklebt oder genäht; zudem besteht das Werk aus drei Rechtecken, wobei die Nahtstellen denen einer traditionell gefertigten amerikanischen Flagge entsprechen.21 Schließlich verweisen auch die unter der Malerei durchschimmernde Collageschicht sowie die vollständige Bemalung, die sich teils noch an den Seiten fortsetzt, auf den dinghaften Charakter von Johns’ Bildern. In manchen Fällen, etwa bei Target with Four Faces, wird dieser Objektcharakter zusätzlich durch die Einarbeitung der Leinwand in eine ­Holzkonstruktion mit weiteren Elementen betont. Johns selbst meinte dazu in Interviews, „[d]ie frühen Arbeiten waren für mich ganz eindeutig Objekte“22 sowie an anderer Stelle: „Meine Verwendung von Gegenständen entstand ursprünglich aus dem Gedanken, das Gemälde als Objekt zu verstehen und der materialistischen Seite der Malerei Rechnung zu tragen [...].“23 Morris, der bereits zuvor den Aspekt der Körperlichkeit in Johns’ Bildern herausgestellt hatte, verglich in einem späteren Text die Flaggenbilder, vor allem die besonders großformatige, monochrome White Flag (1955, 199 x 307 cm, Metropolitan Museum, New York), mit Leichentüchern und stellte einen expliziten Bezug zu enkaustischen Mumienporträts her.24 Schon früh belegten auch andere Beobachterinnen und Beobachter Johns’ enkaustische Oberflächen mit Attributen von Körperlichkeit, Affekt und Sexualität. Johns selbst asso­ziierte die Enkaustik in einer Skizzenbuchnotiz explizit mit Fleisch; die Kritikerin Barbara Rose verglich die in ihr gestalteten Oberflächen mit Haut.25 Der Kritiker Max Kozloff bezeichnete den Malvorgang als libidinös, seine Kollegen Ben Heller und Robert Rosenblum sprachen von „Liebe“, die darin zum Ausdruck komme, und der Künstler Mel Bochner

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entdeckte gar eine „zärtliche Erotik im Umgang mit Materialien“.26 Ein direkter Verweis auf Körperlichkeit ergibt sich aus der Verwendung der Gipsabgüsse bei Target with Four Faces sowie Target with Plaster Casts (1955, Sammlung David Geffen, Los Angeles), bei der sich der Abguss eines männlichen Glieds in einem der Kästchen befindet. Diese Abgüsse sind ebenfalls in Enkaustik bemalt.27 Insgesamt scheint daher die von Autoren wie Kirk Varnedoe und John Yau vertretene phänomenologische Perspektive, die eng an die spe­ zifische Materialität des Bildobjekts und an die physischen Eigenschaften der Enkaustik zurückgebunden ist, als produktive Lesart von Johns’ Arbeiten. Sie korrespondiert auch mit der Tradition von Wachs als bildnerischem Material, das vornehmlich im Totenkult und bei der Herstellung anatomischer Modelle zum Einsatz kam.28

Bestimmungsfragen Neben diesen interpretatorischen Fragen gilt es die Bestimmbarkeit der zugrundeliegenden Verfahren und die durch solche technischen Bezeichnungen transportierten Implikationen zu diskutieren. Wie zu zeigen sein wird, erschöpft sich deren Bedeutung bei Johns keineswegs im Bestreben nach terminologischer Korrektheit, sondern konstituiert maßgeblich die Deutung des eigenen Œuvres mit. Einen geeigneten Ausgangspunkt dieser Befragung bildet die Sammlungsdatenbank des Museum of Modern Art. Dort wird Flag mit folgenden Angaben geführt: Jasper Johns Flag 1954–55 (dated on reverse 1954) Encaustic, oil, and collage on fabric mounted on plywood, three panels29

Ein Hinweis auf das Verfahren der Enkaustik findet sich bereits in einem Schreiben Castellis an Barr vom Februar 1958, mit dem der Galerist dem Museum die vier Gemälde Flag, Green Target, White Numbers und Target with Four Faces zur Ansicht schickte und als technische Beschreibung jeweils „Enkaustik auf Zeitungspapier und Leinwand“ angab.30 Anstelle von Collage war dort also schlicht von Zeitungspapier („Newsprint“) die Rede. Wie aus einem von Anne Wagner publizierten Brief hervorgeht, ersuchte Johns selbst 1977 den seinerzeitigen MoMA-Chefkurator William Rubin darum, diese auch vom Museum übernommene technische Angabe zu ändern: Statt „Enkaustik auf Zeitungspapier auf Leinwand“ solle dort „Enkaustik und Collage auf Leinwand“ stehen.31 Diese Aus­ führungen demonstrieren die Bedeutung solcher Angaben für Johns, wie überhaupt sein Bestreben, die Deutungshoheit über seine Kunst zu behalten. Dies geschieht vor allem durch Interviews, in denen er bestimmte Aussagen und Erklärungen immer wieder vorbringt und zugleich subtile Modifikationen vornimmt.32

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Während der Begriff der Enkaustik also von Anfang an in Verbindung mit Flag und den anderen frühen Werken verwandt wurde, führte Johns den Begriff der Collage erst zu einem späteren Zeitpunkt ein. Das heterogene Verfahren, in dem Flag entstand, wird so mit kunstgeschichtlichen Termini versehen, von denen der eine – Collage – auf die klassische Moderne, speziell auf Dada sowie die Papiers collés von Georges Braque und Pablo Picasso aus den 1910er Jahren zurückverweist, während der andere – Enkaustik – auf eine weitaus ältere Tradition Bezug nimmt. Diesen Aspekt betonte Castelli in den bereits zitierten Erinnerungen, indem er die Enkaustik als „eine antike Maltechnik, die seit Jahrhunderten nicht mehr in Gebrauch ist“, charakterisierte und das Verfahren damit zusätzlich mystifizierte.33 Zur Betrachtung des Fertigungsprozesses von Flag wird üblicherweise auf die Schilderung des Künstlers zurückgegriffen, die er 1972 in einem Interview mit Emile de Antonio gab und deren Grundelemente in anderen Gesprächen wiederkehren: Eines Nachts träumte ich, daß ich eine große amerikanische Flagge malte, und am nächsten ­Morgen stand ich auf und besorgte mir die Materialien, um damit anzufangen. [...] Es ist ein sehr miserables Bild – materialmäßig miserabel –, denn ich begann mit Emaillack, mit dem man Möbel streicht, und der trocknete nicht schnell genug. Und dann schwirrte mir diese Idee im Kopf herum, von der ich irgendwo gelesen oder gehört hatte: Enkaustik. Mitten bei der Arbeit an dem Bild wechselte ich dazu über, denn Wachs muß nur abkühlen und dann ist es hart und du verwischt es nicht mehr; beim Emaillack mußt Du acht Stunden warten. [...] Bei der Enkaustik kannst du­ einfach immer weitermachen. Die Kombination dieses neuen Verfahrens  – eigentlich ist es ja sehr altmodisch – fiel mit dieser Vorstellung zusammen, daß alles genau in diesem Augenblick stattfand. Es hielt sofort das fest, was Du gerade gemacht hast. Mir gefiel diese Eigenschaft. Es tropft bis zu einem bestimmten Punkt und dann hört es auf. Jede einzelne Geste bleibt auch ­einzeln.34

Womit also begründete Johns die Arbeit in Enkaustik? Zunächst scheint aus der zitierten Passage eine gewisse Ungeduld zu sprechen; doch genauer betrachtet ging es wohl um etwas anderes als Schnelligkeit. Alles andere wäre auch paradox, wenn man bedenkt, wie aufwendig das gewählte Verfahren war und wie lange, nämlich mehrere Monate, Johns an Flag arbeitete. Eher schien ihn zu faszinieren, wie jeder Farbauftrag aufgrund der schnellen Trocknungseigenschaft des Wachses einzeln stehenbleibt. („Es hielt sofort das fest, was Du gerade gemacht hast. Mir gefiel diese Eigenschaft. Es tropft bis zu einem bestimmten Punkt und dann hört es auf. Jede einzelne Geste bleibt auch einzeln.“) Carol Mancusi-Ungaro, die als Restauratorin an der National Gallery in Washington einige Werke von Johns untersucht hat, schrieb zurecht, dass „das umgehende Hartwerden der Farbe [...] [den Künstler eher] zu weiteren Nachbearbeitungen ermuntert [...].“35 Die historische Dimension der Enkaustik klingt in Johns’ Schilderung lediglich in Parenthese an („eigentlich ist es ja sehr altmodisch“). Nimmt man den Künstler in dieser Hinsicht beim Wort, dann fällt es schwer, von einer bewussten Aneignung eines historischen

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Verfahrens aufgrund seiner traditionellen Konnotation auszugehen. Der weitere Bericht verdeutlicht, dass sich hinter der konsistent scheinenden Oberfläche von Flag ein ungezieltes Experimentieren verbirgt, das sogar die physische Integrität des Werks bedroht: Diese erste Flagge [...] war eine Collage aus Papier, Stoffetzen, Zeitungen, jederlei Papier. Manche Sachen habe ich mit Bindfaden auf die Leinwand genäht, glaube ich. [...] Erst wurden Sachen angenäht, dann kam der Emaillack und dann der Wechsel zum Wachs, so daß es ein furchtbares Durcheinander ist. Jedesmal, wenn es umgestellt wird, fällt es auseinander.36

Nur schwerlich ist diese Beschreibung mit dem verbreiteten Bild von Johns als „akribischem Handwerker und strengem Intellektuellen“ in Einklang zu bringen, das bereits durch die ersten Kritiken vorgeprägt wurde.37

35  Robert Rauschenberg, Untitled (Jasper with flag painting, Pearl Street studio) [Jasper mit Flaggenbild, Atelier in der Pearl Street], um 1955, Kontaktabzug, 5,7 x 5,7 cm, Robert Rauschenberg Foundation, New York.

Eine von Robert Rauschenberg aufgenommene Fotografie, die Johns bei der Arbeit an Flag zeigt, erlaubt Schlüsse auf den Herstellungsprozess, wie ihn Johns in Teilen in seinem Brief an den Kurator Rubin beschrieb: „Er mischte Ölfarbe aus der Tube mit heißem Bienenwachs, tauchte Stoffstücke und Zeitungspapierschnipsel in die Masse und fixierte sie dann auf dem bereits zum Teil mit Emailfarbe bemalten Untergrund aus Leintuch (wohl einem Bettlaken).“38 Rauschenbergs Aufnahme zeigt einen Moment, in dem einige der Sterne noch nicht fixiert waren, was die darunterliegende Bemalung erkennen lässt. Vor Johns auf dem Boden stehen die recht einfach wirkenden Utensilien, darunter wahr-

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scheinlich links ein Gefäß für das Wachs und rechts möglicherweise eine Mischung aus Wachs und Farbe. Die Aufnahme verdeutlicht den improvisierten Charakter von Johns’ Enkaustik; erst in späteren Jahren sollte er Pigment in Pulverform mit Wachs vermischen.39 Eine genauere Betrachtung der Oberfläche von Flag lässt die einzeln ausgeschnittenen, mit Wachsfarbe bedeckten Sterne sowie die Korrespondenz zwischen Papierausschnitten und Streifen erkennen. Im Detail sind diese Entsprechungen allerdings keineswegs absolut: Nicht alle Pinselstriche orientieren sich an den Collageelementen und manche Papierschnipsel überschreiten die Begrenzungen der Streifen. Die mit dem Pinsel auf die bereits fixierten Teile aufgetragene Enkaustikschicht trägt wesentlich zur Oberflächenwirkung bei. Tatsächlich beschrieb Johns im Brief an Rubin, wie er zunächst Stoff- und Papierstücke in das heiße, geschmolzene farbige Wachs eingetaucht und diese sogleich auf der Oberfläche fixiert habe, bevor das Wachs wieder fest wurde. Zusätzlich habe er die Farbe mit dem Pinsel aufgetragen, aber nicht an allen Stellen. Da alles parallel und gleichberechtigt geschah, sei nicht von Enkaustik auf Zeitungspapier, sondern von Enkaustik und Collage zu sprechen.40 Nicht nur die Bezeichnung der Techniken und Materialien, auch die Abfolge der Arbeitsschritte wird also rhetorisch modifiziert. Hinsichtlich des Erscheinungsbilds besteht ein wichtiger Unterschied von Johns’ Vorgehen zum Collageverfahren der klassischen Moderne darin, dass die eingeklebten Teile nicht mehr als Fremdkörper auf der Oberfläche stehenbleiben, sondern in die Malerei eingearbeitet sind.41 Unter anderem griff Johns wohl zum Zeitungspapier, um die Emailschicht von der Enkaustik getrennt zu halten beziehungsweise den Ölanteil aus der dem Wachs hinzugefügten Ölfarbe aufzusaugen.42 Max Kozloff schrieb (in Bezug auf die technisch ähnliche White Flag) von einer „versteckten Collage“; andere frühe Kritiker bemerkten ebenfalls die Eigenartigkeit des Verfahrens.43 Während Neuner im Anschluss an Greenberg meint, diese Collageelemente würden – wie bei Picasso und Braque – die Flachheit des Bildträgers betonen, hält Fred Orton den Effekt für weit weniger eindeutig und weist stattdessen darauf hin, dass die Schnipsel die Zweidimensionalität des Stoffes sowohl verstärken als auch anzweifeln, der Oberfläche zugleich Präsenz verleihen und sie verschwinden lassen würden.44 Johns selbst sprach von „eine[r] gewisse[n] Dreidimensionalität“ und erklärte, es habe ihm gefallen, „[...] dass die Zeitung eine intellektuell andere Art von Schwerpunkt mit sich brachte.“ Außerdem sei Zeitungspapier „billig und einfach“.45 Dies lässt sich so lesen, dass Zeitungen, ebenso wie die Bestandteile seiner improvisierten Enkaustik und möglicherweise auch der Bildträger – so es sich in der Tat um ein Bettlaken handelt –, ohne gesonderten Aufwand zu beschaffen beziehungsweise einfach vorhanden waren.

Ein gesetzter Neubeginn Im Interview beschrieb Johns die Idee zu Flag als eine plötzliche Eingebung im Traum. Dieses Narrativ, wie auch die kalkulierte Geschlossenheit der bei Castelli gezeigten Ausstellung, die größtenteils aus Flaggen, Zahlen und Zielscheiben bestand, lässt die Auf-

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nahme der Arbeit an Flag als umfassenden künstlerischen Neubeginn erscheinen.46 Ähnlich wie das Motiv der Flagge selbst, wird auch die Hinwendung zur Enkaustik als eine Art Eingebung beschrieben, die keiner langfristigen Planung folgte, sondern sich in diesem Fall einer zufälligen Lektüre verdankte. („Und dann schwirrte mir diese Idee im Kopf herum, von der ich irgendwo gelesen oder gehört hatte: Enkaustik.“) Während Johns, anders als sein Galerist Castelli, darauf verzichtete, die historische oder geheimnisvolle Konnotation der Enkaustik herauszustellen, verband er die Entdeckung und erstmalige Anwendung des Verfahrens rhetorisch eindeutig mit Flag und damit seinem künstlerischen Erweckungserlebnis. Vor dem Hintergrund dieser Quellenlage gilt es, einen Blick auf das erhaltene Œuvre aus der Zeit vor Flag zu werfen. Eine umfassende Rekonstruktion wird allerdings durch den Umstand erschwert, dass Johns im Herbst 1954 seine gesamte bisherige Produktion zerstörte, sofern sich die Werke noch in seinem Besitz befanden. Nach dem Bericht von Rachel Rosenthal begann dies direkt vor dem Beginn der Arbeit an Flag und damit der Hinwendung zur Enkaustik.47 Vor diesem Hintergrund überrascht es durchaus, wie gering sich Johns’ wenige erhalten gebliebene frühere Werke von denjenigen in der Ausstellung bei Castelli unterscheiden.48 Der von Varnedoe erarbeitete Retrospektive-Katalog des MoMA von 1997 zeigt fünf Arbeiten, die auf das Jahr 1954 datiert werden und in denen bereits markante Elemente der späteren Ästhetik, wie die Collagetechnik, der reliefartige, zugleich schablonenhaft wirkende Farbauftrag sowie das setzkastenartige AssemblagePrinzip von Target with Four Faces und Target with Plaster Casts auftauchen.49 Besonders frappierend im Hinblick auf die hier behandelte Thematik erscheint allerdings Star. Zwei in umgekehrter Ausrichtung übereinandergelegte Dreiecke, das eine als offener, nach innen hohler Kasten, das andere als ebene Platte, ergeben hier eine Art Davidsstern. Die technischen Angaben der mit weißer Farbe überzogenen Arbeit lauten im Katalog ebenso wie in der Sammlungsdatenbank des heutigen Aufbewahrungsortes, der Menil Collection in Houston: „Öl, Bienenwachs und Anstreichfarbe auf Zeitungspapier, Leinwand und Holz mit Rauchglas, Nägeln und Stoffband.“50 Die durch diese Beschreibung nahegelegten technischen Gemeinsamkeiten zu Flag decken sich mit der Erscheinung des Farbauftrags auf der Oberfläche: Auch bei Star wirkt dieser nicht lediglich malerisch-pastos, sondern es fallen zusätzlich die stehengebliebenen, äußerst plastischen Spuren des hinunterrinnenden, erkalteten Wachses ins Auge. Eingedenk des Nachdrucks, mit dem Johns im Falle von Flag William Rubin und das MoMA um eine Präzisierung der technischen Angaben ersuchte, erscheint die abweichende Bezeichnung „Bienenwachs und Anstreichfarbe auf Zeitungspapier“ (statt etwa „Enkaustik und Anstreichfarbe auf Collage“) kaum als Zufall. Überzeugender ist es, die anderslautenden Bezeichnungen der technischen Verfahren beider Werke damit zu erklären, dass Flag den Beginn der Enkaustik im Werk des Künstlers markieren sollte. Die technische Differenzierung durch den Künstler wäre also nicht einfach dem Bemühen um korrekte Angaben geschuldet, sondern als bewusste rhetorische Setzung zu betrachten.51

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36  Jasper Johns, Star, 1954, Öl, Bienenwachs und Anstreichfarbe auf Zeitungspapier, Leinwand und Holz mit Rauchglas, Nägeln und Stoffband, 57,2 x 49,5 x 4,8 cm, The Menil Collection, Houston, Fotografie: Jamie Stukenberg.

Im Rekurs auf Johns eigene Beschreibung wie auch die restauratorischen Befunde lässt sich allerdings in Frage stellen, ob „Enkaustik“ überhaupt die treffendere Bezeichnung für Flag ist: Da Johns die Wachs-Ölfarbenmasse hier wesentlich dazu nutzte, Teile auf der Leinwand zu fixieren, schlägt Orton vor, lediglich von „Wachs“ als Materialangabe statt von „Enkaustik“ als Verfahren zu sprechen.52 Dieser durchaus nachvollziehbare Vorschlag nährt zusätzlich – und auch ohne exakte Kenntnis der Entstehungsweise von Star – den Verdacht, dass Johns’ rhetorische Differenzierung zumindest nicht ausschließlich technischen Erwägungen folgte. Zudem erscheint das Narrativ einer Zerstörung des gesamten Frühwerks vor Beginn der Arbeit an Flag etwas konstruiert. Einmal davon ausgegangen, dass sich dieser Vorgang wirklich so zugetragen hätte: Wäre dann Star, das Johns für ebenjene Rachel Rosenthal fertigte, von der auch der Bericht über die Zerstörung stammt, zu diesem Frühwerk zu zählen? Dann hätte Johns schon vor Flag mit Enkaustik-ähnlichen Verfahren gearbeitet. Oder entstand Star vielleicht doch parallel zu Flag? In diesem Fall wäre die strikte Trennung zwischen dem Frühwerk und den Arbeiten aus der Castelli-Ausstellung hinfällig.53 In jedem Fall markiert die Enkaustik für Johns einen zugleich tatsächlichen wie rhetorischen Neubeginn. In seiner Praxis operierte der Künstler vermutlich keineswegs in dem Maße rein von Ideen geleitet, wie es die häufig zitierten Statements und Zeitzeugen­

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berichte nahelegen. Vielmehr setzte er sich mit den Erfordernissen seiner Materialien auseinander, erwarb und erweiterte dadurch seine Fähigkeiten im Umgang mit bestimmten Techniken und realisierte das darin liegende künstlerische Potenzial.54 Ein solch prozesshafter, materialbasierter und gelegentlich bricolage-artiger Zugang erscheint auch nur schlüssig im Kontext einer Praxis, die in so starkem Maße auf materialhafte Qualitäten und ihre – im Falle des Wachses insbesondere körperlichen – Konnotationen setzt. Der antike Ursprung der Enkaustik wird in diesem Kontext einerseits beinahe nebensächlich, andererseits ist er in seinem Potenzial als rhetorische Nobilitierungsstrategie – dies allerdings weniger durch den Künstler selbst – kritisch zu hinterfragen.

Anmerkungen   1 Vgl. Reinhard Büll, Wachsmalerei. Enkaustik und Temperatechnik, unter besonderer Berücksichti­ gung antiker Wachsmalverfahren, in: Vom Wachs. Hoechster Beiträge zur Kenntnis der Wachse, Bd. 7.1, Frankfurt/Main 1963, S. 322; Thomas Hoppe, Wachsmalerei. Enkaustik – Grundlagen und Techniken, Leipzig 2015, S. 17.   2 Christian-Heinrich Wunderlich, Enkaustische Maltechniken. Ein Versuch zur Rekonstruktion an­ hand von Quellen, in: Restauro 106, 2000, Heft 2, S. 110–115.   3 Vgl. bes. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde: lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. von Roderich König, Buch 35: Farben, Malerei, Plastik, 3. Aufl., Düsseldorf, 2007, Abs. 122–123, 149.   4 Vgl. Lorelei H. Corcoran and Marie Svoboda, Herakleides. A Portrait Mummy from Roman Egypt, Los Angeles 2010, S. 35–39. Marie Svoboda, Restauratorin am J. Paul Getty Museum, Los Angeles, sowie Sylvana Barnett, die dort als Dozentin für historische künstlerische Techniken tätig ist, danke ich für weitere diesbezügliche Hinweise.   5 Anne Claude Philippe de Caylus, Mémoire sur la peinture à l’encaustique et sur la peinture à la cire, Genf 1972 [1780].   6 Wunderlich 2000 (Anm. 2), S. 110.   7 Büll 1963 (Anm. 1), S. 403, 405–416.  8 Jasper Johns. Retrospektive, Ausst.-Kat. (Köln, Museum Ludwig, 1997), hrsg. von Kirk Varnedoe, München/New York 1997 [engl. Orig.-Ausgabe New York 1996], S. 130.  9 Jasper Johns. Mit einem Vorwort von Leo Castelli, Wien/München 1998, S. 6. 10 Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 134. 11 Vgl. Hal Foster u. a., Art Since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism, 2. Aufl., London/ New York 2011, S. 442–444. 12 Vgl. als Ausnahme John Yau, Encaustic and Lead in the Work of Jasper Johns, in: Jasper Johns. Printed Symbols, Ausst.-Kat. (Minneapolis, Walker Art Center, 1990), S. 31–47. 13 Leo Steinberg, Jasper Johns. The First Seven Years of His Art [1962], in: ders., Other Criteria. Con­ frontations with Twentieth-Century Art, New York 1972, S. 17–54, etwa S. 51. Dort führt Steinberg anhand zweier Werke aus, diese würden der Bildfläche eine neue Rolle zuweisen, die das Werk zwischen Gemälde und Objekt verortet – die Wahl des Ausdrucks „impregnation“ verweist zusätzlich auf die körperlich-affektuelle Dimension: „not a window, not an uprighted tray, nor yet an object with active projections into actual space; but a surface observed during impregnation, observed as it receives a message or imprint from real space.“ Vgl. Jeffrey Weiss, Gemälde, von Mann gebissen, in: Jasper Johns. An Allegory of Painting, 1956–1965, Ausst.-Kat. (Washing-

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ton, National Gallery; Basel, Kunstmuseum, 2007), hrsg. von dems., München 2007, S. 2–56, hier S. 3, S. 53, Anm. 5, auch zu weiteren frühen Stimmen in diese Richtung. Spezifische Interpreta­ tionsansätze zu Flag, etwa zur politischen Dimension oder auch zur Lesbarkeit der Collage­ elemente, können im Folgenden keine Berücksichtigung finden, insofern sie sich nicht spezifisch auf den Aspekt der Enkaustik beziehen. 14 Vgl. Clement Greenberg, Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken (Fundus-Bücher 133), hrsg. von Karlheinz Lüdeking, Amsterdam/Dresden 1997. 15 Foster u. a. 2011 (Anm. 11), S. 443–444. 16 Clement Greenberg, Nach dem Abstrakten Expressionismus [1962], in: Greenberg 1997 (Anm. 14), S. 314–335, hier S. 323. 17 Vgl. John Yau, Famous Paintings Seen and Not Looked At, Not Examined, in: Hand-Painted Pop. American Art in Transition, 1955–62, Ausst.-Kat. (Los Angeles, Museum of Contemporary Art, 1992/93), hrsg. von Russell Ferguson, New York 1992, S. 121–145, hier S. 142. 18 Stefan Neuner, Maskierung der Malerei. Jasper Johns nach Willem de Kooning, München 2008, S. 207. 19 Ebd., S. 42. 20 John Yau, A Thing Among Things. The Art of Jasper Johns, New York 2008, S. 25. 21 Fred Orton, Figuring Jasper Johns, London 1994, S. 90. 22 Jasper Johns im Gespräch mit Walter Hopps [1965], in Jasper Johns. „Ziele auf maximale Schwie­ rigkeit beim Bestimmen dessen, was passiert ist“. Interviews, Statements, Skizzenbuchnotizen (Fundus-Bücher 146), hrsg. von Gregor Stemmrich, Amsterdam/Dresden 1997, S. 22–40, hier S. 32. 23 Billy Klüver, Interview Conducted in March 1963 at Johns’s Studio, then at 128 Front Street, New York, in: Jasper Johns. Writings, Sketchbook Notes, Interviews, hrsg. von Kirk Varnedoe, New York 1996, I–7, S. 84–91, hier S. 87: „My use of objects comes out of, originally, thinking of the painting as an object and considering the materialistic aspect of painting [...].“ 24 Robert Morris, Notes on Sculpture, IV. Beyond Objects [1969], in: Continuous Project Altered Daily. The Writings of Robert Morris, S. 51–70, hier S. 51: „Johns took the background out of painting and isolated the thing. The background became the wall. What was previously neutral became actual, while what was previously an image became a thing.“ Die spätere Aussage stammt aus: Robert Morris, „Jasper Johns. Das erste Jahrzehnt“, in: Jasper Johns 2007 (Anm. 13), S. 208–233, hier S. 214. 25 Jasper Johns 1997 (Anm. 22), S. 338: „Enkaustik (Fleisch?)“; Orig.: Jasper Johns 1996 (Anm. 23), S. 56: „encaustic (flesh?)“. Barbara Rose, Pop at the Guggenheim, in: Art International 7, 1963, Heft 5, S. 20–22, hier S. 22. 26 Vgl. Stefan Neuner 2008 (Anm. 18), S. 226, als Zusammenfassung der Positionen von Heller, Kozloff und Rosenblum. Quellen: Ben Heller, Jasper Johns, in: School of New York. Some Younger Artists, hrsg. von B. H. Friedman, S. 30–35, hier S. 34; Max Kozloff, Jasper Johns, in: Brushes with History. Writing on Art from „The Nation“, 1865–2001, hrsg. von Peter G. Meyer, New York 2001, S. 314–318, hier S. 317; Robert Rosenblum, Jasper Johns, in: Art International 4, 1960, Heft 7, S. 74–77, hier S. 77. Mel Bochner zit. nach Kirk Varnedoe, Feuer – Johns’ Werk in seiner Wirkung auf amerikanische Künstler, in: Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 91–113, hier S. 101. 27 Carol Muncasi-Ungaro, Eine Summe der Korrekturen, in: Jasper Johns 2007 (Anm. 13), S. 237–260, hier S. 241. 28 Vgl. Bettina Uppenkamp, Wachs, in: Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der moder­ nen Kunst von Abfall bis Zinn, 2. Aufl., München 2010, S. 231–238. Uppenkamp erwähnt Johns als Beleg dafür, wie auch in der jüngeren Kunstgeschichte der menschliche Körper das vordringliche Thema der Arbeit mit Wachs geblieben sei. 29 Quelle: www.moma.org/collection/object.php?object_id=78805 [zuletzt aufgerufen 20.2.2017].

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30 Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 134. 31 In diesem Brief an Rubin, den Johns am 14. Februar 1977 als Antwort auf Rubins Bitte um eine technische Beschreibung von Flag schrieb, legte er die Gründe seiner Bitte um eine Änderung der Werkangaben von „encaustic on newsprint on canvas“ zu „encaustic and collage on canvas“ wie folgt dar: „It suggests to me that newsprint is attached to the canvas before the painting is begun, or that the canvas is attached to the newsprint after the painting is finished. [...] The actual process in making these works involved dipping pieces of paper and cloth into hot melted encaustic and fixing them to the surface before the encaustic had solidified. In this way, some areas may not include the use of the brush. The two ways of applying paint – with a brush or with the material dipped in the hot medium – have equal value and follow no particular sequence.“ Der Brief befindet sich in den Curatorial Files des Department of Painting and Sculpture, Museum of Modern Art, New York. Hier zit. nach Anne Wagner, A House Divided, American Art since 1955, Berkeley u. a. 2012, S. 236, Anm. 4. 32 Vgl. exemplarisch am Beispiel von Flag: Fred Orton 1994 (Anm. 21), S. 98–99; zur Bedeutung der Interviews allgemein vgl. Gregor Stemmrich, Vorwort, in: Jasper Johns 1997 (Anm. 22), S. 7–11, hier S. 9; Weiss 2007 (Anm. 13), S. 28–29. 33 Castelli 1997 (Anm. 9), S. 6. 34 Jasper Johns im Gespräch mit Emile de Antonio [1972], in: Jasper Johns 1997 (Anm. 22), S. 96–102, hier S. 97–98. 35 Muncasi-Ungaro 2007 (Anm. 27), S. 247. 36 Jasper Johns im Gespräch mit Emile de Antonio (Anm. 34), S. 98. 37 Vgl. Yau 1992 (Anm. 17), S. 134. 38 Vgl. Muncasi-Ungaro 2007 (Anm. 27), S. 243; Yau 2008 (Anm. 20), S. 24. 39 Vgl. Mancusi-Ungaro 2007 (Anm. 27), S. 260, Anm. 21, als zitierte Mitteilung von Johns an die Autorin aus dem Vorjahr: „Als ich anfing, Bienenwachs zu verwenden, gab ich zunächst Farbe in Form von Ölfarbe aus der Tube hinzu. Später (ich weiss nicht, wann), fing ich an, getrocknete Farbpigmente hinzuzugeben. Die benutze ich bis heute.“ 40 Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 134. 41 Orton 1994 (Anm. 21), S. 115. 42 Yau 1992 (Anm. 17), S. 142. 43 Max Kozloff, Jasper Johns, New York 1966, S. 16: „Physically speaking [...], this would be a hidden collage. But one is entitled to ask whether, pictorially, the ‚paint‘ is not itself the collage element, affirming the newsprint ground [...].“ Orton 1994 (Anm. 21), S. 116, führt neben Kozloff noch Ben Heller an. Quelle: Heller 1959 (Anm. 26), S. 34. 44 Vgl. Neuner 2008 (Anm. 18), S. 215, der sich auf Greenbergs Auffassung zu den kubistischen ­Papiers collés bezieht, wonach Flachheit der Bildoberfläche durch die Collageelemente betont werde. Vgl. als Quelle Greenberg, 1997 (Anm. 14), S. 156–162, bes. S. 157–158. Orton 1994 (Anm. 33), S. 114–115, betont hingegen ähnlich wie oben skizziert die ambivalente Rolle der ungewöhnlichen Collageschicht. 45 Mancusi-Ungaro 2007 (Anm. 27), S. 243. 46 Vgl. Weiss 2007 (Anm. 13), S. 53, Anm. 1, zur „als kalkuliert anzusehen[den]“ Geschlossenheit der Ausstellung bei Castelli. Zur Bedeutung dieses Neuanfangs für Johns vgl. auch Orton 1994 (Anm. 21), S. 89–146, bes. 95–96, unter Rekurs auf Harold Bloom, Beginnings. Intention and Method [1975], London 1997. Vgl. auch Jasper Johns, Ausst.-Kat. (New York, Whitney Museum, 1977), hrsg. von Michael Crichton, erw. Neuaufl., New York 1994, S. 29: „One day in 1954, Jasper Johns, then 24 years old, methodically destroyed all the work in his possession. This was the first of several acts of self-destruction by an artist who would eventually be known for his skill and

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daring at rebuilding his past.“ Johns selbst bemerkte dazu in einem Interview aus dem selben Jahr: „It was an attempt to destroy some idea about myself.“ Mark Stevens und Cathleen McGuigan, Super Artist. Jasper Johns, Today’s Master, in: Newsweek 90 (24.10.1977), Nr. 17, S. 66–79, zit. nach Jasper Johns 1996 (Anm. 23), S. 164–169, hier S. 165. 47 „Eines Tages zerstörte er alles, alle alten Arbeiten. Es hatte den Anschein, als ob seine ganze neue Konzeption in seinem Kopf entstand – es war kein Arbeitsprozeß. Sobald er seine Ästhetik im Griff hatte, zerstörte er alles. Unmittelbar darauf begann er, in Enkaustik zu arbeiten. Von Marboro hatte er ein dickes Buch über künstlerische Techniken, und das brachte ihn darauf. Es war, als wäre die ganze Sache schon in seinem Kopf entstanden, bevor er sie ausführte.“ Zit. nach Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 130. 48 Vgl. Kirk Varnedoe 1997 (Anm. 26), S. 92–93, zur lediglich vermeintlichen Voraussetzungslosigkeit von Johns’ Schaffen in den 1950er Jahren, wie auch zur Kritik der verbreiteten Betrachtung von Johns als „Verbindungsfigur zwischen dem Abstrakten Expressionismus und den Sechzigern“ und der dahinterstehenden falschen Vorstellung einer „lineare[n] Entwicklung [...] kulturellen Wandels“ (S. 92). 49 So zeigt eine der Arbeiten, Untitled, einen bemalten Gipsabgusskopf in einer entsprechenden Öffnung unter einem Collagefeld. Siehe Abb. in: Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 139. 50 Jasper Johns 1997 (Anm. 8), S. 138. Die Angabe aus dem Online-Katalog der Menil Collection lautet identisch: „Oil, beeswax, and housepaint on newspaper, canvas, and wood with tinted glass, nails, and fabric tape“, www.menil.org/collection/objects/3086-star [zuletzt aufgerufen 20.2.2017]. In einem jüngst erschienenen Ausstellungskatalog ist die Arbeit hingegen als „Encaustic and collage on canvas with glass and painted wood“ gelistet; vgl. Jasper Johns, Ausst.-Kat. (London, Royal Academy; Los Angeles, The Broad, 2017), hrsg. von Roberta Bernstein, London 2017, S. 108, Kat.-Nr. 43. Dort ist auch wieder von Enkaustik als „ancient technique“ (S. 12) die Rede; in einem Wandtext in der Londoner Ausstellung selbst war vom „ancient medium of encaustic“ zu lesen. 51 Vgl. auch John Yau 2008 (Anm. 20), S. 25, über die Ähnlichkeit von Star und Flag hinsichtlich ihres Objektcharakters: „Johns was not painting the image of a flag but constructing an object, and in this regard Flag is similar to Star and other previous works. He was not yet a painter in the traditional sense, but, through rather original means, he was making a thing that was both a painting and a flag, and not a painting or a flag.“ 52 Orton 1994 (Anm. 21), S. 161. 53 Eine in gewisser Hinsicht ähnliche Frage diskutiert Greg Allen in einem Blog-Artikel, nämlich ob es sich bei Flag wirklich um Johns’ erstes Flaggenbild handelt oder ob die ehemals in Rauschenbergs Combine Short Circuit (1955, Art Institute of Chicago) eingearbeitete, deutlich kleinformatigere Flagge nicht zeitliche Priorität genießen könnte: http://greg.org/archive/2011/02/08/which_ flag_story_which_one_do_you_know.html [zuletzt aufgerufen 20.2.2017]. Allerdings stellen die von Allen als Beleg herangezogenen Interviewäußerungen von Johns aus meiner Sicht keinen hinreichenden Beleg dar. 54 Vgl. Yau 1992 (Anm. 17), S. 136: „[...] the scenario suggested by Flag’s combination of materials is that Johns was someone who initially learned techniques through an engagement with the ­demands of his materials.“

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Magdalena Bushart

Unzeitgemäß zeitgemäß Hoch- und Tiefdrucktechniken in der Kunst der Gegenwart

Technik als Widerstand Die Geschichte der druckgrafischen Medien lässt sich als Geschichte des steten Fortschritts beschreiben. Seit dem 15. Jahrhunderts sind immer wieder neue Techniken entwickelt und bereits etablierte Techniken verfeinert worden, um sie veränderten ästhetischen Ansprüchen, Einsatzmöglichkeiten und Druckverfahren anzupassen. Für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert existiert allerdings neben dieser Fortschrittsgeschichte ein zweiter Erzählstrang: der des Revivals traditioneller Hoch- und Tiefdrucktechniken. Zwar waren Holzschnitt, Kupferstich und Radierung zu keinem Zeitpunkt in Vergessenheit geraten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beschränkte sich ihre Anwendung jedoch auf exklusive Einzelblätter, die sich gezielt an Sammler adressierten. Bei populären Drucken oder Illustrationen in den Printmedien hingegen kamen sie nicht mehr zum Einsatz; hier dominierten Holzstich, Stahlstich und Fotogravüre, mit denen sich billiger und in höherer Auflage ­drucken ließ. Unter dieser Prämisse konnten die Revivals als zeitkritische Statements gegen die fortschreitende Anonymisierung und Industrialisierung der Produktionsprozesse verstanden werden. Dabei reagierten sie auf durchaus unterschiedliche Situationen: ­Während die Vertreter des etching revivals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Originalität der künstlerischen Handschrift gegen eine (in ihren Augen) seelen- und letztlich auch kunstlose Massenware ins Feld führten,1 grenzten sich die Maler, die um 1900 den Holzschnitt zu neuem Leben erweckten, vom Holzstich und seinen subtilen Tonwerten ab.2 Für die Expressionisten und die politisch engagierten Künstler der zwanziger Jahre schließlich stand die Arbeit in Holz für die Wiedergewinnung einer wahlweise ursprünglichen, volkstümlichen oder sozialkritischen, in jedem Fall aber antiakademischen Kunst, die mit Blick auf die spätmittelalterliche Tradition überdies national kodiert werden konnte.3 Trotz unterschiedlicher Ausgangssituationen lassen sich jedoch auch strukturelle Gemeinsamkeiten beobachten. Zum einen verbindet die Revivals der Anspruch, mit den jewei­ ligen Verfahren auch deren intrinsische Qualitäten wiederzubeleben. Die Radierungen eines James McNeill Whistler, eines Edgar Degas oder Eduard Manet beispielsweise führen in der Skizzenhaftigkeit des Strichs die Leichtigkeit vor Augen, mit der sich in die wachs-

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schichtüberzogene Kupferplatte zeichnen lässt. In ähnlicher Weise betonen die Holzschnitte von Felix Vallotton, Peter Behrens oder Emil Orlik (um auch hier stellvertretend drei Namen zu nennen) die Eigenarten des Holzschnitts, indem sie Linie und Fläche als Modell der Formvereinfachung einsetzen. Bei Paul Gauguin, Edvard Munch und den Künstlern der Brücke wiederum wird das Schneiden selbst thematisiert; hier prägt das Holz des Druckstocks das Erscheinungsbild der Drucke wesentlich mit. Zum anderen verorteten sich Künstler und Künstlerinnen in der Tradition der Druckgrafik, indem sie sich auf herausragende historische Vorbilder beriefen. Im Falle des etching revivals dienten Rem­ brandt und seine Zeitgenossen als Bezugspunkt. Um 1900 orientierte man sich am japanischen Farbholzschnitt der Edo-Zeit, und für die Grafik der Avantgarde in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg standen die namenlosen Holzschneider des 15. Jahrhunderts Pate. In der Druckgrafik der Gegenwart wird man diese Form des expliziten Rückbezugs auf eine Epoche oder auf einzelne Künstlerpersönlichkeiten kaum finden. Von ihren kleinformatigen und auf Nahsicht berechneten Vorgängern unterscheiden sich die Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen der letzten fünfzig Jahre schon allein durch ihre Größe, die sich an den Maßen der zeitgenössischen Malerei orientiert. Doch auch die Gestaltung ruft keine Erinnerungen an die Vergangenheit wach, weil sich der Einsatz von Linien und ­Flächen den gängigen Regeln der Druckgrafik erfolgreich widersetzt. Gleichwohl bestimmen die Techniken die Rezeption der Drucke in einer Weise mit, die durchaus Parallelen zu den Revivals des 19. Jahrhunderts aufweist: kein Text über die entsprechenden Künstlerinnen und Künstler, in dem nicht auf technische Fragen eingegangen, die Wahl des Mediums begründet und das Vorgehen mitsamt seinen Problemen erläutert wird. Stets geht es dabei um die Herausforderung, die das schmale Repertoire grafischer Grundmuster an die Entwicklung komplexer Bilder stellt, um die körperliche Anstrengung, die die Herstellung der Platten bedeutet, und um die Zeit, die die einzelnen Arbeitsschritte kosten. Diese ­Erzählmuster legen den Schluss nahe, dass die Hoch- und Tiefdrucktechniken – anders als Siebdruck, Offsetprint oder digitale Verfahren und anders als die Lithografie – als Abweichungen von gängigen Praktiken wahrgenommen werden, die eines Kommentars bedürfen. Und so stellen sich auch hier Fragen nach der Bedeutung und den Eigenschaften, die den traditionellen Techniken im Kunstgeschehen der Gegenwart zugewiesen werden, nach der Art ihres Einsatzes und nach der Verschränkung von Narration und Gestaltung. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden am Beispiel der Druckgrafiken und Texte von Chuck Close, Franz Gertsch, Jan Svenungsson und Christiane Baumgartner aus der Zeit zwischen 1970 und 2011 nachgehen. Die vier Künstler_innen repräsentieren zwei Generationen: Gertsch und Close sind Jahrgang 1930 und 1940, Svenungsson ist 1961 geboren und Baumgartner 1967. Alle vier gehen von ähnlichen Versuchsanordnungen aus, indem sie Holzschnitt, Kupferstich und Radierung für die Reproduktion fotografischer bzw. filmischer Vorlagen einsetzen. In ihren Werken treffen damit zwei Verfahren aufeinander, von denen eines als zeitgenössisch wahrgenommen, das andere hingegen als traditionell

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37–40  Chuck Close bei der Arbeit an Keith (1972), Franz Gertsch bei der Arbeit an Natascha I (1986), Jan Svenungsson, Druckstock (Magenta) für First Chimney – Stockholm (1996), Christiane Baumgartner bei der Arbeit an Ladywood (2011).

empfunden und mit dem Etikett des Nicht-Zeitkonformen versehen wird. Die Analyse der Werke wie der Kommentare macht deutlich, welche Bandbreite der Zugriffsmöglichkeiten auf die Techniken selbst bei einer so eng gefassten Gruppe möglich ist. Deutlich werden aber auch die Konstanten in der Narration und die Rolle, die die (Groß-)Formate darin spielen: Letztlich sind sie es, die den Rückgriff auf Holzschnitt, Kupferstich und Radierung zu einer Herausforderung für die Gegenwart machen.

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Technik als Vokabular In der historischen Abfolge unserer Fallbeispiele steht Chuck Close am Anfang. Kaum ein zweiter Künstler des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat sich so intensiv mit Techniken beschäftigt, die nicht zum Kanon der Gegenwartskunst gehören. Seine Expeditionen in die Vergangenheit, die ihn in den letzten vierzig Jahren zur Schabkunst, zum Holzschnitt und der Radierung, aber auch zu so ausgefallenen Verfahren wie der Wooburytypie, der Heliogravüre oder der Daguerreotypie geführt haben, begannen 1972 mit dem berühmten Mezzotinto Keith. Close hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen als Maler überdimensionierter Schwarz-weiß-Porträts gemacht, die auf selbst angefertigten Porträtfotos basierten.4 Vorläufer für den Mezzotinto war das Gemälde Keith, das 1970 nach e ­ iner Porträtaufnahme des Bildhauers Keith Hollingworth entstanden war; auf diese Vorlage sollte Close auch in den folgenden Jahren immer wieder und in unterschiedlichen Medien zurückgreifen.5 Es ging also bei dem Mezzotinto um die Übertragung eines Motivs von einem Medium in ein anderes und um ein Ausloten der „Syntax“ der damit verbundenen Gestaltungsprozesse, die der Künstler zur Grundlage seiner Kunst insgesamt erklärt hat.6 Das Blatt ist mit 129 x 105 cm zwar deutlich kleiner als die gemalte Version; für die Schabkunst- oder Mezzotinto-Technik sind diese Maße gleichwohl monumental. Schon im kleineren Format bedeutet das Verfahren eine Herausforderung an die Geduld und die manuelle Geschicklichkeit des Stechers, weil es nicht mit Linien und Liniengefügen, sondern mit Tonwerten arbeitet. Während man bei einem normalen Kupferstich mit dem Grabstichel ­Vertiefungen in die polierte Kupferplatte treibt, muss hier zunächst die ganze Platte mit einem Wiegemesser aufgeraut werden.7 In einem zweiten Schritt werden dann all jene Partien geglättet, die im Druck hell erscheinen sollen. Je rauer die Oberfläche der Kupferplatte bleibt, desto mehr Farbe können die ausgehobenen Vertiefungen und ihre Grate aufnehmen; je stärker sie poliert wird, desto weniger Farbe bleibt haften. Durch unterschiedliche Grade des Glättens lassen sich feinste Grauabstufungen im Druck erzielen. Close, der bis dahin in seinen Gemälden stets von einem hellen Grund ausgegangen war, auf den er dunkle Acrylfarbe auftrug, sah sich also gezwungen, von seiner gewohnten Herangehensweise zu abstrahieren. In einem Interview mit Terrie Sultan, Direktorin des New Yorker Parrish Art Museums und zugleich Kuratorin seines Werks, erinnerte er sich: My thinking was that I had been making black-and-white paintings using only black paint on a white gessoed canvas. The only color was black, diluted down when necessary to create tones. No white was used to make grays. And I liked the idea of a mezzotint because it was the exact opposite of how I made the black-and-white paintings. Instead of starting with a white ground and working with black, I would be starting with something that printed black and working backward to achieve white. I did absolutely nothing in my black-and-white paintings to achieve the white background. In the mezzotint, that would be where most of the time was actually spent, burnishing and polishing out the background.8

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41  Chuck Close, Keith, 1972, Mezzotinto, 129 x 105 cm.

Dass die Arbeit an Keith zum Abenteuer wurde, lag aber nicht nur an der Umkehrung von Hell und Dunkel, sondern auch an der Größe der Platte. Obwohl sie nicht von Hand, sondern per Fotoätzung aufgeraut wurde, benötigte Close drei Monate, um sie zu präparieren und das Motiv zu übertragen. Das chemische Verfahren war komplexer als zunächst gedacht und barg überdies seine eigenen Risiken. Weil es – anders als die mechanische Aufbereitung – keine Grate hinterließ, konnte die Politur nur direkt an der Oberfläche ansetzen. Damit reduzierte sich die Tiefe der geätzten Partien. Zudem rissen beim Glätten

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neue Löcher auf, die gekittet werden mussten; Close selbst sprach von einem frustrierenden „process of burnishing the copper, caving in and filling the holes.“9 Alle Produktionsschritte, angefangen von der Vorbereitung der Platte bis hin zum eigentlichen Druck, fanden in den Räumen der Druckerei Crown Point Press in San Francisco statt. Schon bei der Ätzung mussten mehrere Leute assistieren; die Druckvorgänge, für die die Inhaberin der Crown Point Press, Kathan Brown, eine eigene Presse anfertigen ließ, waren ohnehin nur mit Hilfe der Spezialisten zu bewerkstelligen. Die werkstattähnliche Zusammenarbeit basierte auf einer bewussten Entscheidung. Für Close bedeutete Druckgrafik gemeinschaftliches Handeln und Denken; als Beleg führte er Dürers Holzschnitte an, deren komplexe Linienführung ohne die Zusammenarbeit zwischen Künstler und Formschneider kaum denkbar gewesen wäre.10 Was die Realisierung anbelangt, verstand er auch seine eigenen Drucke als „truly collaborative“: Like any collective enterprise, I have the benefit of the brain-power of everyone who is working for me. It all ends up being my work, but everyone extends ideas and comes up with suggestions. It is a very different attitude than coming into an atelier, drawing on a plate, and giving it over to printers to edition.11

Das Ergebnis unterscheidet sich von Mezzotintos des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur im Format, sondern auch in den gestalterischen Effekten: Die Schabkunst zielte ursprünglich auf geschlossene Flächen und weiche Übergänge ab und ließ sich daher besonders gut für die Reproduktion malerischer Vorlagen einsetzen. In Keith hingegen wird die Geschlossenheit der Darstellung durch Hinweise auf den Produktionsprozess gestört. Zum einen ist das Raster stehen geblieben, mit deren Hilfe die fotografische Vorlage auf die Platte übertragen worden ist; seine feinen Linien unterteilen das Gesicht in gleich große Quadrate.12 Zum anderen erscheinen einige Bereiche heller und weniger ausdifferenziert als andere, weil der Künstler, um den Fortgang der Arbeit zu überprüfen, immer wieder Probeabdrucke machte und sich die zuerst gestochenen Partien deshalb stärker abnutzten als die später ausgeführten. So entsteht ein merkwürdig unruhiger Gesamteindruck, der nicht nur von der Mezzotinto-Tradition, sondern auch vom Ähnlichkeitskonzept des gemalten Keith-Porträts abweicht. Obwohl dieser Effekt nicht unbedingt beabsichtigt, vielmehr das Resultat mangelnder Erfahrung mit großformatigen Druckgrafiken gewesen zu sein scheint, erklärte Close die Arbeitsspuren zum Teil des Werkprozesses.13 1973 stellte er in der monografischen Ausstellung Keith/Mezzotint die Probeabzüge, angeordnet in der Reihenfolge ihrer Entstehung, zusammen mit dem fertigen Druck im New Yorker Museum of Modern Art aus. Die Abzüge zeigen, wie der Künstler Zentimeter und Zentimeter der fotografischen Vorlage in die Platte übertrug. Den kleinen Ausschnitt um den Mund erweiterte er s­olange, bis die zentrale Partie des Gesichts erkennbar wurde. In einem zweiten Schritt arbeitete er Wangen, Schläfen, Stirn, Kinn und schließlich Umrisse der Figur vor einem

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42  Blick in die Ausstellung Projects: Chuck Close/Liliana Porter, Museum of Modern Art, ­ New York, Januar–Februar 1973.

zunehmend heller werdenden Grund heraus. Die Bedeutung, die den Probeabzügen auf diese Weise zuwächst, erinnert an Rembrandt, der unterschiedliche Zustände seiner Radierungen signierte und sie so jeweils als fertige Werke auswies. Dadurch dokumentierten die Blätter nicht nur die Weiterentwicklung einer Komposition, sondern auch die Zeitlichkeit des Entstehungsprozesses.14 Um diesen zeitlichen Aspekt geht es auch Close. Dass er sich dabei indirekt auf Rembrandt bezog, erscheint umso plausibler, als Close seine intensive Beschäftigung mit der Tradition während seines Studiums an der Yale University einen wichtigen Impuls für sein druckgrafisches Schaffen genannt hat: We were allowed to see and touch remarkable prints by Rembrandt and Dürer, among others. I could study all the state proofs of Rembrandt´s Ascension of the Cross, and I was able to clearly see the choices and decisions that Rembrandt had made. I could hold them a few inches from my nose, I could touch them and feel the tooth of the etching. Most important, I could see the ­progressive states. I really understood printmaking for the first time then.15

Der Vergleich mit Rembrandt wirft allerdings auch die Frage auf, was die öffentliche Präsentation der Zustände von Keith genau dokumentieren sollte. Rembrandts Probeabzüge sind im Zuge eines Formfindungsprozesses entstanden, der sich durch die Signatur auch ökonomisch nutzen ließ. Für Close hingegen sind Motivsuche und Komposition bereits mit der Wahl der Fotografie abgeschlossen; seine Gemälde und Druckgrafiken versteht er als Auseinandersetzung mit einer vorgegebenen Form in unterschiedlichen Medien.16 Aus-

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schlaggebend dafür ist sicher zunächst die Lust am gestalterischen Experiment. Doch auch das Narrativ, das sich mit den Verfahren verbinden lässt, dürfte eine Rolle spielen; die Entscheidung für die Schabkunst etwa begründete Close mit den Worten: „The appeal of mezzotint was that no one had made one for a hundred years.“17 Beides setzt eine genaue Kenntnis der Tradition voraus, in die sich der Künstler mit seinem Werk einschreibt: The history and tradition of graphic mediums is a vocabulary, and when you sign on to a process, it is with the knowledge of how that procedure has been used in the past. You may want to break with tradition, or you may want to use tradition. Or you might say: „This is the least likely way to make this image, and I want to see what will happen.“ I have always been interested in trying to change my experience rather than exploit it in some formulaic way.18

Mit den Probedrucken von Keith wird dieses Wissen um die Eigenarten der Medien nachvollziehbar gemacht.19 Die Zustände führen das Arbeiten von Dunkel nach Hell und in Flächenwerten vor. Dass der Druck als Reproduktion fungiert und damit den genuinen Anwendungsbereich der Schabkunst reflektiert, zeigt sich im Raster, das an den Übertragungsprozess erinnert. Der allmählich wachsende Bildausschnitt vermittelt auch ohne flankierende Erzählung eine Vorstellung von dem Zeitaufwand wie von der handwerk­ lichen Leistung, die die Produktion eines Mezzotinto noch immer bedeutet. Wie wir gesehen haben, war das Aufgreifen der Technik und der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten keineswegs mit einem Aufgreifen gestalterischer Ideale gleichzusetzen, im Gegenteil: eine größere Differenz zu einem barocken Schabkunstblatt ist kaum denkbar. Doch auch von seiner fotografischen Vorlage unterscheidet sich der Druck: An die Stelle des Sekundenbruchteils, in dem die Fotografie den Gegenstand erfasst, ist eine mehrmonatige Zeitspanne getreten, in deren Verlauf sich allmählich die Darstellung herausschält, an die Stelle des Impulses, den Auslöser in einem bestimmten Moment zu betätigen, die Not­ wendigkeit einer permanenten Kontrolle, an die Stelle des mechanisch-chemischen ­Entwicklungsvorgangs die körperlich anspruchsvolle Arbeit. Das Resultat ist exklusiv, weil die Platte nicht beliebig oft gedruckt werden kann – die gesamte Auflage umfasste zehn Exemplare. Keith blieb das einzige Schabkunstblatt von Chuck Close und dies nicht zuletzt deswegen, weil der Künstler erkannte, dass die technische Bravourleistung – die er freilich selbst durch die New Yorker Ausstellung befördert hatte – alle anderen Aspekte des Blattes zu überlagern drohte.20 In der Folge richtete er sein Interesse auf weniger aufwendige druckgrafische Verfahren. Nach Ausflügen in die Lithografie landete er schließlich bei der ­Radierung; seine beiden Selbstporträts aus dem Jahr 1977 und 1978 realisierte er wiederum in Zusammenarbeit mit der Crown Point Press. Anders als der Mezzotinto gehörte die Radierung durchaus zum Repertoire der zeitgenössischen Techniken. Close jedoch interpretierte das Medium in einer Weise, die die Differenz zum historischen Gebrauch deutlich zu Tage treten ließ; erneut lotete er im Überformat das Spannungsverhältnis zwischen

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43  Chuck Close, Selbstporträt, 1977, Radierung und Aquatinta, 137,3 x 103 cm (Blatt), 129 x 105 cm (Druck).

der fotografischen Vorlage und ihrer Übertragung in einem Verfahren aus, das sich seit dem 16. Jahrhundert nur geringfügig verändert hatte. Mit der gleichen Konsequenz, mit der er sich in Keith mit tonalen Flächenwerten auseinandergesetzt hatte, verfolgt er nun

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das Ziel: „I’ll do lines“.21 Dass die Radierungen aus lines aufgebaut sind, ist in der Tat kaum zu übersehen: Vertikale und horizontale Linien bilden das kleinteilige Raster, das – wie schon in Keith – nicht als Hilfsmittel, sondern als Bildelement eigenen Rechts fungiert. Die einzelnen Felder dieses Rasters sind mit diagonalen Strichen unterschiedlicher Länge gefüllt, die entfernt an die Parallelschraffuren der frühneuzeitlichen Druckgrafik erinnern. Sobald dunkle Partien bezeichnet werden sollen, verdichten sich die Strichlagen; für helle Partien dünnen sie aus. Konturen sucht man vergeblich; nur von der Ferne schließen sich die „dunklen“ Kästchen (vorzugsweise in Kontrast zu „hellen“ Gegenstücken) so zusammen, dass sie als Umrisse lesbar werden. In der Nahsicht hingegen bleibt der Gegenstand so undeutlich wie bei einem verpixelten Bild. In ihrer Dominanz machen die Linien das Selbstporträt zu einer Reflexion über das Wesen druckgrafischer Arbeiten und das umso mehr, als sie sich im Grunde ihren angestammten Funktionen verweigern: Weder beschreiben sie eine Form und deren Binnenstruktur noch tragen sie zur Modellierung bei; schließlich entsteht auch die Hell-Dunkel-Skala ausschließlich über die Dichte der stets von links oben nach rechts unten verlaufenden „Schraffuren“. Den Gedanken an die genialischschöpferische Hand des Künstlers, der Close am nahsichtigen Betrachten und dem Befühlen der Linien Dürers und Rembrandts so fasziniert hatte, lassen sie nicht aufkommen. Eher scheint im Gleichmaß die Monotonie des Strichesetzens und in der Menge der Linien die Dauer dieser Tätigkeit auf. Und doch geht es auch hier um physische Erfahrung – zunächst im Werkprozess, dann aber auch, vermittelt durch die visuellen Informationen, in der Rezeption: I want to carve, I want to etch, I want to play around with pulp. I want to squish things with my fingers. I want to play on colour so you can see one layer on top of another. I don’t want ephemeral, chemical change. I want that physical experience.22

Zu der Wahrnehmung von Materialität und körperlichem Handeln gesellt sich als zweites Motiv die Zeit, die die Übertragung des Bildes in die Druckgrafik kostet. Die langsame Arbeit begreift Close als Möglichkeit, über die gestalterischen Mittel und deren bewussten Einsatz zu reflektieren: „I pump my ideas through a slow medium, and where you have to slowly build what you want, slowly find what you want instead of going directly to it.“23 Dass das handwerkliche Tun stets auch eine Problemlösung mit Mitteln der modernen Technik einschließt, hat der Künstler selbst noch einmal rückblickend betont. Die Platte, so erfährt man aus dem Gespräch mit Sultan, war mit einem säureresistenten blauen ­Überzug beschichtet, so dass die Linien, die der Künstler in das Kupfer ritzte, hell vor dunklem Grund erschienen. Um die Wirkung seiner Arbeit diesmal auch ohne flankierende Probedrucke überprüfen zu können – anders als Keith entstand Selfportrait/Hard Ground Etching in Closes Atelier –, orientierte sich der Künstler an Umdrucken von Negativaufnahmen, mit denen sich die Umkehrung des Hell-Dunkel-Effekts im Druck simulieren ließ.24

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Technik als schöpferischer Prozess Das Spannungsverhältnis zwischen alten und modernen Verfahren findet sich auch in der Druckgrafik von Franz Gertsch. Gertsch hatte zunächst ebenfalls als Maler fotorealistischer Bilder reüssiert, bevor er in den achtziger Jahren vorübergehend ganz zu malen aufhörte und sich stattdessen auf den Holzschnitt konzentrierte, der ihn bis heute beschäftigt. Wie Close arbeitet er nach fotografischen Vorlagen, die er selbst angefertigt hat.25 Für die Holzschnitte werden sie per Dia auf riesige Birnbaum- oder Lindenholzplatten projiziert, die zuvor mit dem Pinsel graublau eingefärbt worden sind. Auf dem dunklen Grund zeichnet Gertsch mit weißem Stift die Umrisslinien nach und schneidet dann millimetergroße Vertiefungen in das Holz. Je nachdem, ob diese „Lichtpunkte“ dichter oder weniger dicht gesetzt sind, ergeben sich unterschiedlich helle Partien, die den Gegenstand in seiner Dreidimensionalität modellieren.26 Im Druckprozess werden die unbearbeiteten Bereiche zu Trägern der Farbe. Die Einkerbungen hingegen drucken nicht mit und lassen deshalb den Papierton beziehungsweise die Farbe der Tonplatte sichtbar werden. Zwischen 1986 und 1988 entstanden mehrere Serien großformatiger Porträts, die von drei Platten gedruckt wurden. Den Anfang bildete die Platte mit dem dunkelsten Farbton, in der sämtliche „Lichtpunkte“ angegeben waren. Dann kam eine Platte mit einem helleren Farbton, die lediglich Aussparungen für die Lichtspitzen enthielt. Die dritte Platte mit flächigen Farbwerten diente dazu, die tonalen Kontraste zu verstärken.27 Ab 1988 ging Gertsch dazu über, entweder von einer einzelnen Platte zu drucken oder eine „Punktplatte“ mit einer Tonplatte ohne Aussparungen zu kombinieren. Zugleich begann er, friesartige Darstellungen zu entwickeln, die aus mehreren Druckstöcken gefügt wurden und bis zu sechs Meter breit werden konnten. Die Entscheidung resultierte offensichtlich aus dem Versuch, die Gestaltungsmittel immer weiter zurückzunehmen. War zunächst die Beweglichkeit des Pinsels der Starre der Hohleisen gewichen, deren Form Tiefe und Breite der Punkte vorgab, so wurde nun zusätzlich jede Erinnerung an Buntfarbigkeit eliminiert; Farbnuancen resultieren aus dem Grad, in dem ein- und dieselbe Farbe verdünnt worden ist. Die Re­ duktion der Mittel ging mit einer Reduktion des Motivrepertoires einher, das sich auf die ­Lebensrealität des Künstlers beschränkte: Pflanzen, vorzugsweise aus dem eigenen Garten; Landschaftsausschnitte, vorzugsweise aus der eigenen Umgebung; Menschen, vorzugsweise aus dem eigenen Umfeld. (Farbabb. 10) Dass diese riesenhohen Holzschnitte eine mentale und körperliche Herausforderung darstellen, ist nicht zu übersehen. Obwohl das Verhältnis zwischen der dunklen Grundierung der Platte und dem hellen Holzton, den die Auskerbungen freilegen, in etwa dem Erscheinungsbild des Druckes entspricht, braucht es für die Umsetzung der Darstellung in Punkte Ausdauer und Abstraktionsvermögen. Die Fertigstellung der Druckstöcke dürfte sogar noch mehr Zeit in Anspruch nehmen als die der Kupferplatten; die Arbeit an Schwarzwasser II dauerte nach Angaben des Künstlers fast ein Jahr.28 Gertsch hat Langsamkeit und eine spezifische „spirituelle Veranlagung“ zum Markenzeichen seiner Kunst

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insgesamt erklärt, um so seine Gemälde der sechziger und siebziger Jahre vom amerikanischen Fotorealismus abzugrenzen.29 Im Holzschnitt kommt zur Langsamkeit noch die monotone Arbeit mit dem Hohleisen hinzu, die dennoch wohl durchdacht sein muss, weil sie keine Korrekturen zulässt.30 Gleichförmig ist nicht nur die Größe der Punkte; gleichförmig ist auch der Akt des Schneidens, den Gertsch auch schon mal in Relation zu seinen Körperfunktionen gesetzt hat: „Die Einstiche erfolgen in etwa einem Herzschlagrhyt[h]mus von 70–80 Schlägen pro Minute.“31 In den Texten über Gertsch spielen die Entstehungsumstände der Holzschnitte eine zentrale Rolle. Stets ist von der titanenhaften Leistung die Rede, der sich der Künstler unterzogen habe,32 von der Stetigkeit des Arbeitens, die an das Tagwerk der mittelalter­ lichen Freskenmaler erinnere,33 von der Mühsal der Technik, die sich der Schnelllebigkeit unserer Zeit widersetze.34 Flankierend dazu visualisieren die Fotostrecken aus dem Berner Druckatelier, die in keinem monografischen Katalog der letzten Jahre fehlen, den Aufwand, der in den Blättern steckt.35 Sie machen deutlich, dass schon das Aufrollen des ­Papierbogens auf den Druckstock nur von mehreren Personen gemeinsam zu bewerkstelligen ist, mehr noch der eigentliche Druckvorgang, der nicht mechanisch mit der Druckerpresse, sondern wie in den Frühzeiten des Holzschnitts als Reiberdruck erfolgt. Mehr als ein Exemplar pro Tag ist auf diese Weise auch im Team kaum zu schaffen. Die Anwesenheit eines Druckers, der für das Einfärben der Platten zuständig ist (die Farben stellt der Künstler selbst aus Pigmenten her), mehrerer Assistenten sowie der Ehefrau Maria Gertsch und (jedenfalls in Fotosequenzen aus neuerer Zeit) des Sohnes Benz Gertsch erinnert an die Strukturen eines vormodernen Werkstattbetriebs, in dem neben den Spezialisten auch die Mitglieder der Familie eingebunden waren. Und noch ein Punkt fällt bei der Lektüre der Ausstellungskataloge auf: Die Einträge zu den Nummern nennen für die Drucke neben der Papiersorte auch den Namen des japanischen Papierherstellers. Für Schwarzwas­ ser II wissen wir sogar, wer die Lindenholzplatte angefertigt hat.36 Indem die Holzschnitte in diesem handwerklichen Umfeld positioniert werden, erhält die Kunstfertigkeit eine weitere Nuance: Ohne den genialen Papierhersteller Heizaburo Iwano aus der Provinz Fukui und ohne den Schreiner Ueli Langenegger aus Niederscherli bei Köniz, so die Botschaft, wären die Überformate nicht zu realisieren. Das Handwerkliche ist natürlich auch an den Holzschnitten selbst ablesbar. So weisen die Unregelmäßigkeiten im Farbverlauf darauf hin, dass das Einwalzen und der Druck ohne Presse erfolgt sein muss; die Farbvarianten machen jedes Exemplar einer Auflage zum Unikat. Bis zu diesem Punkt dominieren die Gemeinsamkeiten zwischen Close und Gertsch: Es geht um die Differenz zwischen dem Moment der Aufnahme und der Dauer des Schneidens bzw. Stechens, um die Übersteigerung der technischen Leistung durch die Größe der Werke und um eine Teamarbeit, in die handwerkliches Spezialwissen und -kompetenzen einfließen. Unterschiede zeigen sich hingegen in der Begründung für das eigene Tun. Während Close den Rückgriff auf traditionelle Techniken mit dem Wunsch verbindet, die Bandbreite der Gestaltungsmittel am immer gleichen Motiv zu erproben, argumentiert

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Gertsch inhaltlich – mit einem Perspektivwechsel nach seinem Umzug von der Stadt aufs Land. In der Konfrontation mit der Natur seien an die Stelle der gemalten „Zeitgeistbilder“37 (wie der Künstler selbst seine hyperrealistischen Gemälde nennt) zunehmend Landschaftsmotive getreten, für die der Holzschnitt das ideale Medium gebildet habe: Ich spürte, dass in der Landschaft sehr viel liegt, dass eine große Verfügbarkeit vorhanden ist für die Art meiner Holzschnitte. Das Prinzip der Gleichbehandlung lässt sich gerade hier optimal verwirklichen. Ein „Tagewerk“ ist eine kleine Landschaft für sich, die dann durch eine zweite, von der Vorlage vorbestimmte, erweitert wird. [...] Es ist das gleiche Prinzip wie in der Morphogenese der Natur: Ein Tannenzweigchen entsprich dem größeren Zweig, und der größere Zweig entspricht schlussendlich der ganzen Tanne.38

Die Arbeit mit den „Lichtpunkten“ in Holz wird also wesentlich aus einer Entsprechung von Gegenstand und Technik legitimiert. Im körperlichen Akt des Scheidens lässt der Künstler die Natur im Bild sichtbar werden. Das Ausheben der Holzspäne hat selbst etwas Naturhaftes an sich, weil aus den kleinen Einheiten allmählich ein vorgewusstes Ganzes entsteht. Trotz der fotografischen Vorlage (die Gertsch ohnehin nur als Leitlinie, nicht als exakte Vorgabe verstanden wissen will) ist es kein reproduzierender, sondern ein (im wahrsten Sinne des Wortes) kreatürlicher Prozess: Im Entstehungsprozess eines Holzschnittes stürze ich mich nicht so sehr auf den Gegenstand, als dass ich mich im Rhythmus des Schneidens dem Gegenstand nähere, so wie wenn ich – zum Beispiel bei Cima del Mar – das Wasser wäre, das sich über die Steine ergießt, und ich bewege mich mit dem Hohleisen über die Dinge hinweg. Während ich also Kleinform an Kleinform füge, versuche ich das Ganze, das Grosse, im Auge zu behalten, und es geht dabei vor allem darum, dass ich bewusst wahrnehme, wie das Bild vom Zentrum her wächst und sich zu den Bildrändern hin ausdehnt. Dabei kommt mir speziell meine Holzschnitt-Technik entgegen, indem ich – nicht wie bei einer Zeichnung, bei der man mit einer schnellen zeichnerischen Geste ja sofort an den Rand stossen würde – mit der ersten Einkerbung beginnend vom Detail zum Ganzen komme, wobei meist schon im Detail das Ganze angelegt ist, der Makrokosmos im Mikrokosmos zu Tage tritt.39

Angesichts der Bedeutung, die der Künstler dem Holzschnitt als solchem zuweist, fällt die Differenz zu dessen Tradition ins Auge. Die hellen „Lichtpunkte“ auf farbigem Grund wollen nicht so recht zu einem Verfahren passen, in dem Form durch schwarze Umrisslinien gegeben wird und die Anmutung von Dreidimensionalität durch Schraffuren entsteht. Ganz fremd allerdings ist die Arbeit mit Auskerbungen im Hochdruck nicht: Die Technik ist aus der Metallbearbeitung bestens bekannt und gehört mit dem Schrotschnitt (einem Verfahren, bei dem in eine weiche Metallplatte Punkte oder Muster gedrückt werden) zu den ältesten Varianten der Druckgrafik überhaupt. Auch die Experimente mit dem Weißlinienschnitt reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück.40 Ob Gertsch diese Traditionslinien reflek-

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tiert hat, muss offenbleiben; er selbst hat sich dazu nicht geäußert. Da aber den groß­ formatigen Holzschnitten Versuche in unterschiedlichen Techniken vorangegangen sind, ist die Auseinandersetzung mit älteren Verfahren zumindest nicht auszuschließen.41 Anders steht es mit dem Format, das als bewusste Abweichung inszeniert wird. Die Größe bedeutet ja nicht nur Aufwand in der Herstellung, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, das Bild je nach Standort unterschiedlich wahrzunehmen. Gertsch hat den Gegensatz zwischen einer Nahsicht, die nicht mehr als ein unleserliches Gewirr von Punkten bietet, und einer Betrachtung aus der Distanz, die daraus ein klar erkennbares Motiv werden lässt, als zentralen Aspekt seiner Kunst insgesamt beschrieben: Seine Werke seien eben sowohl abstrakt als auch realistisch lesbar, vereinigten also beide Prinzipien in sich.42

Technik als Handarbeit Weder für Close noch für Gertsch war damit der Endpunkt ihrer künstlerischen Suchbewegungen erreicht: Gertsch begann Mitte der neunziger Jahre wieder zu malen, ohne deshalb das Interesse am Holzschnitt zu verlieren. Close hingegen setzte seine Wanderung durch die Geschichte der künstlerischen Techniken fort, um zuletzt bei einer Neuinterpretation von Claude Mellans berühmtem Sudarium zu landen, einem Kupferstich, der seinen Gegenstand in einer einzigen an- und abschwellenden Linie präsentiert.43 Das Argumentationsmodell jedoch, das die überkommenen Techniken mit dem Motiv des Andersartigen, Altmodischen, ja Widerständigen verbindet, findet sich auch in der nächsten Generation, nun ausschließlich für den Holzschnitt. Im Werk von Jan Svenungsson repräsentiert die Druckgrafik nur eine Facette in einem Œuvre, das neben zeichnerischen auch skulpturale und fotografische Arbeiten umfasst. ­Svenungsson hatte sich schon in den achtziger Jahren kurzfristig mit dem Farbholzschnitt beschäftigt, zu dem er in den neunziger Jahren im Rahmen seines komplexen SchornsteinProjekts zurückkehrte: Den Ausgangspunkt bildeten Fotografien von Stockholmer Fabrikschornsteinen, nach denen der Künstler zunächst Radierungen, dann Skulpturen anfertigte – verkleinerte Nachbauten jener Schornsteine, die die Fotografien zeigten. Die erste Schornsteinskulptur entstand 1992 auf dem Gelände des Moderna Museet in Stockholm anlässlich einer Ausstellung der gerahmten Schornsteinfotografien. Vier Jahre später trieb Svenungsson das Spiel mit den Kategorien „Abbild“, „Reproduktion“ und „Repräsentation“ noch weiter. Er verpixelte auf mechanischem Wege das Foto seiner Schornsteinskulptur, um das Motiv in einem nächsten Schritt per Hand aus vier Holzplatten herauszuschneiden. Auf First Chim­ ney – Stockholm folgten noch zwei weitere Holzschnitte nach fotografischen Aufnahmen der Schornsteinskulpturen in Taejon (Südkorea) und Kotka (Finnland). (Farbabb. 11) Die Resultate wirken wie ein verrutschter Offset-Print. Die gelben, roten, blauen und schwarzen Pixel sind zu groß und nicht präzise genug gesetzt, um sich in der Nahsicht zu einem geschlossenen Bild zusammenzuschließen. Aber auch aus der Distanz wirkt die

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44  Jan Svenungsson, First Chimney – Stockholm, 1996–1998, Vierfarbenholzschnitt, 102 x 84 cm (Blatt), 80 x 64 cm (Druck), Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Detail.

Darstellung leicht unscharf. First Chimney gibt das Foto zudem seitenverkehrt wieder – der Künstler hatte, wie er selbst freimütig bekannte, vergessen, spiegelbildlich zu arbeiten.44 Dass es sich um einen Holzschnitt handelt, wird man auf den ersten Blick kaum erkennen; auf Handarbeit verweisen lediglich kleinere Unregelmäßigkeiten wie der unvollendete Rand, der der Perfektion eines maschinell hergestellten Bildes widerspricht. Mit dem Wissen um das Verfahren freilich ändert sich die Wahrnehmung. Dann nämlich entwickeln die auf den einzelnen Platten freigestellten Pixel ein Eigenleben als bewusst gesetzte Form- und Farbsplitter, die sich im Druck zu konzentrischen Clustern zusammenschließen und mit Nachdruck auf den Produktionsvorgang zurückweisen – Tom Nicholson sprach von der verpixelten Oberfläche als einer „aggregation of manual labour.“45 Der Wechsel von mechanischer zu handwerklicher Fertigung vollzieht sich nicht nur einmal, sondern findet sowohl in der Übersetzung des Fotos in die Skulptur wie in der Herstellung des Druckstocks statt. Beide Male wird das Motiv von einem zweidimensionalen in ein dreidimensionales Medium übertragen. Svenungsson selbst hat diesen zweifachen Transfer als Teil einer Strategie beschrieben, die sein Schaffen insgesamt präge: For one of these woodcuts I would begin with having a photo (my own – representing one of my chimneys) mechanically pixellated, which I then transferred by hand to the plates and cut. What we see at the end is a hand made approximation of a mechanical approximation of an indexical two-­ dimensional rendering of a three-dimensional work, which in its own loose way refers back to another photo. When I go back and read this description I think it sounds almost idiotic in its devoted obsession with layers of pictorial rendering. Yet, I can’t deny that when it comes down to what I can and want to do in my art [...] this kind of procedure is typical. It seems important to me, put simply.46

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In einem Dialog mit Tom Nicholson betonte Svenungsson nicht nur, wie viel Zeit ihn das Schneiden gekostet habe, sondern erwähnte auch seine Leidenschaft für körperliche Arbeit, weil sie den Geist entspanne.47 Expliziter noch nahm er zu diesem Aspekt in einem Text über seinen Künstlerkollegen Thomas Klipper Stellung: Bilder in Holz und Linoleum zu schneiden ist konkret und bedeutet Arbeit im traditionellen, fast romantischen Sinne. Muskelstärke und präzise motorische Sensibilität sind notwendig. Werden die Bilder standortspezifisch geschnitten, sind sie fest in das Material eingebunden. Ehrlich. Jedes Zeichen ist die unmittelbare physische Spur einer entschiedenen Handlung, eine Spur von An­ wesenheit und Engagement.48

Anders als Klipper, der seine Holzschnitte vorzugsweise in die Parkettböden von Abrisshäusern schneidet, arbeitete Svenungsson in seiner Druckgrafik zwar nicht (oder nur in einem übertragenen Sinne) standortbezogen. Dennoch dürfte das Lob auf die physische Präsenz des Künstlers im Werk auch der eigenen Erfahrung geschuldet sein. Körperliche Arbeit spielte in dem Schornsteinprojekt insgesamt eine zentrale Rolle – auch bei den Skulpturen.49 Die Kehrseite des Plädoyers für handwerkliche Fertigkeiten, Anwesenheit und Engagement ist, wie kaum anders zu erwarten, eine Kulturkritik, die den zeitgenössischen Kunstbetrieb in den Blick nimmt. So verband Svenungsson 2013 die Frage nach dem Stellenwert des Holzschnitts mit einem polemischen Rundumschlag gegen Szenegrößen wie „Damien“ (Hirst), „Jeff“ (Koons) und „Takashi“ (Murakami) mitsamt ihrem Ahnherrn im Geiste, Marcel Duchamp: Today, what sensible person wants to carve a picture as a relief into a block of wood, smear it with paint and press it against paper in order to create a two-dimensional image? Is it not absurd? We have the Internet, Facebook and Instagram. Everything can be published instantly! Why take detours? An inkjet printer is so much more precise. It can print the same image ad infinitum without deviations. I want to avoid any errors! I love my digital camera! It is so wonderful to be able to take an unlimited number of exposures, not to mention the retouching. Everything can be corrected, thanks to my computer, finally! What would I do without it? How would Damien and Jeff and Takashi survive without any of the above? How would they create their global brands? Thanks Marcel, and all the rest of you, for the insight that art is nothing more than what we say it is. I have my ideas. The world is full of technical possibilities. You just have to make up your mind.50

Umgekehrt heißt das: Wenn in der zeitgenössischen Kunst ein Konzept propagiert wird, das der materiellen Existenz des Artefakts weniger Bedeutung zumisst als der Entwicklung einer Idee; wenn die technischen Möglichkeiten unseres digitalen Zeitalters die Produktion von Kunstwerken so dominieren, dass der Unterschied zu anderen Formen der Produktion verschwindet; wenn die Perfektion der Maschine gegen die Unzulänglichkeit der Hand ausgespielt wird; wenn Authentizität eine Frage eines Aushandlungsprozesses wird,

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in dem die Künstler_innen nicht mehr als schöpferisch handelnde Individuen, sondern als Marke auftreten: dann wird Eigenhändigkeit zu einer besonderen Qualität, zeigt sich in Unregelmäßigkeiten die Lust am Experiment, ermöglicht physische Präsenz einen emotionalen Zugang zum Kunstwerk. Svenungsson redet dabei keineswegs einer Verklärung der Vergangenheit das Wort. Vielmehr geht es ihm darum, den Holzschnitt als ernstzunehmende Option für die aktuelle Kunst zu würdigen, obwohl ihn seine Eigenschaften in Widerspruch zu einer beschleunigten, durchrationalisierten und -technisierten Gegenwart bringen: „After technological and content-based hierarchies have collapsed only one overarching technique in art remains: that which aims to generate attention.“51

Technik als Modell der Entschleunigung In den großformatigen Holzschnitten Christiane Baumgartners äußert sich das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Gegenwart nicht nur in der Übertragung von Bildern aus einem zeitgenössischen in ein historisch gewordenes Reproduktionsmedium, sondern auch in der Differenz zwischen den Bildgegenständen und ihrer Herstellung. Die Arbeiten basieren auf (Farb-)Videofilmen, die die Künstlerin selbst aufgenommen hat – bisweilen

45  Christiane Baumgartner, Amsterdam, 2005. Holzschnitt, 145 x 186 cm (Blatt), 120 x 160 cm (Druck), Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.

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aus dem fahrenden Auto, bisweilen nach Fernsehbildern. Am Computer wählt Baumgartner aus dem Material einzelne Szenen aus und wandelt sie in schwarz-weiße Standbilder um, die sie vergrößert, in ein horizontales Linienraster umrechnet und in voller Größe ausdruckt. Dann drückt sie das Motiv auf den Holzstock durch und schneidet die Linien, die im Druck dunkel erscheinen sollen, mit einem Küchenmesser aus dem Holz. Das Raster markiert auch hier einen Bruch mit dem traditionellen Holzschnitt und seinem Wechselspiel zwischen heller Fläche und dunkler, den Gegenstand umschreibender Linie. Diesmal gibt es keine Fläche mehr, sondern nur noch an- und abschwellende weiße und schwarze Linien, entstanden aus der Zerlegung der Grauwerte in die Komponenten Hell und Dunkel. Die Linien bleiben, jede für sich genommen, abstrakt. Nur zusammen lassen sie die Gegenstände erkennbar werden, ohne hinter diese zurückzutreten – die Relation zwischen der Auflösung des digitalen Bildes und der Blattgröße variiert, ist aber immer so gewählt, dass das horizontale System mitspricht. Wie bei Svenungsson verflüchtigt sich das Gefühl von Unschärfe auch dann nicht ganz, wenn man die Werke aus der Distanz betrachtet; die Wirkung wird nicht von ungefähr gerne mit dem Flimmern eines Video- oder Fernsehbildes verglichen.52 Die Irritation ist gewollt; es gehe ihr, so erklärte die Künstlerin 2011, weniger um die Reproduktion gegebener Bilder als um deren Transformation – und damit in letzter Konsequenz um Strategien der Wahrnehmung: All my work is about chaos in a new order. I try and invent a new system based on the dissolution of the image; a new language through the horizontal lines in my work. There are no letters in this language, it is a simple binary language of thick and thin, black and white lines from which the brain can extract information and form a picture.53

Durch die Größe der Blätter wird aber nicht nur das Gehirn aktiviert, sondern auch der Körper des Betrachtenden, der (wir kennen das Modell bereits) den Standort wechseln muss, um sich dem Werk annähern zu können, weil die Technik nur aus der Nähe nach­ zuvollziehen, das Motiv hingegen nur aus der Ferne zu identifizieren ist.54 Der De- beziehungsweise Rekonstruktion, die den Einsatz der Gestaltungsmittel bestimmt, stehen die Versuche gegenüber, Gegensätze miteinander zu verbinden. Zum ­einen versteht die Künstlerin ihre Holzschnitte als Synthese zwischen der ältesten und der aktuellsten Reproduktionstechnik, die sie in erster Linie biografisch begründet: Zunächst in Leipzig als Grafikerin in den traditionellen druckgrafischen Techniken ausgebildet, habe sie während ihres Studium am Londoner Royal College of Art ausschließlich mit digitalen Medien gearbeitet und dann nach einer Möglichkeit gesucht, beide Stränge (die in ihrem Fall unterschiedliche politische Systeme, offensichtlich aber auch eine nationale und eine übernationale Komponente repräsentieren) zusammenzuführen: „When I went back to Leipzig, it struck me how far I had come from the tradition I was born out of. I wanted to find a way to reconcile these two traditions.“55 Die Arbeiten, die Straßen, Tunnel, Flugzeuge oder Kriegsgerät zeigen, machen diese Zusammenführung auch über das Motiv

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deutlich: Die Errungenschaften der modernen Technik sind zwar mit moderner Technik aufgenommen, werden aber mit den Mitteln einer alten Technik vorgeführt. Zugleich thematisiert die Künstlerin auf mehreren Ebenen die Verspannung von Momenthaftigkeit und Dauer beziehungsweise von „Geschwindigkeit und Stillstand“56. Das beginnt bei der Relation zwischen Ausgangsmaterial und Holzschnitt: Der Videofilm liefert nicht ein einzelnes Bild, sondern (zumindest in diesem konkreten Fall) 25 Bilder pro Sekunde; er ist nicht mit Blick auf ein bestimmtes Ergebnis erzeugt, sondern hält zufällige Eindrücke fest. Der Holzschnitt hingegen macht aus der ausgewählten, mithin bewusst gesetzten Vorlage ein monumentales Werk, das in monate- bisweilen sogar jahrelanger Arbeit aus der Platte geschnitten und eigenhändig (wenn auch mit Hilfe Dritter) im Reiberdruck auf das Papier gebracht worden ist. Im Vorbeifahren oder vom laufenden Fernsehfilm hergestellte bewegte Bilder werden mit großem Zeitaufwand in statische Bilder überführt, Datensätze in Materie verwandelt, die Bilderflut in einem Werk gebannt, das, obwohl in (kleiner) Auflage produziert, „unique“ bleibt: I am interested in the handmade aspects of the work, with all its inaccuracies and mistakes. A further important aspect of the work is the relation between materiality and immateriality. The „original“ image in one of several thousand digital images, not yet defined in term of the size, color, and the frequence of the screen. Through my selection and transformation, I create a [!] unique woodcut.57

Das Handgemachte ist wiederum das Fehlerbehaftete, das dem Holzschnitt seinen unverwechselbaren Charakter verleiht. Es steht einmal mehr für Entschleunigung in einer schnell gewordenen Zeit  – die Künstlerin erwähnt in Interviews gerne ihre Virilio-­ Lektüre58 – und einmal mehr für die auktoriale Geste im reproduzierenden Medium, die sich nicht in einer „Handschrift“, sondern im Handwerklichen manifestiert. Dabei scheint dem Instrument eine besondere Bedeutung zuzuwachsen. Der Hinweis, dass die Linien mit einem Küchenmesser geschnitten werden, taucht in jedem Statement zu Baumgartners Werk auf. Er verortet die Herstellung der Platte in einer Sphäre, die sich der ­Effizienz entzieht. Auch die Betonung der meditativen Seite des Schneidens gehört zu diesem Modell, Arbeit und Leben miteinander zu verbinden, Arbeit als Lebenszeit zu ­definieren: The cutting process is quite important – it is a slowing down, a recovery of what we have lost. While cutting, I am concentrated but open minded – I can reflect on my work. It’s very meditative. As soon as I lose the mood or cant’t cope physically anymore, I stop. In this way I don’t act as a master craftsman, simply continuing for hours on end. [...] On the other hand, the fact that I do the cutting myself is very important. It means I am not like Jeff Koons, I am not running a factory, I need the cutting time for reflection. Some people go to church, others do yoga, I’ve got my ­cutting.59

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„The old-fashioned way“ Aneignung durch Differenz: So ließe sich die Verwendung von Hoch- und Tiefdrucktechniken in den großformatigen Druckgrafiken unserer Tage zusammenfassend beschreiben. Sie grenzt sich klar von historischen Praktiken und Formen ab und greift dafür andere Aspekte der Tradition umso nachdrücklicher auf. Auf die Vergangenheit verweist etwa der Einsatz als Reproduktionsmedium. Sofern Holzschnitt, Kupferstich und Radierung in den sechziger und siebziger Jahren als Verfahren zum Zuge kamen, geschah dies in der Regel unabhängig von Vorlagen  – als expressive Geste oder als gewollter Archaismus.60 Ihre ­reproduzierende Funktion hingegen, seit dem 16. Jahrhundert wichtiger Motor der Entwicklung, hatten die Verfahren auch im künstlerischen Bereich an andere Medien abgegeben: an den Siebdruck, die Lithografie, den Offsetprint und natürlich die Fotografie.61 Auch die Übersteigerung der grafischen Grundelemente erinnert an die lange Geschichte der Druckgrafik mit ihren immer neuen Ansätzen, mit Linien und Flächen, Schwarz und Weiß die Welt der Gegenstände möglichst überzeugend im Bild wiederzugeben. Als bewusster Rückbezug wirkt schließlich der zeitliche und körperliche Aufwand des Schneidens, Stechens und Druckens; steht er doch den Erwartungen der Gegenwart entgegen, die einen effizienten Einsatz der Mittel als Grundlage aller Formen zeitgenössischer Produktion (und damit auch der Kunst) annimmt. Zugleich jedoch bleiben die Drucke mit dem Foto bzw. dem Video als Ausgangspunkt und dem Raster als Grundlage der Über­ tragung unübersehbar der industriellen Bildproduktion unserer Zeit verpflichtet.62 Die Verbindung der beiden divergierenden Konzepte generiert auch jenseits der jeweiligen Motive eine inhaltliche Aussage. Sie setzt der Vervielfältigung, Mechanisierung und Momenthaftigkeit ein Modell entgegen, das auf Einmaligkeit durch Eigenhändigkeit und auf Zeit als Faktor künstlerischer Arbeit abzielt. Die Herstellung der Platten wird als Kontrast zur Schnelllebigkeit der Moderne inszeniert; in den Texten ist die Rede von meditativer Versenkung (Baumgartner), von mentaler Entspannung (Svenungsson), vom Gleichmaß des Tagewerks (Gertsch), aber auch von einer Reflexion der Mittel (Close). Dass Hoch- und Tiefdruck in diesem Kontext als vor-mechanisierte Verfahren definiert werden, leuchtet nicht unmittelbar ein. Immerhin stehen sie am Anfang jenes Rationalisierungsprozesses, dessen vorläufiger Endpunkt die digitalen Medien bilden. Gerade die Herstellung von Holzschnitten war zu seinen Blütezeiten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert arbeitsteilig organisiert; soweit wir wissen, schnitten Künstler wie Albrecht Dürer oder Lucas Cranach nicht selbst, sondern überließen diese Aufgabe den Formschneidern. Der Anspruch auf Authentizität kann sich also nur vor der Folie einer Gegenwart entfalten, in der die Materialisierung von Kunstwerken gänzlich an Maschinen und Assistenten ausgelagert werden kann, und das nur unter der Voraussetzung, dass der Künstler oder die Künstlerin nicht nur entwirft, sondern auch die handwerklichen Arbeitsschritte selbst übernimmt oder zumindest an ihnen beteiligt ist. Er reagiert auf aktuelle Tendenzen und kann sich gegen die Dominanz des Siebdrucks und der Lithografie positionieren, aber

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auch gegen die Entmaterialisierung durch Digitalisierung, gegen die factories der sechziger und siebziger Jahre, aber auch die studios unserer Tage. Die Mitwirkung von Spezialisten bei der Umsetzung muss deshalb nicht notwendigerweise negativ besetzt sein – im Gegenteil: für Gertsch und Close liegt in der Notwendigkeit, im Kollektiv zu arbeiten, ­offensichtlich eine eigene Qualität, die ebenfalls als „vormodern“ wahrgenommene (Werkstatt-)Praktiken aufruft. In der jüngeren Künstlergeneration scheint hingegen das Bedürfnis, möglichst viele Aspekte der Produktion selbst zu übernehmen, zu wachsen. Neben Christiane Baumgartner reklamiert auch Matthias Manssen für sich, nicht nur selbst zu schneiden, sondern auch selbst zu drucken. 63 Vom Aufwand, der für die Fertigstellung der Drucke betrieben werden muss, künden nicht zuletzt – auch dies eine Gemeinsamkeit der hier besprochenen Beispiele – die Formate, die das körperliche und mentale Engagement, das mit der Produktion einhergeht, ganz unmittelbar erfahrbar werden lassen. Sie setzen auf eine doppelte Überwältigungsstrategie: bei distanzierter Sicht durch die Größe des Motivs, in der Nahsicht durch die Vielzahl kleiner und kleinster Teile. Hier manifestiert sich der wohl wichtigste Unterschied zur Tradition: Während in den Drucken früherer Jahrhunderte die Nahsicht die Raffinesse der Linienführung und damit das Zusammenspiel zwischen Formschneider und entwerfendem Künstler oder die virtuose Hand des Meisterstechers offenbarte, geht es nun um die schiere Masse an Linien, Pixeln und Punkten, aus denen sich das Bild zusammensetzt. Statt mit dem Reichtum der Linienführung wird man mit der Systematik der Rasterung konfrontiert, statt mit Virtuosität mit einem gestalterischen Konzept, das auf Handwerklichkeit basiert. Damit verweigern sich die Werke nicht nur dem nahsichtigen Entziffern der Darstellung, das lange Zeit für die Druckgrafik charakteristisch war und sogar dann eingefordert wurde, wenn die Drucke größeres Format hatten, sondern auch der Möglichkeit, durch Nähe zum Bild diese auch zum Künstler oder zur Künstlerin herzustellen. Weder Closes Striche noch Gertschs Punkte, Svenungssons Pixel oder Baumgartners Streifen lassen sich in ihrer Gleichförmigkeit indexikalisch lesen; sie sind von Künstlerhand gemacht, ohne deswegen als individuelle ­Arbeitsspuren lesbar zu sein. Dennoch sind die Autor_innen physisch in ihre Werke eingeschrieben: Schließlich stehen Linien, Pixel und Punkte für die Lebenszeit, die in die Drucke geflossen ist, und für den Kraftaufwand, mit dem Polierer, Stichel, Hohleisen, Messer geführt worden sind. Voraussetzung ist einmal mehr, dass jede Vertiefung tatsächlich eigenhändig aus dem Block geschnitten oder in die Platte gestochen ist. Um mit Chuck Close zu sprechen: „But we don’t use any labour-saving devices. We make art the old-fashioned way, very much by hand.“64 Dieses „old -fashioned“ zeigt freilich den Zwiespalt an, in dem sich Künstler und Künstlerinnen durch ihre spezifische Form des Rückgriffs bringen. Auch wenn sie sich konzeptionell von den Wiederbelebungsversuchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts absetzen, indem sie nicht nur die medienspezifischen Eigenschaften der Verfahren neu interpretieren, sondern auch Fragen der Wahrnehmung ansprechen: Sobald sie die Techniken inhaltlich konnotieren, klingt in der Handwerklichkeit ein Romantizismus an, der eine bessere Vergangenheit aufruft, um die Gegenwart kritisch zu kommentieren.

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Anmerkungen  1 Antony Griffiths, The Print before Photography. An Introduction to European Printmaking 1550– 1820, London 2016, S. 489–499; Stephen Bann, Prints in the Visual Economy of Nineteenth-Century France, New Haven/London 2013; Basil Hunnisett, Engraved on Steel. The History of Picture Produc­ tion Using Steel Plates, Aldershot 1997; vgl. ferner den Aufsatz von Oliver Caraco in diesem Band.  2 Max Osborn, Der Holzschnitt, Bielefeld und Leipzig 1905, S. 146–150; Curt Glaser, Die Graphik der Neuzeit vom Anfang des XIX. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Berlin 1922, S. 511–550; The Arti­ stic Revival of the Woodcut in France 1850–1900, Ausst.-Kat. (Michigan, The University of Michigan Museum of Art, 1983/1984) hrsg. von Jaqueline Baas und Richard S. Field, Ann Arbor 1984.  3 Paul Westheim. Das Holzschnittbuch. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Ursula Prinz, ­Berlin 2000 [Potsdam 1921], S. 152–188; Robin Reisenfeld, Cultural nationalism, Brücke and the German woodcut. The Formation of a Collective Identity, in: Art History 20, 1997, S. 289–312; ­Peter Parshall und Rainer Schoch, Der frühe Holzschnitt und die Rezeption des Primitiven, in: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, und Washington, National Gallery of Art, 2005/2006), hrsg. von Peter Parshall und Rainer Schoch, Nürnberg 2005, S. 1–17.   4 Zu Chuck Closes Biografie, künstlerischem Werdegang und Umgang mit Fotografie zusammenfassend Christopher Finch, Chuck Close: Work, München u. a. 2007.  5 Keith, 1970, Acryl auf Leinwand, 275 x 213,4 cm, Saint Louis Art Museum, St. Louis.   6 Close hat den Begriff „Syntax“ mehrfach verwendet; 1992 erklärte er: „[....] syntax has a tremendous amount to do with content. The way you choose to do something is as important as what you choose to do.“ Zit. nach: Margit Franziska Brehm, Von der Gleichzeitigkeit des Verschiedenen und der Variationsbreite des Immergleichen. Zur Werkentwicklung von Chuck Close, in: Chuck Close. Retrospektive, Ausst.-Kat. (Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle, und München, Städtische Galerie im Lenbachhaus, 1994), hrsg. von Jochen Poetter und Helmut Friedel, Ostfildern 1994, S. 62–98, hier S. 65.   7 Zum Verfahren Carol Wax, The Mezzotint. History and Technique, New York 1990.   8 An dem Gespräch über den Mezzotinto Keith war 2002 neben Close und Sultan auch Kathan Brown von der Crown Point Press beteiligt: Mezzotint, in: Chuck Close Prints, Process and Colla­ boration, hrsg. von Terrie Sultan, München u. London 2014, S. 40–47.   9 Ebd., S. 42. 10 Chuck Close im Interview mit Terrie Sultan, 2002, zit. nach: Terrie Sultan, Introduction, in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 8–14, hier S. 11. 11 Ebd., S. 8. 12 Besonders deutlich ist dies auf der Platte selbst zu erkennen, die sich im Besitz der National Gallery of Australia befindet (NGA 76.82.1); vgl. https://artsearch.nga.gov.au/detail.cfm?irn=56385 [zuletzt aufgerufen 1.9.2017]. 13 Kathan Brown bezeichnete 2002 rückblickend den Herstellungsprozess als „technical comedy of errors“. Kathan Brown, in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 43. 14 Dazu zuletzt Nadine M. Orrenstein, States of Resolution. Rembrandt and the Unfinished Print, in: Unfinished. Thoughts Left Visible, Ausst.-Kat. (New York, The Metropolitan Museum of Art, 2016), hrsg. von Kelly Braun u.a, 2016, S. 80–85. 15 Zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 10–11. 16 Close erklärte 1992 in einem Gespräch mit Vija Celmins: „I always liked the fact, when I was working from photographs, that instead of inventing an interesting shape I had to accept the shape that was in the photograph.“ Zit. nach: Brehm 1994 (Anm. 6), S. 71.

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17 Zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8) S. 40. 18 Zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 47. 19 In Zusammenhang mit seinen Scribble Etchings definierte Close die Präsentation von Probe­ drucken als Versuch, den Werkprozess sicht- und verstehbar zu machen: „It’s something I have been interested in from the start. Also, I wanted to demystify the process so that people understand how things happen. I don’t think it detracts at all from the experience of the final print to unterstand how it got there, in fact, it adds something.“ Zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 126. 20 Close sprach rückblickend von der „tour de force quality“ des Mezzotinto; zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 43. 21 Zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 47; das Modell erprobte Close im gleichen Jahr auch in der Zeichnung: Siri Engberg, The Paper Mirror. Chuck Close’s Self-Reflection in Drawings and Prints, in: Chuck Close. Self Portraits 1967–2005, Ausst.-Kat. (Minneapolis, Walker Art Center, und San Francisco, Museum of Modern Art, 2005) hrsg. von Madeleine Grynsztejin und Siri Engberg, San Francisco 2005, S. 118–137, hier S. 122. 22 Zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 10. Die Körperlichkeit älterer Verfahren hob Close auch im Gespräch über die Fotogravüre hervor: „What I like best about photogravure is what I love about aquatint etchings. It is a real print process with physicality – a tooth that you almost feel like you could feel with your fingernail.“ Sultan 2014 (Anm. 8), S. 151. 23 Chuck Close im Interview mit Chuck Jaqueline Brody (1998), zit. nach Richard Shiff, Through a Slow Medium, in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 18–34, hier S. 21. 24 Sultan 2014 (Anm. 8), S. 47. 25 Gertsch hat die Verwendung von Fotografien explizit mit der Möglichkeit begründet, einen kurzen Moment in Dauer zu überführen: „Der Grund für die Verwendung einer Photovorlage war das schnelle Festhalten eines Augenblicks, dieses Eingefrieren des Momentes. [...] Aber es ist nicht nur das Festhalten, es ist auch die Beschäftigung mit dieser sechzigstel Sekunde über eine lange Zeit hinweg und die Tatsache, dass sie trotz der langen ‚Übersetzungsarbeit‘im Endprodukt ­eingefangen ist. Der Betrachter spürt sie in einer ganz bestimmten und zugleich doch schwer bestimmbaren Art. Der Holzschnitt ‚Schwarzwasser‘ erweckt zunächst den Eindruck ruhigen Fliessens. Aber taucht man tiefer in das Wasserbild ein, so entdeckt man, dass es sehr wohl auch andere Tempi gibt, schnellere ‚kalligraphische‘ Schlangenbewegungen. Ein kleiner Kreis ist da, wo soeben ein Tropfen ins Wasser gefallen ist. Das ist die Stelle, an der man die sechzigstel Sekunde plötzlich spürt, ganz nah dran ist an dem vergangenen Moment, der nie wiederkehren wird, weil nie mehr die gleichen Faktoren zusammentreffen werden.“ Franz Gertsch im Gespräch mit Jochen Poetter und Margit Brehm, in: Franz Gertsch. Holzschnitte, Ausst.-Kat. (Bern, Kunstmuseum, 1994, und Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle, 1995), Baden 1994, S. 9–82, hier S. 34. 26 Zum Begriff „Lichtpunkte“: Gertsch 1994 (Anm. 25), S. 14. 27 Zum Verfahren vgl. Rainer Michael Mason, Holzschnitte. Ausführung und Druck, in: Franz Gertsch. Holzschnitte, aus der Natur gerissen, Ausst.-Kat. (Bad Homburg, Museum Sinclair-Haus, 2013), hrsg. von Andrea Firmenich und Johannes Janssen, Köln 2013, S. 96–103; Achim Gnann, Zu den monumentalen Holzschnitten von Franz Gertsch, in: Franz Gertsch – Naturporträts, Holz­ schnitte und Gemälde 1986–2006, Ausst.-Kat. (Wien, Albertina, 2006/2007), S. 16–35. 28 Franz Gertsch über die Entstehung seines Holzschnittes Schwarzwasser II in der Kirche Rüschegg; PDF auf der Homepage der Rüschegger Kirchengemeinde: http://www.kirche-rueschegg.ch/ fileadmin/user_upload/pdf_dokumente/Flyer_Gertsch-Text_Schwarzwasser_DIN_A4_Kopie.pdf [zuletzt aufgerufen 1.11.2017] 29 Http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ausstellung-franz-gertsch-geheimnis-natur-in-badenbaden-a-931706.html [zuletzt aufgerufen 15.9.2017].

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30 Entsprechend heißt es in Aufzeichnungen des Künstlers: „Entweder Du machst einen Lichtpunkt oder Du machst keinen. Es lässt sich nicht korrigieren.“ Gertsch 1994 (Anm. 25), S. 57. 31 Gertsch, Kommentar (Anm. 28). 32 So spricht Harald Kunde von einem „titanische[n] Prozess der Einkerbung und Punktierung [...], der über das Handwerkliche hinaus vor allem von der Grundspannung zwischen ganzheitlicher Bildvorstellung und empirischer Detailversenkung geprägt wird. Dieses ausdauernde Arbeiten in umrissenen Tagwerken, vergleichbar den „giornate“ der italienischen Freskomalerei, begibt sich ganz bewusst in produktiven Widerspruch zu Schnellebigkeitsmaxime der sonstigen Gegenwartskunst [...].“ Harald Kunde, Ein neues Bild der Natur, in: Franz Gertsch. Die Retrospektive, Ausst.Kat. (Burgdorf, Museum Franz Gertsch u. a., 2005), hrsg. von Franz Gertsch, Reinhard Spieler und Samuel Vitali, Ostfildern-Ruit 2005, S. 169–171, hier S. 171. 33 Alexander Dückers, Notizen zu Franz Gertsch, in: Franz Gertsch. Holzschnitte – Gräser, Ausst.-Kat. (Berlin, Galerie Haas & Fuchs, 2000), hrsg. von Franz Gertsch, Caroline Sommer und Michael Fuchs, S. 4–7; Gnann 2006 (Anm. 27), S. 17. 34 So etwa Götz Adriani, den Der Spiegel anlässlich der Ausstellung Franz Gertsch – Geheimnis Natur (Baden-Baden, Museum Frieder Burda, 2013), mit den Sätzen zitiert: „Ein stoisches Verfahren, das ihn zu meditativer Versenkung in den technischen Vorgang anhält und subjektive Momente nicht zulässt. Und das dabei den Künstler, so der Kurator, ,gegen das Abdriften in die Allfertigkeiten unserer Tage‘ schützt.“ http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ausstellung-franz-gertschgeheimnis-natur-in-baden-baden-a-931706.html [zuletzt aufgerufen 20.9.2017] 35 Vgl. Franz Gertsch  – Holzschnitte, Ausst.-Kat. (München, Städtische Galerie im Lenbachhaus, 1991), Zürich 1991, S. 94–101; Gertsch 2006 (Anm. 27), S. 112–117; Holzschnitte – Ausführung und Druck, in: Gertsch 2013 (Anm. 27), S. 96–103; Angelika Affentranger-Kirchrath, Franz Gertsch. Die Magie des Realen, Wabern/Bern 2014, S. 140–141. 36 Gertsch, Kommentar (Anm. 28). 37 Franz Gertsch, Gedankengänge durch Vorstellung und Natur, in: Gertsch 2013 (Anm. 27), S. 19– 23, hier S. 19. 38 Gertsch 1994 (Anm. 25), S. 33. 39 Zit. nach: Margret Stuffmann und Paul Tanner, Aus einem Gespräch mit Franz Gertsch, in: Franz Gertsch, Landschaften, Ausst.-Kat. (Zürich, Graphische Sammlung der ETH Zürich, und Frankfurt, Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut, 1993), hrsg. von Margret Stuffmann und Paul Tanner, Stuttgart 1993, S. 45–48, hier S. 47. 40 Zu den Techniken vgl. Wilhelm Ludwig Schreiber, Die Meister der Metallschneidkunst, nebst ­einem nach Schulen geordneten Katalog ihrer Arbeiten, Straßburg 1926 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 241); ders., Teigdruck, Weisslinienschnitte, Holzschnittexte ohne Bilder nebst Monogrammen-Register, Liste der Passepartout-Bordüren, Attributen der Heiligen (Handbuch der Holz- und Metallschnitte des XV. Jahrhunderts 6), Leipzig 1928. 41 Gertsch hat selbst berichtet, dass er in seinen ersten, jugendlichen Holzschnittversuchen von den altdeutschen Meistern und von Linienholzschnitten von Aristide Maillol geprägt worden sei: Gertsch 1994 (Anm. 25), S. 9. Gegen den nahliegenden Vergleich mit dem modernen Holzstich hat sich der Künstler hingegen, wie Helmut Friedel berichtet, verwehrt, weil er „die stehenden Grate, da sie später seine Farbe aufnehmen und abdrucken, als die das Bild konstituierenden Elemente“ betrachte: Helmut Friedel, Wirkliche, monochrome Bilder, in: Gertsch 1991 (Anm. 32), S. 113–117, S. 114. 42 „Ein Aspekt der Bilder ist ja, dass sie in der Nahsicht sich in abstrakte Malerei auflösen und in der Weitsicht den Realismus zum Vorschein bringen.“ Franz Gertsch, zit. nach: Daniel Weber, „Es machte gleich klick...“ Franz Gertsch malt Bilder, die in keine Wohnung passen. Willy Michel hat

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ihm dafür ein Museum gebaut. Ein Gespräch zwischen Künstler und Sammler, in: NZZ folio (Mai 2008): http://folio.nzz.ch/2008/mai/es-machte-gleich-klick [zuletzt aufgerufen 15.9.2017]. 43 Vgl. Nick Stone, Phil (Spiral), Pressemitteilung der Magnolia Press, 2015: http://www.magnoliaeditions.com/wp-content/uploads/2015/01/Magnolia_PR_Close_Spiral1.pdf [zuletzt aufgerufen 22.9.2017]. 44 Jan Svenungsson, Bildlegende, in: Jan Svenungsson, Building chimneys/Bygga skorsten, Stockholm 2008, S. 154. 45 Tom Nicolson im Gespräch mit Svenungsson anlässlich der Ausstellung course, Melbourne 2005, zit. nach: A Dialogue between Tom Nicholson and Jan Svenungsson in: folder for exhibition „course“ at Ocular Lab, Melbourne, 2005, http://www.jansvenungsson.com/by/course_text_2005. html [zuletzt aufgerufen 15.9.2017] 46 Ebd. 47 Zu den Holzschnitten heißt es: „They took me half a year cutting ... (I like manual labour – I like to forget my thoughts)“. Ebd. 48 Jan Svenungsson, Binäre Grauwerte, in: Portfolio 8, Griffelkunstvereinigung, Hamburg 2014: http://www.jansvenungsson.com/by/kilpper.html [zuletzt aufgerufen 15.9.2917]. 49 Die Mauerarbeiten der Schornsteinskulpturen wurden zwar von professionellen Handwerkern ausgeführt, doch übernahm Svenungsson Handlangerarbeiten, die ihn in den Bauprozess ein­ banden: „I prefer to be a hodman. I will carry bricks, hand bricks, hoist up bricks, dream about bricks.“ Jan Svenungsson, Building a chimney/Byggar en skorsten, in: Svenungsson 2008 (Anm. 44), S. 36–119, hier S 38. 50 Jan Svenungsson, The Art of Attention, in: Dublett – Annette Kierulf & Caroline Kierulf, Bergen 2013: http://www.jansvenungsson.com/by/kierulf-e.html [zuletzt aufgerufen 12.9.2017]. 51 Ebd. 52 Jaspard Kettner, Woodcut in Motion. Time in the Prints of Christiane Baumgartner, in: Print Quarterly 24, 2007, Heft 1, S. 21–37; Pressemitteilung der Hamburger Griffelkunst-Vereinigung: https:// www.griffelkunst.de/kuenstler/baumgartner [zuletzt aufgerufen 15.9.2017]. 53 Christiane Baumgartner im Gespräch mit Helene Waters in: Christiane Baumgartner, Reel Time, Ausst.-Kat. (London, The Alan Cristea Gallery, 2011), London 2011, S. 7–11, hier S. 8. 54 „For a lot of the time, the scale has to do with the relationship to your body; I want the work to be bigger than life size. This is important in terms of how you look at the work; the scale draws you backwards and forwards. If you want to see how it ist made, you need to get very close but in order to create an image, you have to get some distance. So you have to move your body to read the work and that’s why I make certain images so monumental.“ Ebd., S. 10. 55 José Roca und Christiane Baumgartner, In Conversation, in: Philagrafika 2010. The graphic un­ conscious, Ausst.-Kat. (Philadelphia, Moore College of Art & Design, 2010), Philadelphia 2011, S. 122–125, hier S. 122; In einem Fernsehporträt bezog sich Baumgartner 2015 explizit auf Dürer und die deutsche Holzschnitttradition: Tim Lienhard, Atelier: Christiane Baumgartner. Filmporträt Arte-TV metropolis, 15.11.2015: https://www.youtube.com/watch?v=ufSrdJAWsiI [zuletzt aufgerufen 3.10.2017]. Der Kontrast zwischen der Ausbildung in Leipzig, die auch nach der Wende noch stark den in der DDR möglichen künstlerischen Modellen verhaftet geblieben war und dem Masterkurs in London kommt in einem Interview mit Carsten Tesch zur Sprache: Carsten Tesch, MDR Figaro trifft: Christiane Baumgartner. in: MDR-Kultur-Radio, 11.12.2013: http://www.christiane-baumgartner.com/press/MDR_Figaro_trifft_C_Baumgartner.mp3 [zuletzt aufgerufen 20.9.2017]. 56 Christiane Baumgartner im Interview mit Tim Lienhard; Lienhard 2015 (Anm. 54). 57 Roca und Baumgartner 2010 (Anm. 55), S. 124–125.

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58 Ebd., S. 125; Baumgartner und Waters 2011 (Anm. 53), S. 8. 59 Baumgartner und Waters 2011 (Anm. 53), S. 8. 60 Alexander Dückers, Von der „Brücke“ bis Franz Gertsch. Ein kurzer Gang durch ein langes Jahr­ hundert, in: Jahrbuch der Berliner Museen 51, 2009, S. 31–45; Katharina Henkel, Zwischen Ab­ straktion und Erzählung. Bild(er)findungen im Holzschnitt von 1945 bis zur Gegenwart, in: Stege, Grate, Inseln. Holzschnitte von Edvard Munch bis Heute, Ausst.-Kat. (Emden, Kunsthalle Emden, 2008), Heidelberg 2008, S. 69–85. 61 Diane Kelder, The graphic revival, in: Art in America 61, 1973, Heft 4, S. 110–113; Judith Goldman, American Prints. Process and Proofs, Ausst.-Kat. (New York, Whitney Museum of American Art, 1981) hrsg. von Goldman, Judith, New York 1982; Susan Tallman, The Contemporary Print. From Pre-Pop to Postmodern, London 1996. 62 Andreas Schalhorn, Neue Realitäten. Fotografische Bilder im Medium der Druckgraphik, in: Neue Realitäten. FotoGrafik von Warhol bis Havekost, Ausst.-Kat. (Berlin, Kupferstichkabinett, 2011, und Waiblingen, Städtische Galerie Stihl Waiblingen, 2012), Köln 2011, S. 11–26. 63 Katharina Henkel/Matthias Mansen, Im Atelier von Matthias Manssen. Ein Gespräch über die technischen Aspekte des Holzschnitts, in: Ausst. Kat. Emden 2008 (Anm. 60), S. 9–13. 64 Chuck Close im Gespräch über Spitbite Etching, zit. nach Sultan 2014 (Anm. 8), S. 70.

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Anne Röhl

Von Elektronen als Fäden Über den (un-)zeitgemäßen Einsatz textiler Handarbeit in den Videoarbeiten von Beryl Korot und Stephen Beck

Alte neue Medien – neue alte Medien Nicht aktuell, lautet die bekannte Kritik an der documenta, seit sich die Großausstellung von ihrer namensgebenden Funktion, nämlich der Dokumentation moderner Kunst, der jeweiligen Gegenwart zugewandt hat. Stefan Germer hat schon in den frühen 1990er Jahren konstatiert, dass sich im Gegenzug, gerade nach der ersten „Autorendocumenta“ Harald Szeemanns im Jahr 1972, ein bestimmtes Rechtfertigungsmuster etabliert hat.1 Vorherrschendes Motiv dieses Musters scheint zu sein, dass das Konzept der Großausstellung das jeweils Spezifische zeitgenössischer Kunst thematisiert (und daran scheitert). Im Fall der documenta 6 des Jahres 1977 war das Spezifikum an die mediale Form der Werke gebunden. Die sogenannte „Mediendocumenta“ war bekanntermaßen nach unterschiedlichen „Medien“ gegliedert. Als erste Ausstellung der Reihe zeigte sie extensiv die als „neue Medien“ begriffenen künstlerischen Techniken Fotografie, Film und Video gleichberechtigt mit traditionellen Gattungen wie Zeichnung, Malerei und Plastik.2 Wie zu erwarten wurde diese Aufgliederung kritisch aufgenommen und wiederum von Seiten der documenta-Macher verteidigt. So hielten die beteiligten Künstlerinnen und Künstler mediale Unterscheidungskriterien nicht für tragfähig,3 außerdem wurde ­immer wieder der Vorwurf eines Mangels an Aktualität laut, war doch 1977 selbst das neueste der „neuen Medien“, die Videokunst, schon über ihre erste Dekade hinaus.4 Der documenta-Leiter Manfred Schneckenburger betonte  – im Hinblick auf den präsenten Vergleich zu Szeemanns documenta 5 – im Vorwort, er sähe „[...] keine Notwendigkeit, aus der unmittelbaren Gegenwart in die jüngste Vergangenheit auszuweichen.“ Überhaupt sei das Konzept „eine Idee der medienkritischen 70er und nicht der medienbegeisterten 60er Jahre.“5 Um diesem Aktualitätsanspruch zu genügen, wurde keine Geschichte der Videokunst erzählt, sondern die von Wolf Herzogenrath verantwortete Präsentation zeigte eine Art „Zusammenfassung der pionierhaften Videoausstellungen der 1970er Jahre“, beschränkt auf jüngste Werke aus den Jahren 1974–77.6 Videokunst wurde in zwei Abteilungen ausgestellt. In der Kategorie „Video-Installationen/Skulpturen“ waren Werke

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von elf Künstlerinnen und Künstlern im Dachgeschoss des Fridericianums aufgebaut.7 Fünfzig Künstlerinnen und Künstler waren mit Videobändern in der Videothek vertreten, die an einer „Video Bar“ ausgewählt und in zwei Kabinen angeschaut werden konnten. Ein Blick in den Ausstellungskatalog zu den Bereichen Fotografie, Film und Video zeigt, dass die Präsentation aktueller Videokunst der „medienkritischen 70er Jahre“, wie Schneckenburger sie nannte, mit Rückgriffen auf ein Medium einhergeht, das auf den ersten Blick nicht zur proklamierten Aktualität der neuen Medien passen will, sondern den Anschein des Unzeitgemäßen erweckt.8

46  Doppelseitige Präsentation von Beryl Korots Installation Dachau 1974 im Katalog der documenta 6, Bd. 2, S. 308–309.

Die Doppelseite zu Beryl Korots Video-Installation Dachau 1974 zeigt auf der linken Hälfte die Zeichnung eines Fransenteppichs.9 In den drei Abbildungen auf der rechten Seite kehrt der Teppich in der Fotografie oben rechts wieder: Er dient als Unterlage der Zuschauerbank, auf der die Künstlerin selbst sitzt. Textile Ornamente tauchen noch in einer weiteren Videoarbeit der documenta auf: Auf der zweiten Doppelseite sind Abbildungen diamantförmiger Muster auf Bildschirmen zu sehen, die in der Beschreibung als Video Weavings 2 (1975) des Künstlers Stephen Beck ausgewiesen werden. (Farbabb. 12a und b) Die Integration textiler Formate von Beryl Korot und, im zweiten Fall, von Stephen Beck fällt besonders vor dem Hintergrund auf, dass Textilien und textile Techniken auf der

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documenta 6 weitgehend absent waren.10 Obwohl neue Medien und Techniken im Gegensatz zu traditionellen künstlerischen Gattungen wie beschrieben als Determinanten der Großausstellung aufgefasst werden, scheinen textile Medien nicht zum Kreis der Medien zu zählen. Für die Kunstproduktion der 1960er und 1970er, zumindest in den USA, konstatiert Elissa Auther dagegen eine Ubiquität textiler Materialien und Techniken. Sie unterscheidet drei Bewegungen, die textile Materialien und Techniken wiederentdecken oder industrielle Textilien als Material in die Kunst einführen: Fiber Art, Postminimalismus/Process Art und feministische Kunst.11 In ihrer Analyse dieser Konjunktur von Materialien und Techniken, die auf negative Weise mit den Attributen „Handwerk“, „Handarbeit“ und „Weiblichkeit“ belegt sind, fasst sie auch die unterschiedlichen Motivationen für den Zuoder auch Rückgriff auf das Textile zusammen: Während die Fiber Art mit Ausstellungen, wie etwa Wall Hangings im MoMA im Frühjahr des Jahres 1969, zeitgenössische Weber und Weberinnen eben nicht in der Textilindustrie, sondern in der Kunstwelt zu platzieren suchte, wie es in der Ausstellungsankündigung heißt, war für postminimalistische Künstler, wie Robert Morris und Eva Hesse, gerade der Status von Textilien, die als unkünstlerische und unbelastete Materialien galten, entscheidend.12 Die feministischen Künstlerinnen schließlich knüpften bewusst an eine weibliche Handarbeitstradition an, um Jahrhunderte künstlerischer Produktion von Frauen zu würdigen und geschlechtlich definierte Vorstellungen und Restriktionen von Kunst zu thematisieren.13 Im Folgenden soll es darum gehen, am Beispiel von Korot und Beck danach zu fragen, warum Videokünstlerinnen und -künstler diesen Rückgriff auf textile Techniken wagen. Dazu werden zunächst die beiden auf der documenta 6 vertretenen Werke betrachtet und anschließend weitere Videoarbeiten sowie der Arbeitskontext der beiden Künstler. Beck und Korot sind innerhalb der Videokunst und der Debatten der Zeit nicht nur geografisch unterschiedlich zu verorten. Mit den Arbeitsorten New York (Korot) und San Francisco (Beck) sind zwei spezifische Kontexte verbunden, die im Folgenden ebenfalls eine Rolle spielen. Der Einsatz textiler Techniken, in diesem Fall des Webens, differiert in beiden Werken merklich. Während Korot in ihre spätere Installation Text and Commentary (1976– 77) gewebte Teppiche integriert, verweist Beck nur metaphorisch auf den Webprozess und Webmuster. Beide Arbeiten werden dennoch im Hinblick auf dieselbe These betrachtet: nämlich, dass sie durch die Kontextualisierung von elektronischem Medium und Jahrtausende alter Webtechnik reziprok konstruiert werden und dies wiederum zur Neubewertung der jeweiligen Technik führt.

Textile Problemlösungen: Beryl Korots Dachau 1974 Zurück zum Teppich: In der Nahsicht zeigt sich die Zeichnung im Katalog der documenta 6 als zum Fransenteppich ergänztes Diagramm.

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47  Beryl Korot, Dachau 1974 – Structural Diagram, 1975, Tinte auf Pergamentpapier, 61 x 45,7 cm, New York, Foto: John Berens.

Gezeigt wird das Textil im Hochformat, in Laufrichtung der Kettfäden, die als dünne Fransen an der oberen und unteren Webkante weiterlaufen. Die feine Linienzeichnung zeigt als Binnenstruktur – Teppichmuster – sich horizontal wiederholende geometrische Formen.

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48  Beryl Korot, Dachau 1974, Detail: vier Stills, Vier-Kanal-Video (s/w, Ton) mit piktografischem Schnittdiagramm, 24 Minuten, New York, Foto: John Berens.

Eine schmale Spalte links listet von oben nach unten 24 Minuten, vier weitere Spalten sind mit „Channels“ überschrieben und nummeriert. Rechts davon steht der Titel der Videoarbeit, auf die sich die Zeichnung bezieht, „Dachau 74“, auf der Borte links unten die Signatur der Künstlerin „BK 75“. Wie der Titel vermuten lässt, wird das Konzentrationslager im bayrischen Dachau im Jahr 1974 gezeigt. Die Videoaufzeichnungen entstanden während eines Besuchs des Konzentrationslagers und der Gedenkstätte im September desselben Jahres.14 Der Bezug zu Textilien wird durch die Ergänzung des Diagramms um Fransen stark hervorgehoben. So diente das Diagramm auch als Plakatmotiv für Korots erste Einzelausstellung in The Kitchen, dem New Yorker Ausstellungsraum der Videokunstpioniere Woody und Steina Vasulka im Frühjahr 1975.15 Die Wahl des Teppichmotivs für das Poster einer Videoausstellung erschließt sich zunächst ebenso wenig wie die Wiederkehr des ­Teppichs in der beschriebenen Installationsansicht. Tatsächlich ist der Bezug zum Teppich im Fall von Dachau 1974 im Entstehungsprozess erst spät erfolgt: Wie viele ihrer Zeit­ genossen hatte Korot die Aufnahmen mit der Sony Portapak, der ersten t­ rag­baren Videokamera, gemacht. Die Künstlerin filmte mit Hilfe eines Stativs aus 13 unterschiedlichen Positionen Landschaft und Architektur des Lagers und die sich darin be­wegenden Touristen. Mit einem einfachen Mikrophon nahm sie gleichzeitig die Um­gebungsgeräusche auf. Man kann diese Art der Dokumentation von Korots Besuch des Lagers, die Aufzeichnung

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des Ortes, als relativ ungeplant beschreiben, so dass es nicht e ­ rstaunt, dass die Künstlerin bei der Sichtung begriff, dass das Material zu statisch war. Für eine lineare Erzählung erschienen die Aufzeichnungen nicht verwendbar. Korot teilte also das Videomaterial in Sequenzen, um diese in einer Logik anzuordnen, die in ihrer Struktur der einfachsten Webtechnik ähnelt, der Leinwandbindung. Für eine solche Leinwandbindung sind vier Fäden nötig, weshalb die Installation vier Kanäle hat. Von den vier Monitoren zeigen die Monitore 1 und 3 sowie 2 und 4 jeweils eine ähnliche Sequenz: so als ob das Bild 1 als Schussfaden unter dem zweiten Monitor durchläuft und dann vor der „Kette“ wieder auf Position 3, also dem dritten Monitor, erscheint. Durch diese Verschiebung entstehen 18 verschiedene Konstellationen, die im Teppich­ diagramm durch Piktogramme dargestellt sind. Die vier Bildschirme sind durch vier Aussparungen in einer weißen vorgelagerten Wand zu sehen.16 Eine Bank muss immer mit ausgestellt werden, um dazu anzuregen, das 24-minütige Video auch durchzuhalten.17 Im selben Raum wird auch das beschriebene Schnittdiagramm an der Wand gezeigt. Ohne den direkten Hinweis des Diagramms, das auch an einer Wand in der Ausstellung hing, wäre der Bezug zum Weben wohl sonst nur durch Erklärungen der Künstlerin verständlich. Das Schnittdiagramm hat operativen und synoptischen Charakter.18 Es dient als ­Arbeitsanweisung für das Schneiden und Ordnen der Folge der Sequenzen und das Verhältnis der vier Kanäle zueinander. Gleichzeitig bietet es einen Überblick über alle Videosequenzen und auch deren webtechnische Relation auf einen Blick. Im Hinblick auf den brisanten Inhalt der Videos, nämlich das Dokument des Besuchs eines Konzentrationslagers in Deutschland, gefilmt von einer jungen jüdischen Künstlerin, scheint es, als hätte die Analogie zur Leinwandbindung Korot die Möglichkeit gegeben, das noch dazu sehr statische und somit für das mit bewegten Bildern operierende Medium zweifach problematische Material in ein übergreifendes, abstraktes System einzubauen, um diese doppelte Herausforderung zu meistern.19 Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Kanäle führt zu einer nicht linearen Erzählung unterschiedlicher, sachlicher Eindrücke: Wachtürme neben den umliegenden Feldern, der Eingang zum Krematorium neben einem lichtdurchfluteten Innenhof. Der einzelne Audiokanal bringt eine weitere Ebene dieser Überlagerung mit sich, wenn etwa das Lachen von Touristen, die sich nicht im Bild befinden, zu hören ist. Der Bezug zur Bindungslehre kann aber nur gezogen werden, wenn ein Grundverständnis für Webtechnik vorhanden ist. In einer Analyse der Installation erwähnt Mark Godfrey ein frühes Interesse Korots für die Werke und Schriften von Anni Albers.20 Albers’ On Weaving wurde 1965 erstmalig publiziert und in den folgenden zwei Jahrzehnten immer wieder neu aufgelegt (eine Neuauflage erschien 1974). In der Einleitung formulierte Albers den Wunsch: „By taking up textile fundamentals and methods, I hoped to include in my audience not only weavers but also those whose work in other fields encompasses textile problems.“ Der Wunsch nach einer so breiten Rezeption hat sich durchaus erfüllt, wie die Übertragung des Systems der Leinwandbindung auf das Zusammenspiel der ­Kanäle bei Dachau 1974 zeigt.21 Im Satz davor machte Albers ein weiteres Anliegen ihrer

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Publikation deutlich: „My concern here was to comment on some textile principles underlying some evident facts.“22 Korot hat die Narration ihres Dachau-Besuchs in den Worten Anni Albers als ein „textiles Problem“ gedeutet, das sich durch die Anwendung „textiler Prinzipien“ lösen ließ.

Zwei Informationsmedien In einer anderen Installation von Beryl Korot, Text and Commentary (1976–77), ist die Verbindung von Video- und Webtechnik im Gegensatz zu Dachau 1974 keine nachträgliche, sondern zentral für die Herstellung und Präsentation des Werks.23 Die jüngere Installation wurde deutlich weniger rezipiert als das Werk Dachau 1974, das innerhalb der frühen Videokunst als eine der ersten Multichannel-Installationen Interesse gefunden hat und durch den eindeutigen Bezug zum Holocaust weitere inhaltliche Interpretationsmöglichkeiten anbietet.24 In Text and Commentary, erstmals ausgestellt bei Leo Castelli, werden nicht nur ein vom Weben inspiriertes Schnittdiagramm und die Multikanalinstallation, sondern auch Videobild und gewebte Fläche sowie die Webnotation zueinander in Beziehung gesetzt.25 Die Installation besteht aus vier Elementen, deren Arrangement im Raum festgelegt ist.26 Parallel zu fünf in die Stirnwand eingelassenen Monitoren hängen in der Mitte des Raumes fünf gleichgroße Webstücke (Farbabb. 13).

49  Beryl Korot, Text and Commentary, 1976–77, Detail: Notationen, Fünf-Kanal-Video (s/w, Ton), Webstücke, Notationen und Piktogramme, Dimensionen variabel, 30 Minuten, Loop, New York, Foto: John Berens.

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An den Wänden rechts und links von diesem Aufbau geben fünf Grafiken die Webnota­ tionen auf kariertem Papier wieder, fünf weitere Bilderrahmen enthalten Vorzeichnungen der Videosequenzen als Diagramme. Hieroglyphenartig sind die unterschiedlichen Tätigkeiten des Webens als Piktogramme festgehalten. Schon der erste Eindruck macht die Analogien und Überlagerungen der vier Elemente deutlich, am nachdrücklichsten in der Parallelstellung von Textilien und Monitoren: Man schaut durch die fünf Webstücke auf die fünf Monitore, die den Prozess des Webens eben dieser Stücke in unterschiedlichen Einstellungen zeigen. Weben und Video werden hier so kombiniert, dass sie einander darstellen. Während sich die Verbindung zwischen den hängenden Textilien und der im Video gezeigten Herstellung schnell erschließt, wird der Bezug der Grafiken zu diesen Elementen nur durch sehr genaues ­Beobachten der Abläufe oder nach dem Lesen eines begleitenden Textes verständlich. Die Notationen, sogenannte Patronen, können von Fachkundigen als Grundlage der ausgeführten Stücke identifiziert werden, die Diagramme dagegen sind ein von Korot entwickeltes eigenes Darstellungsformat.27 Die einzelnen Elemente der Installation können nicht alle gleichzeitig betrachtet werden, allein die Bildschirme und die Teppiche sind parallel sichtbar. Gezeigt wird der vollständige Prozess des Webens vom ersten Eintrag bis zur Abnahme der Webstücke. Die fünf Videos zusammen bilden dabei oft Symmetrien. Unterschiedliche Einstellungen werden von synchronen Schwarzbildern unterbrochen. Nicht nur die ungerade Zahl von Kanälen, sondern auch die Anzahl der unterschiedlichen Clips und die Länge des Videos führen zu größerem Detailreichtum und höherer Komplexität, als sie bei Dachau 1974 zu beobachten ist. Der Ton gibt die Geräusche des Webvorgangs allerdings nur auf einem Kanal wieder, was zu einer Diskrepanz von ablaufender Tätigkeit und Geräuschkulisse führt. Was das Verhältnis von Videobild zum gewebten Bild betrifft, kann man zwei hauptsächliche Modi im Video konstatieren: solche Einstellungen, die die unterschiedlichen Arbeitsabläufe und Handgriffe des Webprozesses zeigen, sowie die Nahaufnahmen des entstehenden textilen Bildes, das mit den Scannerzeilen des Videobildes parallelisiert wird. Hierfür verwendet Korot Einstellungen, in welchen die Kettfäden den Bildschirm füllen und sich das Bild durch den gezeigten Schusseintrag Zeile für Zeile von der unteren Bildkante aufbaut. Dies entspricht natürlich nicht exakt der Entstehung des Videobildes, aber beide Verfahren basieren auf Zeilen und Rastern. Eine Beschreibung der Videotechnik macht deutlich, wie viele der verwendeten Begriffe auch beim Weben eine Rolle spielen: The technology of the signal transmission [...] generates an image that comprises a flow, an uninterrupted stream of voltages or picture elements. The video signal transmitted by the camera comprises these constantly moving elements in lines across the surface presence, or raster; the synchronization of the lines creates the format of the screen. The raster thus expresses the flow of the electrical pulse. The process of the lines being „written“ is also referred to as scanning. [...] two interlocked half-images constitute an „image“ in video or television; all of the information in an image is in the even and odd lines – the half-images – that intersect [Hervorheb. A.R.].28

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Trotz Godfreys Hinweis auf Korots Interesse an der Publikation von Albers ist der Anlass für ihre Beschäftigung mit Webprozessen nicht völlig aufzuklären.29 Korots unterschiedliche Bezugnahmen auf das Weben zeigen aber Verbindungen zwischen den beiden Medien auf, die vor allem in Text and Commentary explizit sind und daher im Folgenden kurz erläutert werden. Korot hatte bis 1967 an der University of Wisconsin und am Queens College Englische Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Dort lernte sie Ira Schneider kennen. Als beide sich 1969 in New York wiedertrafen, hatte Schneider gerade mit Frank Gillette, Michael Shamberg, Paul Ryan und weiteren die Raindance Corporation gegründet. Die Gruppe orientierte sich an den Theorien zu Kybernetik, Ökologie und dem Medium Fernsehen von R. Buckminster Fuller, Gregory Bateson und Marshall McLuhan. Ryan arbeitete unter anderem als Assistent von McLuhan.30 Neben der theoretischen Beschäftigung mit Video bot das Umfeld Korot auch die Möglichkeit für erste eigene Videoexperimente. Prägend für ihr Schaffen war die frühe Closed-Circuit-Videoinstallation Wipe Cycle, die Gillette und Schneider 1969 in der Ausstellung TV as a Creative Medium in der Howard Wise Gallery zeigten.31 Direkt gegenüber des Aufzugs, im Eingangsbereich installiert, zeigten neun Monitore in drei Reihen die den Aufzug verlassenden Ausstellungsbesucher. Diese Live-Aufnahmen wurden in unterschiedlichen Zeitverschiebungen wiederholt und mit zuvor aufgenommenen Sequenzen kombiniert. Die Installation löst so die Forderung ein, die das Raindance-Kollektiv im Editorial der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift Radical Software aufstellte, nämlich alternativen Gebrauch des Mediums Fernsehen vorzuschlagen, in dem die Zuschauenden als Akteure im Bild sind: Power is no longer measured in land, labor, or capital, but by access to information and the means to disseminate it. As long as the most powerful tools (not weapons) are in the hands of those who would hoard them, no alternative cultural vision can succeed. Unless we design and implement alternate information structures which transcend and reconfigure the existing ones, other alternate systems and life styles will be no more than products of the existing process [...]. Our species will survive neither by totally rejecting nor unconditionally embracing technology – but by human­ izing it: by allowing people access to the informational tools they need to shape and reassert control over their lives.

Ab Juni 1970 war Korot mit ihrer Raindance-Kollegin Phyllis Gershuny für die Herausgabe dieses ersten Magazins für Videokunst und alternative Medienpraktiken tätig.33 Retro­ spektiv bezeichnet die Künstlerin die Arbeit an der Zeitschrift Radical Software, deren Herstellung vor der Zeit des Desktop-Publishing mit viel händischer Kleinstarbeit ver­ bunden war, als ihr erstes künstlerisches Medium: „[...] it was the first time that I had ­actually begun to work tactilely, you know, with transferring photographs into halftones unto a page, reducing, specking type, making a newspaper.“34 Hier wird deutlich, dass es der taktile Aspekt, die händische Arbeit ist, die für Korot das künstlerische Vorgehen ­ausmacht. Für die Videokunstschaffenden der Zeit war der Umgang mit Video tatsäch-

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lich Handarbeit: Sequenzen wurden von Hand gestoppt und geschnitten hat, was bei ­Dachau 1974 und Text and Commentary auch zu sichtbaren Ungenauigkeiten führte. Bei der Arbeit mit der Portapak, der Kamera, die Korot benutzte, und der Arbeit mit dem Handwebstuhl gibt es sogar einen ähnlichen Arbeitsschritt: Wie in der zweiten Ausgabe von Radical Software im Artikel „Tips for Using Portable Half-inch Equipment“ erklärt, ist das threading, das Einfädeln des Videotapes, der erste Schritt jeder Videoaufnahme. Als threading wird im Englischen ebenfalls das Aufziehen und Einfädeln der Kettfäden vor dem Weben bezeichnet, wie in den ersten Einstellungen von Text and Commentary zu sehen. Jüngst wurde die Installation mit Joseph Kosuths One and Three Chairs von 1965 in Verbindung gebracht. Korot sieht die unterschiedlichen semiotischen Systeme aber nicht als austauschbar an, viel mehr wird die formale Struktur des einen Mediums durch das andere expliziert.35 Auch enthält das Diagramm eine Tätigkeitsbeschreibung bzw. Handlungsanweisung, während bei Kosuth nur Bild, Objekt und Text nebeneinanderstehen.36 Ein Vergleich bietet sich viel eher mit einer unbekannteren konzeptuellen Arbeit an, die ebenfalls Diagramme enthält: In Laura’s Layette (1979) präsentiert die New Yorker Künstlerin Elaine Reichek Einzelteile der Erstlingsausstattung ihrer Tochter wie Jäckchen und Mützchen als gestricktes Objekt und grafische Notation der Maschenabfolge.37 Wie Reichek führt Korot die Struktur einer Gewebeart vor, in der die Information hinter den ­Maschen liegt. Man könnte vermuten, dass sie zu ihrem Vergleich von Textil und Video auch durch Marshall McLuhan inspiriert wurde, der das Fernsehen als ein „mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten“38 beschrieben hat. Dieses Maschennetz, so McLuhan, sei durch die Beteiligung der Sinne zu schließen, also zu vervollständigen. Das Konzept, textile Strukturen als Informationen zu sehen, wird in McLuhans auflagenstärk­ stem Büchlein The Medium is the Massage. An Inventory of Effects von 1967 visualisiert. Selbst wenn Korot diese Darstellung nicht kannte, so kann doch die Analogie von der handwerklichen Technik und dem Fernsehen des „elektrischen Zeitalters“ (McLuhan) als eine für die McLuhansche Rhetorik typische Analogiebildung der Zeit betrachtet werden. In der Presse zur ersten Ausstellung von Text and Commentary findet sich eine Begründung von Korot für ihr Interesse am Weben: The way cloth is composed is the way I work with multichannel TV. The thing that attracted me to the loom was its sophistication as a programming tool – it programs patterns through the placement of threads, in a numerical order that determines pattern possibilities. It’s like the first computer on earth.39

Dass sich die Mediengeschichte von Computern und Webtechnik in der Lochkarte trifft, ist hier wohl weniger gemeint, als vielmehr das Programmieren als Verfahren. Wie Yvonne Spielmann ausgeführt hat, sind schon die frühen Werkzeuge der Videokunst zwar analog, können aber dennoch als programmierbare Maschinen betrachtet werden. Spielmann ver-

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ortet Video so zwischen analogen und digitalen Werkzeugen. Korot erkennt also durch die Brille der Webenden, respektive durch die der Video-Schaffenden das jeweils andere Bild als programmierbar. In beiden Fällen wird das technische Bild, ob gewebt oder elek­ tronisch, als „real-time event“ begriffen.40

„Electronic current in the hands of an artisan“: Stephen Becks Video Weavings Zeitgleich zu Korots Beschäftigung mit audiovisuellen und gewebten Sequenzen entwickelte Stephen Beck in San Francisco sogenannte Video Weavings. Zwischen Korot und Beck gab es schon vor der Beteiligung an der documenta 6 Berührungspunkte: Die Zeitschrift Radical Software kümmerte sich neben der Diskussion und Dokumentation von ­Videoprojekten auch um die Vernetzung der Videoszenen, und so gab Korot eine Ausgabe heraus, die unter dem Titel Videocity. Radical Software from San Francisco Beck an seinem Arbeitsort im National Center for Experiments in Television (NCET) vorstellte.41 In der von Korot zusammen mit Schneider herausgegebenen ersten Anthologie zur Videokunst aus dem Jahr 1976 ist Beck auch mit den Video Weavings vertreten.42 Im Unterschied zu Korots Videoaufnahmen handelt es sich bei Becks Arbeiten um kameralose Farbvideos zu dieser Zeit auch „direct video“ genannt. Heute werden Becks Arbeiten unter anderem als „abstract video“ bezeichnet und in die Geschichte visueller Musik eingeordnet. 43 Die minutenlangen Experimente existieren in unterschiedlichen Sequenzen.44 Im gegebenen Beispiel dominieren Diamantformen: Vertikale Reihen gezackter Linien in unterschiedlichen Farbtönen laufen von außen auf die Bildschirmmitte zu, bilden dort Rautenformen, verkleinern sich und verschwinden. Musik mit in kurzen Abständen wiederkehrenden Rhythmen und Klangabfolgen unterstreicht die stetigen Bewegungen und Farbwechsel des Videos. Harte Farbkontraste und die stetige Neubildung von Formen und Figuren rücken die Arbeit in den Kontext psychedelischer Kunst. Becks Video Weavings zeigen keine repräsentationalen Bilder, sondern visualisieren die Funktionsweise der Videotechnik. Auf diese Art und Weise sind sie symptomatisch für ihren Entstehungskontext am NCET. Als Teil des in San Francisco ansässigen öffentlichen Fernsehsenders KQED TV begriff sich das NCET quasi als Forschungsabteilung, deren Ergebnisse unter anderem als Videokunst im Fernsehen ausgestrahlt wurden. In den Jahren 1967–75 versammelte der Direktor Brice Howard unter dieser Prämisse Künstler und Theo­ retiker unterschiedlicher Felder, die in einem mit neuester Technik ausgestatteten Fernsehlabor gemeinsam forschten. Das Anliegen des NCET, obwohl von der Fernsehstation KQED getragen, war nicht so verschieden von den Ambitionen der Raindance Corpora­ tion.45 Auch hier sollte das relativ junge Phänomen Fernsehen in seinen Grundlagen erforscht werden. In einem Auszug aus einer Informationsbroschüre zum NCET aus dem Jahre 1971 heißt es:

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We are nearly blind to the real, human implications of television in its many forms. Television which serves the worst in us has come rather easily. Hopefully, there is a new television which awaits us – one that maturely expresses our complex sense of things. Because images influence personal reality and social structure, the task of evolving this new television is an urgent and very practical matter.46

Die Beschäftigung mit Video, die eine politische Dimension besitzt insofern, als sie auf derselben Technik wie das Massenmedium Fernsehen beruht, führte beim NCET weniger zu Closed-Circuit-Installationen und zur Thematisierung spezifischer Wahrnehmungserfahrungen, wie beispielsweise in Gillette und Schneiders Wipe Cycle, sondern zu gänzlich kameralosen Videoarbeiten wie Becks Video Weavings. Wie Kris Paulsen überzeugend erläutert, begriffen die Künstler am NCET im Gegensatz zur Videoszene in New York nicht das unmittelbar übertragene Feedbackbild als eine medienspezifische Eigenschaft von ­Video, sondern das Abtasten des Bildschirms durch den gebündelten Elektronenstrahl.47 Deutlich zeigt sich diese Konzeption in der Publikation Videospace and Image Experience (1972) des NCET-Direktors Brice Howard. Paulsen beschreibt, wie Howard eine von Clement Greenberg inspirierte Rhetorik nutzt (allerdings ohne explizit auf diesen zu verweisen), um über die Entwicklung eines Modells von Medienspezifizität (medium specificity), Video von der Assoziation zu Unterhaltungsformaten wie Theater, Journalismus, Kino, Radio und besonders dem Fernsehen, das Howard als bloße Anwendung beschreibt, zu lösen. Gleichzeitig schreibt er die Videoarbeiten über den visuellen Vergleich mit moderner Malerei in die Geschichte abstrakter Kunst ein. Dieser Formalismus verbleibt aber nicht auf der vermeintlich flachen Oberfläche des Bildschirms. Howard charakterisiert in seinen Ausführungen zum Spezifischen des Mediums Video auch als künstlerisches Material. Wie Paulsen erläutert, ist Video in den Augen Howards nicht nur ein Träger von Information, sondern „[...] a ‚space‘, a surface, a material in which one could make, not just send, a work. Videospace was a space of dynamic, unfolding movement, but this movement was not one of ‚carrying‘.“48 In den vom NCET produzierten Fernsehsendungen wird die elektronische Materialität des Videobildes für die Zuschauer sichtbar gemacht. Video soll über seine Funktion als Informations- und Bildträger hinaus gezeigt werden. Zu diesem Zweck wurden die Werke der Künstler nicht unkommentiert ausgestrahlt, sondern in ebenfalls vom NCET gestaltete Sendungen, wie die Serie The Videospace Electronic Notebooks, eingebettet, die die technischen Zusammenhänge erläuterten. Dieses didaktische Vorhaben äußerte sich auch darin, dass manchmal sogar das Farbtestbild eingeblendet wurde, so dass die Zuschauer ihre Fernsehgeräte den Farbanforderungen der Kunstwerke anpassen konnten.49 In dieser Serie wurden auch Becks Video Weavings gezeigt.50 Becks Beschreibung seiner Arbeit, die in Korots und Schneiders Video Art-Anthologie auftaucht, verwendet dieselben Motive wie Howard: „Television has a history based largely on the objective, photographic image. Experimental television is for me a process of exploring and portraying images of an opposite polarity.“51

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Beck vergleicht seine Rolle als Künstler mit der eines Komponisten, der mit den „visual ‚ingredients‘ of color, form, motion, and texture“52 prozessuale Bilder erschafft. Wie Beck betont, ist dieser Prozess aber eben keine künstliche, synthetische, sondern eher die plastische Tätigkeit eines Handwerkers: „For me the direct video synthesizer functions not as something artificial, as the term ‚synthetic‘ has come to connote, but as a compositional device which ‚sculpts‘ electronic current in the hands of an artisan.“53

Störungen Howards und Becks Insistieren auf der Materialität des Videobildes; das bewusste Zeigen der Bausteine, wird in der Rezeption als Bildstörung, als das „unvorhergesehene Hervortreten der Materialität gewertet“.54 Als erste Ausgabe der NCET-Serie The Videospace Electronic Notebooks, die am 6. November 1973 ausgestrahlt wurde, improvisierte Beck zusammen mit Warner Jepson, Komponist am NCET, Illuminated Music 2 und Illuminated Music 3. Die Sendung begann mit einem Blick ins Studio, der Vorstellung der Künstler und einer kurzen Erklärung der Funktionsweise der jeweiligen technischen Geräte. Während Beck mit Hilfe seines Synthesizers Videobilder live erzeugte, nutzte Jepson den BuchlaSynthesizer, um elektronische Musik zu improvisieren.55

50  Warner Jepson während der Performance Illuminated Music II, 1972–73, 14:02 min, Farbe, Ton (Visuals: Stephen Beck; Sounds: Warner Jepson, produziert vom National Center for Experiments in Television).

Nach der kurzen Einführung in die Videotechnik für die Zuschauer, wurden die Video­ stücke selbst durch die Einblendung des Titels auf schwarzem Grund eingeleitet. Illumina­ ted Music 2 beginnt daraufhin mit einem schwarzen Bildschirm, auf dem sich einzelne weiße Punkte in Bogenformen symmetrisch zur Vertikalen bewegen, um sich später zu Sonnenrädern und größeren Formgebilden in verschiedenen hellen Farben zu verbinden.

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Die Ausstrahlung dieser audiovisuellen Experimente provozierte trotz der deutlichen Rahmung innerhalb der Sendung zahlreiche schockierte Reaktionen, darunter Anrufer, die die Bilder als hirnschädigend bezeichneten, und Beschwerden, das gesendete Programm habe das Fernsehgerät zerstört.56 Die Sichtbarkeit des Mediums, seine Sichtbarkeit als Material, wurde hier als Störung gedeutet. Auch in Korots Text and Commentary verbinden sich die beiden Medien neben der Parallelstellung von textiler/gewebter und elektronenbasierter Bilderzeugung im Moment der Störung. Ein Kunstkritiker schrieb über die Installation, Korot erbringe den Beweis, dass das Videobild gewoben sei. Der eigene Fernseher zuhause könne auch „reine Muster“ zeigen, allerdings nur, wenn etwas nicht stimme.57 Für eine genauere Betrachtung dieser Störung gilt es zunächst festzuhalten, dass Korot durch den Vergleich mit dem ­Videobildschirm und die Präsentation der Notationen die Webstücke als technische Bilder beschreibt, wie Birgit Schneider allgemein für Gewebe zusammengefasst hat: Die orthogonalen Systeme von Kette und Schuss bilden verkreuzt ein Raster aus zwei Liniensystemen; „als Raster [...] lassen sich Gewebe deshalb als eine dreidimensionale Form technischer Bilder betrachten.“58 In Text and Commentary wird nach einer Abfolge von Sequenzen in einem bestimmten Muster das dichte Gewebe von Abschnitten mit sichtbaren Kettfäden abgelöst. Deren Herstellung wird im Video gezeigt: Korot zählt Gruppen von Fäden ab und fädelt den

51  Beryl Korot, Text and Commentary, 1976–77, Detail: Webarbeit, Fünf-Kanal-Video (s/w, Ton), Webstücke, Notationen und Piktogramme, Dimensionen variabel, 30 Minuten, Loop, New York, Foto: John Berens.

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Schuss von Hand in Leinwandbindung dreimal durch die abgeteilte Menge. Diese von ihr „blanks“, also Leerstellen, genannten Streifen sind vergleichbar mit Durchbrucharbeiten. Darunter versteht man Handarbeiten, die im ersten Schritt auf einem subtraktiven Verfahren, dem Ausziehen von Fäden aus einem fertigen Gewebe – meist ebenfalls Leinen –, basieren.59 Korot manipuliert das Gewebe schon während der Entstehung; im Ergebnis entsprechen die beschriebenen Abschnitte dennoch simplen Durchbrucharbeiten wie etwa einem Hohlsaum. Diese Handarbeitstechnik legt die Fäden eines Systems frei, um sie in einem zweiten Schritt zu verzieren. Das Offenlegen der Struktur zeigt sich auch in den im Englischen verbreiteten Termini für derartige Durchbrucharbeiten: „openwork embroidery“, „weftwarp openwork“, „subtractive embroidery“ oder „withdraw element work“. 60 Korot ­fixiert die Kettfäden allerdings in dieser Zwischenstufe. Die Kettfäden sollen als dem ­Weben integrales Fadensystem herauspräpariert werden, um als Struktur sichtbar zu sein. Sie bilden also kein leeres Raster, das nur Rahmen für weitere Verzierungen wäre, sondern dienen dazu, das Raster selbst zu zeigen. Für das geschlossene System von Text and Com­ mentary beschreibt Korot diese Sequenzen nicht nur in Relation zum Videobildschirm, sondern auch als Erklärung für die Musterentstehung beim Weben: [...] the blanks are there because they also tell you something because you don’t have pattern without some threads being used, some threads not being used. The overlapping in making the pattern is what makes the pattern, otherwise you would have noise.61

Betrachtet man das System des Videobildschirms als im Raster geregelten Wechsel von Schwarz und Weiß, so kann man zwar die Bindungspunkte mit den Bildpunkten im Video vergleichen, jedoch kommt dem Schwarz zunächst nicht eine analoge Rolle in der Strukturbildung zu wie den Kettfäden. Schwarz hat aber die Funktion, als sogenannte Schwarzschulter den Zeilensynchronimpuls zu rahmen, und übernimmt damit auch eine strukturelle Aufgabe: Der Impuls zeigt den Beginn der nächsten Zeile an. Nach dem Ende der vorhergehenden Zeile folgt also für wenige Mikrosekunden die vordere Schwarzschulter, dann der Impuls, und dann die hintere Schwarzschulter. McLuhan sieht im noise, in der Störung, das Medium: „What they call ‚Noise‘ I call the medium, all the side effects, all the unintended patterns and changes.“62 Eine Vorstellung, die auch Sybille Krämer weiterverfolgt, wenn sie von der Metapher des getrübten Fensters spricht. Medien, so Krämer, gleichen Fensterscheiben, sie funktionieren, solange sie unsichtbar bleiben: „Nur im Rauschen, das aber ist in der Störung“, bringe sich „das Medium selbst“ in Erinnerung.63 Die Bildstörung – sowohl bei Korot als auch bei Beck – verläuft aber entlang des Rastersystems der jeweiligen technischen Bilder, so wie etwa ein Riss im Gewebe regelgeleitet entlang dessen Rippen verläuft.64 Eine ähnlich regelgeleitete Bildstörung ist das Moiré. Uns ist der Effekt vor allem durch Streifen auf gescannten Bildern bekannt, die durch die Überführung eines Rasters in ein anderes entstehen. Der Moiré-

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Effekt stammt aber aus der Textilherstellung. Wenn zwei Textilien mit Gitterstruktur aufeinandergepresst werden, treten diese Raster, tritt „die Ordnung des Mediums selbst hervor“65. Ähnlich versucht Korot mit den markierten Durchbrüchen nicht eine Störung im Sinne von noise wiederzugeben, sondern die dem Medium zu Grunde liegende Ordnung selbst zu zeigen, was in den bloßgelegten Kettfäden materiell präsent wird. Durchbrüche und Schwarzbilder in Text and Commentary legen also das Material offen. Im Hinblick auf den Herstellungsprozess wird dadurch auch zwischen automatisierter und händischer Arbeit unterschieden. In den Videosequenzen wird der Kontrast zwischen ­mechanischem Weben mit dem Handwebstuhl, bei dem die Fachbildung über Tritte und Züge sehr schnell passiert, und dem langsamen, einzelnen Einfädeln der Fadengruppen für die Durchbrüche sehr deutlich. Die handarbeitliche Durchbrucharbeit steht nicht nur visuell im Gegensatz zu der gewebten Fläche, sondern auch im Verhältnis zur halbauto­ matischen Webtechnik. Dies entspricht auf das Video übertragen auch der 1977 noch sehr händischen Arbeit des Videoschnitts, die mit einer Stoppuhr von Hand verrichtet werden musste, während das durchlaufende Webmuster den kontinuierlichen Zeilensprung des Elektronenstrahls verdeutlicht.

Das Weben als „ursprüngliche“ Kulturtechnik Im Fall von Korots Text and Commentary führen die von ihr eröffneten Analogien nicht nur zu einer Sicht auf Gewebe als technische Bilder und Weben als Informationsverarbeitung bzw. Informationsmedium, sondern transportieren auch eine bestimmte Sicht auf die als Fernsehen massenmedial verbreitete Videotechnik. Der Vergleich zum textilen ­Medium, der viel älteren Kulturtechnik, lässt an die Forderung im Editorial der ersten Ausgabe von Radical Software denken: Our species will survive neither by totally rejecting nor unconditionally embracing technology – but by humanizing it: by allowing people access to the informational tools they need to shape and reassert control over their lives.66

Eine derartige „Vermenschlichung“ (humanizing) des Fernsehens in ihrem Umgang mit Video und Textilien kann man bei Korot konstatieren. Sie inszeniert dabei das Weben als körpernahe – beinahe „ursprüngliche“ – Kulturtechnik. In den Videoaufzeichnungen wird mehrfach gezeigt, wie ihre nackten Füße und Hände und auch ihr ganzer Körper mit dem Webstuhl interagieren. Die Stücke für Text and Commentary wurden auf einem einfachen schwedischen Handwebstuhl gewoben, der in einigen Einstellungen des Videos deutlich zu sehen ist. Schwedische Handwebstühle sind Flachwebstühle, die als Haus- oder Studiowebstühle in der Heimarbeit bzw. vorindustriellen Produktion zu verorten sind. Der Sitz ist in den Webstuhl integriert, und da die Weberin mit den Füßen die Tritte betätigt und von

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Hand das Schiffchen führt, steuert sie den Rhythmus und harmoniert mit den Bewegungen der Maschine. Der Trittrhythmus wird memoriert, als handele es sich um Tanzschritte. Der Eindruck eines bewussten Körpereinsatzes wird durch die bloßen Füße der Künstlerin betont. Nach jedem Eintrag des Schusses folgt das Ziehen des Webblatts mit den Händen, um den Schuss an das Gewebe anzuschlagen. Die händische Arbeit ist in Text and Com­ mentary sehr deutlich: Hände entwirren Fäden und ziehen die Kette auf, messen Abstände, fädeln das Schiffchen. Das Gewebe liegt dabei horizontal vor der Weberin wie eine Tischplatte. Gewebt wird wie auch beim Hochwebstuhl von unten nach oben, der Faden als Scannerzeile gedacht füllt also den Bildschirm auch von unten nach oben. Das Bild des Webens als „ursprüngliche“ Kulturtechnik oder, in anderen Worten, das Bild des Webens vor der Industrialisierung wird verstärkt durch die beinahe ungefärbten Materialien und die einfachen Webmuster, die Ähnlichkeit zum Diamond Twill von Navajo-Satteldecken haben.67 Die Beschäftigung mit Textilien der indigenen Navajos erlebte in den 1970er Jahren in Anthropologie und Hobbykunst einen Boom. Neben dem Unterricht in New York lernte Korot auch bei Noël Bennett.68 Die Weberin hatte von 1968­–1976 im Navajo-Reservat zwischen Utah, Arizona und New Mexico gelebt und die Webtechnik wie die Sprache der Navajo von den Weberinnen Helen Nesbah Tsinnie und Tiana Bighorse gelernt. Zusammen mit Bighorse veröffentlichte sie 1971 das überaus erfolgreiche Handbuch Working with Wool. How to Weave a Navajo Rug.69 Die reduzierte Farbigkeit ver­ bindet also nicht nur das Schwarz-Weiß des Videos, die Grafiken und die Textilien; die Teppiche präsentieren sich so auch als „natürliche“ Erzeugnisse nicht entfremdeter Arbeit. Der Verweis auf indigene Textilarbeiten ist darüber hinaus als Verweis auf eine mit dem Weben verbundene orale Kultur zu deuten.70 Durch den Titel Text and Commentary scheint der Schwerpunkt der reziproken Deutung beider Medien auf der Aufwertung des Webens als Text zu liegen. In gewisser Weise legt die Webtechnik hier das übliche Label „Craft“ ab. Das Medium Video wird aber trotz seines kommentierenden Status durch die Gegenüberstellung als gewebtes, prozessuales Bild expliziert. Dieses wird durch die Inszenierung von Webstücken und Handarbeit auch in den Kontext taktiler, körpernaher Interaktion und nicht entfremdete Produktion gerückt. Auch bei Becks Video Weavings ist das Weben des Videobilds ein Versuch der Erklärung und Offenlegung des neueren Mediums. Weben steht beispielhaft für die opake Struktur einer Bildfläche, für ein technisches Bild, dessen Bildpunkte und Struktur erfassbar sind. Trotz des ähnlichen Anliegens, textile, begreifbare Modelle für die jüngere Videotechnik zu entwerfen, die sich in beiden Fällen in abstrakten Arbeiten äußert, sind die Ansätze unterschiedlich zu bewerten: Die textile Technik erscheint bei Korot als vorgängiges Urmedium der Informationscodierung, bei Beck als willkommene Analogie für die neuen skulpturalen Möglichkeiten des Video­ bildes. Becks psychedelisches Farbenspiel nutzt das textile Ornament aber auch als universale Formensprache, eine Vorstellung, die an Gottfried Sempers Idee textiler Technik als Ursprung allen künstlerischen Schaffens denken lässt.71 Die von Beck und Korot wahrgenommenen Ähnlichkeiten von systematischem textilem Bild und digitalem bzw. elektroni-

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schem Bild sind der Konzentration auf die materialen Bedingungen des Mediums Video geschuldet, die auf den Versuch zurückgehen, der monodirektionalen Fernseh­praxis der Zeit die selbstreflexive Arbeit im Medium Video entgegenzustellen. In diesem kurzen Auftritt textiler Techniken auf der „Mediendocumenta“ 6 wird die Webkunst als strukturelle Verwandte des „neuen“ Mediums Video im Kontext von Medienreflexion und Gegenkultur aktuell.

Anmerkungen  1 Vgl. Stefan Germer, Documenta als anachronistisches Ritual, in: Texte zur Kunst 6, 1992, S. 49–63.  2 Als erste documenta stellte schon die documenta 5 Film und auch Video als künstlerische Medien aus. Film war bereits im Jahre 1955 auf der documenta 1 vertreten; vgl. Franziska Stöhr, Endlos. Zur Geschichte des Film- und Videoloops im Zusammenspiel von Technik, Kunst und Ausstellung, Bielefeld 2016, S. 162; siehe auch Katharina Ammann, Video ausstellen. Potenziale der Präsen­ tation, Bern 2009, S. 28–36.  3 Zur Verteidigung siehe Lothar Romain, Von der Botschaft zur Kommunikation. Erläuterungen zum Medienkonzept der d6, in: documenta 6, Bd. 1, Ausst.-Kat. (Kassel, 1977), hrsg. von documenta-Redaktion, Kassel 1977, S. 19–32; zur Künstlerumfrage siehe Kunst und Medien. Materi­ alien zur documenta 6, hrsg. von H. D. Baumann u. a., Kassel 1977.  4 Ich folge hier einer Chronologie der Videokunst wie sie auch Slavko Kacunko verwendet; vgl. Slavko Kacunko, Closed Circuit Videoinstallationen. Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst mit Bausteinen eines Künstlerlexikons, Berlin 2004.  5 Manfred Schneckenburger, Vorwort ohne Titel, in: documenta 6 1977 (Anm. 3), S. 17.  6 Christoph Blase, Vergessene Videos und vergessene Apparate, in: Record again. 40 Jahre Video­ kunst.de. Teil 2, hrsg. von ders. und Peter Weibel, Karlsruhe 2010, S. 16. Wie Blase auflistet, speiste sich dieser Überblick etwa aus der Reihe Southland Video Anthology des Long Beach Museum of Art in Kalifornien, der Ausstellung Circuit. A Video Invitational im Everson Museum of Art in Syracuse sowie den Ausstellungen trigon ’73 in Graz und Projekt ’74 in Köln.  7 Die genaue Anzahl der Videoinstallation auf der documenta 6 ist nicht gesichert; vgl. Franziska Stöhr 2016 (Anm. 2), S. 173.  8 Zu Textilien als Medien siehe Tristan Weddigen, Textile Medien, in: Handbuch Medienwissen­ schaft, hrsg. von Jens Schröter, Stuttgart 2014, S. 234–238.  9 documenta 6 1977 (Anm. 3), S. 308–309. 10 Ausnahmen bilden Christos Running Fence (1976) und die Performance New York – Kassel (1977) von Tina Girouard, die beide Stoffbahnen enthalten; vgl. documenta Redaktion 1977 (Anm. 3), S. 162, 300. 11 Vgl. Elissa Auther, String, Felt, Thread. The Hierarchy of Art and Craft in American Art, Minnea­ polis 2010. 12 „The first major exhibition at The Museum of Modern Art devoted to the contemporary weaver whose work places him not in the fabric industry but in the world of art [...].“ MoMA, Presse ankündigung Nummer 25, 25. Februar 1969, in: moma.org, https://www.moma.org/d/c/press_ releases/W1siZiIsIjMyNjYwNSJdXQ.pdf?sha=bc42096832a783b6 [zuletzt aufgerufen 22.9.2017]. 13 Vgl. Auther 2010 (Anm 11). 14 Korot war im Sommer 1974 nach Berlin gereist, um ihren Partner Steve Reich während eines DAAD-Aufenthalts zu besuchen. Als amerikanische Jüdin Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland zu reisen, war nicht selbstverständlich. Korot und Reich fuhren am 25. September von Berlin

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nach Dachau und Korot verbrachte die beiden folgenden Tage dort. Wie Godfrey betont, war Dachau zu Beginn der 1970er Jahre, auch aufgrund des unmöglichen Zugangs zu den Konzentrationslagern in Polen, eine Gedenkstätte, die von vielen amerikanischen Juden besucht wurde. Nicht wenige davon fuhren wie Korot nach Dachau, auch um einen Besuch in Deutschland zu rechtfertigen. Das Lager war zu diesem Zeitpunkt schon weit als Gedenkstätte ausgebaut und wird so in Reiseberichten der Zeit als Touristenattraktion beschrieben. Vgl. Mark Godfrey, Ab­ straction and the Holocaust, New Haven 2007, S. 150. 15 Beryl Korot. Video, 15.–29. März 1975, New York, The Kitchen. 16 Neben dem Fernsehen waren der Film und das Kino Kontexte, von denen sich die frühe Videokunst deutlich abheben wollte, weil diese mit den Unterhaltungsmedien verbunden waren. Die Installation von Videomaterial als Mehrkanalvideo ist zu diesem Zeitpunkt gerade in Abgrenzung zu seiner alltäglichen Form als Fernsehen üblich, in diesem Zusammenhang kann man auch die weiße Wand sehen, die die charakteristische Form der Monitore verdeckt und die Bildschirme zu Bildern werden lässt. Vgl. auch David Joselit, Feedback. Television Against Democracy, Cambridge/MA 2007. 17 Die Bank verweist gleichzeitig auf den Fernseher in seiner natürlichen Umgebung, dem Wohnzimmer. 18 Zu Operationalität von Diagrammen siehe Birgit Schneider, Operationalität und Optimieren. Ein­ leitung, in: Diagrammatik-Reader, hrsg. von dies., C. Ernst und J. Wöpking, Berlin/Boston 2016, S. 420–436, bes. S. 424–426. 19 Obwohl Korot nach ihrer Rückkehr nach New York damit kokettierte, sie sei in Dachau gewesen, hatte sie gleichzeitig Scheu, das Werk auszustellen, und betont, dass dies ein Grund für die Wahl des zunächst als Teppich erkennbaren Diagramms auf den Werbeoberflächen für die Ausstellung war, auf welchem man das Wort „Dachau“ kaum entziffern konnte, vgl. Beryl Korot im Interview mit der Autorin in Basel am 21. Juni 2014. In dieser ersten Ausstellung 1975 war gegenüber von Dachau 1974 ein einzelner Monitor auf einer Säule installiert, auf dem ein zweites Video gespielt wurde, was Korot auch während ihres Aufenthalts in Deutschland gemacht hatte: Berlin Bees (1974) zeigt das Treiben in einem Bienenstock im Berliner Zoo hinter Glasscheiben, in denen gleichzeitig auch die Spiegelung der beobachtenden Besucher zu sehen ist. Vor dem Hintergrund von Korots Deutschlandreise und im Kontext der Ausstellung in einem Raum mit Dachau 1974 wird das eingesperrte emsige Bienenvolk als weitere Darstellung eines Konzentrationslagers gelesen. Laut Korot wurde Berlin Bees überhaupt nur in dieser Ausstellung als weiterer Kommentar zu Dachau 1974 gezeigt und erst im Jahr 2014 im Rahmen einer Restaurierung von Dachau 1974 wiederentdeckt. 20 Vgl. Mark Godfrey 2007 (Anm. 14), S. 141–167. 21 Anni Albers, Introductory Note, in: dies., On weaving, London 1966 [1965], S. 13. 22 Ebd. 23 Die Rezeption des Werks im Kontext anderer textiler Werke findet allerdings erst ab den 2010er Jahren statt. In Überblicksausstellungen zu Textilien in der Kunst wurde die Arbeit nur in der Ausstellung Textiles Open Letter. Abstraktionen, Textilien, Kunst (Museum Abteiberg, Mönchen­ gladbach, 23.6.–10.11.2013) gezeigt sowie in der Wanderausstellung Fiber Sculpture. 1960–pres­ ent (ICA Boston, 1.10.2014–4.1.2015; Wexner Center for the Arts, Columbus, Ohio, 30.1.–5.4.2015; Des Moines Art Center, Iowa, 8.5.–2.8.2015). Korot berichtet, sie sei 2011 zum ersten Mal wegen ihrer Arbeit mit Textilien zu einer Ausstellung eingeladen worden; vgl. Beryl Korot im Interview mit der Autorin in Basel am 21. Juni 2014. Erst 2015 wurde die Installation vom MoMA angekauft. 24 David Ross, John Hanhardt und Bruce Kurtz führen in der Anthologie von Beryl Korot und Ira Schneider Dachau 1974 als Beispiel für eine bemerkenswerte Mehrkanalvideoarbeit an. Der textile Aspekt wurde unter diesen Überschriften nur knapp erläutert; vgl. Video Art. An Anthology,

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hrsg. von Beryl Korot und Ira Schneider, New York 1976. Text and Commentary findet allgemein weniger Rezeption, was daran liegen könnte, dass es in einer späteren Phase der Videokunst entstand und als in sich geschlossenes, reflexives Werk nicht noch einen weiteren Bezugspunkt bot – wie die Dokumentation einer Holocaust-Gedenkstätte im Fall von Dachau 1974. Aufgrund dieser Rezeptionsbewegungen gibt es bis heute auch keine detaillierte Beschreibung, Analyse und Erläuterung des Herstellungsprozesses von Text and Commentary, wie sie von Mark Godfrey für Dachau 1974 geleistet wurde, siehe Mark Godfrey 2007 (Anm. 14). 25 Schwarz-weiß-Video, 30 Minuten, fünf Bildschirme, fünf Teppiche, fünf Zeichnungen, fünf Diagramme, erste Ausstellung bei Leo Castelli, New York, 5.–26.3.1977. Die fünf Webstücke sind jeweils etwa 60 cm breit, 140 cm lang und bestehen aus Leinen und Wolle. Die Kettfäden sind aus ungefärbtem Leinen, während die Schussfäden vor allem aus dunkelgrauen Wollfäden mit wenigen blauen Fäden sowie ungefärbtem Garn bestehen. Die Stücke sind an den zu Schlaufen geknoteten, leinenen Kettfäden in Richtung der Kette aufgehangen. Am unteren Ende hängen die Kettfäden in dichten kurzen Fransen. 26 Nicht nur das Arrangement der vier Elemente zueinander, sondern auch der Raum ist dabei relevant für Korot. Die Arbeit muss allein in einem Raum präsentiert werden, da die Elemente den jeweiligen Wänden zugeordnet werden. Der Raum darf zudem eine gewisse Größe nicht überschreiten, damit der visuelle Vergleich der einzelnen Ebenen möglich ist; vgl. Beryl Korot im Interview mit der Autorin in Basel am 21. Juni 2014. 27 In gängigen Notationen werden die Bindungen, d. h. die Ordnung der Verkreuzung von Kette und Schuss auf sogenanntem Patronenpapier in Kästchen festgehalten. Ein getupftes oder farbig schraffiertes Feld markiert, dass hier die Kette über den Schuss kreuzt, während bei einem freien Feld ein Tiefgang der Kette angezeigt wird und so der Schuss über der Kette kreuzt. Die Patrone enthält auch die Anschnürung des Webstuhls und gibt die Trittfolgen und Schaftanzüge an, die benötigt werden, um den jeweiligen Rapport zu weben. Diese Angaben werden in der Spalte über und rechts von den Bindungen angezeigt. Oberhalb wird der Schafteinzug gezeigt, der angibt, in welcher Ordnung die Kettfäden durch die Litzen (Ösen) der Schäfte gezogen werden müssen. Rechts von der Patrone wird die Trittfolge verzeichnet, wobei die Spalten jeweils einem Tritt zugeordnet und die einzelnen Zeilen für das jeweils geöffnete Fach stehen, in das dann der Schuss eingetragen wird. Das Tabellenfeld, in dem sich die Schäfte und Trittfolgen treffen, zeigt die Anschnürung, die für die Herstellung des Musters getätigt werden muss, d. h. welche Tritte mit welchen Schäften verbunden werden müssen. Zur Herkunft des Begriffs Patrone vgl. Birgit Schneider, Textiles Prozessieren, Zürich/Berlin 2007, S. 92. Die Richtung der Notationen variiert in Bezug auf Kulturkreis und Bindungsart. In den USA würde man eigentlich die Anschnürung in der oberen rechten Ecke und die Trittfolge rechts markieren. Nach Vorliebe notieren manche Weber wie auch Korot die Trittfolge allerdings links, so dass die Anschnürung wie ein Buch gelesen werden kann; vgl. Madelyn van der Hoogt, The Complete Book of Drafting for Handweavers, Petaluma 1993, S. 5. 28 Yvonne Spielmann, Analog to Digital. Artists Using Technology, in: The Emergence of Video Pro­ cessing Tools. Television Becoming Unglued, Bd. 2, hrsg. von K. High, S. Miller und M. Jimenez, Chicago 2014, S. 499–528, hier S. 502. 29 Die Künstlerin selbst hat in der Vergangenheit unterschiedliche Beweggründe angegeben, die ihr Interesse am Weben geschürt haben. In den 1980er Jahren beschreibt Korot die Ausstellung African Art in Motion, die sie im Sommer 1974 in der National Gallery of Art in Washington gesehen hatte, als eine Inspiration; vgl. Beryl Korot, Language as Still Life. From Video to Painting, in: Leonardo 21, 1988, Heft 4, S. 367–370, hier S. 367. Besonders anregend für Korots spätere Kombinationen von textilem Bild und Videobild könnte gewesen sein, dass die Ausstellung eine Einheit afrikanischer

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Kunst proklamierte, indem zum Beispiel Analogien zwischen Rhythmen in afrikanischer Weberei und Tänzen verglichen wurden. Von den zuvor erwähnten Ausstellungen der Fiber Art hatte Korot wohl keine gesehen. Zur Entwicklung der Fiber Art siehe Auther 2010 (Anm. 11), S. 1–46. Korot lernte wohl aber schon im Frühjahr 1974 im Kursangebot eines New Yorker YMCA/YWCA weben. 30 Zur Entstehung der frühen Videogruppierungen in New York siehe Kacunko 2004 (Anm. 4), S. 196–200; zu Raindance siehe Joselit 2007 (Anm. 16), S. 91–99, und auch William Kaizen, Steps to an Ecology of Communication. Radical Software, Dan Graham and the Legacy of Gregory Bate­ son, in: Art Journal 67, 2008, Heft 3, S. 86–106. Gillette und Ryan lernten Bateson 1970 auf einer Konferenz in Princeton kennen; vgl. Kacunko 2004 (Anm. 4), S. 19. 31 Eine detaillierte Beschreibung der Installation findet sich zum Beispiel bei Kacunko 2004 (Anm. 4), S. 192–196. 32 Raindance Corporation, [Address to Readers], in: Radical Software 1, 1970, Heft 1, S. 1. 33 Seit 2003 sind alle zwölf Ausgaben der Zeitschrift online einsehbar, siehe http://www.radicalsoftware.org/e/browse.html. 34 Mark Godfrey, Art Basel Salon: Artist Talk: Beryl Korot, Basel, 20.6.2014, in: Art Basel (YouTubeKanal), https://www.youtube.com/watch?v=Hv41Hk_qmmM [zuletzt aufgerufen 22.9.2017]. 35 Vgl. Sarah Parrish, „Beryl Korot“, in: Fiber Sculpture. 1960 – present, Ausst.-Kat. (Boston, Institute of Contemporary Art, 2014) hrsg. von Jenelle Porter, München u. a. 2014, S. 210. 36 Siehe auch Anm. 19. 37 Vierteilige Serie, Buntstift auf Papier und gestrickte Baumwolle, unterschiedliche Größen, siehe elainereichek.com, http://elainereichek.com/Project_Pages/16_EarlyKnit/01_2_early_knit.htm [zuletzt aufgerufen 22.9.2017]. 38 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, Dresden/Basel 1995 [1968], S. 474–475. 39 Grace Glueck, When Is a Book Not a Book?, in: New York Times (18.3.1977), S. 73. 40 Yvonne Spielmann 2014 (Anm. 28), S. 523. 41 Radical Software Bd. 2, Nr. 3, 1973; siehe auch Anm. 32. 42 Vgl. Stephen Beck, Videographics: Reflections on the Art of Video, in: Beryl Korot und Ira Schneider 1976 (Anm. 24), S. 20–21. 43 Cindy Keefer nennt Beck „Visual Music Artist“; vgl. Cindy Keefer, Visual Music’s Influence on Contemporary Abstraction, in: Abstract Video. The Moving Image in Contemporary Art, hrsg. von Gabrielle Jennings, Oakland 2015, S. 81–97, hier S. 87–88. 44 Da die Video Weavings improvisiert werden konnten, gibt es von ihnen eine Reihe von Serien, die sich zum Teil noch in der Sammlung des Künstlers befinden. Seit 1976 wird ein Video Weavings Video mit einer Länge von 9:18 Minuten von Electronic Arts Intermix, dem ersten Videokunst­ anbieter, vertrieben. 45 Die Kunstgeschichte hat bis vor Kurzem an Rosalind Krauss Ausführung zum Video als narzisstischem Medium festgehalten und die frühe Videokunst in Bezug auf das selbstreflexive Moment auf der einen oder den inhaltsbezogenen Aktivismus auf der anderen Seite angeschaut. Ich schließe mich hier der Betrachtung David Joselits an, der für Michael Shamberg und die Rain­ dance-Künstler entwickelt, dass die Form als Inhalt, also die medienreflexiven Experimente als politisch zu betrachten sind; vgl. David Joselit 2007 (Anm. 16), S. 98. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Künstler am NCET, die zwar reflexiv mit dem Medium arbeiten, aber eben auch in Abgrenzung zum Fernsehen. 46 Auszug aus einer Informationsbroschüre zum NCET aus dem Jahre 1971, abgedruckt in: Radical Light. Alternative Film & Video in the San Francisco Bay Area. 1945–2000, hrsg. von Steve Anker, Kathy Geritz und Steve Seid, Berkeley 2010, S. 130.

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47 Kris Paulsen, In the Beginning, There Was the Electron, in: X-TRA Contemporary Art Quarterly 15, 2012, Heft 2, S. 56–73. 48 Paulsen 2012 (Anm. 47), S. 63. 49 Paulsen 2012 (Anm. 47), S. 69. 50 Der Video Weaver, den Beck dazu nutzte, baute auf Entwicklungen auf, die er schon vor seiner Zeit am NCET begonnen hatte. 1969 hatte Beck das Video Synthesis Instrument Number Zero gebaut, das er am NCET zu zwei weiteren Synthesizern, The Beck Direct Video Synthesizern, weiterentwickelte. 1973 folgte dann der erste teildigitale Synthesizer, The Video Weaver. 51 Beck 1976 (Anm. 42), S. 20. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel, Bildstörung, in: Das Technische Bild. Kompen­ dium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, hrsg. von dies., Berlin 2008, S. 164–168, hier S. 164. 55 Grob vereinfacht funktionieren der Buchla-Synthesizer und auch Becks Direkt-Video-Synthesizer über die programmierte Abfolge von Steuerspannungen. Jepson „spielte“ schon auf dem BuchlaSynthesizer seit dieser 1965 von Donald Buchla entwickelt worden war, da beide, Buchla und Jepson, in den 1960er Jahren an den Experimenten des San Francisco Tape Music Centers (SFTMC) beteiligt gewesen waren. Buchla erarbeitete den Synthesizer im Auftrag von Morton Subotnick und Ramón Sender vom SFTMC, denen ein Gerät vorschwebte, mit dem man in Realzeit komponieren, das man also wie ein Instrument „spielen“ konnte. Das Gerät ist vor allem in Hinblick auf die Steuerung des Farbklangs und durch die Möglichkeit des Sequenzing stark auf die Bedürfnisse von Komponisten ausgelegt. Der Synthesizer funktioniert über Steuerspannung. Am NCET stand Jepsen der Buchla 200 zur Verfügung. Schon mit der ersten Serie, der Buchla 100, konnte man kleine Sequenzen programmieren, die durch die Wiederholung von bestimmten Spannungseinheiten ermöglicht wurden. Genauer beschrieben enthielt der Buchla 100 drei Generatoren, von denen die ersten beiden eine Sequenz von acht unterschiedlichen Steuerspannungen, der dritte von 16, erzeugen konnte. Dazu gab es jeweils drei Ausgabemöglichkeiten. Dadurch wurden sehr viele verschiedene Kombinationen möglich. Ein zusätzliches Generatormodul konnte wiederum die Sequenzer kontrollieren und ermöglichte es dem Komponisten, durch Steuerspannung den Rhythmus jedes individuellen Sequenzers zu steuern. Eine ganz ähnliche Steuerung nahm Beck mit seinem Direkt-Video-Synthesizer vor. Vgl. Thom Holmes, Electronic and Experi­ mental Music. Technology, Music, and Culture, London 2008, S. 222–223. 56 Stephen Beck, [Ohne Titel], in: California Video. Artists and Histories, Ausst.-Kat. (Los Angeles, J. Paul-Getty-Museum, 2008) hrsg. von G. Phillips, Los Angeles 2008, S. 44. 57 „[...] and there is a bit of a tease: one’s own TV can carry pure pattern too, but only when there is something wrong with it – and it is never this nice.“ William Zimmer, Beryl Korot, in: Arts Maga­ zine (Mai 1977). 58 Birgit Schneider, Interferenzen technischer Bilder zwischen Ästhetik und Störung, in: Störungen –Medien, Prozesse, Körper, hrsg. von Kathrin Rottmann und Julia Fleischhack, Berlin 2011, S. 125– 139, hier S. 132–133. 59 Beim sogenannten einfachen Durchbruch (punto tirato) werden die Fäden in nur einer Richtung entfernt, so dass die parallelen Kett- oder Schussfäden stehenbleiben und mit Nadel und Faden zu Mustern zusammengefasst werden. Die Durchbrucharbeit ist nicht einer textilen Systematik wie der des Webens zuzuordnen, sondern verbindet Verfahren unterschiedlicher textiler Techniken wie Sticken, Verknoten und Wirken. Die Bearbeitung eines einfachen Durchbruchs, der die Kettfäden verziert, entspricht so dem Arbeitsprinzip des Gobelinwirkens. Siehe Thérèse de Dill-

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mont, Enzyklopädie der Handarbeiten, Ravensburg 1983 [1893], S. 555–605, bes. S. 555–559; ­Marie Schuette, Durchbrucharbeit (textil), in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 5, 1955, S. 604–612, hier S. 605. 60 Vgl. Annemarie Seiler-Baldinger, Systematik der textilen Techniken, Basel 1991, S. 149–150. Es passt zur Einfachheit des gesamten von Korot gewebten Gewebes, dass auch die Durchbruch­ arbeit so reduziert vorgenommen wird. 61 Beryl Korot im Interview mit der Autorin in Basel am 21. Juni 2014. 62 McLuhan in einem Brief an Jerry Angel, zit. in: Graeme Patterson, History and Communications. Harold Innis, Marshall McLuhan. The Interpretation of History, Toronto 1990, S. 100, hier S. 126. 63 Krämer verweist auch auf Marshall McLuhans Beschreibung, der Inhalt mache gegenüber dem Wesen des Mediums blind; vgl. Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, in: Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, hrsg. von Sybille Krämer, Frankfurt 1998, S. 73–94, S. 74. Hans Belting spricht sogar von der Abwesenheit des Mediums, wenn dies transparent erscheint, also die Materialität nicht sichtbar ist; vgl. Hans Belting, Bild-Anthro­ pology, München 2001, S. 30. 64 Zum Riss siehe auch Birgit Schneider, Riss, Rauschen, Störung. Rauschen und Störung in der Me­ dienkunst. Mediale Auflösungserscheinungen zwischen Bildstruktur und Blick bei Nam June Paik, in: Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, hrsg. von Mateusz Kapustka, Emsdetten/ Berlin 2015, S. 201–213. 65 Schneider 2011, S. 136: „Das Moiré als Störung entsteht also auf der Basis strukturierter Information und nicht wie das Rauschen im Bereich der Entropie.“ 66 Raindance Corporation 1970 (Anm. 32), S. 1. 67 Zeitgleich zu Korots Beschäftigung mit Weben beschreibt die Anthropologin Evelyne Payne Hatcher, dass durch die Kommerzialisierung der gewirkten Teppiche Satteldecken und Gürtel, die einzigen Alltagstextilien, die von den Navajos seit Ende des 19. Jahrhunderts noch für den Eigenbedarf gewebt werden, nicht gewirkt, sondern in Köperbindung gewebt werden; vgl. Evelyn Payne Hatcher, Visual Metaphors. A Formal Analysis of Navajo Art, St. Paul 1974, hier S. 187. Im Gegensatz zum Bildwirken, was Farbflächen und große Muster ermöglicht, haben diese Satteldecken kleine geometrische Muster. Auch Kate Peck Kent beschreibt diese Satteldecken, die mit geometrischem Rapport, mit 2–4 einfachen Schäften gewebt werden; vgl. Kate Peck Kent, Navajo Weaving, Santa Fee 1989, S. 67–83. Sie konstatiert auch deren Wiederentdeckung in den 1960er Jahren. Die Frauen in Coal Mine Mesa begannen in den 1960er Jahren vor allem wieder pflanzlich gefärbte Garne zu nutzen, um Teppiche zu weben, die den traditionellen Satteldecken bezüglich Muster und Größe entsprachen. Die meisten wurden mit vier Schäften gewoben, die so angeschnürt wurden, dass schöne im Rapport gemusterte Textilien mit Diamantformen und anderen geometrischen Mustern entstehen; vgl. Peck Kent 1989, S. 101. Die Arbeit an einem Navajo-Webstuhl mit zwei oder vier Schäften entspricht der Arbeit am schwedischen Handwebstuhl, den Korot genutzt hat, einzig die Schäfte, die beim Navajo-Weben als Stöcke in die vertikalen Kettfäden eingefügt sind, müssen zum Erstellen von Fach- und Gegenfach von Hand betätigt werden, werden bei Korot durch Tritte gesteuert. Die Komplexität des Musters ist aber aufgrund der identischen Anzahl der Schäfte eine ähnliche. Sollte sich Korot durch ihre Lehrerin Noël Bennett am Navajo-Weben orientiert haben, dann eben nicht an der Bildwirkerei, sondern am in der NavajoKultur ebenso vertretenen „vorprogrammierten“ Weben. 68 Korot hatte bei Bennett einen Kurs am Mills College in Kalifornien gemacht; vgl. Godfrey 2007, S. 274. 69 Working with Wool wurde in den 1970er und 1980er Jahren elf Mal nachgedruckt und wird heute noch als praktische Einführung in das Navajo-Weben gelesen. Im Laufe der 1970er Jahre folgten weitere Bände von Bennett, die Webtechniken und die Verknüpfung von Weben und

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Spiritualität bei den Navajos erläuterten: The Weavers‘s Pathway. A clarification of the Spirit Trail in Navajo weaving (1974), Navajo Weaving Way. The Path from Fleece to Rug (1977) und Design­ ing with the Wool. Advanced Techniques In Navajo Weaving (1979). 70 Bei den Navajos weben nur Frauen. Nach der Schöpfungsgeschichte kamen ‚Spider Woman‘ und ‚Spider Man‘ zu den Navajo-Frauen und brachten ihnen das Weben bei, wobei ‚Spider Woman‘ das Weben erklärte, während ihr männliches Pendant den Webstuhl baute. Weben ist hoch angesehen in der Kultur der Navajo, weil es die Familie bekleidet und ernährt. Gerade in der jüngeren Forschung wird auch betont, dass Weben nicht als säkulare Tätigkeit anzusehen ist, weil es eine Aufteilung zwischen spirituellen und nicht spirituellen Handlungen, wie sie in christlichen Kulturen vorhanden ist, bei den Navajo nicht gibt; vgl. Kathy M’Closkey, Swept Under the Rug. A Hid­ den History of Navajo Weaving, Albuquerque 2002, S. 205–221, S. 245–246. Diese Arbeitsaufteilung betont Korot nicht, allerdings ist ihr Bezug zu oralen Kulturen durchaus angedeutet, wenn sie von einem „ancient programming tool [meine Hervorhebung, A.R.]“ spricht. 71 Becks Aussagen über die gewebten Muster deuten immer wieder an, dass dies Ornamente für ihn eine verbindende, globale Form darstellen: „In my Video Weavings, millions of patterns appear, many of which resemble or replicate the same patterns found in textiles woven by ancient peoples such as the Pueblos of the southwestern North American continent, the Nairobi of Africa, the Hindu of India, the Aborigines of Australia, and by many peoples in China and Japan.“ Stephen Beck, Video Weavings (1973–1976), in: stevebeck.tv, http://www.stevebeck.tv/weav.htm [zuletzt aufgerufen 22.9.2017]

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Oliver Caraco

Manets Druckgrafiken im Kontext des Revivals der Ätzradierung Zur materiellen Historizität von Bildpraktiken

1865, in der dritten Ausgabe der von der Société des Aquafortistes jährlich herausgege­ benen Mappe mit 60 Originalradierungen schrieb Théophile Gautier von einer Renaissance der Ätzradierung. Eine Renaissance einer echten und modernen („original et moderne“) Kunst, die 1830 in Frankreich eingesetzt habe. Es ist, wie er meint, die Kunst Rembrandts, Ostades, van Dicks, Callots oder auch Goyas, die in dieser Bewegung wiederbelebt werde.1 Die Renaissance oder das Revival, von dem Gautier schreibt, erlangt mit Künstlern wie Millet, Legros, Whistler oder Daubigny Mitte des Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Wie Michel Melot meint, war dies die erste Generation von Künstlern, die mit Tubenfarben, industrieller Tinte, Minenbleistiften oder Papier von der Rolle, aber auch Bildreproduktionstechniken wie Lithografie und bald auch der Fotografie aufgewachsen waren.2 Die Verfügbarkeit von Bildern – der Populärkultur, aber insbesondere auch von Reproduktionsgrafiken  – hatte sich drastisch gesteigert. Millet mag dafür ein paradigmatisches ­Beispiel abgeben: In der Provinz aufgewachsen und die Malerei mehr oder weniger als Autodidakt erlernt, waren es, wie er selbst berichtete, Reproduktionen von Kunstwerken – das musée imaginaire oder musée gravée –, mit deren Hilfe er die Kunst der alten Meister studierte und sich aneignete.3 Die Reproduktion von Kunstwerken und deren Verbreitung erlangte im Laufe des 19. Jahrhunderts unter anderem durch Lithografie und fotografische Reproduktionstechniken neue Ausmaße.4 Das Bild wurde von der Rarität zum Massenartikel, sodass Mitte des Jahrhunderts die „grand presse illustré“, beispielsweise der illustrierte Werbekatalog, Marktschreier und Hausierer verdrängt hatte.5 Auch private Sammlungen, speziell aber jene der großen Museen Europas, waren nun in illustrierten Katalogen zugänglich, wie Philip Burty 1869 in einem Artikel in der Gazette des Beaux-Arts unter dem Namen des salon illustré mit viel Euphorie schilderte.6 Es handle sich, so Le Men, um die Ersetzung einer „culture populaire traditionelle“ durch eine „culture de masse“, wie desgleichen um den Übergang von einer „culture intensive des ­images“ zu einer „culture extensive.“7 Nicht zufällig auch besteht die älteste bekannte Heliografie, die Joseph Nicéphore Niépce, einem der frühesten Experimentatoren der

Manets Druckgrafiken im Kontext des Revivals der Ätzradierung I 245

­Fototechnik, zuzuschreiben ist, in der Reproduktion einer Radierung aus dem 17. Jahrhundert. Denn, so meint Wolfgang Kemp, „[a]us der Strapazierung der grafischen Produktion hervorgegangen, erzeugt die Fotografie Grafik.“8 Die idiosynkratrische Signatur künstlerischer Handschrift in der Radierung wurde zu einem der Aushängeschilder des Radierungsrevivals. Durchgängig wiederholten die Autoren die Ansicht, dass sich im wieder belebten Medium der Radierung wie in keiner anderen Kunst das Temperament des Künstlers verkörpere, da die feinsten Bewegung der Hand im Lack auf der Platte geradezu grafologisch registriert würden. Ein solcher naiver Ausdruck, wie es auch oft hieß, wurde sodann der akademischen Verschulung und Künstlichkeit, speziell aber auch den semi-industrialisierten Bilderzeugnissen entgegengehalten und die evozierte Unmittelbarkeit mit realistischen Ambitionen verknüpft. Die Faszination für die Originalität künstlerischer Handschrift muss auch im Kontext der aufkommenden naturalistischen Argumentation verstanden werden. So las etwa Emile Zola Manets malerisches Werk in dieser Weise, wenn er eine Analogie von Manets blondem Haar zu Manets blondem Sehen und schließlich seiner blonden Malweise aufstellte.9 Wiederum war es Millet, der, anstatt seine Werke von professionellen Kupferstechern kopieren zu lassen, damit begann, sie als Radierungen eigenhändig zu reproduzieren. 10 So war der Reproduktion selbst Originalität eingeschrieben, ein Widerspruch, insofern das Einzigartige vervielfältigbar sein sollte, der nur im Kontext der oben beschriebenen „Entfremdung“ – im Kontext einer neuen Ubiquität von Bildern als billiger, seriell produzierter Massenware – Sinn machen konnte. Der Fokus auf das Einzigartige und Authentische ist erst Produkt der ungemeinen Quantifizierung von Waren, wozu auch die Bilder gehören.11 Auf diesem paradoxen oder dialektischen Verhältnis beruht unter anderem auch das Oxymoron des Peintre-Graveurs, der sich mit diesem Titel vom professionellen Druck­grafikproduzenten abheben sollte.12 Gegen die beinahe automatisierte, industrialisierte Bildproduktion  – nicht nur mittels fototechnischer Verfahren, sondern auch in ­einer arbeitsteiligen, durchrationalisierten und ökonomisierten Bildproduktion großer Kupferstichmanufakturen13  – sollte die Radierung als Kunst künstlerischer Originalität ­einstehen. Die „wiederentdeckte“ Kunst der Radierung sollte der glatten Oberfläche der neuen, spektakulären Warenwelt ein Gegenmodell liefern. Sowohl das hierzu ins Spiel gebrachte argumentative Instrumentarium wie auch die veränderte materielle Wirklichkeit selbst drücken den Erzeugnissen des Revivals der Radierkunst im 19. Jahrhundert die eigene h ­ istorische Prägmarke auf. Die Ideologie der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit ist gerade als Konsequenz der Entfremdung zu verstehen. Andererseits referieren, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, die materiellen Praktiken der Radierungsproduktion im 19. Jahrhundert auf die neuen Produktionsbedingungen, die die Ursache ebendieser ­Entfremdung sind. Edouard Manet schließlich scheint in seiner Weitsichtigkeit die künst­ lerischen Konsequenzen aus diesem Verhältnis zu ziehen, wenn er die Ideologie der Natür­lichkeit in ein Spannungsverhältnis zu den demonstrativ vorgeführten materiellen Praktiken bringt.

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52  Albrecht Altdorfer, Landschaft mit Doppel­ fichte, Radierung, ­ ca. 1521–22, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.

Christopher Wood hat in seiner Analyse des druckgrafischen Werkes von Albrecht Altdorfer gezeigt, dass schon dieser mit seinen Radierungen an einer Etablierung und Verbreitung künstlerischer Handschrift arbeitete.14 Für Altdorfer, so Wood, werde der Stil seiner Hand zum eigentlichen Merkmal seiner Kunst, sodass er diesem persönlichen Stil in seinen Landschaften, den freien Arabesken zur Darstellung von Gesträuch und Gewächs, Platz verschaffe. Im Falle Altdorfers steht diese Originalität der Künstlerhand aber nicht in Konkurrenz zu einer zunehmenden Ver­flachung der Welt durch industrielle Produktion, vielmehr an dessen Anfang. Wie Wood ausführt, sei die zeichnerische Linie bei Altdorfer nicht autonom ein Strich im Belag der Radierplatte, sondern weist auf die Zeichnung des Künstlers zurück. Die durch die druckgrafische Technik verursachte Achsenspiegelung mache den Unterbruch in der kausalen Verbindungslinie von Künstlerhand und Werk sichtbar und lasse die Autorschaft, die sich ausdrückende persönliche Handschrift des Künstlers, virtuell werden. Eine Dematerialisierung von Autorschaft, die somit zu einer virtuellen Warenform wird, finde statt. Wood spricht deshalb von einer fictional perso­ nality, von printed drawings oder mit Vasari von disegni stampi: die Drucke stellen simulierte Zeichnungen dar. Da die Radierungen sich als Handzeichnungen geben, ist der Indexeffekt der künstlerischen Hand sekundär: er bezieht sich nicht auf den Peintre-Graveur Altdorfer (was ein Anachronismus wäre), sondern auf den Zeichner. Dabei ist das Kapital – „der Geist der Arbeit“ – hier auch kein externes, dahinter verbirgt sich kein Investor, der auf Mehrwertproduktion spekuliert, wie es in den Kupferstichmanufakturen des 19. Jahrhunderts und dem Verlagswesen rund um das Radierungsrevival der Fall sein wird,15 sondern der Figur Altdorfers inhärent. Die Schaffung eines großen Absatzmarktes war auch den Künstlern des 19. Jahrhunderts wesentlicher Motor des Radierungsrevivals. Millet konnte durch die eigenhändige Reproduktion seiner Gemälde seine Reputation bis in die USA ausweiten und erlangte dadurch kommerziellen Erfolg.16

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53  Jean-François Millet, Les Glaneuses, Radierung, 1855–56, Paris, Cabinet des Estampes, Bibliothèque Nationale.

Hingegen hatte sich die Qualität des radierten Blattes transformiert. Millet reproduzierte im Zeitalter der Fabrik eigenhändig seine eigenen Werke, um sich von einer semi-industrialisierten Bildreproduktionspraxis abzuheben. Der historische Kontext dieser massenproduzierten Bilder war es erst, welcher der radierten Form der Reproduktion ihre Authentizität verlieh. Es entstand das Paradox der originalen Kopie: eine Kopie eines Gemäldes durch die Hand des Künstlers selbst, der der Charakter des Originalen zugesprochen wurde.17 Nun stand gerade der Index der künstlerischen Hand, des Peintre-Graveurs selbst, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Millet interessierte sich deswegen auch nicht wie die professionellen Radierer für die Imitation tonaler Wertigkeiten, die im Diskurs zur Reproduktionsgrafik hoch im Kurs standen, sondern zuvorderst für die Behauptung eines auktorialen Striches. Eine beinahe wackelige, sichtlich nicht-professionelle Hand, die jenseits akademischer Schraffur-Konventionen Markierungen setzt, verrät gezielt die Autorschaft des Blattes. Das Naive in der Ätzradierung wurde von Autoren wie Baudelaire oder Burty gelobt, eine breite Kultur von Revivals handwerklicher Praktiken bildete den größeren Rahmen der Bewegung. Richard Shiff sprach in ähnlichem Zusammenhang von einer „technique of originality“ der Avant-Garde.18 Während er damit eine bewusst eingesetzte

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Negation von tradierten Bildkonventionen ansprach, war der Boden, auf dem überhaupt erst die Möglichkeit dieser Authentizität wuchs, im Verlust künstlerischer Selbstverständlichkeit gegenüber dem Bild als Massenware zu verorten.19 Neben den vereinfachten Umrisslinien der figurativen Bildelemente dominieren in Millets Radierung abstrahierte Schraffuren, die, je nach piktoralem Kontext, einmal als Schattierungen, einmal als Textur des Feldes oder als Wolken und Vögel zu lesen sind. Im Vergleich beherrschen zwar auch bei Altdorfer abstrakte Schraffuren die Bildfläche, diese sind hier jedoch in eine übergeordnete Ordnungsstruktur eingelassen, die die einzelne Linie in eine festgelegte Symme­ trie zur anderen setzt und somit in eine übergreifende stilistische Einheit eingehen lässt.20 Millets Schraffuren ist eine solche Einheit fremd, sodass die Wirkung der einzelnen frei fliegenden, nicht immer klar einem figurierten Gegenstand zuordenbaren Liniensetzung zwischen gegenständlicher Denotation und Index der Hand changiert. Weil keine symmetrische Ordnung die einzelne Linie auffängt, wird sie zum bloßen Moment künstlerischer Arbeit, zur Spur der Hand, die als letzte Einheit des Blattes einsteht und damit die Autorschaft ins Zentrum des Bildes rückt. Die Rhythmisierung der Linien, die keinen Unterschied bezüglich des jeweiligen Gegenstandes machen, verrückt die Markierungen aus dem Bildraum heraus auf die Oberfläche der Platte und referiert auf den Moment der künstlerischen Arbeit. Im gleichen Zug lässt die Präsenz dieser diesseitigen Produktion das materielle Dispositiv aufscheinen. In scheinbarem Kontrast zu der inszenierten individualisierten Arbeit auf diesem diesseitigen Plattengrund steht das Motiv, die repetitive Arbeit der in Lohnarbeit eingestellten Ährenleserinnen. So scheitert Millets Versuch der Aufhebung der Arbeitsteilung, die forcierte künstlerische Integrität in der naiven Linie, jedoch selbst an der Neuverortung der Kunst im, wie Benjamin es nannte, Zeitalter des Hochkapitalismus.21 Der „Geist der Arbeit“ liegt nun ganz in den ökonomischen Ambitionen, dem vom externen Verleger investierten Kapital, sodass Millets Autorschaft, seine sich in den gestischen Spuren niederschlagende Arbeit, selbst zum ökonomisierten Zentrum wird. Hier kündigt sich ein neuer Status von künstlerischer Arbeit und Subjektivität an, wo noch die letzte Zuckung der Fingerspitzen in der Geometrie des Tauschwertes aufgeht. Dieselbe zeitliche Logik des Kapitals, die Millets „negative Idyllen“ ordnet, strukturiert auch – freilich ohne thematisch zu werden – die „Natur“ des Künstlers selbst, seine gestische Hand.22 Der zunehmend von den industriellen Produktionsbedingungen geprägten Realität wird in der Kunst eine subjektive Wirklichkeit persönlicher Individualität entgegengehalten, die aber dennoch von allen in der eigenen Wohnung aufgehängt werden können soll. Die Auratisierung des Originalen und doch nicht-singulären Blattes, das spezifisch für einen Sammlermarkt konzipiert ist, gleichzeitig zur Entstehung eines solchen im bürgerlichen Milieu beiträgt, wird artifiziell gesteigert: Das künstliche Kleinhalten der Auflagen sowie die Nummerierung der Blätter mitsamt der Angabe der Größe der Gesamtauflage sind Einsätze, die erst im Revival der Radierung anzutreffen sind. Die Druckplatten werden nach Herstellung der Auflage gelocht, um sie für weitere Abzüge unbrauchbar zu machen.23 Auch wenn Millets Auflagen groß sind, um einen weiten Absatzmarkt zu bedie-

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nen, werden erstmalig die Auflagen der Blätter explizit limitiert, um den exklusiven Status dieser originalen Kopien zu unterstreichen.24 Die Originalität künstlerischer Handschrift wurde insbesondere von den Theoretikern des Revivals ins Zentrum gestellt. So schrieb Theophile Gautier im ersten Vorwort der Grafikedition der Société des Aquafortistes: En ce temps où la Photographie charme le vulgaire par la fidélité mécanique de ses reproductions, il devait se déclarer dans l’art une tendance au libre caprice et à la fantaisie pittoresque. [...] [La] Société des Aqua-Fortistes s’est fondée précisément pour combattre la photographie, la lithographie, l’aqua-tinte, la gravure dont les hachures recroisées ont un point au milieu; en un mot, le travail régulier, automatique, sans inspiration qui dénature l’idée même de l’artiste [...].25

Die mechanische, automatisierte und regelgeleitete Struktur mittelmäßiger kreuzschraffierter Kupferstiche wie auch die mechanische Bildproduktion beispielsweise der Fotografie ist das Negativbeispiel, von dem sich die Originalität wahrer künstlerischer Inspiration abheben soll. So zum Beispiel auch Jules Janin, wenn er meint, dass „[c]es Aqua-Fortists vous représentent une très honorable réunion de jeunes artistes, pleins de zèle et d’ardeur, grands amis de la plume et du crayon, très-hostiles à la machine et remplis de respect pour la main pleine d’éclairs et de génie.“26 In den Texten selbst wird die Abhebung von der gegenwärtigen Form der Bildpro­ duktion konkret ausgedrückt, wobei die Autoren die idiosynkratische, naive Qualität der Radierkunst dieser substantiell zusprechen. Die Geschwindigkeit und Einfachheit der Herstellung, so ist oft zu lesen, die in der einfachen Bearbeitung der Wachsschicht auf der Platte liege, verschaffe dem Medium diese eigentümliche Originalität und Unmittelbarkeit. Mit der einfachen Herstellung verbinden die Kritiker aber auch eine andere Eigenschaft. Der 1873 von A.-P. Martial verfasste und wie die Publikationen der Société des Aquafortistes ebenfalls von Alfred Cadart verlegte Traktat Nouveau traité de la gravure à l’eau-forte, der mit originalen Radierungen ausgestattet, Amateure und Künstler in die Technik der Ätz­ radierung einführen will, mag dafür ein paradigmatisches Beispiel liefern.27 Der knappe Traktat zielt darauf ab, die Radierkunst einer breiten Schicht zugänglich zu machen; heißt es doch hier: „voici les moyens faciles et prompts, qui permettront à tout peintre ou dessinateur de s’en servir utilement et de publier ses essais!“28 So findet sich denn auf der ersten Seite der kurzen Abhandlung auch der kleine Hinweis: „Tous les objets, outils et ustensiles concernant la Gravure à l’Eau-Forte et son impression, – se trouvent à la Maison A. Cadart, – 5, rue Neuve-des-Mathurines, 58.“ Die letzten beiden Seiten des Buches enthalten eine Liste der bei Cadart erwerbbaren Utensilien – mitsamt verschiedener Druckpressen – sowie den Hinweis auf Gratisunterricht in der Radierkunst: „Offertes aux Artistes qui veulent se distinguer dans ce genre de gravure, la plus propre à reproduire spontanément la pensée.“ Neben den kommerziellen Absichten, die in diesen Bemerkungen wiederum deutlich werden, zeigt sich also auch ein anderes Register der Argumentation. Das Revival des eau-

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forte verstand sich selbst als eine Demokratisierung der Kunst. Die Zugänglichkeit der Technik durch die einfache Herstellung und die Erschwinglichkeit der Utensilien sollte es einer breiten Schicht von Künstlern und Amateuren ermöglichen, ein Publikum zu erreichen. Nicht zufällig fand die Bewegung zeitgleich zu den Salons des Refusés statt, die bekanntlich ein Produkt des Widerstandes gegen die repressive Politik des staatlichen Salons darstellten. Die Radierung verhalte sich zur Zeichnung wie die Druckpresse zur Handschrift, behauptete Théophile Gautier. Eigentlich gebe es keine Hierarchien in den Künsten und es mache keinen Sinn von hoher und von niedriger Kunst zu sprechen: „[...] peutêtre n’y a point de ‚grand art‘ et de petit art.“ Immerhin habe das Museum von Amsterdam das Angebot von 1.000 Guineen für eine Radierung von Rembrandt abgelehnt. Eine Improvisation Mirabeaus sei ja auch gleichwertig mit großer Literatur.29 Das Ätzradierungsrevival sollte die Kunst demokratisieren und allen, wie seltsam die Erfindungen auch sein mochten, den Raum der künstlerischen Freiheit garantieren. So wiederum Gautier, wenn er meint, dass in der Société des Aquafortistes Künstler versammelt seien, „qui [veulent] parler directement au public, à leurs risques et périls.“30 Dass alle Utensilien beim Händler einfach eingekauft werden konnten, sollte der Bewegung einen soliden Boden verschaffen. Es markiert andererseits eine wesentliche Differenz zur alchemistischen Experimentierfreude eines Rembrandts oder, um ein extremes Beispiel zu nennen, Hercules Seghers.31 Die Produktionsmittel der Radierung waren nun als standardisierte Waren beim Händler erhältlich. So wie die Künstler der vergangenen Jahrhunderte ein geheimes Fachwissen um Pigmente und Lösungsmittel gehütet hatten, während die Künstler des 19. Jahrhunderts sich bald industrieller Farben bedienten, experimentierten sie auch mit den Verfahrensweisen der Radierung. Pierre-Henri de Valenciennes hatte die Künstler noch 1820 aufgefordert, sich neben der klassischen Bildung ein Grundwissen der Chemie für die Herstellung von Farben und Ölen anzueignen.32 Für das 19. Jahrhundert hingegen stand bezüglich der Radierung nun vor allem der Ausdruck künstlerischer Originalität im Zentrum, der durch das Verfahren an sich gewährleistet werden sollte. Die Technik wurde als feststehende Größe gedacht, die Radierplatte als Ort der Einprägungen ­kapriziöser Originalität künstlerischer „Erfindungslust“. Eine solche Haltung wird exemplarisch am einflussreichen Traktat zur Radierung von Francis Seymour Haden, dem Schwager Whistlers, und in regem Austausch mit den Vertretern des französischen Revivals, deutlich.33 Die Einfachheit der Ausführung ist auch für Seymour Haden, ein englischer Chirurg und Amateurradierer, von zentralem Interesse. Sein Aufsatz About Etching von 1866, dessen Inhalt auf einen schon 1864 in der Gazette des Beaux-Arts erschienenen Artikel Phillipe Burtys zurückgeht, bildet eine Quelle des nachfolgenden französischen Diskurses.34 Haden polemisiert darin ebenfalls gegen die ­colourless platitude of modern steel engraving, wie auch gegen die regelgeordneten ­Dispositive gegenwärtiger Bildproduktion im Allgemeinen, und plädiert für eine Kunst von persönlicher Ausdruckskraft. Für Hadens Realismus besteht Kunst in der Darstellung von Natur. Diese finde aber nicht als Imitation der Natur statt, sondern in der Suggestion

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eines Seheindrucks. Andernfalls, so meint Haden, wäre das Herstellen von Wachsblumen ja die Kunst schlechthin. Vielmehr gehe es darum, mit den Mitteln des Mediums, zum Beispiel der Ölfarbe, einen Eindruck der Natur zu suggerieren. Da das Medium der Radierkunst die Linie sei, müsse diese Suggestion hier in der Zeichenkunst gelingen. Dabei habe die Radierung die spezielle Eigenschaft, dass – anders als bei der Malerei, wo verschiedene Farbschichten übereinander gelagert werden können – jeder in die Wachsschicht eingegrabene Strich unwiderruflich sei (das stimmt selbstverständlich nicht, da es Korrektur­ verfahren gibt, die Haden manchmal sogar selbst anwendet). Die Radierung zeige somit am deutlichsten das Talent und vor allem die Geübtheit des Künstlers, ein Plädoyer für Spontanität, das für Haden die Radierung geradezu zur vornehmsten Kunst macht. In jedem dieser unkorrigierbaren Striche zeige sich die individuelle Natur des Künstlers. Dabei plädiert Haden für eine Kunst en plein air. Draußen vor Ort gelte es durch genaue Anschauung die Natur im Moment einzufangen. Tatsächlich trug er, wie Zeitgenossen berichten, stets eine vorbereitete Radierplatte bei sich.35 Dabei müsse der Künstler schnell arbeiten, da Lichtverhältnisse und Wasserläufe sich permanent veränderten. Auch deswegen biete sich hier der Einsatz der Radierung an. Die Matrix der Linien wird von Haden so als schirmartiges Gewebe persönlicher Handschrift konzipiert, Resultat einer „spontaneity of conception and expression“36 zugleich. Diese Linien sind unmittelbar entstanden und verweisen auf einen Eindruck in der Natur zurück, den sie in dieser der Natur vollkommen

54  Francis Seymour Haden, Battersea Reach, Radierung, 1863, London, Tate Gallery.

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fremden Form suggerieren: Das Bild besteht nurmehr in dieser Ansammlung idiosynkra­ tischer Spuren, die ein vom Künstler persönlich erfahrenes Stück Landschaft in einer Art realisation momenthaft reproduzieren, was Haden auch in einer prinzipiellen Unabgeschlossenheit und Skizzenhaftigkeit seiner Blätter zur Schau stellt.37 Er hat seine Radierungen deshalb auch oft mit genauen Zeit und Ortsangaben versehen. In der Ansicht aus Whistlers Fenster beschriftet er die Platte oben rechts (resp. links) wie eine Postkarte. Durch die gerade hinter den Wolken hervorbrechende Sonne, die in expressivem Strich die Geschwindigkeit der ausführenden Hand spüren lässt, ist die Zeitlichkeit des Blattes auf einen Augenblick reduziert. Haden steht hier sicher in der Linie der Barbizon-Schule, übertrifft diese aber im Aufzeichnen eines zeitlichen Jetzt, wo jene noch immer ins Pittoreske abweichen, so dass erst allmählich von tatsächlichen „Landschaftsaufzeichnungen“, wie sie sich speziell auch in der radikalen Fragmentierung des Bildausschnitts ausdrücken, gesprochen werden kann.38 Es war freilich insbesondere der Kunstmarkt nach der Jahrhundertmitte, auf dem die ­Ölstudien der Barbizon-Maler nun als eigenständige Werke gehandelt wurden und durch die Aufhebung der Differenz von Studie und Werk der „Landschaftsaufzeichnung“ erst der Status des eigentlichen Werkes zugesprochen wurde.39 Bekanntlich war die Malerei der Barbizon-Schule dabei selbst Produkt materieller Umwälzungen, etwa der reziprok zur Lohnarbeit entstehenden Freizeitkultur mit ihren per Bahn erreichbaren, mit romantischem Pathos aufgeladenen Naherholungsgebieten.40 Bei Haden schließlich ist das Blatt Denkmal eines Momentes, Aufzeichnung einer Erinnerung.41 Seine Konzeption des Werkes tritt in eine eigentümliche Nähe zum fotografischen Dispositiv, indem es ebenfalls als eine Struktur der Registration momenthafter Kräfte beschrieben wird. So berichtet er am Schluss seines Aufsatzes, dass der Künstler gleich am Abend einen Abdruck seines Blattes anfertigen soll, um zu sehen, was er am Tag hervorgebracht hat: That very night he might have a proof, and let him rest assured that if that proof should convey to him but a pale image of the glories he has seen, it will speak eloquently to those who were not there to see them, and – months and years after – words of sweet remembrance even to him.42

Während Millet in Reaktion auf die Entstehung des Bildes als Massenware den Fokus ganz auf die manuelle künstlerische Arbeit setzt, die von seiner Autorschaft garantiert originale Kopien hervorbringen soll, ist bei Haden die Technik bis in die Werkgenese draußen vor dem Motiv mit einem Pathos vormoderner Unmittelbarkeit aufgeladen. Die Speicher- und Erinnerungsstruktur, die er dem Medium zuschreibt, der indexikalische Verweis auf einen singulären Ursprungsmoment, soll die Radierung aufwerten gegenüber den ubiquitär zirkulierenden Bilderwaren. Dabei ist es in beiden Fällen insbesondere eine körperliche Dimension, die sich in der Radierung manifestieren soll und als widerständiger Ort gegen die neue Warenökonomie ausgespielt wird.43 Im gleichen Zug parallelisiert Haden jedoch den Körper mit der technischen Struktur der Fotografie. Die Phantasie einer vormodernen

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Unmittelbarkeit dringt sonach in den Kern des Subjekts, seine körperliche Konstitution als resistenter Ort des idiosynkratrischen Ausdrucks und der (künstlerischen) Freiheit. Im Umkehrschluss wird somit genau jene Innerlichkeit, wie es insbesondere an der fotografischen Subjetkonzeption Hadens deutlich wird, zum Aggregat der materiellen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts. Das Paradigma des Bildes als Aufzeichnungsfläche wie auch als Erinnerungsspeicher findet in Baudelaires Reflexionen zur Einbildungskraft eine zugespitzte Ausprägung. In Les paradis artificiels beschreibt er in einem von De Quinceys Autobiografie übernommenen Kapitel das menschliche Gehirn selbst als speicherförmiges Palimpsest: Qu’est-ce que le cerveau humain, sinon un palimpseste immense et naturel? Mon cerveau est un palimpseste et le vôtre aussi, lecteur. Des couches innombrables d’idées, d’images, de sentiments sont tombées successivement sur vôtre cerveau, aussi doucement que la lumière. Il a semblé que chacune ensevellissait la précédente. Mais aucune en réalité n’a péri.44

Insbesondere auch auf der Ebene der visuellen Erfahrung überlagern sich in Baudelaires Konzeption Erinnerungsbilder, die schließlich erst die gegenwärtige Anschauung strukturieren. So wird Baudelaire die Gegenwart der Erfahrung zum Anachronismus schlechthin: Gegenwart und Vergangenheit stehen in einer kontinuierlichen Vermittlung aneinander. Baudelaires von De Quincey übernommene Formulierung scheint dabei auf die Fotografie anzuspielen: Sanft wie das Licht hätten sich Ideen und Bilder sukzessive im Gehirn abgelagert. An etlichen anderen Stellen schreibt Baudelaire von den Spuren, die sich ins Gedächtnis eingra­ vieren. So zum Beispiel, wenn er im selben Text von den Eindrücken des Tages schreibt, die im Gedächtnis Spuren hinterlassen, um schließlich im Traum als Tagesreste wiederaufzutauchen. Weiter verwischt Baudelaire die Trennung von Wach- und Schlafzustand, was die Gegenwart wiederum zum Spielfeld von Vergangenem und Gegenwärtigem macht.45 Baudelaires Konzeption des künstlerischen Werkes ist dabei an die Konzeption des Gehirns als Palimpsest angelehnt.46 So beschreibt er die künstlerische Imagination als ein Übereinanderlagern von Schichten, eine „série de tableaux superposés.“47 Das Werk entstehe in einer solchen Schichtung von Erinnerungsbildern und nicht etwa im freien oder regelgeordneten Ausdenken von künstlerischen Erfindungen. In Le peintre de la vie mo­ derne kommt diese Werkstruktur am deutlichsten zum Tragen. Der Künstler soll nach Baudelaires Vorstellung den Tag lang durch die Straßen der Großstadt flanieren und möglichst viele Eindrücke sammeln. Nur durch diese Konfrontation mit der sich in ständigem Wandel befindlichen, kontingenten historischen Wirklichkeit, die Baudelaire auch modernité nennt, könne der Künstler die Modernität und Aktualität seines Werkes gewährleisten. Schließlich soll der Künstler am Abend die gesammelten Eindrücke ineinander verschränkt in einem Werk wiedergebären. Die verschiedenen Erinnerungen an den Tag, eine Art Tagreste, sollen in einer Übereinanderlagerung am Abend ein künstlerisches Werk generieren.48 Die Welt selbst wird dabei zum Bild und Zeichen:

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Toute l’univers visible n’est pas qu’un magasin d’images et de signes auxquelles l’imagination donnera une place et une valeur relative; c’est une espèce de pâture que l’imagination doit ­digérer et transformer.49

Das Vorbild eines solchen Werkprozesses liefert Baudelaire unter anderen ein Künstler wie Daumier, ein Künstler also am Rande zur Populärkultur, der in schnellem Strich und einer Art journalistischen Manier im Wochentakt neue Werke schafft. Auch für Baudelaire ist es ein Entwicklungsprozess am Abend, in dem das Werk entsteht. Während der Fotograf, wie sich sagen ließe, am Abend oder zumindest ebenfalls nachträglich seine „Silberplatten“ entwickelt, bei Haden der Radierer am Abend seine Radierplatten ätzt und druckt, ist es für Baudelaire der Künstler, der am Abend seine Erinnerungen in einer Überlagerung, einer „série de tableaux superposés“, ins Werk verwandelt. Bei Baudelaire ist es das Gehirn selbst, das zum Aufzeichnungsapparat und Erinnerungsspeicher wird, während das Werk in der transformierenden Wiedergabe der registrierten Ereignisse zu einer Art Wunderblock wird. Eine solche „Digestion“ wurde von der Forschung in Manets Werk, das bekanntlich für Baudelaire eines der ausgewählten Beispiele für eine Kunst des modernen Lebens darstellt, ausgemacht.50 Ausgehend von den Untersuchungen Michael Frieds, der Manets Werk als vielschichtige Ansammlung von Anspielungen und Zitaten auf Werke der Kunstgeschichte begreift, wurde in den letzten Jahrzehnten ein eindrückliches Konvolut an Referenzen ausgearbeitet, die in Manets Œuvre überall aufscheinen.51 Für Jean Clay ist der Pastiche die wesentliche Kategorie von Manets Werk. Wie Benjamins Flaneur sei Manet durch die Kunstgeschichte gezogen, der Louvre als Passage und Marktstand, und habe dabei das Ende der Aura ausgerufen: Sowohl Referenzen, Referenzmedien, Stil, Komposition oder „tâche“ zeigten eine Art Appropriationstechnik, was Carol Armstrong dazu führte, Manet einen „Bastard des Museums“ zu nennen: „nonlinear, disunified, internally divided; as the yield of artifice rather than the mirror of Nature [...] identified with [...] the values of artificiality, superficiality, mutability, and alterity.“52 So meinte Anne Higonnet jüngst in diesem Sinne: [...] what was fundamentally modern about Manet in the 1860s was precisely that his citations were not only of what was original about the history of art but also about how the history of art had been profoundly transformed by reproductions of original art objects.53

Auch Barbara Wittmann spricht von einer Appropriation der visuellen Kultur, „einer Entlehnung der bildnerischen Verfahren aus dem Alltag“ bei Manet.54 Manets Werk wurde so in eben jenen Kontext der neuen, massenhaften Verfügbarkeit von Bildern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestellt. Neben den Zitaten aus der älteren und neueren Kunstgeschichte, die indes oft auf Reproduktionsgrafiken rückführbar sind, tauchen überall eindeutige Referenzen auf Illustrationen von Zeitschriften, Fotografien oder Modemagazinen auf. Manet scheint im Sinne der Forderung Baudelaires

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nach einer Malerei des modernen Lebens nicht bloß die moderne Stadt und die Mode, sondern auch die Bildlichkeit dieser modernen Welt aufzunehmen. Insofern nach Baudelaire die Wahrnehmung selbst einer Nachträglichkeit unterworfen ist, Wahrnehmung wie im Modell Freuds als ein Prozess des Erinnerns zu verstehen ist,55 sind es gerade diese Bilderwelten der sich allmählich durchsetzenden illustrierten Massenmedien, die die Gegenwart, die stets nachträgliche Präsenz der Wirklichkeit bestimmen. Wie bereits Jutta Held feststellte, sind Manets Bilder jenseits eines Wahrnehmungsbegriffes impressionistischer Perzeptionsrealität anzusetzen: Für Manet sei Wahrnehmung, sagte sie ganz im Sinne Baudelaires, immer das Produkt einer historischen Wirklichkeit.56 Eine Praxis fragmentierenden Wiederholens einstiger Motive ist dabei bezeichnend für Manets druckgrafisches Werk, das im Rahmen des Revivals der Ätzradierung entstand. In seinen Radierungen löst Manet häufig einzelne Figuren aus früheren Gemälden heraus, um sie als selbständige Grafiken zu publizieren. Bezeichnend wird diese Praxis, wenn er die Gemälde schließlich selbst fragmentiert, die Leinwände zerschneidet und diese Fragmente als eigenständige Werke figurieren lässt. Die 1862 entstandene Komposition von Les Git­ anons existiert so nur noch in zwei im selben Jahr ausgeführten Druckgrafiken, während Manet das Gemälde in einzelne Teile zerlegt und diese anscheinend als eigenständige Werke verstanden haben will.57 Vom wassertrinkenden Jungen im Bildhintergrund links fertigt er schließlich zwischen 1870 und 1874 wiederum eine Radierung an.58 Ein anderes Beispiel ist etwa seine Figur des Absinthtrinkers von 1858/59, die er 1861/62 eins zu eins in die Komposition von Der alte Musiker aufnimmt – ein Bild, das zum Inbegriff des „Pasticheverfahrens“ bei Manet wird –, aber auch seit 1862 in einer Radierung verarbeitet, die er noch 10 Jahre nach der ersten Publikation umarbeitet.59 Gleichzeitigt folgt eine Reihe von kompositorisch sehr ähnlich aufgebauten Ganzfigurenportraits wie jene des Philosophen und Lumpensammlers, wovon ebenfalls eine Radierung existiert. Vom Mädchen mit Kind in Der alte Musiker fertigt Manet 1861/62 eine eigenständige ­Radierung an.60 Eine solche ­autoreferenzielle Arbeitsweise, wobei Manet auf eigene M ­ otivfindungen zurückgreift – Motive, die oft selbst Pastiche darstellen – und diese wiederholt umarbeitet, manchmal auch durch komplexe technische Verfahren schlicht in neue Kompositionen hineinkopiert, ist eine schon vielfach festgestellte Tendenz in seinem Œuvre, die speziell das druckgrafische Werk auszeichnet.61 Der Korpus von Manets Werk ist in diesem Sinne selbst palimpsestförmig, eine Ebene auf- und abtauchender Erinnerungsbilder, womit er sich den rapide zirkulierenden Medienerzeugnissen und dem darin konstituierten Imaginären angleicht. Auch das Gemälde Toter Torero von 1864, das thematisch wie auch kompositorisch auf Goya und einen anonymen spanischen Meister zurückverweist (im 19. Jahrhundert wurde es indes Velázquez zugeschrieben), aber auch einer Lithografie Daumiers verwandt ist (Rue Transnonain, 1834), ist Fragment einer ursprünglich größeren Komposition. Manet hat 1867/68 an einer eigenständigen Radierung des Toreros – also gerade dem aus anderen Bildern extrahierten Bildelement – gearbeitet, die in sieben verschiedenen, nicht-teleologisch zum Endstadium hinzielenden Versionen erhalten ist.62

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55  Edouard Manet, Torero mort, 7. Stadium, Radierung, 1867, Paris, Cabinet des Estampes, Bibliothèque Nationale.

56  Edouard Manet, Guerre Civile, 2. Stadium, Lithografie, 1874, Washington, D. C., Rosenwald Collection, National Gallery of Art.

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Später adaptiert er diese Figur für die vermeintlich dokumentarische Lithografie Guerre Civil.63 Diese Lithografie wurde in der älteren Forschung oft als authentische Aufzeichnung von Manets Zeugenschaft der grausamen Niederstreckung der Pariser Kommune interpretiert. Gerade in der Adaption in ein pseudo-dokumentarisches Bild wird der Anachronismus von Manets Verfahren dagegen auf die Spitze getrieben. Die schnellen Striche rund um den Leichnam verleihen dem Blatt, wie oft behauptet wurde, den Charakter eines Augenzeugenberichts.64 Die mehrschichtige Referenzialität hingegen – auf den spanischen Meister, auf Goya, Daumier und Manets eigene Durcharbeitung des Motivs  – zeigt deutlich, wie Manet die bildnerische Darstellung, vielleicht auch die Wahrnehmung selbst, als Prozess historischer Ablagerungen versteht – Ablagerungen, die dem Blick insofern selbst eingeschrieben sind, als die Bilder auf einen latenten assoziativen Raum von Manets Werken wie auch einer Bildgeschichte hin durchlässig sind.65 Das einzelne Werk nimmt hier die Form des Palimpsests an, die künstlerische Arbeit wird zum Prozess der Spuren­ablagerung, die künstlerische Einbildungskraft zum historischen Speicher. Die vielfältige Korrespondenz von Guerre civil steht sodann metonymisch für die Wahrnehmung des Ereignisses selbst: Auch die Journalisten stellen überall Parallelen mit den mannigfachen Revolutionsereignissen des vergangenen Jahrhunderts her. Es ist die „ewige Wiederkehr des Gleichen“, wie sie in der serialisierten Warenökonomie und nicht zuletzt der Bildpublizistik ihren Ausdruck findet, die Manet hier dem Werk – einem Historienbild im Medium der Lithografie – als zeitgenössischen Erfahrungshorizont einschreibt.66 Die Häufung der Referenzen, die latent eröffneten Assoziationsräume, lässt das Bild zur Metonymie der Leichenhafen der Revolution werden. Die Adaptionen in Manets Druckgrafiken lassen sich schließlich bis in die Strichführung hinein nachverfolgen – solche Strichimitationen scheinen geradezu zur Schau gestellt –, sodass die Hand des Künstlers selbst als Produkt historischer Sedimentation erscheint.67 Im Gegensatz zu Millets forciert auratischem Strich verschwindet die Autorschaft Manets, etwa in den expressiven Strichen von Guerre civil, hinter einer historischen Determinierung, die selbst den Körper einbezieht. Ganz in diesem Sinne hatte Baudelaire davon gesprochen, dass sich in der Geschichte nicht nur die Stadt und die Mode veränderten, sondern durch diese veränderte Mode und Stadt gar die Körper der historischen Subjekte selbst.68 Der in die moderne Stadt und das moderne Leben eingelassene Körper wird, wie die Stadt und die Ausprägungen des modernen Lebens selbst, zum Palimpsest der Geschichte: „J’ai dit que chaque époque avait son port, son regard et son geste“, „presque toute notre originalité vient de l’estampille que le temps imprime à nos sensations.“69 Vielleicht aus diesem Grund berichtete Baudelaire, dass De Quincey, von dem er die Subjektkonzeption als Palimpsest übernimmt, sich im Opium-Delirium in der Lektüre von Kant verloren habe.70 Ein Vergleich mit Rembrandt mag die veränderte Konzeption von künstlerischer Kreativität verdeutlichen: Rembrandts Radierung Der Zeichner nach dem Modell zeigt in ­einem Non-Finito in der unteren Hälfte Vorzeichnungen, die im Kontrast zu den andernorts ausgearbeiteten Teilen des Blattes stehen. Bei dem dargestellten Künstler vor dem Modell scheint es sich um ein Selbstportrait Rembrandts zu handeln. Somit zeigt das publizierte,

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scheinbar unfertige Werk performativ den Schaffensakt: Die sichtbare Vorzeichnung wird als Suche nach dem disegno des Werkes selbst vorgeführt, das Blatt zeigt seine eigene Produktion, in welcher das Ideal der inventio zelebriert wird.71 Manet hielt dieser Rembrandt’schen Tradition folgend einige seiner Blätter im Stil skizzenhafter Vorzeichnungen. Im Radierungsrevival wurde zudem das Skizzenhafte als Ausdruck des Spontanen zu einer wesentlichen kunstkritischen Kategorie, die hier ebenfalls gegen akademische Verschulung gerichtet war und als Moment der Unmittelbarkeit einstand.72 So nimmt die Forschung von Manets Kopie nach dem einst Velázquez zugeschriebenen Portrait der ­Infantin Marguerita von 1862 an, er habe das Blatt aus Unzufriedenheit aufgegeben.

57  Edouard Manet, L’Infante Marguerite, Radierung, 1862. Baltimore, Lucas Collection.

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Dieser These widerspricht aber, dass er das Blatt 1874 bei Cadart publizierte.73 Die Sichtbarmachung des Produktionsprozesses weist hier jedoch nicht auf die geniale Suche des Künstlers nach der Idee im disegno, auf das, was die klassische Kunsttheorie inventio nannte.74 Und auch kein spontaner Ausdruck kommt in dem Blatt zur Geltung. Die Sichtbarmachung stellt vielmehr die bloße Aufnahme von Spuren in der Druckplatte zur Schau. Verschiedene Stadien der Ausarbeitung sind nebeneinandergestellt: Während die simplen, das Kostüm angebenden Linien offenbar auf einem Abpaus- oder Übertragungsverfahren basieren, die Manet für seine Radierungen oft anwendete, zeigt sich in Gesicht und Haar bereits eine Detailausarbeitung. Im Hintergrund ist mittels vorläufiger Schraffuren, deren Stil auf Goya verweist, schon die Tonalität der Gesamtkomposition angedeutet. Dem Motiv der steifen Haltung der in ihr pompöses Kleid gezwängten Adelstochter, exemplarisch in der zugekniffenen linken Hand oder dem entleerten starren Blick, aber auch der generellen Pose greifbar, korrespondiert Manets Adaption vorgefertigter Darstellungskonventionen: Wie die Infantin in ihr Kleid, ist Manet in die Darstellungskonventionen gezwängt. Ganz in diesem Sinne sind im Französischen die Begriffe von Haltung (custom) und Kleidung (costume) nahe verwandt, wobei dieser Zusammenhang im Pariser 19. Jahrhundert in Kostüm- und Typenbildern präsent war.75 Die beiden differenziert eingesetzten Radiernadeln, unterscheidbar in den dicken und dünnen Linien, bleiben als Abdruck standardisierter, vielleicht bei Cadart erworbener Utensilien deutlich sichtbar. Die beiden Linientypen zeigen desgleichen zwei demonstrativ differenzierbare Stadien der Ausarbeitung und rücken in dieser Parataxe die Momente und das Dispositiv der materiellen Produktion in den Vordergrund. Diese Referenz auf den Moment der Produktion suggeriert hier jedoch in keiner Weise ­einen Fluss expressiven Ausdrucks und Autorschaft. Wie in den Portraits Berthe Morisots, in denen Manet die Portraitierte in eine Vielheit von Aspekten und charakterlichen Seiten auflöst, die Vorstellung eines zentralisierten Subjekts unterlaufend, erscheint der Künstler selbst als ein sich in seine Zeit und sein Leben auflösendes Gewebe.76 Das Blatt verkörpert Konventionen, technische Mittel und ein normiertes Dispositiv, sodass nun nicht künstlerisches Temperament zum Ausdruck kommt, sondern die im Körper sedimentierte historische Zeit, die bis in den „Kern“ der Subjektivität gedrungen ist. Erst innerhalb der Konvention und materiellen Bedingtheit der Formen wird eine Beweglichkeit erkennbar. Auf der Brust des Mädchens in der Mitte des Bildes sind in die ­dickeren Umrisslinien Schraffuren mit der dünneren Nadel eingefügt. Sowohl die Umrisslinien wie auch die sternförmig in alle Richtungen auseinanderlaufenden Schraffurlinien haben keine konkret lesbare denotative Funktion, scheinen aber eine ornamentale Struktur des Gewandes anzugeben, die in eine Schattierung unter dem rechten Arm übergeht. Ihre „Blindheit“ macht diese Linien zum konkreten Ausdruck der künstlerischen Arbeit, die in ihrer Befreiung vom figurativen Gehalt zum bloßen Moment einer Setzung werden. Der sich in diesen Linien sammelnde Ausdruck liegt nicht in einem Temperament, das sich grafologisch in der individuellen Motorik sammeln würde. Der sichtbare Produktionsgrund lässt die Markierungen seltsam unbestimmt und offen wirken: In ihrer forcierten

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Kleinteiligkeit kommt trotz der Negation eines denotativen Sinnes keine auratische Autor­ schaft zum Tragen. In Analogie dazu bleibt auch der potenzielle Handlungsraum vor dem Kind, in den es mit der rechten Hand ausgreift und mit leerem Blick starrt, in der leeren weißen Fläche unbestimmt. Seine Haltung und die Beweglichkeit der Arme sind sichtlich von dem aufgeblasenen Kleid bestimmt, das auch das Ausgreifen in den offenen Raum vor ihm maßgebend einschränkt. Durch die offene weiße Fläche wird hier aber dennoch das Potenzial eines Handlungsspielraums suggeriert. Die Arme des Kindes sind in ihrer dialektischen Stellung zwischen Freiheit und Determination eine Verkörperung von Manets eigenen bei der Produktion des Werkes. Insofern die Realisten im Umkreis von Champfleury in der Figur des Kindes in proto-primitivistischer Form einen Zugang zum Unverfälschten und Natürlichen sahen, karikiert Manets Repräsentation der Infantin Marguerita eine solche Vorstellung kindlicher Naivität geradezu, indem er sie eingezwängt ins Korsett aristokratischer Repräsentation zeigt.77 Es ist dasselbe aristokratische ästhetische Regime, dessen Rest er als Künstler in den Konventionen der Repräsentation ausgesetzt ist.78 Aus dem Bild und dem Gehirn als Aufzeichnungsfläche und Palimpsest macht Manet die Wirklichkeit selbst zum sedimentierenden Speicher der Geschichte, in die wir alle mit unseren Körpern und Gedächtnissen eingelassen sind und auf deren „Fläche“ wir unsere Spuren hinter­ lassen. Das Anachronistische des Revivals der Radierung als künstlerischer Form, so die hier vorgelegte These, liegt nicht einfach in der Wiederaufnahme einer „veralteten“ Technik. Auf der einen Seite sind es gerade die Argumente für die Wiederaufnahme der Technik, die dem Medium nun eine anachronistische Struktur verleihen. Die Forderung nach Unmittelbarkeit und Authentizität, die der Technik substanziell zugeschrieben wird, ist ein genuines Produkt des 19. Jahrhunderts. Erst die Industrialisierung der Bildproduktion, aber auch der Warenwelt im Allgemeinen motiviert die Forderung nach einer Kunst des Authentischen und Originalen. Sowohl Millets Konzeption der originalen Kopie als auch SeymourHadens Phantasie unmittelbarer Aufzeichnung gründen nicht in der Substanzialität der Technik selbst, sondern sind Produkt der auf die Technik projizierten historischen Semantik, des Diskurses des 19. Jahrhunderts. Beide sind in der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit Ausdruck einer generellen Entfremdung, eines Verlusts der Selbstverständlichkeit künstle­ rischer Arbeit. Andererseits sind die materiellen Praktiken der Radierungsproduktion im 19. Jahrhundert anachronistisch. Schon das dem Revival unterlegte Verlagswesen, das als Kapital zum „Geist der Arbeit“ wird, verändert die hergestellten Bilderzeugnisse grundlegend. Die Technik unterliegt zudem den Umwälzungen, die die materielle Kultur und die Produktionsbedingungen im 19. Jahrhundert bestimmen. Das Aufkommen standardisierter Utensilien, die im Shop erwerbbar sind, verändert sowohl die künstlerischen Produkte wie den künstlerischen Umgang mit dem Medium. Die Konzentration auf den expressiven Ausdruck, der die Autorschaft verbürgen soll, ist bedingt durch die Struktur des Dispositivs als Ware im Sinne einer vorgefertigten Aufzeichnungsfläche. Die künstle­rische Arbeit beschränkt sich auf die Bespieglung des vorgefertigten Dispositivs. Hier ist die auf die Technik

Manets Druckgrafiken im Kontext des Revivals der Ätzradierung I 261

übertragene historische Semantik ebenfalls geprägt von anderen m ­ ateriellen Praktiken und Waren, speziell der Fotografie. Nicht zuletzt versucht das Revival sich als marktwirtschaftliche Konkurrenz zu diesem neuen Bildmedium zu etablieren. So formatieren sowohl die historische Semantik als auch die historische materielle Kultur in wechselseitigem Verhältnis die Technik in anachronistischer Weise und Rekalibrieren in der Vorstellung freier künstlerischer Arbeit fundamental die Konzeption der Subjektivität selbst. Der Körper, der als widerständiges und unverfügbares Residuum der Warenöko­nomie entgegengehalten wird, wird selbst zum kapitalisierten Zentrum der Wertgenerierung. Schließlich versucht dieser Aufsatz aufzuzeigen, wie Edouard Manet in seinem druckgrafischen Werk auf diese Situation reagiert. Die Absenz expressiven Ausdrucks in dem als Entwurf vorgeführten Blatt der Infantin Marguerita, das also forciert den idiosynkratischen Formfindungsprozess vorführen soll, zeigt die substantielle Strukturierung des Künstlersubjekts noch im Moment des Skizzierens. Die Kapitalisierung der Individualität körperlichen Ausdrucks, den die Platte grafologisch registrieren soll, ist aufgehoben und stattdessen das Dispositiv als Ware sichtbar gemacht. Die Unabgeschlossenheit macht hier den die künstlerische Arbeit bedingenden materiellen Grund und die Konventionen künstlerischer Produktion sichtbar und nicht etwa eine unverfälschte spontane Expressi­ vität. Für Manet ist, wie dies auch von Baudelaire theoretisch konzipiert wurde, schon der Körper, in diesem Falle auch der vermeintlich unschuldige Körper des Kindes, Produkt der historischen und materiellen Praktiken und öffnet keinen Zugang zu einem sens brut und Urnatur.79 Nicht in der bloßen Negation der historischen Wirklichkeit, der Wiederbelebung einer phantasierten und notwendigerweise anachronistischen Vormoderne, sondern in deren Durchdringung findet der künstlerische Akt schließlich statt.

Anmerkungen 1

Theophile Gautier [alias W. Bürger], Un mot sur l’eau-forte, in: Société des Aquafortistes. Eauxfortes modernes. Publication d’œuvres originales et inédites, Paris 1863, o. P.

2 3

Michel Melot, L’estampe impressionniste, Paris 1994, S. 10. Ségolène Le Men, Pour l’estampe, pour la reproduction, dans le marché... Millet et le moment de Barbizon, in: Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Philippe Kaenel, Hildesheim 2007, S. 717–740.

4

Zur veränderten Medienlandschaft vgl. jüngst: Patricia Mainardi, Another World. NinteenthCentury Illustrated Print Culture, New Haven 2017. Zum Aufkommen der fotografischen Kunstreproduktion im industriellen Ausmaß: Paul Mellenthin, Das photographische Museum, in: Adolphe Braun. Ein europäisches Photographie-Unternehmen und die Bildkünste im 19. Jahrhundert, hrsg. von Paul Mellenthin und Ulrich Pohlmann, München 2017, S. 297–310.

5

Le Men 2007 (Anm. 3).

6

Philippe Burty, L’Album Boetzel. Salon de 1869, in: Gazette des Beaux-Arts 2, 1869, S. 252–263.

7

Le Men 2007 (Anm. 3).

8

Wolfgang Kemp, Foto-Essays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 1978, S. 17.

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 9 Emile Zola, Ed. Manet, Etude biographique et critique, Paris 1867. Für eine kritische Diskussion von Zolas naturalistischer Manet-Lektüre siehe: Carol Armstrong, Manet Manette, New Haven 2002, S. 31–47. 10 Le Men 2007 (Anm. 3). 11 Zur Warenentfremdung in der zweiten Jahrhunderthälfte in Paris und deren Einfluss auf die Kunst vgl: Timothy James Clark, The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and his Followers, London 1984. 12 Michel Melot, L’estampe, entre l’objet d’art et l’objet éditorial, in: Kaenel 2007 (Anm. 3) S. 577– 590; vgl. zur Debatte zur original copy auch: Armstrong, 2002 (Anm. 9), S.71–98. Der wesentliche Grund für den Titel Peintre-Graveur liegt hingegen in der koloristischen Auffassung des Mediums. Die für das Medium hervorgehobene grafologische Aufzeichnungsfähigkeit fordert eine spontane, intuitive Arbeitsweise und widerspricht der Konzeption der Zeichnung im Sinne des disegno, also als primär intellektuelle Leistung. Eine solche wird viel mehr abwertend dem Kupferstich, der eine langwierige Fleißarbeit beanspruche, zugesprochen. Vgl. exemplarisch: Charles Blanc, De la gravure a l’Eau-Forte. Et des Eaux-Fortes de Jacque, in: Gazette des Beaux-Arts 5, 1861, S. 193–208. 13 Stephen Bann, Parallel Lines. Printmakers, Painters and Photographers in Nineteenth-century France, New Haven 2001, S.15–41. 14 Vgl. hier wie im Folgenden Christopher S. Wood, Albrecht Altdorfer and the Origins of Land­ scape, London 1993, S. 246–270. 15 Bann 2001 (Anm. 13), S.15–41. 16 Le Men 2007 (Anm. 3). 17 Armstrong 2002 (Anm. 9), S.71–98. 18 Richard Shiff, Representation, Copying, and the Technique of Originality, in: New Literary History 15, 1984, S. 333–363, und ders., The Original, the Copy, and the Spontanous Classic. Theory and Painting in Nineteenth-Century France, in Yale French Studies 66, 1984, S. 27–54. 19 Zum Einfluss der Industrialisierung in Frankreich vgl. Timothy James Clark 1984 (Anm. 11). Zu einer Diskussion, die Benjamins Theorie der Entauratisierung neben der fotografischen Reproduktion insbesondere in der Reproduktionsgrafikproduktion ansiedelt: Bann 2001 (Anm. 13), S. 7–11. 20 Wood 1993 (Anm. 14), S. 306. 21 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zwei Frag­ mente, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1969. 22 Zu Millets Motiven als negative Idyllen vgl. Michael F. Zimmermann, Painting of Nature – Nature of Painting, in: Barbizon. Malerei der Natur – Natur der Malerei, hrsg. von Andreas Burmester, Christoph Heilmann und Michael F. Zimmermann, München, 1999, S. 18–55. 23 Vgl. hierzu bspw. Anna Sigrídur Arnar, Original Printmaking Practices and Symbolic Gestures in Late Nineteenth-Century. The Case of Stéphane Mallarmé, in: Philippe Kaenel 2007 (Anm. 3), S. 741–761. 24 Melot 1994 (Anm. 2), S. 32. 25 Gautier 1863 (Anm. 1), o. P. 26 Jules Janin, Un mot sur l’eau-forte, in: Société des Aquafortistes. Eaux-fortes modernes. Publication d’œuvres originales et inédites, Paris 1864, o. P. 27 A.-P. Martial, Nouveau traité de la gravure à l’eau-forte, Paris 1873. 28 Ebd., S. 15. 29 Gautier 1863 (Anm. 1), o. P. 30 Ebd. 31 Zu einer Analyse der Technik und deren intrinsischer Bedeutung in den Werken Segers vgl. Sebastian Egenhofer, Grund und Territorium bei Hercules Segers, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren,

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hrsg. von Matteo Burioni und Gottfried Boehm, München 2012, S. 250–276. Zu Rembrandts Technik vgl. Christopher White, Rembrandt as an Etcher. A Sudy of the Artist at Work, London 1969. 32 Pierre Henri Valenciennes, Éléments de perspective pratique. A l’usage des artistes, suivis de Ré­ flexions et conseils à un élève sur la peinture, et particulièrement sur le genre du paysage, Paris 1820, S. 315. Einen Einblick in die Komplexität des alchemistischen Wissens gibt Ernst Berger, Böcklins Technik, München 1906. 33 Zu Haden vgl. Richard S. Schneiderman, A Catalogue Raisonné of the Prints of Sir Francis Seymour Haden, Devizes 1997; Malcom C. Salaman, The Etchings of Sir Francis Seymour Haden, London 1923. 34 Sir Francis Seymour Haden, About Etching, in: The Fine Arts Quaterly Review (June 1866), S. 145– 160 (die anonyme Publikation wird oftmals mit dem gleichnamigen Buch von 1879 verwechselt); Philippe Burty, L’œuvre de M. Francis Seymour-Haden, in: Gazette des Beaux-Arts 17, 1864, S. 271– 287, S. 356–366; ders., La gravure au Salon de 1866, in: Gazette des Beaux-Arts 21, 1866, S. 184–194. 35 Salaman 1923 (Anm. 33), S. 9. 36 Ebd. S. 7. 37 Gerade auch die physiologische Argumentation des Chirurgen Haden führt direkt zum Impressionismus: Schon in den 1860ern hatte er seriell Ansichten von ein und derselben Landschaft angefertigt; vgl. Schneiderman 1997 (Anm. 33), S. 26–27. 38 Zur sehr späten Entstehung von tatsächlicher und momenthafter Naturaufzeichnungen vgl. Werner Busch, Abbild, Erscheinung, Erfindung. Landschaftsgrafik und Ungegenständlichkeit, in: Vermes­ sen. Landschaft und Ungegenständlichkeit, hrsg. von ders. und Oliver Jehle, Zürich 2007, S. 97–116; zum anhaltenden Ideal des Idyllischen bei Corot vgl. Dorit Schäfer, Corot unterwegs – Landschaften in Frankreich von 1830–1865, in: Camille Corot. Natur und Traum, Ausst.-Kat. (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 2012/13), hrsg. von Margaret Stuffmann, Heidelberg 2012, S. 99–126, hier S.101. Zu den sozialen und materiellen Bedingungen als Ursachen von „Landschaftsaufzeichnungen“ im eigentlichen Sinne sowie zu den bildlichen Strategien dafür vgl. Kemp 1978 (Anm. 8), S. 11–48, und Peter Galassi, Before Photography, in: Before Photography. Painting and the Invention of Photography (New York, Museum of Modern Art, 1981), hrsg. von ders., S. 11–31. 39 Steven Adams, The Barbizon School and the Origins of Impressionism, London 1994, S. 19–55; Schäfer 2012 (Anm. 38), S. 99–100; Galassi 1981 (Anm. 38), S. 20–21. 40 Timothy James Clark, The Absolute Bourgeois. Artists and Politics in France 1848–1851, Greenwich 1973, S. 72–98; Clark 1984 (Anm. 11), S. 147–204. 41 Zum Bild als Souvenir sowie den kulturhistorischen Kontext einer Euphorie des Spurenparadigmas vgl. Barbara Wittmann, Gesichter geben. Édouard Manet und die Poetik des Portraits, München 2004, S. 177–195. 42 Seymour Haden 1866 (Anm. 34), S. 160. 43 Die körperliche Dimension der Kunst spielt im Sinne des Embodiment, wie Michael Fried es insbesondere für Courbet gezeigt hat, für den Realismus, in dessen Linie sich das Radierungsrevival vielerorts stellt, eine grundlegende Rolle; vgl. Michael Fried, Courbet’s Realism, Chicago, 1990. 44 Charles Baudelaire, Les Paradis Artificiels, in: Œuvres complètes, Bd. IV, Paris 1868–1870, S. 329. 45 Zur Analyse der poetologischen Theorie in Baudelaires Les Paradis Artificiels vgl. Cornelia Ortlieb, Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire bis Georg Trakl, Stuttgart 2001, S. 23–75. Es sind diese Überlegungen, die Freud, wenn auch nicht explizit, später für sein psychoanalytisches Modell übernimmt. In seiner Schrift Notiz über den Wunderblock beschreibt er den Seelenapparat ebenfalls im Sinne eines Palimpsests. Und schon in der Traumdeutung hatte er in einem Schema in analoger Weise über die strukturierende Funktion der Erinnerung für die Wahrnehmung nachgedacht, wobei letztlich auch für ihn die Wahrnehmung zum Moment der Nachträglichkeit wird. Sigmund Freud, Notiz über den Wunderblock, in: Gesammelte Werke,

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Bd. 14, hrsg. von Anna Freud u. a., Frankfurt/Main 1999, S. 3–8; ders. Die Traumdeutung, in: Ge­ sammelte Werke, Bd. 2–3, hrsg. von Anna Freud u. a., Frankfurt/Main 1999, S. 538–555. Die strukturierende Funktion der Erinnerung für die Wahrnehmung mag auf Hegel zurückgehen (vgl. bspw. Enzyklopädie §452–§454), findet andererseits etwa schon bei Leonardo da Vinci ihre ­Erwähnung. Seit dem frühen 19. Jahrhundert findet eine Diskussion um die physiologische Vermitteltheit des Sehsinnes statt, die schließlich mit dem Paradigma der Unmittelbarkeit bricht. Vgl. Gottfried Boehm, Hat das Sehen eine Geschichte, in: Werk und Diskurs. Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, hrsg. von Dieter Ingenschay und Helmut Pfeiffer, München 1999, S. 179–188. Etwa Bergson, Husserl, Cassirer und Freud schreiben die Diskussion um diese sinnliche Nachträglichkeit im frühen 20. Jahrhundert fort. Für eine genaue Analyse der Konsequenzen einer Subjektkonzeption als Palimpsest im Zusammenhang mit De Quincey vgl. Josephine McDonough, Writings on the Mind. Thomas De Quincey and the Importance of the Palimpsest in Nineteenth-Century Writ­ ing, in: Prose Studies 1987, S. 207–224. Für eine diesbezügliche Interpretation von Baudelaires Lyrik vgl. Richard Terdiman, Present and Past. Modernity and the Memory Crisis, Ithaka 1993, S. 106–147. Zu den Konsequenzen, die Freud daraus zieht: Jacques Derrida, Freud und der Schau­ platz der Schrift, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976, S. 302–349. 46 Vgl. Ortlieb 2001 (Anm. 45). 47 Zitiert nach Ortlieb 2001 (Anm. 45), S. 49. 48 Charles Baudelaire, Le peintre de la vie moderne, in: Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1868–1870, S. 51–114. 49 Zitiert nach Ortlieb 2001 (Anm. 45), S. 50. 50 „MM. Manet et Legros unissent à un goût décidé pour la réalité, la réalité moderne, – ce qui est déjà un bon symptôme, – cette imagination vive et ample, sensible, audiacieuse, sans laquelle, il faut bien dire, toutes les meilleures facultées ne sont que des serviteurs sans maître, des agents sans gouvernement. Charles Baudelaire, Peintres et Aquafortistes, in: Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1868–1870, S. 116–117. 51 Michael Fried, Manet’s sources, in: Artforum 7, 1969, S. 28–79; Michael Fried, Manet’s Modernism, or, the Face of Painting in the 1860s, Chicago 1996. 52 Jean Clay, Ointments, Makeup, Pollen, in: October 27, 1983, S. 3–44; Carol Armstrong 2002 (Anm. 9), S. 68. 53 Anne Higonnet, Manet and the Multiple, in: Grey Room 48, 2012, S. 102–116, hier S. 106. 54 Wittmann 2004 (Anm. 41), S. 53–82. 55 Vgl. Anm. 45. 56 Jutta Held, Avantgarde und Politik in Frankreich. Revolution, Krieg und Faschismus im Blickfeld der Künste, Berlin, 2004, S. 233. Joachim Kaak hat diese These in Bezug auf verschiedene Autoren, die Manets „impressionistische Phase“ ebenfalls als Adaption eines Idioms und nicht als ­eigentliche Auseinandersetzung mit optischen Phänomenen verstanden, jüngst wiederholt. Joachim Kaak, Lehrjahre des Auges. Edouard Manet gesehen mit Werner Hofmann, in: Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, Ausst.-Kat. (Hamburg, Hamburger Kunsthalle, 2016), hrsg. von Hubertus Gassner und Viola Hildebrand-Schat, 2016, S. 61–67. 57 Jean C. Harris, Edouard Manet. The Graphic Work. A Catalogue Raisonné, San Francisco 1990, S. 83–86. Zur Praxis des Fragmentierens im Kontext einer Diskussion zu Tableau und Morceau vgl. Laurence Des Cars, Painting in Morceaux, in: Manet. The Man Who Invented Modernity, Ausst.– Kat. (Paris, Musée d’Orsay, 2011) hrsg. von Stéphane Guégan, Paris 2011, S. 45–55. 58 Harris 1990 (Anm. 57), S. 141. 59 Ebd. S. 79; zu dem Gemälde Der alte Musiker als Inbegriff von Manets „new painting“ in den 1860ern vgl. Des Cars 2011 (Anm. 57), S. 48.

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60 Vgl. Harris 1990 (Anm. 57), S. 87–89. 61 Vgl. z. B. Melot 1994 (Anm. 2), S. 52–66. 62 Vgl. Harris 1990 (Anm. 57), S. 170–174. 63 Vgl. Harris 1990 (Anm. 57), S. 210–211. 64 Schon Léon Rosenthal bemerkt 1925, dass diese von Duret vertretene Ansicht angesichts der im Bild angelegten Referenzen nicht haltbar ist: Léon Rosenthal, Manet. Aquafortiste et Lithogra­ phe, Paris, 1925, S. 88–89. Für eine detaillierte Übersicht zu den angelegten Referenzen sowie der These zur Augenzeugenschaft vgl. Jacquelynn Baas, Edouard Manet and „Civil War“, in: Art Journal 45, 1985, S. 36–42. 65 Zum Verfahren der bloß latenten Eröffnung von Assoziationsräumen vgl. Michael Fried, Painting Memories. On the Containment of the Past in Baudelaire and Manet, in: Critical Inquiry 10, 3, 1984, S. 510–542. 66 Zum Gedanken der „ewigen Widerkehr des Gleichen“ als einem Ausdruck kapitalistischer Warenökonomie;, vgl. Walter Benjamin, Das Passagenwerk. Gesammelte Schriften, Bd. V, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M., 1982,S. 156–178. 67 Vgl. Harris 1990 (Anm. 57), S. 72–78. 68 Charles Baudelaire 1868–1870 (Anm. 48), S. 68–73. 69 Ebd. S. 70, 72. Die Stadt als Palimpsest ist freilich einer der Grundgedanken vom Baudelaire-Interpreten Benjamin in seiner Berliner Kindheit, in der die Stadt zum Raum des Gedächtnisses wird und er im Sinne von Palimpsest und Wunderblock von den „ersten Spuren“ als „Labyrinthe auf den Löschblättern [s]einer Hefte“ spricht. Walter Benjamin, Berliner Kindheit, in: ders, Gesammelte Schriften, Bd. IV, hrsg. von Tilman Rexroth, S. 235–304, hier S. 237. Bergson wird in diesem Sinne von einem „Niederschlag von Erinnerung im Körper“ sprechen: Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991, S. 66–126. 70 Charles Baudelaire1868–1870 (Anm. 44), S. 275. 71 Rembrandt (1606–1669). Radierungen, Ausst.-Kat. (Joanneum, Alte Galerie am Landesmuseum, 2006), hrsg. von Peter Pakesch und Wolfgang Muchitsch, Joanneum 2006, S.182. 72 Das Skizzenhafte war eine der wesentlichen Kategorien, unter denen die Spontanität und Naivität von den Autoren rund ums Radierungsrevival besprochen wurde. Für eine größere Diskussion zum Skizzenhaften in der Zeit vgl. Fried 1996 (Anm. 51), S. 302–317. 73 Vgl. Harris 1990 (Anm. 57), S. 70–71. 74 Zur Negation der klassischen Kategorie der inventio bei Manet wie auch Degas, wo es nicht um eine Bilderfindung, sondern eine Bildfindung gehe, vgl. auch jüngst Barbara Wittmann, Malerei auf den ersten Blick. Edouard Manets Bildnisse der Berthe Morisot, in: Gassner und HildebrandSchat 2016 (Anm. 56), S. 93–101. 75 Mainardi 2017 (Anm. 4), S. 40. 76 Zu Ersterem vgl. Wittmann 2004 (Anm. 41). Zur spezifischen Charakterisierung von Manets „signature-style“ als einer disintegrierten Form von Subjektivität vgl. Armstrong 2002 (Anm. 9), S. 49–98. 77 Vgl. Meyer Schapiro, Courbet and Popular Imagery: An Essay on Realism and Naïveté, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 4, 3/4 (April 1941–1942), S. 164–191. 78 Georges Bataille hat Manets Malerei als „Dekonstruktion“ des vom Bürgertum blindlings angeeigneten aristokratischen Repräsentationssystem gedeutet. Georges Bataille, Manet. Biogra­ phisch-kritische Studie, übers. von Karl Georg Hemmeric, Genève 1955. 79 Für eine neuere Konzeption der Körper und Wirklichkeit bildenden Funktion von materiellen Praktiken im Gegensatz zu diskursiven vgl. Karen Barad, Agentieller Realismus, übers. von Jürgen Schröder, Frankfurt a.M., 2012.

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Bettina Uppenkamp

(Un)zeitgemäß und subversiv? Sticken bei Annette Messager und anderen feministischen Künstlerinnen in den 1970er Jahren

„Tout vient de Dieu, sauf la femme“ – „Alles kommt von Gott, außer der Frau“. Sprichwörter sind, nach einer Miguel de Cervantes zugeschriebenen Definition, kurze Sätze, die sich auf eine lange Erfahrung gründen. Bertrand Russel soll gesagt haben, Sprichwörter seien „the wisdom of many, the wit of one.“1 Die Definition des Sprach- und Literaturwissenschaftlers und Parömiologen Wolfgang Mieder lautet: „Ein Sprichwort ist ein allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine Lebensregel oder Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrückt.“2 Die (nicht biblisch verbürgte) Weisheit, dass alles von Gott komme außer der Frau, erscheint in einer von der französischen Künstlerin Annette Messager angelegten Collection de proverbes mit rotem Faden von der Künstlerin in Handarbeit auf ein Stück Baumwollstoff von ca. 35 x 28 cm Größe aufgestickt. (Farbabb. 14a, b, c) Messagers von 1973 bis 1974 zusammengetragene Sammlung umfasst nach ihren eigenen Aussagen ungefähr 200 vergleichbar grob frauenfeindliche Sinnsprüche aus dem Schatz französischer sprichwörtlicher Redensarten.3 Zu lesen ist dort unter anderem: „Aime ta femme comme ton âme et bats-la comme ta pelisse“ – „Liebe deine Frau wie deine Seele und schlage sie wie deinen Pelzrock“; oder: „La bouche d’une femme est un nid de mauvaises paroles“ – „Der Mund einer Frau ist ein Nest übler Worte“; „Prends garde d’une mauvaise femme, et méfie-toi de celle qui est bonne“ – „Nimm dich in Acht vor einer schlechten Frau und misstraue jener, die gut ist“; „Il faut craindre la femme et la tonnerre“ – „Man muss die Frau fürchten und den Donner“; „Quand la fille naît, mêmes les murs pleurent“ – „Wenn ein Mädchen geboren wird, weinen selbst die Mauern“.4 Ausgestellt werden die mit den Sprichwörtern bestickten Tücher Messagers einheitlich gerahmt und zur Serie arrangiert, eine Anordnung, die in ihrer auf den ersten Blick formalen Strenge absichtsvoll an den Konzeptualismus minimalistischer Positionen der späten 1960er und 1970er Jahre erinnert, ein Eindruck jedoch, der durch das betont von Hand Fabrizierte der aufgestickten Sentenzen konter­ kariert wird.5 Die Verfahren Annette Messagers scheinen es geradezu darauf angelegt zu haben, sich gängigen Kategorisierungen zu entziehen und nicht nur die Grenzen künstlerischer Gattungen in Frage zu stellen, sondern auch die zwischen Kunst und Alltagskultur, zwi-

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schen Kunst und Magie, zwischen Wahn und Normalität oder zwischen Rationalität und Emotion. Die 1943 geborene Künstlerin arbeitet mit diversen Materialien und vermischt unterschiedliche Techniken. Sie kombiniert Fotografien mit Zeichnung, verschränkt Bilder mit Texten, verwendet diverse Textilen, Wollfäden, Netze und abgelegte Kleider, setzt ausgestopfte Vögel und Plüschtiere ebenso ein wie anderes, oft versehrtes Spielzeug, ­benutzt Gefundenes und Zugerichtetes, das sie teils zu raumgreifenden Installationen ­zusammenfügt und zu einem unheimlichen, mechanisch animierten Leben erweckt. 2002 war auf der Documenta in Kassel eine solche raumgreifende und mechanisch animierte Installation Dépendence/Indépendence mit phantastisch-chimärenartigen Spielzeug-Kreaturen zu erleben, die, in Bewegung versetzt, kindliche Alp- und Wunschträume von Macht und Ohnmacht aufzurufen schien. Ein gewisser Sadismus als dezenter Schatten liebevoller Zuwendung scheint in solchen Werken zum Vorschein zu kommen, die aus gehäuteten oder ausgeweideten Spielzeugen bestehen, wie in den Serien Les Restes, entstanden zwischen 1998 und 1999, oder Les Repliquantes, entstanden von 1999 bis 2000. An die Praxis von Votivgaben erinnert eine Serie, die den Titel Mes Voeux trägt und zwischen 1988 und 1989 entstanden ist, eine Arbeit, die aus fotografischen Abbildern von Körperfragmenten besteht, die an Wollfäden aufgehängt zu verschiedenen Formationen arrangiert wurden. Der Zyklus Meine Trophäen, entstanden in den Jahren 1986 bis 1988, besteht ebenfalls aus Fotografien von teils mit kryptischen Zeichen versehenen Körperteilen, kombiniert mit handgeschriebenen Texten und arkanen Symbolen, inspiriert von magischen körperbezogenen Praktiken wie der Chiromantie. Phantastisch und beunruhigend wirken auch die Chimären, die die Künstlerin zwischen 1982 und 1984 über die Wände von Ausstellungsräumen flattern ließ. Das Lebenswerk Annette Messagers wurde 2014 mit einer Retrospektive in der Kunstsammlung Nordrhein Westfalen in Düsseldorf gewürdigt.6 Die Künstlerin arbeitet fast immer in Zyklen. Die 1974 abgeschlossene Sammlung der Proverbes gehört in den Kontext ihrer frühen Arbeiten. Messager führte zu Beginn ihrer Laufbahn seit ca. 1971 zumindest scheinbar ein Doppelleben, dessen Grundlage sie selbst in der Grundrisszeichnung einer Zweizimmerwohnung verdeutlicht hat. Es gibt Annette Messager artiste, deren Reich das Esszimmer dieser Wohnung ist. Dort werden die Atelierarbeiten getan, während das Schlafzimmer Annette Messager collec­ tionneuse, der Sammlerin, gehört. In beiden Räumen wird produziert, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. Im Atelier unterhält Messager zu Beginn der 1970er Jahre z. B. ein Spatzenpensionat. Ausgestopfte und mit von der Künstlerin selbst gestrickten pastellfarbigen Wollkleidchen angetane Spatzen werden hier sowohl zärtlich umsorgt wie bei vorgeblichem Ungehorsam gelegentlich auf kleinen Streckbänken oder mit Stromstößen gefoltert. Die Behandlungen der Spatzenkinder werden in Form alltagsethnologischer Studien in einer Art Tagebuch festgehalten.7 Im Schlafzimmer hingegen entstehen zahllose Sammel-Alben, die mit Bildern, Zeichnungen und Texten gefüllt sind. Diese erwecken teilweise den Eindruck, es handle sich um persönliche Zeugnisse aus dem Leben der Künstlerin selbst. Diese Sammlungen umfassen z. B. Mes jalousies, eine Serie von Fotografien

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58  Annette Messager, L’appartement d’Annette Messager collectionneuse et d’Annette Messager artiste, Zeichnung, 1971, Paris, Musée National d’Art Moderne.

weiblicher Gesichter, durch „bösartige“ Überzeichnungen von Seiten der Künstlerin durch „Eifersucht“ entstellt, Nähübungen oder Abbildungen der Tortures volontaires, denen der weibliche Körper sich unterwirft, um gängigen Schönheitsvorstellungen angepasst zu

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werden. Bei den verwendeten Fotografien handelt es sich trotz des Possessivpronomens in der ersten Person Singular nicht um Bilder der Künstlerin, wie schnell deutlich wird, sondern vielmehr um gefundene Illustrierten- und Zeitungsfotos, die im Verein mit Zeichnungen, Fundstücken vom Flohmarkt und handschriftlichen Texten ein Sammelsurium bilden, welches Spuren eines realen Lebens ebenso zu tragen scheint, wie es sich aus Klischees und dem Bilderreservoire der Massenmedien speist. Alma-Elisa Kittner hat dieses Verfahren des Sammelns, das den Arbeitsweisen anderer sogenannter Spurensicherer der frühen 1970er Jahre ähnlich ist, als künstlerische Strategie zur Produktion eines multiplen Selbst analysiert.8 Die Proverbes, als sprachliche Fundstücke, sind Bestandteil dieser heterogenen Sammlungen. Die künstlerische Befassung mit Sprichwörtern ist in Frankreich nicht ganz neu.1920 hatten die Surrealisten, deren künstlerische Praxis auch für die Arbeitsweisen Annette Messagers inspirierend gewesen zu sein scheint, eine Zeitschrift unter dem Titel Proverbes gegründet, die in sechs Nummern erschien.9 Es handelt sich dabei um ein, wie der Unter­ titel erläuterte, Feuille mensuelle pour la justification des mots. Herausgeber war Paul Éluard, und das von Apollinaire formulierte Anliegen lautete, der Mensch sei auf der ­Suche nach einer neuen Sprache, über welche die Grammatiker keiner Sprache etwas zu sagen haben.10 Die Surrealisten hatten versucht, das vorgefundene Sprachmaterial, die Strukturen populärer Redensart in parodistischer Entstellung ihrer apodiktischen Geltung zu berauben und so den normativen Anspruch sprachlich sedimentierter Erfahrung zu zerschlagen. Es ging, wie es Tristan Tzara in Heft Nr. 6 der Proverbes formulierte, um eine „concentration de mots, cristallisés comme pour le peuple, mais dont le sens reste nul.“11 Einer solchen Entstellung, etwa durch logischen Nonsens, sind die Sprichwörter Annette Messagers nicht unterzogen. Sprachlich in Takt gelassen sind sie in einer in handwerklicher Hinsicht wenig elaborierten, relativ simplen Sticktechnik auf ungesäumten Baumwolltüchern angebracht. Der einfache Stielstich ist dazu geeignet, Linien anzulegen und wird von Messager benutzt, um in etwas humpelnden Buchstaben, welche Handschriftlichkeit anklingen lassen, die Schriftzüge aufzubringen. „Das Sticken ist ein Verzierungsverfahren, das darin besteht mit Hilfe der Nadel farbige Fäden auf eine gegebene Fläche aufzuheften und damit der Fläche einen dem Auge angenehmen Schmuck zu verleihen.“12 Sticken ist nach dieser Definition des Direktors der höheren Fachschule für Textilkunst in Berlin, Professor Ernst Flemming, in seiner 1923 veröffentlichten Studie über die textilen Künste also notwendig dekorativ; es dient der Verschönerung und damit der Aufwertung von Textilien. Dieses unterscheidet das Sticken von anderen textilen Techniken wie dem Weben oder Stricken, die zwar auch durch ihre Musterung dekorativ sein können und oft kunstvoll gestaltet sind, jedoch zunächst auf die Herstellung eines Gewebes zielen, dessen ästhetische Wertschätzung vom Material und der investierten Kunstfertigkeit abhängt. Das Sticken hat ein solches Gewebe als Trägermaterial immer schon zur Voraussetzung und zielt auf seine Veredelung. Die ältesten ­erhaltenen europäischen Zeugnisse der Stickkunst, mit goldenen Fäden bestickte Seiden-

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besätze der Kleidung aus dem Grab der Königin Arnegunde in St. Denis aus dem 6. Jahrhundert oder die mit bunter Seidenstickerei verzierte sogenannte Kasel in Chelles aus dem 7. Jahrhundert, ebenfalls eigentlich das Gewand einer Königin, legen eindrücklich Zeugnis von der schmückenden Kapazität des Stickens ab.13 Zahllose Beispiele aus kirchlichen und profanen Zusammenhängen demonstrieren, wie elaboriert die Stickkunst seit dem frühen Mittelalter sein konnte, deren stilistische Entwicklung eng mit der anderer bildkünstlerischer Medien, insbesondere aber der Buchmalerei, verbunden ist. Mit Stickereien verzierte Textilien als auszeichnende und zeichenhaft sprechende Einkleidungen von Körpern und Räumen erhoben bis ins 17. Jahrhundert hinein den Anspruch auf Gleichrangigkeit mit Malerei und Skulptur und wurden schon aufgrund ihres materiellen Wertes wie auch aufgrund der in sie investierten Kunstfertigkeit teils höher als diese geschätzt.14 Die in der Kunsttheorie seit der Renaissance bereits angelegte und seit dem 19. Jahrhundert dann verfestigte Differenzierung und Hierarchisierung zwischen den freien und den angewandten, rein dekorativen Künsten, die Unterscheidung von art und craft, high und low, muss im Hinblick auf die Stickerei unter vorindustriellen Produktionsbedingungen als Anachronismus gelten. Die Folgen dieser Unterscheidung wurden bereits im 19. Jahrhundert, etwa von William Morris, einem Begründer der Arts and Craft-Bewegung, kritisiert: I cannot in my own mind quite sever them from those lesser, so called Decorative arts, which I have to speak about: it is only in latter times and under the most intricate conditions of life, that they have fallen apart from one another: and I hold that, when they are so parted, it is ill for the Arts altogether: the lesser ones become trivial, mechanical, unintelligent, incapable of resisting the changes pressed upon them by fashion of dishonesty; while the greater, however they may be practised for a while by men of great minds and wonder-working hands [...] are sure to lose their dignity of popular arts, and become nothing but dull adjuncts to unmeaning pomp, of ingenious toys for a few rich or idle men.15

Wie sehr die Aushegung der textilen Künste aus dem Bereich der hohen Kunst und ihre Klassifizierung als Kunstgewerbe auch mit sozialen und vor allem mit geschlechtsspezifischen Zuweisungen verbunden war, ist von der feministischen Kunstgeschichte nachdrücklich herausgestellt worden.16 Seit dem späten 18. Jahrhundert hatte sich der Mythos von der Weiblichkeit insbesondere des Stickens entgegen aller historischen Evidenz und auch entgegen der Wirklichkeit in den Manufakturen und Textilbetrieben des 19. Jahrhunderts fest etabliert. Die aus dem frühen 14. Jahrhundert aus Frankreich überlieferten Zunftordnungen, die Qualitätsstandards für Material und handwerkliche Ausführung wie auch die Arbeitsbedingungen der Sticker festschrieben, etwa dass sie nur bei Tageslicht arbeiten sollten, legen demgegenüber nahe, dass im Stickereigewerbe Männer und Frauen gleichermaßen tätig und den selben Regelungen unterworfen waren.17 Gestickt, vor allen Dingen professionell gestickt, wurde immer schon von Frauen und Männern, und historisch, jedenfalls wenn es um professionelles Sticken geht, sogar vor allem von Männern.18

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Königin Mathilda, die, während sie auf die Rückkehr von Wilhelm dem Eroberer wartete, in hingebungsvoller Arbeit den über 70 Meter langen, sogenannten Teppich von Bayeux bestickte, stammte aus einem Märchenland romantischer Mittelalterprojektionen, in dem das Bild einer stickenden Königin zum Vorbild für weiblichen Hausfleiß auch bürgerlicher Damen werden konnte. Dennoch ist das Narrativ von der weiblichen Handarbeit, wenn auch unvollständig und verzerrt im Hinblick auf die historischen Tatsachen in der Textilproduktion, nicht nur ­romantische Vision. Georg Friedrich Kerstings Gemälde einer Frau am Stickrahmen zeigt das Wunschbild einer Frau, die eingeschlossen in der häuslichen Sphäre still und fleißig über ihre Stickarbeit gebeugt ist.

59  Georg Friedrich Kersting, Die Stickerin, Öl auf Leinwand, 1812, Weimar, Kunstsammlungen.

Dieses Wunschbild hatte durchaus Wirklichkeitspotenzial. Gerade das Obsolete der häuslichen Stickerei in ökonomischer Hinsicht hatte den Vorteil, dass man fleißig sein konnte, ohne zu arbeiten. Um die häusliche Textilarbeit, vor allem aber das Sticken, hatte sich im 19. Jahrhundert der Diskurs von der Weiblichkeit des Stickens so verdichtet und fest etab-

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liert, dass ein stickender Mann als Irrtum der Natur erscheinen musste, wie umgekehrt eine stickende Frau zu einer natürlichen Sache geworden schien. Die Bildlegende unter dem Sticker von Honoré Daumier, eine Karikatur für den Charivari, lautet: Dies ist ein Beispiel für die Fehler, die der Natur gelegentlich bei der Zuordnung der Geschlechter unterlaufen. So sieht man manchmal sogenannte Frauen, die Hosen tragen oder auch einen Schnurrbart, das Jagdhorn blasen oder den Contrabass spielen und humanitäre Romane schreiben. Man trifft sogar gelegentlich sogenannte Männer, die die Harfe zupfen, Kravatten besticken, und mit Männerhänden den Häkelrahmen bedienen, und im Notfall können sie sogar kochen.19

60  Honoré Daumier, Der Sticker, Karikatur veröffentlicht am 13.11.1840 im Charivari.

Roszika Parker hat in ihrer erstmals 1986 erschienen Untersuchung The Subversive Stitch. Embroidery and the Making of the Feminine die widersprüchlichen Implikationen und Ideologeme der häuslichen Stickerei im viktorianischen Zeitalter herausgearbeitet: den engen Konnex, der zwischen stickender Tätigkeit und weiblicher Tugend konstruiert

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wurde, die disziplinierenden Effekte der Verpflichtung zum Sticken, aber auch das Sticken als eine Domäne weiblicher Kreativität und weiblichen Selbstbewusstseins.20 Parkers Buch ist als Reflex auch auf die feministische Kunstbewegung der 1970er Jahre zu verstehen. In den 1970er Jahren rückten Künstlerinnen mit einem explizit feministischen Anspruch die weiblich codierten Techniken der textilen Handarbeit auf eine neue Art und Weise ins Bewusstsein. Das künstlerische Arbeiten mit Textilien schien die Möglichkeit zu bieten, gleichermaßen die Geschichte weiblicher Kreativität zu würdigen, wie die repressive Einschränkung von Frauen auf den Bereich der Hausarbeit zum Thema zu machen und nicht zuletzt auch etablierte kunstgeschichtliche Kategorien mit ihren geschlechtshierarchischen Zuschreibungen herauszufordern. Als ein prominentes Beispiel für einen solchen, paradox formuliert, „apologetisch-kritischen“ Umgang mit dem Textilen in der Kunst mag die Pattern and Decoration-Bewegung in den USA gelten, zu der Künstlerinnen wie ­Miriam Shapiro gehörten.21 Über ihre eigene künstlerische Arbeit mit textilen Materialien und Techniken schrieb Shapiro: „I wanted to validate the traditional activities of women, to connect myself to the unknown women artists who made quilts, who had done the invisible ‚women’s work‘ of civilization. I wanted to acknowledge them, to honor them.“22 Sicherlich durch die Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Miriam Shapiro in den Programmen für feministische Kunst am Fresno State College und dem California Institute of the Arts zwischen 1970 und 1975 angeregt, hat auch Judy Chicago Textilien zu einem zentralen Bestandteil ihrer Dinner Party gemacht, vermutlich eines der berühmtesten und zugleich umstrittensten feministischen Kunstwerke.23 In der Dinner Party geht es um Aneignung und Bewusstmachung von Frauengeschichte und gleichzeitig darum, eine spezifisch weibliche Formensprache zu entwickeln, die aus dem anatomischen Unterschied der Geschlechter und einer damit angeblich einhergehenden Andersartigkeit weiblichen Erlebens ebenso abgeleitet wird wie aus den spezifischen Lebensbedingungen von Frauen. Die Ambition ist darauf gerichtet, eine Alternative zur männlich dominierten Symbolwelt traditioneller Kunst, eine genuin weibliche Ästhetik zu entwerfen.24 Die Dinner Party entstand zwischen 1974 und 1979 unter der zum großen Teil ehrenamtlichen Mitarbeit von ca. 400 Frauen als eine Art feministisches Manifest. Trotz zum Teil schlechter Ausstellungsbedingungen war es in den USA eines der meistbesuchten zeit­ genössischen Kunstwerke. In Deutschland war Dinner Party aufgrund eines jahrelangen Engagements von vielen Frauen 1987 in der Frankfurter Schirn Kunsthalle zu sehen.25 Das Werk präsentiert sich als Environment, als künstlerisch gestaltetes Raumensemble. Im ­Zentrum eines abgedunkelten Ausstellungsraumes steht ein monumentaler Tisch in Form eines gleichseitigen Dreiecks, der mit Tischtüchern in kostbarer Weißstickerei bedeckt ist. Punktstrahler beleuchten insgesamt 39 Gedecke, bestehend aus einer Platzdecke, einem Keramikteller, einem Pokal und Besteck. Jedes dieser Gedecke repräsentiert eine weibliche Person der Geschichte, von der Urgöttin bis hin zu Georgia O’Keefe. Zu den durch ein solches Gedeck gewürdigten Frauen gehören beispielsweise Trotula und Hildegard von Bingen, Christine de Pizan, Isabella d’Este, die Künstlerinnen Artemisia Gentileschi und

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Anna von Schurman, Mary Woolstonecraft und Virginia Woolf. Die Namen der repräsentierten Frauen sind mit Goldstickerei auf die Platzdecken aufgebracht und die Platzdecken selbst mit Bildern und Symbolen versehen, die sich auf die Frau beziehen, als deren Platzhalter sie fungieren. Darüber hinaus sind sie, soweit möglich, aufwendig in der jeweils angemessenen historischen Handarbeitstechnik gestaltet.

61  Judy Chicago, Dinner Party (Detail), verschiedene Materialien, 1974–1979, New York, Brooklyn Museum of Art, Elizabeth A. Sackler Center for Feminist Art.

Die zugehörigen Teller sind aus handgebrannter Keramik und werden mit zunehmender historischer Nähe der Repräsentierten immer plastischer. Für die Stickereien engagierte Chicago professionelle Stickerinnen.26 Annette Messagers Umgang mit dem Sticken unterscheidet sich grundlegend von dem Judy Chicagos. Ihre Stickereien haben mit der elaborierten Handarbeit, die in der Dinner Party eingesetzt ist, wenig zu tun. Bezugspunkt ist für sie nicht die Kunststickerei. In den mit den Sprichwörtern in handwerklicher Hinsicht recht mangelhaft bestickten Tüchern werden vielmehr häusliche Stickarbeiten aufgerufen, jene gestickten Sprüche und Spruchbilder, deren historische Blütezeit zwischen 1870 und 1930 anzusetzen ist und die in den Haushalten nahezu aller Schichten, Bürger, Bauern und Arbeiter als bestickte Wandschoner, Handtücher, Kastenstreifen, Servietten, Polster und Decken aller Art zu finden waren. Das Repertoire umfasst Fromm-Erbauliches wie Moralisch-Mahnendes. Besonders beliebt waren solche Sprüche, die sich auf die weiblichen Mitglieder eines Haushaltes in ihrer Funktion als Hausfrau und Mutter beziehen. (Farbabb. 15)

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Der oft in ihnen enthaltene Imperativ richtet sich in erster Linie an die fleißige Stickerin selbst. Wenn bei Messager die misogynen Sprichwörter an die Stelle der moralisierenden Sinnsprüche getreten sind, die sich auf die traditionellen Wirkungs- und Erlebnisräume von Frauen beziehen, treten diese als die unabdingbar damit verbundene Kehrseite der geschlechtsspezifisch erhobenen Forderungen an weibliche Tugenden, nach Sorgfalt, Ordentlichkeit und Hausfleiß auf, welche die Näh- und Stickanweisungen in der Regel begleiten. Der Anspruch auf Geltung allerdings scheint in den Stickereien Messagers durch ihre ostentativ unbeholfene Machart, die auf einen Verzicht auf die üblichen Mustertücher schließen lässt, hintertrieben zu sein.27 Noch ein weiterer Assoziationsraum öffnet sich mit den Proverben Messagers. „Quand la fille naît, mêmes les murs pleurent“ – „Wenn ein Mädchen geboren wird, weinen selbst die Mauern“. Bei diesem Satz handelt sich um ein seit dem 18. Jahrhundert in der Auvergne nachweisbares Sprichwort.28 Sein sozialer Kontext ist in der Notwendigkeit zu suchen, ein Mädchen mit einer angemessenen Mitgift und einer Aussteuer ausstatten zu müssen. Die Mauern weinen, weil der Haushalt, vor allem wenn mehrere Töchter geboren werden, durch Mitgift und Aussteuer belastet werden, und das Erbe für die Söhne, die als Stammhalter auch Haus und Land übernehmen, angegriffen werden muss. Die Institution der Ehe, das Heiraten als ein Generator gesellschaftlicher Dynamiken und Anlass zur Erzeugung zahlreicher Artefakte, welche wiederum als materielle Sedimente sozialer Beziehungen und Verhältnisse Zeugnis ablegen können, ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus auch der Geschichtswissenschaften gerückt, als einer der Schlüssel, Geschichte in ihren sozialen Dimension zu verstehen.29 In Südeuropa hat sich zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert ein System der direkten Mitgift in Anknüpfung an die Tradition des römisch-antiken Rechts gegenüber dem älteren System des Brautpreises oder dem der indirekten Mitgift durchgesetzt, das nördlich der Alpen im Gegensatz zur Entwicklung in den mediterranen Ländern noch teilweise lange intakt bleiben sollte.30 Eine Heirat ohne direkte Mitgift war fast überall in Südeuropa spätestens seit Mitte des 14. Jahrhunderts nahezu undenkbar geworden. Das System der Mitgift durchdrang hier die gesamte so­ ziale, politische und mentale Struktur des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit.31 Die Ethnologin Agnès Fine hat die Formen und Modalitäten der Heiratsverbindungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Südwesten Frankreichs untersucht.32 Ihre Untersuchung stützt sich sowohl auf schriftliche Quellen, wie gesetzliche Regelungen und Heiratsverträge, als auch auf die Befragung von vor allem älteren Frauen. Deutlich wird dabei, dass es für junge Frauen noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein undenkbar schien zu heiraten, ohne eine Aussteuer in die Ehe mitzubringen. „Seiner Tochter gab man immer ihr Zimmer, ihre Möbel, oder man musste wirklich sehr arm sein! Selbst die Armen hatten eine Aussteuer.“33 Einer Tochter, die heiratete, eine Aussteuer zu verweigern, hieß, „sie völlig nackt gehen zu lassen.“34 Die Hochzeit konnte erst gefeiert werden, wenn die Aussteuer beisammen war. Für diese war vor allem die Mutter zuständig, wäh-

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rend der Vater die Mitgift bereitstellen musste. Im Gegensatz zur Mitgift, die in das gemeinsame Familienvermögen eingehen konnte, war die Aussteuer alleiniger Besitz der Frau. Sie bestand aus intim mit ihrer Person verbundenen Gütern, über die auch ihr Ehemann keine Verfügungsgewalt hatte. Zentraler Bestandteil waren neben den Schlafzimmermöbeln vor allem Textilien; insbesondere in armen Haushalten bestand sie oft sogar ausschließlich aus einigen wenigen Textilien, Handtüchern und Bettlaken. Leibwäsche und Aussteuerwäsche dienten den Pflichten der Frau im Bett, bei Tage und bei Tisch.35 Alle Stücke waren mit den Initialen des Mädchens gezeichnet und zwar mit denen ihres Mädchennamens. Die Wäsche, mit deren Anschaffung die Mutter oft bereits begonnen hatte, wenn das Mädchen zur Kommunion kam, wurde von den Mädchen selbst bestickt. Dieses eigenhändige Besticken war sogar noch wichtiger geworden, als die sogenannte feine Wäsche  – bezeichnet wird damit die industriell gefertigte und gekaufte Wäsche  – die selbstgewobene und geschneiderte Wäsche vollständig verdrängt hatte. Seine Wäsche zeichnen heißt, seine Regel haben; der Ausdruck umschreibt klar das biologische Ereignis, und die Mädchen „zeichnen“ in jenem Jahr buchstäblich ihre Wäsche mit ihrem Blut. [...] sobald die jungen Mädchen beginnen, periodisch ihre Wäsche mit Blut zu „zeichnen“, fangen sie auch an, ihre Aussteuer mit Kreuzstichen aus rotem Garn zu kennzeichnen.36

Die jungen Frauen identifizierten sich mit ihrer Aussteuer, indem sie Zeit und ihre Hand­ arbeit in sie investierten. Der Stolz auf eine schöne, seltener auf eine reiche, Aussteuer ist in vielen Äußerungen deutlich spürbar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürften Mitgift und Aussteuer sowie damit verbundene Praktiken und Vorstellungswelten selbst im ländlichen Frankreich keine große Bedeutung mehr gehabt haben. Die Erinnerung ­daran allerdings war, wie die Untersuchung von Fine zeigt, noch deutlich präsent und Reste dieser Praktiken sind in abgewandelter Form noch in heutigen Gewohnheiten zu erkennen.37 Es hat etwas Boshaftes und Doppelbödiges, wenn Annette Messager sich die misogyne Weisheit der von ihr gesammelten Sprichwörter in Technik und Material einer weiblichen Lebenswelt zu eigen macht, in der diese Materialien und Techniken gleichermaßen die starren sozialen Optionen für Frauen verkörpern, wie sie der symbolischen und materiellen Vergewisserung einer eigenen weiblichen Identität dienten. In dieser Doppelbödigkeit jedoch kollabiert die Autorität sowohl der sprichwörtlichen Weisheit wie die des Platzverweises für Frauen an den Stickrahmen, der zum Stillsitzen zwingt und zu einem geneigten Kopf, in dem die Unterwerfung unter das weibliche Rollendiktat der tugendhaften, fleißigen und bescheidenen Hausfrau ihren symbolischen Ausdruck findet. Textile Techniken haben seit einigen Jahren in der Kunst erneut Konjunktur.38 Textilien werden auch aktuell von Künstlerinnen und Künstlern eingesetzt, um traditionelle Hie­ rarchien im europäischen Kanon der Kunstgeschichte zu hinterfragen, Geschlechterstereo­ typen zu kommentieren und hegemoniale Konzepte von Körper und sozialer Rolle aus­

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zuhebeln sowie im globalen Medium des Textilen Begrenzungen und Grenzen zu thema­tisieren und in postkolonialer Perspektive in Frage zu stellen.39 Mike Kelley äußerte: Later, when I started working with other crafts, especially sewn materials, I knew that a lot of people would immediately see that as a critical act, as some kind of play with feminist art tropes, for example, although that was not my intention. Those materials were more loaded because they were not „natural“ to me as a male artist, and I wanted to try to deal with that, to work against such essentialist notions.40

Eine Künstlerin, die ebenfalls stickt, ist Ghada Amer. Seit 1988 hat die aus Ägypten stammende Künstlerin das Sticken zu ihrem wichtigsten Ausdruckmittel gemacht. Als Vorlagen dienen ihr nicht Stickmustertücher, sondern Werbefotografien, Spielzeugfiguren sowie Mode- und Pornomagazine, auf deren Stereotypen und Klischees sie mit ihren Arbeiten reagiert.41 Auch sie stickt, wenn man so will, nicht besonders gut. Das Stickbild wird durch lose herabhängende Fäden – bei einer ordentlichen Stickarbeit unbedingt zu vermeiden – nachdrücklich gestört. Dies lässt sich als Geste verstehen, als Widerstand gegen die traditionelle Codierung des Stickens als Produkt tugendhaften weiblichen Hausfleißes auffassen. Ob allerdings die in ihren nachlässig gestickten Pin-Up-Girls plakative Offenlegung einer ehemals eher diskreten Sexualisierung des Stickens eine ähnliche Kraft subversiver Ironie zu entfalten vermag, wie Anette Messagers Sprichwörter es vermögen, mag bezweifelt werden.

Anmerkungen 1

Vgl. Archer Taylor, The Wisdom of Many and the Wit of One, zuerst in: Swarthmore College ­Bulletin 54, 1962, S. 4–7, wieder abgedruckt in: The Wisdom of Many. Essays on the Proverb, hrsg. von Wolfgang Mieder und Alan Dundes, Madison/Wisconsin 1981, S. 2–9, hier S. 3.

2

Deutsche Sprichwörter und Redensarten, hrsg. von Wolfgang Mieder, Stuttgart 2002, Einleitung, S. 17.

3

Annette Messager, Meine Sprichwörter, in: Annette Messager. Die Fortsetzungsromane mit An­ nette Messager Sammlerin, Annette Messager praktische Hausfrau, Annette Messager trickreiche Frau, Annette Messager Künstlerin, Ausst.-Kat. (Bonn, Rheinisches Landesmuseum, 1978), hrsg. von Klaus Honnef, Köln 1978, S. 44.

4

Übersetzungen B. U.

5

Explizit grenzt sich Annette Messager im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks von der in ihren Augen männlich konnotierten „Reinheit und Härte“ der Concept Art der 1970er Jahre ab. Vgl. An­ nette Messager im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, Köln 2001, S. 31.

6

Annette Messager. Exhibition/Exposition, Ausst.-Kat. (Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. K 21 Ständehaus, 2014/2015), hrsg. von Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, München 2014.

7

Die umsorgten wie misshandelten Spatzenbälge werden heute in gläsernen Vitrinen im Centre Pompidou ausgestellt. Zum Einsatz von Tierpräparaten in der Kunst grundlegend Petra LangeBerndt, Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850–2000, München 2009.

8

Alma-Elisa Kittner, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, ­Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009.

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 9 Die sechste und letzte Nummer erschien am 1. Juli 1921. Zu den surrealistischen Wortspielen mit den Proverbien und der gleichnamigen Zeitschrift vgl. Dominique Baudouin: Jeux de mots surréa­ listes. L’expérience du proverbe, in: Symposium. A Quarterly Journal in Modern Literatures 24, 1970, Heft 4, S. 293–302. 10 „[...] l’homme est à la recherche d’un nouveau langage/Auquel le grammairien d’aucune langue n’aura rien à dire.“ Guillaume Apollinaire, La Victoire, zit. nach http://www.toutelapoesie.com/ poemes/apollinaire/la_victoire.htm [letzter Zugriff 30.1.2018]. 11 Tristan Tzara, Proverbe Dada, in: Proverbes 6, 1921, S. 3. Zit. nach Blue Mountain Project. Historic Avangarde Periodicals for Digital Research, http://bluemountain.princeton.edu/bluemtn/cgi-bin/ bluemtn?a=d&d=bmtnabl19200701-01.1.3&e=-------en-20--1--txt-txin------- [letzter Zugriff 30.1.2018]. Siehe dazu auch Michel Sanouillet, Dada à Paris, Paris 2005, S. 217. 12 Ernst Flemming, Textile Künste. Weberei, Stickerei, Spitze. Geschichte, Technik, Stilentwicklung, Berlin 1923, S. 278. 13 Es handelt sich bei der Kasel von Chelles um ein Gewand der Königin Bathilde, Witwe des Merowingers Chlodwig II., die nach dem Tod ihres Gatten veranlasst worden war, sich in das Kloster Chelles zurückzuziehen. Vgl. Leonie von Wilckens, Die textilen Künste. Von der Spätantike bis um 1500, München 1991, S. 173. 14 Silke Tammen, Textil, in: Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, hrsg. von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt, München 2002, S. 217–224, hier S. 217–218. 15 William Morris, Selected Writings and Designs, hrsg. von Asa Briggs, London 1962, S. 84. 16 Vgl. z. B. Rozsika Parker und Griselda Pollock, Old Mistresses. Women, Art, and Ideology, London 1981, bes. Kapitel 2: Crafty Women and the Hierarchy of the Arts, S. 50–81. Siehe auch Um-Ord­ nungen. Angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne (Publikation der 6. Kunsthistorikerinnentagung: Marginalisierung und Geschlechterkonstruktion in den Künsten, Trier 1996), hrsg. von Cordula Bischof und Christina Threuter, Marburg 1999. 17 Carola Hicks, The Bayeux Tapestry  – The Life Story of a Masterpiece, London 2007, S. 52–53; Geschichte der Textilkunst, hrsg.von Herriet Bridgeman und Elizabeth Drury, Ravensburg 1978, S. 85. 18 Die Namen einiger berühmter Sticker, die als Hofkünstler tätig waren, sind vor allem aus dem 16. Jahrhundert sowohl für Frankreich wie für Italien belegt. Bridgeman und Drury (Anm. 17), S. 87–89, S. 137–138. 19 Der Text lautet im Original: „LE BRODEUR. Exemple des erreurs que commet parfois la nature dans l’étiquette des sexes. Ainsi, de même qu’on voit de soi-disant femmes qui portent la culotte, une façon de moustaches, qui jouent du cornet-à-piston, de la contre basse, ou qui composent des romans humanitaires; de même on voit de soi-disant hommes, qui pincent de la harpe, ourlent des cravattes, brodent au tambour avec leurs mains d’homme, et qui au besoin, font un peu de cuisine.“ Die Karikatur wurde als Teil einer Monomanes überschriebenen achtteiligen Serie am 13.11.1840 im Charivari publiziert. Die Eigenbrödler, so die deutsche Übersetzung, erschienen in einem Zeitraum zwischen dem 25.10.1840 und dem 5.3.1841. 20 Rozsika Parker, The Subversive Stitch. Embroidery and the Making of the Feminine, London 1984. 21 Norma Broude, The Pattern and Decoration Movement, in: The Power of Feminist Art. The Amer­ ican Movement of the 1970s. History and Impact, hrsg. von Norma Broude und Mary D. Garrard, New York 1994, S. 208–225. 22 Miriam Shapiro, Notes for a Conversation on Art, Feminism, and Work, in: Working it out. 23 Women Writers, Artists, Scientists, and Scholars Talk about their Lives and Work, hrsg. von Sara Ruddick und Pamela Daniels, New York 1977, S. 296. 23 Judy Chicago, The Dinner Party. A Symbol of our Heritage, New York 1979.

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24 Die ontologisierende Bezugnahme auf den weiblichen Körper und deren Verknüpfung mit der Kunstproduktion von Frauen wird in einem von Judith Chicago und Miriam Schapiro gemeinsam verfassten und 1973 erstmals publizierten Text deutlich: „What does it feel like to be a woman? To be formed around a central core and have a secret place which can be entered and which is also a passageway from which life emerges? What kind of imagery does this state of feeling engender?“ Judy Chicago und Miriam Schapiro, Female Imagery, zuerst in: Womanspace Journal (1973), S. 11–17, wieder abgedruckt in: The Feminism and Visual Culture Reader, hrsg. von Amelia Jones, London/New York 2010, S. 53–56. 25 Judy Chicago. Dinner Party, Ausst-Kat. (Frankfurt, Schirn Kunsthalle, 1987), hrsg. von Christoph Vitali, Frankfurt/Main 1987. 26 Hier ist nicht der Ort die zahlreichen symbolischen und ideologischen Implikationen und Resonanzen der Dinner-Party aufzufächern. Das publizistische und auch kunsthistorische Echo auf dieses Kunstwerk war laut, und die Einschätzungen im Hinblick auf die dort entwickelten künstlerischen und politischen Strategien gingen auch unter Feministinnen weit auseinander. Von den einen als Feier des weiblichen Beitrags zur Geschichte bejubelt, tappte Chicago mit ihrer Arbeit für andere in die Falle eines die Geschlechterdifferenzen und Hierarchien zementierenden Essentialismus und strandete mit den künstlerischen Verfahren und dem ästhetischen Konzept im Kitsch sentimentaler Verklärung geschlechtsspezifischer Stereotypen. Zur widersprüchlichen Rezeption der Dinner Party vgl. Sexual Politics. Judy Chicagos Dinner Party in Feminist Art History, hrsg. von Amilia Jones, Berkeley/Los Angeles/London 1996; in apologetischer Sicht auf das Kunstwerk Judith E. Stein, Collaboration, in: Broude und Garrard 1994 (Anm. 21), S. 226–245, bes. S. 226–230. 27 Matilda Felix, Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegenwart, Bielefeld 2010, S. 58. 28 Henry Noël, Quand la fille naît, même les murs pleurent, Saint Etienne de Fourgeres 2014. 29 Vgl. Deborah L. Krohn, Marriage as a Key to Understanding the Past, in: Art and Love in Renais­ sance Italy, Ausst.-Kat. (New York, Metropolitan Museum of Art, 2008), hrsg. von Andrea Bayer, New Haven/London 2008, S. 9–15. Grundlegend zu den Szenarien des Gaben- und Gütertausches anlässlich von Heiraten vgl. Bridewealth and Dowry, hrsg. von Jack Goody und S. J. Tambiah, Cambridge 1973. 30 Diane Owen Hughes, From Brideprice to Dowry in Mediterranean Europe, in: Journal of Family History 3, 1978, S. 263–296. 31 Christiane Klapisch-Zuber, Griselda. Mitgift und Morgengabe, in: dies., Das Haus, der Name, der Brautschatz. Strategien und Rituale im gesellschaftlichen Leben der Renaissance, Frankfurt/Main 1995, S. 52–80, hier S. 53. 32 Agnès Fine, Die Aussteuer – Teil einer weiblichen Kultur?, in: Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, hrsg. von Alain Corbin, Arlette Farge, Michelle Perrot u. a., Frankfurt/Main 1989, S. 161–198. Die folgenden Ausführungen zur Bedeutung und Gestaltung der Aussteuer im südlichen Frankreich stützen sich im Wesentlichen auf diesen Text. 33 Zit. nach Fine 1989 (Anm. 32), S. 163–164. 34 Zit. nach Fine 1989 (Anm. 32), S. 164. 35 Yvonne Knibiehler, Leib und Seele, in: Geschichte der Frauen, hrsg. von Georges Duby und M ­ ichelle Perrot, Bd. 4: Das 19. Jahrhundert, hrsg. von Geneviève Fraisse und Michelle Perrot, Frankfurt/ Main 1997, S. 373–415, hier S. 411. 36 Yvonne Verdier, Façons de dire, façons des faire. La laveuse, la couturière, la cuisinière, Paris 1979, S. 187–188. 37 Fine 1989 (Anm. 32), S. 168. 38 Auch die Kunstgeschichte interessiert sich seit einiger Zeit verstärkt für Textilien in der Kunst. Dieses hat sich in Deutschland in einer Reihe wichtiger Ausstellungen und Kataloge niederge-

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schlagen. Vgl. z. B. Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Kunst der Moderne von Klimt bis heute, Ausst.-Kat. (Wolfsburg, Kunstmuseum, 2013, und Stuttgart, Staatsgalerie, 2014), hrsg. von Markus Brüderlin, Ostfildern 2013. Verwiesen sei auch auf die Schriftenreihe Textile Studies, hrsg. von Tristan Weddingen. 39 Birgit Haehnel, Textilien im globalen Kontext, in: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 52, 2011, Stoffe weben Geschichte(n). Textile Kunstmaterialien im transkulturellen Vergleich, hrsg. von Birgit Haehnel und Marianne Koos, S. 6–16. 40 Mike Kelley im Gespräch mit Isabelle Graw, in: Mike Kelley, hrsg. von John Welchman, Isabelle Graw und Anthony Vidler, London 1999, S. 15–16, zit. nach Tammen 2002 (Anm. 14), S. 223. 41 Zu Ghada Amers Stickarbeit ausführlich Felix 2010 (Anm. 27), bes. S. 97–107.

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Olga Moskatova

Zum Unzeitgemäßen des Handgemachten? Kameralose Filmpraktiken zwischen Malen mit Licht und „Full Body Film“

Der britische Anthropologe Tim Ingold hat kürzlich bemerkt, dass die Aussage, etwas sei handgemacht, ehemals als selbstverständlich schien, heute indessen ein Distinktionsmerkmal darstellt.1 Mit Blick auf maschinell hergestellte Artefakte können manuell ausgeführte Fabrikationen mit Exklusivität und Authentizität aufgeladen werden oder unzeitgemäß anmuten, als Do-it-yourself-Kultur zelebriert oder als technisch ineffizient herabgesetzt werden. Zweifellos lässt sich aber das Handgemachte nicht in ästhetischen Produktions­ zusammenhängen ignorieren, die traditionell in Absetzung dazu theoretisiert und diskur­ siviert wurden: den mechanischen Bildherstellungsverfahren des Films. Zwar dürfte die gänzliche Abwesenheit der Hand in filmischen Produktions- und Postproduktionspro­ zessen schwer zu postulieren sein, gleichwohl reichen die entsprechenden prozeduralen Unterschiede, um eine Filmpraktik in ihrer Eigenständigkeit ins Leben zu rufen: den handgemachten Film. Zahlreiche experimentelle Filmemacher_innen haben im 20. Jahrhundert den Filmstreifen  – unter Umgehung der optochemischen, kameragestützten Aufzeichnungsprozesse – direkt bemalt, beschriftet, in diesen hineingeritzt, ihn durchlöchert oder anderweitig manuell manipuliert bzw. den Filmstreifen wie eine Mal-, Schreib- oder Zeichenfläche behandelt. Die Evokationen der Hand und des Taktilen tauchen allerdings auch in anderen kameralosen Bild- und Tonherstellungsverfahren auf, die in ihrer Tendenz eher als autogenerativ oder selbsttätig zu bezeichnen wären. Zu Letzteren können vielfältige Experimente mit Vergrabungen, Verwitterungen, Marinierungen in Nahrungs- und Haushaltsmitteln, chemischen oder thermischen Behandlungen der Filmstreifen genauso gezählt werden wie fotogrammatische Belichtungen oder Abdruck- und Stempelver­ fahren. Solche Praktiken und ihre unzähligen Kombinationen ziehen sich verstreut durch die Geschichte des experimentellen und avantgardistischen Films hindurch. Ohne diese Geschichte an dieser Stelle im Einzelnen konturieren zu wollen, hilft es herauszustellen, dass die kameralosen Praktiken in den letzten 15 Jahren eine regelrechte internationale Renaissance und Popularität erfahren. Zeitgenössische Filmemacher_innen greifen dabei bereits bestehende Verfahren auf, transformieren und kombinieren sie, fügen neue hinzu. Eine dieser für den Film neuartigeren Praktiken stellt der Rückgriff auf den eigenen „Körper

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als Ressource“2 dar. Filmemacher_innen wie Emma Hart, Thorsten Fleisch, Jennifer West, Susann Maria Hempel, Vicky Smith, Asnan Adams, Louise Bourque u. v. m. beschmieren dabei den Filmstreifen direkt mit eigenem (Menstruations-)Blut, Tränen, Schweiß oder Spucke, bekleben ihn mit den Fragmenten der eigenen Haut, hinterlassen Kuss- und Bissabdrücke oder legen ihn in Körperflüssigkeiten wie Urin ein. Die konkreten Operationen changieren dabei zwischen Abdruck, manuellem Auftrag und Sich-selbst-Überlassen. Gabriele Jutz hat in ihrer alternativen Genealogie der Avantgarde, zu der sie auch grundlegend kameralose Praktiken zählt, diese über die Begriffe des „Obsoleten“ und des „Unzeitgemäßen“ zu bestimmen versucht. Dabei verwendet sie beide Begriffe fast synonym, um zugleich materielle und technologische Aspekte zu adressieren.3 Ihre Argumentation zielt dabei vorrangig darauf, im Anschluss an Bernd Hüppauf und Vivian Liska das Avantgardistische aus der einseitigen Konzeption der Zukunftsgerichtetheit und der Neuheit herauszulösen und die Avantgarde als etwas Unzeitgemäßes, als etwas, das per Definition aus der eigenen Zeit herausfällt, darzulegen.4 Dieses Herausfallen aus der Zeit impliziert nicht nur eine Opposition zur eigenen Gegenwart, sondern schließt auch einen Vergangenheitsbezug ein und fasst das Unzeitgemäße somit doppelt: „als anachronistische Herausforderung und herausfordernde[n] Anachronismus“5. Jutz knüpft daran auch das kritische und utopische Potenzial des Obsoleten in dem Maße, wie die kameralosen Praktiken dezidiert die technologischen Standards der jeweiligen Zeit unterschreiten und auf überholte Technologien oder das materiell Ausrangierte und Verworfene zurückgreifen, um aus der Revalidierung des Obsoleten eine neue Zukunft entwerfen zu können.6 Sie schließt damit aber nicht nur an Hüppaufs und Liskas Nietzsche-Interpretation an, ­sondern verbindet es zugleich mit Verweisen auf Walter Benjamins Erlösungsgedanken des Obsoleten und Rosalind E. Krauss’ Konzeption der Neuerfindung des Mediums im Rückgriff auf überholte Medientechnologien. Jutz betont, dass es nicht ausreiche, dies als Fortleben des Alten im Neuen zu denken. Vielmehr gelte es im Moment des Veralterns der Technik, ihres Wertloswerdens als Gebrauch und Ware, die ehemals daran geknüpften kollektiven Phantasien und Wunschsymbole sichtbar zu machen und zu entzaubern und zugleich diese Macht der Verzauberung für die Kritik zu retten.7 Die Aufwertung des ­Obsoleten und Unzeitgemäßen hat allerdings zur Voraussetzung, dass diese zunächst ­ihrerseits gewissermaßen bereinigt werden – von der industriell geplanten Obsoleszenz, die das Wertloswerden im Dienste der Waren produziert, genauso wie von dem Verdacht nostalgischer „Verklärung“. Zugleich vollzieht sich diese Aufwertung dadurch, dass das avantgardistische Narrativ des Neuen auf Basis des  – nicht minder diskursmächtigen  – ­Narrativs des Widerständigen ausgehebelt werden soll. Freilich lassen sich gegen die Verlängerungen der Avantgardediskurse und -begriffe Einwände einbringen: Nichts ist hartnäckiger und problematischer als der andauernde Versuch, die Filmavantgarde aus dem Oppositionellen und Kritischen heraus zu be­ stimmen. Dieser hat in der Filmtheorie leider zu einer Reihe von Einseitigkeiten und Vereindeutigungen geführt, die eine Auseinandersetzung eher erübrigen als befördern.

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­Gabrielle Jutz’ alternative Geschichte ist indessen sehr differenziert, und ihr korrektives filmhistorisches Potenzial soll keineswegs geschmälert werden. Doch behandelt ihre ­Arbeit aus dem Jahre 2010 kaum die Analog-Digital-Debatte, in der das bei Jutz gegen ­lineare Zeitkonzepte gerichtete Obsolete eine teleolo­gisierende Wendung erfährt. Überdies werden viele ihrer diskutierten Konzepte – konträr zur Position der Autorin – in eine Argumentation der Reinheit und Medienspezifik eingebunden.8 Denn die Renaissance der kameralosen Praktiken scheint den Schluss nahezulegen, dass hierin eine symptomatische Reaktion und Auseinandersetzung mit den Verschiebungen von analoger zur digitalen Technologie zum Ausdruck kommt. Auf ihre Un-Zeitgemäßheit lassen sich diese vorapparativen Praktiken somit nicht nur mit Blick auf analoge Kameraaufzeichnungen befragen, sondern auch daraufhin, wie sie sich in den technologischen Wandel fügen oder nicht ­fügen. Aus dieser Perspektive bekommt die Bestimmung, mithin die Rettung9 des Avantgardebegriffs mit Hilfe der Idee des Unzeitgemäßen etwas durch und durch Zeitgemäßes. In der Tat ist die These, dass die kameralosen Filme und ihre Beschäftigung mit der Materialität des Filmstreifens die apparative Geschichte und Zukunft des analogen Films verhandeln, bereits unter unterschiedlichen Aspekten international diskutiert worden.10 Um den Filmstreifen im Allgemeinen und die kameralosen Praktiken im Besonderen hat sich ein regelrechter Diskurs der Obsoleszenz und mithin der analogen Nostalgie herausgebildet. Neben Filmwissenschaftler_innen beteiligen sich die Filmemacher_innen an dieser Debatte und lokalisieren sowohl in eigens verfassten Paratexten zum Film als auch in Filmen selbst ihre Praktiken explizit als Gegengewicht zum Digitalen, wie noch zu zeigen sein wird. Diese Debatte über Obsoleszenz und Unzeitgemäßheit rekurriert ebenfalls regelmäßig auf die Argumentationsfiguren der Widerständigkeit, Kritik und Neuerfindung des Mediums – allerdings ohne Jutz’ besondere Vorsicht gegenüber Reinheitsvorstellungen, Reauratisierung und einem linearen Zeitbegriff, den die Rede von der Veralterung implizieren kann. So sieht etwa der Filmkünstler Bradley Eros in der analogen Kultur eine „politics of resistance“11 am Werke, die sich gegen den kapitalistischen Konsumzwang und die Marketingstrategien des Immer-Neuen und der geplanten Obsoleszenz richte, und zwar unter Inkaufnahme der damit einhergehenden Diskriminierung der Filmemacher, die noch analog arbeiten, sowie der nostalgisch-fetischisierenden Dimensionen.12 Die Film­ wissenschaftlerin Kim Knowles bemerkt im selben Ton, dass die kameralose Filmpraxis, insbesondere die neuen Körperfilme, dem „linear film-to-digital narrative“13 widerstehen, nur um im gleichen Zuge mit dieser Feststellung Todesnarrative des Analogen mit seinen Medienspezifika zu verknüpfen.14 Die britische Filmemacherin Vicky Smith, die selbst ­kameralose Filme mit Spucke und Tränen produziert hat, argumentiert in Bezug auf dieselben Körperfilme wie Knowles und fügt dem darüber hinaus das Krauss’sche Konzept der Neuerfindung des Mediums hinzu.15 Dabei ist festzuhalten, dass die Umstellung auf digitale Produktions-, Postproduktionsund Projektionsprozesse faktisch mit dem Schließen von beispielsweise 16-mm-Ent­wick­ lungslaboren und mit den sukzessiven Produktionsstopps bestimmter Formate und Film-

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streifenarten einhergeht. Das bringt tatsächliche produktionsästhetische Herausforderungen mit sich und provoziert auch interessante wie überraschende Umwege in der ­konkreten Praxis. Die soziotechnischen Verschiebungen lassen sich nicht einfach wegdiskutieren. Die Frage nach dem Unzeitgemäßen des analogen Films zu stellen, ist vor diesem Hintergrund genauso naheliegend wie gefährlich. Letzteres ist sie nicht nur deshalb, weil sich dabei immer die Gefahr monokausaler Lesarten der ästhetischen Praktiken einschleicht, die in ihren vielfältigsten Varianten permanent auf einen Sachverhalt bezogen werden. Bedenklich stimmt auch die Beobachtung, dass die spezifische Diskursivierung des Kritischen und Widerständigen genau auf den Prämissen aufbaut, gegen die sie sich richtet: nämlich auf Vorstellungen des Identischen und der Linearität. Dies lässt sich insbesondere an der Problematik der Hand und des Taktilen beleuchten und mit einem Zitat der amerikanischen Filmwissenschaftlerin Tess Takahashi einleiten: The current cinematic avant-garde’s interest in celluloid’s materiality goes to the heart of our culture’s current anxiety about the digital ability to seamlessly transcode, endlessly reproduce and recklessly disseminate images of all stripes. Under present conditions, celluloid film’s indexical image, unlike digital information, can be touched, cut, held up to the light and observed by the naked eye. Film’s comparatively material status also harkens back to earlier assurances, in which a painter’s touch produces an impression of artistic presence or a photographer gives witness to an image capture.16

Bemerkenswert an dieser Diagnose sind die Ansatzpunkte, an denen das Verhältnis von Analogem und Digitalem verhandelt wird. Zunächst beruft sich Takashashi auf das mittlerweile überstrapazierte Indexikalische, das sowohl in der Film- als auch in Fototheorie zu dem Medienspezifikum des Analogen in Abgrenzung zum Digitalen schlechthin avanciert.17 Dazu gesellt sich die Implikation, dass man das Digitale tendenziell als immateriell begreifen müsse. Angesichts der Beobachtung, dass der analoge Film früher und lange Zeit selbst so gedacht wurde, lässt sich die These aufstellen, dass der analoge Film in breiten Kreisen erst mit der Digitalisierung diskursiv materiell wurde. Die Verhandlung beginnt demnach zunächst mit der Zuschreibung und Verteilung von Identitäten und Eigenschaften, die empirisch und theoretisch überaus fraglich sind. Von Interesse ist darüber hinaus der Rekurs auf die Hand, die im Folgenden als eine zugleich den Diskurs stützende und unterminierende Figur ins Spiel gebracht werden soll, und zwar am Beispiel der Endsequenz aus Peter Tscherkasskys fotogrammatischen Film Dream Work.18

Symptome der Hand Peter Tscherkassky hat eine Reihe von Filmen in der Dunkelkammer hergestellt, für die gefundenes Material zum Einsatz kam, das dann kameralos reorganisiert wurde. Dream Work greift dabei auf den amerikanischen, mit dem Breitwandverfahren CinemaScope

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produzierten Horrorfilm The Entity19 zurück, der lichtcollagiert und mit Zitaten von Man Rays fotogrammatischen Objekten aus dem Film Le Retour à la Raison20 – wie Reißzwecken, Nägeln oder Salz – konfrontiert wird. Für die fotogrammatischen Verfahren, wie sie seit László Moholy-Nagy genannt werden, und die Man Ray selbst als „rayogrammatisch“ bezeichnet, werden Objekte in der Dunkelkammer direkt auf den Filmstreifen gelegt und dann belichtet. Es handelt sich um Kontakt- und Negativbilder, bei denen lichtundurchlässige Objekte später im Bild hell und die beleuchteten Partien schwarz erscheinen. Tscherkassky hat diese Technik auch auf gefundenes Material ausgedehnt und dieses einem mehrstufigen Kontaktkopierprozess unterzogen. Die Endsequenz des Films zeigt hierbei in selbstreflexiver Manier einen Teil der fotogrammatischen Produktionsprozesse: Reißzwecken werden auf dem Filmstreifen, der auf einem Leuchttisch ausgebreitet ist, manuell angeordnet, die Ergebnisse der Belichtungs- und Entwicklungsprozeduren mit Hand und Schere geschnitten.

62 und 63  Handarbeit in Peter Tscherkasskys Dream Work, 2001, Film Still.

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Zugleich führt die Sequenz durch eine Art von Vor- und Zurückspulen die Bildwerdung der Objekte vor und macht diese anschließend wieder rückgängig. Vergegenwärtigt man sich bestimmte Foto- und Filmdiskurse – etwa bei Rosalind E. Krauss, Philippe Dubois und David N. Rodowick – dann fällt auf, dass das Fotogramm das Paradigma für die fotografischen und filmischen Bilder – und d. h. in diesem Falle gerade die selbsttätigen, ohne Menschenhand gemachten – abgibt.21 Wie u. a. Christoph Hoffmann gezeigt hat, liefert häufig explizit das Fotogramm das Modell, mit dem die Indexikalitätsansprüche der optochemischen Bilder ganz allgemein gestützt werden sollen.22 Genau diese Praktik des Fotogramms wird nun in Dream Work ausgerechnet als Handarbeit präsentiert. Ein Kommentar von Christa Blümlinger zu dieser Sequenz folgt hierbei einer ähnlichen Argumentationslogik, wie sie Tess Takahashis Zitat entfaltet, indem sie die Besonderheit des analogen Bildes als indexikalisches in Absetzung vom Digitalen betont, und zwar in einem Zug mit dem taktilen und manuellen Aspekt, der auf das Handwerk­ liche zielt. Die abgekürzten Initialen von Peter Otto Emil Tscherkassky zu P.O.E.T. liest die Autorin im aristotelischen Sinne der Poiesis und zugleich als Handarbeit: Der taktile ­Aspekt des Fotogramms, als Kontaktbild, und die Hand als Organ der Berührung fallen hier in der „Aura des Abdrucks“ zusammen.23 Tscherkassky, so Blümlinger weiter, verteidige „eine Idee der Spur, die das Bild im Zeitalter der Digitalität zu verlieren droht.“24 Und paradigmatisch formuliert die Autorin: „Es steht in diesen Avantgardefilmen nichts weniger als die Rettung der Aura des Zelluloids auf dem Spiel.“25 Interessanterweise wird so diskursiv ein neues Bündnis zwischen analogen mechanischen und manuellen Bildver­ fahren hergestellt, die lange Zeit in ihren jeweiligen Spezifika voneinander abgegrenzt wurden, um nun gemeinsam gegen die ‚Bedrohung des Digitalen‘ anzutreten. Dies wirft die Frage auf, inwiefern hier eine Umcodierung stattfindet. Sie kann mit einem Ja und Nein zugleich beantwortet werden. Tscherkasskys Film ist diesbezüglich auf Grund seiner Ambivalenzen aufschlussreich. Zum einen hat bereits Moholy-Nagy die Fotogramme als Malen mit Licht charakterisiert und sie so in Analogie zu manuellen Verfahren gesetzt, obwohl er sie ­davon eigentlich abgrenzen wollte.26 Kunstkritiker dieser Zeit, wie Ernst Kállai, und zeitgenössische Autoren, wie Tobias Wilke oder Anne Hoorman, haben ebenfalls die handwerklichen Aspekte der Fotogrammpraxis im Vergleich zur Kameraaufzeichnung herausgestellt.27 Insgesamt lässt sich anmerken, dass Oppositionsbildungen wie ­manuell und mechanisch gemessen an den konkreten Praxisvollzügen und ihren vielfäl­ tigen Logiken schon immer zu kurz gegriffen haben, was auch für die Abgrenzung von analog und digital mit gleichem Recht zu sagen wäre. Es ist dabei hilfreich, nicht nur diesen Filmausschnitt, sondern auch die konkreten Produktionsverfahren von Dream Work detaillierter anzuschauen. Die Grundzüge der operativen Vorgehensweise sind wie folgt: Auf einem 15 cm breiten Nagelbrett werden unbelichtete, orthochromatische 35-mm-Filmstreifen von ca. ­einem Meter Länge fixiert. Auf diesen wird sukzessive das gefundene CinemaScope-Material geschichtet und belichtet, wobei insbesondere zwei Lichtquellen zum Einsatz kommen:

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ein Standardfotovergrößerungsapparat und ein Laserpointer. Der Vergrößerungsapparat erlaubt eine simultane Umkopierung von ca. 18 Einzelkadern28 unter gleichen Bedingungen, während mit dem Laserpointer eine manuelle Umkopierung Kader für Kader und sogar von Teilen der Kader möglich ist.29 Die Hand ist bei der Arbeit mit dem Laserpointer nicht nur als Arrangeur involviert, wie in der Endsequenz des Films, vielmehr wird hier buchstäblich mit dem Licht hantiert, werden einzelne Bild- und Tonfragmente manuell isoliert. Es geht dabei weniger um die persönliche Handschrift als um manuell ausgeführte Prozesse der Selektion und Belichtung, wobei derart drei Aspekte des Fotogrammatischen ko-existieren: Fotogramme von Objekten und Fotogramme von Filmstreifen im simultanen und manuell sukzessiven Kontaktkopierverfahren. Acheiropoietische und handgemachte Aspekte schließen sich nicht aus, sondern liegen in unterschiedlichen Abstufungen zugleich vor. Aus der Perspektive der konkreten Praxis und ihrer ausgewählten, insbesondere ­äl­teren Beschreibungen der Einzelbilder findet demnach keine gravierende Umcodierung statt. Sie lässt sich jedoch in den aktuellen Diskursivierungen des Films feststellen. Das Taktile, die Berührung und die Hand werden im Analog-Digital-Diskurs der kameralosen Filme immer wieder auch unabhängig von der konkreten Praxis als Gegengewicht zum Digitalen in Anschlag gebracht. Es lässt sich sogar pointieren, dass sich in dieser Debatte um die Hand und das Taktile ein Narrativ des Unverfälschten organisiert hat, der neben Authentizität und Unmittelbarkeit der Erfahrung auch Exklusivität, Intimität, Spontaneität, persönliche Handschrift, widerständige Evidenz des manipulierbaren Materials und des Körpers, Improvisation etc. aufruft. Izabella Pruska-Oldenhof, die ihrerseits eine Reihe von fotogrammatischen Filmen hergestellt hat, betonte beispielsweise, dass sie sich nach einer Periode der Arbeit an Computerfilmen in einem Zustand der „corporeal disengagement“30 befunden habe und dem durch die Hinwendung zur fotogrammatischen Praxis abhelfen wollte. Die von ihr begrüßte Quasi-Blindheit in der Dunkelkammer gehe mit der Stärkung des Taktilen einher und erlaube es, tastend den filmischen Rhythmus herzustellen, so die Filmemacherin.31 Dabei wird der Tastsinn als ein Nahsinn von ihr zunehmend auch als Metonymie für den ganzen Körper benutzt: In our world there is less and less engagement of our bodies with the physicality and materiality of our world. My husband’s cousin is a furniture maker, and the imprint of his body is left on the shape of everything he makes. As technology advances, our bodies become more and more dis­ engaged.32

Diese Verschiebung vollzieht auch die britische Filmemacherin Vicky Smith, die die vielfältigen kameralosen Filme insgesamt zu taktilen oder sogar „full body“-Filmen erklärt hat.33 Mit dieser begrifflichen Fassung verbindet sie mehrere Argumente. Zum einen verzeichnet sie hinsichtlich der zeitgenössischen manuellen Bearbeitung des Filmstreifens neuartige Implikationen: Während in den 1960 bis 1980er Jahren das Hinterlassen von manuellen

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Produktionsspuren noch als eine Kritik der transparenten Repräsentation des industriellnarrativen Films aufgetreten sei, der vermeintlich alle Spuren seiner Herstellung getilgt hat, fungiere heute der „act of touching film“ nicht als Statement gegen die Industrie, sondern als Statement, dass es gar keine Industrie mehr gebe.34 Zum anderen setzt Vicky Smith das Taktile mit den Mühen der Praxis und den Widerständen des Materials gleich, die es zu unterstreichen gelte.35 Damit verknüpft sich nicht nur die Aufforderung, diese materiellen Spielräume auszuloten, sondern auch den verschwindenden analogen Film zu lieben.36 Schließlich versucht die Filmemacherin eine spezifische Hinwendung der ­kameralosen Filme zum Körper zu markieren: Die Berührung mit der Hand verallge­ meinert sie zum Ganzkörperkontakt37, womit auch die Parallelisierungen von mensch­ lichem Körper und Filmstreifen vorbereitet werden, die für die Rhetorik des Filmsterbens von Bedeutung sind. Für Vicky Smiths Akzentsetzungen scheinen Filme wie Skin Film38 von Emma Hart paradigmatisch zu sein. Emma Hart hat dafür ihren ganzen Körper mit einem Tesafilm abgeklebt und die so abgezogenen und auf dem Tape haftenden Hautfragmente, Härchen, Schweiß- und Fettpartikel mit einem 16-mm-Blankfilm verklebt. Von diesen verklebten Häutchen, den „Abzügen“ der Haut, wurden keine analogen Kopien angefertigt. Projiziert wurde, so die Aussage der Filmemacherin, „my actual skin“39, die dem zerstörerischen Wiederholungszyklus der Projektionen ausgesetzt und so im Zustand des kontinuierlichen Verfalls bis zur Grenze der endgültigen Nichtexistenz gezeigt wird. Über die Parallelisierung von menschlicher Haut und Filmstreifen als Einschreibeflächen entfalten sich weitere Analogien zu physischem Lebenszyklus und biologischen Alterungsprozessen. Skin Film stellt dabei nur eines der vielen Beispiele für die Zunahme von körperlichen Metaphorisierungen des Films dar, die sich auf vergleichbare Weise ebenfalls bei dem Italiener Paolo Chechi Usai, bei Filmemacher_innen wie Luis Recoder & Sandra Gibson oder Paul Ken Rosenthal finden.40 Diese lassen sich auch bei autogenerativen Filmen beobachten, die eine Ästhetik des Verfalls durch künstliches Veralten herstellen. Die materielle Endlichkeit des Filmstreifens wird in diesen ­buch­stäblich und metaphorisch mit Obsoleszenz- und Todesszenarien des Films verknüpft.41 Gerade mit solchen Verfallsästhetiken und Körperparallelisierungen kommen auch sehr deutliche nostalgische Elemente sowie Singularisierungsideen der letzten Kopie hinzu, d. h. letztendlich Reauratisierungstendenzen. Auch die somatische Ästhetik von Vicky Smiths Films Sobbingspittingscratching42, bei dem ein Blankfilm mit Spucke und Tränen beschmiert und durch manuelle Animationen ergänzt wurde, lässt sich zweifellos auf die affektive Investition, auf die „anhängliche“43 Bindung an ‚Zelluloid‘44 und auf die ­Semantik der Tränen befragen. Die Körperbezüge können sich allerdings nicht nur mit der Problematik des Alterns und des Todes kreuzen, sondern über prokreative Bezüge, etwa des Menstruationsblutes, auch mit dem Korrelat der Lebendigkeit und so mit der Neuerfindung des Mediums im weitesten Sinne in Verbindung gebracht werden – ein Aspekt, der beispielsweise in Louise Bourques Film Jours en Fleurs45 zum Tragen kommt.

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Vom Un-Zeitgemäßen zum Unzeit-Gemäßen Ich möchte an dieser Stelle diese quasi-diskursanalytischen Überlegungen abbrechen und daraus einige Schlussfolgerungen hinsichtlich des Unzeitgemäßen und seiner Probleme in dieser Debatte ziehen. Zu den Gefahren der Rede vom Unzeitgemäßen gehört zuallererst die Unterstellung einer gemeinsamen Zeit, auf die bezugnehmend alle Praktiken gedacht werden und eine Entscheidung getroffen wird, ob sie veraltet, altmodisch oder dieser nicht gemäß sind. Bei aller Kritik und Widerständigkeit gegenüber der scheinbaren Un­ ausweichlichkeit der technologischen Verschiebungen, bei aller Kritik und bekundeten Anfechtung der Linearität, die der kameralosen Praxis zugeschrieben wird, setzen diese Abgrenzungen diskursiv eine Einheitlichkeit und eine Reinheit voraus, aus der heraus dieser Oppositionsgedanke überhaupt erst möglich wird. Dadurch wird aber die Hegemonie, gegen die angeschrieben wird, nicht in Frage gestellt, sondern gerade bestätigt: eine ­Hegemonie des Digitalen, dem selbst eine Identität zu- und Heterogenität abgesprochen wird. ‚Das Digitale‘, zu einer leeren wie selbstidentischen Denkfigur stilisiert, wird hierbei zu einem technologischen Maßstab erhoben, der das Maß der Zeit und mit diesem das Maß der je aktuellen und zeitgemäßen technologischen Standards vorgibt. Mit Blick auf kameralose Praktiken der Bemalung, des Ritzens oder des Zeichnens werden die Aus­ wirkungen einer solchen Vereinheitlichung nach Maßgabe einer einzigen Zeit deutlich: Die Bezeichnung solcher Filme als vorapparativ und obsolet, auch wenn dies im empha­ tischen Sinne definiert wird, zieht Konsequenzen für Zeichnung und Malerei nach sich, die dann ebenfalls als obsolet betrachtet werden müssen. Oder anders gewendet: Hört man auf, von „dem Kino“, von „dem Digitalen“, von „der Malerei“, von „der Zeichnung“ als klar abgegrenzte Künste und Medien im Singular zu sprechen und analysiert diese stattdessen als konkrete und heterogene Praktiken, so lassen sich kameralose Filme nicht mehr ohne Weiteres als technologische Standards unterschreitende denken, noch bevor die Frage des Digitalen überhaupt aufgeworfen wird. Das setzt einen ausschließlichen Fokus auf das Kinematografische in einer klaren Konturierung voraus, während gerade dieses streitbar ist. So hat auch Thomas Elsaesser wiederholt auf der Pluralität der Archäologien und ­Genealogien des Kinematografischen bestanden, mit der sich stabile Identitäts­ zuschreibungen zugunsten variabler historischer Verhandlungen – auch in Abhängigkeit von dem gewählten Ausgangspunkt – auflösen.46 Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine Reakzentuierung des Unzeitgemäßen und eine Verschiebung des Un-Zeitgemäßen, Nicht-einer-Zeit-Gemäßen, zum Unzeit-Gemäßen, das die Zeit nicht mehr als einheitlich setzt, sondern als Ko-Existenz verschiedener historischer Bezüge in ihrer Asynchronizität adressiert. Eine solche Herangehensweise lässt sich mit dem von Derrida in Marx’ Gespenster vorgeschlagenen Zeitmodell skizzieren. In seiner Auseinandersetzung mit Verabschiedung des Marxismus nach dem Zerfall der Sowjet­union und dem Nachlassen der Wirkkraft des Kommunismus hat sich Derrida gegen die Verkündigungen von zahlreichen Enden ausgesprochen und bemerkt, dass diese einen

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metaphysischen Zeitbegriff voraussetzen, der die Zeit als eine Linie einander folgender Jetztpunkte, als Abfolge von selbsterfüllten Gegenwarten verstehe.47 Er hat dabei ausgehend von dem Denken der Erbschaftsstruktur und der notwendigen Verantwortung dieser gegenüber ein spektrales Zeitmodell vorgeschlagen.48 Für Derrida sind wir immer schon Erben, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht. Es gelte dabei, diese Erbschaft anzunehmen. „Die Zeit ist aus den Fugen“49, so leitet er seine Überlegungen mit einem Hamlet-Zitat ein. Sie wird beständig von den Gespenstern heimgesucht, die aus der Vergangenheit und der Zukunft zugleich wiederkehren. Sie kehren einerseits aus dem zurück, was vor uns zu liegen scheint, und andererseits stellt auch die Vergangenheit in der Wiederholung, die zugleich eine Alteration ist, eine Antizipation und etwas Kommend-Zukünftiges dar.50 Die Zukunft gewinnt hierdurch an Vergangenem im Wieder und die Vergangenheit an Zukünftigem in der Alteration. Die Gegenwart dagegen, die von diesen vergangenen Zukünften und kommenden Vergangenheiten bevölkert und durchschnitten wird, wird zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das einleitende Zitat fokussiert darüber hinaus auch eine Zeitform des Präsens, die disparat und „ohne gesicherte Verfugung“51 ist. Die Gespenster, von denen es immer mehr als eines gibt,52 so Derrida, erweisen sich als dekonstruktive Figuren, die die Ontologie der Präsenz und Gegenwart mit einer ontologischen Unruhe und Unbestimmtheit des Erbens versetzen. Von solchen Gespenstern bevölkert, die weder sind noch nicht sind, weder vollständig anwesend noch abwesend, weder sichtbar noch unsichtbar sind, wird die lebendige Gegenwart mit sich selbst nicht-identisch, uneins und ungleichzeitig mit sich selbst. Die Ontologie weiche der „Hantologie“53 (von fr. hanter, dt. heimsuchen, und Ontologie), in der die Zeit spektralisiert, in eine Disparatheit und Heterogenität aufgefächert ist. Spectre als Gespenst bezeichnet zugleich auch ein Spektrum54, eine Auffächerung und Aufsplitterung, welche schließlich alle drei Zeitformen aus dem Denken erfüllter Gegenwarten herauslösen und in ein Geflecht nichtlinearer Vor- und Rückgriffe einbetten. Die von der Struktur der Erbschaft her anvisierte Konzeption der Zeitlichkeit wird von Derrida auch als Unzeit, Anachronie und schließlich auch als Unzeitgemäßes charakte­ risiert55, was die Verschiebung des Unzeitgemäßen von Nicht-einer-Zeit-Gemäßem zu ­Gemäß-einer-Unzeit zu vollziehen erlaubt. Auf diese Weise lässt sich Dream Work von Tscherkassky alternativ perspektivieren. In Anbetracht des Gesamtfilms und seiner Herstellungspraktik, die aus der Collage heraus operiert und bei der bis zu zehn Schichten des heterogenen Materials aufeinander kopiert werden, stellt sich Dream Work als Arbeit am Disparaten, als Zusammenhalten des Unverfugbaren und als Mehr-als-Eins-Werden heraus. Dies kommt zunächst ästhetisch zum Tragen: Bereits die erste Einstellung zeigt sich in diesem Prozess der Spaltung und der Organisation des Materials hin zu einer Nicht-Koinzi­ denz. In nahen Einstellungen wird ein Fenster mit einem halb heruntergezogenen Rollo vorgeführt, das sich infolge der leicht versetzten Übereinanderkopierung desselben Bildmaterials verdoppelt und in Bezug auf sich selbst zu differieren beginnt, um sich zugleich zu einer weiteren Differenzierung aufzuspalten.

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64  Disparatwerden in Peter Tscherkasskys Dream Work, 2001, Film Still.

Auch der Ton verfährt hierbei nicht anders: Die tickende Uhr, in einer metrischen Regelmäßigkeit eingeführt, beginnt sich in zwei akustische Reihen aufzuspalten, die einander nicht synchron sind, ihre eigene Metrik wechselseitig unterbrechen und nicht koinzidieren können. Die einzige Koinzidenz, die sich bisweilen einstellt, ist die Gleichzeitigkeit der Nicht-Koinzidenz des Visuellen und Akustischen mit sich selbst. Solche verdoppelnden und vervielfältigenden Differenzierungen lassen sich durch den ganzen Film hindurch feststellen: Bild-, Ton- und Raumspaltungen mit und ohne versetzte Positiv-Negativ-Überlagerungen, die zunehmend zu immer größeren disparaten Reihen werden. Diese Ästhetik des raumzeitlichen Disparatwerdens, die nicht zufällig mit den Negativ-Positiv-Umkehrungen auch eine Ästhetik des Gespenstischen produziert, geht mit einer zeithistorischen Disparität einher. Dream Work ist ein extrem fragmentiertes Werk, in dem nicht nur verschiedene diegetische Temporalitäten, Bild- und Tonreste, Räume und Schichten sich multiplizieren, einander überlagern, auslöschen und permanent auseinanderdriften, sondern auch verschiedene Konzepte und ihre historischen Kontexte. Filmtheorie und Filmgeschichte, Technikgeschichte und Avantgardefilmdiskurse werden hier miteinander konfrontiert. Dabei treffen u. a. die Film- und Fotoobjekte von Man Ray, zwischen Dadaismus und Surrealismus situiert, auf die Genrekonventionen des amerikanischen Horrorfilms in Folge von Polter­ geist, die durch die gespenstische Ästhetik des Fotogramms vermittelt sind. Das für experimentelle Arbeiten sehr ungewöhnliche CinemaScope-Verfahren begegnet den Praktiken des Materialfilms der 1970er Jahre. Beide Phänomene waren zu ihren Unzeiten ebenfalls in die Diskurse des Todes des Kinos und der Reinheit verstrickt – CinemaScope hinsichtlich des Rivalitätsverhältnisses zwischen Fernsehen und Kino, Materialfilme in avantgardistische Todesproklamationen, die sich bis zu Dziga Vertov zurückverfolgen lassen. Die Found Footage-Praxis, die in Dream Work mit kameralosen Verfahren kombiniert wird, hatte sich in Österreich wiederum explizit als Gegenpol zu den genannten materialfilmspezifischen

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Reinheitsdiskursen verstanden. Zugleich vermischte sich diese jedoch mit den filmtheo­ retischen Debatten der 1960 bis 1980er Jahre, die in Rückgriff auf Psychoanalyse und ­Semiotik den Film, seine Traumdimension sowie die Filmarbeit im Kontext der großen Ideologiedebatten verhandelten und wichtige Stichwortgeber für den Materialfilm waren – ein Bezug, der nicht zuletzt über Freuds Traumarbeit, die hier auch technisch reflektiert ist, gestiftet wurde.56 Dergestalt erweist sich Dream Work als eine Materialcollage wie eine Collage heterogener historischer Diskurse, die ko-existieren, ohne auf eine schließende Eindeutigkeit hinauszulaufen. Das Vergangene, das wiederholt wird, aber nicht vollständig da ist, kündigt sich an, bleibt als Kommendes ein Versprechen. Die Ästhetik des Gespenstischen verdeutlicht, dass es immer etwas zu erben gilt, d. h. die heimsuchenden Gespenster anzunehmen, sich derer anzunehmen. Wenn diese Arbeit demnach als gemäß einer Unzeit operierend gedacht werden kann, so bliebe nur noch das Gemäße im Unzeitgemäßen zu dekonstruieren, das selbst wie ein Gespenst das Disparate des Ungleichzeitigen als ein einheitliches Maß heimzusuchen beginnt.

Anmerkungen  1 Tim Ingold, Making. Anthropology, Archeology, Art and Architecture, London/New York 2013, S. 122.  2 Vicky Smith, The Full Body Film, in: Sequence 3, 2012, S. 42–47, hier S. 42 [meine Übersetzung].  3 Gabriele Jutz, Cinéma brut. Eine alternative Genealogie der Filmavantgarde, Wien/New York 2010, S. 54–74.  4 Vgl. ebd., S. 54–55.  5 Vivian Liska, Vorhut und Nachträglichkeit. Das Unzeitgemäße des deutschen Expressionismus, in: Das Jahrhundert der Avantgarden, hrsg. von Cornelia Klinger und Wolfgang Müller-Funk, München 2004, S. 133–144, hier S. 134.  6 Vgl. Jutz 2010 (Anm. 3), S. 55.  7 Vgl. ebd., S. 68–74.  8 Zum Diskurs des Reinen vgl. ebd., bes. S. 25–39.  9 So hat etwa Jürgen Reble, einer der Protagonisten des autogenerativen kameralosen Films, angesichts der Zunahme der digitalen Videoarbeiten auf Festivals von dem Umkippen der (analogen) Avantgarde in Après-Garde gesprochen. Vgl. Jürgen Reble, Chimie, alchimie des couleurs, in: ­Poétique de la couleur. Anthologie, hrsg. von Nicole Brenez und Miles McKane, Paris 1995, S. 152– 155, hier S. 154. 10 Vgl. mit starkem Fokus auf Indexikalität und Materialität Tess Takahashi, After the Death of Film. Writing the Natural World in the Digital Age, in: Visible Language 42, 2008, Heft 1, S. 44–69; dies., Meticulously, Recklessly Worked upon. Direct Animation, the Auratic and the Index, in: The Sharpest Point. Animation at the End of Cinema, hrsg. von Chris Gehmann und Steve Reinke, Toronto 2005, S. 166–178; mit dem Fokus auf Obsoleszenz und Materialität Kim Knowles, Blood, Sweat, and Tears. Bodily Inscriptions in Contemporary Experimental Film, in: NECSUS 2, 2013, Heft 2, S. 447–463; Kim Knowles, Analog Obsolescence and the „Death of Cinema“ Debatte. The Case of Experimental Film, Presentation at MiT7 Conference Unstable Platforms. The Promise and Peril of Transition, Mai 2011, S. 1–11, http://web.mit.edu/comm-forum/legacy/mit7/papers/Knowles_ analog_obsolescence.pdf [zuletzt aufgerufen 4.2.2019].

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11 Bradley Eros, More Captivating than Phosphorus, in: Millennium Film Journal 56, 2012, S. 42–49, hier S. 47. 12 Vgl. ebd. 13 Knowles 2013 (Anm. 10), S. 448. 14 Ebd. S. 448–449. 15 Smith 2012 (Anm. 2), S. 45–46. 16 Takahashi 2008 (Anm. 10), S. 45. 17 An dieser Stelle sei stellvertretend nur der Aufsatz von Mary Ann Doane zu diesem Sachverhalt genannt Mary Ann Doane, Indexical and the Concept of Medium Specificity, in: The Meaning of Photography, hrsg. von Robin Kelsey und Blake Stimson, New Haven, Conn./London 2008, S. 3–15. 18 Peter Tscherkassky, Dreamwork, 2001, 35 mm CinemaScope, s/w, Ton, 11 Min. 19 Sidney J. Furie, The Entity, 1981, 35 mm CinemaScope, Farbe, Ton, 125 Min. 20 Man Ray, Le Retour à la Raison, 1923, 35 mm, s/w, o. Ton, 3 Min. 21 Vgl. Philippe Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam/Dresden 1998, hier S. 54–57; Rosalind E. Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dresden 2000, S. 256–257; ambivalent dagegen David N. Rodowick, The Virtual Life of Film, Cambridge, Mass./London 2007, S. 49–52, der wie Krauss Man Ray diskutiert. 22 Vgl. Christoph Hoffmann, Die Dauer eines Moments. Zu Ernst Machs und Peter Salchers balli­ stisch-fotografischen Versuchen 1886/87, in: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissen­ schaft, Kunst und Technologie, hrsg. von Peter Geimer, Frankfurt/Main 2002, S. 342–380, hier S. 356. 23 Vgl. Christa Blümlinger, Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin 2009, S. 97–98, hier S. 98. 24 Ebd., S. 98. 25 Ebd., S. 84. 26 Vgl. László Moholy-Nagy, fotografie ist lichtgestaltung [1928], in: Moholy-Nagy, hrsg. von Krisztina Passuth, Dresden 1987, S. 319–322, hier S. 320; vgl. dazu ausführlich Tobias Wilke, Medien der Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrnehmungstechniken 1918–1939, München 2010, bes. S. 170–188. 27 Vgl. Ernst Kallai, Malerei und Photographie [1927], in: Theorie der Fotografie II. 1912–1945, hrsg. von Wolfgang Kemp, München 1979, S. 113–120, hier S. 114; Wilke 2010 (Anm. 26), S. 170–188; Anne Hoormann, Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik, München 2003, S. 145. 28 Das einzelne Bild auf dem Filmstreifen nennt man Einzelkader, Kader oder auch Fotogramm. Um Verwechslungen mit der kameralosen Produktionsweise zu vermeiden, werden im vorliegenden Text für das einzelne Bild auf dem Filmstreifen nur die Begriffe Kader oder Einzelkader verwendet. 29 Vgl. Peter Tscherkassky, Comment et pourquoi? Quelques remarques sur la réalisation technique de la trilogie CinemaScope, in: Trafic 44, 2002, S. 83–87, hier 83–84. 30 Izabella Pruska-Oldenhof und Mike Hoolboom, Memos of Resistance, in: Practical Dreamers. Con­ versations with Movie Artists, hrsg. von Mike Hoolboom, Toronto 2008, S. 127–136, hier S. 130. 31 Vgl. ebd., S. 131. 32 Ebd., S. 130. 33 Smith 2012 (Anm. 2), S. 42. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. ebd., S. 47. 36 Vgl. ebd., S. 45.

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37 Vgl. ebd., S. 42. 38 Emma Hart, Skin Film, 2005–2007, 16 mm, Farbe, o. Ton, 11 Min. 39 Emma Hart, Skin Film, o. P., http://www.emmahart.info/skin.html [zuletzt aufgerufen 9.3.2013]. 40 Vgl. Paolo Cherchi Usai, The Death of Cinema. History, Cultural Memory and the Digital Dark Age, London 2001, S. 105; Luis Recoder und Sandra Gibson, Cinema/Film, in: World Picture 2, 2008, o. P.; Ken Paul Rosenthal, Antidote for a Virtual World. Hand Processing Reversal Motion Picture Film, 2011. o. P., http://www.kenpaulrosenthal.com/antidote.html [zuletzt aufgerufen 25.4.2012]. 41 Vgl. Knowles 2011 (Anm. 10), S. 4–11; Takahashi 2008 (Anm. 10), S. 50. Allerdings wäre im Sinne der Gefahr der monokausalen Lesarten einzuwenden, dass die Problematik des Verfalls ein genuines Problem der Filmarchive darstellt und auf die Geschichte verschiedener Filmträger und ihrer Stabilität verweist. Vor diesem Hintergrund gewinnen die künstlich veralteten Experimentalfilme eine andere Tragweite. 42 Vicky Smith, Sobbingspittingscratching, 2001, 16 mm, Farbe, o. Ton, 8 Min. 43 Vgl. Antoine Hennion, Offene Objekte, offene Subjekte. Körper und Dinge im Geflecht von An­ hänglichkeit, Zuneigung und Verbundenheit, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2, 2011, Heft 1, S. 93–109, hier S. 96. 44 Obwohl Zelluloid seit den 1950er Jahren nicht mehr produziert und nur noch selten projiziert wird, fungiert er – wie die zitierten Positionen belegen – nicht selten als Synonym des analogen Films. 45 Louise Bourque, Jours en Fleurs, 2003, 35 mm, Farbe, Ton, 4:59 Min. 46 Vgl. Thomas Elsaesser, Das Digitale und das Kino. Um-Schreibung der Filmgeschichte?, in: Zukunft Kino. The End of the Reel World, hrsg. von Daniela Kloock, Marburg 2008, S. 43–59, hier S. 48–54. Aus der Perspektive der Geschichte des Avantgarde- und Experimentalfilms ließe sich beispielsweise argumentieren, dass die Diagnosen des Postkinematografischen vielfach zu spät kommen, weil die Zäsuren sich nach wie vor am Modell des klassischen narrativen Spielfilms orientieren bzw. zentrieren. Erst nachdem man beispielsweise das Malen und Zeichnen  – ob in kameralosen Filmen oder im Animationsfilm – als theoretischen Bezugspunkt marginalisiert, lässt sich behaupten, dass der Film als digitaler zu einer Unterkategorie der Malerei wird, wie dies Lev Manovich behauptet, vgl. Lev Manovich, What is digital cinema?, in: The Digital Dialectic. New Essays on New Media, hrsg. von Peter Lunenfeld, Cambridge, Mass./London 1999, S. 172–196, hier S. 174–175. Es macht durchaus einen Unterschied, ob das Majoritäre im Deleuze’schen Sinne historisiert oder ausgehend und auf Basis des Majoritären historisiert und ontologisiert wird. 47 Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Inter­ nationale, Frankfurt/Main 2004, S.11–12, 82, 103. 48 Vgl. ebd., bes. S. 32–34. 49 Ebd., S. 15. 50 Vgl. ebd., S. 12, 17, 25, 33. 51 Ebd., S. 34. 52 Vgl. ebd., S. 29. 53 Ebd., S. 25. 54 Vgl. ebd., S. 34 sowie Hinweise des Übersetzers auf S. 241. 55 Vgl. ebd., S. 12, 111, 139 zum Unzeitigen, S. 40, 44, 47, 156–158 zur Anachronie sowie S. 44, 111, 158 zum Unzeitgemäßen. 56 Zur Rolle der Freud’schen Mechanismen der Traumarbeit als Organisationsprinzip des Films vgl. Jutz 2010 (Anm. 3), S. 246–250, sowie Blümlinger 2009 (Anm. 23), S. 93–95.

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Bildnachweise Beitrag Danford 1

© Cameraphoto Arte, Venice/Art Resource, NY.

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© Cameraphoto Arte, Venice/Art Resource, NY.

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© Cameraphoto Arte, Venice/Art Resource, NY.

F1 © Rachel Danford. 4

© Rachel Danford.

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© Rachel Danford.

Beitrag Olchawa 6

© Joanna Olchawa.

F2 © Joanna Olchawa. 7

© Carolus Ludovicus/CC-BY-SA-2.0-DE.

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© Bildarchiv Photo Marburg.

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© Joanna Olchawa.

Beitrag Putzger 10 © bpk – Bildportal der Kunstmuseen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin. 11 in: Dirk de Vos, Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk, München 1999, S. 184. 12 in: Bob C. van den Boogert und Jacqueline Kerkhoff (Hg.), Maria van Hongarije. Koningin tussen keizers en kunstenaars, 1505–1558, Ausst. Kat. (Rijksmuseum Het Catharijne Convent, Utrecht und Noordbrabants Museum, ’s-Hertogenbosch, 1993), Zwolle 1993, S. 278, Fig 72. F3 © bpk – Bildportal der Kunstmuseen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin. F4 in: Hans Belting und Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes, München 1994, S. 33. 13 in: Dubois und Syfer-d’Olne 2006 (Anm. 19). 14 Rekonstruktion der Autorin, Einzelabbildungen in: Fernando Checa Cremades (Hg.), Felipe II. Un Monarca y su epoca, Un Principe del Renacimiento, Ausst.-Kat. (Madrid, Prado 1998/1999), Madrid 1998, S. 480, 484, fig. 146e–h und 146c–d. 15 © Antonia Putzger.

Beitrag Furtwängler 16 in: Soulages. L’œuvre imprimé, Ausst.-Kat. (Paris: Bibliothèque nationale de France 2003), hrsg. von Pierre Encrevé und Marie-Cécile Miessner, Paris 2003, S. 19. 17 © London, Tate. 18 in: Ralf Busch, Wols. Das druckgraphische Werk, Hamburg 2004, S. 78.

Bildnachweise I 297

19 in: L’œuvre gravée et les livres illustrés par Jean Dubuffet: catalogue raisonné, 2 Bde., hrsg. von Sophie Webel, Paris 1991, Nr. 55, S. 36. 20 in: COBRA 6, April 1950, S. 15. 21 in: Jean-Clarence Lambert, COBRA – un art libre, Königstein im Taunus 1985, S. 153.

Beitrag Huth 22 © Andreas Huth. 23 © Roland zh/CC-BY-SA 3.0. 24 © Ondrˇej Korˇínek/CC-BY-SA 4.0. 25 © Andreas Huth. F5 © Andreas Huth. F6 © Andreas Huth.

Beitrag Parello 26 © CVMA Freiburg (Rüdiger Tonojan). F7 in: Aufleuchten des Mittelalters. Glasmalerei des 19. Jahrhunderts in Freiburg Ausst.-Kat. (Freiburg, Augustinermuseum 2000), Freiburg im Breisgau 2000, S. 61. 27 in: Kunckel, Johann: Ars Vitraria Experimentalis, Oder Vollkommene Glasmacher-Kunst. Frankfurt (Main) u. a., 1679. In: Deutsches Textarchiv , abgerufen am 29.08.2016. 28 in: N. Blondel, Le vitrail. Vocabulaire typologique et technique, Paris 2000, S. 241, Abb. 457f. 29 in: Parello 2000 (Anm. 11), Frontispiz. F8 © Denis Krieger/CC-BY-SA 4.0. 30 © Denis Krieger/CC-BY-SA 4.0. 31 in: Myriam Wierschowski (Hrsg.), Die Tätigkeit der Glasmalereiwerkstatt Dr. H. Oidtmann in Ostund Westpreußen. Ausst.-Kat. (Linnich, Glasmalereimuseum, 2007), Linnich 2007, Abb. 52. 32 © Hans Peter Schaefer/CC-BY-SA 3.0.

Beitrag Berger F9 © 2018 Jasper Johns/VG Bild-Kunst, Bonn. Digital Image © 2008 The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. 33 © 2018 Jasper Johns/VG Bild-Kunst, Bonn. In: Jasper Johns. An Allegory of Painting, 1956–1965, Ausst.-Kat. (Washington, National Gallery; Basel, Kunstmuseum, 2007), hrsg. von Jeffrey Weiss, München 2007, S. 62. 34 © 2018 Jasper Johns/VG Bild-Kunst, Bonn. In: Jasper Johns. An Allegory of Painting, 1956–1965, Ausst.-Kat. (Washington, National Gallery; Basel, Kunstmuseum, 2007), hrsg. von Jeffrey Weiss, München 2007, S. 60. 35 © 2018 Robert Rauschenberg Foundation, RRF Registration# 55.P005/VG Bild-Kunst, Bonn. 36 © 2018 Jasper Johns/VG Bild-Kunst, Bonn. Digital Image © The Menil Collection, Houston. Photographer: Jamie Stukenberg.

298 I Bildnachweise

Beitrag Bushart 37 in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 42. 38 in: Franz Gertsch 1994 (Anm. 26), S. 17. 39 in: Jan Svenungsson, „Schonsteinarbeit“, Ausst. Kat. (Kunstverein Recklinghausen 1998), Recklinghausen 1998, S. 50. 40 in: Christiane Baumgartner 2011 (Anm. 53), S. 51. 41 in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 41. 42 in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 43. 43 in: Sultan 2014 (Anm. 8), S. 44. F10 © Franz Gertsch; Berlin, SPK, Kupferstichkabinett, Inv. 5-1997. F11 © Jan Svenungsson/VG Bild-Kunst, Bonn; Berlin, SPK, Kupferstichkabinett, Inv. LB 15-2010. 44 © Berlin, SPK, Kupferstichkabinett, Inv. 5-1997. 45 © Christiane Baumgartner/VG Bild-Kunst, Bonn; Berlin, SPK, Kupferstichkabinett, Inv. 636-2007.

Beitrag Röhl 46 in: documenta 6 1977 (Anm. 3), S. 308–309. F12a–b © Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York. 47 © Courtesy bitforms gallery, New York, Foto: John Berens. 48 © Courtesy bitforms gallery, New York, Foto: John Berens. F13 © Courtesy bitforms gallery, New York, Foto: John Berens. 49 © Courtesy bitforms gallery, New York, Foto: John Berens. 50 © Stephen Beck (http://www.stevebeck.tv) Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York. 51 © Courtesy bitforms gallery, New York, Foto: John Berens.

Beitrag Caraco 52 © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett. 53 © Paris, Cabinet des Estampes, Bibliothèque Nationale. 54 © London, Tate. 55 © Paris, Cabinet des Estampes, Bibliothèque Nationale. 56 © Washington, D.C., Rosenwald Collection, National Gallery of Art. 57 © Baltimore, Lucas Collection.

Beitrag Uppenkamp F14a–c © bpk Bildportal der Kunstmuseen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin und Hamburger Kunsthalle. 58 in: Annette Messager. Word for Word. Texts, Writings and Interviews, hrsg. Marie Laure Bernadac, London 2006.

Bildnachweise I 299

59 © Klassik Stiftung Weimar. 60 Charivari 13.11.1840. 61 © Brooklyn Museum of Art. F15 © Deutsches Schuhmuseum Hauenstein, Foto: Christoph Riemeyer.

Beitrag Moskatova 62–64 in: Peter Tscherkassky – Films from a Dark Room, DVD, Wien, 2004.

300 I Bildnachweise