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German Pages XIII, 313 [320] Year 2020
Bürgerbewusstsein
Carolin Kiehl
Unterricht findet Stadt Demokratiebildende Koordinaten sozialräumlichen Lernens
¨ rgerbewusstsein Bu Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung Reihe herausgegeben von Dirk Lange, Hannover, Deutschland
Bürgerbewusstsein bezeichnet die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politischgesellschaftliche Wirklichkeit. Es dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und produziert zugleich den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen. Somit stellt das Bürgerbewusstsein die subjektive Dimension von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dar. Es wandelt sich in Sozialisations- und Lernprozessen und ist deshalb zentral für alle Fragen der Politischen Bildung. Das Bürgerbewusstsein bildet mentale Modelle, welche die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse subjektiv verständlich, erklärbar und anerkennungswürdig machen. Die mentalen Modelle existieren in Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen mit der Politischen Kultur. Auf der Mikroebene steht das Bürgerbewusstsein als eine mentale Modellierung des Individuums im Mittelpunkt. Auf der Makroebene interessieren die gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Kontexte des Bürgerbewusstseins. Auf der Mesoebene wird untersucht, wie sich das Bürgerbewusstsein in Partizipationsformen ausdrückt. Die „Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung“ lassen sich thematisch fünf zentralen Sinnbildern des Bürgerbewusstseins zuordnen: „Vergesellschaftung“, „Wertbegründung“, „Bedürfnisbefriedigung“, „Gesellschaftswandel“ und „Herrschaftslegitimation“. „Vergesellschaftung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich Individuen in die und zu einer Gesellschaft integrieren. Welche Vorstellungen existieren über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Wie wird soziale Heterogenität subjektiv geordnet und gruppiert? „Wertbegründung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten. Welche Werte und Normen werden in politischen Konflikten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ökonomischen Unternehmungen erkannt? „Bedürfnisbefriedigung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie Bedürfnisse durch Güter befriedigt werden. Wie wird das Funktionieren des sozioökonomischen Systems erklärt? Welche Konzept über das Entstehen von Bedürfnissen, über die Produktion von Gütern und über die Möglichkeiten ihrer Verteilung werden verwendet? „Gesellschaftswandel“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich sozialer Wandel vollzieht. Wie werden die Ursachen und die Dynamiken sozialen Wandels erklärt? In welcher Weise wird die Vergangenheit erinnert und die Zukunft erwartet? „Herrschaftslegitimation“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie partielle Interessen allgemein verbindlich werden. Wie wird die Ausübung von Macht und die Durchsetzung von Interessen beschrieben und und gerechtfertigt? Welche Konflikt- und Partizipationskonzept werden verwendet?
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12208
Carolin Kiehl
Unterricht findet Stadt Demokratiebildende Koordinaten sozialräumlichen Lernens
Carolin Kiehl Philosophischen Fakultät Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover Hannover, Deutschland Zgl. Dissertation an der Leibniz Universität Hannover, 2019
ISSN 2626-3343 ISSN 2626-3351 (electronic) Bürgerbewusstsein ISBN 978-3-658-31426-2 ISBN 978-3-658-31427-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gegenstand der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 8 16
2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gesellschaftlicher Raum im Blick der Theorie reflexiver Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien . . . 2.2.1 Inklusion & Partizipation: die interdependente und ausgrenzende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Bewusstwerdung & Reflexion: die individualisierte und entfremdete Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Handlung & Gestaltung: die digitale Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Modifizierung & Transformation: die glokale Risikogesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwischenfazit I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen . . . . . . . . . . . . . 3.1 Präzisierung des Raum-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen . . . . . 3.2.1 Lernen über Aneignung und Anverwandlung . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Das situierte Lernen und die Community of Practice . . . . . 3.2.3 Sozialisationstheorie und das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 53 64 64 70
17 23 23 29 35 42 49
75
V
VI
Inhaltsverzeichnis
3.3 Genese eines Arbeitsverständnisses von sozialräumlichem Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens . . . . . 3.4.1 Demokratiepädagogik: Service Learning . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 MINT: Citizien Science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Berufspädagogik: Produktionsschule & Produktives Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Sonderpädagogik: Inklusives Lernen – “Geschichte erleben” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Fachunterricht “Religion”: Diakonisches Lernen . . . . . . . . 3.4.6 Fachunterricht “Deutsch”: Gedichtinterpretation . . . . . . . . 3.5 Zwischenfazit II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung als interdisziplinäre Schnittstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Lernen & fächerübergreifende Kompetenzen – Eine Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Sozialräumliches Lernen als Lernform und lebensweltliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sozialräumliches Lernen als Form der fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung an der Schnittstelle … . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Fachunterricht: Fächerübergreifende Kompetenzen sowie ethische/moralische Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Übergang Schule/Beruf: Berufswahlreife resp. Berufswahlkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Berufspädagogik: Reflexive Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . 4.2.4 Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention: Lebenskompetenzen sowie Kohärenzgefühl . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Demokratiepädagogik: Sinngebungskompetenz resp. konzeptionelles Deutungswissen, Urteils- und Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE): Gestaltungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Diversity & Intersektionalität: Vielfaltskompetenz . . . . . . . 4.2.8 Soziomoralische Sozialisation: Soziomoralische Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems . . . . . .
80 88 88 93 96 102 106 109 113 117 117 117 123 127 127 131 133 139
143 152 157 160 165
Inhaltsverzeichnis
4.3.1 Einzelkompetenzen in ihrer Nachhaltigkeitsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Ein anschlussorientiertes Kompetenzsystem . . . . . . . . . . . . 4.4 Zwischenfazit III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
165 201 204
5 Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung . . . . . . 5.1 Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretischer Kompetenzansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sozialräumliches Lernen als Kritische Pädagogik der Praxis . . . . . 5.3 Zwischenfazit IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
6 Nachhaltigkeitstransfer | Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Hemmende und fördernde Faktoren einer Implementierung . . . . . 6.1.1 Personelle Faktoren auf Mikroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Personelle und strukturelle Faktoren auf Mesoebene . . . . . 6.1.3 Strukturelle Faktoren auf Makroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zwischenfazit V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223 223 223 229 236 249
7 Fazit & Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Sozialräumliches Lernen und seine demokratiebildenden Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Forschungsfragen und ihre resümierenden Antworten . . . . . . . 7.3 Abgeleitete, übergreifende Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . 7.4 Forschungsdesiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251 251 259 262 266 270
8 Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279
205 214 220
Abkürzungsverzeichnis
AfD BLK BMBF BZgA CBR CHE CoP CSR DDR DGfE ESF EU GPJE IPLE KMK LISUM MINT MpR OECD PEGIDA PISA QMS UNCED UNECE WHO
Alternative für Deutschland Bund-Länder-Kommission Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Community Based Research Centrum für Hochschulentwicklung Community/Communities of Practice Corporate Social Responsibility Deutsche Demokratische Republik Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften Europäischer Sozialfond Europäische Union Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung Institut für Produktives Lernen in Europa Kultusministerkonferenz Landesinstitut für Schule und Medien Berlin – Brandenburg Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik Modell der produktiven Realitätsverarbeitung Organisation for Economic Cooperation and Development Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes Programm for International Student Assesment Qualitäts-Management-System United Nations Conference on Environment and Development United Nations Economic Commission for Europe World Health Organisation
IX
Abbildungsverzeichnis
Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 3.4 Abb. 3.5
Abb. 3.6 Abb. 3.7 Abb. 4.1 Abb. 4.2 Abb. 7.1
„Sozialer Raum – Graffiti Hermann-Liebmann-Brücke Leipzig“ (Fotografie der Verfasserin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Relationales Raum-Verständnis“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Relationales Raum-Verständnis der CoP“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Sozialisation als produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität“ (Hurrelmann/Bauer 2015, S. 99) . . . . . . „Relationales Raum-Verständnis und der Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Sozialisation als produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . „Relationales Raum-Verständnis des Hyperraum“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Bedingungsrahmen reflexiver Handelungsfähigkeit“ (Dehnbostel 2005, S. 211; Dehnbostel 2012, S. 27) . . . . . . . . . . „Kompetenzsystem“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . . „Kategoriensystem“. (Eigene Ableitung und Darstellung) . . . .
63 64 74 77
79 80 84 136 202 260
XI
Tabellenverzeichnis
Tab. 4.1
Tab. 4.2 Tab. 4.3
Tab. 4.4 Tab. 4.5 Tab. 4.6 Tab. 4.7 Tab. 4.8 Tab. 4.9 Tab. 4.10
Übersicht der fächerübergreifenden Schwerpunkte und Themen (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – in die Gesellschaft integriert sein“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung teilhaben“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . „Kompetenz – situationsgerecht handeln können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . „Kompetenz – planvoll handeln können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kompetenz – Zusammenhänge kritisch reflektieren können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . .
124 167
171 174 177 181 185 189 193 197
XIII
1
Prolog
1.1
Problemaufriss
Wie viele „Wahrheiten“ gibt es? Ein kleines gedankliches Experiment ist der Lösungssuche auf diese Frage vorangestellt. Eine Textpassage aus einer Anthologie philosophischer Aufsätze soll dabei als einleitendes Modell dienen. Dass der Text aus dem Gesamtkontext gerissen wurde, ist in diesem Zusammenhang gewollt. Es handelt sich um eine Textstelle, welche verschiedenste Schnittstellen und auch Differenzlinien gesellschaftlichen Zusammenlebens aufgreift: Genderdiskurs, soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Wandel, Demokratieverständnis. „Frauen müssen am gesellschaftlichen Wandel als Partnerinnen teilhaben. Ich denke, dass Feminismus ein Anliegen sowohl für Männer als auch für Frauen ist; […] Ich denke, dass alle Männer – im Einsatz für eine sozial gerechte Gesellschaft, in der sich eine Frau voll verwirklichen kann, wenn sie sich dazu entscheidet – progressive Feministen sein sollten. Das Recht zu entscheiden, ist für mich die Definition von Befreiung, von ‚Freiheit’, wenn man so möchte; das Recht, die Wahl zu haben und zu entscheiden.“
Ein Zitat aus einem Aufsatz im intersektionalem Diskurs zur Gleichheit und Verschiedenartigkeit der Geschlechter? Ja. – Gedanken über den subjektiven Anspruch ans Leben? Ja. – Eine mögliche Definition von Demokratie sowie eine Forderung an diese? Ja. – „Europäisch“ bzw. „westlich“ geprägte Gedanken? Ja und nein. Das Zitat ist einem Aufsatz der nigerianischen Feministin Molara OgundipeLeslie (2015, S. 283 f.) entnommen. Das „Ja“ entspricht der Tatsache, dass
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_1
1
2
1
Prolog
Gleichheit und Freiheit des einzelnen Menschen in westlichen Demokratien rechtlich und normativ in Verfassung und Wertesystem verankert sind. Die Frage muss jedoch auch mit „nein“ beantwortet werden, denn der Anspruch auf diese universellen Werte ist kein gedankliches Monopol westlicher Gesellschaften. Der Aufsatz Ogundipe-Leslies ist Bestandteil des 2015 erschienen Sammelbandes „Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen“. Wie die Herausgebenden Franziska Dübgen und Stefan Skupien bereits in ihrem einleitenden Essay schildern, sind die Vorstellungen von einer afrikanischen sozialwissenschaftlichen Forschungstradition im besten Fall diffus oder schlichtweg gar nicht vorhanden (Dübgen/Skupien 2015, S. 9–12). Allein die undifferenzierte Benutzung der Kontinentbezeichnung „Afrika“ für Aspekte, welche ein bestimmtes Land, eine spezielle Kultur oder eine einzelne Religion meinen, zeigt wie schwach die Länder, Kulturen und Religionen in ihren spezifischen strukturellen Zusammenhängen in westlichen Gesellschaften als autonome, sich entwickelnde und gleichwertige Gesellschaften wahrgenommen werden – ein eurozentrischer, kolonialer und vorrangig defizitär geprägter Blick auf diesen Kontinent bleibt und nährt Stereotype. Doch die einzelnen Gesellschaftssysteme rücken virtuell und real aufeinander zu und finden bereits in der eigenen Lebenswelt Verschränkungen, die uns direkt mit Globalisierungseffekten konfrontieren. Ereignisse wie das Reaktorunglück in Tschernobyl 1968, der 11. September 2001 oder der Arabische Frühling 2010/2011 haben eine komplexe Entstehungsgeschichte und wirken über Jahre hinaus weiter, indem sie Einfluss auf das Leben jedes Einzelnen oder jeder Einzelnen nehmen. Das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung kann jedoch nur dann begriffen werden, wenn die verschiedenen Perspektiven, die sich aus den gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen entwickeln, zusammengebracht und gegenübergestellt reflektiert werden. Oder wie es Ulrich Beck als „vielleicht […] markanteste Aussage der Theorie reflexiver Modernisierung“ formuliert: „Es geht nicht nur um externe Nebenfolgen, sondern interne Nebenfolgen der Nebenfolgen [Hervorhebung im Original kursiv, Anmerkung CK] industriegesellschaftlicher Modernisierung. Es geht, beispielhaft gesprochen, gar nicht um ‚Rinderwahnsinn’ als solchen, was er Tieren und Menschen antut, sondern darum, welche Akteure, Verantwortlichkeiten, Märkte etc. dadurch ‚elektrisiert’, in Frage gestellt werden, möglicherweise zusammenbrechen und welche Turbulenzen mit ihren schwer eingrenzbaren Kettenwirkungen dadurch in den Zentren der wirtschaftlichen und politischen Modernisierung unfreiwillig und ungewollt ausgelöst werden“ (Beck 1996a, S. 27).
Über Klimaentwicklungen, Wirtschaftsbeziehungen, Finanzmärkte, Stellvertreterkriege und vor allem über virtuelle Räume werden globale Beziehungen und
1.1 Problemaufriss
3
Abhängigkeiten sowie globale Chancen und Risiken generiert. Angeregt durch eine Vielzahl von Forschungsarbeiten zu Modernisierungseffekten und Globalisierungstendenzen (van Loon 2000; Strydom 2002; Mason 2005 Kasperson/Kasperson 2005; Ericson/Doyle 2004; Petryna 2002; Shaw 2005, zit. nach Beck 2008, S. 9 f.) hat Ulrich Beck sein Theorie der Risikogesellschaft (Beck 1986) 2007 zu einer Theorie der Weltrisikogesellschaft erweitert (Beck 2008) und in den Kontext kosmopolitischer Handlungsräume gestellt (Beck 2017). So wird deutlich, dass die Perspektivübernahme als Grundlage einer Ursache-Wirkungs-Reflexion erweiterte Fähigkeiten verlangt, um die verschiedenen Perspektiven – die man auch als Wahrheiten betrachten kann – miteinander ins Verhältnis zu setzen. Globalisierung und das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen fordert also den kontinuierlichen Abgleich von Eigen- und Fremdbild, von inneren vernetzten Mustern und äußeren Informationen oder auch die Auseinandersetzung mit eigenen Rechtsvorschriften und fremden Glaubenssätzen. Dass auch westliche, „moderne“ Gesellschaften innerhalb dieses Reflexionsprozesses an Grenzen stoßen, zeigt das Beispiel des Anschlags auf das Satiremagazin „Charly Hebdo“ am 7. Januar 2015 in Paris; speziell der mediale und öffentliche Umgang mit diesem. Die Solidaritätsbekundung „Je suis Charlie“ stand einerseits als Symbol gegen islamitisch motivierten Terror und muss als Ausdruck einer Beileidsbekundung für die Opfer gewertet werden, gleichzeitig setzte der Slogan ein Zeichen für die uneingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit als demokratisches, verfassungslegitimiertes Gut westlicher Gesellschaften. Dabei wurde – wenn auch nicht immer intendiert – die propagierte Presse- und Meinungsfreiheit in vielen medialen Berichterstattungen als einen zu schützenden Wert über die persönliche Betroffenheit vieler gläubiger und konservativer Muslime gesetzt. So war die Empörung groß, als Zeitungen wie die „New York Times“ sich dagegen aussprachen, die Charly-Hebdo-Karikaturen erneut zu drucken (vgl. Döpfner 2015). Aus muslimischen Kreisen jedoch gab es zu diesem Ereignis vermehrt die Rückmeldung, dass man den islamitischen Terror als nicht zum Islam gehörend ablehnt, sich aber gleichzeitig durch die Karikaturen des Propheten Mohammed verletzt fühlt, da der Islam die Darstellung des Propheten als menschliches Abbild missbilligt und die Herabsetzung durch Darstellungsformen wie Karikaturen als Gotteslästerung verbietet (Sinram 2015b, S. 253 ff.). Stellt man sich dabei kritisch die Frage, inwieweit von einer realen Freiheit der Presse gesprochen werden kann, wird deutlich, dass ein ideeller Wert als Ausdruck und Symbol einer demokratischen und säkularen Gesellschaftsordnung über das real existierende Wertesystem einer Glaubensgemeinschaft gestellt wurde. Denn solange Verleger über die Blattlinie Inhalte und politische Blickrichtungen bestimmen, Journalist*innen abhängige Lohnarbeiter*innen bleiben und das Internet nicht barrierefrei genutzt werden kann, kann von einer absoluten
4
1
Prolog
Freiheit der Presse auch in demokratisch geprägten Ländern keine Rede sein. Hier trifft eine zu diskutierende Wahrheit des Rechtstaates auf eine ebenso zu diskutierende Wahrheit des islamischen Glaubens. Nur wurde die Diskussion über diese Wahrheiten und über das Aushalten des damit verbundenen Widerspruchs 2015 zu leise geführt (vgl. Bilefsky 2015; Sinram 2015a; Sinram 2015b; Konersmann 2015). Eine Gesellschaft der Vielfalt – wie sie im Titel des Forschungsvorhabens aufgeführt ist – beschränkt sich demnach nicht nur auf die Gedanken, Forschungen und die ähnlich lautende Publikation Annedore Prengels (2006) zum Umgang mit gruppenbezogenen Formen von Verschiedenheit an Differenzlinien, sondern sie impliziert zudem die Existenz und dem reflektierten Umgang mit nebeneinander existierenden Wahrheiten resp. Widersprüchen als Ausdruck einer sich entgrenzenden Zweiten Moderne wie sie durch Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash (1996) kontrovers gezeichnet wurde. Eine Gesellschaft der Vielfalt fungiert ebenso als semantisches Bild für eine gesellschaftskritische Betrachtungen von Interdependenzbeziehungen (vgl. Elias 2003 [1987]; Verhaeghe 2013) und greift dabei gleichzeitig den Blick der modernen Raumwissenschaft auf das Verhältnis von Menschen in Räumen und den sich daraus ergebenden Interaktionen und Strukturen auf (vgl. Löw 2015a [2001]; Kessl/Reutlinger 2010d). Die (Selbst)Deutung der exemplarisch skizzierten Vielfalt an Wahrheiten, Perspektiven und Positionen sowie das Aushandeln der dabei entstehenden Widersprüche bezeichnet Beck als Formen direkter und indirekter Selbstinfragestellung (Beck 1996a, S. 74). Sie bilden reale Erscheinungsformen reflexiver Modernisierung innerhalb verschiedenster gesellschaftlicher Handlungsfelder: Dies betrifft Glaubensgemeinschaften ebenso wie Gesellschaftssysteme und nimmt dabei den einzelnen Menschen nicht aus seiner Verantwortung. Das Erleben von Ambiguitätstoleranz als identitätsfördernde Fähigkeit (FrenkelBrunswik 2013 [1949/59]); Krappmann 1969) und eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über den Erwerb dieser Kompetenz auf Subjektebene bildet dabei das Maß, an welchem sich die Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform in der Definition von Gerhard Himmelmann (2001) messen lassen kann. Der persönliche und auch der gesellschaftliche Umgang mit Widersprüchen ist die Basis für ein gelingendes Leben in gesellschaftlicher Vielfalt. Hieraus resultieren individuelle und gesamtgesellschaftliche Entwicklungsanreize, so dass dem Prozess, welcher der Erwerb dieser Fähigkeit und der damit verbundenen Schlüssel- und Lebenskompetenzen zugrunde liegt, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss: gelingende Sozialisationsprozesse als Lösungsansätze für die Herausforderungen demokratischer Gesellschaften. Als zentraler Sozialisationsinstanz kommt dabei Schule eine Schlüsselfunktion im Erlernen und Trainieren fächerübergreifender Kompetenzen zu. Marianne Horstkemper und Klaus-Jürgen Tillmann (2016)
1.1 Problemaufriss
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stellen die zentrale Anforderung an Schule im Kontext einer Gesellschaft der Vielfalt gleich zu Beginn ihrer gemeinsamen Publikation: „Am Beginn dieses Buches steht die Grundeinsicht, dass es in der Schule nicht nur um fachliches Lernen und um die Aneignung von „Bildungsinhalten“ geht, sondern dass die Schule auch einen Erziehungsauftrag hat: Sie soll den Heranwachsenden Anleitungen und Hilfestellungen geben, damit diese sich zu selbstbewussten, kritischen und toleranten Persönlichkeiten entwickeln können.“ (ebd., S. 9)
Ein Blick in die Lehrpläne – speziell die kompetenzorientierten Curricula – lässt vermuten, dass Schule diese Aufgabe fest in den Schul- und Unterrichtsalltag verankert hat. Service Learning als prototypische Form sozialräumlichen Lernens, in dessen Zentrum der Erwerb fächerübergreifender Kompetenzen steht, bildet in Sachsen-Anhalt einen Lehrplanbestandteil an mittlerweile drei Schulformen (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 7; 2013, S. 17; 2012b, S. 15 f.) sowie innerhalb eines schulischen Bildungsganges (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2010, S. 11). Tatsächlich lässt bereits der Untertitel – „Eine problemorientierte Einführung“ – der aktuellen Veröffentlichung Horstkempers/Tillmanns erahnen, dass zwischen Theorie und Praxis Differenzen bestehen. Ein Blick in die medial und öffentlich geführte Kritik an Schule und Hochschule bestärkt die Vermutung, dass Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz nicht hinreichend auf das Leben in einer sich verändernden und entwickelnden Gesellschaft vorbereitet. Publikationen wie „Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden“ (Allmendinger 2012), „Anna, die Schule und der liebe Gott“ (Precht 2013), „Warum unsere Studenten so angepasst sind“ (Florin 2014) und „Stoppt die Kompetenzkatastrophe. Wege in eine neue Bildungswelt“ (Erpenbeck/Sauter 2016) tragen über ihre Verfasser*innen akademischen Hintergrund, richten sich jedoch bewusst an ein populärwissenschaftliches Publikum. Vielleicht, weil Schule ein Thema ist, zu welchem alle Menschen ein eigenes fundiertes Alltagswissen aufweisen können. Vielleicht aber auch, weil Schule aufgrund struktureller Faktoren hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, um wirklich allen Lernenden die besten Möglichkeiten für die Entwicklung zwischen Individuation und Vergesellschaftung mit auf den Weg zu geben. Selbst die OECD – hier vertreten durch den Koordinator der PISA-Studien Andreas Schleicher – mit ihren standardisierten Schulleistungsuntersuchungen, welche stark auf formale Bildungserfolge ausgerichtet sind, übt konkrete Kritik, sobald es um die fehlende Schlüsselkompetenz des „kreativen Problemlösens“ in einer sich digitalisierenden und globalisierenden Berufswelt geht:
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Prolog
„Die Welt bezahlt Sie heute nicht mehr dafür, was Sie wissen. „Google“ weiß alles. Sie werden dafür bezahlt, was Sie mit Ihrem Wissen tun können. […] Niemand muss mehr nur Fachwissen akkumulieren. Es geht darum, dieses Fachwissen kreativ auf neue Zusammenhänge zu übertragen. Sonst werden Sie durch Computer ersetzt.“ (DIE WELT 2014)
Kehrt man nun den Blick um und versucht nachzuzeichnen, wie Menschen, die sich auf ihre persönliche Weise aktiv und kritisch in die Gesellschaft eingebracht haben, ihre Schulzeit beschreiben, erweitert sich der Diskurs um eine interessante Facette. Bekannt sind Helmut Schmidts Würdigungen der Hamburger „Lichtwarkschule“, die er selbst als den “Glücksfall einer guten Schule“ (Schmidt 2012, S. 222) bezeichnete. Die 1914 gegründete Schule mit reformpädagogischer Ausrichtung wurde 1920 nach dem Museumspädagogen und ersten Direktor der „Hamburger Kunsthalle“ Alfred Lichtwark benannt und zeichnete sich durch ein stark musischkünstlerisches Profil aus. An der Lichtwarkschule „versuchte man, statt formaler Autorität und Unterordnung zwischen Lehrern und Schülern ein partnerschaftliches Verhältnis herzustellen.“ (Ebd., S. 222 f.) In der Einschätzung Schmidts ist dieser Ansatz „wahrscheinlich weitestgehend gelungen“ (ebd., S. 223). Schmidt verweist ebenso auf die Anleitung zum selbstständigen und vielseitig aufgeschlossenem Lernen, gefördert durch das Selbstverständnis der Schule (ebd., S. 224). Weiterhin beschreibt er die Atmosphäre der Lichtwarkschule als Schutzraum, welcher auch bis zum Ende der Schule 1937 nationalsozialistisches Gedankengut weitestgehend von den Lernenden fern gehalten hat (ebd., S. 226). In seiner Erinnerung wird die Schule als Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsinstanz zum Raum kritischer Reflexion. Noch deutlicher wird der spätere biografische Einfluss dieser besonderen Schule, geht man mit Loki Schmidt auf Spurensuche. Als Schülerin Hannelore Glaser und Lehrerin Loki (Hannelore) Schmidt kann sie über die Lernenden- und Lehrendenperspektive das Unterrichts- und Schulkonzept der Lichtwarkschule reflektieren und die reformpädagogischen Gedanken dieses Lernortes in die Spezifik einer Gesellschaft der Vielfalt einordnen. Loki Schmidt (2007) benennt die Ermutigung der Schüler*innen zum selbstständigen Lernen und Erarbeiten durch die Lehrenden als wichtige Grundlagen für ihr späteres Leben (ebd., S. 89 f., S. 259). Über diese Fähigkeit werden Selbstvertrauen und Neugier aufs Lernen ausgelöst. Im Gespräch mit Reiner Lehberger beschreibt sie zudem das kameradschaftliche Verhältnis an der Schule als weitere Besonderheit: „Auch die Erziehung zur Toleranz war wesentlich. Da möchte ich ein Zitat von Ida Eberhardt [Lehrerin an der Lichtwarkschule und erste Klassenlehrerin Hannelore Glasers, Anmerkung CK] anführen, das sie uns schon in der Quinta, spätestens in der
1.1 Problemaufriss
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Quarta mitgegeben hat: ‚Hütet euch vor dem die [Hervorhebung im Original kursiv, Anmerkung CK]‘, hat sie wiederholt gesagt und dann ausgeführt: ‚Die Jungs, die Mädchen, die Schwarzen – hütet euch vor diesem die, das ist etwas Schlimmes.‘“ (ebd., S. 90)
Der Unterricht der Lichtwarkschule wurde durch das Prinzip des fächerübergreifenden Lernens geprägt (Beer 2007, S. 81 f.; Wendt 2000, S. 97 f.) und über die Durchführung von Doppelstunden strukturell begünstigt. Den Kern dieses Unterrichts bildete das interdisziplinäre Fach „Kulturkunde“, wodurch Deutsch, Geschichte und Religionskunde im Fächerverbund gelehrt werden konnten (Beer 2007, S. 82; Schmidt 2007, S. 79; Wendt 2000, S. 100 ff.). Um die Selbstständigkeit sowie das Durchhaltevermögen der Lernenden anzuregen und um ihnen die Möglichkeit zu geben, interessengeleitet komplexe Zusammenhänge resp. Nebenfolgen eigenständig zu erarbeiten, waren für alle Lernenden sogenannte „Jahresarbeiten“ obligatorisch (Beer 2007, S. 82 ff.; Schmidt 2007, S. 72 ff.; Wendt 2000, S. 98 ff.). Diese Jahresarbeiten entsprachen den Reifeprüfungsarbeiten der Oberstufen, wurden jedoch bereits in der Unterstufe angefertigt, um kontinuierlich das eigenständige Arbeiten und Forschen anzuregen. Oftmals bildete die jährliche Klassenfahrt den Anreiz, eine eigene Forschungsfrage zu entwickeln, auf welcher aufbauend die Jahresarbeit gestaltet wurde. Das Erleben außerhalb der Schule wurde zum Impuls für die eigenen Ideen und Gedanken. In seiner Dissertationsschrift über die Hamburger Lichtwarkschule schafft Joachim Wendt (2000) über Archivmaterial und Zeitzeugen-Interviews ein komplexes Bild zu dieser reformpädagogisch orientierten Schule. Die Funktion der Klassenfahrten wurde in Lehrenden-Interviews unterschiedlich gewichtet. Einigkeit bestand jedoch darin, dass man mit den Fahrten „nichts Geringeres bezweckt habe, als den Grund zu legen ‚für die Erkenntnis von raumzeitlicher Bedingtheit des gesellschaftlich kulturellen Lebens‘“ (ebd., S. 193). Dass dieser sozialräumlich ausgerichtete Ansatz produktiv auf die Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden einwirkte, davon zeugten nicht nur die gesellschaftspolitischen Rollen von Helmut und Loki Schmidt. Obwohl eine Reihe der ehemaligen Lernenden die Offizierslaufbahn einschlug und in die SS eintraten (Wendt 2000, S. 364), geht aus der Lichtwarkschule der antinazistische Widerstand des Hamburger Kreises um die „Weiße Rose“ hervor (Beer 2007, S. 120). Die Vermutung steht, dass speziell das Selbstverständnis der Schule, Lernende zu kritischen und mündigen Menschen zu erziehen, das Handlungsprinzip des Hinterfragens und gesellschaftlichen Engagement mit geprägt hat. Loki Schmidt selbst vertrat eine stark sozialisationsgeprägte Auffassung von Wissen und Wissensvermittlung. So kommentiert sie im Interview mit Reiner Lehberger die PISA-Untersuchungen kritisch: „Die Zeiten des reinen Fächerwissens sollten wir
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Prolog
hinter uns gelassen haben. Wissenserwerb muss immer eingebunden sein, denn Wissen ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, dass die Schüler mehr von ihrer Umwelt erfahren.“ (Schmidt 2007, S. 234) Demnach ist Wissen der Erwerb von besonderen Kompetenzen zur Wissensgenerierung sowie der produktive Umgang mit dem Wissen – eingebunden in die persönliche Lebenswelt und gesellschaftliche Zusammenhänge mit all ihren Nebenfolgen. Das Prinzip der Lichtwarkschule, das Lernen auch außerhalb von Schule in gesellschaftlich kulturelle Kontexte zu stellen, kann auch als sozialräumliches Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt begriffen werden. Dieses Prinzip bildet den Kern der vorliegenden Arbeit.
1.2
Gegenstand der Arbeit
Die Forschungsarbeit möchte einen Beitrag im Diskurs zu Aufgaben und Grenzen einer modernen Schule an der Schnittstelle zwischen Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlicher Partizipation leisten. Dabei sollen Handlungsräume innerer und äußerer Realität zu Aktions- und Interaktionsräumen von Schule werden. Die Untersuchung konzentriert sich auf eine Öffnung der Schule in den Sozialraum hinein, indem a) Projektarbeit mit Lehrplaninhalten und -kompetenzen gekoppelt wird, b) der Unterricht in das Quartier als Sozialraum verlagert wird und c) externe Akteur*innen aus dem Quartier in die Unterrichtsgestaltung eingebunden werden. Darüber wird der Lernort erweitert, was einen Zugriff auf weitere externe Ressourcen des Quartiers erlaubt. Für Lernende und Lehrende werden neue Lern- und Handlungssituationen geschaffen, die ein erweitertes Handlungsrepertoire verlangen und im Sinne John Deweys (1986 [1938]) Begriff der experience die Handlungsfähigkeit erweitern. Die neue Lernsituation stärkt das reflektierende Denken, welches nicht angeregt wird, „ohne dass vorher in irgendeiner Form das Gefühl einer Schwierigkeit empfunden wurde“ (Dewey (2002 [1910], S. 15). Demnach ist der Blick der Arbeit ein konstruktivistischer Blick, welcher die Öffnung der Schule in das Quartier resp. in den Sozialraum nutzt, um eine erweiterte, sozialräumliche Form des Lernens zu etablieren, welche über den Erwerb formaler Bildung hinausgeht. So können Lernenden und Lehrenden im Sozialisationsprozess zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden: Indem neue Situationen des Lernens geschaffen werden, wird neues Handlungswissen generiert. Diese Form des situierten Lernens wird in einer Gesellschaft der Vielfalt, welche reflexive Modernisierung unerlässlich werden lässt, immer wichtiger werden, denn
1.2 Gegenstand der Arbeit
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„der Mensch ist ein beobachtendes und handelndes, ein schaffendes Wesen, das viele der Probleme bewältigen muss, die ihm eine äußere Natur auferlegt, der aber in der Zivilisation auch zunehmend seine eigenen Probleme schafft, die er zu lösen hat. So sind wir Konstrukteure unseres Lebens immer auch und immer mehr mit uns selbst beschäftigt, wenn es um die Frage der Wahrheit, der Richtigkeit, der Verständlichkeit und Bedeutsamkeit unseres Tuns und Denkens geht.“ (Reich 2008, S. 75)
Somit schlägt die Arbeit eine Brücke zwischen konstruktivistischer Didaktik und moderner Sozialisationsforschung. Diese untersucht das lebenslange Wechselspiel zwischen innerer, subjektiver Realität und äußeren, gesellschaftlichen Einflüssen, um darüber Lösungen für ein produktives, sinnstiftendes Leben als Individuum in gesellschaftlichen Kontexten ableiten zu können. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR) als eine durch Klaus Hurrelmann entwickelte metatheoretische Matrix sozialisationstheoretischer Prozesse beschreibt zehn Thesen, die einem konstruktivistischen Verständnis entsprechen. So verweisen dritte und fünfte These auf lebenslange Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen, deren Sinnhaftigkeit zunächst konstruiert werden muss, um darüber Antworten und Lösungen zu finden (Hurrelmann/Bauer 2015, S. 106–143), „wenn es um die Frage der Wahrheit, der Richtigkeit, der Verständlichkeit und Bedeutsamkeit unseres Tuns und Denkens geht“ (Reich 2008, S. 75). Über dieses Verständnis von sozialräumlichen Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt entwickelt sich die Theoriegrundlage der vorliegenden Forschungsarbeit, die versuchen wird Jean Laves & Etienne Wengers (2011 [1991]) konstruktivistische Theorie des situierten Lernens, speziell das daraus entwickelte Modell der Community of Practice (CoP) (Wenger 2008 [1998]; Wenger et al. 2002), in das meta-theoretische Modell der produktiven Realitätsverarbeitung als sozialisationstheoretische Grundlage einzuordnen. Parallel dazu erfolgt der Blick auf das psychologisch geprägte Verständnis von Aneignung (Leontjew 1973 [1959]; Deinet 1992) in Abgrenzung zu Hartmut Rosas (2016) Begriff der Anverwandlung als Repräsentation von gelungenen Resonanzbeziehungen. Das darüber gewonnene konstruktivistisch-sozialisationstheoretische Grundverständnis des Arbeitsansatzes bestimmt sozialräumliches Lernen als Methode, Lernsetting und Sozialisationserfahrung. Der Blick der Arbeit ist weiterhin ein Blick, der von außen auf Schule gerichtet und in den Unterricht eingebracht wird. Es ist ein Blick der Stadtraumplanung, Quartierentwicklung und sozialräumlichen Arbeit, welcher zu einem Blick an der Schnittstelle zwischen Schule und Sozialraum weiterentwickelt wurde. Diese Blickrichtung schließt an erste Untersuchungen zum Lernen in kollaborativen und sozialräumlichen Kontexten (vgl. Edelstein/Fauser 2001; Seifert 2010; Seifert/Nagy 2014; Backhaus-Maul et al. 2015) an und entwirft dabei ein eigenes Grundverständnis von sozialräumlichem Lernen als Form eines gesellschaftlichen, mündigen
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Lernens, indem es Sozialraum und Lernen in diesem definiert und diese Definition einem arbeitsspezifischen Begriff einer Gesellschaft der Vielfalt zugrunde legt. Somit fungiert die Arbeit als Bindeglied zwischen Schule als Lernort und Sozialraum als gesellschaftlichem Raum. Auch wenn bisher verstärkt die Position vertreten wird, dass die Trennung zwischen Sozialraum und Schule als notwendige Voraussetzung zu sehen ist, um allen Kindern und Jugendlichen im Schonraum der Schule die Möglichkeit des Gleichseins zu schaffen, wie sie im realen Leben jenseits der Schule kaum möglich ist (vgl. Mack/Schroeder 2005, S. 338), führt die Arbeit Gründe auf, weshalb gerade diese Trennung, Schule als Sozialisationsinstanz einschränkt und hinter ihren Gestaltungsmöglichkeiten zurücklässt. Die Vermutung innerhalb dieser Position, dass sich sozialer Ungleichheit womöglich „durch eine raumbezogene Schulentwicklung entgegenwirken lässt“ und die Frage, „wie der Sozialraum als Ressource zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit genutzt werden kann“ (ebd., S. 338) sind Gegenstand der vorliegenden Forschungsarbeit und sollen mit dieser belegt werden, indem sie neue Impulse für die didaktische Forschung generieren. Die Basis für diesen Forschungsansatz bilden dabei konkrete gesellschaftspolitische Entwicklungen: Das Jahr 2015 markiert einen entscheidenden Wendepunkt. Sowohl für die sozialwissenschaftliche Forschung als auch für die politische Praxis wird die Frage obsolet, wie ein demokratisches Land mit den Krisen seiner Zeit konstruktiv umgehen kann und muss. Das Jahr 2015 wird zum Jahr der „Flüchtlingskrise“ und gleichzeitig zum Jahr, in welchem nationalkonservative Kräfte wie die „Alternative für Deutschland“ (AfD) und „PEGIDA“ Zulauf und Zuspruch erhalten, indem sie Ängste, Politikverdrossenheit und offene Fragen oftmals instrumentalisieren – und etablierte demokratische Kräfte scheinbar nichts (Er)Lösendes entgegenzusetzen haben. Das Lernen in gesellschaftlichen, sozialräumlichen Kontexten bildet den Schwerpunkt dieser Forschung, basierend auf einem fast zehnjährigen Arbeitswissens der Verfasserin zu sozialräumlicher Projektarbeit. Die multikausalen Ursachen und reflexiven Nebenfolgen des Jahres 2015 haben den Sozialraum, welcher dieser Arbeit als Forschungsregion und Wissensressource dient, entscheidet gestaltet. Im März 2016 zog die AfD mit 24 % der Wählendenstimmen in den Landtag Sachsen-Anhalts. Ihren größten Erfolg konnte sie mit über 33 % im Wahlbezirk Bitterfeld – dem der Forschungsarbeit zugrundeliegender Sozialraum Bitterfeld-Wolfen – verbuchen (Sachsen-Anhalt 2016). Die politischen Entwicklungen in der Region sind bei genauer Sozialraumanalyse und Beobachtung der sozioökonomischen Entwicklung im Landkreis Anhalt-Bitterfeld nicht verwunderlich (vgl. auch Abschnitt 5.1) und über Untersuchungen zur Entstehung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Städten und Gemeinden erforscht (Heitmeyer 2002–2011; Grau/Heitmeyer 2013). Bereits 2013
1.2 Gegenstand der Arbeit
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gab es konkrete Hinweise auf eine ernst zunehmende Extremismuszunahme. Eine 2013 veröffentlichte Studie zum Bundesprogramm „Toleranzen fördern – Kompetenzen stärken“ weist bereits damals auf die regionale Gefährdungslage hin. Die Untersuchung, welche sich unter anderem aus Daten des Innenministerium Sachsen-Anhalts und des Verfassungsschutzes speist, bezeichnet den Landkreis Anhalt-Bitterfeld als „Hochburg neonazistischer Aktivitäten und Gewalttaten in der Region [Hervorhebung im Original, Anmerkung CK]“ (Anhalt-Bitterfeld 2013, S. 13). Das im Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung, die laut Studie vor allem auch Diskriminierungen im schulischen Kontext betreffen (ebd., S. 15), keine abgestimmte Präventionsarbeit erfolgte, zeigen nicht nur die Wahlergebnisse, sondern auch die den Wahlen vorausgegangenen rechtsextremistischen Ausschreitungen im Frühjahr 2015 (Oppenkowski 2015; Löwe 2015) sowie die Ereignisse in Köthen 2018 (Rietzschel 2018; Speit 2018) – einer Stadt, die ebenfalls zum Landkreis zählt. Die Frage für die Region muss nun lauten, wie präventive Ansätze gestalten und wie sie greifen können. „Präventiv“ ist dabei in einem primär- und sekundärpräventiven Sinne zu verstehen und umfasst Ansätze, die helfen, fremdenfeindlichem Gedankengut vorzubeugen oder diesem Bildungs- und Erfahrungsangebote entgegenzuhalten, die den Abbau von Vorurteilen fördern. Es soll um die interkulturelle Öffnung der Region Bitterfeld-Wolfen über bestehende Bildungs-, Erziehung- und Sozialisationsstrukturen gehen, damit langfristig der Integrationsprozess als wechselseitiger Prozess gelingen kann. Grundlage dafür bilden fächerübergreifende Kompetenzen, die helfen, (Erfahrungs)Wissen zu sammeln, dieses kritisch zu reflektieren, um darüber subjektive Wahrnehmungen und strukturelle Faktoren produktiv zu korrigieren – sofern es die Reflexion erfordert. Über die interkulturelle Kompetenz und die reflexive Handlungsfähigkeit werden jedoch nur zwei Facetten reflexiver Modernisierung erfasst. Um einen ganzheitlichen konstruktivistisch-sozialisationstheoretischen Blick auf das Leben und Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt zu entwickeln, muss die Arbeit weitere Schnittstellen moderner gesellschaftlicher Realität aufgreifen, so dass der Arbeitsanspruch zugrunde gelegt wurde, ein umfassendes System des fächerübergreifenden Kompetenz-Begriff zu entwickeln. Das zugrundeliegende Verständnis eines ganzheitlichen Kompetenzbegriffs im Kontext einer Gesellschaft der Vielfalt spricht für einen interdisziplinären Blick der Arbeit, der über einen Zugang durch unterschiedliche Forschungsrichtungen ein arbeitsspezifisches Verständnis einer modernen Didaktischen Forschung generiert. Damit setzt sich die Arbeit bewusst der Kritik aus, womöglich nicht hinreichend die Fragen einer einzelnen Forschungsdisziplin zu beantworten oder Termini einer Fachpraxis nicht allumfassend in die jeweilige Forschungstradition einzuordnen.
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Will man jedoch Schule an der Schwelle zum Sozialraum mit Blick auf Formen, Chancen und Grenzen hin untersuchen – wie es der Titel der Arbeit auch benennt – bewegt sich das Forschungsvorhaben unweigerlich auf Mikro-, Mesound Makroebene und wendet sich an verschiedene Zielgruppen. Somit ist Didaktische Forschung im Verständnis der vorliegenden Arbeit keine reine Disziplin der Erziehungs- oder Bildungswissenschaft. Über das sozialräumliche Lernen werden Ansätze der Sozialpsychologie erfasst, ebenso wie Grundlagen der Sozialen Arbeit im Sozialraum resp. Quartier. Weiterhin kann nicht zu Sozialisationsprozessen durch Schule geforscht werden, wenn die soziologische Perspektive außen vor bleibt, welche im Verständnis einer modernen Demokratiepädagogik auch stets eine politikwissenschaftliche Perspektive abbildet. Klaus Hurrelmann bringt im Gespräch mit Ulrich Bauer die politische Bedeutung der Sozialisationstheorie auf den Punkt: „Ich bin überzeugt, das Sozialisationskonzept hat nach wie vor eine Schlüsselbedeutung für die Erklärung der Integrationskraft einer Gesellschaft und Handlungskraft eines Menschen. In diesem Sinne ist die Sozialisationstheorie in ihrem Kern politisch relevant, denn sie hilft, die elementaren Fragen zu beantworten, wie Gesellschaft und Individuum interagieren, wie sich ein Mensch nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit seiner sozialen und räumlichen Umwelt auseinandersetzt und sie auf seine Weise gestaltet.“ (Hurrelmann/Bauer 2015, S. 225)
So ist es auch verständlich, dass die Arbeit sich nicht ausschließlich an die Lehrendenaus- und -weiterbildung wendet, sondern Schulsozialarbeiter*innen und Gemeinwesenakteur*innen ebenso als Zielgruppe impliziert, wie die Bildungspolitik, welche auf Bundes- und Länderebene Weichen stellt, um Schule in gesellschaftliche Modernisierungsprozesse einzubinden. Um es mit den Erscheinungen der Zweiten Moderne als Gesellschaft der Vielfalt zu begründen: Es geht um schwer eingrenzbare Kettenwirkungen (Beck 1996a, S. 27), die ein Problem in ihrer Verschränkung formieren und auch durch eine übergreifende Betrachtung zu lösen vermögen. Die Arbeit intendiert über den interdisziplinären Zugang und die zugrunde liegende Theorie-Praxis-Verschränkung auch die Forderung an Wissenschaft und gesellschaftspolitische Praxis, wieder verstärkt in einen kritischen Austausch zu gehen. Somit ist diese Forschung auch – jenseits der wissenschaftlichen Wertneutralität – als „Gesellschaftsanalyse“ zu verstehen, um über das Infragestellen der bestehenden Strukturen einen wissenschaftlichen und zugleich individuellen Beitrag reflexiver Modernisierung leisten zu können. Oder wie es Scott Lash in seiner Definition von struktureller Reflexivität als Ansatz reflexiver Modernisierung formuliert: Die „sozialen Existenzbedingungen der Handelnden“ (Lash 1996, S. 203) bilden einen wesentlichen Kern des Reflexivitätsansatzes. Auf
1.2 Gegenstand der Arbeit
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die vorliegende Forschungsarbeit bezogen, bedeutet dies, dass sozialräumliches Lernen nicht nur mit Blick auf seine Lernerfolge hin untersucht werden kann, sondern auch in einem ganzheitlichen Kontext bewertet werden muss. Neben den Formen und Chancen dieser Lernform sollen auch strukturelle Bedingungen, die ein Lernen im und durch den Sozialraum erschweren oder auch fördern, benannt und analysiert werden. Über diese Verschränkung der Betrachtungs- und Zielgruppenebenen lässt sich mit der Arbeit ein Nachhaltigkeitswert für fortführende thematische Forschungen und bildungspolitische Entwicklungen erzielen. Die sozialen Existenzbedingungen sozialräumlichen Lernens fordern einen Theorie-Praxis-Transfer und die reflexive Vernetzung verschiedener Forschungsdisziplinen im interdisziplinären Diskurs. Ausgehend von der konstruktivistisch-sozialisationstheoretischen Grundannahme, dass der Erwerb fächerübergreifender Kompetenzen über die reflexive Auseinandersetzung mit innerer und äußerer Realität Persönlichkeitsentwicklung und Partizipationsprozesse stützt, werden in der Arbeit Hypothesen und abgeleitete Forschungsfragen entwickelt: 1. Hypothese: Sozialräumliches Lernen verstärkt Sozialisationsprozesse und damit auch Erziehungs- und Bildungsansätze – sofern „Bildung“ und „Erziehung“ als Unterbegriffe von „Sozialisation“ verstanden werden (Hurrelmann/Bauer 2015, S. 15 f.; Horstkemper/Tillmann 2016, S. 25). Über sozialräumlich orientierte Lernsettings lassen sich fächerübergreifende Kompetenzen allumfassend ansprechen. Darüber wird die Fragestellung A) Welche Kompetenzen, die für ein Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt relevant sind, können über das sozialräumliche Lernen trainiert und gestärkt werden?
abgeleitet. Dafür nutzt die Arbeit die vergleichende Textanalyse bestehender Kompetenzmodelle und überprüft die deduktiv am Berufs- und Alltagswissen der Verfasserin entwickelten Kategorien über eine synoptische Darstellung zu etablierten Kompetenzbegriffen. Da Sozialisation in ihrem Verständnis einer Person-Umwelt-Beziehung neben der Subjektebene und der daran gekoppelten Entwicklung einer Ich-Identität stets auch den Prozess der Vergesellschaftung umfasst und damit eine Brücke zwischen Mikro- und Makroebene schlägt, setzt die Arbeit eine 2. Hypothese: Sozialräumliches Lernen fördert Integrations- und Partizipationsprozesse, Reflektionsprozesse, Handlungs- und Gestaltungsprozessen sowie Modifizierungs- und Transformationsprozesse.
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B) Welche Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich über das sozialräumliche Lernen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ableiten?
Die zweite Forschungsfrage baut auf der ersten Forschungsfrage auf und fungiert als Bindeglied zur sozialwissenschaftlichen, speziell zur politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung. Indem das Kategoriensystem zur Beantwortung der primären Forschungsfragen an schulischen Schnittstellen der fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung und zugleich an gesellschaftlichen Schnittstellen des Zusammenlebens in einer Zweiten Moderne abgeleitet wird, kann die darauf aufbauende Forschungsfrage auf die gesellschaftliche Strukturebene zurückgreifen und nimmt dabei den dualistischen Ansatz der Sozialisationstheorie auf. Im Vorfeld des Forschungsvorhabens wurden im Landkreis Anhalt-Bitterfeld 52 allgemeinbildende Schulen angeschrieben, um ihnen das Vorhaben vorzustellen und um sie als Partner für eine forschungsbegleitende praktische Arbeit zu gewinnen. Es gab keinerlei Rückmeldungen, so dass in einer 3. Hypothese davon ausgegangen wird, dass sozialräumliches Lernen – speziell Service Learning – zwar curricular verankert ist, aber in der Praxis selten umgesetzt wird. Es entwickelt sich eine dritte Forschungsfrage: C) Welche Aspekte behindern bzw. fördern die Implementierung sozialräumlichen Lernens?
Diese Fragestellung wird durch die Einbindung eines arbeitsbegleitenden, umfassenden Projektmanagements zusätzlich gestützt und in meso- und makrostrukturelle Gesamtzusammenhänge eingebunden, so dass die vierte Fragestellung über die schulinterne Perspektive hinausgeht. Darüber lassen sich Möglichkeiten und Grenzen sozialräumlichen Lernens ganzheitlich analysieren, womit der didaktische Forschungsansatz von der Lehrendenbildung auf die Bildungspolitik erweitert wird. Denn, so die 4. Hypothese, der Theorie-Praxis-Transfer zwischen Bildungsforschung und -politik auf der einen Seite und gelebter Schul- und Unterrichtsrealität auf der anderen Seite ist unzureichend. Bereits zu Beginn der Arbeit wurden strukturelle Schwierigkeiten bei der Konzeption sozialräumlicher Lernprojekte deutlich, welche die Einbindung einer bildungspolitischen Debatte unerlässlich machen. So verbietet das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern den Einsatz von Bundesstrukturmitteln im Unterricht, was eine Vielzahl von Kultur- und Bildungsprojekten im Rahmen des Unterrichts unmöglich macht. Aufgrund dessen kann der Blick auf sozialräumliches Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt nur ein interdisziplinärer Blick sein, der verschiedenster Ebenen und Zugänge integriert.
1.2 Gegenstand der Arbeit
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Um künftigen Forschungen und möglichen praxisbezogenen Handlungsansätzen die Arbeit am Konzept des sozialräumlichen Lernens zu ermöglichen, entwickelt die vorliegende Arbeit eine Definition sozialräumlichen Lernens und leitet dabei Kennzeichen, Modi, Realitätsebenen und Qualitätsmerkmale dieser Lernform ab. Somit muss eine vierte Forschungsfrage lauten: D) Was versteht man unter sozialräumlichem Lernen und wie lässt sich diese Lernform gestalten?
Die Definition leitet sich aus ausgewählten Theoriegrundlagen des SozialraumDiskurses ab und wird über etablierte und innovative Formen eines sozialräumlichen Lernens geschärft sowie durch das der Arbeit zugrundeliegende Forschungsdesign ergänzt. Mit Einbindung der bildungspolitischen Makroebene greift die Arbeit die Forderung der Bildungswissenschaft nach strukturellen Vernetzungen auf, welche als Basis eines Theorie-Praxis-Transfers zwischen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und bildungspolitischen Planungs- und Entscheidungsgremien fungiert. So forderte Franz E. Weinert (2014) – dessen Kompetenzdefinition nach wie vor das Grundverständnis eines schulischen Kompetenzmodells abbildet – mit Blick auf Kompetenzmessungen in Schulen die Vernetzung von Ministerien, Bildungspolitiker*innen, Schuladministrator*innen mit Wissenschaft und Schule im Sinne einer ganzheitlichen Bildungsstrategie. Die Bildungssoziologin Jutta Allmendinger geht in ihrer Forderung nach einer abgestimmten Bildungsstrategie noch weiter: Neben einer Vernetzung der einzelnen Akteur*innen fordert sie ein Überdenken des föderalistischen Bildungsprinzips (Allmedinger 2012, S. 221–232; 2013, S. 75 ff.), welches bisher differenzierte Datenanalysen erschwert und vor allem auch mit Blick auf eine Minimierung sozialer Ungleichheiten die Entwicklung entsprechender, aufeinander abgestimmter Handlungsstrategien nahezu unmöglich macht. Allmendingers Forderung einer Bildungspolitik als Querschnittsaufgabe fast aller Politikbereiche (Allmendinger 2013, S. 77) nimmt dabei auch die Wirtschafts, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in die Verantwortung. „Wenn das Schulsystem hinter die gesellschaftlichen Anforderungen der Arbeitswelt zurückfällt, entstehen enorme gesamtgesellschaftliche Folgekosten, wirtschaftlicher und sozialer Art.“ (Ebd., S. 77) Aus dieser Perspektive sowie aus einem systemtheoretischen Verständnis heraus muss die Didaktische Forschung eine Verbindung zur Soziologie und (Bildungs)Politik schaffen, um gesellschaftliche Teilsysteme über Schnittstellenthemen in die gemeinsame Diskussion zu führen. Der interdisziplinäre Ansatz des Vorhabens bildet den Versuch, Alltagspraxis, Forschung sowie politisches
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Problem- und Handlungsbewusstsein über das sozialräumliche Lernen als strukturelle Herausforderung und gleichzeitige gesellschaftliche Chance im Diskurs zu vereinen.
1.3
Gliederung
Die Arbeit wendet sich zunächst der Beschreibung einer Gesellschaft der Vielfalt zu (Kapitel 2). Dabei greift sie auf das Theorieverständnis Reflexiver Modernisierung zurück und beschreibt Gesellschaft an vier Differenzlinien, die zugleich Prozessschritte eines mündigen, sozialräumlichen Lernens abbilden. Es folgt die schrittweise Entwicklung des Arbeitsbegriffes eines Sozialräumlichen Lernens über bestehende Theorie-Modelle des Bildungsdiskurses (Kapitel 3). Gestützt wird dieser Arbeitsbegriff mit Hilfe bestehender Formen eines sozialräumlichen Lernens. Darüber sowie über die praktische Grundlage der Arbeit lassen sich für das sozialräumliche Lernen Qualitätsmerkmale analog eines demokratischen Lernens (Seifert/Nagy 2014) ableiten und schärfen. Es schließt sich die deduktive Entwicklung eines Kompetenzsystems an, welches zugleich einem fächerübergreifenden Kompetenzmodell einer Gesellschaft der Vielfalt entspricht (Kapitel 4) und welches im Lehr- und Lernalltag einer Zielerreichung der politischen Bildung zugrundegelegt werden kann. Im Anspruch mit dieser Arbeit auch Aussagen zur weiteren Nachnutzung eines Modells des sozialräumlichen Lernens treffen zu können, beschreibt die Arbeit sozialräumliches Lernen aus Subjekt- und Strukturperspektive (Kapitel 5). Dabei ist relevant, welche Möglichkeiten diese Form des Lernens für den Einzelnen abbildet, aber zugleich wird gezeigt, welche sozialen Impulse über diese spezielle Art des Lernens auf Gesellschaft und ihre sozialräumlichen Teile zurückwirken. Zugleich verortet dieses Kapitel sozialräumliches Lernen als emanzipativen Prozess. Dabei darf nicht ausgespart werden, welche mikro-, meso- und makrosoziologischen Faktoren das sozialräumliche Lernen stützen oder hindern, soll das sozialräumliche Lernen in Schule stärker implementiert werden (Kapitel 6). Die gegenwärtig realen Möglichkeiten werden im abschließenden Kapitel benannt und weiteren Forschungsansätzen, die sich über und aus dem sozialräumlichen Lernen selbst ergeben, gegenübergestellt (Kapitel 7). Die Form des Epilogs ist für eine wissenschaftliche Arbeit eher untypisch, wurde jedoch gewählt, um die sehr subjektiven Gründe, die jedoch zugleich reflexive Facetten eines komplexen Sozialraums abbilden, deutlich zu machen; denn ohne diese Gründe, hätte es diese Arbeit nie gegeben. Sie orientiert sich dabei in allen Kapiteln grundlegend an der hier gestellten Eingangsfrage: Wie viele „Wahrheiten“ gibt es?
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Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
2.1
Gesellschaftlicher Raum im Blick der Theorie reflexiver Modernisierung
„Die Geschichte der Moderne, der Sozialformation oder Lebensform, die das menschliche Leben auf der Erde im 21. Jahrhundert weitestgehend bestimmt, lässt sich auf so viele und so unvereinbare und widersprüchliche Weisen erzählen, dass manche Historiker, Philosophen oder Sozialwissenschaftler vorschlagen, den Begriff ‚Moderne‘ überhaupt preiszugeben.“ (Rosa 2016, S. 517)
Doch will man über Bildung und Lernen in einer modernen Gesellschaft sprechen und stützt sich dabei auf den grundlegenden Kern der Sozialisationstheorie bzw. das wesentliche Verständnis des Konstruktivismus – das produktive, wechselseitige Verhältnis zwischen innerem Raum des lernenden Subjektes und äußeren Raum der Gesellschaft – kann der „Begriff ‚Moderne‘“ nicht ausgespart werden, vor allem dann nicht, wenn die Zielstellungen der vorliegenden Arbeit auch in der Beschreibung des sozialräumlichen Lernens als Form der Persönlichkeitsentwicklung sowie in der Darstellung einer daraus abgeleiteten Gestaltung des sozialen Raums liegen. Das vierte Kapitel der vorliegenden Arbeit vertieft den Bereich der Persönlichkeitsentwicklung über einen fächerübergreifenden Kompetenzerwerb; dieses Kapitel widmet sich der Beschreibung des äußeren gesellschaftlichen Raums als Basis-Kategorie und Koordinatensystem des sozialräumlichen Lernens. Um gesellschaftlichen Raum umfassend beschreiben zu können, braucht es den Blick in die Theoriegeschichte bei gleichzeitiger Analyse bestehender aktueller Diskurse – innerhalb und außerhalb der Soziologie. Diese Vorgehensweise wäre für die Didaktische Forschung hilfreich, ermöglicht es doch eine Einordnung methodisch-didaktischer Ansätze mit Blick auf ihre Notwendigkeit, Wirkkraft und
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_2
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
Weiterentwicklung. Oder anders ausgedrückt: Als zentrale Sozialisationsinstanz muss die Schul- und Bildungsforschung den gesellschaftlichen Raum als Bestandteil schulischer Realität in ihr Erkenntnisinteresse integrieren. Dafür braucht es die historische und vergleichende Analyse gesellschaftlicher Realität als eine Polarität der Persönlichkeitsentwicklung. Um diesen Handlungsanspruch gerecht werden zu können, muss die vorliegende Arbeit eine Entscheidung treffen, um basierend auf einer Theoriegrundlage, den gesellschaftlichen Raum als Abbild gesellschaftlicher Vielfalt zu beschreiben. Eine umfassende bzw. verschränkte Analyse des gesellschaftlichen Raums ist mit Blick auf die Zielstellung der Arbeit – sozialräumliches Lernen anhand ausgewählter Kriterien zu beschreiben, zu erproben und zu analysieren – nicht ganzheitlich möglich, wird aber speziell der Didaktischen Forschung als Teildisziplin der Schul- und Bildungsforschung empfohlen. Ausgehend vom Verständnis einer „Pädagogik der Vielfalt“, wie die Publikation 1993 durch Annedore Prengel (2006 [1993]) als pädagogisches Manifest und Handlungsorientierung im Umgang mit Individualität und Heterogenität herausgebracht wurde, beschreibt Prengel Gesellschaft im Fokus der Subjektorientierung. Die Theorie reflexiver Modernisierung skizziert ergänzend gesellschaftlichen Raum jenseits einer subjektorientierten Prämisse von Vielfalt; Vielfalt wird in einer Zweiten Moderne zur Verkettung von Handlung, Folgen und Nebenfolgen. Dabei leitet die Modernisierungstheorie um Ulrich Beck einem Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität ab, der eine bildungswissenschaftliche, handlungstheoretische Analyse zum Verständnis von Individualität und Vielfalt impliziert und dennoch weit mehr ist als das: Die Betrachtung des gesellschaftlichen Raumes im Blick einer Theorie reflexiver Modernisierung schließt strukturelle Bedingungen der Wirtschaft und der Märkte ein (vgl. Beck 2007b, 2008, 2009; Döhl et al. 2001; Giddens 1992; Kratzer et al. 2004) ebenso wie die sukzessive Auflösung der Nationalstaaten und ihre Reformierung als kosmopolitische Gemeinschaften (vgl. Beck 2007a, 2007b, 2017; Dahrendorf 1994; Grande 2004) oder aber das wachsende globale Risiko sich wandelnder Konsum- und Produktionslogiken (vgl. Beck 1986; Beck 2017; BeckGernsheim 1994; Giddens 2001; Vossenkuhl/Sellmaier 2001) als Kennzeichen einer aktuellen Zweiten Moderne. Die Theorie reflexiver Modernisierung stellt neben die individuelle Vielfalt eine breite Palette von Handlungsmöglichkeiten, Handlungsroutinen sowie Handlungsverschränkungen und analysiert deren Folgen. Der Theoriediskurs bildet über die Strukturanalyse und über den makrosoziologischen Fokus eine umfassende Beschreibung des gesellschaftlichen Raums und spiegelt – in Verschränkung mit Prengels Pädagogik der Vielfalt als pädagogischem Konzept – eine Gesellschaft der Vielfalt wider, wie sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit Ausgangs- und Orientierungspunkt ist, um sozialräumliches Lernen als methodischdidaktische Antwort auf die Frage nach dem schulischen Lernen als Grundlage des
2.1 Gesellschaftlicher Raum im Blick der Theorie reflexiver …
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lebenslangen Lernens in einer Zweiten Moderne zu untersuchen. Der Blick auf den gesellschaftlichen Raum über die Theorie reflexiver Modernisierung ermöglicht eine Teilanalyse, über welche sozialräumliches Lernen und ein deduktives Kategoriensystem zur Beschreibung eines fächerübergreifenden Kompetenzerwerbs über die Gesellschaft der Vielfalt ihre Legitimierung und Verifizierung erlangen. Bezugnehmend auf das einleitende Zitat Hartmut Rosas zur Komplexität und Beschreibung der Moderne fügt der Soziologe an: „Die gesellschaftliche Wirklichkeit enthalte zu viele widersprüchliche Tendenzen, Strömungen und Entwicklungen, als dass sie unter ein einheitliches Konzept gebracht werden könnte.“ (Rosa 2016, S. 517) Dabei greift Rosa einen zentralen Kern der Moderne auf, der zugleich prägend für eine Gesellschaft der Vielfalt ist: die Widersprüchlichkeit in Form von Ambivalenz und Ambiguität. Zygmunt Bauman (2016 [1991]) charakterisiert diese Form von Vielfalt und setzt sie in Beziehung zu modernen Realitäten und sozialen Räumen. So schreibt er mit Blick auf die Ambivalenz in ihrem Verständnis als Fremdheit: „Das Recht des anderen auf seine Fremdheit ist die einzige Art, wie ich mein eigenes Recht ausdrücken, etablieren und verteidigen kann.“ (Bauman 2016 [1991], S. 371) Damit wird im Sinne Baumans die Ambivalenz über ihre Konnotation als „Andersartigkeit“ zum unabänderlichen Wesen der Moderne. Anzuerkennen, dass Gesellschaft ambivalent ist, schafft individuelle und kollektive Daseinsberechtigungen innerhalb dieser Gesellschaft. „Einst zur tödlichen Gefahr für alle soziale und politische Ordnung erklärt, ist die Ambivalenz nicht länger ‚ein Feind am Tor‘. Ganz im Gegenteil: Wie alles andere ist sie zu einer der Stützen in dem Postmoderne genannten Spiel geworden.“ (Ebd., S. 441) Dass das Erleben von Ambivalenz zur kognitiven Dissonanz führt, bleibt davon unberührt. Wesentlich ist doch die Frage, wie das Individuum bzw. das lernende Subjekt auf Ambivalenz und Vielfalt reagiert bzw. wie es das dissonante Erleben ausgleicht und welche Handlung dem Erleben von Vielfalt folgt. Den Weg zur Auflösung von Dissonanzen beschreibt Scott Lash im Rahmen der Theorie reflexiver Modernisierung über die Formen der Reflexivität (Lash 1996, S. 2003 ff.), die Bedingung und Grundlage des Handelns sind, um der Komplexität und Vielfalt der Moderne hinreichend begegnen zu können. Im Handeln wiederum stehen dem Individuum gleichfalls viele Optionen offen, die erneut Widersprüche auslösen können. Diese Widersprüche äußern sich in Form von Uneindeutigkeit und Indifferenz. So lösen sich – in westlichen Gesellschaften – die Vorgaben und Empfehlungen für das „vernünftige“ Handeln, welches dem Erleben von Vielfalt folgen muss, zunehmend auf bzw. werden sie diffuser. Diese Erscheinungen beschreibt die Theorie reflexiver Modernisierung als Enttraditionalisierung und Individualisierung: Im gemeinsamen herausgegebenem Band „Riskante Freiheiten“ vertiefen Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1994) die Individualisierungsdebatte und analysieren das Konzept der Bastelbiografie (vgl. Hitzler/Honer 1994) sowie Exklusionserscheinungen (Riedmüller 1994;
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
Heitmeyer 1994) als Risikofaktoren und Kennzeichen der Zweiten Moderne, welche sich aus den neuen Freiheiten generieren. Für die Wahl der Handlung findet die Theorie der reflexiven Modernisierung die Metapher „Sowohl-als-Auch“ (Beck et al. 2004, S. 16, 49 f.); alles scheint möglich, was zum Eindruck einer Entgrenzung führt, an welche gleichzeitig die Entscheidung gekoppelt ist – „je mehr Entgrenzung, desto mehr Entscheidungszwänge“ [im Original kursiv, Anmerkung CK] (ebd., S. 15). Die Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten setzt die Entscheidungsfindung voraus, welche in einer Zweiten Moderne weitaus schwerer zu treffen ist, denn neben der Handlungsvielfalt wirken die Handlungsfolgen und ihre Nebenfolgen als Kausalbeziehungen zwischen Handlung und Handlungseffekten mitunter widersprüchlich auf das Individuum zurück. Aus den Nebenfolgen entwickeln sich „‚goods‘ (Einkommen, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit)“ (Beck 1993, S. 37) und bads (Verteilungskonflikte, ökologische Risiken), deren Verteilung auf das einzelne Individuum durch dieses nicht mehr steuerbar ist, jedoch werden diese goods und bads gerade durch das handelnde Individuum über Kausalitätsketten ausgelöst. Über das Handeln des Einzelnen und eine daran gekoppelte interdependente Verschränkung einzelner Individuen und einzelner (Teil)Systeme generiert sich die Risikogesellschaft, deren Kräfte als Gemengelage von Risiken und Nebenfolgen die strukturellen Faktoren Klasse und Schicht als inkludierende und segregierende bzw. exkludierende Faktoren der Gesellschaft ablösen. „Der Übergang von der Industrie- zur Risikoepoche der Moderne vollzieht sich ungewollt [Hervorhebungen entfernt, Anmerkung CK], ungesehenen, zwanghaft im Zuge der verselbständigten Modernisierungsdynamik nach dem Muster der latenten Nebenfolgen.“ (Beck 1993, S. 36) Mag das Handeln aufgrund einer umfassenden Reflexion erfolgen, bleiben die Nebenfolgen doch vielfältig und reflexartig, was gerade die Reflexion im Sinne einer Bewusstwerdung dieser Situation fordert, um die entscheidungsbedingten Gefahren als Folge von Handlungen fortführend zu hinterfragen. Dies verlangt dem Individuum ein Vielfaches an Kompetenzen und Handlungsfähigkeit ab, worauf Schule und Unterricht reagieren müssen. Anthony Giddens (1995 [1990]) findet für die Beschreibung der Risikogesellschaft das Bild des „Dschagannath-Wagens“ – einer Parabel aus der indischen Mythologie – um die Differenzierung und Spezialisierung der Gesellschaft über das Bild einer hoch komplexen Maschine, deren Fahrt teilweise unkontrolliert und unvorhersehbar erfolgt (Giddens 1995 [1990], S. 173 f.), zu symbolisieren. Analog zur Zweiten Moderne ist die Fahrt mit dem „Dschagannath-Wagen“ ambivalent und widersprüchlich: Ruhige Wegestrecken und unruhige Passagen wechseln sich ab; ebenso kann die Fahrt für den Einen zerstörerisch, für den Anderen „belebend wirken und voller Hoffnungsfreude sein“ (ebd., S. 173). Ein Wesenskern der Theorie reflexiver Modernisierung liegt nun in der Frage, wie der „Dschagannath-Wagen“
2.1 Gesellschaftlicher Raum im Blick der Theorie reflexiver …
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gelenkt werden kann, zumal neues Wissen nicht automatisch die Lösungsfindung impliziert, sondern zusätzliche Unvorhersehbarkeiten bewirken kann. Die Zielstellung der vorliegenden Arbeit liegt daher in der Analyse, wie sozialräumliches Lernen auf ein Leben und Lernen in der Zweiten Moderne hinwirken kann, um dem lernenden Subjekt die Möglichkeiten zu geben, dem „Dschagannath-Wagen“ in seiner Komplexität ansatzweise zu erkennen. Auch wenn der*die Einzelne nur eine subjektive Entscheidung treffen kann, inwieweit er*sie die Fahrt auf dem Wagen für sich bewerten soll, fest steht, jeder Mensch muss unweigerlich auf diesem Gefährt mitfahren. Und auch wenn er*sie nur bedingt entscheiden kann, ob die Fahrt holprig oder entspannt sein wird, so kann eine bewusste Entscheidung für das sozialräumliche Lernen als Unterrichtspraxis die notwendigen Hinweise liefern, wo auf diesem „Dschagannath-Wagen“ die Haltegriffe und Gurte sind, um bei Motorschaden nicht unter die Räder zu kommen. Sozialräumliches Lernen vermittelt keine Gebrauchsanweisung für den „Dschagannath-Wagen“, aber es ermöglicht dem lernenden Individuum Baupläne zu lesen und einzelne Bestandteile der Maschine in ihrer Funktion zu kennen. Sozialräumliches Lernen ist die Reflexion gelebter Erfahrung, um daraus neues Wissen und handlungsfähige Kompetenz zu generieren. Inwieweit diese Kompetenzen dann durch den*die Einzelne angewandt werden und ihre Performanz finden können – oder anders ausgedrückt, ob die Notbremse potentiell am „Dschagannath-Wagen“ gezogen werden kann – entscheidet das Individuum in Abhängigkeit von der Situation und ihren Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel der Beschaffenheit der Fahrbahn. Jedoch zeigt sozialräumliches Lernen, weshalb am „Dschagannath-Wagen“ die Notbremse gesucht werden muss. Die Möglichkeiten, wo diese zu finden ist, mögen vielfältig sein, aber über das sozialräumliche Lernen ist das Individuum in der Lage, über die Reflexion der vorhandenen Baupläne und eine Analyse des gegenwärtigen Zustands des „Dschagannath-Wagen“ das Areal für die Notbremse auf einen bestimmten Bereich einzugrenzen. Daher wird sozialräumliches Lernen im Kontext der Arbeit kontinuierlich als spezifische Lernform innerhalb einer Gesellschaft der Vielfalt reflektiert werden. Der Kern des sozialräumlichen Lernens in einer Gesellschaft der Vielfalt ist dabei der Umgang mit Widersprüchlichkeit in all ihren Facetten. So ist auch die Aussage „Einheit durch Vielfalt“ ein scheinbarer Widerspruch, der aus der Spezifik der Zweiten Moderne wächst und als Handlungsprämisse auf diese bezogen werden muss. Die in der Bildungswissenschaft als „Dahrendorf-Memorandum“ bekannt gewordene komprimierte Zusammenfassung einer Handlungsorientierung für eine europäische Bildungspolitik geht auf den Soziologen und Politiker Ralf Dahrendorf zurück. Bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert Dahrendorf (1973) seine Vision einer europäischen Union, wie sie heute in der EU ihre Entsprechung findet: Der gesellschaftliche Raum – in der Verschränkung zu Dahrendorfs der geopolitische europäische Raum – wird durch Vielfalt konstituiert,
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
welche Anerkennung finden muss, um einheitlich – im Sinne von gemeinsam bzw. aufeinander abgestimmt – handlungsfähig zu sein. Somit plädieren sowohl Dahrendorf als auch Bauman (2016 [1991]) für eine Inklusion von Vielfalt im Sinne eines möglichen Widerspruchs in ein demokratischen Bewusstseins und formieren darüber eine Beschreibung sozialräumlicher Realität. Basierend auf diesem Verständnis von Vielfalt schafft Annedore Prengel (2006 [1993]) die Grundlagen einer neuen pädagogischen Bewegung, die als konsequente, bildungswissenschaftliche Reaktion auf die Theorie reflexiver Modernisierung verstanden werden kann. Semantisch verwendet Prengel die Begriffe bzw. Konzepte „Gleichheit“ und „Verschiedenheit“. Für den Entwurf einer Pädagogik der Vielfalt rekurriert Annedore Prengel auf Axel Honneths (1992) Gesellschaftstheorie der Anerkennung (Prengel 2006 [1993], S. 60 f.) und verweist auf das von Honneth abgeleitete Prinzip der „wechselseitigen Anerkennung zwischen soziokulturell unterschiedlich individuierten Personen“ (ebd. S. 60 f.). Prengel beschreibt ihren daraus entwickelten Ansatz zusammenfassend als „Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“ (ebd., S. 62). Dabei entwickelt sie den Begriff sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene (ebd., S. 181 f.) und bildet mit ihrer Arbeit einen Anker zwischen Bildungswissenschaft und Sozialpsychologie sowie Soziologie. Weiterhin entwickelt Prengel über die Pädagogik der Vielfalt einen demokratischen, egalitären Differenz-Begriff, der „sich gegen Hierarchien wendet“ (ebd., S. 181). Die Erziehungswissenschaftlerin fordert also von Schul- und Unterrichtspraxis ein Aufbrechen der figurativ-hierarchischen LehrerSchüler-Beziehung, für welche der Soziologen Anthony Giddens die Metapher des „Machtbehälters“ findet (vgl. auch Kapitel 3). Muss demnach Lernen im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt als „Einheit“ oder community stattfinden? Und wenn ja, wie schafft diese Einheit die Erfahrung von Figurationen – ein grundlegendes Wesensmerkmal gesellschaftlicher Räume – um über die Erfahrung einen produktiven Umgang mit eben jenen Figurationen erlernbar machen zu können? Das sozialräumliche Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt findet Realisierungsmöglichkeiten und Handlungsempfehlungen, um diesen Widerspruch zu lösen. Neben der Beschreibung einer Pädagogik der Vielfalt als Selbstverständnis moderner Bildung entwickelt Prengel gleichfalls Handlungsleitsätze, welche der Umsetzung einer Pädagogik der Vielfalt in der Praxis Orientierung bieten (Prengel 2006 [1993], S. 184–196). Dabei verweist sie auf die Didaktik des Offenen Unterrichtes (ebd., S. 193) und wie dieser über reformpädagogische Ansätze Realisierung finden kann. Als induktives, sich erschließenden Lernen stellt sozialräumliches Lernen eine Form von Offenem Unterricht dar. Sozialräumliches Lernen erfolgt im Verständnis einer Pädagogik der Vielfalt, stellt dieses bildungswissenschaftliche Theorie- und Praxis-Konzept jedoch in Tradition einer Theorie reflexiver Modernisierung und erweitert den Vielfalts-Begriff vom Subjekt ausgehend auf den
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
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gesellschaftlichen Raum als Teilausschnitt gesellschaftlicher Moderne. Beide Koordinaten – sowohl das Subjekt als auch der oder die jeweils Andere – finden und begegnen sich im Sozialraum resp. sozialen Raum, welcher für beide Koordinaten als zugrundeliegendes System fungiert. Um ein besseres Verständnis für Gesellschaft – hier als Gesellschaft der Vielfalt bezeichnet – generieren zu können, soll im Folgenden die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien beschrieben werden. Die Differenzlinien kennzeichnen scheinbare Widersprüche, die sich in der Betrachtung jedoch als Verschränkungen über kausale Nebenfolgen spiegeln werden. Die Differenzlinien werden dabei Kompetenzbereichen zugeordnet, die sich für das Individuum und lernende Subjekt im Prozess der Vergesellschaftung als Entwicklungsaufgaben ergeben und zugleich auf die Persönlichkeitsentwicklung zurückwirken. Um im Kontext der Arbeit sozialräumliches Lernen sowohl subjektorientiert im Kontext der fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung beschreiben zu können, als auch makrosoziologisch die Möglichkeiten des sozialräumlichen Lernens auf Gesellschaftsebene vertiefen zu können, bilden die Kompetenzbereiche eine Klammer zwischen Subjekt und Gesellschaft und werden bewusst ins deduktiv entwickelte Kompetenz-Modell eingebunden (vgl. Abschnitt 4.3). Damit versucht die Arbeit Forschungsfrage C) Welche Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich über das sozialräumliche Lernen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ableiten?
zu beantworten. Im Folgenden wird Hypothese 3 – nach welcher sozialräumliches Lernen Integrations- und Partizipationsprozesse, Reflektionsprozesse, Handlungsund Gestaltungskompetenzen sowie Modifizierungs- und Transformationsprozesse fördert – über den Blick auf eine Gesellschaft der Vielfalt vertieft, indem es diese Kompetenzbereiche als gesellschaftliche Entwicklungsaufgaben beschreibt.
2.2
Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
2.2.1
Inklusion & Partizipation: die interdependente und ausgrenzende Gesellschaft
2017 druckt DER SPIEGEL (Dümling 2017) einen Artikel über die in diesem Jahr beliebteste Fernsehserie der Welt: „Game of Thrones“ – basierend auf der Romanreihe „Das Lied von Feuer und Eis“, verfasst durch dem US-amerikanischen Schriftsteller George R. R. Martin (1997–2012). Der Autor des Artikels grenzt
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
dabei die Serienfiktion von realen politischen Prozessen und gesellschaftlichen Faktoren ab, beschreibt jedoch den Erfolg der Serie anhand der ihr eigenen Möglichkeit, gesellschaftliche Prozesse sowie Normen und mögliche Wertverschiebungen über Reduzierungen und Analogien begreifbar zu machen: „In “GoT” [Abkürzung für „Game of Thrones“, Anmerkung CK] beobachtet sich die westliche Gesellschaft in ihrer Krisenhaftigkeit und formuliert zugleich Programme, um diese Krisenhaftigkeit hinter sich zu lassen.“ (Dümling 2017) Das Prinzip der Zweiten Moderne als Verkettung von Nebenfolgen greift in den „Sieben Königslanden“ – auf den Handlungskontinenten der fiktiven Welt – nur bedingt. Trotz der diversen Handlungsstränge schaffen Buchautor und Serienautoren eine überschaubare und verstehbare Welt, die sich realen, non-fiktionalen Prozessen von Persönlichkeitsentwicklung und Vergesellschaftung bedient: Die menschliche Identität entwickelt sich über die Interaktion mit anderen Menschen und ist in ein netzartiges Gefüge von Abhängigkeiten eingebunden. Die Figuren aus „Game of Thrones“ sind „Kinder ihrer Zeit“, die an ihren sozialen Räumen wachsen oder an ihnen scheitern; sie sind in den seltensten Fällen nur „gut“ oder „böse“, sondern bleiben oftmals ambivalent. Diese Vielfalt scheint der SPIEGEL-Artikel jedoch nicht zu erkennen. Sebastian Dümling (2017) beschreibt in seinem Artikel antagonistische Handlungsfiguren und Ziele; er reduziert die fiktive Welt auf eine „Einfachheitsutopie“, welche „Einhegungstrategien“ (ebd.) bietet und über diese vereinfachten Positionen anschlussfähig an die Programme populistischer Parteien wird. Es ist natürlich das Wesen der Fiktionalität, verschiedene Lesarten zuzulassen. Mit der Vereinfachung mag Dümling Recht haben, jedoch eher nicht im Sinne einer „Filterblase“ sondern im Sinne einer Komprimierung, weshalb „Game of Thrones“ durchaus Potential trägt, als komplexer und überschaubarer Sozialraum Fragen zu stellen, die an die menschliche Sinnsuche anknüpfen: Wer bin ich, wer möchte ich sein? In welcher Welt möchte ich leben? So wird auch jenseits der Literaturwissenschaft die fiktive Welt aus „Das Lied von Eis und Feuer“ bzw. „Game of Thrones“ bereits als Analogie zur realen Welt untersucht. Denn die Saga um den „Eisernen Thron“ existiert nicht im luftleeren Raum, sondern speist sich aus der Kulturgeschichte unserer Welt und fügt Symbole, Mythen und reale Ereignisse in bewährter Tradition des literarischen Genres zusammen (vgl. May et al. 2016). In der mittelalterlich-feudalen Welt von „Game of Thrones“ bildet sich Identität vorrangig über die kollektive Identität und Zugehörigkeit zu einem Königshaus. Diese Identität generiert – je nach ständiger Zugehörigkeit – Abhängigkeiten, welche sich über Macht-, Ressourcenverteilung und Status konstituieren. Aufgrund der klaren Hierarchien sind die Figurationen resp. Interdependenzen deutlicher zu erkennen. Die Figuren der fiktiven Welt sind sich der Interdependenzbeziehungen bewusst, schließlich prägen Normen und Werte der „Game of Throns“-Gesellschaft
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
25
den Umgang mit diesen Abhängigkeiten. Machtbeziehungen und Standeszugehörigkeit geben Auskunft über den Grad der gesellschaftlichen Inklusion und Exklusion. Egal ob Mitglied eines Königshauses oder die Zuhörigkeit zu einer Gruppe wie der „Nachtwache“, der „Bruderschaft ohne Banner“, der „Unberührbaren“, dem „Orden der Maester“ oder der Gruppe der „Wildlinge“, die kollektive Identität formt und stützt die personelle Identität. Für die Lesenden bzw. die Zuschauenden werden in diesem Gefüge Figuren interessant, die sich aus diesen Figurationen – gewollt oder ungewollt – lösen: Samwell Tarly muss sein Königshaus verlassen, bricht den Schwur der „Nachtwache“ und verlässt den Orden der Maester, weil er die Handlungsfähigkeit der Maester in Frage stellt; Tyrion Lannister kann aufgrund seines Kleinwuchses die ihm per Geburt zugedachte Rolle als kämpfender Königssohn nur bedingt ausüben und erlebt dadurch mehrfach Formen von Exklusion; Arya Stark hinterfragt und verlässt frühzeitig die Rolle der ständisch-feudalen Frau und wird zu „Niemand“. Gerade diese Figuren spiegeln den modernen Lesenden bzw. SerienRezipierenden ihr eigenes Dilemma der Identitätsfindung, die sich in der Zweiten Moderne noch immer über die Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität vollzieht und sich dabei an Beziehungen und Abhängigkeiten zu anderen Menschen orientiert. Nur ist das Interdependenzgefüge bei weitem nicht mehr so überschaubar und deutlich wie in der Welt von „Game of Thrones“. Und auch sind die Faktoren, die Inklusion und Exklusion bedingen, nicht vereinfacht an der Ständezugehörigkeit auszumachen. Die Komprimierung der „Game of Thrones“-Welt wird durch Formen der Vielfalt einer Zweiten Moderne ersetzt, denn „das Verhalten von immer mehr Menschen muß aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt. Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.“ (Elias 1997b [1939], S. 327)
In seinem bekanntestem Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ beschreibt der Soziologe Norbert Elias (1997a [1939], 1997b [1939]) die Entwicklung der gesellschaftlichen Figurationen und leitet aus dieser Soziogenese der menschlichen Beziehungen das Interdependenzgeflecht als sozialräumliches Kennzeichen der Gesellschaft ab. Elias beschreibt darüber eine Gesellschaft der Individuen (vgl. auch Elias 2003 [1987]), wie sie sich über die Phänomene der Individualisierung, Differenzierung und Spezialisierung bildet und im Erscheinungsbild der Interdependenz als Vernetzung einzelner Individuen ihren Ausdruck findet. Elias entwickelt von den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgehend seine Interdependenztheorie
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
analog der gesellschaftlichen Entwicklung weiter. Die durch ihn beschriebenen Formen gesellschaftlicher Differenzierung und Spezialisierung kann der Soziologe als Zeitzeuge begleiten und über Ansätze der Freudschen Psychoanalyse als Faktoren einer sich verändernden Ich-Individuation in ihren Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft beschreiben. In dem Aufsatz „Probleme des Selbstbewußtseins und des Menschenbildes“, der in den 40er/50er Jahren entstanden ist und der Aufsatzsammlung „Die Gesellschaft der Individuen“ (Elias 2003 [1987]) beigefügt wurde, beschreibt er die wachsende Abhängigkeiten zwischen Menschen, aus denen sich eine gesellschaftlich normierte und sanktionierte Affektkontrolle des menschlichen Verhaltens ableitet: „Und wie derart mehr und mehr Menschen innerhalb eines solchen funktionsteiligen Gewebes als Spezialisten der einen oder der anderen Art voneinander abhängig wurden, so wurde es auch in zunehmendem Maße notwendig, daß ihre Funktionen und Tätigkeiten aufeinander abgestimmt waren.“ (Ebd., S. 186)
Daraus entwickelt sich nach Elias ein stetig weiter verzweigendes Interdependenzgeflecht, welches dem Menschen zunehmende Selbstbeherrschung abverlangt: „Sie [die Selbstbeherrschung, Anmerkung CK] war nur möglich und ließ sich nur aufrechterhalten mit Hilfe einer einigermaßen stabilen Kontrolle kurzfristiger Affekte und Triebe teils durch gesellschaftliche Einrichtungen, teils durch den einzelnen Menschen selbst.“ (Ebd., S. 189) Um den Mechanismus der Selbstkontrolle zu beschreiben, greift Elias auf das „Drei-Instanzen-Modell“ der menschlichen Psyche von Sigmund Freud zurück und verweist auf das gesellschaftlich determinierte „Über-Ich“ als im Subjekt verankerte Kontrollinstanz. Über die Transformation gesellschaftlicher Fremdzwänge in subjektive Selbstzwänge wächst die Gefahr, psychisch zu erkranken (Elias 1997b [1939], S. 341 ff.) Damit trägt ein sich verzweigendes Interdependenzgeflecht, wie es der Zweiten Moderne eigen ist, die Gefahr wachsender Selbstentfremdung als eine Form von Exklusion – also das Sich-selbst-als-fremd-erleben und vom Kern oder wahrem Selbst der Persönlichkeit ausgeschlossen sein – in sich. Der Psychoanalytiker Paul Verhaeghe (2013) greift – ohne direkt auf Norbert Elias zu rekurieren – den Figurations- resp. Interdependenzansatz auf, indem er das „Über-Ich“ in Wechselwirkung zu neoliberalen Prinzipien wie Selektion und Allokation, Optimierung, Leistungsmessung, Konsum und Genuss stellt. Darüber formuliert Verhaeghe die Zusammenhänge zwischen zunehmender Normierung der Individuen und zahlenmäßig zunehmenden Diagnosen psychosozialer Störungen auf der einen Seite und sinkenden normativen Hemmschwellen im gemeinsamen Umgang sowie den Verlust von Sinnhaftigkeit aufgrund falscher Ideale auf der
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anderen Seite. Sowohl Verhaeghe als auch Elias beschreiben eine Interdependenz zwischen „Basis“ und „Überbau“ und führen die makrosoziologische Betrachtung dieser Figuration auf das Subjekt und den Prozess der Identitätsfindung bzw. IchIndividuation zurück. Im Zentrum der Interdependenz steht also die menschliche Identität, die „durch Identifikation mit und Distanzierung von anderen innerhalb gesellschaftlich definierter Beziehungen“ (Verhaeghe 2013, S. 101) gebildet wird. Das Looking-glass self (Colley 1902) – die Selbstwahrnehmung als Notwendigkeit für Identität – braucht die Interaktion und Rückmeldung durch den jeweils Anderen in Form einer Spiegelung des Selbst über „die Augen“ des Anderen. Damit es zu dieser Interaktion kommen kann, bedarf es einem Mindestmaß an gesellschaftlicher Inklusion. Gleichzeitig konstituiert sich die Identität in Abgrenzung zu anderen Menschen. Deutlich wird dieses Abgrenzungsbedürfnis aus sozialpsychologischer Perspektive über die Abgrenzung der Eigen-Gruppe gegenüber der Fremd-Gruppe, um die Gruppenidentität zu stärken. Da die personale Identität sich auch aus der kollektiven, sozialen Identitäten zusammensetzt – also jeder Mensch subjektiv gefühlt Mitglied verschiedenster Gruppen ist – entwickelt sie sich ebenso in Abgrenzung zu anderen Menschen (Stürmer/Siem 2013, S. 16 ff., S. 66–82). Die Soziologie beschreibt diese sozialpsychologischen Prozesse über das Konstrukt der Distinktion als Präsentation und Legitimierung des individuellen Habitus (Bourdieu 1996 [1979]). Darüber ergeben sich Formen von Ausgrenzung als Exklusionsund Segregationsprozesse. Inklusion – in der Definition von Martin Kronauer die Forderung an die Gesellschaft, exkludierende Verhältnisse zu überwinden (Kronauer 2010, S. 56) – und Exklusion bzw. Segregation bedingen einander bzw. sind sie wechselseitig miteinander verwoben. Die Basis für dieses Wechselspiel bildet das Interdependenzgeflecht als Netzwerk aus figurativen und abhängigen Beziehungen einzelner Individuen, die über diese figurativen Prozesse im sozialen Raum Gesellschaft bilden und gleichzeitig sich selbst entwickeln. Die inklusive Schule bzw. ein inklusiver Unterricht müssen daher die Möglichkeit bieten, Interdependenzen bzw. Figurationen erfahrbar zu machen, um Exklusion und eine daran gekoppelte Notwendigkeit von Inklusion begreifen zu können. Wie die Beschreibung von ausgrenzenden Prozessen auf Mesoebene gezeigt hat, sind Exklusionserscheinungen notwendige Bestandteile einer inklusiven Gesellschaft, da über diese Abgrenzungen Identität generiert wird. Dennoch führt Exklusion zu Ungleichheit, in welcher die eigentliche Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben liegt. Ungleichheit impliziert stets ein unausgewogenes Verhältnis von Macht und Ohnmacht, wodurch das Interdependenzgefüge unverhältnismäßige Abhängigkeiten geniert. Die Frage für künftige Generationen – für Lernende und Kinder, die in den kommenden Jahrzehnten eine Schule besuchen werden – liegt darin, zu
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
erkennen wann Ungleichheit den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet; wann Ungleichheit als bad und Nebenfolge eine fatale Kettenreaktion auslösen könnte und auf welche Weise inkludierend dagegen gewirkt werden kann. Exklusion ist ein semantisch weit gefasster Begriff und hat unterschiedliche Facetten: räumliche Segregation (vgl. Holm 2016; Dangschat/Alisch 2014), gruppenbezogene Exklusion (vgl. Heitmeyer 2002–2011; Grau/Heitmeyer 2013) sowie soziale Exklusion (vgl. Bude 2008; Nachtwey 2016a). Für Lernende wird die Forderung nach Inklusion als Überwindung exkludierender Strukturen dann relevant, wenn Exklusion „als Mittel der Eroberung und Durchsetzung von Macht“ erscheint und „damit für die Ausgeschlossenen soziale Lebenschancen beeinträchtigt werden“ (Kronauer 2010, S. 25). Denn letztendlich sind Funktions- und Strukturbereiche von Systemen die Ergebnisse individueller Handlungen, die über das Interdependenzgeflecht in kollektive Handlungen überführt werden und ihre Manifestation in Strukturen und Prozessen finden. Ein Bewusstsein für Exklusionsprozesse sowie deren Erscheinungen und ein Verständnis für die kausalen Zusammenhänge zwischen Handeln und Form ist die Basis gelingender Inklusionsbemühungen – und wesentliche Grundlage des schulischen Bildungsauftrags. Dieser Auftrag impliziert auch die Sensibilisierung für figurative Prozesse, welche die Verteilung von Macht resp. Kraft und den Umgang mit Abhängigkeiten thematisieren. In der Analyse von Exklusionsformen und -prozessen zeigt sich, dass die verschiedenen Formen von Exklusion miteinander verbunden sind und einander bedingen, sofern exkludierende Strukturen nicht überwunden werden können. So verweist Pierre Bourdieu (1996 [1979]) über die Verteilung der Kapitalsorten als inkludierende Ressourcen auf einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Inklusion bzw. Exklusion und schulischen Strukturen, die Benachteiligung reproduzieren, da sie nicht über die notwendige Inklusionskraft verfügen, um „die feinen Unterschiede“ aufzuheben. Paul Verhaeghe (2013) beschreibt aus seiner Perspektive als Psychoanalytiker das gesellschaftliche System, welches sowohl auf Mikroebene als auch auf Makroebene über den Grad der Inklusion und Exklusion bestimmt: Die wirtschaftspolitische Basis in Form ökonomischer Gesellschaftsverhältnisse verfügt über eine entsprechende Gestaltungskraft und formt Prozesse und Strukturen der übrigen Systeme. So sind über das sozial- und wirtschaftspolitische Modell der Zweiten Moderne die einzelnen Erscheinungsformen von Exklusion direkt miteinander verbunden und müssen auch anhand aktueller Ausformungen der sozialen Marktwirtschaft und ihrer neoliberaler Reformierung reflektiert werden (vgl. Husemann 2017, S. 76; Crouch 2017; Ritzer 1995 [1993]). Daher sind das Lernen in Figurationen sowie das Lernen über figurative Prozesse an eine machtsensible, makrosoziologische Perspektive gebunden, welche zugleich den bewussten Umgang mit Macht impliziert und die kollektive Einbindung als Partizipation
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
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in ein Netz von Interdependenzen thematisiert, um daraus eine Befähigung zum rücksichtsvollen und solidarischen Handeln ableiten zu können. Interdependez erleben und begreifen, die Mechanismen von Ausgrenzung verstehen und ein Bewusstsein für die Bedeutung des eigenen Handelns entwickeln, sind Grundlagen, um partizipativ innerhalb der Gesellschaft zu leben. Aus dieser Form von Mündigkeit und Verantwortungsbewusstsein wächst die Kraft resp. Macht zur Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft. Das sozialräumliche Lernen greift diesen Ansatz auf und wirkt über eine entsprechende Kompetenzvermittlung auf Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftliche Gestaltung zurück.
2.2.2
Bewusstwerdung & Reflexion: die individualisierte und entfremdete Gesellschaft
Zum Schlagwort der (post)modernen westlichen Gesellschaft erhoben, wird der Begriff der Individualisierung sowohl für die Theoretiker der reflexiven Modernisierung (vgl. Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994), als auch für diejenigen, die sich jenseits des Konzeptes einer Zweiten Moderne kritisch mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auseinandersetzen (vgl. Münch 1991; Ritzer 1995 [1993]; Etzioni 1999 [1996]; Heitmeyer 1997), zu einem der zentralen Kennzeichen der Moderne. Dabei wird die Freiheit der Wahl durch das Individuum – als Beschreibung von Individualisierung – zum zentralen Forschungsgegenstand innerhalb einer sich verändernden Lebenswelt. Über diese Freiheit bilden sich vielgestaltige Handlungsräume, welche das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft neu justieren. Individualsierung als gesellschaftlicher Transformationsprozess löst dabei Nebenfolgen aus, die das Wesen der Moderne abbilden, welche Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1994) zugespitzt als „riskante Freiheiten“ bezeichnen. Die Bezeichnung beschreibt ein dialektisches Verhältnis zwischen Freiheit und gleichzeitiger, risikohafter Entsicherung, in welchem sich Ambivalenzen und Vielfalt der Zweiten Moderne widerspiegeln, und welches zu einer kritischen Analyse des Konzeptes Freiheit in Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Individualisierung zwingt. In der postmodernen Gesellschaft kommt es über den Individualisierungs-Prozess zu einer Bedeutungsverschiebung von Freiheit, denn Freiheit entwickelt sich zugleich aus ihren Nebenfolgen und nimmt dabei amivalente Züge an. Die Moderne bildet somit einen komplexen Freiheits-Begriff ab. Ein Blick in das Universum von „Game of Thrones“ zeigt, dass ein vereinfachtes – undifferenziertes – Verständnis von „Freiheit“ als gesellschaftliches Phänomen nicht zwingend auf eine moderne Gesellschaft verweist, auch wenn Freiheit als
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Ausdruck von Individualisierung gewertet werden muss. Innerhalb der fiktionalen Welt, die der Autor Georg R. R. Martin mit seiner literarischen Werkreihe „Das Lied von Eis und Feuer“ geschaffen hat, finden sich unterschiedliche Gesellschaftsverbände, die über einzelne Handlungsstränge verbunden werden, aber eine spezifische historische Genese aufweisen. Definiert man Individualisierung als Freiheit der Wahl – also als eine Möglichkeit, selbstgesteuert und eigenverantwortlich die individuellen Handlungsräume zu gestalten – findet sich dieser Aspekt von Individualisierung als übergreifendes Sujet in der „Game of Thrones“-Welt als Allegorie der Wahl des*der Herrschenden wider. Fiktional-historisch gewachsen, ist diese Entscheidung innerhalb des ständisch-feudalen Gesellschaftsverbandes der „Sieben Königslanden“ als Haupthandlungskontinent nicht Ausdruck eines demokratischfreien Wahl-Prozesses, sondern wird über die Erbfolge bestimmt. Jedoch erfolgt interessanterweise die Bemächtigung von Mächtigen jenseits dieses Gesellschaftsverbandes demokratisch legitimiert über das Prinzip der Wahl. Doch gleichzeitig werden jene anderen Gesellschaftsverbände als primitiv und unzivilisiert gezeichnet – ein Eindruck, der sich auch über die real-historischen Vorbilder stützt, die Martin zur Beschreibung seiner fiktionalen Welt heranzieht: Neben dem ständisch-feudalen Gesellschaftsverbund der „Sieben Königslande“ existiert im Norden das Volk der „Wildlinge“. Dieses bezeichnet sich selbst als das „Freie Volk“, da ein wesentlicher Bestandteil ihres Selbstverständnisses über die Tatsache, dass sie ihren König frei wählen, gebildet wird. So grenzen sie sich auch von den Menschen südlich, jenseits der großen Mauer als räumlich-geografische Trennung ab, indem sie die Menschen der ständisch-feudale Gesellschaft als „die Knieenden“ bezeichnen. Real-historisch können die „Wildlinge“ mit der Volksgruppe der Kelten verglichen werden. Allein die sozialräumliche Verbreitung der Kelten im historischen Europa spiegelt die räumliche Situierung innerhalb der „Sieben Königslande“ wider. So standen auch die Kelten nördlich einer großen „Mauer“, wie sie durch die Alpen bzw. durch die Pyrenäen gebildet wurde. Aus Perspektive der antiken griechisch-römischen Gesellschaft erschienen sie als unzivilisierte Wildlinge. Südlich des ständisch-feudalen Gesellschaftsverbundes der „Sieben Königslande“, auf dem Kontinent „Essos“, lebt das Volk der „Dothraki“ – ein nomadisierendes Reitervolk, die ihre Anführer, die Kahls, ebenfalls wählen. Eine Anlehnung an das Volk der real-historischen Mongolen liegt im Erscheinungsbild der „Dothraki“ nahe. Trotz der zeitlichen Entsprechung zwischen ständisch-feudaler Gesellschaft des Hochmittelalters und Blütezeit des Mongolischen Reiches bleiben die Mongolen im Blick einer unkritischen eurozentrischen Geschichtsschreibung ein eroberndes Volk der „Barbaren“, ebenso wie das Volk der Kelten. Beide Völker bzw. Gesellschaftsverbände – die „Wildlinge“ und die „Dothraki“ – eint demnach neben der freien Wahl ihrer Vertreter das äußere und über fremde Normen geprägte
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Erscheinen des Barbaren. So mögen die Gesellschaftsverbände dieser Völker unzivilisierter erscheinen, sind aber – bezogen auf ein Verständnis von Freiheit über den Vorgang der Wahl – im Grad der Individualisierung freier, auch wenn die ständischfeudale Gesellschaft der „Sieben Königslande“ über ihre Kultur moderner anmuten mag. Aber ist dies eine Freiheit, wie sie das Individuum der Zweiten Moderne leben kann und muss? Ein eindimensionales Verständnis von Freiheit als Möglichkeit, (Entscheidungen) frei zu wählen, beschreibt demnach nicht den Grad der Moderne einer Gesellschaft. Im Konsens sozialwissenschaftlicher Forschung fungiert Individualisierung als Kennzeichen der Moderne, jedoch reicht das Maß an Wahl-Freiheit nicht als Gradmesser aus, um darüber Modernität zu beschreiben. Denn Individualisierung als Freiheitsverständnis wirkt in der Zweiten Moderne ambivalent und spiegelt über ihr Wesen zugleich eben jenes Wesenmerkmal heutiger Gesellschaften wider. Das fiktionale „Game of Thrones“-Universum bildet hier den eigentlichen Widerspruch ab, definiert man Moderne ausschließlich über Individualisierung als Wahlfreiheit. Das ambivalente Verhältnis von Individualisierung wird offensichtlich, wenn man das Konzept der Individualisierung über die Dreiteilung von Thomas Kron (2006; 2009) betrachtet: als Verhältnis zwischen Kultur – Grad der Wertediffusion und Herauslösung aus tradierten Moralvorstellungen; Struktur – als „‚Freisetzung‘ des Individuums aus vormaligen strukturellen Kontexten“ (Kron 2006, S. 99) wie Glaubensgemeinschaften, Familienverbünden oder Klassenstrukturen sowie über eine sich daraus ergebende Autonomie, die das komplexe und vielschichtige Konstrukt der Freiheit abbildet und dabei zusätzlich Formen der Entfremdung in den Autonomie- resp. Freiheits-Begriff integriert. Spätestens bei der Analyse „Game of Thrones“ auf Kultur-, Struktur- und Autonomie-Ebene wird deutlich, dass die Welt in und um die „Sieben Königslande“ zwar in sich unterschiedliche Moral- und Wertesysteme präsentiert und einzelne Charaktere aus Strukturverbänden herauslöst, aber übergreifend traditionell und verankernd bleibt. Der Freiheits-Begriff bleibt auf das Recht zu Wählen beschränkt und damit eindimensional. Die Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten liegen bei George R. R. Martin als Autor und den kreativen Köpfen der Serienschreiber*innen. Auch wenn das übergreifende Sujet der Wahl von Entscheidungstragenden einen erweiterten Handlungsspielraum suggeriert, müssen die Figuren in relativ statischen Handlungsräumen weiterleben, denn an den strukturellen Rahmenbedingungen ihrer Zeit können sie kaum etwas ändern, solange sie formal an ihre Herkunft und ihren Glauben gebunden bleiben. Während also die vormoderne „Game of Thrones“-Welt keine wirkungsvollen Handlungsräume bietet und deshalb stilistisch über einen einbrechenden Winter – als Vorbote einer Armee von Untoten – transformiert werden muss, liegt die Freiheit und Chance zur
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
gesellschaftlichen Transformation in der realen Zweiten Moderne beim Individuum auf Subjektebene. Genau an dieser Stelle liegt jedoch auch die Ambivalenz der Individualisierung: Die Freiheit trägt die Gefahr der Selbstüberlassenheit in sich und führt – im „worst case“ – zum Entscheidungsstilstand als Reaktion auf verschiedenster Formen von Entfremdung, die an das komplexe Konstrukt von Individualisierung gebunden sind (vgl. Kron 2006, S. 104 ff.). Daher müssen Individualisierung und die Freiheiten der Zweiten Moderne auch als „riskante Freiheiten“ begriffen werden – auch wenn Beck/Beck-Gernsheim (1994) das Risiko der neuen Freiheit nicht wie zum Beispiel US-amerikanische Kollegen (Ritzer 1995 [1993]; Etzioni 1999 [1996]) oder Hartmut Rosa (2013; 2016) über das Risiko der Entfremdung in all ihren Erscheinungsformen betrachten, sondern lediglich über Freisetzung als „Diversifizierung [im Original kursiv, Kennzeichnung entfernt, Anmerkung CK] von Lebenslagen und Lebensstilen“ (Beck 1986, S. 122). Der Entfremdungs-Begriff – der in der Zweiten Moderne an das Verständnis von Wahlfreiheit und Individualisierung unweigerlich gebunden ist – erscheint im Kontext der Zweiten Moderne und ihres Individualisierungsphänomens vielgestaltig. Der Literaturwissenschaftler Peter V. Zima (2014) beschreibt das Spannungsverhältnis wie folgt: „In diesem Kontext erscheint Entfremdung als der Preis, den das sich emanzipierende bürgerliche Subjekt für den wirtschaftlichen, politischen und technischen Fortschritt zu zahlen hat. Es braucht zwar nicht mehr zu befürchten, am feudalen, absolutistischen, klerikalen, patriarchalen oder totalitär-ideologischen Gängelband geführt zu werden, muss aber feststellen, dass es in einer individualisierten und pluralisierten oder fragmentierten Gesellschaft nicht nur seine Beschützer und Berater, sondern auch seine Gesinnungsgenossen und Gesprächspartner verloren hat.“ (Zima 2014, S. 7 f.)
Aus dieser Form von Entfremdung, welche eine Freisetzung aus sozialen, kollektiven Verbänden meint und mit Krons Struktur-Begriff korreliert, wächst die eigentliche Gefahr der Individualisierung für die Individuen: Orientierungslosigkeit, fehlendes Handlungswissen und eine daraus abgeleitete Unmündigkeit. Der Erziehungswissenschaftler und Leiter des „Deutschen Jugendinstitutes“ Thomas Rauschenbach (1994) erläutert den Zusammenhang zwischen Individualisierung und Unmündigkeit als Aspekt von Entfremdung, der zugleich eine Facette der neuen Freiheit abbildet. Dabei beschreibt Rauschenbach das Fehlen von Erfahrungswissen, welches im Austausch und über die Kommunikation mit anderen Menschen erworben werden kann:
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
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„Wer plant – und sei es nur sein eigenes Leben –, ist angewiesen auf Informationen, Kriterien, Vergleiche und Erfahrungen mit anderen und früheren Versuchen, braucht Wissen über mögliche Wirkungen, benötigt entsprechende Alternativen und Optionen, muß Erfolgs- und Mißerfolgschancen kalkulieren und so etwas wie eine persönliche Kosten-Nutzen-Analyse durchführen. Auf diese Anforderungen des Individualisierungsschubes werden die Menschen aber nicht vorbereitet, […].“ (Rauschenbach 1994, S. 102 f.)
Für John Dewey (vgl. 1986 [1938], vertiefend dazu Abschnitt 3.2.1 und 4.2.5) bildet diese Erfahrung die Grundlage des Lernens. Fehlen die Erfahrungen, weil unter anderem verinselte Lebensräume (vgl. Zeiher 1994; Zeiher/Zeiher 1994) dem Kind den Erfahrungsraum separieren und einschränken oder die Begegnungen in der Großstadt zu Vergegnungen mutieren (vgl. Bauman 1995, S. 231 ff.), dann verliert die Erfahrung an Vielfalt und das Lernen sowie ein daran gekoppelter Kompetenzerwerb werden eingeschränkt. Da aber die Zweite Moderne einer Risikogesellschaft (Beck 1986; 2008) entspricht, muss das Individuum über das Lernen den Risiken Kompetenzen entgegensetzen, um den Stress des Risikos auszugleichen. Die Sozialepidemiologie als Teilgebiet der Sozialforschung untersucht die kausalen Zusammenhänge zwischen Risiko, Krankheit und Kompetenzerwerb (vgl. Badura/von Knesebeck 2016). Dabei wird deutlich, dass die Verantwortung zum Umgang mit diesen Risiken als Folge der Individualisierung zu großen Teilen beim Individuum selbst liegen und auch der Lernprozess als Prozess zum Erwerb von Kompetenzen durch das Individuum selbst bestritten werden muss. Bildung wandelt sich stetig in Selbstbildung um und verlangt dem Individuum diese Form von Autonomie als risikohafte Freiheit in der Zweiten Moderne notwendigerweise ab. Folgt man Rahel Jaeggis (2016 [2005]) theoriegeschichtlichen Betrachtungen des Entfremdungs-Begriffs und vertieft dessen Genese über Karl Marx sozialphilosophischer Gesellschaftskritik, dann impliziert Entfremdung stets auch die Dimension des Kontrollverlustes (Jaeggi 2016 [2005], S. 35 f.). Marx (1968 [1844]) schreibt dazu in den „Pariser Manuskripten“: „Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm eigen.“ (Marx 1968 [1844], S. 53) Und weiter heißt es bezugnehmend auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse: „Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben [im Original kursiv, Hervorhebung entfernt, Anmerkung CK], seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.“ (ebd., S. 58)
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
An den Kontrollverlust ist die Machtlosigkeit gebunden, welche über Selbstbemächtigung und Mündigkeit aufgehoben werden kann. Dies sind Reflexions- und daran geknüpfte Handlungsprozesse, die nur durch das Individuum selbst vollzogen werden können, denn auch das Ändern bzw. die Transformation struktureller Dimensionen bedarf im ersten Schritt der Erkenntnis durch das reflexive Subjekt. In der Reflexion liegt demnach ein wesentlicher Schritt zur Selbstbemächtigung, um die Ohnmacht des Kontrollverlust über die Bewusstwerdung dieser zu ersetzen. Paradoxerweise bilden die von Thomas Kron (2006) skizzierten Erscheinungen der Kultur- und Strukturebene ein verhängnisvolles Konglomerat, was dem Prozess der Bewusstwerdung und Reflexion nicht förderlich ist: Wertediffusion bzw. Werteverlust erschweren die Orientierung und eine zunehmende „Entbettung“ aus sozialen Interaktionsverbänden schwächt die Notwendigkeit, neue Erfahrungen über den Weg der Akkomodation fruchtbar in den eigenen Wissensschatz einzubauen. Es entsteht also ein Teufelskreislauf aus Autonomie resp. risikohafte Freiheit als Fremdzwang, der zunehmend als Selbstzwang internalisiert wird und zu einem manifesten Kontrollverlust führt; gleichzeitig bieten Leben und Lernen in der Zweiten Moderne nicht ausreichend Möglichkeiten, Autonomie resp. Freiheit als Mündigkeit über ganzheitliche Erfahrungen zu erwerben. Der Mensch befreit sich fortwährend aus Sozialverbänden bzw. ist die Komplexität der Postmoderne – ihre reflexive Verkettung verzweigter Kausalitätsketten – ohne Hilfe, ohne die begleitende Reflexion oder ohne den austauschenden Diskurs kaum bis gar nicht zu begreifen. Wie sollen daraus fruchtbare Erfahrungen wachsen. Der Austausch mit anderen Menschen wird notwendig, wenn nicht in der direkten Kommunikation, dann über schriftlich fixiertes Wissen oder aber über das Gebet als stiller Diskurs mit einem vielgestaltigen Gott, der letztendlich einer inneren Stimme entspricht, die wiederum nur über die subjektive Erfahrung sich Gehör verschaffen kann – Kommunikationen, die in einer entfremdeten Moderne immer schwerer zu führen sind. Folgt man Rosa und seiner Resonanztheorie (2016) dann verlangt die Kommunikation zudem ein resonantes Verhältnis, um daraus Impulse für die subjektiv richtige Lebensführung wachsen zu lassen. Die bewusste Gestaltung von Lern- und Unterrichtserfahrungen in Sozialräumen – sei es jenseits der Schule über das Quartier oder aber über fiktionale, imaginäre oder digitale Sozialräume – schafft einen Ansatz, damit kollektive Erfahrungen und gemeinsames Wissen durch das lernende Subjekt angeeignet bzw. anverwandelt werden können. Die Beispielführung zum riskanten Dualismus von Individualisierung und Entfremdung lässt sich in verschiedensten Kontexten und Lebensweltbereichen fortsetzen. Rahel Jaeggi beschreibt (2016 [2005]) Entfremdung als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2016 [2005], S. 20); für alle Lebensweltbereiche wird damit deutlich, dass ein wachsender Beziehungsverlust – ganz gleich ob zu sich
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
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selbst oder zu Repräsentationen der äußeren, sozialen Welt – unweigerlich Formen der Entfremdung produziert. Wenn also Individualisierung eine Schwächung sozialer Beziehungen hervorruft, aber zugleich dem Individuum die Eigenverantwortung im Sozialisationsprozess zugesprochen wird und dieser die Prozesse der IchIndividuation und Vergesellschaftung umfasst (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015), dann muss das Individuum in Kontext einer reflexiven Zweiten Moderne auch die Fähigkeit der Verantwortungsübernahme erwerben: für sich selbst (Ich-Individuation) und für seine Mitmenschen (Vergesellschaftung). An dieser Stelle zwingt die Vielfalt der Freiheit, die aus dem Prozess der Individualisierung resultiert, das Individuum zu Mündigkeit als Grundvoraussetzung für autonomes Handeln und zugleich zu Solidarität als Dimension von Verantwortung. Dabei ist es nebensächlich, ob man Solidarität über ein Verständnis von Nachhaltigkeitsbewusstsein (vgl. de Haan 2008), im Sinne der Verantwortungsgesellschaft des Kommunitarismus (vgl. Etzioni 1999 [1996]) oder über das Konzept von Weltanverwandlung (vgl. Rosa 2016) erklärt, wesentlich für Bildungsprozesse ist ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, dass die Fähigkeit solidarisch zu handeln zum normativen Vermittlungsauftrag von Schule zählt. Denn, wenn das Individuum im Zuge der Individualisierung autonom – im Sinne von unmündig und unverantwortlich – darüber entscheidet, wann und ob es solidarisch handelt, kann der Dualismus von Individualisierung als riskante Freiheiten und Entfremdung als Entsicherung nicht aufgeweicht werden. Dem Risiko kann keine Sicherheit entgegengesetzt werden. Das lernende Individuum bleibt entmündigt und verantwortungslos. Solidarisch zu handeln, setzt jedoch die Erfahrung von Solidarität und eine daran gekoppelte Notwendigkeit voraus. Auch hier kann das sozialräumliche Lernen als direkte Lernform in der Interaktion mit anderen Menschen Grundlagen schaffen.
2.2.3
Handlung & Gestaltung: die digitale Wissensgesellschaft
Um dem gewählten Beispiel der Einstiegsanalyse anhand der komprimierten „Game of Thrones“-Welt zu folgen, stellt sich zunächst die Frage, welche Rollen nehmen Wissen und Nicht-Wissen innerhalb dieser fiktionalen Welt ein. Warum ist auch die Welt der „Sieben Königslande“ eine Wissensgesellschaft und welche Parallelen finden wir in ihr zu unserer digitalisierten Zweiten Moderne? Das durch Francis Bacon begründete Sprichwort „Wissen ist Macht“ findet seine Entsprechung in „Game of Thrones“ über die Vernetzung zwischen Wissensvorteil und Handlungsvorsprung. Um Handlungsansätze und Strategien zur Abwehr der „Weißen Wanderer“ – im „Game of Thrones“-Universum die Führer einer Armee von Untoten – zu finden, wird die Figur das Samwell Turly vorübergehend aus seinem Schwur gegenüber der
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2 Theoretische Betrachtung | Gesellschaft der Vielfalt
„Nachtwache“ entbunden, um in der Zitadelle von Altsass Wissen im Kampf gegen die „Weißen Wanderer“ zu finden. Die Zitadelle ist der Sitz des „Ordens der Maester“, welcher analog des mittelalterlichen Klerus in Handschriften und Büchern fixiertes Wissen sammelt und bewahrt. Dass dieses gesammelte Wissen von den Maestern jedoch nur bedingt genutzt wird, zeigt sich im Verlauf der Handlung an der Handlungsunfähigkeit der Ordensmitglieder, welche sich über den fehlenden Austausch mit der restlichen Welt der „Sieben Königslande“ und einer sich selbst auferlegten Unmündigkeit konstituiert. In der frei gewählten Unmündigkeit, die zu Teilen über eine strenge Hierarchie des Ordnens begründet wird, wird die Symbiose zwischen Wissen und Handlung gelöst. Die „Maester“ innerhalb der Zitadelle nehmen die Funktion von Bibliothekaren ein, verlieren aber ihre politisch-gestaltende Kraft gegenüber dem real-historischen Vorbild des feudal-ständischen Klerikers. Aus diesem Grund verlässt Samwell Turly auch die Zitadelle, um sein Wissen im Austausch mit Brandon Stark fruchtbar werden zu lassen. Die Figur des Brandon Stark verfügt über die Fähigkeit des hellsichtigen Sehens über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg. Als fiktiver Charakter des „Dreiäugigen Rabens“ erlangt Brandon Stark die Fähigkeit einer Suchmaschine, die Wissen sammelt, aber nur unzureichend chronologisieren und ordnen kann; das heißt, es ist Brandon bisher nicht möglich, dass was er sieht, in einen übergeordneten Zusammenhang zu stellen. Damit aus seiner Fähigkeit ein Handlungsvorteil wachsen kann, braucht er den Austausch mit anderen Figuren, über welchen das Wissen produktiv werden kann. Im Austausch mit Samwell Turly kann das Wissen erst produktiv werden, als es durch Samwell eingeordnet und reflektiert wird. Der große Handlungsvorsprung, welchen Reflexion und Bewertung von Wissen ermöglichen, zeigt sich in „Game of Thrones“ an den Figuren des Lord Varys und des Petyr Baelish: Beide agieren als „Intriganten“ und sind ihrerseits – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus – Meister darin, Wissen zu sammeln, dieses zu bewerten und innerhalb einer geplanten Strategie in Teilen an bestimmte Personen weiterzugeben. Beide Charaktere fungieren analog zu „social bots“ (vgl. Hegelich 2016; Leistert 2017) und „Algorithmen“ (vgl. Seyfert/Roberge 2017) unserer digitalen Zweiten Moderne, indem sie bestimmen, wer wann und warum welches Wissen erhält und indem sie – im Gegensatz zu reinen Algorithmen als Funktionen – diesen Prozess selbstgesteuert gestalten können. Denn sie wirken als Programmierer, die zugleich die Folgen ihrer Programme und Algorithmen kontrollieren. Über die Verteilung und Gestaltung von Wissen – was sich auch in einem Statuserhalt als Bewahrung von Nicht-Wissen widerspiegeln kann – sichern sie sich Macht. So verfügen beide Figuren über wesentlich mehr Macht, als die Bewahrer des Wissens in der Zitadelle von Altsass oder Brandon Stark als sehender „Dreiäugiger Rabe“, dem eine fehlende Bewertung des Wissens über den Austausch mit anderen Figuren die
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
37
Möglichkeit zu Handlung versagt, auch wenn sowohl der „Orden der Maester“ als auch Brandon Stark über den Zugang zu einem sehr breiten Wissen verfügen. Wissen braucht die Reflexion und kontextuelle Einordnung, sonst bleibt es unfruchtbar. So ergibt sich eine Differenzlinie aus der Gegebenheit der Wissensgesellschaft, welche über eine wachsende Digitalisierung immer umfassender und komplexer wird, welche aber zugleich die Gegebenheit des Nicht-Wissens leben und aushalten muss, da Wissen nicht aus sich selbst heraus fruchtbar, produktiv und gestaltbar wird. Um den Zustand des Nicht-Wissens in einer digitalisierten Wissensgesellschaft teilweise aufzuheben, braucht es die reflexiven, strategischen und algorithmierenden Fähigkeiten eines „Petyr Baelish“ bzw. eines „Lord Varys“ sowie den bewussten Wissensdiskurs – angebunden an moralische Integrität und den Diskurs um den ethisch vertretbaren Umgang mit Wissen. In der zentralen Publikation zur Reflexiven Modernisierung (Beck et al. 1996) nimmt der Wissensdiskurs eine besondere Stellung ein. Auch im Bezug auf die Differenzierung der Erscheinungsformen von Wissen spiegelt sich in Becks Analyse die Ambiguität der Zweiten Moderne als Vielfalt an Wissensformen und -zuständen wider (Beck 1996b). So kann Wissen nicht allein auf den Dualismus von Wissen und Nicht-Wissen begrenzt werden, sondern muss mit Blick auf die Strukturen, die Wissen generieren und transportieren, betrachtet und am jeweiligen Erkenntnisinteresse analysiert werden. Daher macht es nach Beck einen Unterschied, ob Nicht-Wissen als Bewusstsein fehlenden Wissens begriffen oder ob die Wissenslücke negiert wird. Die erste Form bezeichnet Beck als „reflektiertes Nicht-Wissen“, die zweite als „nicht-gewusstes Nicht-Wissen“ (ebd., S. 309 f.) Im Ignorieren von Nicht-Wissen liegen zentrale Risiken der Zweiten Moderne, weil mit dem Ausschalten eines Bewusstseins die Nebenfolgen – speziell die als bads beschriebenen – gesteigert und enthemmt werden, „weil es [das aktive Nicht-Wissen-Wollen, Anmerkung CK] die unabhängig vom Wissen bestehende Handlungsdynamik industrieller Selbstgefährdung nicht stoppt oder korrigiert“ (ebd. S. 310). Eine spezielle Form des Nicht-Wissens bildet das „Nicht-Wissen-Können“. An dieser Form des Wissens zeigen sich die Möglichkeiten der Machtbildung über figurative Prozesse und interdependente Strukturen. Das Subjekt der Zweiten Moderne ist zunehmend auf fremdes Wissen angewiesen bzw. wird Wissen über seine Differenzierung und Spezialisierung zu einem Expert*innenwissen. Die Gefahr dieser Fremdbestimmung liegt dabei nicht allein in der Tatsache, dass Wissen nicht erworben werden kann, sondern vielmehr darin, dass an den Status des Nicht-Wissens eine Handlungsunfähigkeit gekoppelt ist: Der*Die Nicht-Wissende wird zum*zur Unmündigen. Die Prozesse des Wissenstransfers bzw. die Informationsweitergabe werden politisch (vgl. Beck 1986; Stalder 2016); so konstatiert Beck: „In Klassenlagen bestimmt das Sein das Bewußtsein, in Risikolagen umgekehrt das Bewußtsein
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(Wissen) das Sein [Hervorhebung des Originals entfernt, Anmerkung CK].“ (Beck 1986, S. 70) Da Wissen zunehmend an Expertentum und abstrakte Expert*innensysteme gebunden ist, ist der Zugang zu diesem Wissen über den Zugang zu diesen Systemen in westlichen Gesellschaften weitestgehend bzw. relativ frei (vgl. Giddens 1996), doch wird die Frage nach dem Vertrauen in diese Systeme immer zentraler (vgl. Beck 1996b). Selbst der Zustand des Wissens muss aufgrund seines Erkenntnisinteresses und über die Anbindung an fremdes Expert*innenwissen kritisch hinterfragt werden, wodurch sich Selbst-Reflexivität und strukturelle Reflexivität als Notwendigkeiten einer reflexiven Modernisierung ableiten. Dieser Prozess des Bewusstwerdens und Infragestellens bildet den Weg der Ermächtigung der Subjekte und die Basis demokratischen Handelns (vgl. Lash 1996). Die Vertrauensfrage in Expertentum und Wissen sowie eine daran geknüpfte Notwendigkeit der Reflexivität durch das Individuum werden zentral für das Lernen in der zweiten Moderne, wenn man den Blick darauf richtet, wer als Expert*in fungiert und Wissen auf welche Weise transferiert. Für Daniel Bell (1985 [1973]), der mit seinem Werk „Die nachindustrielle Gesellschaft“ den Begriff der Wissensgesellschaft in den Wissensdiskurs eingebracht hat, bildete das Wissenschaftssystem das zentrale System der Expert*innen: „In der nachindustriellen Gesellschaft, in der technisches Können die Grundlage und Bildung den Zugang zur Macht liefert, stellen die Wissenschaftler die Elite der auf diese Weise in den Vordergrund tretenden Gruppe dar […].“ (Bell 1985 [1973], S. 257 f.) Über 40 Jahre nach Erscheinen der Publikation haben Bells Beschreibungen einer gesellschaftlichen Gestaltungskraft durch Wissen Bestand, jedoch hat sich die prioritäre Position der Wissenschaft innerhalb dieses Gesellschaftsgefüges nicht erfüllt. Aber wer dominiert dann den Wissensdiskurs, wenn nicht das Wissenschaftssystem? „Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht“ – so lautet der Untertitel einer 2015 erschienen Publikation des Soziologen und Politikwissenschaftlers Colin Crouch (2017). Folgt man Crouch, der mit diesem Werk seine dritte Publikation zur Beschreibung einer „Postdemokratie“ veröffentlicht hat, dann bildet das Wirtschaftssystem das führende Expert*innensystem und generiert Wissen, über dessen Transfer es seine Machtposition festigt. Unter anderem am Beispiel der Wissensgenerierung und Datenakkumulation von Ratingagenturen sowie über Rankingverfahren, die in Abhängigkeit zur Wirtschaft stehen und diese und weitere Sektoren trotz dieser Interdependenz objektiv bewerten sollen, zeigt Crouch die marktbedingte Bildung von Wissen, die durchaus problematisch bewertet werden muss:
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
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Marktlogiken produzieren falsches Wissen, indem im Sinne der Profitmaximierung „Zahlen geschönt werden“; Marktlogiken produzieren irrtümliches Wissen, indem personelle Einsparungen im Gesundheitssektor die Anfälligkeit für „menschliches Versagen“ erhöhen; Marktlogiken produzieren einseitiges Wissen, wenn renommierte Wissenschaftszeitschriften wirtschafts-, markt- und machtkritische Texte ablehnen oder Auftragsforschung Ergebnisvorgaben impliziert; Marktlogiken produzieren fehlendes Wissen, wenn Fördermittel aufgrund wirtschaftlicher Entscheidungskriterien vergeben werden und Begleitausschüsse bzw. Beiräte deshalb keinerlei Fachkenntnisse zum Gegenstand der Förderung mitbringen müssen; Marktlogiken produzieren verlorenes Wissen, wenn Projektförderung für Zuwendungsgebende zu einem „Zeitpunkt x“ abgeschlossen ist, Nachhaltigkeit zur Worthülse mutiert und einzig Indikatorenerfüllung und ordnungsgemäße Mittelverwendung zur Bewertung einer erfolgreichen Projektumsetzung herangezogen werden. Aus diesen verschobenen Wissensformen kann nur bedingt Mündigkeit der Individuen wachsen; die logischen Konsequenzen formieren sich über Handlungsunfähigkeit oder Handlungsverschiebungen, welche risikohafte Nebenfolgen nicht stoppen oder korrigieren können. Für Crouch wird zudem die asymmetrische Verteilung von Wissen zentral, die ihrerseits gesellschaftliche Ungleichheiten produziert und reproduziert. Besonders relevant ist diese Ungleichheit, die sich über einen asymmetrischen Transfer und Zugang ergibt, im Kontext digitaler Sozialräume: wenn das Wissen Informationscharakter trägt, wenn das Wissen an ein Unternehmen des Mediensektors gekoppelt ist und über die Informationsweitergabe zugleich Einfluss auf gesellschaftspolitische Prozesse genommen wird oder wenn der*die wissensproduzierende, wissensspeichernde und wissenstransferierende Expert*in in intransparenter, für die Öffentlichkeit nicht ersichtlicher Verbindung zu politischen Entscheidungsträger*innen steht. Konkret geht es um den Einfluss großer Wirtschaftsunternehmen des „Silicon Valley“, die über ihre Produkte weltweit meinungsbildend aktiv werden können, weltweit Daten sammeln (und verkaufen) und über Algorithmen die sozialräumlichen Strukturen beliebig formen, ohne dass Nutzer*innen direkten Einfluss auf diese nehmen können und selbst nationale Rechtssysteme ihre Kontroll- und Sanktionierungsmacht gegenüber diesen Strukturen verlieren (vgl. Felschen 2017). Die machtvolle Verbindung zwischen Wirtschaft, Medien und Politik findet ihre Entsprechung in der semantischen Verschiebung von der Wissensgesellschaft zur Informationsgesellschaft. Für Manuel Castells (2004) entwickelt sich diese Informationsgesellschaft über die gesellschaftliche Ausformierung als Netzwerk, produziert über moderne Technologien und neue Sozialräume der Kommunikation. Nach Castells bildet sich aus dieser Netzwerkstruktur eine neue Wirtschaftsform, die global
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agiert, weltumspannend vernetzt und zudem vom Wesenskern her informationell ist, indem diese Netzwerkstruktur auf „effiziente Weise wissensbasierte Informationen hervorzubringen, zu verarbeiten und anzuwenden“ (Castells 2004, S. 83) vermag. Darüber bilden sich neue Wirtschafts-, Dienstleistungs- und Freizeiträume heraus, die unabhängig geografischer Räume eine eigene Soziabilität entwickeln. Castells beschreibt Raum als Ausdruck der Gesellschaft (ebd., S. 466), so dass das moderne informationelle Netzwerk zum gesellschaftlichen Bestandteil wird bzw. in der Beschreibung der modernen Gesellschaft der digitale Sozialraum eine feste Gesellschaftsstruktur bildet, die sowohl auf den Prozess der Ich-Individuation als auch auf den Prozess der Vergesellschaftung gestaltend wirkt – entsprechend muss dieser soziale Raum im Bildungsauftrag der modernen Schule seine Entsprechung finden. Im sozialräumlichen Lernen innerhalb dieser Struktur(ebene) lässt sich der Umgang mit und innerhalb des digitalen Netzwerk-Raums erfahrbar machen. Für den Umgang mit digitalen Sozialräumen bedeutet dies konkret: Im Sinne eines sozialisationstheoretisch-konstruktivistischen Prinzips – was zudem den Grundprinzip medienpädagogischer Arbeit entspricht – können Gestaltungsmöglichkeiten und Risiken eines digitalen Sozialraums nur über das aktive Erleben begriffen und reflektiert werden. Letztendlich wächst aus dem wechselhaften Prozess des Erlebens und der daran geknüpften Reflexion das Wissen. Dieses Wissen bleibt im Sinne reflexiver Modernisierung dennoch ein risikohaftes Wissen. Über den globalen und vernetzen Charakter eines digital produzierten Wissens wird die Zuordnung eines personalisierten Experten bzw. einer personalisierten Expertin so gut wie unmöglich. Die Art und Weise, über welche digitale Strukturen als Produktions- und Transfer-Strukturen von Wissen programmiert wurden, bleibt zu großen Teilen intransparent; eine Veränderung oder Einfluss auf diese Strukturen durch Laien wird somit nicht möglich. Gleichzeitig wird die Reflexivitätsbeziehung des Wissens auf weitere gesellschaftliche Systeme differenzierter bzw. werden die Nebenfolgen des informationellen, digitalen Raumes schwerer abschätzbar, um entsprechende Handlungsfolgen bestimmen zu können: „Niemand sieht sämtliche Folgen der Digitalisierung ab. Die Folgen für den einzelnen Bürger, dessen Verhalten immer genauer von Algorithmen vorhergesagt wird. Die Folgen für Medizin und Gesundheitswesen, die durch Big Data haarfein wie nie zuvor auf den einzelnen Patienten ausgerichtet werden sollen. Die Folgen für die Arbeitsmärkte der Zukunft, für Gesellschaft und Politik.“ (Könneker 2017, S. V)
Der Prozess der Digitalisierung breiter Lebensbereiche – dessen Basiselemente durch einen digitalen Informationsfluss und darauf aufbauende Handlungsfolgen gebildet werden – produziert gods und bads, deren Risikohaftigkeit den Typen Pythia
2.2 Die Gesellschaft der Vielfalt an ausgewählten Differenzlinien
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und Pandora entspricht: unbekannt und möglicherweise nicht steuerbar (vgl. auch Beck 2017, S. 185–196). Zugleich implizieren das Risiko und ein daran gekoppeltes Wissen die Möglichkeit und das Machbare: in Form produktiver Chancen. Über soziale, kulturelle oder politische digitale Räume formieren sich gesellschaftliche Gegenräume, die im Kontrast zu bestehenden Sozialräumen stehen oder diese ergänzen. Diesen digitalen Sozialräumen kann die Kraft der Dekonstruktion zugesprochen werden, da sie das in ihnen produzierte Wissen über die Netzwerkstruktur des digitalen Raumes vom Rand dieser Struktur in deren Zentrum als gesellschaftliches Bewusstsein stellen können. Folgt man Michel Foucaults Grundverständnis, dass Macht als Ausdruck relationaler sozialer Beziehungen und Diskurspraktiken Wissen formiert (vgl. Foucault 1983 [1977]; 2003 [1977]) – wenn man also Bacons Aussage „Wissen ist Macht“ in „Macht ist Wissen“ transformiert – dann wird deutlich, dass über den Netzwerk- und Systemcharakter des digitalen Raumes neue Möglichkeits- und Machtstrukturen generiert werden. Indem viele digitale Raumstrukturen jenseits etablierter Akteur*innen des Medien- und Wissenschaftssystems agieren, nutzen sie einen neu entstandenen Frei- und Gestaltungsraum. Dieses Potential der „Netzwerkgesellschaft“ ermöglicht zudem neue Formen der Partizipation, so dass über einen barrierefreien Zugang zum Netzwerk ein relationaler Raum der Inklusion entstehen kann – sofern man sich entsprechendes Wissen über den digitalen Raum aneignen und sich darin kritisch orientieren kann sowie über die Fähigkeit zur Selbststeuerung verfügt. Lernen in digitalen Räumen muss dabei am normativen Ziel der Rückgewinnung von Autonomie und Mündigkeit ausgerichtet sein. Grundlage dafür ist eine mögliche Aneignung des digitalen Sozialraums über die Aneignung seiner sozialräumlichen Strukturen. Hier liegt innerhalb der Unterrichts- und Bildungsforschung ein großes Desiderat, was über die Weiterentwicklungen einer Informatik-Didaktik oder über eLearning-Konzepte allein nicht geschlossen werden kann. In seiner Publikation „Homo Digitalis“ erörtert der Philosoph Rafael Capurro (2017) die wechselseitige Bedingung zwischen den Entwicklungen innerhalb der Informations- und Kommunikationstechnik und moralischem Handeln, da sich über die neu gewonnenen digitalen Sozialraumstrukturen normative Erwartungen und Rahmenbedingungen verschieben; es kommt zu einer Verschiebung und Neugestaltung gesellschaftlicher Strukturen. Am Beispiel des digitalen Sozialraums und dessen besonderer Kopplung von Raumstruktur, Wissensmanagement, Handlungsfähigkeit und mündigem Handeln zeigt sich die Reflexivität der Zweiten Moderne: Wissen wird unscharf und verliert – analog zur Zunahme komplexer Kausalbeziehungen – seinen Anspruch auf Wahrheit bzw. den Anspruch auf alleineige Wahrheit. Eine mehrheitlich wahrgenommene Wahrheit ist zunehmend an relationale Machtbeziehungen gekoppelt,
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welche neben Wahrheitsansprüchen auch ihr Recht auf Handlung und Gestaltung einzelner Gesellschaftsstrukturen geltend machen. Ist die analoge Welt bereits in ihrer Komplexität schwer zu begreifen, potenziert sich die Reflexivität und Vielfalt des digitalen Raumes um ein Vielfaches und wirkt in dieser Weise auf den realen, analogen Raum zurück. Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt formt sich demnach aus der Notwendigkeit zur Selbstermächtigung, um Wissen zu reflektieren und Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Darüber ergeben sich neue Machtbeziehungen im Sinne von Gestaltungsmöglichkeiten, welche final die Grundlagen des (mündigen) Handelns bilden.
2.2.4
Modifizierung & Transformation: die glokale Risikogesellschaft
„[…], dass die Kumulation der aktuellen Krise zu einer Metakrise dazu zwingt, die Gefahr eines Systemzusammenbruchs einzukalkulieren, wenn wir über neue Lösungen für eine nachhaltige Gesellschaft und eine lebenswerte Zukunft nachdenken. Es geht daher jetzt nicht mehr um Korrekturen, sondern um einen radikalen Richtungswechsel. […] Diese Erkenntnis kommt nun als Schock, weil wir längst schon wussten, was wir trotzdem nicht wahrhaben wollten.“ (Leggewie/Welzer 2009, S. 71)
Diese Worte hätte Daenerys Targaryen – eine der Figuren aus „Game of Thrones“, die um die ultimative Herrschaft des „Eisernen Throns“ konkurriert – so oder in ähnlicher Form an Cersei Lennister – die aktuelle Inhaberin des „Eisernen Throns“ – richten können. Nämlich dann, als sie in der 2017 ausgestrahlten 7. Staffel des Fantasy-Epos versucht, Cersei Lennister von der Existenz der Armee der Toten zu überzeugen, um gemeinsam, jenseits aller Grabenkämpfe diese globale Gefahr der „Game of Thrones“-Welt zu besiegen. Die Autoren des Zitates beschreiben mit dieser Aussage jedoch den Ist-Stand unserer Welt und zeichnen die Risikogesellschaft über deren Realisierungen. Auf den ersten Blick scheint die Analogieführung zwischen einer Armee von Zombies und unserer modernen Risikogesellschaft zu „trashig“ für eine wissenschaftliche Arbeit. Lässt man sich jedoch auf das Prinzip des sozialräumlichen Lernens – hier über eine fiktionale komprimierte Gesellschaftbeschreibung basierend auf Büchern und deren Visualisierung und Fortschreibung über eine TV-Serie – ein, lässt sich die Differenzlinie der „glokalen Risikogesellschaft“ kurz und prägnant über eine Facette des „Game of Thrones“-Universums voranstellen. Sie dient als einführende Beschreibung der Reflexivität des Globalen mit dem Lokalen über das Risiko, so dass sich die „Armee der Zombies“ doch innerhalb des wissenschaftlichen „state of the art“ bewegt.
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In der Welt von „Game of Thrones“ existiert in Schriften und über die mündliche Überlieferung das Wissen um die „Weißen Wanderer“, die das menschliche Leben durch eine Armee von Untoten bedrohen. Ein tiefer und Jahre überdauernde Winter soll ihr Kommen ankündigen – „Winter is coming“ formiert daher zu einem zentralen Leitspruch des „Game of Thrones“-Universums und fungiert als kollektives Bewusstsein, welches fiktionale Figuren und non-fiktionale Rezipierende über die Bedeutung dieses Ausspruchs eint: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. So hätten die Autoren Claus Leggewie und Harald Welzer (2009) ihre Publikation auch mit dem Titel „Der Winter naht“ benennen können und die Leserschaft – wissenschaftlich wie populärwissenschaftlich – hätte im Jahr 2017 die Brücke zwischen Titel und Inhalt herstellen können. Dies spricht unter anderen auch für die kosmopolitische Reichweite des „Game of Thrones“-Universums, welche nicht zuletzt aus Möglichkeiten der Globalisierung resultiert. In der Welt von „Game of Thrones“ hat das Wissen um die „Weißen Wanderer“ jedoch an Relevanz und Bedeutung verloren; es hat sich zu einem Nicht-Wissen-Wollen (vgl. Beck 1996b) weiterentwickelt. Solange die große Mehrheit der Bevölkerung keinem lebenden Untoten begegnete und solange die Temperaturen über Null blieben, wurde das Wissen über die Armee der Untoten „ins Reich der Legenden geschickt“. Das heißt, es war nicht im Bewusstsein, um daraus Handlungswissen ableiten zu können. Das Bewusstsein wird jedoch erschüttert, als Daenerys Targaryen Cersei Lennister mit einem wirklichen lebenden Untoten konfrontiert und die ersten Schneeflocken in der mediterran anmutenden Hauptstadt der „Sieben Königslande“ fallen. „Diese Erkenntnis kommt nun als Schock, weil wir längst schon wussten, was wir trotzdem nicht wahrhaben wollten.“ (Leggewie/Welzer 2009, S. 71). Für die handelnden Akteur*innen erwächst daraus das unmittelbare Erleben kognitiver Dissonanz. Für die fiktive „Game of Thrones“-Gesellschaft ebenso wie für die reale Gesellschaft der Zweiten Moderne wird deutlich, dass das Risiko zwar einen lokalen Ursprung hat, aber in seinen Auswirkungen global spürbar ist bzw. spürbar sein wird. Daenerys Targaryen bittet daher ihre Konkurrentin um die zeitweise Einstellung des Machtkonfliktes, um sich gemeinsam dem globalen Konflikt zu widmen, denn eine Ein-Parteien-Lösung – bzw. eine nationale Lösung – wird es in diesem Konflikt nicht geben. Ulrich Beck konstatiert an dieser Stelle bezugnehmend auf das globale Risiko: „Globale Risiken können Brücken schlagen und das FreundFeind-Denken überwinden.“ (Beck 2017, S. 230) In diesem Zusammenhang und im Bewusstsein der globalen Risikogesellschaft argumentiert Beck für die Umsetzung einer kosmopolitischen Realpolitik (vgl. Beck 2008), für die Nutzung kosmopolitischer Handlungsräume (vgl. Beck 2017) und für das kulturelle Bewusstsein einer Generation Global (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 2007). Und Anthony Giddens fordert mit Blick auf eine notwendige und sich stetig entwickelnde Kosmopolitisierung
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der Welt eine „Demokratisierung der Demokratie“ (vgl. Giddens 2001). Dieser Weg wäre auch für die Bevölkerung der „Sieben Königslande“ der konstruktivste, doch entscheidet sich Cersei Lannister als aktuelle Regentin der „Sieben Königslande“ gegen den kosmopolitischen Weg und wird Daenerys Targaryen ihre Armeen im Kampf gegen die Untoten im Norden des Landes versagen: also keine globale Lösung im globalen Konflikt, sondern ein notgedrungener lokaler Alleingang der Anhängerschaft Daenerys. Warum diese scheinbar irrationale Handlung von Cersei? Weil sie auf eine siegreiche Schlacht der Untoten hofft, die ihr die missliebige Rivalin ohne Einsatz persönlicher Opfer aus der Welt schaffen, womit sie ihre eigene Herrschaft sichern und festigen könnte. Das Problem der übermächtigen Untoten-Armee wird vertagt. Leggewie/Welzer (2009) verweisen bei einem solchen Verhalten in risikohaften Kontext auf das „rational-irrationale Verhalten ‚Diskontierung zukünftiger Gewinne‘: Man nimmt zur Erzielung kurzfristigen Gewinns die Schädigung einer Ressource in Kauf, ‚weil man die Gewinne aus der gegenwärtigen Nutzung wieder investieren kann, so dass die auf diese Weise angehäuften Investitionen in der Zeit bis zu einer zukünftigen Ausbeutung die gegenwärtige Nutzung wertvoller macht als jene in der Zukunft.“ (ebd., S. 80).
Bezogen auf das rational-irrationale Verhalten Cersei Lannister bedeutet die Diskontierung die vorübergehende Inkaufnahme der Risikoerhöhung als Sicherung des Machterhalts. Für Cersei ist eine Zukunft ohne Macht wertlos, so dass sie den wahrscheinlichen Tod durch die Zombie-Armee einer machtlosen Zukunft vorzieht. Eine solidarische Verantwortungsübernahme gegenüber ihrem Volk bleibt in dieser Überlegung außen vor. Der persönliche Nutzen überwiegt das globale Risiko. Dieses „Rational-Choice“-Prinzip lässt sich von der Mikroeben auf die Makroebene übertragen, weshalb das Globale stets auch nur im Kontext einzelner lokaler Regionen, einzelner Nationalstaaten und nationalstaatlicher Zusammenschlüsse betrachtet werden kann. Das heißt, das Risiko ist sowohl in seiner Entstehungen ein glokales als auch in seiner Überwindung bzw. Transformation. Daher wendet sich auch die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe (2016 [2005]) „wider die kosmopolitische Illusion“ der Theoretiker der Zweiten Moderne. Hegemoniale Strukturen und Beziehungen formieren den sozialen Raum, den lokalen wie den global-kosmopolitischen. Dabei finden diese Strukturen und Beziehungen nicht nur in der Gestalt der machterhaltenden Cercei Lannister ihren Ausdruck, sondern auch über die realen antagonistische Beziehung zwischen Parteien oder Positionen. Das antagonistische Verhältnis schafft Pluralität, die nicht hinreichend über den kosmologischen Handlungsraum beschrieben werden kann und auch zu keinem kosmopolitischen Konsens führt. Mouffe fasst ihre Kritik an der kosmopolitischen
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Idee wie folgt zusammen: „Anders als die Kosmopoliten meine ich, wir sollten den zutiefst pluralistischen Charakter der Welt anerkennen: ich plädiere für die Schaffung einer multipolaren Weltordnung.“ (Mouffe 2016 [2005], S. 118 f.) In der Fortführung dieses Gedankens lässt sich Pluralität nur über eine gleichberechtigte Beschreibung des Globalen und des Lokalen fassen, was die Grundlage eines gemeinsamen symbolischen glokalen Raums nicht ausschließt – eine Position, die auch entgegen der Kritik Mouffes durch Ulrich Beck geteilt wird: Der kosmopolitische Erfahrungsraum „ist zugleich global, individuell und [im Original kursiv, Anmerkung CK] lokal und stiftet auf diese Weise (u. U.!) kosmopolitische Sinn- und Handlungszusammenhänge“ (Beck 2009 [2002], S. 38), die sich möglicherweise in einer ausschließlich nationalstaatlichen Perspektive nicht ergeben würden. Über den pluralistischen Raum des Glokalen lässt sich das Risiko schließlich umfassender beschreiben und analysieren, da diese Perspektive die Fragmentierung des Globalen zu Teilen aufhebt. Diese Sichtweise impliziert auch, dass eine antagonistische Idee, welche aus einem anderen lokalen Kontext gewachsen ist, ihre Daseinsberechtigung erhält. Ein Beispiel des deutschen Bildungswissenschaftsdiskurs soll diesen Standpunkt verdeutlichen: 2016 fand in Kassel der 25. Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften“ (DGfE) unter dem Motto „Räume für Bildung. Räume der Bildung“ statt. Ein Workshop zu „Ländlichen Räumen und lebenslangem Lernen“ zeigte allen Anwesenden deutlich, aber nicht intendiert, auf, dass im deutschsprachigen Raum völlig unterschiedliche Konzepte des Ländlichen vorliegen. So ist der ländliche Raum um Halle/Saale völlig divergent zum ländlichen Raum um Tübingen: prekärer Raum mit Überalterung und Abwanderung trifft auf – wie von einer Plenums-Teilnehmerin zu gespitzt, aber treffend beschrieben – „heile Bullerbü-Idylle“. Zwei lokale Räume, die scheinbar ein gemeinsames Verständnis von Sozialraum teilen, aber dabei nicht weiter voneinander entfernt sein können als die Gegenspielerinnen Daenerys Targaryen und Cersei Lennister. Dennoch haben beide Sozialräume ihre jeweilige Daseinsberechtigung und müssen durch die Bildungswissenschaft auch im Fokus ihrer jeweiligen Spezifik untersucht werden, um dann – entsprechend des Seminarmottos – Ableitungen für das lebenslange Lernen zu treffen. Ähnlich haben individuelle Standpunkte der in den Sozialräumen lebenden Individuen ihre Daseinsberechtigung, da die äußere umgebende Realität Einfluss auf den Prozess der Sozialisation nimmt. Chantal Mouffe prägt hier für die Makroebene die Bezeichnung des konfliktualen Konsens: „einen Konsens über ethisch-politischen Werte der Freiheit und Gleichheit aller, einen Dissens aber über die Interpretation dieser Werte“ (Mouffe 2016 [2005], S. 158) Eine Ableitung dieses konfliktualen Konsens für die ländlichen Räume hieße, ländlichen Sozialraum in Deutschland
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in seiner Pluralität wahrzunehmen und auch in seiner Verschiedenheit und deren Genese zu untersuchen. Bezogen auf das rational-irrationale Verhalten Cersei Lannisters bedeutet dies, den Konflikt festzustellen und ihn anzuerkennen, um im nächsten Schritt die Hintergründe des Verhalten zu eruieren: Wie ist Cerseis Position gewachsen oder – sozialwissenschaftlich ausgedrückt – wie wurde diese Figur sozialisiert? Buch und Serie zeigen Ausschnitte ihres Lebens, die den inneren Impuls erahnen lassen. Wer mag, kann als Rezipient*in in die Position dieser fiktionalen Figur hineinwachsen und dabei Empathie entwickeln, ohne die Entscheidung gut zu heißen. Dieses Prinzip lässt sich auf den durch Chantal Mouffe geprägten konfliktualen Konsens übertragen – möglichweise bildet dieser Weg auch einen Lösungsweg aus der Konflikthaftigkeit ab. Bedingung dafür bleibt die hermeneutische Analyse des Ganzen aus seinen Teilen: also der Blick auf das Globale über das Lokale. Das Kunstwort Glokalisierung beschreibt demnach die wechselhafte Bedingtheit zwischen dem Lokalen und dem Globalen, wobei das Verständnis des Globalen eine Analyse des Lokalen voraussetzt und das Lokale zugleich durch das Globale – über seine transnationalen Kommunikationswege, über seine kontinentübergreifenden Wirtschaftsbeziehungen, über seine internationalen Organisationen und über deren Nebenfolgen – geformt und gestaltet wird. Glokalisierung beschreibt die Reflexivität der Zweiten Moderne und verweist auf deren Herausforderung: den produktiven Umgang mit Wissen und Nicht-Wissen sowie deren Schattierungen, um Risiken zu erkennen, zu bewerten und letztendlich zu modifizieren bzw. zu transformieren. Bereits vor zwanzig Jahren beschreibt der Soziologe Richard Münch (1998) über diese wechselhafte Bedingtheit das Wesen einer „dritten Moderne“, in welche westliche Gesellschaften über das Wirken der Glokalisierung transformiert werden. Bezugnehmend auf seinen US-amerikanischen Kollegen Ronald Robertson (1992), der den Begriff der Glokalisierung geprägt hat, beschreibt Münch diesen vertiefend: „Das Globale wird indigenisiert, d. h. in lokale Lebenswelten eingepaßt, das Lokale wird generalisiert und so global zugänglich gemacht. Das bedeutet indessen, daß sich lokale Lebenswelten nicht mehr aus sich selbst heraus reproduzieren, sondern in der Interaktion mit dem globalen wirtschaftlichen Austausch, globalen Machtverhältnissen, globalen Vergemeinschaftungsprozessen und globalen Kommunikationsströmungen. Ökonomische Effizienz und Verwertbarkeit, politische Opportunität, weltweite Unterstützung, wissenschaftliche Begründbarkeit und kulturelle Universalisierbarkeit werden zu Selektionsfaktoren für das Überleben lokaler Lebenswelten.“ (Münch 1998, S. 15)
Welche Formen nimmt nun das Risiko an, welches über Glokalisierungs-Prozesse den lokalen und zugleich den globalen Sozialraum determiniert? Neben seinen Wesensmerkmalen der Reflexivität in Form von verzweigten Kausalitäten und der
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Tendenz, aus Nicht-Wissen zu wachsen und dieses zu reproduzieren, ist das Risiko durch die Ungleichheit gekennzeichnet. Dabei lassen sich verschiedene Formen von Ungleichheit unterscheiden, die zudem die Gesellschaft der Vielfalt über ihre Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu einer reflexiven Zweiten Moderne formen. So lassen sich ökologische Risiken erheben, deren Wirkkraft räumlich ungleich verteilt ist (vgl. OXFAM 2017). Dies umfasst zum einen Auswirkungen des Klimawandels, die lokal unterschiedlich stark bzw. häufig auftreten, und zum anderen ungleich über wirtschaftliche, medizinische und technische Ressourcen ausgeglichen werden können. Gleichzeitig bilden diese ökologischen Risiken eine Facette von zeitlicher Ungleichheit ab, indem ihre perspektivische Wirkkraft eine Form von Generationenungerechtigkeit produziert, da künftige Generationen die Auswirkungen des Klimawandelns ungleich deutlicher spüren werden als heutige (vgl. Leggewie/Welzer 2009). Weiterhin generiert das wirtschaftspolitische Gerüst der glokalen Gesellschaft Ungleichheiten. Die daraus resultierenden bads sind im globalen Süden deutlicher zu spüren als im globalen Norden (vgl. Lessenich 2016) und parallel führen sie zu einer wachsenden sozioökonomischen Spaltung der westlichen Gesellschaften des globalen Nordens (vgl. Nachtwey 2016a, 2016b; Bude/Staab 2016). Als Reaktion auf diese Entwicklungen formieren sich an den gesellschaftspolitischen Rändern westlicher Gesellschaften neue Protestbewegungen (so zum Beispiel „Occupy“ und „Interventionistische Linke“ auf der einen Seite sowie „PEGIDA“ und „Der Marsch“ auf der anderen Seite), über deren Protestform und Daseinsberechtigung diskutiert wird, oftmals ohne dabei Chantal Mouffes Forderung eines konfliktualen Konsens in den Diskurs zu integrieren – eine Erscheinung, die zu Lasten einer inhaltlichen Verständigung führt, indem dem „Wahnsinnigen“ sein potentielles Recht auf „Wahrheit“ abgesprochen wird (vgl. Foucault 1969 [1961]) oder nicht mehr versucht wird, These und Antithese in einem dialektischen Verhältnis zu beleuchten. Zugleich kann die Tendenz des Erstarkens rechter und nationalistischer Parteien in Europa nicht mehr negiert werden (vgl. Hufer 2018), ebenso wenig wie der kausale Zusammenhang zwischen politischer Einflussnahme „globaler Supermächte“ auf dem afrikanischen Kontinent und der weltweiten Ausbreitung islamistisch geprägten Terrors, evoziert über religiös erzeugte „Gut“-„Böse“-Schemata (vgl. vertiefend Kron 2015). Aufgrund dieser glokal wachsenden gesellschaftlichen Spaltung spricht der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey auch von einer „regressiven Modernisierung“ (Nachtwey 2016b, S. 71 ff.), welche das Konzept der Zweiten Moderne gut dreißig Jahre nach Erscheinen der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) spezifiziert und aktualisiert. In Tradition der „Kritischen Theorie“ bezieht sich Nachtwey auf den Umstand, „dass Gegenwartsgesellschaften hinter das in
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der sozialen Moderne erreichte Niveau der Integration zurückfallen“ (Nachtwey 2016b, S. 75). Nachtwey spricht auch von einer „neoliberalen Komplizenschaft“ (ebd. S. 78 ff.), welche die Menschen bewusst und unbewusst den Mechanismen dieser regressiven Modernisierung zustimmen lässt, zum Beispiel über den wachsenden Selbstzwang zur Optimierung des eigenen Ichs, wodurch es zu einer Form der Selbstentfremdung kommt (vgl. auch Abschnitt 2.2.2). Im fünften und letzten Kapitel seiner Publikation widmet sich Nachtwey einer Folge der Risikogesellschaft, die zugleich einen möglicher Lösungsweg aus der Risikohaftigkeit bildet: dem Aufbegehren (Nachtwey 2016b, S. 181–234). Er verweist auf den durch Axel Honneth (1992) untersuchten Zusammenhang zwischen fehlender Anerkennung und deviantem Verhalten, als welches Protest gewertet werden kann. Die Formen des Aufbegehrens sind vielfältig und reichen von „zivilem Ungehorsam“ bis hin zu antidemokratischen Formen des Terrors. Gespeist werden sie aus der Ungleichheit des Risikos, speziell dadurch dass die Anerkennung dieser Ungleichheit in öffentlichen und medialen Diskursen nicht allumfassend reflektiert werden kann. Darüber verliert der Protestinhalt seine Daseinsberechtigung und wird zu einem „Nicht-WissenWollen“; das deviante Verhalten potenziert sich. Öffnet man sich jedoch Chantal Mouffes Idee einer multipolaren Weltordnung – und in Becks Sinne einem kosmopolitischen Erfahrungsraum – die den konfliktualen Konsens anerkennt, bestände die Basis eines Dialogs, der sich schrittweise diskursiv unter universal-ethischen Gesichtspunkten entfalten könnte. Wertet man Protest als subjektiven oder gruppenspezifischen Ausdruck, den Risikofaktoren der Zweiten Moderne etwas entgegen zu setzen, dann kann Protest zur gesamtgesellschaftlichen Ressource wachsen. Dass dieses Verständnis Grenzen hat, wird vorbehaltlos akzeptiert, beschneidet jedoch nicht den Ansatz. Die Arbeit kann keine Analyse bieten, weshalb die AfD zu den Bundestagswahlen 2017 als drittstärkste Kraft in den Bundestag eingezogen ist, dafür sind die Nebenfolgen dieser Entwicklung zu vielschichtig miteinander verwoben, um in einer Forschungsarbeit zum sozialräumlichen Lernen hinreichend untersucht werden zu können. Aus der beruflichen Arbeit der Verfasserin leitet sich jedoch die Forderung auf eine komplexe – teilweise auch individualisierte – Ursachenforschung ab. Dabei hat speziell die Sozialisationsinstanz „Schule“ die Chancen, im Verständnis eines konfliktualen Konsens mit Schüler*innen ins Gespräch zu kommen, basierend auf Prinzipen von Anerkennung und Wertschätzung, die an die pädagogische Arbeit gebunden sind. Man muss eine Meinung nicht teilen, um ihr dennoch eine Daseinsberechtigung zu geben und sie als subjektive Wahrheit gelten zu lassen. Ist sich die pädagogische Arbeit bewusst, dass Ungleichheiten im Handeln einzelner aus subjektiv erlebten Ungleichheiten sowie strukturellen Ungleichheiten resultieren, wird der Weg der Bildung, der Sozialisation und des Lernens deutlicher: Die Lernenden brauchen die Möglichkeit,
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abgespeichertes Wissen über neue Erfahrungen zu modifizieren und zu transformieren. Hier setzt das sozialräumliche Lernen als Lernform der zweiten Moderne an. Der soziale Raum in seiner Komplexität kann nur in bruchstückhaften Teilen erfasst werden, über eine wertschätzende und reflektierende Begleitung durch Lehrende können diese Bruchstücke neues Wissen schaffen. Bleiben Lernen und Unterricht in ihren Modi des Frontalunterrichts und der standardisierten Leistungserhebung als Ziel aller pädagogischer Arbeit haften, bleibt Schule hinter ihren Möglichkeiten und negiert die Anforderungen und Herausforderungen einer Gesellschaft der Vielfalt.
2.3
Zwischenfazit I
Die Gesellschaft der Vielfalt erscheint demnach als ambivalent und mehrdeutig; „Komplexität ist die Problemausgangslage“ (Kron 2015, S. 19). Sie erschafft eine (Post)Moderne, die sich über verschiedenste Facetten beschreiben lässt. Dabei formieren die Facetten als Differenzlinien, die einander bedingen. Diese wechselseitige Bedingtheit bildet die Reflexivität der Zweiten Moderne ab, die sich wie ein Netz aus Nebenfolgen durch unsere Denken und Handeln zieht und dieses zugleich bestimmt. Der einzelne Mensch erlebt diese Reflexivität, ohne dass sie ihm wirklich bewusst ist: Zu selten werden Entscheidungen getroffen, ohne die parallelen Möglichkeiten im Vorfeld umfassend eruiert zu haben – wie auch, wenn das Wissen um die Möglichkeiten und die daran geknüpften Nebenfolgen vielfältig und unscharf bleibt und wenn neben der eigenen Wahrheit stets auch eine weitere existiert. Beschleunigung und Weltreichenvergrößerung, Entfremdung und Ich-Identitätsfindung – mit Hartmut Rosa in Reflexion der Arbeit Sören Kierkegaards bildet die Moderne „eine nihilistisch eingeebnete Welt von tödlicher Stille [Hervorhebung entfernt, Anmerkung CK], aus der nichts mehr heraussticht, so dass auch die in ihr lebenden Individuen sich leer und überflüssig erfahren“ (Rosa 2016, S. 536). Dabei nimmt die „tödliche Stille“ auch die Form der „kurzen Antwort“ an, die ein jeder von uns gern bereit ist gutzuheißen, um die eigenen Ressourcen in eine neue Nebenfolge investieren zu können. Wir streben in einer Gesellschaft der Vielfalt nach Antworten, versuchen, die kognitive Dissonanz auszugleichen und müssen dabei – gemäß unserer strukturellen Rahmenbedingungen – effizient sein. So zeugen – exemplarisch betrachtet – separatistische Bestrebungen, welche die Idee eines geeinten Europas zunehmend herausfordern werden, vor allem vom Wunsch, die Gesellschaft der Vielfalt wieder überschaubarer und verstehbarer zu machen. Gleichzeitig sind wir gefordert, die Vielfalt anzuerkennen: sei es auf subjektwissenschaftlicher Ebene eine Vielfalt der Individuen – gebildet über kulturelle Identitäten oder über Rollen-Identitäten – oder aber auf markosoziologischer Ebene,
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indem man die Welt in ihrer Multipolarität und Reflexivität anerkennt. Dabei ist es genau der Punkt der Anerkennung, der Forschungslinien und Wissenschaftsbereiche in einer Gesellschaft der Vielfalt eint. Wir finden das Prinzip der Anerkennung bei Wissenschaftler*innen wie Zygmunt Bauman (2006[1991]), Axel Honneth (1992), Annedore Prengel (2006 [1993]), Chantal Mouffe (2016 [2005]), Oliver Nachtwey (2016b) oder Hartmut Rosa (Rosa/Endres 2016) – schließlich bildet es ein universal-ethisches Prinzip ab. Dieses Prinzip fordert ebenfalls, anzuerkennen, dass eine Gesellschaft der Vielfalt extrem heterogen bleiben wird und Risiken produziert, welche ungleich verteilt sind und die (post)moderne Gesellschaft regressiv immer stärker exkludieren werden. Um diese Tatsache anzunehmen, braucht es zunächst ihre Akzeptanz, welche wiederum das Wahrnehmen dieser voraussetzt. Besteht der normative Auftrag von Schule darin, Lernende auf das Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt vorzubereiten, dann impliziert dies auch einen moralischen Auftrag an Schule. So hat eine Übertragung aus Zygmunt Baumans „Postmodernen Ethik“ (1995) auch Relevanz für das Handeln schulischer, bildungswissenschaftlicher sowie bildungspolitischer Akteur*innen, wenn man bereit ist, sich den Herausforderungen einer Gesellschaft der Vielfalt zu stellen: „Erste Pflicht jeder Zukunftsethik, so sagt Hans Jonas, muß eine ‚Beschaffung der Vorstellung von Fernwirkungen‘ sein. […] Die Pflicht, sich zukünftige Folgen von (vollzogenen und nicht vollzogenen) Handlungen vorzustellen, bedeutet, unter dem Druck akuter Unsicherheit zu handeln. Die moralische Haltung besteht genau darin, dafür zu sorgen, daß diese Unsicherheit weder vernachlässigt noch unterdrückt, sondern bewußt angenommen wird.“ (Bauman 1995, S. 329)
Wenn Schule also versucht, einen Raum der Inklusion zu schaffen, um Ungleichheiten im Klassenzimmer zu eliminieren, läuft sie nicht nur quer zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, sie verhindert möglicherweise auch – wenn aus durchaus wohlgemeinten Gründen – dass Lernende und Lehrende die Vielfalt der Gesellschaft in Form von Ambiguität, Ambivalenz und ungleicher Risikohaftigkeit bewusst wahrnehmen, um über die Reflexion aus ihr zu lernen. Dabei bildet der soziale Raum als Teilausschnitt einer Gesellschaft der Vielfalt diese anteilig ab, so dass sozialräumliches Lernen – wie es in den kommenden Kapiteln entwickelt wird – ein Lernen in der Gesellschaft ist und das Leben in dieser „trainiert“. Dabei werden die Lernenden im Idealfall durch die Lerngemeinschaft begleitet und durch die Lehrenden zu großen Teilen geschützt. Es entwickelt sich also aus dieser Position heraus die Frage, ob Exklusionserfahrungen nicht notwendiger Bestandteil einer inklusiven Schule sein müssen. Wenn Schule als Moratorium fungieren soll, sollten wir dann nicht vielmehr gesellschaftliche Prozesse wie Wettbewerb und Allokation aus diesem Moratorium soweit
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es geht heraushalten. Zum Beispiel, indem wir die Bildungsziele, die wir an die inklusive Schule koppeln, in ihrer Priorität neu gewichten, um einer gesamtgesellschaftlichen Exklusionsbewegung entgegenzuwirken. Was wollen wir Lernenden für ein Leben in der zweiten Moderne mitgeben? Statt konsequent zu einem „Zeitpunkt X“ leistungsbereit zu sein, möchten wir einen sich selbst bewussten und verantwortungsvollen Menschen aus der Schule entlassen, der gelernt haben, Wissen zu hinterfragen sowie dieses mündig anzueignen: umso im besten Fall die eigene „neoliberale Komplizenschaft“ (Nachtwey 2016b, S. 78 ff.) kritisch zu hinterfragen, damit aus diesem Prozess Gegenstrategien für die Risikohaftigkeit der (Post)Moderne wachsen können. Mündigkeit, die daran essentiell gebunden ist, wächst nur aus der eigenen Erfahrung – eben auch aus der Erfahrung des Ausgeschlossenwerdens, des Ausschließens und der daran gekoppelten Nebenfolgen. Sozialräumliches Lernen ist mündiges Lernen; es befähigt zum produktiven, anerkennenden Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt. Und das Beste: Wir erleben sozialräumliches Lernen tagtäglich – nur eben zumeist außerhalb der Schule, ohne, dass wir in der Regel zum Lernen angehalten werden. Oder Schule lehrt es bereits, ohne dass sie sich der darin enthaltenen Möglichkeiten hinreichend bewusst ist. Die einführende Analogie zwischen Zweiter Moderne und „Game of Thrones“ diente nicht nur der freudigen Kreativität der Verfasserin, die bekennt, nur allzu gern in fiktionale Welten abzutauchen, sondern auch einer Beweisführung des sozialräumlichen Lernens. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, existieren soziale Räume auch auf einer fiktionalen, imaginären und digitalen Ebene, die das Lernen im nonfiktionalen, realen bzw. analogen Raum bereichern – sofern man sich der Idee eines sozialräumlichen Lernens in einer Gesellschaft der Vielfalt öffnet.
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Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
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Präzisierung des Raum-Begriffs
Will man Argumente für ein lebendiges Lernen jenseits des Klassenzimmers darstellen, muss ein Verständnis für den Raum in und außerhalb des Klassenzimmers geschaffen werden sowie eine generelle Präzisierung des Raum-Begriffes erfolgen. Bei der Betrachtung des Klassenzimmers erscheint der Raum zunächst als in sich abgegrenzter Bereich, als Ort mit Wänden und Fenstern sowie einem Einbzw. Ausgang. Nähert man sich morphologisch dem Begriff des „Klassenzimmers“, wird deutlich, dass dieses Zimmer durch die Klasse als Interaktionseinheit semantisch bestimmt wird. Somit ist das Klassenzimmer weit mehr als nur ein Ort oder Behälter. Dieses Zimmer ist Raum sozialer Interaktionen, welche kommunikative Prozesse, Handlungen, Beziehungsstrukturen, aber auch Individuen mit ganz eignen Wünschen und Eigenschaften implizieren. So ergibt sich für diesen Raum ein verzweigtes Geflecht an subjektiven Gefügen und kollektiven Beziehungen, die gelebt und zusätzlich über die Aufgabe der Schule als Bildungsort gelehrt werden. Gleichfalls ist dieses Zimmer Teil einer Institution, in welcher Wissen transportiert und bestehendes Wissen modifiziert werden soll. Dabei soll neues Wissen generiert werden, wodurch sich die subjektiven kognitiven Netzwerke und zudem die Netzwerkstrukturen des Zimmers erneut verschieben. Wenn ein einzelnes Zimmer bereits eine derart komplexe Struktur umfasst, wie komplex kann dann das Lernen und Erleben jenseits des Klassenzimmers in neuen Räumen werden, wenn in diesen Räumen wiederum Wissen bereitgestellt und verarbeitet wird. Damit wird deutlich, dass der Raum in sowie der Raum außerhalb des Klassenzimmers besonders betrachtet werden muss, um die Möglichkeiten des sozialräumlichen Lernens in einer gleichfalls komplexen Welt wie der Zweiten Moderne erfassen zu können.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_3
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Mit der Beschreibung des Klassenzimmers als sozialen, da interaktiv gelebten Raum wird eine Zweiteilung zwischen dem Verständnis vom Raum als Behälter und Raum als Sozialraum resp. sozialen Raum deutlich. Dabei spricht der Raumdiskurs von einem absoluten gegenüber einen relationalem Raumverständnis (vgl. Löw 2015 [2001]; Kessl/Reutlinger 2010d; Kajetzke/Schroer 2010, S. 193; Ludwig 2016). Wählt man dem am Beispiel des Klassenzimmers eingeschlagen Blick auf dem Raum, schließt sich daran Fabian Kessls und Christian Reutlingers raumtheoretische Grundannahme an: „Räume sind keine absoluten Einheiten, sondern ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken [im Original ebenfalls kursiv, Anmerkung CK]“ (Kessl/Reutlinger 2010c, S. 21). Dabei differenzieren die Sozialwissenschaftler ihr Raum-Verständnis weiter aus: Raum als Sozialraum, der nicht absolut bestimmbar ist, sondern vielmehr abhängig vom eingenommen Blickwinkel erschlossen werden muss (ebd., S. 23). Diese Definition impliziert ein konstruktivistisches Verständnis vom Erschließen der Welt, so dass Raumwahrnehmung einer subjektiven Realitätsverarbeitung entspricht und gleichfalls durch handelnde Subjekte gestaltbar wird. Diesem Raumverständnis gegenüber steht ein absolutes resp. absolutistisches Raumverständnis einer Raumrealität „jenseits des Handelns, der Körper oder der Menschen“ (Löw 2015a [2001], S. 63). Diesem Raumverständnis wird die Behälter-Metapher zugeordnet, wobei Schule innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung aufgrund ihrer Abgeschlossenheit gegenüber anderen Systemen durchaus als Behälter betrachtet werden könnte. Anthony Giddens (1997 [1993]) prägte den Begriff des „Machtbehälters“, um die Geschlossenheit der Institution Schule, die räumliche Anordnung der Stühle und Tische zur Tafel und eine daran gebundene figurative Beziehungsstruktur zwischen Lehrenden und Lernenden zu beschreiben: „Eine Schule ist ein „Behälter“, in dem disziplinierende Macht generiert wird. Die Abgeschlossenheit des Schullebens macht eine genaue Koordination der nacheinander stattfindenden Bewegungen der Akteure möglich. […] Disziplin qua Überwachung ist ein wirksames Mittel der Erzeugung von Macht, aber die Entfaltung von Macht hängt nichtsdestotrotz von der mehr oder weniger kontinuierlichen Willfähigkeit derjenigen ab, die ihr unterworfen sind. Solche Willfähigkeit ist, wie jeder Lehrer weiß, selbst eine zerbrechliche und kontingente Leistung. Der disziplinierende Kontext des Klassenzimmers ist nicht einfach ein bloßer „Hintergrund“ für das, was im Unterricht vor sich geht; er wird als solcher innerhalb der Dialektik der Herrschaft mobilisiert.“ (Giddens 1997 [1993], S. 188 ff.)
Trotz der Verwendung des Behälter-Begriffs beschreibt Giddens ein relationales Raumverständnis, indem der Raum über interdependente Beziehungen als Machtbehälter konstituiert wird. Schule als Machtbehälter ist demnach ein Konstrukt sozialer
3.1 Präzisierung des Raum-Begriffs
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Interaktionen und wird über die figurative Spezifik des Raums zu einem durch Macht strukturierten Raum. In ihrem Aufsatz „Schule und lokale Bildungspolitik“ greifen Wolfgang Mack und Joachim Schroeder (2005) die Kritik am geschlossenen Raum der Schule auf: Die Autoren beschreiben die Aufgabe des geschlossenen schulischen Raumes als Schonraum, der allen Lernenden die gleichen Chancen eröffnen soll, indem soziale, ökonomische sowie kulturelle Ungleichheiten der Lebenswelt ausgeschlossen werden; sie verweisen jedoch gleichzeitig auf die möglichen Ressourcen des sozialen Raums zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit (ebd., S. 338), wie sie in Stadtteilschulen, in lokalen Bildungslandschaften oder auch in Kooperationen mit der außerschulischen Jugendarbeit ihren Ausdruck finden. Die Autoren betonen jedoch zu Recht, dass die Ansätze bisher innerhalb der Schulpädagogik und Didaktik nur diffus und nicht aufeinander bezogen untersucht werden und dass ein Sozialraum-Konzept – wie es durch Ulrich Deinet, Christian Reutlinger und Fabian Kessl im deutschsprachigen Raum für die Sozialarbeitswissenschaft entwickelt wurde – innerhalb der didaktischen und schulpädagogischen Forschung als Grundlagenkonzept fehlt (ebd., S. 338). Dabei nimmt der Raum als gelebte Gemeinschaft und Lernpraxis in reformpädagogisch orientierten Schulformen eine besondere Stellung ein: sei es über den besonderen Ansatz der Situation, welcher das Menschsein bestimmt, aber gleichsam durch den Menschen gestaltet werden kann – neben dem Dialog ein Kernelement der Befreiungspädagogik Paulo Freires (1991 [1970]); oder über den Raum als dritten Erzieher wie er als konzeptioneller Bestandteil der Reggio-Pädagogik Loris Malaguzzis verankert ist (vgl. Vogel 2014, S. 138–145). Neben sozialräumlichen Lernformen wie Service Learning, Diakonischem Lernen, Produktivem Lernen oder Citizen-Science-Projekte durch Schulen binden einzelne Projekte den Sozialraum in das Schul- und Unterrichtsgeschehen ein. Dabei wird die Schule bewusst zum Sozialraum ernannt und steht als solcher in Interaktion zum Quartier, um vielfältige Aneignungsprozesse ins Lernen zu integrieren (vgl. Fritzsche et al. 2011). Oder aber die Schule überführt durch den Unterricht die Lerngruppe in einen sozialen, gesellschaftlichen Raum, in welchem der Sozialraumfokus nicht intendiert ist, jedoch die Grundlage des didaktischen Geschehens bildet – so wie innerhalb des Dorfgründungs-Konzeptes des Politikdidaktikers Andreas Petrik (2013). Schule und Unterricht werden in einem relationalem Raumverständnis gedacht, teilweise praktiziert, nur bleibt es bisher offen, wie eine Sozialraum- und Lebensweltorientierung stärker in die Schul- und Unterrichtsforschung eingebunden werden kann, damit Lernen stets auch in einem konstruktivistischem Raumverständnis erfolgen kann. Der spatial turn innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften, welcher den Fokus auf einen sozial (re)produzierten Raum und seine Ressourcen gerichtet
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
hat, scheint innerhalb der Didaktischen Forschung noch hinreichend „Weißraum“ für neue Forschungsansätze hinterlassen zu haben. Der spatial turn beschreibt einen Paradigmenwechsel innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften, welcher den Raum gleichbedeutend neben die Zeit als Faktor gesellschaftlicher Realität stellt. Der Raum, konstruiert über die Verflechtung sozialer Beziehungen und geteilter Ressourcen, wird zum Forschungsgegenstand und verliert seine primäre Bedeutungszuschreibung als Behälter, Ort oder Container zugunsten einer ortunabhängigen Konstitution von Gesellschaft. Oder um es mit den Worten von Martina Löw zu formulieren: Das Soziale ist stets räumlich. „Gesellschaften werden grundlegend über Räume geordnet“ (Löw 2015b), so dass Gesellschaft nicht allumfassend ohne eine Analyse räumlicher Figurationen und Strukturen gedacht und untersucht werden kann. Dabei ist die Humangeographie als verbindende Forschungstradition eng an den spatial turn gekoppelt. Ihr gelingt die Anschlussfähigkeit unterschiedlichster Forschungsrichtungen innerhalb der Kulturund Sozialwissenschaften an die wechselseitige Bedingtheit von Raum und sozialem Sein, wobei dem modernen, relationalem Raumverständnis der Humangeographie ein interdisziplinäres Moment zugesprochen werden kann. Die Grundlage für den spatial turn bilden die Arbeiten des Humangeographen Edward W. Soja Ende des 20. Jahrhunderts: In seinem Hauptwerk „Postmodern Geographies“ nutzt Soja (1989) erstmals die Formulierung „spatial turn“, um Bezug nehmend auf die Arbeiten Michel Foucaults dessen Analysen zum Sujet des Raumes zusammenzuführen. Unter anderem beschreibt Foucault (2006 [1967]) mit dem Begriff der Heterotopie eine Wechselwirkung zwischen Ort und Strukturen; er definiert damit äußeren Raum als „Menge von Relationen, die Orte definieren“ (Foucault 2006 [1967], S. 320). Aus diesem Verständnis heraus entwickelt er die Heterotopie als abgegrenzten Raum, welcher über spezifisch dynamische Beziehungsstrukturen – oder Relationen – verfügt. Diese bilden gesellschaftliche Realität über den Ort im Besonderen ab oder fungieren durch ihre Eigenart als örtlicher Gegenentwurf gesellschaftlicher Realität. Neben Foucault werden für Edward W. Soja die Arbeiten von Henri Lefebvre (2006 [1974]; 2016 [1968]) Grundlage, um innerhalb der Kritischen Sozialtheorie auf einen spatial turn verweisen zu können. Zentral wird dabei Lefebvres Grundverständnis, dass Raum und gesellschaftspolitisches System einander entsprechen: „Jede Gesellschaft (also jede Produktionsweise mit den ihr eigenen Besonderheiten, die spezifischen Gesellschaften, in denen man den Begriff von Gesellschaft überhaupt erkennen kann) produziert einen ihr eigenen Raum. Die antike Polis lässt sich nicht als Ansammlung von Menschen und Dingen im Raum [im Original kursiv, Anmerkung CK] verstehen; sie lässt sich ebenso wenig von einer bestimmten Anzahl von Texten und Reden über den Raum her begreifen […] Die Polis hat ihre Raumpraxis; sie hat ihren eigenen Raum geschaffen, d. h. ihn angeeignet.“ (Lefebvre 2006 [1974], S. 330 f.)
3.1 Präzisierung des Raum-Begriffs
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Weiterführend beschreibt Lefebvre die Synergie zwischen ökonomischen Produktions- und sozialen Reproduktionsverhältnissen, die in ihrer Verschränkung einen spezifischen sozialen Raum bilden. Damit wird bei Lefebvre der Raum zum gesellschaftlichen Raum, der Ressourcen, Beziehungsstrukturen und Symbole – und somit auch figurative Positionierungen und die Verteilung von Macht – in ein relationales Verhältnis zueinander setzt. Aufbauend auf diesem komplexen Raumverständnis als Beschreibung gesellschaftlicher Realität publiziert Soja 1996 seine Monographie „Thirdspace“, welche fachübergreifend Resonanz findet und den spatial turn innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften einleitet. Dabei findet der relationale Raumbegriff seine Entsprechung im Begriff des sozialen Raums resp. im Begriff des Sozialraums. Neben der Integration des territorial gebundenen Ortes impliziert der Begriff Interaktionen und soziale Verhältnisse (vgl. Kessl/Reutlinger 2010c, S. 25), so dass ein relationales Raumverständnis stets auch gesellschaftliche – also soziale – Prozesse und Strukturen umfasst. Am deutlichsten wird die gesellschaftliche Relevanz des Raum-Begriffs am Konzept des Matrix-Raumes, wie es durch den Stadtforscher Dieter Läpple (1991) beschrieben wird. Läpple entwickelt ein weites Verständnis von Sozialraum, welches über die Beschreibung der Lebenswelt und Nachbarschaft hinaus geht und als Ausgangspunkt einer Theorie gesellschaftlicher Räume begriffen werden muss (Läpple 1991, S. 194). Aufbauend auf der Polarisationstheorie des französischen Ökonomen Francois Perroux (1968) entwickelt Läpple den Matrix-Raum auf vier Ebenen, die zueinander in Relation stehen: Er setzt das materiell-physische Substrat als absolutes, körperlich-räumliches Raumverständnis von Orten, Menschen sowie ortsgebundenen Artefakten in Relation zu drei weiteren Ebenen, die systemtheoretisch angelehnt sind. So bilden „gesellschaftliche Interaktions- und Handlungsstrukturen [im Original kursiv, Anmerkung CK] bzw. die gesellschaftliche Praxis der mit Produktion, Nutzung und Aneignung des Raumsubstrats befassten Menschen“ (Läpple 1991, S. 196) eine weitere Ebene, ebenso wie ein räumliches Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem und ein institutionalisiertes und normatives Regulationssystem, welches das materielle Substrat und die gesellschaftliche Praxis miteinander verbindet. Ausgehend von den wirtschaftstheoretischen Arbeiten Perroux definiert sich der Matrix-Raum Läpples „aus dem gesellschaftlichen Herstellungs-, Verwendungs- und Aneignungszusammenhang [im Original kursiv, Anmerkung CK] seines materiellen Substrats“ (ebd., S. 197). Damit greift Läpple über sein Raumkonzept die Wechselwirkung zwischen sozialem Handeln und gesellschaftspolitischer Struktur auf, wie sie sich auch in Lefebvres (re)produzierendem Raumverständnis zeigt. Läpple schafft über das Konzept des Matrix-Raumes einen dynamischen Raumbegriff, in welchem Raum strukturiert erscheint und gleichzeitig strukturierbar wird. Primär wird dabei
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
die Funktion der Aneignung oder Gestaltung von sozialräumlichen Strukturen. Aneignung und Gestaltung bilden gleichzeitig zentrale Elemente sozialräumlichen Lernens als reflektierte Sozialisationserfahrung; dabei werden die Lernenden als mündige Gestalter*innen ihrer Lebenswelt in den Mittelpunkt gestellt. Martina Löw (2015a [2001]) benennt konkret das konstruktivistische Element des Matrix-RaumKonzeptes: Läpples Schlüsselkategorie ist die Handlungskompetenz der Menschen (ebd., S. 56). Aus dieser Schlüsselkategorie sozialräumlichen (Er)Lebens leitet sich ein Anspruch auf Reflexivität ab, welcher der Sozialraumbetrachtung zugrunde liegen muss. Die moderne Sozialraumorientierung fordert – gestützt auf Pierre Bourdieus Arbeiten zum sozialen Raum und einer daran gekoppelten Macht- und Herrschaftsverteilung (Bourdieu 1985; vgl. Kessl/Reutlinger 2010b, S. 126; S. 133) – eine reflexive räumlichen Haltung der Sozialraumarbeit (ebd., S. 125–133). Doch auch jenseits Bourdieus wird – mit Blick auf Dieter Läpples Matrix-Raum – die Notwendigkeit einer reflexiven räumlichen Ausrichtung der Sozialraumarbeit deutlich: Wenn sich sozialer Raum in der Relation von absolutem Raum, sozialem Handeln und gesellschaftspolitischen Strukturen entwickelt und über Handlungskompetenz angeeignet und gestaltet werden kann, dann ist an diese Handlungskompetenz stets auch Reflexivität gebunden, wie sie im berufspädagogischen Konzept der reflexiven Handlungsfähigkeit (vgl. Abschnitt 4.2.3) beschrieben wird. Damit ergibt sich für Individuen als handelnde Subjekte, aber auch für Institutionen als Handelnde von (Teil)System, die Notwendigkeit einer Selbstreflexivität als Verarbeitung der inneren Realität und gleichzeitig die Notwendigkeit einer strukturellen Reflexivität als produktive Auseinandersetzung mit der äußeren Realität. Insofern ist die Forderung der Sozialraumarbeit, Sozialräume über eine reflexive Haltung zu betrachten (vgl. Kessl/Reutlinger 2010b), gleichfalls eine Forderung nach reflexiver Modernisierung des Sozialräumlichen, indem das Quartier als komplexer gesellschaftlicher Raum begriffen und analysiert wird. Daher impliziert Sozialraumarbeit – ebenso wie sozialräumliches Lernen – einen systemkritischen und machtsensiblen Blick auf die Relationen des sozialen Raumes und wie sich dieser stark über figurative Aspekte, wie die Verteilung von Wissen, Ressourcen und Handlungsfähigkeit, formiert. Scott Lash (1996) beschreibt die einfache Moderne als Unterordnung der Subjekte, während die reflexive Moderne in die Ermächtigung der Subjekte führt (ebd., S. 200). Demnach würde eine fehlende reflexive Haltung der Sozialraumarbeit in die Handlungsunfähigkeit der Sozialen Arbeit führen, da die Handlungskompetenz der Akteur*innen eingeschränkt ist. Im Rekurs auf Anthony Giddens Begriff von Schule als Machtbehälter öffnet das reflektierte Lernen im und über den Sozialraum unweigerlich diesen „Behälter“ bzw. fördert es den reflexiven Blick auf
3.1 Präzisierung des Raum-Begriffs
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dem Raum innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers und stärkt zudem die Handlungskompetenz der Lernenden. Für die Sozialwissenschaften gilt aktuell die Habilitationsschrift der Soziologin Martina Löw (2015a [2001]) als umfassendstes Standardwerk zur Betrachtung des Raumes. Auch wenn die Publikation den Titel „Raumsoziologie“ trägt, beschreibt Löw vielmehr ein interdisziplinäres Raumkonzept und führt über das Kernpostulat ihrer Arbeit verschiedenste Raumdiskurse zusammen: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten.“ (Löw 2015a [2001], S. 224) Damit beschreibt Löw eine soziale Ordnung, die über den Raum geschaffen wird, ebenso wie den strukturierenden Prozess der Ordnung. Für die Soziologin bilden räumliche Strukturen einen spezifischen gesellschaftlichen Raum (ebd., S. 167), der gleichberechtigt neben politischen, ökonomischen, zeitlichen oder auch rechtlichen Strukturen existiert und in Verschränkung mit diesen Strukturen eine komplexe gesellschaftliche Struktur abbilden (ebd., S. 171 f.). Ihre Realisierung findet diese Struktur über das Handeln, wie sie ebenso auf das Handeln zurückwirkt, indem sie dieses fördert oder hemmt (ebd., S. 172). Damit wird deutlich, dass Interaktionen den Kern des sozialen Raums bilden, aber die Strukturen des sozialen Raums die Interaktionen determinieren. Wenn Schule also den sozialen Raum – als Teilstruktur eines gesellschaftlichen Raumes – in Lernprozessen ausschließt, schließt es gleichfalls die Entwicklung von Handlungskompetenz und die Möglichkeit der Erschließung des sozialen Raumes als Weg zur Befähigung von Mündigkeit der Lernenden aus. Kann Schule so ihrem normativen Bildungsauftrag gerecht werden, wenn politisches und ökonomisches Lernen innerhalb der Fachdidaktiken Verankerung finden, sich aber das sozialräumliche Lernen auf den sozialen Raum des Klassenzimmers beschränkt, wobei das Klassenzimmer nur eine sehr kleine gesellschaftliche Teilstruktur abbildet? Muss Lernen in einer zweiten Moderne nicht auch die Konstitution von Räumen umfassen, die nach Fabian Kessl und Christian Reutlinger stets auch soziale Räume sind (vgl. Kessl/Reutlinger 2010c, S. 25). In ihrem Raumkonzept definiert Löw zwei Prozesse, die Raum konstituieren und in einer wechselseitigen Abhängigkeit zueinander stehen: die Syntheseleistung als Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung von sozialen Gütern und Menschen als Ensemble; das Spacing als Platzierung sozialer Güter und/oder Menschen in einem figurativem Verhältnis zu- und gegeneinander. Für Lernende ist daran die Konstruktion von Wirklichkeit und das Sich-Platzieren innerhalb dieser Wirklichkeit gebunden – ein Prozess produktiver Realitätsverarbeitung. Wenn Schule als Sozialisationsinstanz fungiert und einen Bildungssowie Erziehungsauftrag hat, muss sie dann nicht den Lernenden ein Recht auf Raum einräumen? Lernende müssen als Entwicklungsaufgaben Platzierungs- und Syntheseprozesse des Sozialräumlichen bewältigen, aber wie kann Schule darauf
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
vorbereiten, wenn der Raum des Lernens der des Klassenraums bleibt? Wenn Raum Handeln über seine Struktur begünstigt, aber auch einschränkt, brauchen Lernen und Entwicklung ein basales Verständnis von der Struktur des Raumes. Folgt man diesem Analogieschluss dann wird Henri Lefebvre Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ (2016 [1968]) als Anrecht auf Begegnung und Teilhabe zur Forderung eines universellen Rechts auf Raum. An diese Forderung ist das Recht des Lernenden auf freies Handeln und eine entsprechende Kompetenzvermittlung gebunden, wobei Mündigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung in der Erschließung von Räumen die Grundlage bilden müssen. Zusammenführend kann Sozialraum resp. sozialer Raum als Relation von physisch-materiellen Orten als Konstrukt des absoluten Raums, sozialen Interaktionen und Figurationen beschrieben werden. Ulrich Deinet (1992; 2014) integriert alternativ den Situationsbegriff in seine Sozialraumkonzeption und nutzt dabei das Aneignungskonzept der „Kulturhistorischen Schule“ als Grundlage (vertiefend dazu Abschnitt 3.2.1). Dabei integriert er ein biografisch-zeitliches Moment in den Raum-Begriff, indem er in seiner Dissertation von 1992 die Messbarkeit des Aneignungskonzeptes über den Kontext der Situation als Handlungsgeschehen im außerschulischen Raum erschließt. Deinet definiert Situationen als räumlichzeitliche Handlungseinheiten (ebd., S. 56) bzw. zeitlich-räumliche Möglichkeitsbereiche (ebd., S. 58). Er stützt sich auf die Situations-Begriffe von Bernhard Haupt (1984) und Jürgen Markowitz (1979), dabei wird die Situation zum Ausschnitt des subjektiven Erfahrens und Erlebens von Welt – in Bezug auf Möglichkeiten, in Bezug auf das Eintreffen von Möglichkeiten als Erfahrungen sowie in Bezug auf die Verkettung dieser subjektiven Erfahrungen. Die Situation wird also durch eine sozialräumliche Struktur definiert, ist aber gleichfalls subjektiv-zeitlich geprägt. Für Deinet bauen Kinder und Jugendliche „ihr Verhalten auf erlebte Möglichkeitsbereiche, auf Situationen, auf“ (Deinet 2014, S. 47). Somit ist Raum – wenn auch eigenständig neben dem gesellschaftsformenden Faktor der Zeit stehend – zudem zeitlich-biografisch und zeitlich-historisch bestimmt und muss unter dem Fokus der Situation als zeitlich-räumlicher Handlungseinheit betrachtet werden. Dabei bestimmt die Zeit den Raum näher, um als Situation innerhalb eines komplexen Raumverständnisses wahrgenommen zu werden. Mit Blick auf das sozialräumliche Lernen kommt der Lernsituation als sozialräumlicher Lernpraxis eine besondere Bedeutung zu. Das situierte Lernen (Lave/Wenger 2011) als konstruktivistische Lernform nimmt daher auch im Besonderen Bezug auf die Gestaltung des Handlungsraums als Lernumgebung bzw. Lernkontext (vgl. vertiefend Abschnitt 3.2.3). Im pädagogischen Verständnis Paulo Freires (1991 [1970]) bildet die Situiertheit der menschlichen Realität den Kern eines Wegs zur Befreiung des Menschen resp. des Lernenden aus sozialräumlichen
3.1 Präzisierung des Raum-Begriffs
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Strukturen. Ähnlich wie Martina Löw einen Zusammenhang zwischen Raum und Handlung generiert (Löw 2015a [2001], S. 172), beschreibt Freire einen in der Situation verankerten Dualismus: Die Situation bestimmt das menschliche Sein, jedoch liegt im menschlichen Sein die Möglichkeit, Situationen zu verändern. Die Grundlage zur Veränderung liegt im Bewusstwerden der Situation. „Nur indem er [der Mensch, Anmerkung CK] von dieser Situation ausgeht – die sein Verständnis davon [vom „Hier und Jetzt“] bestimmt –, kann er sich in Bewegung setzen. Um dies in echter Weise zu tun, darf er seinen Zustand nicht als schicksalhaft und unwandelbar betrachten, sondern nur als begrenzt – und darum als herausfordernd. […] Ein vertieftes Bewusstsein seiner Situation führt den Menschen dazu, die Situation als historische Wirklichkeit zu begreifen, die der Verwandlung zugänglich ist. Resignation weicht dem Verlangen nach Veränderung und Erforschung […].“ (Freire 1991 [1970], S. 69)
Der Situationsansatz findet seit gut 40 Jahren seine Verankerung in der Frühkindlichen Bildung (vgl. Zimmer 2000); wie spiegelt sich der Situationsansatz bzw. das Recht auf Raum in der Schulforschung und -praxis wider? Antworten sucht die Arbeit in den Theoriebetrachtungen der folgenden Kapitel. Dass Sozialräume auch über eine zeitlich-historischen Achse zum relationalem Raum werden und darüber eine zeitlich-historische Situation abbilden, lässt sich als Analogieschluss über die Dissertation der Stadt- und Architektursoziologin Silke Steets (2008) abbilden. Steets untersucht – aufbauend auf dem Raumkonzept Martina Löws – die Konstitution von kulturellen und kreativwirtschaftlichen Zwischenräumen in Leipzig über die raumbildende soziale Praxis der kunst- und kulturschaffenden Akteur*innen. Dafür nutzt sie ethnographische Beobachtungen und Expert*innen-Interviews, die sie über die Methode der grounded theory auswertet, um dann über die Datentriangulation in der Auswertung einen relationalem Raum zwischen kulturellem Mainstream und Subkultur zu beschreiben. Diesen bezeichnet Steets „anthropomorphisierend als Dornröschen […], als Stadt der verborgenen Potentiale, als schlummernde Schönheit, die auf den erweckenden Kuss wartet“ (ebd. S., 256 f.). In dieser Metapher liegt der Kern des „Hypezig“, des Hype um Leipzig (vgl. Engelhart 2014), und damit eine Umkehrung der räumlichen Struktur: weg von Handlungsmöglichkeiten der sozialräumlichen Struktur als Potentiale, hin zum Unmöglichen aufgrund der sozialräumlichen Struktur durch zunehmender Gentrifizierungseffekte (vgl. Machowecz 2015). In den über zehn Jahren, die zwischen Steets Dissertation und der vorliegenden Arbeiten liegen, unterliegt auch Leipzig – und somit das Wohnen und Leben in der Stadt – einem steigendem Mietspiegel
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und daran gekoppelten Segregations- und Exklusionsprozessen. 2017 ein Hausprojekt gründen, ist in Leipzig so gut wie unmöglich geworden, weil alte Immobilien aufgrund Nachfrage und Gewinnspanne zunehmend luxussaniert werden. Die Ökonomisierung der Stadt, die zu großen Teilen auf dem Markt- und Symbolwert des durch Steets beschriebenen kulturellem Zwischenraum basiert, zeigt sich am Beispiel der „Leipziger Baumwollspinnerei“: Für Steets bildet die „Spinnerei“ einen lokalen Knotenpunkt im relationalem Netzwerk der Leipziger Kunstund Kulturschaffendenszene. An diesen glokalen Ort als gemeinsamen Raum von Künstler*innen, Start-Up-Projekten und nicht kommerziellen Clubs werden durch Steets zahlreiche Handlungsmöglichkeiten geknüpft, die sich über die Struktur dieses sozialen Raums ergeben (Steets 2008, S. 173 ff.). 2017 fungieren die „Spinnerei“ und der „Leipziger Westen“ als Marke bzw. „brand“ der Leipziger Tourismuswirtschaft; Straßenbeschilderungen weisen auf den wohl symbolhaftesten Ort des „Hypezig“ hin. Die Handlungsmöglichkeiten dieses Raumes haben sich über die Marke „Spinnerei“ gewandelt. An die transformierte räumliche Struktur, die einer symbolischen Veränderung geschuldet ist, sind nun weitaus weniger Handlungsmöglichkeiten gebunden als noch vor zehn Jahren. Spacing und Synthese des Raumes haben sich verschoben; das „brandig“ des Ortes hat neue Abhängigkeiten generiert. Die Verbindung des sozialen Raumes mit figurativen Prozessen der Platzierung wird über einen zunehmenden Verdrängungswettbewerb deutlich, der vor allem nicht-kommerziellen Akteur*innen die räumlichen Strukturen entzieht. Ebenfalls im Leipziger Westen befindet sich analog zur „Spinnerei“ das „Westwerk“ als Kreativ-Lab: Umstrukturierungen des Gebäude-Verwalters haben zur Kündigung kleiner Initiativen geführt, die bisher zu moderaten Mietpreisen im „Westwerk“ agieren konnten (vgl. taz 2016). Vom Leipzig als „schlafenden Dornröschen“ kann daher im Jahr 2017 nicht mehr gesprochen werden. Der Raum hat sich zeitlichhistorisch gewandelt und ist aufgrund spezifischer Handlungen innerhalb der Stadt in eine andere Situation überführt worden als sie durch Steets 2008 noch beschrieben wurde. Am Beispiel der Arbeit von Silke Steets lässt sich noch eine weitere Besonderheit des relationalem Raums beschreiben: Im Zentrum dieses Raums steht das Individuum, welches sich den Raum über Wahrnehmungs-, Handlungs- und Reflexionsprozesse erschließt und damit den Raum zum subjektiven Raum konstituiert. Steets betrachtet den Sozialraum Leipzigs aus einer subjektiven und fachlichen Sicht als Synthese kunst- und kulturwirtschaftlichen Handelns. Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit, die in Leipzig geboren und aufgewachsen ist, fühlt Leipzig mit dem Blick der Einheimischen und beobachtet die Entwicklung der städtischen Struktur mit der ihr eigenen Sicht der Quartiermanagerin. Um die zeitlich-historische Entwicklung Leipzigs zu beschreiben, fällt vor allem Folgendes auf: Es gibt keine
3.1 Präzisierung des Raum-Begriffs
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Kinder mehr, die Sächsisch sprechen. Jede der Autorinnen weist demnach eine spezifische, biografisch determinierte Sozialisation auf und konstruiert den sozialen Raum der Stadt Leipzig anders. Räume sind folglich sozial und subjektiv zugleich. Zusammenfassend ist der relationale Raum stets ein sozialer Raum, den sich das Individuum aktiv erschließt. Dabei steht das Individuum in einem Raum, der Orte und Menschen im absoluten Raumverständnis umfasst (→ HermannLiebmann-Brücke in Leipzig), durch Interaktionen geprägt wird (→ unsere; Kommunikation im öffentlichen Raum), dabei figurativen Aspekten unterliegt (→ Heimat) und sich stets auch als Situation zeitlich über biografische und historische Entwicklungen in seinen Strukturen verschiebt (→ Augenblick). Um eine Visualisierung des Raum-Begriffs zu schaffen, wurde aus dem Fotoarchiv der Verfasserin, die begleitend zur Genese der Arbeit sozialräumliche Strukturen im Bereich der Leipziger Eisenbahnstraße fotodokumentiert, folgendes Graffiti auf der Leipziger Hermann-Liebmann-Brücke gewählt: Unsere Heimat ist der Augenblick (Abbildung 3.1)
Abb. 3.1 „Sozialer Raum – Graffiti Hermann-Liebmann-Brücke Leipzig“ (Fotografie der Verfasserin)
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
In ein Schaubild überführt, lässt sich das relationale Raum-Verständnis der vorliegenden Arbeit wie folgt darstellen:
Figurations-Ebene Situations-Ebene
Interaktions-Ebene
Ebene des absoluten Raumes
Individuum
relationaler Raum
Abb. 3.2 „Relationales Raum-Verständnis“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
3.2
Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
3.2.1
Lernen über Aneignung und Anverwandlung
Im Raumdiskurs findet die Bezeichnung Aneignung bzw. das entsprechende Verb aneignen häufig Verwendung – immer dann, wenn eine Beschreibung erfolgt, wie das Individuum sich den Raum in seinen unterschiedlichen Repräsentationen erschließt und sich aktiv mit den Erscheinungen der räumlichen Struktur in einen Austausch begibt. Dabei wird das Aneignen von Raum als Erschließung von Welt mitunter nicht auf seine primäre Theoriegrundlage zurückgeführt. Dennoch erfolgt die Verwendung des Begriffs im Verständnis der „Kulturhistorischen Schule“, die mit ihrer Forschung eine Theorie der Aneignung über das praktische Tun als psychologische Grundlage des Lernens entwickelt hat. Dabei umfasst das Konzept der Aneignung ein konstruktivistisches Verständnis von Lernen, indem das aktiv
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
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handelnde Subjekt resp. Individuum sich über die Auseinandersetzung mit der sozialen und gleichzeitig räumlichen Umwelt entwickelt (vgl. Deinet/Reutlinger 2014b, S. 12). In diesem Verständnis des Lernenden als aktivem Gestalter seiner selbst sowie seiner Umwelt spiegeln sich lerntheoretische Ansätze Jean Piagets und John Deweys wider. Speziell die Nähe zu Dewey und seinem erfahrungsbasierten Lernen wird deutlich, vertieft man den Prozess des Lernens in der Praxis. „Das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Beunruhigung, einem Staunen, einem Zweifel.“ (Dewey 2002 [1910], S. 15) Die Herausforderung, die dem Lernprozess bei Dewey vorausgeht, findet in der Aneignungstheorie ihre Entsprechung im Konzept der Doublebinds – einem sozialen Dilemma, welches über kooperatives Handeln zu lösen ist. Der Begriff wurde durch Yrjö Engeström (2011) über seine Theorie des Lernens durch Expansion eingeführt. Mit seiner Didaktik steht Engeström in direkter Tradition zur Psychologie der „Kulturhistorischen Schule“ und entwickelt diese Anfang des 20. Jahrhunderts in der UdSSR konzipierten Gedanken einer Aneignungs- und Tätigkeitstheorie international zur Activity Theorie weiter. Im deutschsprachigen Raum wird die Aneignungstheorie meist vernachlässigt; es findet oftmals ein Theorierekurs auf die Arbeiten John Deweys statt, um die Ursprünge konstruktivistischen Lernens zu beschreiben (vgl. dazu auch Abschnitt 4.2.5). Deinet/Reutlinger (2014b, S. 23 f.) verweisen auf diese Parallelität der Entwicklungslinien und erarbeiten durch ihre Studien einer sozialräumlichen Aneignungstheorie ein umfassendes Konzept des Lernens über die Aneignung innerhalb von Sozialräumen (vgl. auch Deinet 2014; Deinet/Reutlinger 2014a). Eher unthematisiert bleibt jedoch die gesellschaftspolitische Bedeutung der Arbeiten der „Kulturhistorischen Schule“ in Tradition einer marxistischen Gesellschaftstheorie, die in der ehemaligen DDR-Pädagogik rezipiert und über Formen wie das produktive Lernen Anwendung fanden, in die westdeutsche Forschung aber bis auf die Arbeiten einer Kritischen Psychologie durch Klaus Holzkamp (1983) keinen Zugang schafften. Die Gründe für die Abwesenheit der Aneignungsund Tätigkeitstheorie in der deutschsprachigen Forschung liegen möglicherweise weniger in der Modernität ihres pädagogisch-didaktischem Verständnisses als in ihren gesellschaftspolitischen Ursprüngen, die noch immer „aus der Zeit gefallen zu sein“ scheinen. Aufgrund der bestehenden Forschung der Sozialen Arbeit, welche außerschulische Lernprozesse über die Erschließung sozialräumlicher Strukturen untersucht (vgl. Deinet 2014; Deinet 1992; Deinet/Reutlinger 2014a; Kessl/Reutlinger 2010d; Kessl et al. 2005) sowie erste Untersuchungen der Sozialen Arbeit zu informellen, sozialräumlichen Lernprozessen im schulischen Raum (vgl. Derecik 2012) bindet die vorliegende Arbeit das Aneignungskonzept als
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
didaktisches Konzept in das konstruktivistisch-sozialisationstheoretische Grundverständnis ein. Damit schließt die Arbeit – analog zur Dissertation Ahmet Dereciks (2012) – die Lücke einer „raumtheoretischen Untersuchung […], welche die Theorien des informellen Lernens und das Konzept der sozialräumlichen Aneignung“ (Derecik 2014, S. 131) miteinander verbindet. Die Ursprünge des Aneignungskonzeptes, wie es in der Sozialarbeitswissenschaft Verwendung findet, liegen in den Studien von Alexei Nikolajew Leontjew als Vertreter der „Kulturhistorischen Schule“ und den Vorarbeiten des Psychologen Lew Semjonowitsch Wygotzki, der sich mit der Tätigkeit als Grundlage des Lernens befasste. Basierend auf der Grundannahme, dass die Welt über die menschliche Tätigkeit gestaltet und aus gesellschaftlichen Gegenständen formiert wird (Leontjew 1973 [1959], S. 231), muss das Kind „an diesen Dingen eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit“ (ebd.) entsprechend ist. Nur über die Aneignung als aktive Nutzung der gesellschaftlichen Gegenstände kann es beim Kind zum Erschließen der Welt kommen. Aneignung wird bei Leontjew zur „Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit“ (ebd., S. 232). Damit wird für Leontjew das Werkzeug zum kulturellen Artefakt, welches gesellschaftliche Arbeitsweisen und kulturelle Errungenschaften physisch-materiell repräsentiert und weitaus mehr ist als ein toter Gegenstand. Das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft wird in Dingen wie Werkzeugen gespeichert und über die Tätigkeit und den Prozess der Produktion reaktiviert und reflektiert. Oder anders ausgedrückt: Gesellschaftlich-historische Bildung erfolgt in der praktischen Tätigkeit. Bleibt dem Lernenden nun der Umgang mit den Dingen resp. Werkzeugen verwehrt, fehlen ihm die Grundlagen, um Welt ganzheitlich zu erschließen und sich selbst über die Reflexion im praktischen Tun zu entwickeln. Diese Gefahr wird durch die Entfremdung als Entfremdung des Produzierenden vom Produktionsprozess und von den entsprechenden Produktionsmitteln geschürt. Dabei greift Leontjew auf die Kritik der politischen Ökonomie durch Karl Marx zurück. Entfremdung des Menschen vom Menschsein und von der Natur sowie die Entfremdung des Menschen aus dem Prozess der Produktion sind zentrale Kritikpunkte der Marx’schen Gesellschaftstheorie am kapitalistisch agierendem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Speziell die „Entfremdung der Produktionsbedingungen vom Produzenten“ (Marx 1981 [1894], S. 610), wie sie von Karl Marx im dritten Band des „Kapitals“ skizziert wird, entwickelt eine Gefahr, denen sich die praktische Pädagogik zuwenden muss – fehlt doch im stark differenzierten und spezialisierten Gesellschaften oft ein kontinuierliches Erleben und Verstehen von Kausalitäten als Verkettung von Nebenfolgen. Entfremdung als Kennzeichen einer Zweiten Moderne wirkt bis heute in die gesellschaftswissenschaftliche Debatte
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
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zurück (vgl. Rosa 2012; Rosa 2016, S. 246–328; Jaeggi 2016 [2005]; Honneth 2016; Beljan 2017), so dass das pädagogische Prinzip – Lernen als Aneignung als Reaktion auf Entfremdung zu denken – grundlegende Lösungen für Leben und Lernen in einer Zweiten Moderne als Gesellschaft der Vielfalt impliziert. Hartmut Rosa (2016) widmet sich der Entfremdung, um aufbauend auf seinem Verständnis der Erscheinungen von Indifferenz und Repulsion Resonanzbeziehungen als subjektive und kollektive Gegenbewegungen zu zeichnen. Rosa definiert „Entfremdung als einen Modus der Weltbeziehung […], in dem die (subjektive, objektive und/oder soziale) Welt dem Subjekt gleichgültig gegenüberzustehen scheint (Indifferenz) [im Original kursiv, Anmerkung CK] oder sogar feindlich entgegentritt (Repulsion). Entfremdung bezeichnet damit eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt.“ (Rosa 2016, S. 306)
Allerdings trifft Rosa eine semantische Unterscheidung zwischen den Begriffen Aneignung als „Einverleibung“ oder Ressourcenerweiterung und Anverwandlung als den resonanten Aufbau einer Beziehung zur Welt (ebd., S. 326) – wobei das Aneignungskonzept Leontjews und seine entsprechende Weiterentwicklung nicht von einer Einverleibung von Welt spricht, sondern vielmehr dem Subjekt ein notwendiges Recht auf Gestaltung und Selbstfindung in der inneren und äußeren Welt über die Nutzung von materiellen Dingen zuspricht. Hierin liegt auch der entscheidende Unterschied im Verständnis von Anverwandlung und Aneignung: Aneigung basiert theoriegeschichtlich auf dem tätigproduktivem Erschließen von Welt; Anverwandlung formiert sich im Verständnis Rosas über die Interaktion zwischen Menschen. Während also das Aneignungskonzept auch Entitäten wie Werkzeuge oder Produkte von Handlungen in sein Theorieverständnis integriert, wächst die Anverwandlung aus der Beziehung zwischen Individuen und entwickelt die Resonanz weitestgehend jenseits dieser Entitäten. Im Kontext einer Akteur-Netzwerk-Theorie wie sie unter anderem durch Bruno Latour (2010) vertreten wird, können beide Theorieansätze ergänzend gelesen und in den Sozialraumkontext integriert werden. Welt als Netz zwischen Akteur*innen und Aktanten (Entitäten) bildet ein Fundament aus Interaktionen, Handlungen, Tätigkeiten, Produkten und deren Verwendung als Werkzeuge, worüber neue kulturelle Artefakte generiert werden, auf deren Bedeutungen Interaktionen wiederum sinnerschließend aufbauen – das Netzwerk entwickelt sich weiter, der Sozialraum dehnt sich aus. Sozialräumliches Lernen ermöglicht die Erfahrung dieses Netzwerkes
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
sowie eine kognitive Erschließung der Raumstruktur, indem aus dem Netzwerk heraus Akteur*innen und Aktanten als Sozialisationserfahrungen wirken. Die Sozialisationserfahrung muss dann im Lernprozess sinnbildend reflektiert werden. Grundlage dafür bildet die Autonomie des Subjektes, die laut Leontjew eine Aneignung von Welt erst möglich macht. Und auch bei Rosa bildet die Autonomie eine notwendige Basis für resonantes Erleben (ebd., S. 313 ff.), so dass die Weiterentwicklung des Aneignungskonzeptes durch Wissenschaftler wie Ulrich Deinet und Christian Reutlinger grundlegende Schnittstellen zu Rosas ResonanzVerständnis aufweist, da das moderne Aneignungsverständnis bereits Akteur*innen und Aktanten netzwerkartig über einen gemeinsam geteilten sozialen Raum denkt. Hierüber ergeben sich für die Schul- und Bildungsforschung wichtige Möglichkeiten zur Gestaltung informeller Lernbeziehungen und -settings. Das sozialräumliche Lernen wird dabei zum Bindungsglied zwischen Aneignungskonzept und ResonanzPädagogik, sind es doch genau die Erfahrungen des sozialen Raumes, die gelungene Resonanzachsen bilden können und zugleich die Kraft zur Gestaltung von Welt und relationalem Raum in sich tragen. Bezugnehmend auf die Arbeiten Rosas, speziell zur Resonanztheorie innerhalb der Institution Schule (Rosa/Endres 2016), entwickelt Jens Beljan (2017) die theoretischen Überlegungen seines Doktorvaters zu einer gelingenden Anverwandlung der schulischen Lebens- und Lernwelt weiter. In seiner Dissertation schildert Beljan die Gefahren, die an ein Entfremdungserleben durch die Schule gekoppelt sind. Dabei erfolgt im konzeptionellem Verständnis der Resonanztheorie keine Trennung zwischen Schulkultur und Unterrichtssituation, vielmehr wird die Schule als ganzheitlicher Resonanzraum begriffen, der Gefahr und Gestaltungspotentiale misslingender bzw. gelingender Resonanzbeziehungen bereits immanent in seinem Auftrag von Bildung als sozialer Interaktion in sich trägt. Speziell eine stark leistungs- und wettbewerbsgeprägte Schulkultur und Unterrichtspraxis – wie sie durch output-orientierte Lernstandserhebungen wie PISA konstruiert wird – trägt die Gefahr verstummender Resonanzachsen als Entfremdungserleben in sich und bewirkt antagonistische Erscheinungen zu Leistung und Erfolg: Schulverweigerung und delinquentes Verhalten (ebd., S. 22 ff.). Neben subjektorientierten Faktoren gelingender bzw. misslingender Resonanzbeziehungen untersucht Beljan schulische Resonanzräume als Resonanzkatalysatoren und Entfremdungskompressoren in einem eigenständigen Kapitel (ebd., S. 348–358). Zwar bleibt sein Blick ein eher absolut geprägter Blick auf Raum aus Perspektive der Schularchitektur, doch über die Verbindung des Resonanzerlebens durch den Leib und die Zeit mit dem Raum als Kernaspekte der anzuverwandelnden Weltbeziehung schafft Beljan ein sozialräumliches Verständnis von Schule als Ermöglichungsraum bzw. als möglicher Anverwandlungsraum von Welt. Die Basis dafür liegt
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
69
im Besonderen in der Möglichkeit zum Austausch und zur gegenseitigen Gestaltung einer sozialen Beziehung. Über das Verständnis von Autonomie erfolgt die Brücke zwischen Anverwandlung und Aneignung als Möglichkeit zur Erschließung von sozialräumlicher Welt, aus deren Erschließung Lernen und Persönlichkeitsentwicklung wachsen. Rosa und Leontjew treffen sich dabei in einem gemeinsamen konstruktivistisch-sozialisationstheoretischem geprägten Verständnis vom Lernen und dessen Voraussetzungen. 1992 greift Ulrich Deinet im Rahmen einer Dissertation den Ansatz Leontjews auf und überführt das klassische Aneignungskonzept auf das Lernen und Erleben in sozialräumlichen Strukturen. Damit überträgt Deinet das Verständnis der Ebene des absoluten Raumes auf die Lebenswelt und den Handlungsraum als relationale Struktur eines sozialen Raumes. Aneignung sozialräumlicher Strukturen als (Kennen)Lernen gesellschaftlicher Realität und Praxis wird von Deinet über die Jahre weiterentwickelt und zu einem modernen Aneignungskonzept verdichtet (vgl. Deinet 2014; Deinet/Reutlinger 2014a). Im Verständnis eines relationalem Raumbegriffs wie er in Abbildung 3.2 bereits visualisiert wurde, wird deutlich, dass Aneignung von Raum als Produkt gesellschaftlich-historischer gewachsener Realität zum gesellschaftlichen Lernen im ganzheitlichen Sinne wird. Sozialräumliches Lernen als Aneignung von Raum oder Welt impliziert Wissen zu Interaktionen und Figurationen ebenso wie Zugang zu materiellen und immateriellen Ressourcen des sozialen Raumes. Deinet (2014) beschreibt in der Zusammenarbeit mit Derecik (2012) verschiedene Formen von Eignung; beide Autoren unterscheidet zwischen Aneignung als Erweiterung der motorischen Fähigkeiten, als Erweiterung des Handlungsraumes, als Veränderung von Situationen, als Verknüpfung von Räumen sowie Aneignung als Spacing im Sinne Löws (2001). Zusammenführend kann sozialräumliches Lernen auch als Form eines emanzipatorischen Lernens beschrieben werden, welches Mündigkeit stärkt und die Vernetzung einzelner Kausalitäten fordert. Mit Blick auf den vorab visualisierten Raumbegriff können Aneignung und Anverwandlung als Ermöglichung und Zugriff des lernenden Individuums auf den relationalen sozialen Raum und seine ihn konstituierenden Ebenen verstanden werden. Verweigert man dem*der Lernenden den Zugriff auf Orte und Plätze als Repräsentationen des absoluten Raums oder schließt man ihn*sie von Interaktionen aus, dann wird er*sie auch die figurativen Prozesse des Raums nicht verstehen können. Enthält man dem*der Lernenden Wissen, welches sich aus Interaktionen ergibt, vor, dann ist es ihm nur eingeschränkt möglich, Kausalitäten und Verkettungen von Nebenfolgen herzustellen. Aneignung und Anverwandlung sind – einfach ausgedrückt – Formen einer inklusiven Partizipation am und im sozialen Raum. Die Möglichkeiten des sozialräumlichen Lernens als Aneignung bzw. Anverwandlung von Welt werden im Folgenden aus einer
70
3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
alternativen didaktischen Perspektive untersucht, um das Potential des Lernens in sozialräumlichen Bezügen zu stützen.
3.2.2
Das situierte Lernen und die Community of Practice
„Netzwerk als sozialtheoretische Schlüsselkategorie“ (Laux 2014, S. 38) – in seiner Dissertation durch Henning Laux (2014) zu einer Kapitelüberschrift verdichtet, muss dem Wesen des Netzwerks als Schlüsselkategorie sozialtheoretischer sowie didaktischer Überlegungen eine besondere Wirkkraft zugesprochen werden. Mit Blick auf die grafische Visualisierung eines arbeitsspezifischen relationalem Raumverständnisses wird der Sozialraum über seine Netzwerkstruktur zur „Schlüsselkategorie“. Das sozialräumliche Netzwerk als Grundlage von Erleben und Lernen liegt sowohl dem psychologisch geprägtem Verständnis von Aneignung und dem soziologischem Begriff der Anverwandlung zugrunde als auch einem didaktischen Verständnis situiertem Lernens wie es durch die US-amerikanischen Wissenschaftlerin Jean Lave und ihren Schweizer Kollegen Etienne Wenger (2011 [1991]) geprägt wurde. Seine Repräsentation findet das sozialräumliche Netzwerk im Modell der Community of Practice (CoP), welches aus der Theorie des situierten Lernens – im englischen Original situated learning – abgeleitet und durch Wenger (2002; 2008) vertiefend erforscht und entwickelt wurde. Für die Didaktik – aber auch für weitere Forschungsbereiche wie das Wissensmanagement innerhalb der Betriebswirtschaft (vgl. North et al. 2004; McDermott 1998) – bildet die CoP als sozialer Raum eine wichtige Einheit, in welcher Wissen in einem gemeinsam geteiltem „Gedächtnis“ gespeichert und individuell transferiert und modifiziert werden kann. Die CoP fungiert als transaktives Gedächtnis und übernimmt die Aufgaben einer vergemeinschafteten Wissensgenerierung (vgl. Bliss et al. 2006). Basis dafür bilden Netzwerke des Sozialraums; speziell Netzwerke, die sich informell und formell bilden lassen. Innerhalb dieser sozialräumlichen Netzwerke finden Lernprozesse statt, die als situiertes Lernen eine eigenständige Lerntheorie innerhalb der konstruktivistischen Didaktik bilden. In seinem Grundlagenwerk zur CoP beschreibt Etienne Wenger (1998) das generelle Wesen der CoP wie folgt: „We all belong to communities of practice. At home, at work, at school, on our hobbies – we belong to serveral communities of practice at any given time. And the communities of practice to which we belong change over the course of our lives. In fact, communities of practice are everywhere.“ (Wenger 1998, S. 6)
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
71
Damit ergeben sich über das Verständnis der CoP und des situierten Lernens deutliche Überschneidungen zur soziologisch-bildungswissenschaftlichen Betrachtungsweise von Sozialisationserfahrungen des Individuums in Abhängigkeit zu bestehenden Sozialisationsinstanzen der äußeren Realität. Der Sozialraum bildet dabei den gemeinsamen Bezugspunkt, welcher Begegnung, Wissensaustauschs und Lernprozesse ermöglicht. “All theories of learning are based on fundamental assumptions about person, the world, and their relations” (Lave/Wenger 2011 [1991], S. 47) – in reflexiver Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität findet der Lernprozess im sozialen Raum der CoP statt. Als Schlüsselwerk zur CoP und zum situierten Lernen muss die von Lave/Wenger 1991 publizierte Monografie „Situated learning. Legitimate peripheral participation“ betrachtet werden. Das Werk basiert auf Beobachtungen und Forschungen Laves/Wengers, welche Lernprozesse in praktischen Lehrverhältnissen untersuchen. Der Schwerpunkt des konstruktivistischen Lernverständnisses liegt dabei auf der sozialen bzw. der sozialräumlichen Umgebung, in welcher sich der Lernverlauf als individueller Prozess in Auseinandersetzung mit anderen Menschen vollzieht. Die praktische Untersuchung durch Lave/Wenger erfolgte unter anderen auf Yukatan unter praktizierenden Hebammen sowie in Westafrika; dort wurden die Lehrverhältnisse innerhalb der ethnischen Gruppen der Vai und Gola am Beispiel des Metzger-Berufes erforscht. Neben der CoP als sozialräumlichem Netzwerk des Lernens wird der Prozess der legitimen peripheren Partizipation zum Kernelement des situierten Lernens. Der Prozess bildet den Lernvorgang ab und beschreibt, wie sich ein newcomer innerhalb der CoP als Lernraum durch Beteiligungs- und Austauschprozesse zum old-timer entwickelt (Lave/Wenger 2011 [1991], S. 91 ff.). Damit liegt der Fokus auf der Entwicklung des lernenden Individuums, gleichfalls bezeichnet der Prozess der legitimen peripheren Partizipation die Veränderung und Entwicklung der CoP, als deren Teil das Individuum fungiert. In seinen folgenden Arbeiten wurde die Entstehungen und Transformation der CoP als sozialräumliches Netzwerk des Lernens durch Wenger (2008 [1998]; Wenger et al. 2002) vertiefend untersucht und zu einem ganzheitlichen Strukturmodell weiterentwickelt. Wenger (2008 [1998]) beschreibt drei Dimensionen, welche die Beziehung zwischen Mitgliedern der CoP prägen: mutual engagement (ebd., S. 73– 77) als auf Gegenseitigkeit beruhendes Engagement für eine gemeinsame Tätigkeit, die kollektive Aushandlung einer gemeinsamen Unternehmung als joint enterprise (ebd., S. 77–82) sowie shared repertoire, ein geteiltes Repertoire verschiedenster Instrumente, über welche die CoP miteinander interagieren kann (ebd., S. 82–85). In der Zusammenarbeit mit Richard McDermott und William M. Snyder fügt Wenger (Wenger et al. 2002) der Definition einer CoP drei Kernelemente bei, die sich wechselseitig bedingen: Demnach verfügt eine CoP über einen spezifischen
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Wissensbereich (domain), welcher von einer Gemeinschaft (community) – über persönliche, institutionalisierte und/oder digitale Beziehungsstrukturen konstituiert – thematisiert und inhaltlich entwickelt wird. Über den Wissensbereich der Gemeinschaft kommt es zu analogen und/oder digitalen Begegnungen im sozialen Raum. Es findet eine gemeinsam geteilte Praxis (practice) statt, in welcher über das gemeinsame Repertoire zum Wissensbereich eine Entwicklung in Bezug auf lernendes Individuum, das Wissen und die CoP als sozialräumliches Netzwerk erfolgt. Speziell die Entwicklung der CoP als Raum der lernenden Individuen und als kollektiver Wissensspeicher unterliegt methodischen Gestaltungsprinzipien: „Gründung, Verschmelzung, Reifung, Bewirtschaftung, Verwandlung“ (Bettoni et al. 2004, S. 323) bzw. potential, coalescing, maturing, stewardship und transformation (Wenger et al. 2002, S. 68 ff.). Damit beschreiben Wenger und seine Co-Autoren die „Lebensphase“ einer CoP in Form eines Phasenmodells – von der Gründung über das Reifen der CoP durch Mitgliederzuwachs und die Genese einer verwaltungsartigen Struktur als Phase der Konsolidierung bis hin zum Ende der CoP, welches durch schrumpfende Mitgliederzahlen, mangelnde Aktivitäten oder aber auch durch die Fusion mit weiteren CoP’s bedingt sein kann. Für das sozialräumliche Lernen – speziell mit Blick auf die Integration externe Akteur*innen in das Lernsetting – liegt in der CoP das entscheidende Potential der Entwicklung des einzelnen Lernenden sowie die große Chance, Wissen in lebendiges Wissen, in Kompetenz und in Performanz zu verwandeln. Werden externe Akteur*innen des Sozialraums, das heißt in diesem Falle Akteur*innen jenseits des schulischen Raums, als Expert*innen in den Unterricht eingebunden, bilden sie gemeinsam mit der Klasse und der Lehrkraft eine spezifische CoP. Diese kann fachspezifisch sowie fachübergreifend sein – abhängig vom jeweiligen Lernsetting. Dabei fungieren die Externen als Experten. Da sie oftmals an die sozialräumliche Praxis angeschlossen sind, ist über die externen Experten ein Theorie-Praxis-Transfer mit der Lehrkraft als theoretische Expertin/theoretischer Experte möglich. Gemeinsam fungieren externe Akteur*innen und Lehrkräfte als old-timer innerhalb der CoP und begleiten die Lernenden über den Prozess der legitimen peripheren Partizipation sukzessive auf ihrem Lern- und Entwicklungsweg vom newcomer zum old-timer. Dabei sind figurative Verschiebungen innerhalb der CoP gleich zu Beginn möglich: Womöglich nimmt auch die Lehrkraft die Rolle des newcomers ein oder Lernende verfügen über Expert*innen-Wissen, welches sie im Lernprozess bereits im Entstehen der CoP in die Rolle des old-timers überführt. Auch die schulische Lern-CoP zeichnet sich durch die benannten Dimensionen – mutual engagement, joint enterprise, shared repertoire – aus. Anders als in der Frontalsituation des Unterrichts wird nun über die CoP-Dimensionen der Unterricht zum kollektiven Aushandlungsprozess und gemeinsamen Erproben und
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
73
Erleben von Wissen. Das zu vermittelnde Wissen verliert seine Unhinterfragbarkeit und kann über ein gemeinsames Repertoire geteilt und modifiziert werden. Das situierte Moment des sozialräumlichen Lernens ist der Austausch, das Lösen von Herausforderungen, das Erkunden neuer Räume außerhalb der Schule, das induktive Erschließen von Wissen. Indem bestehendes Wissen in Frage gestellt und neu kombiniert werden muss, kann sich der Wissenbereich kollektiv entwickeln. Vor allem die Begleitung durch die old-timer, die wegen der legitimen peripheren Partizipation und möglicher Wissensverschiebungen jederzeit ihre Position innerhalb der CoP tauschen können und müssen, wirkt hier bereichernd. Darüber ergeben sich figurative Verschiebungen, die den durch Giddens beschriebenen Machtbehälter Schule auflösen und zum gleichberechtigten Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden führen können. Welchen Einfluss hat diese Verschiebung auf die Motivation zum Lernen? Die CoP bildet damit eine dynamische und inklusive Lernform zugleich. Bliss et al. (2006) verweisen im ihrem Aufsatz explizit auf die Dynamik der CoP: „So können sich im Lauf der Zeit Verschiebungen zeigen: Aktive, initiierende bzw. koordinierende Mitglieder begleiten zunehmend den Prozess; andere die bisher nur zugehört haben, bringen sich aktiv ein und fühlen sich dadurch mehr zugehörig als vorher; durch das Einbringen neuer und anderer Aspekte werden Beteiligte aktiv, die bisher den Prozess eher am Rande, beobachtend begleitet haben.“ (ebd., S. 9)
Die hohe Flexibilität des situierten Lernens und des damit verbundenen Lernendennetzwerks der CoP zeigt sich zudem in anwendungsorientierten Vermittlungsprinzipien wie der Cognitive Apprenticeship. Die Methode folgt dem klassischen Meister-Lehrlingsverhältnis der Ausbildung, setzt den Fokus jedoch auf die Unterstützung kognitiver Leistungen. Dieses Verständnis von Wissen und seiner Verarbeitung impliziert neben dem Erwerb auch den Transfer des Gelernten auf reale, neue Situationen (Reinmann-Rothmeier et al. 1994, S. 48 f.). Basierend auf heuristischen Strategien nutzt die Methode einzelne Teilschritte, die ein induktives Erschließen und Anwenden von Wissen ermöglichen. Spezifisch dabei ist eine umfassende Hilfestellung über Demonstrationen, Vorführungen und Begleitung zu Beginn des Lernprozesses sowie die Möglichkeit selbst tätig zu werden, verbunden mit einer sukzessiv nachlassenden Unterstützung, um am Ende des Lernprozesses in die Rolle des old-timers zu wachsen (vgl. Reich 2017; 2008). Wesentlich für den Lernzuwachs ist dabei die sozialräumliche Lernsituation bzw. das sozialräumliche Lernsetting, welche durch die CoP als begleitendes Netzwerk gebildet wird.
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Wenn nun die CoP als Netzwerkstruktur begriffen wird, welche in Form eines transaktiven Gedächtnisses das Wissen und die Kompetenzen als netzwerkspezifische Ressourcen speichert, modifiziert und transferiert, dann wird deutlich, dass dieses Netzwerk wesentlich umfassender ist als das Gedächtnis und Bewusstsein des einzelnen Lernenden. Angewandt auf das bereits entwickelte Modell des relationalen sozialen Raums ergibt sich eine neue Dimension des Lernens in Bezug auf die dem Raum zugrundeliegenden Ebenen. Das lernende Individuum wird zum Teil des wesentlich komplexeren Netzwerkes und kann dabei auf die Ressourcen der CoP zurückgreifen. Der soziale Raum, in welchem das Individuum nun lernen kann, wird großer – so auch sein Zugriff auf die Ebenen der Interaktion, der Figuration oder Situation. Das Individuum lernt als Teil des Netzwerkes und erlangt darüber weitreichender Möglichkeiten, neues Wissen über Gelerntes und Kompetenzen der CoP-Mitglieder zu erschließen. Die größere Reichweite des Lernsettings – erzeugt über den erweiterten Sozialraum (Abbildung 3.3) – schafft vielfältigere Möglichkeiten, neben dem Wissenszuwachs die subjektiven fächerübergreifenden Kompetenzen zu stärken, denn über das situierte Lernen innerhalb der CoP werden Herausforderungen größer und das Lernen wird im Sinne Deweys über das Erleben gefördert. Dabei liegt die Aufgabe des Lehrenden als old-timers in der Anleitung zur Reflexion, um aus dem Sozialisationsprozess einen informellen Lernprozess zu formen.
Figurations-Ebene Situations-Ebene
Interaktions-Ebene
Ebene des absoluten Raumes
Individuum
relationaler Raum
CoP
Abb. 3.3 „Relationales Raum-Verständnis der CoP“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
3.2.3
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Sozialisationstheorie und das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung
Das verborgene Wissen oder auch das schweigende Wissen (vgl. Kraus et al. 2017) ist die Ressource, die es neben Fachwissen und Kompetenzen im informellen Lernprozess sichtbar bzw. transportierbar zu machen gilt. Innerhalb der Didaktik spricht man dabei vom heimlichen Lehrplan (Jackson 1968) und der Hinterbühne des Unterrichts (Zinnecker 1978). Neben dem Erziehungs- und Bildungsauftrag von Schule steht die Rolle der Institution als Sozialisationsinstanz im Mittelpunkt der Betrachtung, wenn es darum geht, die Faktoren und Prozesse des heimlichen Lehrplans zu hinterfragen. Umso mehr rücken Sozialisationsprozesse in den Blick der Schulund Bildungsforschung, um ein ganzheitliches Bild vom sozialen Raum „Schule“ zu entwickeln (vgl. Horstkemper/Tillmann 2016; Horstkemper/Tillmann 2015). Das grundlegende Verständnis, dass Schule über ihre Formierung auf die Persönlichkeitsentwicklung und darüber auf die Gesellschaft zurückwirken kann, geht auf Arbeiten Talcott Parsons (1997 [1968], S. 161–193) zurück. Indem er der Schule bzw. der Klasse gesellschaftlich adäquate Wirkkraft zuspricht und die Schule als gesellschaftliches Subsystem begreift, fügt er den schulischen Sozialraum als Teilsystem in das Netzwerk der Gesellschaft ein und ordnet ihm funktionale Aspekte zu. Daraus lassen sich Allokations- und Selektionsfunktion der schulischen Bildung ableiten, aber auch die Frage, „was Heranwachsende durch ihren jahrelangen Aufenthalt in der Schule ‚wirklich‘ lernen“ (Horstkemper/Tillmann 2015, S. 438). Diese zentralen Frage der schulischen Sozialisationsforschung wird in Deutschland bereits Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts durch Hans-Günter Rolff (1967) aufgegriffen und in den folgenden Jahrzehnten innerhalb der Schul- und Bildungsforschung verdichtet. Aktuell steht mit Blick auf ein ganzheitliches Lernen die Frage im Raum, wie Sozialisationsprozesse über ihre Reflexion in einen Lernprozess überführt werden können bzw. wie das formelle Lernen nachhaltig an entstehende Sozialisationseffekte gekoppelt werden kann. Als Standardwerk der Sozialisationsforschung veröffentlicht Klaus Hurrelmann 1986 erstmals seine Einführung in die Sozialisationstheorie und koppelt diese mit der 10. Auflage (2012) an das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR) als Meta-Modell zur Beschreibung einer wechselseitigen Verschränkung von innerer und äußerer Realität. Der Aufbau der 8. Auflage des von Hurrelmann und anderen Forscher*innen (2015) herausgegebene „Handbuch Sozialisationsforschung“ zeigt, dass die Sozialisationsforschung sich zu einer interdisziplinären
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Wissenschaft weiterentwickelt hat, deren fachübergreifender Bezug auch den Blick auf die Schule als Sozialisationsinstanz berührt. Der wechselhafte Prozess zwischen Individuum und seiner Umwelt bzw. die Interaktion zwischen Subjekt und Gesellschaft wird über Zugänge der Soziologie, Entwicklungspsychologie, Bildungswissenschaft, Philosophie und Neurowissenschaften transparent. Dabei berührt die Sozialisationsforschung gleichfalls Bereiche der Sozialpsychologie, Sozialarbeits- und Politikwissenschaft. Sie fungiert als universeller Kodex zur Ausbildung eines grundlegenden Verständnisses geistes- und sozialwissenschaftlicher Phänomene in Gegenwart und Vergangenheit. Die vorliegende Arbeit möchte zeigen, dass sozialräumlich gedachtes und konzipiertes Lernen die ursprünglichste Form reflektierter Sozialisationserfahrungen darstellt und somit über sein Setting nachhaltig interdisziplinäre Sozialisations-Ansätze verschiedenster Disziplinen stützt. Dafür soll über den arbeitsspezifischen Ansatz des sozialen Raums und dessen Visualisierung eine verschränkte Betrachtung des Aneignungs- und Anverwandlungskonzeptes, mit dem konstruktivistischen Ansatz des situierten Lernens erfolgen, um die damit verbundenen Vorstellungen von Lernen und Entwicklung in das Meta-Modell der produktiven Realitätsverarbeitung einzupassen. Das MpR definiert sich über zehn Kernannahmen, die Hurrelmann/Bauer (2015) auch als „Thesen“ bezeichnen. Die erste These spiegelt das Grundverständnis der Sozialisationstheorie und den gemeinsamen Kern aller für die Konzeption des MpR erläuterten Theorien und Konzepte wider: Die erste These beschreibt das Verhältnis von innerer und äußerer Realität; gleichfalls leitet sich aus dieser These die zentrale Definition von Sozialisation ab: „Sozialisation bezeichnet den das ganze Leben lang anhaltenden Prozess der Persönlichkeitsentwicklung. Persönlichkeitsentwicklung wird verstanden als produktive Verarbeitung der inneren Realität von körperlichen und psychischen Dispositionen und der äußeren Realität aus sozialer und psychisch-räumlicher Umwelt. Der Prozess der Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ist produktiv, weil es sich hierbei nicht um einen passiven Vorgang, sondern um eine dynamische und aktive Form von Tätigkeit handelt, auch wenn sie im Bewusstsein eines Menschen nicht immer präsent ist“ (ebd., S. 99)
Die Autoren verwenden zur Stützung dieser These – und um die sozialisationstheoretischen Prinzipien der Wechselseitigkeit und Aktivität zu veranschaulichen – folgende Visualisierung (Abbildung 3.4):
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
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Persönlichkeitsentwicklung
Innere Realität: Körper und Psyche (Anlage)
Produktive Verarbeitung
Äußere Realität: soziale und physische Umwelt)
Abb. 3.4 „Sozialisation als produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität“ (Hurrelmann/Bauer 2015, S. 99)
Die Visualisierung beschreibt einen sich überschneidenden Zwischenraum, der veranschaulicht, dass der äußere Raum der Umwelt stets auch einen Bestandteil der inneren Realität abbildet und umgekehrt, dass der innere Raum des Subjektes seine Repräsentation in der äußeren Realität der Umwelt wiederfindet. Also ist die innere Realität des Subjektes resp. des Individuums resp. des oder der Lernenden immer auch zu Teilen ein sozialer Raum, der über die Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Realität gebildet wird. Ohne sozialen Raum gäbe es das Subjekt als sich entwickelndes und lernendes Individuum nicht, weil die äußere Realität keine Anknüpfungspunkte an bestehendes Wissen finden könnte, um daraus über eine bewusste, kontrollierte Verarbeitung und Reflexion die Entwicklung dieses Wissens abzuleiten. Bereits zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlicht Hurrelmann (1983) erste Anmerkungen zum MpR und führt über den dialektischen Bezug von Subjekt und Gesellschaft die Schnittstellen verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen im Meta-Modell zusammen. Daran anknüpfend formuliert er in Thesenform lebensphasenorientierte Entwicklungsaufgaben, die sich für das Subjekt in produktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt ergeben. Abhängig von den Verschiebungen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen, kommt es gleichfalls zu einer teilweisen Verschiebung der Entwicklungsaufgaben. Herausforderungen der Zweiten Moderne wirken auf den Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung zurück und verändern die Anforderungen, die an das Individuum gestellt werden. Böhnisch et al. (2009) beschreiben in ihrer Publikation
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
die Spezifik einer an der Zweiten Moderne ausgerichteten Sozialisation im Kern als Bewältigung. Zu zentralen Schlüsselkonzepten werden dabei die biografische Handlungsfähigkeit in Anlehnung an den Reflexions-Begriff der Modernisierungstheorie, Lebensbewältigung sowie der Begriff der Aneignung. Als Reaktion auf Entgrenzungserscheinungen, die im weiteren Sinne auch als Erscheinungen von Entfremdung begriffen werden können, bleibt dem Subjekt zur Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in einer Gesellschaft der Vielfalt nur die reflexive und gestaltende Aneignung als Basis einer produktiven Realitätsverarbeitung. Folgt man in den Begrifflichkeiten den Termini der Resonanz-Soziologie (Rosa 2016) wird die Kopplung von Entfremdung und Anverwandlung als notwendige Handlungsfolge zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben deutlich. Das bedeutet mit Blick auf die Sozialisationstheorie und das MpR, dass die produktive Verarbeitung von innerer und äußerer Realität notwendigerweise an die Prozesse der Aneignung bzw. Anverwandlung gekoppelt sind, wenn Ich-Individuation und Vergesellschaftung als Zielstellungen des Sozialisationsprozesses erfolgreich bewältigt werden sollen. Wie Ergebnisse der Medizinsoziologie zur Methodik der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung zeigen, kommen sozialen Ressourcen in Form von Unterstützungsleistungen und sozialem Kapital eine besondere Bedeutung bei der Bewältigung von gesundheitsrelevanten Risikofaktoren zu (vgl. Badura/Knesebeck 2016; Hurrelmann et al. 2016). Das soziale Netzwerk wird neben individuellen Persönlichkeitsfaktoren relevant, um über die Reflexion und eine daran gekoppelte Handlungsfähigkeit die Herausforderungen der Zweiten Moderne zu bewältigen. Hier lässt sich der logische Transfer auf die CoP führen, die als sozialräumliches Netzwerk Ressourcen zur Bewältigung – im Bezug auf das sozialräumliche Lernen Wissens- und Kompetenzressourcen – bereithält, auf welche das Individuum im Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung zugreifen kann und muss. Dabei bildet die CoP den Anker zwischen innerer und äußerer Realität. Das Individuum resp. Subjekt ist Teil dieses sozialräumlichen Netzwerkes; es verfügt über Teile des transaktiven Gedächtnisses als eigene mentale Repräsentationen. Und gleichzeitig bildet die CoP die äußere Umwelt ab, indem sie durch weitere Mitglieder einen Ausschnitt der äußeren Realität formiert. Werden nun der Zugriff auf das transaktive Gedächtnis der CoP und die Möglichkeit einer sozialräumlichen Aneignung der umgebenden Welt über das sozialräumliche Lernen berücksichtigt (Abbildung 3.5), vergrößert sich die Möglichkeit, über das reflektierte Lernen auf Wissen und Ressourcen der äußeren Realität zugreifen zu können. Die Vergrößerung umfasst dabei einen quantitativen Zuwachs in Form eines Ressourcenwachstums; gleichzeitig umfasst sie eine qualitative Zunahme in Form einer Intensivierung des Prozesses der produktiven Realitätsverarbeitung, sofern die Eindrucksverarbeitung des bzw. der Lernenden
3.2 Der Sozialraum-Fokus in ausgewählten Bildungs-Diskursen
79
kontrolliert und bewusst abläuft. Die Modalitäten, die automatische Eindrucksbildung in eine kontrollierte Form zu überführen, liegen in der Gestaltung des sozialräumlichen Lernsettings:
Figurations-Ebene Situations-Ebene
Interaktions-Ebene
Ebene des absoluten Raumes
Individuum
CoP
relationaler Raum Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung
Abb. 3.5 „Relationales Raum-Verständnis und der Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
Um den Bezug zur Visualisierung der MpR-Modells durch Hurrelmann/Bauer (2015, S. 99) nochmals zu konkretisieren, wird die Beziehung zwischen Subjekt, CoP und äußerer Realität des relationalen Raums wie folgt dargestellt sowie über ein akzentuiertes Zitat Paulo Freires gestützt: „Wenn nun der Mensch, gleichzeitig auf sich selbst und auf die Welt reflektierend, den Radius seiner Erkenntnis vergrößert, beginnt er seine Beobachtungen auf zuvor durchaus unauffällige Phänomene zu richten.“ (Freire 1985, S. 66) Sozialräumliches Lernen erweitert den Rahmen für reflektierte Sozialisationserfahrungen und stützt somit Entwicklungsprozesse innerhalb und außerhalb des Individuums (Abbildung 3.6 ).
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Figurations-Ebene Situations-Ebene
Ebene des absoluten Raumes
Innere Realität: Körper und Psyche (Anlage)
Produktive Verarbeitung
Äußere Realität: soziale und physische Umwelt)
Interaktions-Ebene
Innere u. äußere Realität der CoP
Persönlichkeitsentwicklung
Abb. 3.6 „Sozialisation als produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
3.3
Genese eines Arbeitsverständnisses von sozialräumlichem Lernen
Aufbauend auf der vorangestellten Analyse des Raum-Begriffs und dessen interdisziplinärem Verständnis als Teilstruktur einer gesellschaftlichen Struktur, welche über Handlungen erschaffen wird und gleichzeitig auf diese zurückwirkt, kann ein arbeitsspezifisches Verständnis von sozialräumlichem Lernen entwickelt werden. Dabei greift das Konzept des sozialräumlichen Lernens weiter als die Kooperation mit Akteur*innen der Stadt bzw. bildet die Bezeichnung der Arbeit „Unterricht findet Stadt“ über die Stadt als Sozialraum nur eine Teilfacette sozialräumlichen Lernens ab. Sicherlich integriert sozialräumliches Lernen die Stadt in einem absoluten sowie in einem relationalem Verständnis von Raum in ihr Konzept; sicherlich entsprechen in diesem Verständnis auch ländliche Strukturen einem Sozialraum. Doch die Formen, Möglichkeiten, Realitätsebenen und Modi des sozialräumlichen Lernens sind wesentlich komplexer, setzt man die über die Theorieanalyse entwickelte Grafik eines relationalen Raumverständnisses zugrunde und begreift sozialen Raum resp. Sozialraum als Verschränkung der vier abgeleiteten Ebenen und gleichzeitigem Bestandteil der inneren und äußeren Realität. Der soziale Raum findet seine Repräsentation sowohl in der äußeren Realität der Umwelt als auch in der inneren
3.3 Genese eines Arbeitsverständnisses von sozialräumlichem Lernen
81
Realität des Individuums. Der Zwischenraum der produktiven Realitätsverarbeitung wird dabei zum Reflexionsraum, von welchem ausgehend die Verschiebung des Raumes erfolgt: sei es über Entwicklungs- und Lernprozesse im Individuum oder aber über die Neugestaltungen gesellschaftlicher Strukturen. So existiert der Sozialraum auf verschiedenen Realitätsebenen, die sich wechselseitig beeinflussen und keinesfalls losgelöst voneinander existieren. Bei der Entwicklung eines Arbeitsbegriffs sozialräumliches Lernen wirken neben der theoretischen Analyse des Raum-Begriffs vor allem die Arbeitserfahrung der Verfasserin sowie die Durchführung der Erhebungsdesigns, die sich in ihrer Konzeption und Durchführung auf die Beschreibung sozialräumlicher Lernprozesse gestützt haben. Orientierung bot dabei das umfassende Werk einer konstruktivistischen Didaktik Kersten Reichs (2017; 2008). Kennzeichen: Was kennzeichnet sozialräumliches Lernen? Ein wesentliches Merkmal sozialräumlichen Lernens ist die Situiertheit der Lernsituation. Damit wird die Komplexität des Lernsettings beschrieben sowie der Möglichkeitsrahmen zur induktiven und aktiven Mitgestaltung des Lernprozesses. Die Komplexität beschreibt den sozialräumlichen Kontext, welcher durch die Einbindung externer Akteur*innen in die Gruppe der Lernenden und Lehrenden gebildet werden kann. Die Komplexität umfasst zugleich die Zugangsformen, über welche Wissen vermittelt werden kann: Ein Lernen in der Gruppe bzw. in der CoP als kollaborative Lernsituation schafft einen größeren Wissens- und Kompetenzfundus. Aber auch eine komplexe Rahmung, zum Beispiel über einen neuen Lernort außerhalb der Schule, erhöht die Komplexität des Lernsettings, indem neue Eindrücke als Stimuli wirken und zudem die Herausforderung, bestehendes Wissen modifizieren zu müssen, erhöht wird. Die Komplexität als Kennzeichen des sozialräumlichen Lernens wird über verschiedene Modi zur Gestaltung der Lernsituation resp. des Lernsettings beschrieben und abgebildet. Ein zentraler Modus wird dabei über die Möglichkeit einer aktiven und hermeneutischen Erschließung des Wissens gebildet. Sozialräumliches Lernen fungiert als konstruktivistische Lernform, welche dem Lernen die Möglichkeiten zum handelnden Erschließen von Wissen bietet und darüber hinaus Optionen offen lässt, über welche Wege und Wissensmodifikationen die Lösung im induktiven Verfahren gefunden wird. Über dieses Kennzeichen erlaubt das Lernsetting einen Zugriff auf den äußeren sozialen Raum, so dass Aneignungs- bzw. Anverwandlungsprozesse stattfinden können. Ein weiteres Kennzeichen – und zugleich Modus – des sozialräumlichen Lernens ist das gemeinsame, kollaborative Lernen innerhalb einer Gemeinschaft, in welcher das Wissen und die geteilten Kompetenzen ein transaktives Gedächtnis bildet. Die CoP als Form des situierten Lernens bildet diese Gemeinschaft als Theoriekonzept ab. Dabei kann auch der herkömmliche Klassenverbund – bestehend aus Lernenden
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
und Lehrkraft – bereits als umfassende CoP fungieren, sobald das grundlegende Verständnis eines gemeinsamen Lernprozesses angesetzt wird, in welchem gerade durch informelle Lernprozesse die Lehrkraft in die Rolle des newcomers wechseln kann und ein Lernender bzw. eine Lernende die Rolle des*der Expert*in (old-timers) übernimmt. Lernen auf Augenhöhe, welches sich bewusst von tradierten Figurationen zwischen Lernenden und Lehrenden lösen kann, ist ebenfalls ein Kennzeichen sozialräumlichen Lernens. Indem die Lehrkraft ihren inneren Sozialraum den Lernenden öffnet, um eine Resonanzachse zu schaffen, kann ein gemeinsamer Raum der produktiven Realitätsverarbeitung generiert werden. Ein drittes und durchaus relevantes Kennzeichen sozialräumlichen Lernens wird durch die möglichen Realitätsebenen des Sozialraums beschrieben. Dieser Punkt kann im Rahmen des Forschungsvorhabens nur skizziert werden, bietet aber umfassende Anknüpfungspunkte für eine vertiefende Erforschung des sozialräumlichen Lernens, da er einen zentralen Punkt gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse tangiert: den digitalen Raum als gesellschaftlichen Raum. Zusammengefasst formuliert, existiert der soziale Raum resp. Sozialraum nicht nur auf der Ebene einer analogen, non-fiktionalen Realität. Sozialer Raum ist zugleich auf Ebene der digitalen Realität sowie auf Ebene der fiktionalen bzw. imaginären Realität beschreibbar. Dabei existieren diese Ebenen nicht voneinander losgelöst, sondern sie konstituieren sich über gemeinsame Verschränkungen und wechselseitige Prozesse. Der Sozialraum wird damit zum komplexen Hyperraum. Modi: Wie lässt sich sozialräumliches Lernen gestalten? Die Modi bilden das Kennzeichen der Lernkomplexität ab. Sozialräumliches Lernen kann sowohl außerhalb- als auch innerhalb der Schule stattfinden. Eine Lernortverlagerung in den umgebenden Sozialraum der Schule hinein ist eine sichere Möglichkeit, die Komplexität des Lernsettings zu erhöhen, allerdings bildet die Kooperation im sozialen Raum der Stadt oder der ländlichen Region keine notwendige Bedingung sozialräumlichen Lernens ab. Die Kooperationen mit Sozialraum-Akteur*innen können auch innerhalb der Schule stattfinden, indem der Sozialraum zum Gegenstand des Lernens gemacht wird bzw. indem Externe als Lehrende oder Lernende in die CoP der Lerngruppe integriert werden. Der Modus ist also über die Wahl des Lernortes sowie über die Zusammensetzung der CoP gestaltbar. Weiterhin wirkt der Sozialraum als Gegenstand des Lernens und bildet auf diese Weise einen Modus ab, über welchen sozialräumliches Lernen stattfinden und in seiner Situiertheit gestaltet werden kann. Auch Verschränkungen der Realitätsebenen gestalten das Lernen inhaltlich: Ein Sujet kann in der analogen Welt anders realisiert werden als in der imaginären bzw. kann das gleiche Sujet seine Bedeutungszuschreibung im Wechsel von digitaler Welt in analoge Welt verschieben. So
3.3 Genese eines Arbeitsverständnisses von sozialräumlichem Lernen
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wirkt das Sujet „Berührung“ analog und real über eine mögliche körperliche Erfahrung; digital wird daraus ein berührungsloser Neologismus des „gruschelns“ – einer Wortneuschöpfung aus den begriffen „grüßen“ und „kuscheln“ – die dennoch ähnliche Empfindungen auslösen kann, wie die reale habtische Erfahrung. Im imaginären Raum der Kunst und Musik bzw. im fiktionalen Raum der Literatur und des Theaters findet das Sujet „Berührung“ dagegen eine ganze Palette symbolischer Übertragungen, die unter Umständen auf das „Gruscheln“ des digitalen Raums referieren können und ihren Ursprung in der tatsächlichen Empfindung der realen, analogen, non-fiktionalen Welt nehmen. Die Ebenen, auf welchen Lernen stattfindet, lassen demzufolge Möglichkeiten der Gestaltung sozialräumlichen Lernens zu. Neben dem Lernzugang, dem Lerninhalt und der Lernebene schafft die Lernform einen weiteren Modus der Realisierung. Fächerübergreifende, interdisziplinäre oder aber auch projektorientierte Formen des Lernens generieren Verknüpfungen zwischen den einzelnen CoP’s der Fachdidaktiken bzw. zwischen der CoP der Lerngemeinschaft und einem Themenkomplex, der über sozialräumliche Bezüge außerhalb der Lerngemeinschaft gebildet wird. Realitätsebenen: Wo kann sozialräumliches Lernen stattfinden? „Die virtuelle Welt bildet in dieser Hinsicht nicht das Gegenteil der Realität, sondern die virtuelle Welt ist oftmals durch die Fortschreibung, Übernahme und Verstärkung ausgewählter Elemente des Alltags gekennzeichnet, die auch im Alltag besonders bedeutungsgeladen sind: Wettkampf, Jugend, Sportlichkeit, Sexualität, Geschlechterstereotypen, Statussymbole wie schnelle Autos usw.“ (Schwietring 2013, S. 37)
Die Realitätsebenen der sozialen Räume bedingen sich gegenseitig, wie das Beispiel der soziologischen Digitalisierungsforschung zeigt. Die visuell-grafische Struktur des Sozialraums lässt sich aufgrund der Referenz zwischen den existierenden Realitätsebenen auf jede Ebene übertragen. Da sich digitaler, fiktionaler und imaginärer Raum auf Strukturen der analogen, realen, non-fiktionalen Welt beziehen und ihrer Entsprechung in den weiteren Realitätsebenen finden, muss für die Sozialraumstruktur der digitalen und fiktionalen bzw. imaginären Welt die gleiche strukturelle Visualisierung angesetzt werden. Und auch in den weiteren Realitätsebenen steht das lernende Subjekt im Mittelpunkt des sozialen Raumen und integriert diesen zu Teilen als Bestandteil seines Selbst. Das Arbeitsverständnis setzt für das sozialräumliche Lernen demnach einen sozialen Hyperraum an, in welchem die Sozialraumstruktur ihre Entsprechung auf verschiedenen miteinander verschränkten Ebenen findet (Abbildung 3.7):
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
analoger – non-fiktionaler - realer Raum
Figurations-Ebene Situations-Ebene
Interaktions-Ebene
fiktionaler Raum
imaginärer Raum
Ebene des absoluten Raumes
Individuum
relationaler Raum Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung
CoP
digitaler Raum
Abb. 3.7 „Relationales Raum-Verständnis des Hyperraum“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
Für das sozialräumliche Lernen werden vier Realitätsebenen relevant: die analoge Welt, welche in Abgrenzung zu den weiteren Ebenen auch als non-fiktionaler Raum resp. Welt beschrieben werden kann bzw. als Abgrenzung zum imaginären Raum auch als reale Welt. Dem analogen Raum steht nun der digitale Raum gegenüber, welcher auf einem spezifischen Code basierend in der analogen Welt gebaut wird und über diese seine Nutzung findet. Diego Compagna und Stefan Derpmann (2013) beleuchten in ihrem Sammelband digitale Spiele als Facette des digitalen Raumes und stellen die Bezüge zu gesellschaftlichen Dimensionen der analogen Welt in den Fokus ihrer wissenschaftlichen Betrachtung. Sie bezeichnen dabei die digitale Realität als soziale Wirklichkeit und untersuchen Interaktionsmöglichkeiten im sozialen Raum der digitalen Welt. Daher sind digitale Tools wie Games und Wikis auch als Formen des sozialräumlichen Lernens zu begreifen. Parallel zum digitalen Raum lassen sich Sozialräume der fiktionalen und imaginären Welt beschreiben. Fiktionale Räume finden sich in fiktionalen Büchern, in
3.3 Genese eines Arbeitsverständnisses von sozialräumlichem Lernen
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literarischen Texten und in dramatischen Stoffen des Theaters. Fiktionale Räume werden durch soziale Räume der analogen Welt geschaffen und wirken auf diese zurück. Dabei bildet die Auseinandersetzung mit fiktionalen Sozialräumen immer auch einen Zwischenraum zwischen fiktionalen Strukturen und rezipierendem Individuum. Je nach Tiefe der Lektüre oder Rezeption des Theaterstückes findet eine produktive Auseinandersetzung zwiWie auch der digitale und derschen innerer Realität des rezipierendem Individuums und äußerer Realität der fiktionalen Welt statt (vgl. Kiehl 2006; Bude 2017). Georg W. Bertram (2010) spricht von einer Selbstbezüglichkeit, die über die Literatur geschaffen werden kann: „Die Auseinandersetzung mit Literatur führt oftmals zu einer veränderten Weltsicht. Literarische Texte vermitteln Einsichten in Bezug auf die Welt außerhalb dieser Texte, so dass – phänomenologisch gesprochen – die Lektüre eines literarischen Texts vielfach in Situationen nachhallt, in denen man nicht direkt mit dem Text konfrontiert ist.“ (ebd., S. 393)
Effekte, welche durch die Rezeption – und zu Teilen auch durch die Schaffung – literarischer Formen eintreten, wirken auf das Individuum zurück. Die Katharsis als Reinigung oder eine mögliche Distanz zu fiktionalen Räumen wirken als Katalysatoren der Reflexion. Aufbauend auf diesen Prinzipien wirken die vermittelnden Formen der Poesie- und Bibliotherapie, die speziell im anglo-amerikanischen Raum als anerkannte Therapieformen zum Einsatz kommen. Wesentlich dabei ist die Nähe des literarischen Stoffes zu vorhandenen Sinnbildern des*der Lesenden, um reflexive Prozesse im Subjekt anstoßen zu können. Dieses Prinzip des fiktionalen Raumes nutzt Robert L. Selman (2003) zur Stärkung der Moralentwicklung durch eine Perspektivübernahme mit literarischen Figuren (vgl. Kenngott 2010). Neben den fiktionalen Sozialräumen lassen sich imaginäre Sozialräume bestimmen. Diese ergeben sich über die Schaffung von Kunst oder Musik sowie über deren Rezeption. Aber auch der Traum, speziell in den Formen des Tagtraumes oder des luziden Träumens, bildet einen imaginären Sozialraum, in welchem das Individuum in eine Auseinandersetzung mit innerer und äußerer Realität geht. Am Prozess der Kritischen Kunstvermittlung lassen sich Möglichkeiten der Reflexion durch Kunst und Musik erschließen. Wie auch der digitale und der fiktionale Raum weist der imaginäre Raum die Spezifik auf, dass er über die analoge Welt erschaffen und erschlossen wird und alle Strukturelemente der analogen Sozialraumstruktur in sich selbst subsumiert. Die Diskussion inwieweit Kunst sozial oder sogar politisch ist, wird regelmäßig in den Feuilletons geführt. Dabei ist der Prozess des Kunstschaffens ebenso wie der Prozess der kunstästhetischen Rezeption stets von
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sozialer Natur – im weitesten Sinne sogar politischer Natur, wenn das Verständnis von „politisch“ bereits interaktive Prozesse innerhalb der Lebenswelt zweier Menschen beschreibt. Am Kunstverständnis des „Bauhauses“ lassen sich sozialräumliche Bezüge besonders gut ableiten. Als Kollektiv von Künstler*innen stand und steht in der Programmästhetik des Bauhauses die Auseinandersetzung mit analogen, gesellschaftlichen Gegebenheiten im Fokus. Bauhaus-Künstler*innen standen zu allen Zeiten unter Einfluss realpolitischer Gegebenheiten oder anders gesagt: BauhausKunst ist eine situierte Kunst. Gerade deshalb fungierte das Bauhaus als Ort der Kunst sowie als Kommunikationsraum zwischen Künstler*innen und Bürger*innen jenseits des Kunstsektors. Imaginäre Sozialraumstrukturen werden zu großen Teilen durch die äußere gesellschaftliche sowie durch die innere subjektive Realität der analogen und imaginären Welt beeinflusst und entwickelt. Ihre Repräsentation findet der reflexive Zwischenraum in Werken der Kunst, der Musik oder des Traums. Wer sich nun in den reflektierenden und zudem vergleichenden Prozess beider Bilder begeben hat, hat sich in einen sozialräumlichen Prozess begeben und versucht, die imaginäre Struktur Röhls auf die grafische Struktur Hurrelmanns und das subjektive Wissen zum Modell der produktiven Realitätsverarbeitung zu beziehen. Die Realitätsebenen wurden miteinander verschränkt, ein sozialräumlicher Lernprozess hat stattgefunden. Das praktische Beispiel soll exemplarisch die Möglichkeiten klassischer Fächer wie „Deutsch“, „Musik“ und „Kunst“ widerspiegeln, aber zudem belegen, welchen künftigen Stellenwert das Fach „Informatik“ über das Wissen und die Fähigkeit zur Gestaltung digitaler Strukturen einnehmen wird. In ihrer Verschränkung bilden die Fachdidaktiken ein probates sozialräumliches Lernsetting ab. Das sozialräumliche Lernen „bricht bewusst eine Lanze“ für die kleinen „Nebenfächer“ und möchte das scheinbar immer noch verborgende Potential dieser Didaktiken aufzeigen. Qualitätsmerkmale: Was fördert sozialräumliches Lernen und dessen Lernerfolg? Die beschriebenen Kennzeichen und Modi können als Qualitätsmerkmale angesetzt werden und werden zudem durch weitere Kriterien gestützt. Dabei greift die Arbeit auf vorhandene Beschreibungen zur Gestaltung sozialraumorientierter Arbeit (Hinte 2017; Hinte/Treeß 2014) sowie zur Umsetzung von Service-LearningProjekten zurück (Seifert/Nagy 2014; Billig/Weah 2008, Reinders et al. 2017). Obwohl sozialräumliches Lernen – wie die Beschreibung der Lernform gezeigt hat – nicht zwingend an das Lernen und Erleben im außerschulischen Sozialraum der analogen Welt gebunden ist, liefern die bestehenden Untersuchungen eines informellen und non-formalen Lernens jenseits der Schule Anhaltspunkte für die Konzeption grundlegender Qualitätsmerkmale sozialräumlichen Lernens. Dabei
3.3 Genese eines Arbeitsverständnisses von sozialräumlichem Lernen
87
werden Bedarfsorientierung, curriculare Anbindung, Feedback und Reflexion sowie eine Lernbegleitung „auf Augenhöhe“ zu wesentlichen Qualitätsmerkmalen. Im Stichwort der Bedarfsorientierung werden Aspekte des Lernendenwissens, der Lernendeninteressen und vorhandener Ressourcen der Lernenden zentral. Das sozialräumliche Lernen versucht sich an diesen Punkten auszurichten, um Bezüge der Lernenden-Lebenswelt in das Setting einzubinden. Das impliziert auch, dass der Lernprozess bereits in seiner Konzeptionsphase gemeinsam mit den Lernenden gestaltet werden sollte – sofern die Möglichkeiten einer gemeinsamen Konzeptionsund Planungsphase bestehen. Themenstellungen, die der Lebenswirklichkeit der Lernenden entsprechen, schaffen die Bereitschaft das sozialräumliche Setting anzunehmen und es mitzugestalten. Die intrinsische Motivation wird geweckt, wodurch die Bereitschaft das Erleben in die Reflexion zu überführen gestärkt wird. Auch Themenstellungen, die eine Spezifik der Schule, ihrer Schulkultur oder auch eine Besonderheit der Region bzw. des Stadtteils abbilden, lassen sich als Kennzeichen der Bedarfsorientierung nennen. Denn selbst wenn der*die Lernende das Thema der äußeren Realität nicht explizit benennt, wirkt es doch über Sozialisationsprozesse auf die innere Realität der*des Lernenden zurück. Ein weiteres Qualitätsmerkmal sozialräumlichen Lernens ist die curriculare Anbindung des Lernprozesses: zum Beispiel über die Form des Projektunterrichts, welcher sich in seiner Gestaltung an Lerninhalten des Lehrplans ausrichtet. Speziell die sozialräumliche Lernform des Service Learning nennt die curriculare Anbindung als notwendige Bedingung des Lernprozesses, um die Lernsituation auf Lernziele hin überprüfen zu können (vgl. Billig/Weah 2008, S. 10). Gleichzeitig schafft die Ausrichtung auf Lehrplanvorgaben Orientierungspunkte und Meilensteine, die in der Konzeptionsphase des Lernsettings eine Strukturierung des Lernprozesses ermöglichen, den beteiligten Lehrenden Orientierung bieten und die Analyse über eine Lernzielkontrolle stützen. Analog zur curricularen Anbindung sind die kontinuierliche Reflexion und das begleitende Feedback zu bewerten. Die Lehrenden brauchen Möglichkeiten, in den sie die gesammelten Erfahrungen reflektieren können, damit aus der Sozialisationserfahrung über die Reflexion ein informeller Lernprozess wachsen kann. Parallel dazu ist das Feedback für alle Beteiligten essentiell, um Erlebtes und Reflexion in neues Wissen bzw. in neue Kompetenzen überführen zu können. Das Feedback ermöglicht einen dialektischen Prozess, welcher die Reflexion stützt und die Verarbeitung der Lernerfahrung in neues Wissen stärkt. Das Feedback gibt zudem eine Orientierung und entspricht einer kontinuierlichen Lernbegleitung, wobei das Feedback sowohl von Lehrenden als auch von Lernenden kommen kann und an alle Beteiligten gehen muss. Die Lernbegleitung bildet ein eigenständiges Qualitätsmerkmal, welches sich vor allem durch den Zusatz und das Merkmal „auf Augenhöhe“ auszeichnet. Wie
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
bereits die Einblicke in die Soziologie der Weltbeziehungen über das Konzept der Resonanz gezeigt haben, kann der Prozess der Aneignung nur dann erfolgen, wenn ein resonantes Verhältnis zwischen Lehrendem und Lernenden geschaffen wird. Gleichberechtigung und Wertschätzung bilden dabei die Basis: „[…] Schule wird zum Resonanzraum, wenn es gelingt, die Resonanzachse zwischen Schülern und Lehrern zu öffnen. Und das geht über Sozialbeziehungen.“ (Rosa/Endres 2016, S. 20) Eine gleichberechtigte Lernbeziehung schließt dabei die Verantwortungsübernahme und Steuerung des Gesamtprozesses durch die Lehrenden nicht aus, aber sie involviert das Grundverständnis, dass auch Lehrende Fehler machen und Unrecht haben bzw., dass Lernende in der Lage sind, selbstbestimmt und eigenverantwortlich den Lernprozess zu durchlaufen. Das figurative Prinzip des Machtbehälters Schule wird im sozialräumlichen Lernen abgeflacht. Dieses Kapitel hat sich der fünften Forschungsfrage gewidmet und diese umfassend beantwortet. Forschungsfrage Was versteht man unter sozialräumlichem Lernen und wie lässt sich diese Lernform gestalten?
Die Arbeit leitet eine Definition sozialräumlichen Lernens als methodischdidaktischen Ansatz der fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung ab und stellt Merkmale und Qualitätsbausteine dieser Lernform vor, die im Folgenden an etablierten und modernen Formen des Lernens im sozialen Raum exemplarisch vertieft werden.
3.4
Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
3.4.1
Demokratiepädagogik: Service Learning
“Die Idee des Service-Learning, die inzwischen Einzug in die Schulprogramme und die Curricula vieler nordamerkianischer Schulen und Colleges gefunden hat, hat immer zwei Komponenten: Zum einen bedeutet Service-Learning Handeln in Form von Projekten zur Verbesserung der Lebensqualität bestimmter sozialer Gruppen in der Gemeinde; zum anderen umfasst Service-Learning immer auch die individuelle und gemeinsame Reflexion auf dieses Lernen durch Diskussionen, Tagebuch-Schreiben oder andere reflexive Aktivitäten in der Gruppe (Metakognitive Aktivität). ServiceLearning definiert sich durch das bewusste Zusammenspiel von problemlösendem und projektorientiertem Handeln mit der bewussten Reflexion der Lernerfahrung im Handeln.” (Edelstein/Fauser 2001, S. 41)
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
89
Bereits 2001 greifen die Demokratiepädagogen Wolfgang Edelstein und Peter Fauser Service Learning als demokratiebildenden Baustein in ihrem Gutachtem zum Bundesprogramm „Demokratie lernen und leben“ auf und beschreiben dabei eine idealtypische Form sozialräumlichen Lernens: kollaborative Lernerfahrungen, welche über die Reflexion von Sozialisationserfahrung in den informellen Lernprozess überführt und an das formelle Lernen des Fachunterrichtes gebunden werden. Über fünfzehn Jahre später bildet Service Learning eine etablierte interdisziplinäre Lernform, die speziell in Sachsen-Anhalt durch die Forschungen an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg (Speck et al. 2007; Backhaus-Maul/Roth 2013; Backhaus-Maul et al. 2015) und über die Aktivitäten der Freiwilligenagentur Halle/Saale e.V. (vgl. Speck et al. 2007; Backhaus-Maul et al. 2015) Verankerung in den Lehrplänen des Bundeslandes gefunden hat (vgl. Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 7; 2013, S. 17; 2012b, S. 15 f.; 2010, S. 11). Die US-amerikanische Tradition des Lernens durch Engagement im Gemeinwesen geht auf das pädagogische Verständnis John Deweys zurück, der im Lernen über die Erfahrung den Kern einer umfassenden humanistischen Bildung erkennt und beschreibt (Dewey 1986 [1938]; 2002 [1910]). Im Zentrum dieser Lernmethode steht die Vermittlung von Werten und fächerübergreifenden Kompetenzen. Obwohl es sich bei Service Learning nicht um eine explizite Lernmethode der Demokratiepädagogik handelt, bildet die Demokratiebildung über die Beschreibung ihrer Demokratie-Kompetenzen (vgl. Himmelmann 2005; Abschnitt 4.2.5 der vorliegenden Arbeit) eine breite Palette fächerübergreifender, demokratiebildender Kompetenzen ab. Diese wiederum referieren auf weite Teile der Bildungswissenschaft bzw. Sozialwissenschaften und nehmen Bezug auf Forschungsfelder weiterer Wissenschaftler*innen, die im deutschsprachigen Raum zu Service Learning forschen (vgl. Altenschmidt/Stark 2016; Backhaus-Maul/Roth 2013; Backhaus-Maul et al. 2015; Reinders 2016; Reinders et al. 2017; Seifert 2011; Seifert/Nagy 2014; Sliwka 2004). Daher betrachtet die vorliegende Arbeit Service Learning im Verständnis einer Methode der Demokratiebildung, wie sie auch durch Seifert/Nagy (2014) als Form zur Stärkung der Demokratie-Kompetenz beschrieben wird. Mit Blick auf die Wertebildung wird Service Learning als Option beschrieben, den begrenzten soziomoralischen Lernmöglichkeiten des schulischen Raums durch eine Öffnung der Schule entgegenzuwirken (Kenngott 2010, S. 207). Über den Dienst am Gemeinwesen, welcher als Unterricht fungiert und curricular angebunden ist, werden fächerübergreifende Kompetenzen gestärkt. Eine reine Vermittlung von Wissen ist dabei eher sekundär, vielmehr geht es um die praktische Erprobung und Anwendung von Wissen sowie um das Lernen in fremden Lebenswelten. Anne Sliwka (2004) legt eine der ersten Publikation zu Service Learning im deutschsprachigen Raum vor und sieht in der Methode vor allem einen Ansatz zu Stärkung der
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung. Sliwka verweist auf die größtenteils positiven Effekte wie sie in diversen US-amerikanischen Studien erhoben werden konnten (ebd., S. 8 ff.). Die US-amerikanische Wirkungsforschung belegt positive Auswirkungen auf das Lernverhalten der Lernenden, einen fördernden Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung, einen Zuwachs innerhalb der beruflichen Orientierung sowie eine Stärkung der Wertebildung (ebd., S. 11). Parallel entwickelt Service Learning die Lehrenden-Rolle differenzierter, indem die konstruktivistische Methode ein resonantes Verhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden stützt: „‚Vorher war sie nur Lehrerin, jetzt ist sie Kontaktperson. Man kann mit ihr reden, sie um Hilfe fragen.‘“ (Ebd., S. 22) Über zehn Jahre später nimmt Heinz Reinders (Reinders et al. 2017) Bezug auf die Grundlagenforschung Anne Sliwkas und resümiert zur Wirkungsforschung im deutschsprachigen Raum: „Für Schulen und SchülerInnen in Deutschland liegen sporadische Befunde vor (z.B. Seifert, 2012 [Seifert 2011, Anmerkung CK]; Sliwka, 2004; Speck, Ivanova-Chessex & Wulf, 2013), die zumindest einmal nicht gegen diese These sprechen. Konkrete empirische Belege für die Wirksamkeit von hiesigem Service Learning bei SchülerInnen existieren bislang jedoch nicht.“ (ebd., S. 24)
Tatsächlich bleiben die deutschsprachigen Studien in ihrer Euphorie hinter der USamerikanischen Forschung zurück. 2007 veröffentlichen Karsten Speck und Holger Backhaus-Maul ihren Evaluationsbericht der Engagement-Projekte „Szenenwechsel“ und „Lebenswelt“. Beide Projekte wurden in Sachsen-Anhalt im Rahmen des Programms „Engagement macht Schule“ in Kooperation zwischen der „Freiwilligenagentur Halle/Saale e.V.“ und der „Deutscher Kinder- und Jugendstiftung“ umgesetzt. Die Autoren merken an, dass in den Projekten die „curriculare Einbindung der Lernerfahrungen fehlt“ (Speck et al. 2007, S. 25 f.). Der Schwerpunkt der Evaluation liegt auf der Analyse fördernder bzw. hemmender Faktoren einer Umsetzung und Implementierung von Service Learning innerhalb der programmteilnehmenden Schulen. Eine der ersten deutschsprachigen Studien zur Wirkungsforschung von Service Learning bildet die Dissertation von Anne Seifert (2011), die Service Learning als Methode der Lebenskompetenzstärkung im Kontext der Resilienzförderung untersucht. Allerdings setzt Seifert in ihrer Erhebung den Fokus auf Lehrende und versucht, über Interviews mit diesen die Schnittstellen zwischen Service Learning und Resilienzförderung aufzuzeigen. Sie beschreibt darüber Strategien des Lehrendenhandelns, welche Service Learning als Methode der Resilienzförderung stützen. Im Ergebnis ihrer Arbeit entwickelt die Autorin ein Synthese-Modell
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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beider Ansätze über die Verbindung mit dem Ökosystemischen Ansatzes Urie Bronfenbrenners (1993 [1979]). Diesen Ansatz Bronfenbrenners beschreibt Ulrich Deinet (2014) als eine zentrale Theoriegrundlage des Aneignungskonzeptes. Daher kann Seiferts Verständnis von Service Learning als sozialräumliche Lernform zur Stärkung von Lebenskompetenz auch auf das Konzept der Aneignung bzw. Anverwandlung übertragen werden: Aneignung von Sozialraum – oder wie es Rosa beschreibt: die Anverwandlung von Welt – bildet das wesentliche Prinzip von Service Learning und trägt das Potential zur Resilienzförderung über ihr konstruktivistisch-sozialisationstheoretisches Moment der selbsterschließenden Sozialraumerfahrung bereits in sich. Grundlage für eine gelingende Erschließung von sozialem Raum ist dabei die Möglichkeit der autonomen Erfahrung durch die Lernenden, welche in Begleitung durch die Lehrenden ermöglicht werden muss. Seifert benennt daher explizit den Aspekt der Gestaltung von Beziehungen als Kern eines resilienzfördernden Service Learning-Ansatzes (Seifert 2011, S. 157 ff.). Die Autorin verweist auf den Beziehungsaspekt zwischen Lernenden und Lehrenden und benennt ihn als zentrales Qualitätsmerkmal, welches stärker in der Umsetzung von Service Learning-Projekten Berücksichtigung finden muss (ebd., S. 271). In einem Aufsatz zur Wirkungskraft von Service Learning auf Bildung und Gesellschaft verweisen Karsten Altenschmidt und Christiane Roth (2012) auf Wirkungseffekte innerhalb unterschiedlichster Zielgruppen: Innerhalb der Gruppe der Lernenden greifen Prinzipien des Erfahrungslernens, wie sie durch John Dewey bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben werden. Damit nehmen Altenschmidt/Roth das konstruktivistische Grundprinzip sozialräumlichen Lernens auf, über welches Sozialisationserfahrungen mit Hilfe einer begleitenden Reflexionsarbeit in informelle Lernerfahrungen überführt werden. Sie verweisen jedoch – wie auch andere deutschsprachige Studien (vgl. Reinders et al. 2017; Speck et al. 2012) parallel – auf ein heterogenes Verständnis von Service Learning und seiner Umsetzung, wodurch sich im deutschsprachigen Raum keine signifikanten Einstellungsveränderungen und Kompetenzzuwächse in einer Meta-Analyse bei den Lernenden erheben lassen. In einer Evaluationsstudie zu Service LearningProjekten im MINT-Bereich (Reinders et al. 2017) kann die Forschungsgruppe um Heinz Reinders jedoch einen Zusammenhang zwischen sozialer Handlungsfähigkeit, Reflexionsvermögen und Werteerfahrung herausstellen. So können die Forscher*innen resümieren, dass „eine Schlüsselrolle […], so die wichtigste Schlussfolgerung, der systematischen Umgangsweise mit Reflexionsprozessen“ (ebd., S. 116) zukommen muss. Dass bedeutet, dass eine bewusste Einbindung von Eigentätigkeit der Lernenden in den Lernprozess sowie die kontinuierliche Reflexion der Lernerfahrung wesentliche Elemente sind, die Service Learning als Methode der Kompetenzentwicklung stützen. Eine Wirkungsstudie im Auftrag des
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
„Aktiven Bürgerschaft e.V.“ (Speck et al. 2013) belegt den Einfluss auf das soziale Lernen der Schüler*innen über subjektive Einschätzungen der Lernenden sowie über die Perspektive der Projektverantwortlichen. Dabei werden dem sozialen Lernen durch beide Zielgruppen verstärkt Wirkungseffekte zugesprochen; die Wirkkraft auf Berufsorientierung und das schulische Lernen bleibt dagegen sekundär (ebd., S. 44 ff.). Neben Effekten auf die Gruppe der Lernenden wirkt Service Learning auf Lehrende über ein erweitertes Rollenverständnis als Lernbegleiter*in, als Vertreter*in der Schule als Institution sowie als Bürger*in und somit Teil der Zivilgesellschaft (vgl. Altenschmidt/Roth 2012, S. 46 f.). Über die Öffnung des schulischen Lernens in den sozialen Raum der Gemeinde finden Wirkungseffekte im sozialen Nahraum statt. Die Schule und ihr soziales Umfeld bilden im Prozess des Service Learnings eine spezifische Community of Practice, deren Ressourcen kollaborativ genutzt und gestaltet werden können. Ganz im Sinne einer schulischen Sozialraumorientierung ergeben sich über die Kooperation zwischen Schule und städtischen bzw. ländlichen Sozialraum Möglichkeiten der gemeinsamen Aneignung bzw. Anverwandlung, indem die Zusammenarbeit Achsen wechselseitiger Resonanz geniert. Formelle und non-formale Lernprozesse werden über die informelle Lernerfahrung verbunden. Da der soziale Nahraum eine Teilmenge des Gemeinwesens darstellt und verschiedenste Teilsysteme subsummiert, wirkt Service Learning in einem sozialisationstheoretischen Sinne auf die Gesellschaft zurück. Persönlichkeitsentwicklung des Lernenden und Vergesellschaftungsprozesse werden über diese Form sozialräumlichen Lernens gestützt und verbunden (vgl. Altenschmidt/Roth 2012, S. 49 f.). Im demokratiepädagogischen Sinne bildet der Kooperationsraum zwischen Schule und Sozialraum eine komplexe Lebenswelt ab, deren Erleben zugleich Wirkkraft auf die Schule als Organisation und ihre Strukturen haben kann (vgl. Fauser 2013; Altenschmidt/Roth 2012, S. 48 f.): Kooperationen erfordern demokratische Strukturen, die entwickelt und gelebt werden müssen. Das Prinzip des gemeinsamen Lernens kann somit auf die Schule, ihre Schulkultur sowie ihre Organisationsentwicklung zurückwirken, hat das Wirkprinzip von Service Learning erst einmal in Teilen des Schulkollegiums Verankerung gefunden. Eine besondere Form der Gestaltung von Service Learning-Projekten bildet der Ansatz des Community Based Research (CBR). Die Besonderheit von CBR liegt in der gemeinsamen Arbeit von Wissenschaft und Zivilgesellschaft als Teilsysteme des Gemeinwesens. Dabei werden Problemstellungen und Herausforderungen des Sozialraums aufgegriffen und mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden durch die Partnerschaft untersucht bzw. wird innerhalb der problemspezifischen CoP gemeinsam nach Lösungen geforscht. Über die Einbindung von Studierenden wird CBR zum sozialräumlichen Lernansatz innerhalb der Hochschulbildung und
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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bildet für alle engagierten Mitglieder dieser spezifischen CoP einen Wissenszuwachs ab, der gleichzeitig in der Praxis des Sozialraums seine Anwendung oder Nachnutzung findet. Ähnlich wie Corporate Social Responsibility (CSR) als Handlungsansatz der Wirtschaft nimmt CBR eine Schnittstellenfunktion zwischen Wissenschaft/Forschung und Gesellschaft ein. Der Lernansatz von CBR entspricht einer Sozialisationserfahrung und fungiert über die Reflexion als informelle Lernform, welche sich an formelle und non-formale Lernprozesse anschließt. Mitglieder des Hochschulbereichs erhalten die Möglichkeit, Wissen in möglicherweise bisher fremden Sozialraumstrukturen zu entwickeln. Der CBR-Ansatz ermöglicht die Aneignung bzw. Anverwandlung dieser neuen sozialräumlichen Strukturen und schafft eine neue Resonanzachse, deren Verbindung im Optimalfall unterstützend wirkt, gesellschaftliche Strukturen über Kausalitätsketten neu zu bewerten und Handlungen entsprechend der gemeinsamen Forschungsergebnisse auszurichten. „CBR strebt soziales Handeln und sozialen Wandel an mit dem Ziel, soziale Gerechtigkeit zu schaffen.“ (Anderson et al. 2016, S. 24) CBR bildet über seine Brückenfunktion zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft das direkte Bindeglied zwischen Service Learning und Citizen Science – der Bürgerwissenschaft – die im Folgenden als neue und teilweise unbekannte Form sozialräumlichen Lernens beschrieben wird.
3.4.2
MINT: Citizien Science
Der Citizen Science-Ansatz wechselt die Perspektive gegenüber dem CBR-Ansatz: Die Bürgerwissenschaft ermöglicht einen wissenschaftlichen Mehrwert durch die forschende Tätigkeit von wissenschaftlichen Laien aus der Zivilgesellschaft heraus. Der wissenschaftliche Mehrwert wird dabei in einen gesellschaftlichen Mehrwert überführt. Schule als Lernwelt bildet hier nur eine mögliche Adressat*innenGruppe ab, verfügt aber über die Schnittstelle der Lehrkraft als verbindende*n Expert*in zwischen den Teilsystemen bzw. Sozialräumen über optimale Zugangsvoraussetzungen, um die Bürgerwissenschaft als sozialräumliche Lernform in ihre Schulkultur und in ihren Unterrichtsalltag zu integrieren. Aus Perspektive der in Citizen Science-Projekte involvierten Hochschulen und Forschungseinrichtungen wird die Frage eines modernen Verständnisses von Wissenschaftskommunikation zentral: Welche Möglichkeiten ergeben sich aus der aktiven Zusammenarbeit mit Bürger*innen – im Speziellen mit Schüler*innen – um in einer Community of Practice jenseits fachwissenschaftlicher Sozialräume Wissen zu kommunizieren und dabei zu modifizieren? Citizen Science bildet somit ein zentrales sozialräumliches Lernsetting ab, welches die Frage zum Umgang mit Wissen bzw.
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Nicht-Wissen an gesellschaftliche Partizipations- und Gestaltungsprozesse koppelt. Indem es einen weitreichenden Austausch zwischen Wissenschafts-Expert*innen und Wissenschafts-Laien innerhalb der CoP ermöglicht, führt es den thematischen Gegenstand der CoP einen öffentlichen Diskurs zu. Obwohl auch innerhalb der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften anwendbar (vgl. Pettibone et al. 2016; Oswald/Smolarski 2016), bleibt die Bürgerwissenschaft bisher eine Domäne der MINT-Bereiche, so dass Citizen Science im Rahmen der vorliegenden Arbeit als sozialräumliche Lernform der MINT-Fächer mit Auswirkungen auf den schulischen Kontext untersucht und dargestellt wird. Speziell vor dem Hintergrund, dass eine Vielzahl der Citizen Science-Projekte im Umweltbereich angesiedelt sind (vgl. Richter et al. 2016), kann die Bürgerwissenschaft bisher als Domäne der Technik- und Umweltforschung beschrieben werden. So verwundert es auch nicht, dass das Umweltbundesamt als ein wesentlicher bundesdeutscher Schnittstellenakteur zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit Citizen Science bereits als Forschungsansatz für die eigene Ressortarbeit untersucht und daraus Handlungsansätze für die weiterführende Arbeit als Forschungseinrichtung und Behörde ableitet (Umweltbundesamt 2017). In Deutschland bildet die Bürgerwissenschaft resp. Citizen Science eine noch recht junge Form sozialräumlichen Lernens. So haben sich verschiedene Forschungseinrichtungen und Konsortien unter dem Programmnamen „GEWISS. Bürger schaffen Wissen“ zusammengeschlossen, um Citizen Science zu erproben, zu untersuchen und als methodische Schnittstelle aktiver Gestaltung gesellschaftlicher Fragestellungen in Deutschland zu verbreiten. Neben Handlungsleitfäden und Multiplikator*innen-Handreichungen wurde 2016 das „Grünbuch. Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland“ entwickelt. Die darin enthaltene Definition der Bürgerwissenschaft gibt Orientierung und belegt die Schnittstellenfunktion des sozialräumlichen Ansatzes als Bindeglied zwischen Forschung, Beteiligung, Transfer und nachhaltiger Gestaltung: „Citizen Science beschreibt die Beteiligung von Personen an wissenschaftlichen Prozessen, die nicht in diesem Wissenschaftsbereich institutionell gebunden sind. Dabei kann die Beteiligung in der kurzzeitigen Erhebung von Daten bis hin zu einem intensiven Einsatz von Freizeit bestehen, um sich gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftlern und/oder anderen Ehrenamtlichen in ein Forschungsthema zu vertiefen. Obwohl viele ehrenamtliche Forscherinnen und Forscher eine akademische Ausbildung ausweisen, ist dies keine Voraussetzung für die Teilnahme an Forschungsprojekten. Wichtig ist allerdings die Einhaltung der wissenschaftlichen Standards, wozu vor allem Transparenz im Hinblick auf die Methodik der Datenerhebung und die öffentliche Diskussion der Ergebnisse gehören.“ (GEWISS 2016, S. 13)
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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Zentral ist dabei der sozialräumliche Ansatz des Lernens innerhalb einer Community, die anders als die etablierte Wissenschafts-Community, die wissenschaftlichen Laien der Zivilgesellschaft integriert. Über neue Interaktionswege und -formen verschieben sich für die teilnehmenden CoP-Mitglieder die figurativen Ebenen. So kann es passieren, dass ein*e etablierter Hochschullehrer*in innerhalb der CoP ihren bzw. seinen Status als erfahrener old-timer mit einem Bürger bzw. einer Bürgerin teilen muss. Es werden neue Interdependenzen generiert, die im Wissenschaftsund Alltagsleben jenseits des Citizen Science-Vorhabens keine Resonanz gefunden hätten. Es bildet sich eine Gruppe, die heterogen ist und ihr Rollenverständnis neu aushandeln muss. Dieser Aushandlungsprozess bildet die Herausforderungen eine Gesellschaft der Vielfalt ab, wenn auch nur innerhalb eines begrenzten sozialräumlichen Ausschnittes. Die Anforderungen an die CoP-Mitglieder entsprechen dabei jedoch den Entwicklungsaufgaben innerhalb der Zweiten Moderne, speziell dann, wenn etablierte Strukturen eine Integration von Nicht-Gruppenmitgliedern fordern und die eigene Verantwortung innerhalb des Integrations- bzw. Exklusionsprozesses kritisch hinterfragt werden muss oder die strukturelle Reflexion Strukturdefizite im Integrationsprozess offenlegt. Die öffentliche Diskussion des Forschungsprozesses und der entsprechenden Ergebnisse erweitert den sozialen Raum der CoP und weitet diese auf mögliche passive Beobachtende aus (vgl. GEWISS 2016, S. 16 ff.). Die Bürgerwissenschaft ermöglicht also einen sozialen Kommunikationsraum, der weit über den Wissenschaftsraum hinaus geht und das Feedback und die Reflexion Dritter fordert, um die Forschungsergebnisse produktiv in den gesellschaftlichen Raum zurückführen zu können. Citizen Science fungiert also als Lernsituation mit hoher Reichweite und hebt die Grenzen der Informationsblockade zwischen Expert*innen und Laien, welche ein typisches Merkmal etablierter Wissenschaftskommunikation abbildet, zu großen Teilen auf – sofern relativ barrierefreie Kommunikationswege wie das Internet genutzt werden. Neben dem breiten transaktiven Gedächtnis und Ressourcen-Pool der CoP fungiert Citizen Science als Ansatz des mündigen Lernens, indem es einen Raum zwischen innerer Realität der Wissenschaft und äußerer Realität der Öffentlichkeit schafft. Der Aspekt des mündigen Lernens, des Lernens als Befähigung zur Orientierung, Erschließung und Aneignung von Wissen übernimmt für die Institution Schule als Bildungseinrichtung und Sozialisationsinstanz eine besondere Funktion: Wenn die Aneignung von Wissen einen Aspekt der Anverwandlung von Welt abbildet, bildet dieser Schritt der Autonomie die Grundlage, um im Zuge des Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung das eigene Handeln über das angeeignete Wissen bzw. die angeeigneten Kompetenzen in eine adäquate Performanz bzw. Handlung zu übertragen. Das Erleben von Umwelt und ihren Einflüssen ist die Basis, um das eigene
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Handeln in ein nachhaltiges Umweltbewusstsein zu überführen. Das ProgrammKonsortium GEWISS (2016) konstatiert daher für die schulische Implementierung von Citizen Science-Ansätzen die mögliche Zunahme von umweltbewussten Einstellungen und Handlungen sowie ein gesteigertes Bewusstsein für umwelt- und gesellschaftsrelevante Themen (ebd., S. 30). Da die Bürgerwissenschaft – zwar „Schule machen soll“ – aber in Deutschland immer noch „in den Kinderschuhen“ steckt, gilt der Mehrwert dieses sozialräumlichen Lernsettings stärker unter demokratiebildenden und sozialisationstheoretischen Aspekten zu verbreiten, damit Handlungsempfehlungen, wie die curriculare Verankerung von Citizen Science in den Lehrplänen oder die Anpassung der Lehrinhalte an Citizen Science (ebd., S. 31), auch auf bildungspolitischer Ebene Handlungsorientierung finden.
3.4.3
Berufspädagogik: Produktionsschule & Produktives Lernen
Der Bundesverband Produktionsschulen (2017) definiert für die Produktionsschule eine Reihe von Güte- und Qualitätskriterien (vgl. auch Kleinikel 2013, S. 7), die zentral für das sozialräumliche Lernen stehen. Zum einen benennt der Bundesverband die „pädagogisch gestaltete Gemeinschaft“ als Grundlage einer „anregenden Lernund Arbeitsatmosphäre“ (Bundesverband Produktionsschulen 2017, S. 8) und verweist mit diesem Qualitätsmerkmal auf die fördernde Lernsituation innerhalb einer sozialen, demokratisch gestalteten Gruppe, welche durch Wertschätzung, produktive Beziehungsarbeit und Partizipationsmöglichkeiten gebildet wird. Zum anderen benennt die Publikation die Arbeit in „multiprofessionellen Teams“ (ebd., S. 9) als übergreifende Ressource aus unterschiedlichsten Wissenszugängen und Fachkompetenzen, um der heterogenen Zielgruppe der Lernenden gerecht werden zu können. Der Qualitätskatalog des Bundesverbandes betont ein drittes Merkmal, welches signifikant für eine Form des sozialräumlichen Lernens ist und über welche, die spezielle Situiertheit der Produktionsschule am deutlichsten wird: „Produktionsschulen sind auf Dauer angelegt und werden durch systematische Netzwerkarbeit und Kooperationen zu einem festen Bestandteil des regionalen Wirtschafts-, Bildungsund Sozialraums.“ (Ebd., S. 9) Das Selbstverständnis der Produktionsschule impliziert bereits die Kooperationen mit Akteur*innen des Gemeinwesens und schafft darüber einen klaren Bezug zum umgebenden Sozialraum der Schule. Die Produktionsschule begreift sich als Bindeglied zwischen schulischer Bildung, beruflicher Bildung und dem Arbeitsmarkt (vgl. Bojanowski 2011; Bojanowski et al. 2011). Ihr Auftrag ist die Schaffung eines formellen und informellen Lernraums als Moratorium für die Zielgruppe der
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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bildungs- sowie sozial benachteiligten Jugendlichen. Dieser Auftrag verlangt über eine Einbindung in lokale Sozialraumstrukturen und reale Wirtschaftsmärkte gleichzeitig eine hohe Handlungsorientierung von den Lernenden und den begleitenden Fachkräften. Um diesen Spagat zu gewährleisten – das heißt, um innerhalb der Produktionsschule die Marktrisiken gering zu halten und um gleichzeitig den teilnehmenden Jugendlichen ein individuelles Betreuungsnetzwerk schaffen zu können – braucht die Produktionsschule die Vernetzung mit Partner*innen des Gemeinwesens. Dies betrifft Akteur*innen der Kommune ebenso wie Partner*innen der lokalen Wirtschaft oder des regionalen soziokulturellen Raums. Eine Möglichkeit der Vernetzung zwischen inneren Schutzraum der Schule und äußeren Sozialraum des Gemeinwesens bietet die fachliche Begleitung über einen Begleitausschuss bzw. über einen örtlichen Beirat (vgl. Bojanowski et al. 2011, S. 97). Der CoP innerhalb des Produktionsschulraumes sowie der CoP über die Integration der externen Partner*innen kommt im Produktionsschulansatzes eine besondere Rolle zu. Neben dem transaktiven Gedächtnis als Ressource der Lernendengemeinschaft bilden informelle Bildungsprozesse über Sozialisationserfahrungen eine wichtige Säule. Diese spiegeln sich auch im der grundlegenden Zielstellung des berufspädagogischen Ansatzes wider. Sowohl die Zielstellung der Arbeitsmarktaktivierung, das Ziel der schulischen und beruflichen Qualifizierung als auch die begleitende Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmenden werden über Sozialisationserfahrungen und deren Reflexion gestützt. Arnulf Bojanowski hat den dänischen Ansatz der Produktionsschule in Deutschland maßgeblich verbreitet. Bojanowski wirkte bis zu seinem Tod 2013 als Herausgeber zahlreicher Publikationen, als Mitinitiator eines Multiplikator*innen-Konsortiums und als Verfechter eines kontinuierlichen Ansatzes der Entscheidungsträger*innen-Sensibilisierung und Fachkräfte-Qualifizierung. In einer von Bojanowski et al. (2008) herausgegebenen Publikation definiert Bernd Reschke (2008) drei grundlegende bildungspolitische Ziele dieser speziellen Bildungsform: persönliche Autonomie, Sicherung der Humanressourcen sowie Gerechtigkeit und Teilhabechancen (Reschke 2008, S. 24 ff.). Damit definiert Reschke sowohl den Anspruch an eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung als auch die Aufgabe der Ermöglichung dieser, wie sie durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu gewährleisten ist. Die Produktionsschule ist eine stark sozialisationstheoretisch ausgerichtete Lernform, die speziell über die Verbindung zwischen innerem Realität des Individuums mit äußerer Realität der Schule sowie mit äußerer Realität des gemeinwesenund wirtschaftsnahmen Sozialraums Ebenen der produktiven Realitätsverarbeitung schafft: Befragt man Sozial- und Werkstattpädagog*innen von Produktionsschulen bzw. von Programmen, die sich am Produktionsschulansatz ausrichten, werden
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
diese möglichweise die ritualisierte, gemeinsame Mahlzeit als eine zentrale Lernsituation benennen. Erstaunlich viele Teilnehmende kennen dieses Ritual nicht und scheuen die gemeinsame Mahlzeit aufgrund fehlender Erfahrungen aus der Familie. Die Mahlzeit als kommunikative Form des Gemeinsamen muss teilweise neu erfahren und „erlernt“ werden.1 An diesem Beispiel zeigt sich die Gewichtung der Produktionsschule als Sozialisationsinstanz und wie das Konzept des Ansatzes Erziehungs- und Bildungsaufgaben neben informellen Lernerfahrungen in sein Selbstverständnis integriert. Aus Sicht der teilnehmenden Jugendlichen wirkt der Aspekt, der Kooperationen mit externen Partner*innen und deren Rückmeldung als Gewinn der Projektteilnahme. Die Verfasserin dieser Arbeit befragte 2012 Jugendliche, die am Programm „STABIL“2 teilgenommen haben, um im Rahmen einer Hausarbeit des Institutes Bildungswissenschaft der FernUniversität in Hagen den Einfluss des Produktionsschulansatzes auf die Kompetenzentwicklung der Teilnehmenden zu untersuchen. Grundlage der Hausarbeit (Kiehl 2012) bildete ein Gruppeninterview mit drei Teilnehmenden, über welches die Forschungsfrage zum Einfluss des Ansatzes auf Ich-Individuation und Kompetenzentwicklung aus subjektorientierter Sicht der Teilnehmenden beantwortet werden sollte. Hypothese bildete die Annahme, dass die Spezifik des Produktionsschulansatzes – die Rückmeldung von Externen aus kooperierenden Wirtschaftsbetrieben oder durch Produkte kaufende Bürger*innen an die Jugendlichen – eine besondere Relevanz für Selbstbild und Persönlichkeitsentwicklung hat. Ein Auszug aus dem entsprechenden Transkript der Hausarbeit fasst das Ergebnis zum Einfluss der Rückmeldung von außen zusammen und beschreibt exemplarisch die produktive Aufnahme der Rückmeldung von außen auf die eigene Leistung:
1 Die
Verfasserin stützt sich an dieser Stelle auf die persönliche Begleitung des Programms „STABIL“ an den Standorten der Euro-Schulen Bitterfeld-Wolfen und Aken/Elbe in dem Zeitraum 2011 bis 2016. Das Projektteam an den Standorten, welches zu Teilen an Qualifizierungen mit Arnulf Bojanowski teilgenommen hat, benennt die beschriebene Situation als über die Jahre typische Situation der Gruppe, die erst nach und nach über eine empathische und sensible Arbeit der Projektmitarbeitenden aufgebrochen werden kann. Diese individuelle Kleinarbeit mit dem Teilnehmenden als eigene, individuelle Persönlichkeit wird vom Projektteam als eigentlicher Gewinn für alle Mitwirkenden beschrieben, findet aber in Verwendungsnachweisen und Sachberichten im Kontext einer Output-Orientierung und Mittelverwendungsprüfung zu wenig Beachtung. 2 „STABIL“ ist arbeitsmarktpolitisches Programm des Landes Sachsen-Anhalt, welches in seiner inhaltlichen Konzeption sich am Produktionsschulansatz (vgl. Meier et al. 2011) orientiert, ohne speziell auf diesen zu referieren. Das Programm richtet sich in seiner Ausschreibung an Jugendliche mit „multiplen Vermittlungshemmnissen“.
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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„Also ich hab das [Verkaufen, Anmerkung CK] schon gemacht .. Ich hab damit auch keine Probleme .. Ich frag dann „Was wollen Sie denn haben“, Und vor allem ich wurde schon mal angesprochen/Er hat gemeint „oh ja das sieht toll aus“ und so, Also ich habe damit gar kein Problem . Und da sehen sie wenigstens mal von wem es gemacht wird/Sag ich jetzt mal so . Und wenn’s ein bisschen, ja daneben aussieht, trotzdem sehen sie mal dass es Jugendliche machen .. und in unserer Werkstatt und wir, dann wirklich richtige Facharbeiter sind, die das herstellen …“ (Kiehl 2012, Transkript Anhang)
Die Stärke des Produktionsschulansatzes als sozialräumliche Lernform liegt in ihrer Immanenz des situierten Lernens. Über die Situierung der Lernform und die Einbindung von Dritten schafft der Produktionsschulansatz eine gezielte Form der Rückmeldung zum eigentlichen formellen Lernprozess: dem Herstellen von Produkten, die auf einem realen Markt verkauft werden. Die Produktionsschule fungiert damit als Sozialfirma und schafft ein realen Wirtschaftskreislauf unter – wenn auch geschützte – realen Arbeitsbedingungen. Einzig die Auflagen an Produktionsschulen, Konkurrenzsituationen mit Herstellenden des ersten oder zweiten Arbeitsmarktes zu vermeiden, unterscheidet – neben dem Schutzraum für die Teilnehmenden – das Unternehmen „Produktionsschule“ von anderen Unternehmen am Wirtschaftsmarkt. Parallel zur Lernsituation liegt der Fokus des Produktionsschulansatzes im eigentlichen Produktionsprozess. Die Teilnehmenden haben die Möglichkeit verschiedene Werkstätten des herstellenden Gewerbes bzw. des Dienstleistungssektors zu durchlaufen, um ganzheitlich die einzelnen Arbeitsschritte kennen zu lernen. Diese Erfahrung kommt einer Aneignung von sozialem Raum im Verständnis von Alexei Nikolajew Leontjews (1973 [1959]) gleich: Das praktische Tun wird an eine kognitive Leistung gekoppelt, wodurch über die einzelnen Tätigkeitsschritte die kulturelle Entwicklung des Menschen angeeignet werden kann. Auf die „Kulturhistorische Schule“ und die mit ihr verbundene Tätigkeits- und Aneignungstheorie verweist eine aktuelle Publikation zur Produktionsschule: Die Dissertation von Martin Förster (2017) rekurriert auf die Lerntheorie der „Kulturhistorischen Schule“ und deren Weiterentwicklung durch Yrjö Engeström (2011) zur Activity Theory. Die tätigkeitstheoretische Perspektive bildet die Grundlage des Produktionsschulansatzes und fungiert zugleich als theoretische Basis einer Lernform, die aufgrund ihrer bildungspolitischen Anbindung vor allem unter bildungsgeschichtlichen Aspekten untersucht wurde (vgl. Tietze 2012, S. 26 ff.), wobei sie in enger Verbindung zum Produktionsschulansatz steht: Das Produktive Lernen steht in Tradition des Polytechnischen Unterrichtes der DDR und bildet gleichfalls eine Form sozialräumlichen Lernens ab. In einer Publikation der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aus dem Jahre 1982 heißt es einführend in die Untersuchungen
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
zum Polytechnischen Unterricht: „Das ‚Geheimnis‘ geistiger Persönlichkeitsentwicklung liegt vor allem im Vergleichen des aus Erfahrungen Abgeleiteten, des theoretisch Angeeigneten mit der Praxis des Lebens und erst sekundär steigendem Wissensumfang und der Struktur dieses Wissens.“ (Fleischer 1982, S. 11) Öffnet man sich diesem Verständnis von Lernen als lebenslangem Sozialisationsprozess und schließt den ideologischen Hintergrund vieler DDR-Publikationen, speziell im erziehungswissenschaftlichem Diskurs, bei der Betrachtung und Analyse zunächst aus, prägt ein klares konstruktivistisches Bekenntnis der über 30 Jahre alten Didaktik-Publikation den Duktus. Die Parallelen zum Lernen über Erfahrung, wie sie die philosophischen und bildungswissenschaftlichen Schriften John Deweys prägen, sind deutlich und werden durch das Prinzip der Aneignung als mündiges Lernen gebildet. Auf diese Verbindung der US-amerikanischen und sowjetischen konstruktivistischen Lerntheorie verweisen bereits Ulrich Deinet und Christian Reutlinger (2014b, S. 23 f.), daher kann der Blick auf erziehungswissenschaftliche Publikationen der DDR den Diskurs um sozialräumliches Lernen nur stärken – eine kritische Reflexion des sozialräumlichen Kontextes, in welchem diese Publikationen entstanden sind, bildet den wissenschaftlichen „state of the art“, schmälert jedoch nicht die fachliche Qualität der Arbeiten vieler DDR-Wissenschaftler*innen. Das polytechnische Bildungsverständnis verbindet den Unterricht mit der produktiven Arbeit. „Mit der Einführung des polytechnischen Unterrichts 1958 und der Durchführung der zehnklassigen polytechnischen Oberschule nahm das allgemeinbildende Schulwesen der DDR das Anliegen der Verbindung der ‚Schule mit dem Leben‘“ (Tietze 2012, S. 324) auf. Dieser Ansatz impliziert neben einer Annäherung an Produktionsverhältnisse und -realitäten über den reflektierten Theorie-PraxisTransfer auch das Erleben von Interaktionen und Figurationen im betrieblichen Kontext. Über die Einbindung in reale Unternehmen und Unternehmensabläufe ermöglichte der Polytechnische Unterricht eine Erweiterung der sozialräumlichen Lernwelt bzw. die Einbindung in eine neue sozialräumlichen Lebensform, in welcher – im Verständnis moderner demokratiebildender Ansätze – eine nahe und greifbare Form von Demokratiebildung über zwischenmenschliche Interaktionsbeziehungen stattfindet (vgl. auch Abschnitt 4.2.5). Dieser Blickwinkel auf das Produktive Lernen als Teil des Polytechnischen Unterrichtes formt das sozialräumliche Lernen des Ansatzes. Auch hier wird die CoP der Lernendengruppe erweitert und es erfolgt eine curriculare Anbindung des Lehrplans an die praktischen Erfahrungen im Sozialraum. Diese Prinzipien nutzt das Produktive Lernen wie es nach 1990 vorrangig in den neuen Bundesländern an allgemeinbildenden Schulen umgesetzt wird. Während die Produktionsschule als Instrument der Arbeitsmarktintegration verstanden und den berufsvorbereitenden Maßnahmen zuzurechnen ist, ist das Produktive Lernen ein
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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Ansatz der sekundären Bildung und findet vorzugsweise in der Sekundarstufe I Anwendung. Mit Unterstützung des „Instituts für Produktives Lernen in Europa“ (IPLE) – einem An-Institut der Alice Salomon Hochschule Berlin – wurde das Produktive Lernen über das Projekt „Stadt-als-Schule“ nach 1990 verankert. Auch das IPLE bezieht sich in seinem Wirken auf die theoretischen Grundlagen der „Kulturhistorischen Schule“ (vgl. Mirow 2004; Böhm/Schneider 2006, S. 2), verweist jedoch auf praktische Erfahrungen aus dem US-amerikanischen Ansatz der „CityAs-School“ in New York, in welcher der städtische Sozialraum zum schulischen Lernraum transformiert wird (IPLE 1999, Böhm 2004; Böhm/Schneider 2006). Das Produktive Lernen vollzieht sich in der Verschränkung zwischen lernender Person, gesellschaftlicher Praxis und Kultur (Böhm/Schneider 2006, S. 4). Der Kulturbegriff unterteilt sich dabei in Fachbezüge, Gesellschaftsbezüge und weitere kulturelle Bezüge (ebd., S. 8 ff.). Das Bildungsziel des Produktiven Lernens liegt dabei im Erfahren der realen Umwelt über ein Kennenlernen der Kultur und Praxis dieser sowie in der Reflexion der eigenen Person (ebd., S. 14 ff.). Die Bildungsziele lassen sich dabei auf das Wesen der Sozialisationstheorie und das daraus abgeleitete Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR) übertragen: Reflexion und Begleitung des Erlebens schulischer und alltäglicher Erfahrungen führen zur Entwicklung, da an der Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Realität des Individuums ein Raum zur Verarbeitung dieser Erfahrungen entsteht, der sowohl auf Seite des Individuums als auf Seite der gesellschaftlichen Umwelt zu Veränderungen des sozialräumlichen Gefüges führt. So bildet die Kompetenz „Fragestellungen in Bezug auf Tätigkeitssituationen entwickeln“ (ebd., S. 14) ein Lernziel ab, welches unweigerlich an das MpR und die sich daraus ergebende Bewältigung von Entwicklungsaufgaben gekoppelt ist. Die internationale Definition des Produktiven Lernens beschreibt zum einen das dualistische Prinzip der Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Realität: „Productive Learning“ is an educational process which promotes both the development of the individual within the community and the development of the community itself.“ Zum anderen verweist das internationale Verständnis dieser sozialräumlichen Lernform auf das Lernprinzip innerhalb einer breiten CoP: „The process is shaped by an ‘educational itinerary’ based on productoriented activities in real life situations organised within the educational context of a group and supported by educators.“ (Zit. nach Böhm/Schneider 2006, S. 17) Die Ebene der internationalen Vernetzung des IPLE über das Netzwerk des „Internationalen Netzes Produktiver Schulen“ (INEPS) spiegelt den CoP-Ansatz innerhalb eines größeren Sozialraums wider und wirkt als international aktives Gedächtnis zum Produktiven Lernen (vgl. Bringel 2004).
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Damit integriert das Produktive Lernen wesentliche Kernelemente des sozialräumlichen Lernens in sein Selbstverständnis und sollte perspektivisch unter diesem Forschungsaspekt innerhalb der Didaktischen Forschung stärker Beachtung finden. Obwohl in Tradition des Polytechnischen Unterrichts der DDR stehend, hat sich das Produktive Lernen als eigenständige Lernform in der Unterrichtspraxis entwickelt und verschränkt – ebenso wie die sozialräumliche Lernform des Service Learning – das Lernen mit gesellschaftlicher Realität, die der theoretischen Wissensvermittlung die Handlungsorientierung als Lernziel zur Seite stellt. Für das Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt, welche die Selbst-Reflexivität und die strukturelle Reflexivität (vgl. Lash 1996) gleichermaßen fordert, ist dieser Theorie und Praxis verschränkende Ansatz ein Lernweg, um über das Lernen produktiv auf die Herausforderungen der zweiten Moderne vorbereiten zu können. Auch wenn die vorliegende Arbeit das Produktive Lernen als Disziplin der „Berufspädagogik“ mit dem Ansatz der Produktionsschule zusammenfasst, steht das Produktive Lernen doch außerhalb dieser Disziplin und kann dank seiner Interdisziplinarität sowohl innerhalb als auch außerhalb der berufspädagogischen Forschung angesiedelt werden.
3.4.4
Sonderpädagogik: Inklusives Lernen – “Geschichte erleben”
So wie der einzelne Mensch vor der Herausforderung steht, die Komplexität und Heterogenität der ihn umgebenden gesellschaftlichen Realität produktiv zu verarbeiten, obliegt Lehrkräften über ihre Rolle der Lernbegleitung die besondere Verantwortung, Vielfalt aus berufsprofessioneller Perspektive zu begegnen. Das Forschungsprojekt „Gemeinsam lernen“ nimmt diese Aufgabe als Ausgangspunkt, um gemeinsam mit Studierenden des Lehramtes Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover, erwachsenen Menschen mit Behinderung und Sozialraumpartner*innen ein inklusives Lernangebot der Sonderpädagogik und Erwachsenenbildung zu gestalten. Einen Baustein des Projektes bildet die Seminarreihe „Geschichte erleben – Menschen mit Behinderungen in der NS-Zeit. Gemeinsame Seminare für Menschen mit Behinderungen und Studierende“. Aufgrund wachsender Anforderungen zur Gestaltung inklusiver Lernsettings und ihrer didaktischen und diagnostischen Rahmenbedingungen, werden Lehrkräften – im Besonderen Förderschullehrkräften – spezialisierte Fachkompetenzen, ein hohes Maß an Selbstreflexion sowie Flexibilität in der Umsetzung inklusiver Lernformen abverlangt (Schomaker/Lindmeier 2014, S. 1 f.). Eine Zielstellung für die angehenden Lehrkräfte, die das Seminar im Rahmen ihres Studiums im 5. Fachsemester
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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besuchen können, liegt im Erleben von gesellschaftlicher Vielfalt, ihren Hürden und in der Erweiterung einer entsprechenden Vielfaltskompetenz wie sie unter anderem durch Hubertus Schröer (2012) beschrieben wird. „Ausgangspunkt unseres Ansatzes inklusionsorientierter Lehrerbildung ist die Annahme, dass Studierende eigene Lernerfahrungen in heterogenen Gruppen benötigen, um ihr Bild von den Fähigkeiten behinderter Menschen und den Möglichkeiten und Grenzen gemeinsamen Lernens zu erweitern und zu reflektieren“ (Lindmeier/Schomaker 2015, S. 114).
Der Blick der Seminarreihe geht über die Lehrendenbildung hinaus: Das Arrangement begreift sich zudem als Angebot der Erwachsenenbildung, indem es Menschen mit Behinderung die Möglichkeit gibt, historisches Wissen zu erwerben und zu vertiefen. Der inklusive Ansatz des Angebotes gibt den Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, innerhalb der inklusiven Lerngruppen, die während der Umsetzung aus behinderten Teilnehmenden und Studierenden gebildet werden, in der Rolle des*der Expert*in zu agieren. Indem die Seminarreihe den Ansatz der Biografiearbeit wählt (vgl. Lindmeier/Schomaker 2014, S. 86 ff.), welcher zunächst die Lebensgeschichten aller Teilnehmenden thematisiert und dann über biografische Berichte von Zeitzeug*innen ein kulturelles Gedächtnis konstruiert, haben die Teilnehmenden mit Behinderung die Möglichkeit, als Wissensträger*innen über die Spezifik von Behinderungen und daran geknüpften möglichen Diskriminierungen den gemeinsamen Reflexionsprozess anzustoßen (Schomaker/Lindmeier 2015, S. 23). In der projektspezifischen Community of Practice der „Geschichte erleben“-Seminare können Menschen mit Behinderung die Rolle des old-timers übernehmen und Studierenden, welche in der Rolle des newcomer agieren, den Einstieg in das gemeinsame Thema erleichtern – indem sie möglicherweise die eigene Lebensgeschichte als Impuls setzen, um das Denken und Erzählen über Diskriminierungserfahrungen jenseits von Behinderung/Nicht-Behinderung anzuregen. Das figurative Verhältnis innerhalb der gemeinsamen CoP kann sich demnach verschieben: Während im Alltagserleben sowie im Schulalltag die Lehrkräfte die Assistenzfunktion übernehmen, sind es in der inklusiven Gruppe der Lernenden möglicherweise die angehenden Lehrkräfte, welche die Hilfe der Menschen mit Behinderung benötigen, um sich dem Themenkomplex „Vielfalt und Diskriminierung“ subjektiv und individuell öffnen zu können. Anders als die teilnehmendenspezifischen Ziele fungieren die gemeinsamen Zielstellungen zusätzlich als Anker, um innerhalb der inklusive Lerngruppe das kulturelle Gedächtnis (vgl. Lindmeier/Schomaker 2014, S. 84 ff.) und die CoP zu verbinden. Neben der
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Wissensvermittlung, der gemeinsamen Arbeit und Aufarbeitung der „Euthanasie“Verbrechen sind es der gemeinsame Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und das Gedenken an die zahlreichen Opfer der NS-Verbrechen (Schomaker/Lindmeier 2015, S. 22 f.), welche die Seminarreihe in ein inklusives Lernen überführen. Die Wissenschaftlerinnen Bettina Lindmeier, Claudia Schomaker (Lindmeier/Schomaker 2014, 2015; Schomaker/Lindmeier 2014, 2015) und Alice Junge (Junge/Schomaker 2018) begleiten die Seminare. Aus einer fachlichen Perspektive ist es den Pädagoginnen mit der Umsetzung der Seminarreihe wichtig, „Mut zu machen, sich auf neue Situationen einzulassen, die Risiken offener Lernsituationen auszuhalten und allen Beteiligten etwas zuzutrauen und zuzumuten“ (Lindmeier/Schomaker 2014, S. 74). Die Wissenschaftlerinnen schaffen über das inklusive Lernsetting ein sozialräumliches Lernsetting, welches ganz im Sinne John Deweys (2002 [1910], S. 15) eine Beunruhigung, ein Staunen und auch Zweifel als Ausgangspunkt des Denkens zulässt. Die Gestaltung und Umsetzung der „Gemeinsam lernen“-Seminare ermöglicht den Beteiligten den Perspektivwechsel und zudem über das Setting die Aneignung bzw. Anverwandlung neuer Erfahrungen, wobei das Lernen an Orten wie der „Gedenkstätte Hadamar“ unweigerlich Resonanzachsen schafft, die das Historische in die Gegenwart und somit in ein Wirklichkeitsbewusstsein überführen. Die inklusiven Seminare des Instituts für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover wirken über ihre komplexe Situiertheit als sozialräumliche Lernsettings. Für teilnehmende Menschen mit Behinderung werden zwei Vortreffen innerhalb der Universität angeboten, um den bisher unbekannten Sozialraum der Universität und dessen Spezifik kennenzulernen (Lindmeier/Schomaker 2014, S. 75; Schomaker/Lindmeier 2015, S. 23). Nach drei gemeinsamen, für alle Teilnehmenden offenen Seminarblöcken erfolgt der mehrtägige Besuch einer Gedenkstätte, unter anderem der „Gedenkstätte Hadamar“ zwischen Köln und Frankfurt/Main. Über die Integration einer zweiten Teilnehmendengruppe – sowohl aus Sicht der Lehrendenbildung über die Einbindung behinderter Menschen als auch aus Sicht der Erwachsenbildung über die Einbindung der Studierenden – wird eine komplexe sozialräumliche Lernsituation geschaffen. Diese kann nun über die Verlagerung des Lernens in die Gedenkstätte als Ort und Sozialraum der greifbaren Erinnerung erweitert werden. Über die Einbindung der Gedenkstätte und ihrer Pädagog*innen in das Seminar verbreitert sich die CoP, der soziale Raum des Lernens gewinnt an Ressourcen – Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen. Der Einsatz des biografischen Lernens als Methode schafft zudem einen zusätzlichen sozialen Raum, welcher den historisch-situativen Sozialraum der Zeitzeug*innen-Biografien mit den biografisch-situativen Sozialräumen der Lernenden, der CoP und der äußeren Umwelt verbindet. Es bildet sich ein sozialer Raum, der subjektive und historische
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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Erfahrungen als Situationsebene neu generiert und dementsprechend neu bewertet bzw. reflektiert werden muss. Auf das arbeitsspezifische Verständnis sozialräumlichen Lernens und dessen Visualisierung übertragen, bildet die Seminarreihe „Gemeinsam lernen“ einen komplexen Sozialraum und dessen Überführung in eine sozialräumliche Lernsituation ab (Abb. 3.7): Auf der Ebene des absoluten Raumes wird über das Forschungsprojekt für die Menschen mit Behinderung die Universität als Ort bzw. Platz erschlossen. An diesem Ort finden spezifische Formen der Interaktion statt, welche den Teilnehmenden mit Behinderung bisher fremd waren. Diese Interaktionen werden über die Einbindung der Studierenden und betreuenden Hochschullehrkräfte erlebbar – oder auch aneigbar. Es entwickelt sich innerhalb der CoP der Seminarreihe eine spezifische figurative Situation, welche auf das Interaktionsverhältnis der teilnehmenden Studierenden und Hochschullehrkräfte zurückwirkt. Die Situations-Ebene wird dabei über den individuellen Zugang der Teilnehmenden gestaltet und über die BiografieArbeit zum zentralen Moment des Lernens. Mit Hilfe der Biografie-Arbeit findet innerhalb der CoP der Abruf von Wissen sowie dessen Modifikation statt. Dabei arbeitet die Seminarreihe mehrdimensional, indem sie die Lernsituation individuell und zudem historisch abbildet. Die Arbeit mit den Opferbiografien überführt parallel in einen teilweise fiktionalen Raum, welcher über die literarische, rekonstruierende Aufarbeitung eine Verbindung zum analogen Raum schafft. Denn die Biografie steht wie kein zweites literarisches Genre bereits zwischen beiden Sozialraumebenen. Für die Reflexion der Lernerfahrung nutzt die Seminarreihe den teilweise fiktionalen Raum gleich mehrfach: Die Arbeit an den Biografien – aktuell sowie historisch – schafft einen Raum der produktiven Realitätsverarbeitung zwischen innerer und äußerer Realität sowie zwischen historischer und gegenwärtiger Realität. Über das Schreiben von Elfchen – kurzer Gedichte mit formal klaren Strukturen – als reflexiven Lernbestandteil wird dieser mehrdimensionale Zwischenraum zum Raum der intensiven Reflexion, der die Sozialisationserfahrung in einen informellen Lernprozess transformiert. Eine ähnliche Funktion übernimmt die Gedenkstätte als Behälter bzw. Ort sowie als historischer situativer Raum, welcher Interaktionen und Figurationen über seine Geschichte in einem symbolischen Sozialraum überführt. Die Gedenkstätte wird zum komprimierten sozialen Raum, in welchem non-formale Bildung und informelles Lernen unweigerlich aneinander gekoppelt sind. Das Forschungsprojekt fungiert somit als prototypisches Angebot des sozialräumlichen Lernens, wobei es unter diesem Fokus nicht primär verankert wird. „Gemeinsam lernen“ ist ein innovatives, inklusives Lernarrangement und zeigt exemplarisch, dass sozialräumliches Lernen Vielfaltskompetenz fordert und darüber
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
stärkt. Theoretische Grundlage der Seminarreihe bildet das Bildungsverständnis Wolfgang Klafkis (vgl. Lindmeier/Schomaker 2014). Der Didaktiker Klafki (2007 [1985]) beschreibt den Bildungsbegriff unter epochaltypischen Schlüsselproblemen neu. Dabei bezieht er sich auf zentrale Entwicklungsaufgaben der Menschen, die sich aus realen Gesellschaftsaspekten wie den Kennzeichen der Zweiten Moderne ergeben. Für Klafki muss Bildung vor allem auf Dimensionen von Mündigkeit und Emanzipation des*der Lernenden ausgerichtet werden; so benennt er die Fähigkeit zu Selbstbestimmung, die Mitbestimmungsfähigkeit sowie die Solidaritätsfähigkeit als zentrale Kompetenzen, welche als Ziele von Bildung verstanden werden müssen (Klafki 2007 [1985], S. 52). Dabei wird die Maxime einer „Bildung für alle“ zur handlungsleitenden Forderung an Bildung erhoben (ebd., S. 54 ff.). Die Seminarreihe „Gemeinsam lernen“ greift diesen Anspruch an ein modernes Bildungsverständnis auf und entwickelt Lernen für die unterschiedlichen Zielgruppen in einem konstruktivistisch-sozialisationstheoretischen Verständnis von Lernen über die Erfahrung weiter.
3.4.5
Fachunterricht “Religion”: Diakonisches Lernen
Die Arbeit mit Biografien als Bindeglied zwischen fiktionalem und realem bzw. non-fiktionalem Sozialraum bildet auch eine Methode des diakonischen Lernens als Form des sozialräumlichen Lernen (vgl. Witten 2014). Obwohl Biografien sich aus einem historischen, non-fiktionalen Sozialraum speisen, bilden sie dennoch eine literarische Gattung ab, die sich in ihrem Wesen auch aus der Fiktion heraus bildet, weshalb die Biografie auch einen teilweise fiktionalen Sozialraum widerspiegelt. In ihrer Dissertation beschreibt Ulrike Witten (2014) die Möglichkeit der biografischen Arbeit für diese spezielle Form des sozialen Lernens, die junge Menschen bei der Persönlichkeits- und Solidaritätsentwicklung stützen soll: „Im diakonischen Lernen wird Adoleszenten der für ihre Entwicklung notwendige Schutzraum geboten. Sie können Rollen real ausprobieren, ohne dafür die volle Verantwortung tragen zu müssen. Biografien können gedanklich einen solchen Schutzraum bieten, wenn Schülerinnen und Schüler sich deren Leben imaginieren.“ (ebd., S. 352)
Der Raum der produktiven Realitätsverarbeitung, der über die Biografiearbeit geschaffen wird, ermöglicht einen Abgleich zwischen Selbstbild als Repräsentation der inneren Realität und Fremdbild als Repräsentation der äußeren Realität. Indem das Leben und Erleben der biografischen Person durch die Lernenden erschlossen und reflektiert werden muss, werden durch die Lernenden subjektive
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
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Bezüge der realen bzw. non-fiktionalen Welt herangezogen, um ein Verständnis für die fremde Biografie generieren zu können. Diese Rekonstruktionsarbeit impliziert das Wechselspiel zwischen Beeinflussung des subjektiven Selbstkonzeptes über das (Er)Leben der historischen Persönlichkeit und eine Rückwirkung des Selbstkonzeptes auf die Rezeption der Biografie. Das Leben und Wirken der historischen Person im Kontext der Diakoniegeschichte schafft ein gemeinsames Sujet, welches über den zu lebenden christlichen Glauben auch einen Gegenstand des evangelischen Religionsunterrichtes abbildet. Die Biografiearbeit schafft eine zeitunabhängige Glaubensgemeinschaft, welche als spezifische CoP fungiert und über einen gemeinsamen Sozialraum gebildet wird. Witten verweist auf die besondere Wirkkraft des diakonischen Lernens auf die Kompetenzentwicklung der Lernenden (ebd., S. 354), betont aber auch, dass zu überdenken ist, ob diakonisches Lernen zu operationalisieren und zu messen sei, „da sich Nächstenliebe nicht auf diese Weise quantifizieren lässt“ (ebd., S. 354). Hinter diesem Einspruch steht auch die generelle Frage der Kompetenzforschung, wann eine Kompetenz ihre Anwendung in der Performanz findet und inwieweit Bildung – speziell eine werteorientierte Bildung – wachsend ökonomisiert und quantifiziert werden muss, damit sie ihre Daseinsberechtigung gegenüber der Bildungspolitik legitimieren kann. Tatsächlich sehen sich Forschungen zum diakonischen Lernen in der Verantwortung den Beitrag dieser sozialräumlichen Lernform zur Kompetenzbildung zu beschreiben (vgl. Klappenecker 2014; Toaspern 2007) und Kompetenzentwicklungen zu erheben (vgl. Gramzow 2010), um zudem darüber innerhalb ihrer Fachdisziplin die Möglichkeiten dieses Lernansatzes zu entwickeln. In der Überarbeitung seiner Habilitationsschrift konstatiert Christoph Gramzow (2010) dem diakonischem Lernen mit Blick auf die Kompetenzentwicklung, deren übergreifendes Ziel durch die ganzheitliche Persönlichkeitsbildung abgebildet wird, eine positive Bilanz: „Die empirische Prüfung erlaubt für jede Dimension bzw. Kompetenz die Angabe einer Reihe von Subkompetenzen oder auch von Fähigkeiten, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie bei mehreren oder allen Schülern gefördert werden.“ (Gramzow 2010, S. 586) Seine Erhebung stützt Gramzow dabei auf das Modell des situierten Lernens und entwickelt über die Spezifik dieser Lerntheorie das diakonische Lernen bzw. die curriculare Grundlage des diakonischen Lernens über Handlungsempfehlungen weiter. Bereits 2007 stützt Huldreich David Toaspern seine Forschungsarbeit zum diakonischen Lernen auf das situierte Lernen als Theoriegrundlage (Toaspern 2007, S. 49 ff.). Dabei ordnet Toaspern das diakonische Lernen in Habermas (1981) Theorie des kommunikativen Handelns bzw. in die Kennzeichen der Zweiten Moderne ein, um die Rolle und die Handlungsorientierung des diakonischen Lernens innerhalb einer säkularen, globalisierten und individualisierten Welt zu erschließen (ebd.,
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
S. 38 ff.). Welche Möglichkeiten liegen im sozialen Engagement über diakonische Praktika und wie können moderne Jugendliche für diese Form gesellschaftlicher Partizipation gewonnen werden, um daraus Entwicklungen für ihr eigenes Leben in der Zweiten Moderne ableiten zu können? Diese Fragestellung ist auch auf den Ansatz der Demokratiepädagogik und die sozialräumliche Lernform des Service Learning übertragbar und bildet somit kein ausschließliches Erkenntnisinteresse der Religionspädagogik bzw. des evangelischen Religionsunterrichtes ab. Vielmehr trägt sie fachübergreifenden Charakter und verbindet unterschiedliche werteorientierte Bildungsansätze über den gemeinsamen sozialen Raum der Wertevermittlung miteinander. Die Frage, wann und wie Lernende sich dem Erleben diakonischer resp. demokratischer resp. universal-ethischer Werte öffnen, ist eine zentrale Fragestellung von Schule in einer Gesellschaft der Vielfalt und kann – zu Teilen – über die Öffnung des Unterrichts für ein sozialräumliches Lernen gelöst werden: Indem Lernen aufgrund seiner Situierung bereits Interaktionen und figurative Aspekte impliziert und diese Ebenen in die Wissensvermittlung einbindet, bietet das Lernen dem*der Lernenden Erfahrungen, die er*sie in seiner innere sozialräumliche Realität integrieren kann bzw. integrieren muss, um die Lernsituation über die Reflexion produktiv zu verarbeiten. Die Öffnung von Schule in den Sozialraum bildet dabei eine Facette sozialräumlichen Lernens ab. Die Relevanz des Praxisbezugs für das diakonische Lernen und den Lerngewinn über die Interaktion innerhalb der CoP beschreiben Hanisch et al. bereits 2004 und formieren darüber einen Qualitätsbaustein dieser sozialräumlichen Lernform. Das Werkbuch „Diakonisches Lernen“ (Fricke/Dorner 2015) bildet das diakonisch-soziale Lernen als Synthese und wechselseitige Beziehung zwischen den Lernorten „Klassenzimmer“ und „Außerhalb“ ab (ebd., S. 15, S. 55); damit spiegelt das Lehrbuch das diakonische Lernen als Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung zwischen innerer und äußerer Realität wider. Gleichzeitig beschreibt die Publikation das soziale Lernen im diakonischen Glaubensverständnis als Austausch zwischen „Wissen“ und „Handeln“, zwischen Theorie und Praxis (ebd., S. 16, S. 55) und übernimmt somit ein konstruktivistisch geprägtes Verständnis von Lernen in der Verschränkung von Erfahrung und Reflexion. Damit steht das diakonische Lernen exemplarisch für das sozialräumliche Lernen als sozialisationstheoretischkonstruktivistischen Ansatz der Didaktik. Ein Auszug aus einem Interview mit einer Nürnberger Religionspädagogin fasst den methodisch-didaktischen Anspruch dieser Lernform zusammen und zeigt zugleich die Rolle der Lernbegleitung durch die Lehrkraft auf: „‚Soziales Lernen kann man nicht an die Tafel malen. Soziales Lernen muss ich spüren und dazu muss ich einen Menschen treffen. Deshalb erzeuge ich als Lehrkraft
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
109
Begegnungen zwischen Schülern und anderen Menschen. Es geht ums Ausprobieren und deshalb dürfen die Schüler auch Fehler machen!‘“(Ebd., S. 67)
Dass die Begegnung nicht zwangsläufig in im realen resp. non-fiktionalen resp. analogen Sozialraum stattfinden muss, zeigt die Möglichkeit des diakonischen Lernens über die Arbeit mit Biografien. Im Folgenden soll dieser Fokus am Beispiel der Gedichtinterpretation als dialektischer Austausch zwischen innerer und äußerer Form sowie zwischen innerer und äußerer Realität innerhalb eines sozialräumlichen Hyperraums belegt werden.
3.4.6
Fachunterricht “Deutsch”: Gedichtinterpretation
Das relationale Raumverständnis des Hyperraumes, wie es im Rahmen der vorliegenden Arbeit aus den unterschiedlichen Theoriediskursen des sozialen Raums abgeleitet wurde, formiert die Hyperraum-Struktur über miteinander verschränkte Realitätsebenen. Wie die Beschreibung dieser Ebenen als Kennzeichen des sozialräumlichen Lernens gezeigt hat, braucht diese Form des Lernens nicht zwingend die reale Öffnung der Schule in den sozialen Nahraum, wenn sie das Wesen des Sozialraums über Themen und Formen des traditionellen Unterrichts in das Lernen einbindet. Dabei bieten Realitätsebenen neben der analogen resp. realen resp. non-fiktionalen Welt Möglichkeiten, das Unterrichtserleben in breite sozialräumliche Strukturen einzubinden. Der fiktionale Sozialraum, wie er beispielsweise über den Literaturunterricht der Fachdidaktik „Deutsch“ zum Raum des Erlebens wird, bietet eine breite Palette der Umsetzungsmöglichkeiten sozialräumlichen Lernens, welche im Verständnis dieser Lernform zugleich Vernetzungsmöglichkeiten zu weiteren Fachdidaktiken erlauben und nicht zwingend an das Fach „Deutsch“ gebunden sein müssen. Am Beispiel der Gedichtinterpretation als Analyse- und Reflexionsraum eines non-fiktionalen Sozialraums soll das sozialräumliche Lernen exemplarisch dargestellt sowie auf seine Übertragbarkeit verwiesen werden. Die Darstellung erfolgt über ein Gedicht Georg Trakls sowie über die Anbindung seiner Lyrik an die literarische Epoche des Expressionismus als Beschreibung realer resp. non-fiktionaler sozialräumlicher Realitäten der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und deren literarische Aufarbeitung im fiktionalen Raum. Beeinflusst durch den Ersten Weltkrieg, durch eine stark wachsende Industrialisierung und Prekarisierung der Arbeit sowie durch das Aufbrechen tradierter Lebensweisen wenden sich die literarisch Schaffenden auf sehr subjektive Weise antibürgerlichen, gesellschaftsund realitätskritischen Themen zu (vgl. Anz 2010). 1920 gibt der Schriftsteller
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
und Journalist Kurt Pinthus die Gedichtsammlung „Menschheitsdämmerung“ als wichtigstes literarisches Dokument seiner Zeit heraus. Die Anthologie sammelt Werke der bekanntesten expressionistischen Vertreter*innen und gilt als Beleg einer gesellschaftlich-literarischen Aufarbeitung sozialräumlicher Realitäten, der zugleich einen Wendepunkt markieren soll, um sich künftig – literarisch wie gesellschaftlich – den Herausforderungen der Zeit über die produktive Verarbeitung der Realitäten zu stellen. Die expressionistische Literatur, speziell die expressionistische Lyrik, formiert als Mahnung und Hoffnung gleichermaßen. So schreibt Pinthus in den einleitenden Gedanken seiner Sammlung: „Diese zukünftige Menschheit, wenn sie im Buche ‚Menschheitsdämmerung‘ […] lesen wird, möge nicht den Zug dieser sehnsüchtigen Verdammten [expressionistische Literat*innen, Anmerkung CK] verdammen, denen nicht blieb als die Hoffnung auf den Menschen und der Glaube an die Utopie.“ (Pinthus 2009 [1919], S. 32) Damit referiert die Situierung der expressionistischen sozialräumlichen Realität und Fiktion auf eine gegenwärtige Situierung, deren Verbindung über die Sammlung „Menschheitsdämmerung“ als Verschränkung der fiktionalen und non-fiktionalen Realität über die Zeit hinweg erfolgt. Denn gleichzeitig entwickelt sich eine Wechselwirkung zwischen der innerer Realität des Schriftstellers mit seiner Zeit, mit der äußeren Realität, die wiederum über literarische Zeugnisse und Dokumente eine Achse zur modernen Rezipientin und ihrer Zeit schafft – verbindendes Element ist der Sozialraum. Die Literatur wird dabei zum Medium, das die Zeitentrennung überwinden kann. Im Unterschied zum historischen Dokument, welches das Abbild einer äußeren Realität schafft, imaginiert das literarische Dokument zudem eine innere Realität des*der Schreibenden, was nicht zwangsläufig autobiografische Bezüge impliziert. Vielmehr muss das literarische Dokument als produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität des*der Schreibenden begriffen werden. Denn nur über die Reflexion und Verarbeitung des äußeren Sozialraums in Auseinandersetzung mit bestehendem Wissen des inneren Sozialraums des*der Schreibenden kann Literatur geschaffen werden. Das Wechselspiel beider Sozialräume bildet als dialektischer Schaffensprozess die Grundlage des Schreibens. Ähnlich vollzieht sich die Rezeption durch den*die Leser*in – auch hier wirkt ein dialektischer Prozess, der in der Literaturwissenschaft als Hermeneutische Spirale bezeichnet wird. Dieses Prinzip bildet zugleich die methodische Grundlage der Gedichtinterpretation und entspricht einem induktiven Erschließen der fiktionalen Welt über einzelne Wissensbestandteile und abgeleitete Kausalitäten. Friedrich Hebbel schreibt über den Rezeptionsprozess in seinen Tagebüchern: „Wer ein Kunstwerk in sich aufnimmt, macht den selben Prozess durch wie der Künstler, nur umgekehrt und sehr viel rascher.“ (Hebbel; zitiert nach Lobentanzer 1997, S. 8)
3.4 Etablierte und innovative Formen sozialräumlichen Lernens
111
Für die Lyrik im Speziellen wirken zudem Kausalitäten zwischen Inhalt und Form, die es im dialektischen Aneignungs-Prozess zu erschließen gilt. Das Wechselspiel zwischen Form und Inhalt wird an Trakls Gedicht „Verfall“, welches er 1913 geschrieben hat, besonders deutlich. Das Gedicht entspricht einer klassischen Sonett-Struktur: sowohl im Aufbau der Strophen, als auch im jambischen Versmaß. Die Form des Sonetts nimmt eine feste, regelmäßige Form an, die im Widerspruch zum eigentlichen Titel und Inhalt des Trakl-Gedichtes steht. Damit schafft der Schriftsteller über die Wahl seiner Gedichtform als Kontrast zur antagonistischen Botschaft einen Bezug zur Lyrik des Barock, die – beeinflusst durch die Wirren und das Elend des „Dreißigjährigen Krieges“ – sich dieser Inhalt-FormVerschränkung bedient hat, um der non-fiktionalen Realität über die klare Form der fiktionalen Realität einen bewussten Kontrast entgegenzusetzen. Auch Trakl wählt diesen Weg, um seinem Verständnis von „Vanitas“ eine Struktur zu geben:
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Georg Trakl Verfall Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten, Folg ich der Vögel wundervollen Flügen, Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen, Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten. Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten Träum ich nach ihren helleren Geschicken Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken. So folg ich über Wolken ihren Fahrten. Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern. Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen. Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern, Indes wie blasser Kinder Todesreigen Und dunkle Brunnenränder, die verwittern, Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen. (Trakl 1913)
Weiterhin weist Trakls Sonett eine inhaltliche Trennung zwischen den Quartetten (vierzeilige Strophen) und den Terzetten (dreizeilige Strophen) auf. Dabei handelt es sich um ein poetisches Gestaltungsmittel, welches durch These und Antithese gebildet wird. In „Verfall“ wird dieser Schritt durch eine friedliche, zum Teil wehmütige Beschreibung des sich ankündigenden Winters in den Quartetten realisiert.
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
Beschreibungen wie wundervollen Flügen [Zeile 3], frommen Pilgerzügen [Zeile 4] und herbstlich klaren Weiten [Zeile 5] formieren ein ruhiges Stimmungsbild, welches zunächst auf die lyrische Gattung der Naturbeschreibung schließen lässt. Es folgt der Bruch im ersten Terzett, welcher die antithetische Aussage des Gedichtes ankündigt und die Klammer zum Gedicht-Titel bildet: Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern [Zeile 10]. Es folgen nun Beschreibungen, die stark auf Endlichkeit und Tod hindeuten. In der letzten Zeile benennt Trakl die Aster, die Totenblume, welche sich fröstelnd im Wind neigt. Mit der Wahl der Aster referiert Trakl auf das 1912 entstandene Gedicht „Kleine Aster“, welches zu den bekanntesten Gedichten Gottfried Benns bzw. des Expressionismus als literarische Epoche zählt. Während Benns Aster sich im Leichnam eines Ertrunkenen „satt trinken“ kann, muss sich Trakls Aster dem nahenden Winter beugen. Damit stellt Georg Trakl in seinem Gedicht starke Bezüge zum Erleben der non-fiktionalen, realen Wirklichkeit der äußeren Umwelt her. Das Erleben expressionistischer Schriftsteller*innen ist stark durch eine nihilistische Weltsicht geprägt: „Der expressionistische [im Original kursiv, Anmerkung CK] Nihilismus entspringt dem ungesteuerten Zusammenspiel des tradierten Glaubens an eine metaphysische Grundlage der Moral und eines kritischen Verfahrens der Wissensprüfung, das auf einem wissenschaftlich entzauberten Weltverständnis aufsitzt.“ (Krause 2015, S. 78)
Aber auch in Trakls eigener inneren, sozialräumlichen Realität spiegelt sich das als sinnlos erfahrende Leben wider. Die Wahl in der Beschreibung der Aster fällt auf die Farbe Blau; die blaue Aster [Zeile 15] muss sich dem Wind neigen. In der Lyrik Trakls steht die Farbe Blau oftmals für den Rausch, dem Trakl selbst zugefallen war. So symbolisiert Blau die Zeit der Dämmerung, den traumbildhaften Übergang vom Wachzustand in den Schlaf. Neben der „blauen Stunde“ steht die Farbe Blau für die Farbe des Himmels als Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen, so dass im blauen Rausch ein geistiger Zustand der Bewusstseinserweiterung erreicht werden kann, der – typisch für das literarische Schaffen und Erleben viele Expressionist*innen – wiederum als göttliches Geschenk des Vergessens oder der intensiven Erfahrung wirkt. Das Sonett kann demnach auch auf Georg Trakls eigenes Bewusstsein bezogen werden. Der Schriftsteller, der mit nur 27 Jahren an einer Kokain-Überdosis gestorben ist, litt Zeit seines Lebens unter Ängsten und Depressionen, denen er mit Rauschmitteln begegnete. Sein lyrisches Werk ist dabei durch synästhetische Beschreibungen, die aus Rauscherfahrungen resultieren, gekennzeichnet (vgl. Kiehl 2006). Die Vermutung, dass das Gedicht „Verfall“
3.5 Zwischenfazit II
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sowohl auf das Erleben des expressionistischen äußeren Sozialraums referiert als auch symbolisch für die Entwicklung Trakls inneren Sozialraum steht, liegt nahe. Es findet eine Verschränkung zwischen innerer und äußerer Realität statt, welche über die Schaffung und die Rezeption des Gedichtet zugleich den non-fiktionalen Raum mit den fiktionalen Raum verbindet. Der Schriftsteller schafft im Prozess des Schreibens eine Aneignung bzw. Anverwandlung von äußerer und innerer Welt und ermöglicht – ganz im Sinne Hebbels – diese Aneignung dem*der Leser*in. Der*die Rezipient*in muss dabei die einzelnen Bestandteile als Prozess der Aneignung über Inhalt, Form und Hintergründe erschließen und braucht dafür ein inneres, teilweise subjektiv geprägtes Vorwissen. Rezipient*in, lyrisches Ich als Stimme des Werkes und Schriftsteller als Individuum und Vertreter seiner Zeit gehen eine eigene Community of Practice ein, um über einen dialektischen Reflexionsprozess aus den einzelnen Teilen das sinnstiftende Ganze bilden. Es findet ein Prozess sozialräumlichen Lernens statt, den Hartmut Rosa (2016) mit dem Titel eines Werkes von Christoph Menke (2013) bezeichnet: die Kraft der Kunst – auch wenn Menke selbst Kunst als außerhalb des sozialen Raums stehend beschreibt (Menke 2013, S. 14). Über die ästhetische Resonanz zwischen Werk und Rezipierendem erfolgt die Anverwandlung von Welt, so dass im Sozialraum der Literatur bereits das Wissen und die Kompetenz für das Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt gespeichert ist und nur noch – zum Beispiel über das bewusste sozialräumliche Lernen im Literaturunterricht – erschlossen werden muss. Dabei bleibt die Resonanzwirkung keinesfalls auf die fachliche Kompetenzentwicklung des Deutschunterrichtes beschränkt. Vielmehr liegt im sozialräumlichen Lernen über die Analyse und Wirkung von Literatur der Zugang zum Erwerb fächerübergreifender Kompetenzen, spiegelt doch die Literatur vergangener Epochen, ihr spezifisches Wesen und den inneren Sozialraum einer Schriftstellerpersönlichkeit wider und kann über diesen besonderen Wert auch Einsatz im Ethik-, Politik- oder Geschichtsunterricht finden oder auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse und ihren Entdeckungszusammenhang bzw. ihr epochenspezifisches Erkenntnisinteresse verweisen. Das Lernen über die Methode des „Epochenunterrichtes“ bildet dabei eine Form, um mit Lernenden gemeinsam einen interdiziplinären Weg des Lernens einzuschlagen.
3.5
Zwischenfazit II
„Was und wie ein Subjekt ist, lässt sich erst bestimmen vor dem Hintergrund der Welt, in die es sich gestellt und auf die es sich bezogen findet; Selbstverhältnis und Weltverhältnis lassen sich in diesem Sinne nicht trennen. Subjekte stehen der Welt also nicht gegenüber, sondern sie finden sich schon immer in einer Welt [Hervorhebung
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3 Theoretische Betrachtung | Sozialräumliches Lernen
im Original kursiv, Anmerkung CK], mit der sie verknüpft und verwoben sind […]“ (Rosa 2016, S. 62 f.).
Die Aufgabe von Schule und Unterricht muss demnach das Lernen in der Welt sein, die sich in ihrem Wesen im lernenden Subjekt widerspiegelt. Wenn die Persönlichkeitsbildung neben der Wissensvermittlung zum Kern eines modernen Bildungsauftrages von Schule zählt, kann das Lernen die Welt – als gemeinsam geteilten sozialen Raum – nicht aus dem Lernprozess ausschließen. Eine bewusste, reflektierte Auseinandersetzung mit dem sozialen Raum innerhalb und außerhalb des lernenden Individuums entspricht dabei dem Ansatz des sozialräumlichen Lernens. Und auch wenn der Titel der vorliegenden Arbeit – Unterricht findet Stadt – als Wortspiel auf den städtischen Sozialraum verweist, ist das sozialräumliche Lernen nicht notwendigerweise auf die Öffnung der Schule in den sozialen Nahraum angewiesen. Dennoch bildet das Lernen in der Stadt oder auf dem Land als Quartier und Ausschnitt des Gemeinwesens eine ideale Voraussetzung, um über den Lernprozess den sozialen Raum anzueignen bzw. sich anzuverwandeln. Wie die Analyse der Raumdiskurse gezeigt hat, bildet der Sozialraum über vier Achsen und drei Realitätsebenen einen komplexen Hyperraum ab. In diesem finden sich Wissen und Fähigkeiten, die für das Lernen und Leben in einer modernen Gesellschaft notwendig sind und welche über die Erfahrung im Raum und eine daran anknüpfende Reflexion erschlossen werden können. Das Lernen im Sozialraum wird zum (Er)Leben – jedoch unter geschützten Bedingungen – wie das Beispiel der Produktionsschule als geschützter Wirtschaftsraum oder das Beispiel des diakonischen Lernens über Biografien gezeigt hat. Das sozialräumliche Lernen bietet einen „Schutzraum“ bzw. ein Moratorium und dennoch impliziert es den Kern des menschlichen Seins: Interaktionen als wechselseitiger Austausch zwischen Individuen über Kommunikation und Handlungen bzw. – im übergeordneten Sinne – als wechselseitiger Austausch zwischen „Selbstverhältnis und Weltverhältnis“ über den Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung. Die bewusste Integration des sozialräumlichen Lernens in die Unterrichtsgestaltung impliziert das Aufbrechen von Schule als Machtbehälter, wie Schule durch Anthony Giddens charakterisiert wurde. Das Lehren wird zu Lernbegleitung umgewandelt und das bewusste (Er)Leben der figurativen Ebene des sozialräumlichen Lernens ermöglicht eine kritische Bewusstwerdung von Interdependenzen, Positionierungen und Machtbeziehungen im sozialen Raum, die in traditionellen Unterrichtssituationen größtenteils ausgespart werden. Das Lernen in einer Community of Practice ermöglicht über seine Situierung die direkte Erfahrung von Figurationen, die stets auch einen Teilaspekt des sozialen Raums abbilden. Dieser Aspekt lässt sich jedoch nur über das lernende Erfahren – über die Aneignung
3.5 Zwischenfazit II
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bzw. die Anverwandlung – des sozialen Raums erschließen. Für Chantal Mouffe (2016 [2014]) bildet dieser Aspekt des relationalen sozialen Raums, den sie über das Konzept der „Ordnung“ definiert, ein Kernelement ihres Demokratieverständnisses ab: „Jede Ordnung ist immer auch Ausdruck einer bestimmten Konstellation von Machtverhältnissen.“ (Mouffe., S. 22) Somit wird das sozialräumliche Lernen zum machtsensiblen, mündigen Lernen; es bildet die Grundlage der Selbstbemächtigung und autonomen Persönlichkeitsentwicklung. Den sozialen Raum nicht bewusst in das Lernen zu integrieren, käme einer Entmündigung der Lernenden gleich.
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
4.1
Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung als interdisziplinäre Schnittstelle
4.1.1
Lernen & fächerübergreifende Kompetenzen – Eine Begriffsbestimmung
Da Schule – und das Lernen im Besonderen – einen wichtigen Beitrag zur Sozialisation übernehmen, kommt dem Lernziel eine spezielle Bedeutung zu: Das Lernziel ist weit mehr als die Orientierung auf einen Abschluss hin; vielmehr spiegelt das Lernziel einen Anschluss an die Lebensphasen nach der Schule wieder und lässt sich mit dem komplexen Spektrum der fächerübergreifenden Persönlichkeitskompetenzen beschreiben. Daher greift die moderne Schule mit der Kompetenzorientierung als Lern- und Lehrorientierung eine wichtige Facette ganzheitlicher Bildung auf und stellt dem Wissen die personellen und sozialen Fähigkeiten und Neigungen gegenüber. Didaktische Forschung greift damit auf ein Prinzip der Bildungsbegleitung und Persönlichkeitsentwicklung zurück und entwickelt erweiterte Ansprüche an Schule in der Zweiten Moderne. Dieses Kapitel stellt das sozialräumliche Lernen in den Kontext einer anschlussorientierten Bildung und leitet aus verschiedenen Bildungsdiskursen eine demokratiebildende Perspektive auf fächerübergreifende Kompetenzen ab – in Gegenüberstellung an die Anforderungen einer Gesellschaft der Vielfalt und ihre jeweiligen Differenzlinien. Für die Didaktische Forschung lassen sich darüber Rahmenbedingungen benennen, die als anschlussorientierte Zielstellung an ein Lernen im sozialen Raum gekoppelt werden können. Mit dem Fokus der Anschlussorientierung können Aspekte der Nachhaltigkeit eines sozialräumlichen Lernens beschrieben werden.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_4
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4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
„Was müssen Menschen wissen, damit sie die heutige Krisensituation begreifen und ihre Lebensbedingungen in solidarischer Kooperation mit anderen verbessern können?“ – fragt der Soziologe Oskar Negt (2016 [1997], S. 218) in der ursprünglich 1997 erschienenen Publikation „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“. Eine mögliche Antwort findet die Streitschrift der Kompetenzforscher John Erpenbeck und Werner Sauter (2016), für welche das Wissen einen zentralen Bestandteil von Kompetenz abbildet, welche aber gleichfalls darauf verweisen, dass es sehr wohl auch unfruchtbares Wissen ohne Kompetenzen geben kann (Erpenbeck/Sauter 2016, S. 6). Damit Wissen fruchtbar in eine Kompetenz eingebunden werden und die Kompetenz – abhängig vom äußeren Rahmen der Lern- und Handlungssituation, muss nach Erpenbeck/Sauer eine Umgestaltung der schulischen Unterrichtsgestaltung erfolgen: „Dafür müssen die Strukturen der Schulen, von der Zerhackung der Zeit in 45-MinutenEinheiten über die Zersplitterung der Themen in Unterrichtsfächer bis zum Zwang, fast ausschließlich Bulimielernen zu bewerten, grundlegend verändert werden. Der Paradigmenwechsel liegt in der Verlagerung der Lernverantwortung auf die Schüler, die die Freiheit erlangen, den Unterricht mit zu gestalten sowie ihre Arbeitsthemen und ihre Lernmethoden innerhalb eines Lernrahmen selbst auszuwählen und anzuwenden. Die Lehrer wandeln ihre Rolle zum Lernbegleiter, die Kommunikation mit den Schülern erfolgt auf Augenhöhe.“ (ebd., S. 125)
Oskar Negt (2014; 2016 [1997]) beschreibt diese strukturellen Grundlagen für eine möglichst breite Kompetenzentwicklung und daran gekoppelte Lernformen am Bespiel der reformpädagogisch arbeitenden „Glocksee Schule“ in Hannover. Aber auch jenseits reformpädagogisch ausgerichteter Bildungsarbeit erfolgt ein Umdenken ausgerichtet auf didaktische Lernprozesse, die Kompetenzen stärken – und sei es, weil der Kompetenz-Begriff in Lehrplänen und Bildungsdiskursen zunehmen an Bedeutung gewinnt. Dabei bleibt gerade dieser Begriff, ähnlich wie die daran gekoppelten Begriffe des informellen, formellen und non-formalen Lernens, unscharf. Um Kompetenzen definieren zu können, bietet Franz E. Weinerts (2001) Verständnis der Kompetenz als erlernbare, kognitiv und volitional geprägte Fähigkeiten zur Problemlösung (ebd., S. 27 f.) eine wichtige Grundlage (vgl. auch vertiefend Abschnitt 4.2.1). Dabei ist der Kompetenzerwerb an die kognitive Lernfähigkeit der Lernenden gebunden und somit das Ergebnis einer Interaktion von Anlageund Umweltbedingungen (Ziegler et al. 2012, S. 17). Inhaltlich beschreibt die Kompetenz eine Verschränkung von Wissen und konkreten Fallbeispielen sowie deren Transfer auf neue Wissens- und Handlungsbereiche, die in einem spezifischen
4.1 Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung …
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Kontext zum Ursprung des Wissen stehen (ebd., S. 17 ff.). Die Kompetenzentwicklung kann dabei motivational gestützt werden: Neben einer positiven Beeinflussung der Erfolgserwartung und Anstrengungsbereitschaft der Lernenden sowie einem kontinuierlichen Feedback durch die Lehrkraft bildet eine herausfordernde Aufgabengestaltung den Kern der Unterstützungsleistungen, welche durch Lehrkräfte direkt erbracht werden können (ebd., S. 20 ff.). Dabei ist die Erkenntnis, dass Lernen über lösbare Herausforderungen besonders produktiv gestaltet werden kann, nicht neu: Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts betont John Dewey (2002 [1910]) die positive Wirkung des Lernens in anspruchsvollen Situationen: „Das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Beunruhigung, einem Staunen, einem Zweifel. Es ist kein Akt spontaner Entladung, es vollzieht sich nicht nach ‚allgemeinen Gesetzen’“. (Dewey 2002 [1910], S. 15) Diese Beunruhigung oder das Staunen kann dabei auch mit dem Begriff der „Herausforderung“ beschrieben werden. Als Herausforderung muss auch die Ausdifferenzierung einzelner Kompetenzformen betrachtet werden. Als erste Orientierung dient dabei die Grundlagenforschung Weinerts (2001), der Kompetenzen in fachliche und fachübergreifenden Kompetenzen und Handlungskompetenzen einteilt (ebd., S. 28). Die primäre Unterscheidung zwischen fachlichen und fachübergreifenden resp. fächerübergreifenden Kompetenzen wurde im Bereich der schulischen Bildung weitestgehend übernommen, wobei darauf verwiesen wird, dass fachliche Kompetenzen als Grundlage fächerübergreifender Kompetenzen fungieren und sich daher die Kompetenzbereiche nicht antagonistisch gegenüberstehen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2003, S. 75). Die vorliegende Arbeit hat deshalb zur Beschreibung eines Kompetenzinventars, welches auch jenseits von Fachunterricht und Fachwissen erworben werden kann, die Bezeichnung fächerübergreifende Kompetenzen gewählt. In diesen Begriff werden jedoch gleichfalls Bezeichnungen wie Schlüsselkompetenzen oder Querschnittskompetenzen semantisch integriert sowie fachliche Kompetenzen als Grundlagenkompetenzen subsumiert. Mit Hilfe der einheitlichen Festlegung auf den Begriff der fächerübergreifenden Kompetenzen soll eine Überschaubarkeit im Kompetenzdiskurs gewährt werden, ohne die Anschlussfähigkeit an den berufsbildenden und europäischen Fachdiskurs zu behindern. Während für die Didaktik der allgemeinbildenden Schule der Konsens auf dem Begriff der fächerübergreifenden Kompetenz beruht, spricht die Forschung mit Blick auf das lebenslange Lernen von Schlüsselkompetenzen. Basierend auf den Untersuchungen der OECD (2005) und der Europäischen Union (2006) zu Schlüsselkompetenzen sowie der vorausgegangenen Expertise von Rychen/Salganik (2001) ergibt sich ein Europäischer Referenzrahmen zu Schlüsselkompetenzen, in welchem acht Schlüsselkompetenzen definiert und voneinander unterschieden werden. Alle Schlüsselkompetenzen werden durch eine
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Verschränkung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellung geprägt sowie durch Querkompetenzen wie Kritisches Denken, Kreativität, Initiative, Problemlösung, Risikobewertung, Entscheidungsfindung und konstruktiver Umgang mit Gefühlen beeinflusst (Europäische Union 2006, S. 5). Bereits 1999 trifft der Didaktiker Wolfgang Klafki mit Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse eine eigene Definition von Schlüsselqualifikationen: unter anderem Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit sowie Empathie und Kreativität (Klafki 1999, S. 40 f.). Auch Oskar Negt fügt seiner Grundkompetenz Zusammenhang herstellen fünf gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen bei, die als fächerübergreifende Kompetenzen das Leben und Arbeiten in einer Gesellschaft der Vielfalt stützen: Identitätskompetenz, technologische Kompetenz, Gerechtigkeitskompetenz, ökologische Kompetenz sowie historische Kompetenz (Negt 2016 [1997], S. 243–247). Eine vertiefende Analyse fächerübergreifender Kompetenzen bzw. Kompetenzmodelle bilden die Abschnitt 4.2.1 bis 4.2.8 dieser Arbeit ab. An schulischen Schnittstellen des fächerübergreifenden, kompetenzorientierten Lernens werden Kompetenzbegriffe und -modelle in Auseinandersetzung mit den deduktiv formulierten Kompetenzkategorien der vorliegenden Arbeit untersucht. Mit Hilfe einer synoptischen Darstellung lassen sich etablierte Kompetenzbegriffe in ihrer Definition den deduktiv abgeleitetem, arbeitsspezifischen Kompetenz- und Kategorienmodell gegenüberstellen. Die dafür angesetzten neun Kompetenzbegriffe lauten • • • • • • • • •
in die Gesellschaft integriert sein, Zusammenhänge kritisch reflektieren können, an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben, ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln, planvoll handeln können, situationsgerecht handeln können, eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können, aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können, einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden.
Sie speisen sich aus dem berufpraktischen Alltagswissen der Verfasserin und wurden zu Beginn der Materialsichtung an Kompetenzdefinitionen der Lehrpläne Sachsen-Anhalts überprüft. Diese deduktiv entwickelten Kompetenzen werden nun im Folgenden den etablierten Kompetenzbegriffen und -modellen der schulischen Schnittstellen gegenübergestellt, um sie semantisch weiter ausdifferenzieren zu können. Die Kompetenzen fungieren als fächerübergreifende Fähigkeiten und Entwicklungsaufgaben in einer Gesellschaft der Vielfalt.
4.1 Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung …
121
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann jedoch jeweils nur ein Ausschnitt des Kompetenzdiskurses aus der jeweiligen Fachdisziplin (schulischen Schnittstelle) heraus betrachtet werden. Die Darstellung beschränkt sich auf den deutschsprachigen Diskurs und trägt – wie so oft in der Kompetenzforschung bereits formuliert – keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da der Kompetenzbegriff über verschiedenste Zugänge, Forschungsbereiche und Einsatzmöglichkeiten auf viele Jahre hinaus „unscharf“ und vielschichtig bleiben wird. Der Umgang mit einer sich daraus ergebenden Komplexität muss ähnlich angesetzt werden, wie der Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt: er verlangt die Ambiguitätstoleranz und ein Aushalten von Widersprüchen. Für eine Annäherung an den Begriff des Lernens, braucht es zunächst die Einordnung des Begriffs in einen übergeordneten Zusammenhang, um zu verstehen welchen Platz das (Er)Lernen (von Kompetenzen) im Sozialisationsprozess einnimmt. Aus schultheoretischer Sicht, ist Lernen in die normativen Schulaufgaben der Bildung und Erziehung eingebunden. Zentral wird dabei das Verständnis angesetzt, dass beide Begriffe als Unterkategorien einen Bestandteil von Sozialisation als übergreifendes, lebenslanges Prinzip abbilden (Hurrelmann/Bauer 2015, S. 15; Hortkemper/Tillmann 2016; S. 25). Sowohl Bildung als auch Erziehung sind steuerund planbare Prozesse. Während Bildung die Aneignung eines gesellschaftlichen Wissens und eines ganzheitlichen Bildes von Kultur und Welt umfasst (Horstkemper/Tillmann 2016, S. 15 f.), beschreibt Erziehung die Prozesse, die Kinder und Jugendlichen eine moralische Orientierung bieten und dazu beitragen, gesellschaftliche Werte im sozialen Miteinander zu leben (ebd., S. 20 f.). Beide Schulaufgaben sind damit nur zu Teilen an die Form des Unterrichtes gebunden, sie greifen in ihrer Komplexität weit über den Fachunterricht hinaus. Speziell die Vermittlung fächerübergreifender Kompetenzen muss eng an Bildungs- und Erziehungsprozesse im interdisziplinären, fachübergreifenden Kontext gekoppelt werden. Ganzheitliche Bildungs- und Erziehungsprozesse vermitteln fächerübergreifende Kompetenzen in Form von Orientierung, lebensweltlichem bzw. gesellschaftlichem Wissen und Handlungsfähigkeit – eine Definition, welche die vorliegende Arbeit als Grundlagenverständnis ansetzt. Die Prozesse dieser Vermittlung stellen als Lernen den methodisch-didaktischen Rahmen des Kompetenzerwerbs dar. Damit wird in der Konsequenz deutlich, dass Lernen über die Form des Fachunterrichtes auch nur eine Teilmenge des Verständnisses von Lernen abbildet – auch wenn Unterricht einen großen zeitlichen und ressourcenumfassenden Bestandteil von Schule bildet. Wenn nun „Bildung und Erziehung als bewusste und geplante Beeinflussung der Heranwachsenden“ verstanden werden können, „(als Unterkategorien) des Sozialisationsprozesses gesehen“ und als „methodische Sozialisation“ (Horstkemper/Tillmann 2016, S. 25) sowie als intentionale Sozialisation (Nieke 2016) definiert
122
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
werden, sind die darin enthaltenen Lernprozesse gleichfalls bewusst und werden als formales Lernen erfasst. Parallel dazu existieren auch in Schule und Unterricht eine Reihe unbewusster Interaktionen und Prozesse, die nicht geplant werden bzw. auch nicht planbar sind. Diese sind dann als nicht-methodische Sozialisationsprozesse zu definieren, welche nicht intendierte Lernprozesse involvieren. Sie werden als informelles Lernen bezeichnet. Auch informelle Lernprozesse tragen zum Erwerb fächerübergreifender Kompetenzen als Verbindung von Orientierung, lebensweltlichem bzw. gesellschaftlichem Wissen und Handlungsfähigkeit bei. Anders als Erziehungs- und Bildungsprozesse, welche durch formale Lernprozesse gekennzeichnet sind, ist das informelle Lernen ein institutionalisiertes und gleichzeitig lebensweltliches Lernen – durch die Situiertheit der Lernsituation definiert. Wird Lernen außerhalb der Institution Schule angesetzt, spricht von einer non-formelen resp. nicht-formalen Bildung Diese Dreiteilung zwischen formalen, non-formalen und informellem Lernen basiert auf einer Publikation der Europäischen Kommission (2000) zum lebenslangen Lernen. Speziell das Feld des informellen Lernens hat stark an Bedeutung gewonnen, bleibt aber – wie Bernd Dewe und Daniel Straß (2015) diese Lernform auch bezeichnen – in ihrer Begrifflichkeit „opak“. Ähnlich wie im Kompetenzdiskurs, der zwangsläufig an die Lernforschung gebunden ist, bildet die Komplexität der Forschungszugänge eine „Gemengelage“ unterschiedlichster Definitionen zum Begriff des informellen Lernens. Allein die Zahl spezifischer Handbücher (Kahnwald/Täubig 2017; Rohs 2016; Harring et al. 2016, Niedermair 2015), welche innerhalb von 36 Monaten zur Thematik erschienen sind, zeigt wie stark das Forschungsinteresse an dieser Lernform ist; belegt jedoch zugleich die Schwierigkeit, diese Lernformen klar zu definieren. Im betriebs- und berufspädagogischen Bereich bilden die Arbeiten bzw. Sammelpublikationen von Peter Dehnbostel und Bernd Overwien (vgl. Dehnbostel/Novak 2000; Dehnbostel/Gonon 2002; Hungerland/Overwien 2004; Overwien 2005) die Grundlagen einer deutschsprachigen Forschung zum informellen Lernen. Für die Soziale Arbeit schaffen die Forschungsergebnisse von Thomas Rauschenbach einen wesentlichen Orientierungspunkt (vgl. Rauschenbach et al. 2006). Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wird auf die Arbeiten von Günther Dohmen (1999; 2001) verwiesen. Im internationalen Kontext greift die InformelleLernforschung (vgl. Harring et al. 2016b, S. 16) auf eine Begriffsdefinition des Sozialwissenschaftlers David W. Livingstone zurück: „Die grundlegenden Merkmale des informellen Lernens (Ziele, Inhalte, Mittel und Prozesse des Wissenserwerbs, Dauer, Ergebnisbewertung, Anwendungsmöglichkeiten) werden von den Lernenden jeweils einzeln und gruppenweise festgelegt. Informelles
4.1 Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung …
123
Lernen erfolgt selbstständig, und zwar individuell oder kollektiv, ohne dass Kriterien vorgegeben werden oder Lehrkräfte dabei mitwirken. Informelles Lernen unterscheidet sich von Alltagswahrnehmungen und allgemeiner Sozialisierung dahingehend daß die Lernenden selbst ihre Aktivitäten bewußt als signifikanten Wissenserwerb einstufen. Wesensmerkmal des informellen Lernens ist die selbstständige Aneignung neuer signifikanter Erkenntnisse oder Fähigkeiten, die lange genug Bestand haben, um im Nachhinein als solche noch erkannt zu werden […].“ (Livingstone 1999, S. 68 f.)
Mit der von Livingstone getroffenen Definition wird zudem die inhaltliche Unterscheidung zwischen informellem Lernen und unbewussten Sozialisationsprozessen deutlich: Beim informellen Lernen wird der Lernprozess rückwirkend vom Lernenden bzw. von der Lernenden als solcher wahrgenommen und daher reflektiert. Für die Didaktische Forschung liegt darin eine wesentliche Chance: Wird das tägliche, lebensweltliche Erleben reflektiert, kann daraus ein Mehrwert wachsen, der Sozialisations-, Bildungs- und Erziehungsprozesse über den Erwerb fächerübergreifender Kompetenzen stützt. Sozialräumliches Lernen setzt im Erleben sozialräumlicher Bezüge an und bindet die direkte Lebenswelt der Lernenden ein, so dass sozialräumliches Lernen in seiner Besonderheit als Lernform über eine Verschränkung der Lernformen mit sozialem Erleben wirken kann.
4.1.2
Sozialräumliches Lernen als Lernform und lebensweltliche Praxis
Innerhalb der kompetenzorientierten Rahmenlehrpläne und Curricula nimmt das Lernen über den direkten Lebensweltbezug einen besonderen Stellenwert ein. In den Rahmenrichtlinien des Landes Sachsen-Anhalt werden dabei für die Schulformen Lebensweltkontexte definiert, die durchaus auch sozialräumlichen Kontexten entsprechen. Am differenziertesten erfolgt diese Darstellung im Grundsatzband des Lehrplans der Sekundarschulen (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b). Hier werden Schwerpunkte des Erziehungs- und Bildungsauftrages der Schule, wie sie im Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt unter Paragraph 1 (SachsenAnhalt 2013) formuliert werden, fachübergreifenden Themen mit Lebensweltbezug gegenübergestellt und auf einzelne Fachlehrpläne der Sekundarschule bezogen (Tab. 4.1):
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4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.1 Übersicht der fächerübergreifenden Schwerpunkte und Themen (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 17) Schwerpunkte gemäß § 1 des Schulgesetzes
Fächerübergreifende Themen
Die Erde bewahren und friedlich zusammenleben
Miteinander leben
D, En, Mu, Eth, RU, Sp
5/6
Wir leben in der Einen Welt
Geo, Ku, Eth
5/6
Nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen
Eine Welt von Ungleichheiten
Jugend für Toleranz und Demokratie
Leben mit Medien
Bezug dazu in den Fachlehrplänen
Tiere und Menschen leben D, Bio, Ku, Eth zusammen
5/6
Wir leben mit Menschen anderer Kulturen zusammen
7/8
D, En, Ru, Geo, Mu, Eth
Europa – vom Schachtfeld Ru, Fr, Ge, Geo, Soz, Eth zur guten Nachbarschaft
9/10
Luft, Wasser und Boden als natürliche Lebensgrundlagen
Geo, Ch, Ph, Sp
7/8
Nachhaltig mit Ressourcen umgehen
Geo, Astro, Bio, Ch, Ph, Sp
9/10
Typisch Mädchen – typisch Jungs
HW, Ku, RU
5/6
Herrliche Zeiten vorbei? Soz, HW, Eth, RU Ist die Gleichberechtigung verwirklicht?
7/8
Arme Welt – reiche Welt – Eine Welt
9/10
Geo, Ch, HW, Eth
Mitbestimmen, Soz, Eth, RU mitgestalten – Demokratie leben
7/8
Keine Chance dem Extremismus – ziviles Engagement zeigen
D, Ge, Soz Bio, Eth, RU
9/10
Mit Technik und Medien leben
D, Te, Mu
5/6
Mit Informations- und Kommunikationstechnik umgehen lernen
D, Ma, Eth
7/8
Kreatives Handeln mit Medien
D, Ru, Frz, Ge, Ku, Mu, Eth
7/8 (Fortsetzung)
4.1 Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung …
125
Tab. 4.1 (Fortsetzung) Schwerpunkte gemäß § 1 des Schulgesetzes
Gesundes Leben
Aktiv das Leben gestalten
Fächerübergreifende Themen
Bezug dazu in den Fachlehrplänen
Medien als wirtschaftliche D, Ku, Mu, Soz und politische Faktoren in der Gesellschaft
9/10
Informations- und Kommunikationstechnik anwenden
D, Ma, Bio, Ch, Wi, T, Mu
9/10
Gesund leben in einer gesunden Umwelt
Ma, HW, Sp
5/6
Sicher leben – zu Hause, in der Schule und im Straßenverkehr
Ph, Sp, Te
5/6
Sicher und gesund durch den Straßenverkehr
Ma, Sp, Bio
7/8
Gesund und leistungsfähig ein Leben lang – Lebensgestaltung ohne Sucht und Drogen
Bio, Ch, HW, Sp
9/10
Zwischen Vergangenheit und Zukunft leben
D, Ma, Ge, Geo, Mu, RU
5/6
Kunst und Kultur in unserem Leben
Ge, Mu, Ku
5/6
Freizeit – sinnvoll gestalten
D, Frz, Ku, Mu, Sp, Eth
7/8
Betriebs- und Arbeitsplatzerkundung, Berufsorientierung, Berufsberatung, Berufsfindung
D, Ch, Wi, Te
7/8
Demokratie im Nahraum – nachhaltige Raumentwicklung
Geo, Bio, Wi, Te, Eth
9/10
Mit Kultur und Künsten leben
D, En, Ru, Frz, Ku, Mu, Sp
9/10
Dabei ist der Ansatz, Schule und Unterricht lebensweltlich zu denken, nicht neu. Bereits sozial-ökologische Ansätze der Psychologie beschreiben die Lebenswelt als Lern- und Erfahrungsraum, in welchem Kinder und Jugendliche Wissen und Fähigkeiten erwerben. Bereits in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts forscht die Psychologin Martha Muchow zur kindlichen Entwicklung über die Nutzung und Eroberung von Räumen durch Kinder (vgl. Muchow/Muchow 2012).
126
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Hannelore Faulstich-Wieland (2013, zit. nach Deinet 2014) urteilt über Muchows Forschung: „Die Untersuchung macht deutlich, wie unterschiedlich Räume und ge- und erlebt werden und wie dabei unterschiedliche Lebens- und Lernräume entstehen. Martha Muchow zeigt, dass Räume nicht einfach nur da sind, sondern dass sie zugleich im interaktiven Handeln geschaffen werden und somit als räumliche Strukturen soziales Handeln steuern. Das Aufgreifen dieses Ansatzes bringt Muchow ins Zentrum der aktuellen und weiter anschwellenden Diskussion um Sozialraummanagement, Raumsoziologie und die bildungswissenschaftliche Lernortdebatte [Hervorhebung CK]“ (Faulstich-Wieland 2013, S. 2, zit. nach Deinet 2014, S. 28 f.).
In Muchows Forschung wird Persönlichkeitsentwicklung eng an das subjektive Erleben der äußeren Realität gebunden. Über die aktive Erkundung des Stadtteils als Lebenswelt werden Kinder zu Gestaltern ihrer Umwelt und zugleich zu produktiven Realitätsverarbeitern, die über das Interagieren in der Lebenswelt lernen und sich als Persönlichkeiten entwickeln. Die dialektische Verknüpfung von menschlicher Entwicklung und Umwelt bildet die Grundlage in Urie Bronfenbrenners 1979 erschienen sozialpsychologischen Studie „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung“. Aufbauend auf dem Verständnis des Menschen als sich aktiv Welt aneignendem und sich dabei kontinuierlich entwickelndem Subjekt definiert Bronfenbrenner die Umwelt über topologisch ineinandergeschachtelte Ökosysteme (Bronfenbrenner 1993 [1979], S. 38 ff.). Dabei beschreibt er Neben Mikro-, Meso- und Makrosystem auch ein Exosystem, in welches das lernende Subjekt nur indirekt eingebunden ist, indem Wirkungen des Exosystems Einfluss auf die subjektive Entwicklung nehmen. Später ergänz er sein Ökosystem um ein zeitliches, lebensphasenbestimmtes Chronosystem. Damit setzt Brofenbrenner über seine Ökologie der menschlichen Entwicklung einen bewussten Fokus auf den „Raum“, über welchen die subjektive Entwicklung als Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Realität stattfindet. Die Komplexität des Systems resp. Raums, welches sich das Subjekt über seine Wahrnehmung erschließt, spiegelt dabei den Grad der Persönlichkeitsentwicklung wider. Betrachtet man die psychologischen Ansätze, welche kindliches und jugendliches Lernen über Raumerfahrungen beschreiben, wird das Potential der sozialräumlichen Lebenswelt als Instrument und Konzept der Kompetenzentwicklung deutlich: Das Lernen in der Lebenswelt bietet Anknüpfungspunkte an bestehende Alltagserfahrungen und an daraus gewonnenes Wissen. Gleichzeitig impliziert die Lebenswelt eine Reihe von Herausforderungen; „das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Beunruhigung, einem Staunen, einem Zweifel“ (Dewey 2002 [1910], S. 15) – Herausforderungen, die sich in der Lebenswelt allesamt als zu erforschendem Teil
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
127
des wahrnehmenden Bewusstseins finden lassen. An die bewusste Wahrnehmung als Ursprung des Denkens schließen sich die Handlung und eine Reflexion der Handlung an. Lernprozesse können formell, non-formal und informell erfolgen. Das informelle Lernen erfolgt automatisch über die Sozialisationserfahrung, sobald die Erfahrung an die Reflexion geknüpft ist. Werden Lehrplaninhalte bewusst in die Wahrnehmung und Reflexion der Lebenswelt eingebunden, bietet das sozialräumliche Lernen in der Lebenswelt Möglichkeiten des formellen Lernens. Wenn diese Inhalte über eine außerschulischen Partner oder eine außerschulische Akteurin in den Lernprozess eingebracht werden, spricht man von non-formalem Lernen – eine Lernform, die gleichberechtigt neben informellen Lernprozessen im sozialräumlichen Lernen steht. Sozialräumliches Lernen fungiert demnach als ganzheitliche Lernform, impliziert dabei ein eigenes Lernkonzept sowie methodisch-didaktische Instrumente, und wirkt zeitgleich über die lebensweltliche Praxis als Raum der Kompetenzentwicklung. Letztendlich ist das lebensweltbezogene Lernen im Sozialraum die direkteste Möglichkeit, um der Pflicht des Lehrenden, das Kind „die Welt erfahren zu lassen, wie sie ist, ohne es der Welt zu unterwerfen, wie sie ist“ (von Hentig 1993, S. 258) gerecht werden zu können.
4.2
Sozialräumliches Lernen als Form der fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung an der Schnittstelle …
4.2.1
Fachunterricht: Fächerübergreifende Kompetenzen sowie ethische/moralische Kompetenz
Im Forschungs- und Handlungsbereich der allgemeinbildenden Schulen bildet bis heute die von Franz E. Weinert 2001 geprägte Kompetenz-Definition die Grundlage eines kompetenzorientierten Unterrichts. Als Kompetenzen definiert Weinert „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, S. 27 f.).
Neben der den „Nationalen Bildungsstandards“ zugrundeliegenden Expertise aus dem Jahr 2003 (Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2003, S. 72 f.) verweisen Lehrpläne (vgl. Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 14;
128
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
2012b, S. 11) und Forschungsarbeiten zur Kompetenzentwicklung (vgl. Harthmann/Meuther 2015, S. 10; Hofer 2012, S. 29 f.; Ziegler et al. 2012, S. 16; Slepcevic-Zach/Tafner 2012, S. 34 f.; Prettenthaler 2012, S. 73) auf Weinerts Begriffsdefinition und bauen auf dieser ihre Untersuchungen auf. Auch Weinerts getroffene Unterscheidung zwischen fachlichen Kompetenzen, fachübergreifenden Kompetenzen und Handlungskompetenzen (Weinert 2001, S. 28) wird dabei im schulischen Kontext weitestgehend übernommen (vgl. Klieme et al. 2014; Paechter et al. 2012; Rösch 2011), wobei die Handlungskompetenzen zumindest in den sachsen-anhaltischen Rahmenrichtlinien zur Kompetenzorientierung in den Begriff der fächerübergreifenden Kompetenzen integriert werden. Eine Ausnahme bildet der Rahmenlehrplan des Gymnasiums. Hier spricht der Lehrplan von Schlüsselkompetenzen und bezieht sich dabei mit der Übernahme der entsprechenden Begrifflichkeit auf das Verständnis der Europäischen Union vom Lernen als lebenslangem Prozess (vgl. Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 9; Europäische Union 2006) – eine Entscheidung des Kultusministerium, welche der stärkeren Orientierung an europäischer Politik geschuldet sein mag und für ein Bewusstsein schulischer Bildung als Baustein einer lebenslangen Bildung und Sozialisation spricht. Damit greift das Kultusministerium Sachsen-Anhalt den Ansatz der Expertise zur Formulierung „Nationaler Bildungsstandards“ – häufig auch als „Klieme-Expertise“ bezeichnet – auf. Gemäß dieser Studie leiten sich aus modernen, gesellschaftlichen Herausforderungen Bildungsziele ab. Diese koppelt die Expert*innen-Kommission an Kompetenzmodelle und Bildungsstandards. Im Gutachten heißt es dazu: „Bildungsziele werden deshalb häufig unter dem Anspruch formuliert, auf diese Zeitproblematik in eigener Weise zu reagieren, also z. B. den sozialen Wandel zu berücksichtigen, Zukunft zu antizipieren und je aktuell Antworten auf die Herausforderungen zu eröffnen, die sich im historischen Prozess ergeben. […] Bildungsziele und schulische Arbeit werden als Antworten auf gesellschaftliche Probleme verstanden, aber auch als angemessene Reaktionen auf den technologischen Wandel oder auf die Veralterung des Wissens und den rapiden Zuwachs an Technologien. Damit sollen die Pädagogen die Zukunft vorbereiten, die sich nur diffus abzeichnet.“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2003, S. 60)
An dieser Stelle wird deutlich, welche Bedeutung dabei Sozialisationsprozessen und informeller bzw. non-formaler Bildung zukommt. Diese Prozesse nehmen neben Fachunterricht und daraus abgeleiteten fachlichen Kompetenzen einen gleichberechtigten Platz ein und werden – auch mit Blick auf die schulische Bildung – immer essentieller für das Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt. Dennoch liegt der
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
129
Fachunterricht als zentrale Möglichkeit einer fächerübergreifenden Kompetenzstärkung immer noch im Fokus der Didaktischen Forschung und soll nun einleitend als schulische Schnittstelle untersucht werden: Um im Rahmen des Forschungsvorhabens Kompetenz erheben zu können, braucht es die Analyse und Gegenüberstellung von Kompetenzmodellen, wie sie innerhalb der jeweiligen schulischen Schnittstellen verwendet werden. Für den Unterrichtsbereich greift die Arbeit stellvertretend für die curriculare Verankerung des Kompetenzbegriffs auf die Rahmenlehrpläne des Landes Sachsen-Anhalt zurück (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007; 2012b; 2015). Zudem stellt sie diesen exemplarisch das Kompetenverständnis des Ethik-Unterrichtes entgegen. Die ethischen/moralischen Kompetenz1 (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, Dietrich 2008; Rösch 2011) fungiert als komplexes Modell einer Handlungs-, fächerübergreifenden sowie einer fachlichen Kompetenz. Alle Kompetenzansätze – sowohl die der Rahmenlehrpläne als auch die des Ethik-Unterrichtes – definieren ihre Kompetenzen im Sinne von Entwicklungsaufgaben innerhalb einer Gesellschaft der Vielfalt. Bereits in einer ersten Analyse wird deutlich, dass diese Kompetenzen einem ganzheitlichen Verständnis sozialer, personeller, methodischer und fachlicher Kompetenzen entsprechen und daher fächerübergreifend in verschiedensten Didaktiken Anwednung finden. Auffällig ist die hohe semantische Nähe zwischen den einzelnen fächerübergreifenden Kompetenzen und Teilkompetenzen der Rahmenlehrpläne zum Kompetenzverständnis der Fachdidaktik Ethik. Anhand der Ethik-Teilkompetenz Verstehen und Deuten (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5) soll beispielhaft die Verschränkung zu weiteren bestehenden Kompetenzen und Teilkompetenzen aufgezeigt werden: Die benannte Teilkompetenz wird unter anderem als Fähigkeit, „bei der Interpretation von problemorientierten Texten eigene sowie andere Ansichten und Deutungen“ (ebd., S. 5) heranziehen zu können, definiert. Geht man in den Vergleich zur Ebene der Rahmenlehrpläne dann finden sich weitere Überschneidungen zur fächerübergreifenden Teilkompetenz Sprachkompetenz als Fähigkeit „Sprache in der Situation angemessen und normgerecht gebrauchen“ (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12) und zur fachübergreifenden Teilkompetenz Sozialkompetenz, welche unter anderem durch die „Fähigkeit zur selbstkritischen Einschätzung“ (ebd., S. 13) definiert wird. Ebeneso ergibt sich eine Brücke zur fächerübergreifenden 1 Die Arbeit verwendet den Begriff der ethischen/moralischen Kompetenz und bezieht sich dabei auf die Analyse von Julia Dietrich (2007) zur Klärung des Begriffsfeldes im philosophischen Kontext, wonach der Begriff der Moral dem Begriff der Ethik übergeordnet ist. Die Autorin schlägt den Begriff der moralischen Kompetenz als etymologisch korrekten vor (ebd., S. 36), bleibt aber – wie andere Autorinnen auch – beim Begriff der ethischen Kompetenz, um die Vergleichbarkeit zur Forschung und zugrundeliegenden Lehrplänen zu gewährleisten.
130
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Teilkompetenz Problemlösekompetenz; in der Definition „komplexe Aufgabenstellungen müssen zunehmend selbstständig analysiert, Zusammenhänge erkundet sowie wesentliche und unwesentliche Informationen unterschieden werden, um zielgerichtet Lösungsmöglichkeiten zu erkenne“ (ebd., S. 13) finden sich gleichfalls verstärkt semantische Bezüge zur Ethik-Teilkompetenz Verstehen und Deuten. Auch in den Kompetenz-Darstellungen Julia Dietrichs (2008) und Anita Röschs (2011) werden semantische Bezüge offensichtlich. Diese inhaltliche Nähe – zwischen Entwicklungsaufgaben einer Gesellschaft der Vielfalt (deduktives Kategorienmodell) einerseit, fächerübergeifenden Kompetenzen der Fachdidaktiken und Kompetenzen des Ethik-Unterrichtes andererseits – lässt sich mit Blick auf Abschnitt 4.2.8 aus Blick der Soziomoralischen Sozialisation als schulischer Schnittstelle nochmals belegen. In ihrer Überblicksdarstellung zu Begriffen und Anwendungsbereichen der ethischen/moralischen Kompetenz führt Monika Prettenthaler (2012) gleich zu Beginn die gesellschaftliche Relevanz dieser Kompetenz an und belegt über die Analyse des Begriffs diese These. Prettenthaler spricht der ethischen/moralischen Kompetenz eine fachübergreifende Bedeutung auf schulischer und außerschulischer Ebene zu: „Gesellschaftliche Umformungsprozesse wie Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen, Migrationsbewegungen und Multikulturalität, wirtschaftliche und mediale Globalisierung, Veränderungen im europäischen Religions-Setting sowie neue Möglichkeiten der Gen-, Neuro- und Medizintechnik zeigen, dass ethische Herausforderungen nicht nur in der Alltagspraxis gegenwärtig sind.“ (ebd., S. 72)
Sie greift damit den Ansatz der Expertise-Forschung zu „Nationalen Bildungsstandards“ auf, welcher die Notwendigkeit einer Überarbeitung schulischer Bildungsstandards und -ziele in Abhängigkeit zu gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen begründet (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2003, S. 60). Somit muss die ethische/moralische Kompetenz zum einen als fächerübergreifende Kompetenz resp. Handlungskompetenz resp. Schlüsselkompetenz begriffen werden. Zum anderen muss der ethisch/moralischen Kompetenz in ihrem ganzheitlichen Verständnis als Fachkompetenz sowie fachübergreifende Kompetenz in Schule und Unterricht verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet werden, da sie neben dem Ethik- und Philosophieunterricht auch in anderen Fächern als Bildungsziel verankert werden kann bzw. bereits verankert ist. Das sozialräumliche Lernen als Lernform eines situierten Lernens in der Community bietet umfassende Anknüpfungspunkte, um die Stärkung der ethischen/moralischen Kompetenz ins Zentrum zu stellen.
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
4.2.2
131
Übergang Schule/Beruf: Berufswahlreife resp. Berufswahlkompetenz
Beschwerden über die mangelnde Ausbildungsreife heutiger Jugendlicher sind Diskussionsgegenstand vieler Erhebungen im Auftrage der Kammern und Arbeitgeber*innen-Verbände (vgl. Mourshed et al. 2014; DIHK 2015). Die Verfasserin dieser Untersuchung kann dabei auf eigene Berufserfahrungen aus der Koordination und Mitarbeit im „Arbeitskreises SCHULEWIRTSCHAFT AnhaltBitterfeld“ zurückgreifen. Auszubildende zeigen – so der überwiegende Tenor der Berufsorientierungsgremien – eine mangelnde Kenntnis zu Ausbildungsberufen sowie fachliche und psychosoziale Defizite. Eine Studie im Auftrag der „Hans Böckler Stiftung“ (Dobischat et al. 2012) untersucht ausgewählte, arbeitgeber*innen-nahe Erhebungen und kommt zu dem Zwischenfazit: „Es kann festgehalten werden, dass die bisher referierten Studien keinen Schluss auf eine mangelnde bzw. gesunkene „Ausbildungsreife“ der heutigen Lehrstellenbewerber zulassen. Vielmehr ist deutlich geworden, dass die Studien, die mangelnde „Ausbildungsreife“ zu diagnostizieren scheinen, in ihrer Aussagekraft sehr beschränkt sind.“ (Ebd. S. 43)
Dabei wird in der wissenschaftsfernen Diskussion um Berufsorientierung häufig nicht benannt, dass sich im Jugendlichen auch Entwicklungsaufgaben auf neurobiologischer Ebene vollziehen (vgl. Becker 2015, S. 89 ff.; Konrad et al. 2013), die eine Orientierung auf ein mögliches Berufsfeld oder den Transitionsprozess von Schule in den Beruf neben weiteren Entwicklungsaufgaben der Pubertät zusätzlich erschweren. Weiterhin wird selten bedacht, dass Arbeitsprozesse und -biografien sich stark gewandelt haben. Innerhalb der Arbeit und Ausbildung kommt es zu Prozessen von Beschleunigung (Rosa 2013, Rosa 2014 [2005]) und gefühlter Gleichzeitigkeit (Nowotny 1993), welche ein Lernen im geschützten Raum mit entsprechender Begleitung – wie es das Ausbildungsverhältnis als Lern-Moratorium vorsieht – immer seltener werden lassen. Und auch wenn Ausbilder*innen auf ihre Aufgaben durch entsprechende Eignungsprüfungen und Qualifizierungen vorbereitet werden, auch sie sind Teil eines Arbeitsumfeldes, in dem neben der Ausbildung auch Outputergebnisse zählen, die eine ausschließliche Betreuung des Jugendlichen beinahe unmöglich machen. Zudem muss sich der Jugendliche bereits während der Suche nach einer beruflichen Aufgabe mit daran gekoppelten Risikofaktoren und Unsicherheiten auseinandersetzen (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015; Schröer 2015; Ludwig-Mayerhofer 2013; Bojanowski 2012; Shell Holding Deutschland 2006, S. 71–76). Auch wenn die Risiken für Jugendliche auf dem deutschen Arbeitsmarkt in deren Wahrnehmung abnehmen (vgl. Shell Deutschland Holding 2015,
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4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
S. 95–107), die Fragen, inwieweit der Ausbildungsberuf in zehn bis zwanzig Jahren noch ein Erwerbseinkommen gewährleisten kann und ob eine berufliche Zeitstruktur mit der Familiengründung vereinbar ist, bleiben dabei fortlaufend zentral (Shell Deutschland Holding 2015, S. 77–95, Hurrelmann/Albrecht 2014). Deshalb muss Berufsorientierung den jungen Menschen immer auch als individuelle Person wahrnehmen. Frank Ahrens (2012) schlägt daher eine stark identitätsorientierte Sicht des Jugendlichen vor und versucht, die Ausbildungsreife und Berufswahlkompetenz anhand eines Identitätsstatus-Modell nach James E. Marcia (1966) zu bestimmen. Dieser Ansatz formt – neben einem ersten Verständnis für subjektive Eigenschaften und Fähigkeiten, die der oder die Auszubildende mitbringen – auch die spezifische Förderung des Jugendlichen im Transitionsprozess: „So wird das ‚Gießkannenprinzip‘ vermieden, da nicht mehr alle Jugendlichen alle Angebote wahrnehmen müssten: Jugendliche im Status der ‚erarbeiteten Identität‘ bekämen spezifische weitere Angebote zur Festigung und Differenzierung ihrer beruflichen Vorstellungen; Jugendliche in der ‚diffusen Identität‘ bekämen besondere Angebote, die neben der Förderung einer beruflichen Vorstellung insbesondere die Selbstwirksamkeit erhöhen würden und zu einer größeren Selbstorganisation und Selbstregulation beitragen könnten.“ (Ahrens 2012, S. 170)
Weiterhin betont Ahrens die Verwendung des Meta-Modells der Berufswahlkompetenz als grundlegende Handlungskompetenz im Übergangsprozess von Schule in den Beruf und differenziert über diesen Modellansatz das als zu unspezifisch kritisierte Modell der Ausbildungsreife und die daran gekoppelte Kompetenz der Berufswahlreife (Bundesagentur für Arbeit 2006) weiter aus – ebenso wie Günter Ratschinski (2014, S. 1; 2012, S. 28 f.) und Arnulf Bojanowski (2012, S. 128). Ahrens begründet den Theorieansatz über die Berufswahlkompetenz als „Anschluss an die aktuelle Diskussion um den Kompetenzbegriff“ […]. „Merkmale des Kompetenzbegriffs wie Eigenaktivität, Selbstbestimmung und Selbstorganisation werden in die theoretische Konstruktion des Berufswahlprozesses aufgenommen“ (Ahrens 2012, S. 157) und erweitern über das Meta-Modell der Berufswahlkompetenz die Erhebung und Messung informell erworbener Kompetenzen (ebd., S. 170). Hier spricht er den allgemein- und berufsbildenden Schulen eine besondere Verantwortung bei der Vermittlung dieser Kompetenzen zu (ebd., S. 171). Das Modell der Berufswahlkompetenz beruht auf durch Donald E. Super entwickelten Konzepten zur beruflichen Reife (vgl. Super 1980; 1994), welche er zu einer Theorie der Laufbahnentwicklung vertieft. Diese Laufbahnentwicklung ist das Ergebnis abhängiger Beziehungen zwischen Selbstkonzept, Berufskonzept, Lebenszeit und auch Lebensraum. Mit seiner Definition von Berufsreife als „Bereitschaft
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
133
des einzelnen, die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, mit denen das Individuum aufgrund seiner biologischen und sozialen Entwicklung und aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen in Hinsicht auf die Entwicklungsstufen konfrontiert wird“ (Super 1994, S. 228), greift Super konstruktivistische und sozialisationstheoretische Gedanken auf und entwickelt diese zu einem Berufswahl-Reifemodell weiter. In der deutschen Bearbeitung wurde das Modell in ein Meta-Kompetenzmodell der Berufswahlkompetenz überführt (vgl. Ratschinski 2014; Ratschinski 2012a; Ratschinski/Struck 2012) und durch Untersuchungen von Mark L. Savickas (2013) und den Ansatz der Resilienz als Bewältigungsverhalten ergänzt. Im aktuellen Verständnis des Meta-Kompetenzmodells wird Berufswahlkompetenz in drei Teilkompetenz unterteilt, welche mit jeweils zugeordneten Operatoren beschrieben werden: Berufliche Identität, Adaptibilität und Resilienz bilden die Teilkompetenzen, welche in der synoptischen Darstellung mit ihren jeweiligen Operatoren abgebildet und den arbeitsspezifischen Kompetenzen gegenübergestellt werden. Über diese Darstellung werden semantische Schnittmengen zum schulischen Verständnis fächerübergreifender Kompetenzen deutlich bzw. lassen sich die Teilkompetenzen der Berufswahlkompetenz sowie ihre jeweiligen Unterdefinitionen resp. Operatoren als fächerübergreifende Kompetenzen begreifen, die im sozialräumlichen Lernprozess trainiert werden können. Exemplarisch soll dabei auf den Operator Selbstwirksamkeit verwiesen werden, der sich als Unterbegriff der Teilkompetenz Resilienz in die Operatoren resp. Unterbegriffe berufswahlbezogene vs. berufliche Selbstwirksamkeit unterteilt. Ratschinski (2014) definiert Selbstwirksamkeit als „die Überzeugung, eine bestimmte Handlung oder eine Klasse von Handlungen erfolgreich ausführen zu können“ (ebd. S 19). Selbstwirksamkeit ist eine Kompetenz, die sich im deduktiven Frontalunterricht nur schwer vermitteln und trainieren lässt. Das situierte Lernen in der sozialräumlichen Community, welches über die neue Lernsituationen zu bewältigende Herausforderungen an die Lernenden stellt, schafft breitere Möglichkeiten, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Dabei erstrecken sich die Möglichkeiten der Selbstwirksamkeitserfahrung auf Lernort, Lernparter*innen und methodisches Vorgehen im Lernprozess.
4.2.3
Berufspädagogik: Reflexive Handlungsfähigkeit
Die informelle und non-formale Kompetenzentwicklung ist zentraler Forschungsgegenstand der Berufspädagogik und in diesem fachwissenschaftlichen Kontext am weitesten ausdifferenziert. Die reflexive Handlungsfähigkeit als Synthese zwischen beruflicher Handlungskompetenz in reflexiver Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen des Arbeits- und Handlungsfeldes entspricht einem klassisch
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
konstruktivistischen Verständnis. Das Kompetenzmodell zeigt beispielhaft die Verschränkung von persönlicher Entwicklung in Abhängigkeit zur situierten Lern- und Handlungsumgebung. Dabei werden neben methodisch-didaktischen Formen der Aus- und Weiterbildung auch Gestaltungsmöglichkeiten und Prozesse der Organisationsentwicklung beschrieben (vgl. Kieser 2006). Inhaltlicher und begrifflicher Schwerpunkt liegt dabei auf der Reflexion als „regen, andauernden sorgfältigen Prüfen von etwas, das für wahr gehalten wird, und zwar im Lichte der Gründe, auf die sich die Ansicht stützt und der weiteren Schlüsse, denen sie zustrebt“ (Dewey 2002 [1910], S. 11). John Dewey greift den Ansatz des situierten, sozialräumlichen Lernens über das Erfahrungslernen als Verschränkung von Handlung – Erfahrung – Reflexion bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf und prägt mit seinem Verständnis von Entwicklung und Persönlichkeitswachstum über das praktische Erleben die Grundlagen einer Progressiven Pädagogik. Diese geht dabei bewusst auf gesellschaftliche Strukturveränderungen ein und entwickelt darauf aufbauend speziell für das Bildungswesen Lern- und Gestaltungsmöglichkeiten bzw. werden vorhandene Strukturen reformiert (vgl. Eryaman/Bruce 2015). Der Begriff der experience (Dewey 1986 [1938]) wird zum zentralen Element, welches auch sozialisationstheoretische und konstruktivistische Ansätze prägt: Die Erfahrung, der eine unmittelbare Handlung des Subjektes in der Umwelt zugrunde liegt, wird zum Reflexionsraum zwischen innerer und äußerer Realität. Über die Erfahrung wird an bestehendes Wissen des Subjektes angeknüpft, um dieses Wissen in der Auseinandersetzung mit dem neuen Impuls der Umwelt zu erweitern oder zu transformieren. Für die Berufspädagogik und fachverwandte Disziplinen – nicht zuletzt für das lebenslange Lernen als institutionellen und subjektgebundenen Prozess – wird über das Erfahrungslernen die Brücke zur fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung als Anpassungsprozess an sich ändernde Strukturen und Rahmenbedingungen geschaffen. Dabei liegt der Untersuchungsaspekt sowohl auf dem handelnden Subjekt als Arbeitenden als auch auf der Organisation als Lern- und Arbeitsraum. Die vorliegende Arbeit integriert zudem den Sozialraum als erweiterten Lern- und Arbeitsraum in das Verständnis eines situierten Lernsettings. Als praktisches Beispiel für eine Situation des Erfahrungslernens führt Donald A. Schön (1983) den Moment der Improvisation während einer Jazz-Session an. Dabei bilden die musikalischen Parameter des Musikstils und das technische Beherrschen des jeweiligen Musikinstrumentes die Grundlagen des Musizierens. Doch die eigentliche musikalische Wirkung erfolgt über die freie, kreative Arbeit des Arrangierens, genau dann, wenn in der situativen Handlung vorhandene Wissensmuster neu angeordnet werden müssen. In diesem Moment erfolgt durch die
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Musiker*innen eine Reflexion im gleichzeitigen Tun. Schön bezeichnet diesen Prozess als Reflection-in-Action. Diesem Prozess stellt er die nachträgliche Reflexion als Reflection-on-Action gegenüber. Dem musikalischen Beispiel folgend, wäre eine Analyse der Improvisation – um bewusst spezielle Harmonien oder Melodien zu hinterfragen – ein praktisches Beispiel einer auf die Handlung folgenden bewussten Reflexion. Schön entwirft ein Modell der Reflexivität 2 , welches das Zusammenspiel von subjektorientierter innerer Kompetenz und handlungsraumgebundener äußerer Situation widerspiegelt. Speziell die erste Reflexionsform – die Neukomposition vorhandener Ressourcen resp. Kompetenzen in einer herausfordernden oder unbekannten Situation – zeigt die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich ergeben, wenn dem Lernumfeld und der praktischen Erfahrung besondere Bedeutung im Lernprozess zugesprochen werden. „Phrases like ‘thinking on your feet’, ‘keeping your wits about you’, and ‘learning by doing’ suggest not only that we can think about doing but we can think about doing sometimes while doing it.“ (Schön 1983, S. 54) Auch in der Auseinandersetzung mit neuzeitlichen Strukturen und Veränderungsprozessen kommt der Reflexivität eine forschungsleitende Stellung zu. Scott Lash nähert sich über eine Definition und Adaption des Begriffs Reflexivität dem Reflektieren resp. der Reflexion als Grundbedingung gesellschaftlichen Zusammenlebens (Lash 1996). Lash unterscheidet zwischen der strukturellen Reflexivität und der Selbst-Reflexivität (ebd., S. 203 f.). Die erste Form entspricht dabei dem kritischen Hinterfragen von äußeren Strukturen durch die Akteur*innen, während die zweite Form die Reflexion des eigenen Denken und Handelns umfasst. In dieser Unterscheidung wird gleichfalls die sozialisationstheoretische Doppelbindung von Entwicklung an äußere und innere Faktoren und deren Verschränkung deutlich, wobei Lashs Ansatz den makrosoziologischen Blick vom gesellschaftlichen System auf das Individuum einnimmt. So stellt er die zentrale Frage nach der Selbst-Reflexivität des Systems: „Was geschieht, wenn die Modernisierung anfängt, indem sie ihre eigenen Exzesse und den Teufelskreislauf der destruktiven Unterwerfung (der inneren, äußeren und gesellschaftlichen Natur) begreift, sich selbst zum Gegenstand der Reflexion macht?“ (Ebd., S. 198). Diese Zweiteilung wird später von Ulrich Beck in seiner Gegenwartsdiagnose der Gesellschaft im Stadium der Metamorphose aufgegriffen (Beck 2017). Nach Beck ist ein signifikanter Aspekt
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dieser Stelle muss auf die spezifische Verwendung der Begrifflichkeiten Reflexion und Reflexivität verwiesen werden. Während die subjektorientierte Reflexion für die Handlung des Reflektierens steht, muss Reflexivität als Eigenschaft oder Fähigkeit von Strukturen, Systemen oder Personen verstanden werden (vgl. Moldaschl 2010). Es werden beide Begriffe in semantischer Unterscheidung verwendet. Als Grundlage des Reflexivitätsbegriffs fungiert zudem Ulrich Becks Verständnis der Nebenfolgen-Strukturen einer Zweiten Moderne.
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
der Metamorphose der Welt die Verteilung von gods und bads, welche global Einfluss auf Lebensentwürfe und Zukunftschancen nimmt und eine Bewusstwerdung der daran gekoppelten Risiken fordert: „Dabei geht es zum einen um ‚Reflexivität’ (Selbstkonfrontation), zum anderen um Reflexion (Wissen, globale Diskurse).“ (Beck 2017, S. 90) Dagegen liegt der Blick der Berufspädagogik auf dem Individuum und dessen Reflexivität resp. reflexiver Handlungsfähigkeit in Auseinandersetzung mit Strukturen der Mesoebene. Dennoch wird die von Lash geprägte Zweiteilung des Begriffs Reflexivität auch durch die deutschsprachige Berufspädagogik aufgenommen und als berufliche Kompetenzentwicklung und Arbeits- bzw. Handlungsbedingungen in das Konstrukt reflexiver Handlungsfähigkeit eingefügt. Die Visualisierung des Kompetenz-Modells durch Peter Dehnbostel verdeutlicht die Parallelen zum Reflexivitäts-Verständnis des Soziologen Lash (Abb. 4.1). Die Zweiteilung zwischen Selbst-Reflexivität und struktureller Reflexivität wird in die Dualität von subjektbezogener Kompetenzentwicklung und produktiver Reflexion der umgebenden (sozial)räumlichen und situationsgebundenen Strukturen überführt:
Reflexive Handlungsfähigkeit (durch strukturelle Reflexivität, Selbstreflexivität und individuelle Dispositionen)
Kompetenzentwicklung (Lernen und Handeln)
Arbeits- und Handlungsbedingungen (Strukturen)
Lern-, Arbeits- und Unternehmenskultur Lernpotentiale in der Arbeit Entwicklungs- und Aufstiegswege
Fachkompetenz Sozialkompetenz Personal- und Humankompetenz
Reflexives Handeln in der Arbeit
Abb. 4.1 „Bedingungsrahmen reflexiver Handelungsfähigkeit“ (Dehnbostel 2005, S. 211; Dehnbostel 2012, S. 27)
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Beide Säulen werden in der Fähigkeit zur Reflexivität der eigenen Kompetenzen in Abhängigkeit zur situierten Arbeits- und Handlungsumgebung und final im reflexiven Arbeitshandeln zusammengeführt. Dabei wird die reflexive Handlungsfähigkeit zum Ziel moderner Aus- und Weiterbildungsprozesse (vgl. Gillen 2006; Dehnbostel 2012; Dehnbostel 2014) und wirkt auf Subjektebene über den beruflichen Alltag hinaus. Im Folgenden soll die Säule der Kompetenzentwicklung näher betrachtet werden, um auf dem Verständnis der Berufspädagogik aufbauend die abgeleiteten Kategorien den fachspezifischen Kompetenzbegriffen gegenüberzustellen. Dehnbostel definiert Kompetenzentwicklung als „vom Subjekt her, von seinen Fähigkeiten und Interessen in handlungsorientierter Ausrichtung bestimmt. Die Herausbildung von Kompetenzen erfolgt durch lebensbegleitende individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse und unterschiedliche Formen des Lernens in der Arbeits- und Lebenswelt [Hervorhebung CK]. Kompetenzentwicklung ist ein aktiver Prozess, der von Individuen in starkem Maße selbst gestaltet wird und dabei selbstgesteuertes und reflexives Lernen erfordert.“ (Dehnbostel 2012, S. 13)
Die Definition beruflicher Handlungskompetenz wird dabei zum zentralen Kompetenzbegriff: „Berufliche Handlungskompetenz ist die Fähigkeit und Bereitschaft, in beruflichen Situationen fach-, personal- und sozialkompetent zu handeln und die eigene Handlungsfähigkeit in beruflicher und gesellschaftlicher Verantwortung weiterzuentwickeln. Unter einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz ist die Einheit von Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Personalkompetenz zu verstehen. Andere Kompetenzen, von der Methodenkompetenz über die Lernkompetenz bis zur Sprachkompetenz, sind Teil dieser drei übergeordneten Kompetenzdimensionen bzw. liegen quer dazu.“ (Ebd., S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19)
Mit dieser Definition greift Dehnbostel grundlegende Schlüsselkompetenzen wie Fach-, Personal- und Sozialkompetenz auf, ordnet dabei weitere Kompetenzen, wie sie im Verständnis des lebenslangem Lernen von der EU definiert werden (vgl. Europäische Union 2006), diesen drei Basiskompetenzen unter. Dehnbostels Verständnis der beruflichen Handlungskompetenz beruht dabei auf dem 1974 durch den „Deutschen Bildungsrat“ entwickelten ganzheitlichen Kompetenzmodell von Fachkompetenzen in Verschränkung mit humanen und gesellschaftlich-politischen Kompetenzen (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49 ff.). Dabei kommt der Humankompetenz als eigenverantwortlichem Handeln in Auseinandersetzung mit innerer und äußerer Realität eine besondere Bedeutung zu (ebd., S. 49; vgl. Dehnbostel
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
2012, S. 13; Dehnbostel 2014, S. 18). Mit dieser Positionierung reagiert der Deutsche Bildungsrat auf das 1973 veröffentlichte Gutachten zum Qualitätsstand des deutschen Bildungswesens (OECD 1973) und reformiert das allgemein- und berufsbildende Kompetenzverständnis. Damit nimmt der Deutsche Bildungsrat Bezug auf die Empfehlung der OECD, die Sekundarstufe II curricular stärker an berufspädagogische Herausforderungen auszurichten und allen Lernenden unabhängig ihres Berufsziels die gleichen Kompetenzen zu vermitteln (ebd. S. 89 f.). Bis heute wird diese Definition als Grundlage berufsbildender Qualifizierungen angesetzt und in die curriculare Arbeit der Berufspädagogik eingebunden. So wird Handlungskompetenz in der „Handreichung zur Erarbeitung von Rahmenlehrplänen“ durch die Kultusministerkonferenz als „Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2011, S. 30) verstanden. Als Basiskompetenzen werden dabei ebenfalls Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz – als Fachkompetenz, humane und gesellschaftlich-politische Kompetenzen – beschrieben. Um zumindest der deutschsprachigen Kompetenzforschung an der Schnittstelle der Berufspädagogik ansatzweise gerecht werden zu können, muss auf die umfassenden Sammelbände, Publikationen, Forschungen und Kompetenzbilanzierungsmodelle von John Erpenbeck und seiner Kollegen Volker Heyse, Werner Sauter sowie Lutz von Rosenstiel verwiesen werden (vgl. Heyse et al. 2015; Erpenbeck/Sauter 2016; Erpenbeck/Sauter 2013; Erpenbeck/Rosenstiel 2007). Im Rahmen dieses Promotionsvorhabens wurde der Rekurs auf das Kompetenzmodell der reflexiven Handlungsfähigkeit geführt, da dieses Kompetenzmodell über die explizite Einbindung äußerer Strukturen stärker am sozialisationstheoretischkonstruktivistischem Grundverständnis des sozialräumlichen Lernens ausgerichtet ist. Erpenbeck/Heyse haben mit ihrem Meta-Modell zur Kompetenzbeschreibung und den daraus abgeleiteten Kode® - und Kode® X-Verfahren zur Kompetenzmessung (vgl. Erpenbeck 2007; Heyse 2007) einen großen Beitrag zur Erforschung und Messung informell erworbener Kompetenzen geleistet. Der Fokus liegt dabei auf dem Begriff der Selbstorganisation, welcher Schnittstellen und Überschneidungen zum Begriff der reflexiven Handlungsfähigkeit aufweist. Die Selbstorganisation setzt sich aus verschiedenen Metakompetenzen wie Wertoffenheit und Selbsterkenntnisvermögen zusammen. Daran schließen sich Basiskompetenzgruppen an, die stark am Kompetenzverständnis der OECD ausgerichtet sind: personale Kompetenzen, aktivitätsbezogene Kompetenzen, fachlich-methodische Kompetenzen sowie sozial-kommunikative Kompetenzen. Diese vier Basiskompetenzbereiche werden in einzelne Schlüsselkompetenzen unterteilt, aus welchen sich in der übergreifenden Verschränkung wiederum Querschnittskompetenzen wie interkulturelle Kompetenz
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
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oder Medienkompetenz zusammensetzen und ableiten lassen (Erpenbeck 2012, S. 18 ff.). Die Arbeiten Erpenbecks et al. wirken aufgrund ihres interdisziplinären Verständnisses einer informellen und non-formalen Kompetenzentwicklung weit über den Bereich der Berufspädagogik hinaus.
4.2.4
Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention: Lebenskompetenzen sowie Kohärenzgefühl
„Mitten im Winter habe ich schließlich gelernt, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“ – Mit diesen Worten Albert Camus’ leitet die Herausgeberin Margherita Zander das „Handbuch Resilienzförderung“ (Zander 2011, S. 8) ein. Das Zitat Camus’ spiegelt eine wesentliche Sozialisationsaufgabe von Schule wider, weshalb Strategien der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention eine wichtige Querschnittsaufgabe informeller Erziehungs- und Bildungsarbeit für das Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt bilden. Der Begriff der Resilienz hat dabei im sozialwissenschaftlichen Kontext einen Bedeutungswandel erlebt: Die BZgA beschreibt Resilienz 2005 als „die Prozesse [Hervorhebung CK], durch die ein Individuum, eine Familie oder eine Community angesichts von starker Beeinträchtigung oder Risiko dennoch gut adaptieren oder funktionieren kann“ (BZgA 2005, S. 20) und nimmt hierbei Bezug auf eine Publikation von Luthar et al. aus dem Jahre 2000. Weiter heißt es: „Resilienz ist also nicht als Persönlichkeitseigenschaft zu verstehen, sondern als Anzahl an Prozessen, auf die geschlossen werden kann, wenn das zu betrachtende System sich kompetent verhält, obwohl es großer Not oder andauerndem Risiko ausgesetzt ist.“ (Ebd., S. 20) Der Begriff der Resilienz wird hier also bewusst als Interventionsstrategie – zum Beispiel in Form aktivierender Beziehungsarbeit – der Persönlichkeitseigenschaft als Kompetenz gegenübergesetzt. In ihrem Manual zur Resilienzforschung findet Edith H. Grotberg (2011 [1995]) eine entgegengesetzte Begriffsdefinition, welche im internationalen Raum Verwendung findet: „Resilienz ist eine universelle Eigenschaft [Hervorhebung CK], die es einer Person, Gruppe oder Gemeinschaft erlaubt, schädigenden Auswirkungen von bedrohlichen Notsituationen vorzubeugen, sie zu minimieren oder zu überwinden.“ (Grotberg 2011 [1995], S. 51) Die durch Grotberg verwendete Definition des Resilienzbegriffs kommt dabei dem Verständnis von Resilienz als Ausmaß der Widerstandsfähigkeit (Brüggemann et al. 2015, S. 507), wie es innerhalb der Sozialmedizin und den Public-Health-Wissenschaften angesetzt wird, sehr nahe. Dass jedoch der Resilienzbegriff ähnlich unscharf bleibt wie der Kompetenzbegriff wird durch eine Analyse des bekennenden Skeptikers Thomas von Freyberg deutlich,
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
der Resilienz in der systemkritischen Auseinandersetzung mit Bildungs- und Sozialstrukturen untersucht. Für den langjährigen Mitarbeiter des „Frankfurter Institutes für Sozialforschung“ bildet das Resilienzkonzept ein gesellschaftspolitisch probates Mittel zum Erhalt destruktiver Systemstrukturen (von Freyberg 2011). Von Freyberg führt eine Reihe offener oder widersprüchlicher Faktoren des Resilienzkonzeptes an, die zwar das wachsende Interesse am Konzept der Resilienz erklären, jedoch dem Konzept eine ganzheitliche strategische Ausrichtung absprechen (von Freyberg 2011, S. 222 ff.). Von Freyberg bezieht sich dabei auf eine Publikation von Manfred Liebel (2009) über Kinderrechte, in welcher Liebel dem „Geheimnis der Resilienz“ ein in sich geschlossenes Kapitel widmet (Liebel 2009, S. 47–61). Gleich der erste Kritikpunkt am Resilienz-Konzept, den von Freyberg aus Liebels Überlegungen ableitet, ist der Punkt der definitorischen Unschärfe des Begriffs und eine sich daraus ableitende unklare Verwendung und Anwendbarkeit: „Offen ist, ob unter Resilienz [im Original kursiv, Anmerkung CK] bestimmte individuelle innere Stärken oder Fähigkeiten zu verstehen sind oder ob es eher um spezifische soziale Beziehungen oder Netzwerke geht, in die die Individuen eingebettet sind.“ (von Freyberg 2011, S. 223) Aufgrund der schwierigen Definition des Resilienzbegriffs sowie aus einer bundesweiten Präferenz von Lebenskompetenzprogrammen im schulischen Kontext wird die vorliegende Arbeit den Begriff der Resilienz nicht vertiefend im Rahmen der synoptischen Darstellung analysieren und wendet sich stattdessen in der weiterführenden Betrachtung den Begriffen der Lebenskompetenz und des Kohärenzgefühls zu. 1994 definierte die WHO Lebenskompetenz resp. Life Skills als „abilities for adaptive and positive behaviour, that enable individuals to deal effectively with the demands and challenges of everyday life“ (WHO 1997 [1994], S. 1) – an dieser Stelle wird bereits ein erster gradueller Unterschied zur Definition der Resilienz deutlich. Bezieht sich diese auf belastende Lebensereignisse und Risiken, spricht die Lebenskompetenzförderung von „Aufgaben der täglichen Lebensführung“, wobei diese noch mal den „daily hassles“ – den Mikrostressoren im Alltag – entgegengesetzt werden müssen. Bei der Beschreibung des Kompetenzgefüges wird jedoch schnell deutlich, dass hier die Grenzen zu Fähigkeiten, welche im Sinne der Resilienz die Widerstandkraft stärken, fließend sind: Entscheidungen treffen, Probleme lösen, kreatives Denken, kritisches Denken, ein produktiver Umgang mit Gefühlen und Stress (vgl. WHO 1997 [1994], S. 1 ff.; BZgA 2005, S. 9, 16 ff., Bundesministerium für Gesundheit 2010, S. 11) – um einige subsumierte Lebenskompetenzen aufzuzählen – sind personenzentrierte Fähigkeiten, welche gleichfalls die Grundlage zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen bilden. Der Lebenskompetenzansatz fungiert als Kompetenzkonzept in den Gesundheits-, Sozial- und Bildungswissenschaften. In der Forschung wird
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dieser Ansatz zu Teilen auf einen ressourcenorientierten und gesundheitsfördernden Ansatz reduziert (vgl. Jerusalem/Meixner 2009), wobei der isolierte Blick auf gesundheitsbezogene Lebenskompetenzen dem Ansatz nicht hinreichend gerecht wird. Richtig ist, dass vor allem schulische Lebenskompetenzprogramme den Fokus auf Suchtpräventionsstrategien setzen. Exemplarisch sollen an dieser Stelle das Programm „ALF – Allgemeine Lebenskompetenzen und Fertigkeiten“ (vgl. Walden et al. 1998) sowie das Lions-Quest-Programm „Erwachsen werden“ (vgl. Wilms/Wilms 2004) genannt werden. Aber speziell das Programm „Erwachsen werden“ setzt dabei ein sehr weit gefasstes Verständnis von Gesundheitsförderung an, was nicht allein auf den Bereich der Suchtprävention reduziert werden kann. Dank einer wissenschaftliche Begleitung des Programms durch Klaus Hurrelmann, der während der Programmlaufzeit die Professur Prävention und Gesundheitsförderung an der Universität Bielefeld inne hat, muss der Lebenskompetenzansatz auch als Präventionskonzept der Sozialisationsforschung begriffen werden: Gemäß Hurrelmanns Sozialisationsmodell bestehen für das Individuum lebenslange Entwicklungsaufgaben, die sich im Spannungsfeld zwischen innerer Realität des Individuums und äußerer Realität der Umwelt vollziehen (vgl. Hurrelmann/Richter 2013). Dabei sind lebensphasentypische Entwicklungsaufgaben zu benennen, ebenso wie Risikofaktoren, welche an individuelle Lebensereignisse gekoppelt sind, sowie Einflüsse und Besonderheiten der Zweiten Moderne, welche eine Risikowirkung auf Subjekt und Gesellschaft in sich tragen. Diesen Entwicklungsaufgaben und Risikofaktoren können innere und äußere Ressourcen resp. Kompetenzen entgegengesetzt werden. Ein Blick auf die Definitionen des Lebenskompetenzgefüges, wie sie durch die WHO 1994 getroffen wurden, zeigt, dass in den Lebenskompetenzen innere Ressourcen des Individuums an äußere Ressourcen der Umwelt gekoppelt werden. Denn Lebenskompetenzen wie Empathy, self-arwareness oder effektive communication (vgl. WHO 1997 [1994], S. 1 f.) sind Fähigkeiten, die vom Subjekt nur in der Auseinandersetzung mit innerer und äußerer Realität erworben werden können. Ein Vergleich dieser Kompetenzdefinitionen mit den arbeitsspezifischen Kategorien als Verbalisierung fächerübregreifender Kompetenzen einer Gesellschaft der Vielfalt zeigt zahlreiche semantische Überschneidungen. Aus dieser Position heraus ist der Begriff der gesundheitsbezogenen Lebenskompetenz zwar kontextbezogen korrekt, greift aber mit Blick auf die Potentiale des Lebenskompetenzansatzes zu kurz. Da die Ursprünge des Lebenskompetenzansatzes unter anderem auf die Theorie des sozialen Lernens (vgl. Bandura 1979, zitiert nach Jerusalem/Meixner 2009, S. 143; BZgA 2005, S. 22) sowie auf Theorien des Problemverhaltens (Jessor/Jessor 1977, zitiert nach Jerusalem/Meixner 2009, S. 143; BZgA 2005, S. 20) zurückzuführen sind, kann Lebenskompetenz als Kompetenzgefüge nur in einem
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übergreifenden, lebenslangem Kontext begriffen werden. Dieser muss Gesundheitsförderung bzw. Krankheitsprävention als Schnittstellen schulischer Sozialisation umfassen und zudem den Blick auf einen lebenslangen produktiven Umgang mit Entwicklungsaufgaben und Risikofaktoren in einer Gesellschaft der Vielfalt integrieren. An das Kompetenzgefüge der Lebenskompetenz kann die Fähigkeit zur Kohärenz angeschlossen werden, welche die Basis des Salutogenetischen Modells nach Aaron Antonovsky (1997) bildet. Das Konzept des Kohärenzgefühls – sense of coherence – ist dabei Basis, um Prozesse, die Gesundheit erhalten und Krankheit eindämmen, zu beschreiben. Antonovsky definiert sense of coherence als eine „globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat (ebd., S. 36)“, welches an Erklärbarkeit, verfügbare Ressourcen und persönliche Resonanz bzw. Sinnhaftigkeit gekoppelt ist. Antonovsky selbst bezeichnet diese Komponenten mit den Begriffen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Wie auch beim Modell der Lebenskompetenz lassen sich den Einzelfähigkeiten im deduktiven Verfahren Kategorien der Erhebung gegenüberstellen. Die Teilkompetenz Handhabbarkeit umfasst dabei mehrere fächerübergreifende Arbeitskategorien, auf die in Schullehrplänen methodische fächerübergreifende Kompetenzen referieren: Um alle Ressourcen zur Problemlösung zu aktivieren, braucht es das planvolle und zugleich situationsgerechte Handeln, welches eine Grundlage für den produktiven Umgang mit Risikofaktoren bildet. Dabei ist diese arbeitsspezifische Kategorie semantisch deckungsgleich mit Antonovskys Definition von Handhabbarkeit, die er als Prozess beschreibt, welcher die innere und äußere Ressourcenaktivierung meint „um den Anforderungen, die die Stimuli stellen, zu begegnen“ (Antonovsky 1997 [1987], S. 36). Im Unterschied zu Hurrelmanns Sozialisationsmodell ist das Modell der Salutogenese, welchem das Kohärenzgefühl als Kompetenz zugrunde liegt, stärker auf die Pole Gesundheit/Krankheit ausgerichtet. Oder anders gesagt: Während das Sozialisationsmodell gesellschaftstheoretische Aspekte integriert, ist das SalutogeneseModell konkreter der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention verpflichtet. Die zentralen Fragen dieses Modells lauten: „Warum bleiben Menschen – trotz vieler potentielle gesundheitsgefährdender Einflüsse – gesund? Wie schaffen sie es, sich von Erkrankungen wieder zu erholen? Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremster Belastungen nicht krank werden?“ (Bengel et al. 2001, S. 24) Mit Blick auf die Herausforderungen resp. Risikofaktoren, die im Kindes- und Jugendalter zu bewältigen sind, bilden gesundheitsfördernde und krankheitspräventive Ansätze im allgemein- und berufsbildenden Alltag eine wichtige Aufgabe von Schule. Setzt
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man an Schule den Anspruch auf künftige Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben vorzubereiten, werden neue, ganzheitliche Lernsettings für Lernende und Lehrende unerlässlich. Eine bewusste Einbettung dieses Anspruchs in den Unterricht – fächerübergreifend oder auch im Fachunterricht – wird durch sozialräumliche Lernarrangements gefördert, wobei zusätzliche Life-Skill-Programme, Projekte zur Resilienzförderung oder Angebote nach Salutogenetischem Modell durchaus ergänzend wirken und ihnen über den Lebenskompetenzansatz bzw. Kohärenzgedanken bereits ein sozialisationstheoretisches Ressourcenkonzept inne wohnt.
4.2.5
Demokratiepädagogik: Sinngebungskompetenz resp. konzeptionelles Deutungswissen, Urteils- und Handlungsfähigkeit
Demokratiepädagogik, deren Bestandteil unter anderem auch die Demokratiebildung ist, begrenzt sich nicht nur auf die Fachdidaktik des Politikunterrichtes. Demokratiepädagogik ist eine Querschnittsaufgabe von allgemein- und berufsbildender Schule, die über den reinen Unterricht hinausgeht – setzt sie doch die Grundbausteine für ein mündiges Leben als Bürger*in. Daher muss sozialräumliches Lernen in einer Gesellschaft der Vielfalt als Ziel und als Methode der Demokratiebildung betrachtetet und analysiert werden. Peter Fauser (2013) formuliert die These: „Es gibt keine gute undemokratische Schule.“ (Fauser 2013, S. 159). Dabei zeichnet er die Entwicklung von Schule als Ort der politischen Bildung und des demokratischen Erfahrungslernens auf. Begreift man Schule als Institution, als Interaktionsraum zwischen einzelnen Individuen und als Interdependenzgeflecht verschiedener Handlungsrollen wird deutlich, dass „Schule als Erfahrungsraum“ (von Hentig 1973) eine mehrfache Verantwortung im demokratiepädagogischen Prozess zukommt und Fausers These in der Umformulierung den Kernauftrag von Schule impliziert: Die gute Schule ist ein demokratischer Ort des Lernens und Lebens. Unter dem Schlagwort embryonic society beschreibt John Dewey (2007 [1899]) bereits zur Jahrhundertwende die Abbildung gesellschaftlicher Realitäten über den Raum der Schule: „The great thing to keep in mind, then, regarding the introduction into the school of various forms of active occupation, is that through them the entire spirit of the school renewed. It has a chance to affiliate itself with life, to become the child’s habitat, where he learns through directed living; instead of being only a place to learn lessons having an abstract and remote reference to some possible living to be done in the future. It gets a chance to be a miniature community, an embryonic society. This is the fundamental fact, and from this arise continuous and orderly sources of instruction.“ (Ebd., S. 31 f.)
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Die Grundlage dieses Schulverständnisses bildet die problemlösende, aktive Zusammenarbeit zwischen Lernenden untereinander sowie Lernenden und Lehrenden über den Austausch und die Kommunikation. Die beschriebene Form des Miteinanders entspricht dabei demokratischen Prozessen der Interaktion. Dewey entwickelt dieses Verständnis weiter, indem er 1916 in seinem Werk „Demokratie und Erziehung“ diesen Gedanken modifiziert. Er begreift Demokratie nicht rein als Regierungsform, sondern definiert sie als nachbarschaftliche Lebenswelt, die über Schule als Teil der lokalen Nachbarschaft tagtäglich praktiziert und erlebt werden kann: „Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrungen.“ (Dewey 2000 [1916], S. 121) Im Verständnis Deweys wird demokratisches Handeln in der Schule zu einem gelebtem Umgang mit kultureller Vielfalt, zum Erfahren und Lernen im praktischen Handeln, zur Transparenz von Entscheidungen sowie zur Verschränkung und Aushandlung vielfältiger Meinungen und Positionen über kommunikative Prozesse. Dieses Verständnis umfasst Unterrichtsprozesse und Interaktionsbeziehungen auf Mikroebene ebenso wie Kommunikationsstrukturen zwischen den Lehrenden und Organisationsstrukturen der Institution auf Mesoebene. Das umfassende Verständnis von Demokratie als Lebensform, die bereits im schulischen Kontext Sozialisationsprozesse gestaltet, wird von einer bedarfsorientierten Demokratiepädagogik aufgegriffen, weiterentwickelt und in fachdidaktische sowie überfachliche Bildungsprozesse transferiert (vgl. Himmelmann 2007; Lechner-Amante 2014; Henkenborg 2014; Oelkers 2016; Autorengruppe Fachdidaktik 2016). Das BLK-Modellprogramm „Demokratie lernen und leben“ bildet eine bundesweite Erprobung dieses modernen demokratiepädagogischen Theoriezugangs in der Praxis ab. An über 200 allgemein- und berufsbildenden Schulen in 13 Bundesländern wurde das Programm mit vier Kernmodulen – Unterricht, Projekte, Schule als Demokratie und Schule in der Demokratie – umgesetzt. Dabei lag ein Schwerpunkt unter anderem auf der Öffnung der Schule in den Sozialraum über „Kooperationen der Schule mit der Jugendarbeit und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren“ (Edelstein/Fauser 2001, S. 25). Bereits im Gutachten für das Modellversuchsprogramm weisen die beiden Gutachter, Wolfgang Edelstein und Peter Fauser, auf die besondere, mehrdimensional geprägte Rolle von Schule und eine sich daraus ableitende Verantwortung dieser hin: „Als Instanz, die Leistungsanforderungen repräsentiert und durchsetzt, die von vielen, besonders von bildungsfern aufgewachsenen Jugendlichen aus objektiven und subjektiven Gründen in Frage gestellt, als sinnlos erfahren oder nur widerstrebend
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hingenommen wird, ist die Schule Teil des Problemzusammenhangs, der zu Demokratieverdrossenheit und jugendkultureller Rebellion ursächlich beiträgt. Andererseits bietet Schule jedoch wegen ihrer Universalität, wegen der pädagogischen Verpflichtung, sich jedem einzelnen zuzuwenden, schließlich wegen ihrer Aufgabe, Kompetenzen zur Lebensbewältigung und Sozialfähigkeit zu vermitteln, besondere Ressourcen und Chancen einer Erziehung zur Demokratie.“ (Ebd., S. 6)
Mit dem Beschluss der BLK zur Durchführung dieses Modellprogramms wurde Demokratiepädagogik als fachübergreifende Aufgabe von Schule in der deutschen Bildungs- und Schullandschaft verankert. Das Programm gilt als Reaktion und Konzept auf sich ändernde gesellschaftliche Lebensbedingungen und geht dabei bereits im Gutachten von 2001 auf Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit als Risikofaktoren einer sich weiter differenzierenden und spezialisierenden Welt ein. Zwischen diesem Gutachten und der vorliegenden Arbeit liegen seit ihrem Beginn gut 15 Jahre; der soziale Raum hat sich weiterentwickelt. Die Ursachen und Anlässe von 2001 mögen sich von denen 2016 unterscheiden, doch die erfahrenden Auswirkungen – speziell auch im Land Sachsen-Anhalt – ähneln einander. Um so wichtiger ist es jetzt, die Erfahrungen und Empfehlungen des Modellprogramms der aktuellen Schulwirklichkeit entgegenzustellen und erneut nach den strukturellen und individuellen Möglichkeiten der Bildungspolitik und Praxis zu forschen, um den Grundgedanken dieses Demokratielernens – die Erfahrung demokratiefördernder Lernsituationen durch das eigene Handeln – künftig stärker in der schulischen Lebenswelt implementieren zu können. Dabei geht die vorliegende Arbeit noch einen Schritt weiter und untersucht die Möglichkeiten eines fachdidaktikübergreifenden resp. lernfeldverbindenden Projektunterrichtes unter Einbindung des Sozialraumes in den regulären Unterricht. Aus diesem Verständnis heraus entwickelt die vorliegende Arbeit den Ansatz, dass Demokratiepädagogik – als Gegenstand der Fachdidaktik sowie in ihrer Funktion als übergreifende Bildungsaufgabe von Schule – bewusst als Demokratielernen und -erfahren im lebensweltlichen und sozialräumlichen Kontext begriffen werden muss. Dieses Verständnis politischer Bildung inkludiert den der Arbeit zugrunde liegenden sozialisationstheoretischkonstruktivistischen Ansatz, wonach gesellschaftliche Entwicklungsprozesse sozialräumliche Lernerfahrungen benötigen, damit das Individuum einen produktiven und lebenslangen Umgang mit Wissen, Kompetenzerwerb, Risikofaktoren und Entwicklungsaufgaben finden kann. In einem Aufsatz von 2013 schildert Gerhard Himmelmann den Disput zum Verständnis politischer Bildung innerhalb der entsprechenden Fachdidaktik. In diesem entwickelt er die Forderung einer „Erneuerung einer kritischen politischen Bildung“ (Himmelmann 2013, S. 204) und bindet Ökonomie, Soziologie und Recht
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
als Teilbereiche in die Fachdidaktik des Politikunterrichtes ein. Nur über einen breiten sozialwissenschaftlichen Zugang können Globalisierungseffekte, inklusive ihrer Kettenwirkungen und Nebenfolgen, in der Verschränkung mit politischen Realitäten und Phänomenen von den Lernenden erschlossen werden (ebd. S. 204 ff.). Himmelmann greift zudem auf Deweys Demokratiedefinition zurück und überführt diese in ein Demokratie-Lernen als integrierendes Prinzip in Stufen, welches auf einem dreigeteilten Demokratieverständnis basiert: Demokratie als Lebensform, Demokratie als Gesellschaftsform, Demokratie als Herrschaftsform (vgl. Himmelmann 2001). Dieser Ansatz bildet die Arbeitsbasis der „Autorengruppe Fachdidaktik“, die sich für ein geöffnetes und interdisziplinäres Verständnis politischer Bildung und gegen eine alleinige Ausrichtung auf instruktionsorientierten Unterricht ausspricht (Autorengruppe Fachdidaktik 2016; Autorengruppe Fachdidaktik 2011a). Die Autorengruppe versteht Demokratiebildung als Beitrag zur allgemeinen Bildung, indem politische Mündigkeit über eine entsprechende Kompetenzentwicklung gefördert wird: „Politische Bildung soll Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, sich selbst und die eigenen politischen Lebensbedingungen besser zu begreifen sowie mit sich selbst und der Welt besser zurechtzukommen als ohne politische Bildung. Darin liegt der Bildungssinn unseres Faches.“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2011b, S. 163) Sibylle Reinhard, emeritierte Lehrstuhlinhaberin der Didaktik der Sozialkunde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gehört der Autorengruppe Fachdidaktik an und hat in Sachsen-Anhalt die Erarbeitung der Rahmenrichtlinien für das Fach „Sozialkunde“ als fachwissenschaftliche Beraterin begleitet. Sie verweist auf die bestehende begriffliche Vielfalt zum Kompetenzverständnis der Disziplin im deutschsprachigen Raum (Reinhardt 2011, S. 151 f.): Die „Nationalen Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen“ wurden 2004 durch die „Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung“ (GPJE 2004) vorgelegt und unterscheiden die Kompetenzbereiche Politische Urteilsfähigkeit, Politische Handlungsfähigkeit sowie methodische Fähigkeiten an deutschen Schulen. Die drei benannten Kompetenzen müssen dabei in ihren Zusammenhängen (ebd., S. 13) sowie in der Verflechtung mit vorhandenem Wissen, welches von der GPJE als konzeptionelles Deutungswissen definiert wird, betrachtet werden. Dem dreigeteilten, deutschen Kompetenzmodell steht ein viergeteiltes, österreichisches Kompetenzverständnis gegenüber. Das österreichische Modell wird durch die Sachkompetenz ergänzt (Krammer et al. 2008). Dagegen hat die „Fachgruppe Sozialwissenschaften“, der Reinhardt ebenfalls angehört, 2004 für die gymnasiale Oberstufe im Auftrag der KMK den Vorschlag eines fünfgliedrigen
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Kompetenzmodells entwickelt: Perspektiv- und Rollenübernahme, Konfliktfähigkeit, Sozialwissenschaftliches Analysieren, Politische Urteilsfähigkeit sowie Partizipationsfähigkeit/Demokratische Handlungskompetenz (Behrmann et al. 2004, S. 387 ff.). Dabei kann die Kompetenz der Perspektiv- und Rollenübernahme der arbeitsspezifischen Kategorie Zusammen kritisch reflektieren können zugeordnet werden. Behrmann et al. verweisen für ihre Kompetenz auf die Fähigkeit, diese aus der Interaktion zu rekonstruieren (ebd., S. 387). Diese Rekonstruktionsleistung vollzieht sich als eine reflektierende Rekonstruktion einzelner Teile und bildet in der Zusammenführung die Kompetenz ab. Die Kompetenz Konfliktfähigkeit lässt sich der arbeitsspezifischen Kategorie einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden gegenüberstellen. Da Interaktions- und Interdependenzbeziehungen stets auch durch intra- und interpersonelle bzw. intra- und intergruppale Konflikte geprägt sind, wirkt Konflikt als lebenslanger Risikofaktor und verlangt die Fähigkeit resp. Kompetenz mit diesem umzugehen. Eine weitere Kompetenz Sozialwissenschaftliches Analysieren, wie sie durch Behrmann et al. charakterisiert wurde, weist semantische Überschneidungen zu den Kategorien planvoll handeln können und Zusammenhänge kritisch reflektieren können auf. Die Analyse von Sachverhalten, Positionen oder Daten setzt ein planvoll methodisches Vorgehen voraus und erfordert die analytische Verschränkung über eine kritische Reflexion verschiedener Zugänge. Dirk Lange, der politische Bildung im weiteren Sinne als sozialwissenschaftliche Didaktik mit erfahrungsgeleitetem, subjektorientiertem Zugang versteht, forscht und publiziert ebenfalls als Mitglied der „Autorengruppe Fachdidaktik“. Anders als Reinhardt basiert die Forschung Langes auf einem gestuften Kompetenzverständnis, welches einer starken Subjektorientierung folgt und Lernprozesse aus einem konstruktivistischen Verständnis heraus betrachtet. Die von Lange benannten Basiskompetenzen – alltägliche Sinnbildung, Urteilen und Handeln – prägen über ihren Ausprägungsgrad das Niveau der wesentlichen Kompetenz des Bürgers/der Bürgerin: „politische Mündigkeit“ (Lange 2008b, S. 247). Realisierung findet die politische Mündigkeit in lebensweltlichen oder auch sozialräumlichen Bezügen oder wie Lange es formuliert: „Politische Mündigkeit ist eine Kompetenz, die ihre Plausibilität in alltäglichen Kontexten entfalten muss (Lange 2008a, S. 433)“. Voraussetzung dafür bildet die Reflexion politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge, welche von den Lernenden resp. Bürger*innen über Sinnbildungsprozesse erschlossen werden (Lange 2008b, S. 247). Hierfür bringen die Lernenden resp. Bürger*innen ihre eigenen Sinnbilder – subjektive fachlichen Vorstellungen und Inhaltskonzepte – in den Reflexionsprozess ein (Lange 2008a, S. 432). Die Gesamtheit dieser Sinnbilder oder mentalen Vorstellungen des Lernenden resp. des Bürgers/der Bürgerin zur politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit werden von Lange mit dem Konzept des Bürgerbewusstseins beschrieben
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
(vgl. Lange 2008a; 2008b; Lange et al. 2013; Fischer et al. 2016). Dabei ist das Bürgerbewusstsein nicht starr und unveränderbar, vielmehr wandelt es sich über einen lebenslangen Sozialisations- und Lernprozess. Die Aufgabe der Demokratiepädagogik besteht dabei in der methodisch-didaktischen Begleitung des subjektiven Bürgerbewusstseins, indem die Demokratiepädagogik – als Wissenschaft und Fachdidaktik – über Fachwissen, interdisziplinäre Impulse und kritische Anregungen politische Mündigkeit produktiv unterstützt. Lange unterscheidet in seinem Konzept des Bürgerbewusstseins fünf basale Sinnbilder politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit, denen er jeweils fünf Kernkonzepte als Unterdefinitionen zuordnet. Anhand dieser Sinnbilder sowie ihrer abgeleiteten Kernkonzepte kann politische Bildung im demokratiepädagogischen Sinne politische Mündigkeit über die Stärkung des Bürgerbewusstseins stützen, indem die dem Bürgerbewusstsein zugrundeliegenden Sinnbilder und Kernkonzepte methodisch-didaktisch über formale, non-formale und informelle Lernformen aufgegriffen werden. In Anlehnung an Jean Piagets (1992 [1936]) kognitive Entwicklungstheorie und John Deweys (2000 [1916]) philosophische Pädagogik geht Lange von einem immer wieder neu zu definierenden Gleichgewichtszustand zwischen subjektiven, innerem Bürgerbewusstsein und äußerem Erleben der Umwelt durch das Subjekt aus. Dies bedeutet, dass vielfältige Einflüsse der äußeren Realität Veränderungen der inneren Realität – des Bürgerbewusstseins mit all seinen subjektiv definierten Sinnbildern und Kernkonzepten – evozieren. Da Menschen gemäß dem Theorieverständnisses Piagets nach Verstehbarkeit und Kohärenz ihrer Wahrnehmung streben (vgl. Abschnitt 4.2.4, Kohärenzgefühl; Antonovsky 1997 [1987]), führen äußere Wahrnehmungsdissonanzen im Subjekt resp. Bürger*in zu einer Korrektur dieser, entweder über Assimilation- oder über Akkommodationsprozesse. Besonders für die Prozesse der Akkommodation, das heißt für Prozesse, bei denen subjektive Sinnbilder und Kernkonzepte erweitert oder überarbeitet werden müssen, ist die Qualität der Erfahrung bzw. die Qualität des Lernprozesses entscheidend. „Wenn der Lerngegenstand ohne Bezüge zu den vorhandenen individuellen Bewusstseinstrukturen ist, können auch keine Erfahrungen entstehen (Lange 2008b, S. 252).“ Für Lange bedeutet dies, dass Bildungsprozesse auf die vorhandenen Modelle und Konzepte des/der Lernenden Bezug nehmen müssen. Im Verständnis der vorliegenden Arbeit wird diese Forderung an Lernprozesse erweitert: Lernprozesse müssen im äußeren Umwelterleben, also in der Gestaltung von äußeren Lern- und Erfahrungsbedingungen, möglichst komplex und vielschichtig sein, um an „Bezüge zu vorhandenen individuellen Bewusstseinstrukturen“ (ebd.) anknüpfen zu können. Diese Komplexität greift über eine Erweiterung der sozialräumlichen Dimension – entweder über eine Öffnung des Unterrichtes und
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der Schule in den Sozialraum hinein und/oder über eine Integration externer Lehrender oder Lernender. Zudem lässt sich über die Verschränkung des inhaltlichen Diskurses eines Faches mit weiteren Fächern eine Erweiterung des Umwelterlebens erwirken. Sicher mag die Komplexität und Vielschichtigkeit des Umwelterlebens einer Herausforderungen darstellen, aber sie fordert auf diese Weise vom Lernenden eine Kompetenzerweiterung – oder in der Semantik Langes eine Erweiterung und Modifizierung des Bürgerbewusstseins – ganz im Sinne Deweys Verständnis konstruktivistischer Lernprozesse. Welche Umwelterfahrung bzw. welchen Einfluss der äußeren Realität der/die Lernende dabei im Lernprozess aufgreift, bestimmt seine intrinsische Motivation bzw. sein Dissonanzerleben, aufbauend auf dem subjektiven, inneren Bewusstsein. Die Chance, dieses innere Bewusstsein zu stimulieren, steigt mit einer Erweiterung des sozialen Raumes, in welchem Lernen stattfindet. Sozialer Raum beinhaltet Ressourcen in Form von Wissen und Kompetenzen und gleichzeitig eine Reihe von Stimuli, welche bei Wahrnehmung durch das Subjekt salient werden können, wenn sich Bezüge zu subjektiven Bewusstseinstrukturen ergeben. Die Sozialpsychologie visualisiert über Duale-Prozess-Modelle (vgl. Chaiken/Trope 1999) die Vorgänge der Attribution und dokumentiert Prozessschritte, über welche eine automatisch, wenig bewusste Eindrucksbildung in eine kontrollierte und bewusste Form überführt wird. Diese Prinzipien wirken über das Lernen hinaus, haben aber in der Didaktischen Forschung bisher zu wenig Berücksichtigung gefunden, um speziell intrinsische Prozesse in die Lern- und Lehrforschung einzubinden. Da aber Menschen und ihr Verhalten den sozialen Raum prägen und auch Institutionen, Teilsysteme und Systeme aus menschlichem Verhalten resultieren, muss die Sozialpsychologie als eine zentrale Kerndisziplin der Didaktischen Wissenschaft begriffen werden und neben anderen Sozialwissenschaften in die Forschung einfließen – die Verbindung hierfür wird über den sozialen Raum resp. Sozialraum und das sozialräumliche Lernen als situierte Lernsituation geschaffen. In einem Interview mit dem Sozialpsychologen Heiner Keupp wird die Notwendigkeit eines interdisziplinären Denkens über den sozialen Raum deutlich. In einem Gespräch mit der Monatszeitung „OXI“ sagt Keupp: „In meinem beruflichen Umfeld, in den Fachgesellschaften nimmt das Gefühl zu, dass es nicht mehr reicht, sich um die kaputte Seele zu kümmern. Es wächst das Bedürfnis, sich mit der Frage zu beschäftigen, warum es inzwischen so viele kaputte Seelen gibt. Dass heißt, auch wir Psychologen müssen wieder runter von der Couch und uns um die politischen Umstände kümmern (OXI 2016a).“
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Damit beschreibt Keupp die Dualität von Selbst-Reflexivität und struktureller Reflexivität, wie sie in der Definition Lashs auch dem Kompetenzbegriff der reflexiven Handlungsfähigkeit zugrunde liegt (vgl. Abschnitt 4.2.3). Zudem veranschaulicht diese Position deutlich die Symbiose zwischen innerer und äußerer Realität, die im konstruktivistischen Sozialisationsprozess über den Reflexionsraum zwischen diesen beiden Realitäten eingegangen wird. Dabei kommt es sowohl auf der Seite des Subjektes resp. Individuums als auch auf Seite der Gesellschaft zu Wechselwirkungen, die den Kern sozialwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung prägen. Die Nähe der vorliegenden Arbeit zum konstruktivistischen Lernverständnis Dirk Langes begründet, weshalb seine Kompetenzdimensionen dem Kompetenzverständnis und Kategoriensystem dieser Arbeit gegenübergestellt werden. Die Kernkompetenz der politischen Mündigkeit entspricht der Summe ihrer Teilkompetenzen. Die Teilkompetenzen Urteilen und Handeln können dabei auf die von der GPJE (2004) definierten Kompetenzen bezogen und ihnen gegenübergestellt werden. Für die Kompetenz der Sinnbildung führt Lange den Rekurs auf Arbeiten Max Webers (2013 [1922]) zur Aufgabe des Kulturmenschens bzw. des Kulturwissenschaftlers, indem dieser bewusst ein Verhältnis zur Welt und ihren Erscheinungsformen erschließt (Lange 2008a, S. 433). Obwohl Lange das Konzept der politischen Mündigkeit mit ihren Basiskompetenzen nicht explizit definiert, können aus der Forschung zum Bürgerbewusstsein Definitionen abgeleitet und in der Synopse den Kategorien der Arbeit gegenübergestellt werden. Da Lange Bezug auf die Demokratiekompetenzen der „Nationalen Bildungsstandards“ (GPJE 2004) nimmt (vgl. Lange 2008b, S. 255), fließen die durch die GPJE definierten Kompetenzen ebenfalls in die Betrachtung ein. Die zentrale Kompetenz der politischen Mündigkeit als Ausdruck des Bürgerbewusstsein sieht Lange in der Sinngebungskompetenz, die er im Rekurs auf Max Weber als sinnhafte Auseinandersetzung mit formalen und informellen Lernprozessen versteht (Lange 2008a, S. 433; Lange 2008b, S. 255). Dabei verweist er auf Verankerung der Sinnbildungskompetenz über das Verständnis zum konzeptionellem Deutungswissen als Demokratiekompetenz der „Nationalen Bildungsstandards“ (Lange 2008b, S. 255). Mit Blick auf die vorliegende Arbeit werden diese Kompetenzen bzw. dass querliegende Deutungswissen als erfahrender Lernprozess der Kategorie Zusammenhänge kritisch reflektieren können zugeordnet. Diese Kompetenz umfasst den Prozess des dialektischen Denkens, welcher in Form einer hermeneutischen Spirale neue Eindrücke des Umwelterlebens in bestehende Bewusstseinsstrukturen einbetten muss. Dafür werden Abstraktion, Transfer und Modifikation zu kritischen Reflexionsprozessen. Langes Kompetenz der Sinngebung beschreibt mit
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Blick auf das Konzept des Bürgerbewusstseins den subjektiven Umgang mit erfahrenen Diskrepanzen. Auch hier wirken kritische Reflexionsprozesse, um aus einzelnen Aspekten der inneren und äußeren Realität sinnstiftende und kohärente Zusammenhänge generieren zu können. Die GPJE verweist zu Recht auf die bestehende Wechselwirkung zwischen den Kompetenzen der politischen Urteilsfähigkeit, der politischen Handlungsfähigkeit und den methodischen Fähigkeiten in Auseinandersetzung mit dem konzeptionellen Deutungswissen. Das Zusammenspiel dieser Komponenten ergibt die politische Mündigkeit des Bürgers/der Bürgerin, wie sie auch von Lange beschrieben wird. In der Definition der Handlungsfähigkeit steht bei Lange das tatsächliche Handeln im Vordergrund: „Der Gegenstand der Didaktik der Politischen Bildung ist das ‚Bürgerbewusstsein’, in dem der Einzelne den Sinn bildet, der es ihm ermöglicht, die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen [Hervorhebung CK].“ Damit setzt er den Fokus auf die Verbindung von Lernen und Erfahren und wird seinem konstruktivistischen Anspruch gerecht, welcher als Kern auch die vorliegende Arbeit theoretisch prägt. In der synoptischen Gegenüberstellung von Kategoriensystem und Kompetenzperspektiven wird vor allem in der Definition der politischen Handlungsfähigkeit deutlich, dass das sozialräumliche Lernen eine elementare Lernform darstellt, um diese Kernkompetenz über das Lernen im sozialen Raum zu stärken. In der Definition dieser Kompetenz durch die GPJE werden alle Kategorien dank semantischer Überschneidungen widergespiegelt. Setzt man nun die These an, dass vor allem das Lernen im sozialen Raum resp. Sozialraum über die Situierung und Komplexität der Lernsituation sowie über die Ressourcenvielfalt dieses Raumes die arbeitsspezifischen Kategorien stützt, wird sozialräumliches Lernen zu einer essentiellen Lernform der Demokratiepädagogik und politischen Bildung. Demokratiekompetenz als Zusammenführung und Überbegriff der fachspezifischen Kompetenzbegriffe ist eine Kompetenz, die nur über das Leben und Lernen im sozialen Raum resp. Sozialraum allumfassend gestärkt werden kann. Die kontroverse Diskussion um einen Kompetenzbegriff innerhalb der Politischen Bildung bzw. innerhalb der Demokratiepädagogik wird von Hermann Veith (2010) umfassend dargestellt. Er geht in seinem Aufsatz ebenfalls auf die internationale Forschung ein, die sich verstärkt auf den Begriff der civic literacy verständigt, welcher im Rahmen der Arbeit nicht weiter untersucht, aber benannt werden soll. Noch deutlicher wird die Komplexität des Kompetenzverständnisses in einer umfassenden Betrachtung der Vielschichtigkeit von Demokratiekompetenz des Fachs durch Gerhard Himmelmann (2005), der ebenfalls Bezug auf den internationalen Diskurs nimmt. An dieser Stelle muss auf das Kompetenzverständnis des Autors selbst verwiesen werden, da seine Kompetenzbegriffe, die er den drei basalen
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Ebenen des Lernens – affektiv-moralische Einstellung, allgemeine kognitive Fähigkeiten und praktisch-instrumentelle Fertigkeiten – zuordnet, in Teilen große semantische Überschneidungen zum Kategoriensystem der vorliegenden Arbeit aufweist. Die von Himmelmann benannte Fähigkeit Interessenvertretung, Selbstwirksamkeit (ebd., S. 19) entspricht in weiten Teilen der Arbeitskategorien eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können. Weitere praktisch-instrumentelle Fähigkeiten wie Konfliktfähigkeit, Kompromiss- und Konsensfähigkeit, Zivilcourage (Himmelmann 2005, S. 19) sind der Arbeitskategorie einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden zuzuordnen. Die arbeitsspezifische Kategorie aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können entspricht einem Äquivalent zu Himmelmanns benannten Fähigkeiten Verantwortungsbereitschaft, Gemeinschaftssinn (ebd., S. 19). Am deutlichsten wird die semantische und inhaltliche Nähe in der von Himmelmann definierten Kompetenz Zusammenhänge (ebd., S. 18), diese deckt sich mit der Kategorie Zusammenhänge kritisch reflektieren können. Die Nähe sozialräumliche Lernprozesse zum demokratiepädagogischen Bildungsverständnis wurde bereits 2014 durch Anne Seifert und Franziska Nagy beschrieben. Auch diese beiden Autorinnen beziehen sich auf die Theoriegrundlage Deweys (Seifert/Nagy 2014, S. 1) und stellen Service Learning als mögliche sozialräumliche Lernform vor, die es ermöglicht „Kinder und Jugendliche an gesellschaftliche Teilhabe heran zu führen und bei ihnen Demokratiekompetenz auszubilden“ (ebd., S. 17). Erfahrungen dieser sozialräumlichen Lernform im demokratiepädagogischen Kontext wurden bereits über das BKL-Programm „Demokratie lernen und leben“ gemacht. Für die qualitative Arbeit formulieren sie – angelehnt an die „K-12 Service-Learning Standards“ durch Shelly Billig (2008) – sechs Qualitätsstandards für demokratiepädagogische Projektarbeit im Sozialraum, an denen sich diese Arbeit in der praktischen Erprobung orientiert hat.
4.2.6
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE): Gestaltungskompetenz
„Die Gesellschaft, insbesondere das Bildungssystem und die Bildungspolitik sind gefordert, so der Grundtenor, vermehrt jene Kompetenzen zu fördern, welche die Menschen befähigen, mit den vielfältigen Herausforderungen verantwortungsbewusst und kompetent umzugehen.“ (Rychen 2008. S. 17)
Dieses einleitende Zitat Dominique Simone Rychen verweist auf die Spezifik der Zweiten Moderne: ein Leben mit neuen, differenzierten und spezialisierten Herausforderungen. Die Programmdirektorin des OECD-Programms „DeSeCo
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– Definition und Selection of Competencies: Theoretical und Conceptual Foundations“ benennt dabei zugleich den Erwartungshorizont an die gesellschaftlichen Teilsysteme Bildung und Politik. Es sind auf politischer und bildungspolitischer Ebene die Weichen für den selbstwirksamen und nachhaltigen Umgang mit eben jenen aktuellen Herausforderungen zu stellen. Im Programm beschreibt Rychen die Komplexität der Herausforderungen und setzt die Reflexivität als Schlüsselkompetenz diesen Herausforderungen entgegen (vgl. Rychen 2008, S. 17; OECD 2005, S. 11 f.). Damit wird der Fokus auf informelle Lernprozesse gerichtet: „Vernetztes Denken, Kreativität, eine kritische Haltung, ein hohes Problembewusstsein, Metakognition (Denken über das Denken)“ (Rychen 2008, S. 17) werden zur Basis dieses fächerübergreifenden Kompetenzverständnisses und setzen neue Maßstäbe für Bildungsprogramme und -prozesse. Hierbei wird in Berichten und Studien zur Förderung von Schlüsselkompetenzen (vgl. Rychen/Salganik 2001) die Bedeutung eines nachhaltigen und demokratiestärkenden Lernens betont, wodurch das Schlüsselkompetenzverständnis der OECD weitreichende Überscheidungen zu verschiedensten Kompetenzmodellen an der Schnittstelle „Nachhaltigkeitsbewusstsein“ zulässt. Der Schlüsselkompetenz „in größeren Kontexten und Zusammenhängen zu handeln“ wird dabei eine besondere Relevanz eingeräumt (vgl. Rychen 2008, S. 19). Dadurch bestätigt sich die Gewichtung der Reflexivität resp. Reflexion als notwendiger Bedingung, um den Herausforderungen der Zweiten Moderne hinreichend zu begegnen. So wird die Aufteilung des Begriffs, in eine Selbst-Reflexivität und strukturelle Reflexivität, wie sie beispielsweise durch den Soziologen Scott Lash getroffen wird (Lash 1996 sowie Abschnitt 4.2.3), zum Kern jeglicher fächerübergreifender Kompetenz. Hierin spiegelt sich der Dualismus des sozialisationstheoretischen bzw. konstruktivistischen Grundverständnisses einer Entwicklung bzw. eines Lernens im Wechselspiel zwischen innerer und äußerer Realität. Aufbauend auf dem OECD-Verständnis der Schlüsselkompetenzen wurde das Konzept der BNE abgeleitet (vgl. de Haan 2008, S. 30) und als Synthese verschiedenster pädagogischer Ansätze weiterentwickelt. Jene Ansätze sehen ihren Schwerpunkt im nachhaltigen Lernen: „Umweltbildung, den Ansätzen des globalen Lernens, politischer und entwicklungsbezogener Bildungsarbeit“ (Bormann 2013, S. 12). Mit dem BLK-Programm „21 – Bildung für nachhaltige Entwicklung“, welches inhaltlich und namentlich Bezug auf die 1992 in Rio de Janeiro unterzeichnete „Agenda 21“ Bezug nimmt, kam das Lernkonzept der BNE erstmals ab 1999 bundesweit an Schulen in die praktische Erprobung. 2004 verabschiedete die „Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften“ ein erstes Lehrer*innen-Bildungssowie Forschungs-Programm zur BNE. Die Ursprünge der Konzeptentwicklung reichen jedoch weiter und liegen in einer Verwissenschaftlichung der Umweltbildung
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
in den 1990er Jahren (vgl. Bormann 2013, S. 19). Die bildungspolitischen Weichen für den Transfer ins praktische Feld wurden in Deutschland bereits durch die BNEUN-Dekade von 2005–2014 sowie durch die übernationale Strategie „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ der UNECE gestellt (vgl. Michelsen/Fischer 2015, S. 9). Mit dem BLK-Programm „21 – Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wurden nun neben ökologischen Aspekten auch deren Verschränkung mit ökonomischen, politischen und sozialen Lernkomplexen Gegenstand des Unterrichts. Im Verständnis einer Querschnittsaufgabe, die fächer- und akteur*innen-übergreifend in Schule verankert werden kann, kommt der Vermittlung heuristischen Wissens eine besondere Bedeutung zu. Diese Form des Wissens erlaubt eine Orientierung in neuen Kontexten, indem bereits bestehende Wissensressourcen modifiziert und auf unbekannte Situationen unter Zuhilfenahme neuer Fakten transferiert werden können. Gerhard de Haan (2008), der BNE in Deutschland maßgeblich begleitet hat, beschreibt zudem die Notwendigkeit von sinnhaften Aneignungsprozessen durch die Lernenden, denen neue Geltungsansprüche des nachhaltigen Lernens zugrunde liegen: Die neuen Lernkontexte müssen universell und lebensweltlich zugleich sein (ebd., S. 28), damit kontextualisiertes Handeln im nachhaltigen Sinne möglich wird. Über das Programm „21“ wurden den teilnehmenden Bundesländern und ihren Schulen drei Module mit insgesamt 13 Inhaltsaspekten zur Auswahl gestellt (BLK 2004, S. 9 f.), um eine Synthese zwischen universellen und lebensweltlichen Gestaltungsansprüchen über Lernkontexte zu ermöglichen – inhaltliche Grundlage dafür bildete die „Agenda 21“ der UNCED. Die thematische Gestaltung der drei Module – interdisziplinäres Lernen, partizipatives Lernen sowie innovative Strukturen – bildet das Grundverständnis einer ganzheitlichen BNE-Pädagogik ab: fachübergreifender, aktiv integrierender sowie kompetenzorientierter Unterricht und dessen Verankerung im praktischen Lernund Schulalltag. Um bundesweit eine Implementierung der unterrichtsspezifischen BNE-Ansätze, die über „21“ entwickelt wurden, zu unterstützen, starte 2004 das BLK-Programm „Transfer 21“. Inka Bormann, die an der Freien Universität Berlin unter anderem zu BNE und Governance-Prozessen forscht, bezeichnet die BLK-Programme als „Auftakt für die umfassende Institutionalisierung von BNE im v.a. schulischen Bereich […]; ihrerseits ist sie eng verwoben mit der theoretischen, inhaltlichen und methodischen Weiterentwicklung des Konzepts und dessen empirischer Fundierung“ (Bormann 2013, S. 20). Ein zentrales Ergebnis der BLK-Programme bildet das Konzept der Gestaltungskompetenz, welche als Kernziel einer Bildung für nachhaltige Entwicklung verstanden wird. Im Rahmen der Durchführung des Programms „Transfer 21“ wurde aufbauend auf dem Schlüsselkompetenzverständnis der OECD das Modell der Gestaltungskompetenz entwickelt. Es unterteilt sich in zehn Teilkompetenzen, welche den Kompetenzkategorien der
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155
OECD gegenübergestellt werden und dadurch eine Vergleichbarkeit zu internationalen BNE-Kompetenzdiskursen ermöglichen. Die Teilkompetenzen werden durch die Arbeitsgruppe jeweils weiter differenziert und durch Lerngelegenheiten und -gegenstände konkretisiert (vgl. Programm Transfer-21 2007, S. 17 ff.). Neben dem Kompetenzmodell Gestaltungskompetenz der BLK-Programme muss auf das Kompetenzverständnis des „Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung“ (KMK/BMZ 2015) verwiesen werden. Im Auftrag der „Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder“ (KMK) und des „Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (BMZ) wurde 2007 erstmals der umfassende Orientierungsrahmen – angelehnt an das BNE-Konzept – herausgegeben, um unter anderem die Kritikpunkte der bisherigen BNE-Umsetzung konzeptionell im globalen Lernen an Schulen stärker zu berücksichtigen. Mit einer verstärkten rassismuskritischen Betrachtung zu Kolonialismus und Eurozentrismus in Vergangenheit und Gegenwart wird die bisher wenig thematisierte machtkritische Perspektive der Globalisierung in das globale Lernen eingebunden, kritische Positionen zur BNE-Umsetzung über methodischdidaktische Ansätze des globalen Lernens (vgl. Kehren 2015; Danielzik 2013; Danielzik et al. 2013) werden nun zum Teil berücksichtig. Das Kompetenzmodell des Orientierungsrahmens folgt über eine erste Dreiteilung in die Kompetenzbereiche Erkennen, Bewerten und Handeln den Operatoren der Prüfungsfragen und ist somit an die einzelnen Fachdidaktiken anschlussfähig. An die Kompetenzbereiche schließen sich insgesamt elf Kernkompetenzen, die durchaus semantische Überscheidungen zum BLK-Kompetenzmodell aufweisen. Trotz des aktuellen Blicks, den der „Orientierungsrahmen“ sowohl auf Kompetenzverständnis als auch auf Anforderungen an ein lebensweltnahes und verschränktes globales Lernen wirft, setzt die vorliegende Arbeit das etablierte Modell der Gestaltungskompetenz als Bezugs- und Vergleichsrahmen an, um das arbeitsspezifische Kategoriensystem an der Schnittstelle „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu überprüfen. Die arbeitsspezifischen Kategorien ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln und an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben decken sich im Wesentlichen mit dem Kernverständnis einer Bildung für nachhaltige Entwicklung und können daher allen Teilkompetenzen des Gestaltungskompetenz-Modell zugeordnet werden. Auch zu den übrigen Kategorien der vorliegenden Arbeit lassen sich semantische Überscheidungen zum BNE-Ansatz ableiten. Trotz des Bezugs auf das gängige Modell der Gestaltungskompetenz verweist die Arbeit explizit auf das Kompetenzverständnis des Orientierungsrahmens, speziell auf Kernkompetenzen wie Perspektivwechsel und Empathie, Solidarität und Mitverantwortung sowie Verständigung und Konfliktlösung. Mit dieser Kompetenzsetzung zeigt der Ansatz eine hohe Sensibilität für soziomoralisches Lernen und
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
steht damit näher an den komplexen Herausforderungen, vor denen Schule in einer Zweiten Moderne auch jenseits des globalen Lernens steht. Diskussionsfähig dabei bleibt die Umsetzung des soziomoralischen Lernens, wenn der Ansatz des globalen Lernens nicht auf die globale, reale Begegnung zurückgreifen kann. Die Lernpraxis braucht dann die lokale Begegnung, um über situierte, sozialräumliche Lernsituationen soziomoralisches Lernen und Fähigkeiten wie die Entwicklung von Empathie erst zu ermöglichen. Denn erst in der Begegnung kann einer Verinselung der kindlichen bzw. jugendlichen Lebenswelt (Zeiher/Zeiher 1994) sowie einer Entfremdung innerhalb von Räumen (Rosa 2012) entgegengewirkt werden. An diesem Beispiel zeigen sich die Grenzen einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ebenso wie die Schnittstellen zu weiteren Lernkonzepten, die Sozialisation und Bildung an gesellschaftliche Entwicklungen koppeln: Um die räumliche Trennung zwischen „Nord“ und „Süd“ für die Entwicklung globaler Mitverantwortung zu überwinden, muss auch das globale Lernen der BNE auf sozialräumliches Lernen und den lokalen Sozialraum zurückgreifen, will BNE konstruktivistisch arbeiten. Die BNE-Themen mit ökologischen Bezügen schaffen dabei den Spagat, globale Zusammenhänge im sozialräumlichen Erleben lokal erfahrbar zu machen, sind es doch auch gerade ökologische Veränderungen, die global wirken und im direkten Sozialraum ihre Auswirkungen zeigen. Beispiele aus dem Bereich citizen science spiegeln eine erfolgreiche Umsetzung von globalem, ökologischem Lernen im sozialräumlichen Kontext wider (vgl. Richter et al. 2016). BNE-Themenfelder wie soziale Ungleichheit und Migrationsbewegungen über kulturelle Wandlungsprozesse sind zudem gleichfalls im lokalen Sozialraum erfahrbar – bilden sie gegenwärtigen einen Teil der westlichen Alltags- und Lebenswelt ab – doch braucht die BNE-Arbeit dafür eine bewusst machtanalytische Perspektive, welche die Betrachtung von Marktmechanismen und die Wechselwirkung des Politik- und Wirtschaftssystems einbindet (vgl. Kehrer 2015). So können Komplexität und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Realitäten ansatzweise abgebildet und reflektiert werden. An dieser Stelle sollten BNE-Ansätze konzeptionell weiterentwickelt werden, ohne den Vorwurf der ideologischen Betrachtung fürchten zu müssen. Ein machtsensibler bzw. ein machtkritischer Fokus auf globale Handlungsräume ist Bestandteil eines ganzheitlichen Blickes des globalen Lernens. Um es mit den Worten der Soziologin Martina Löw zu sagen: „Schüler oder Schülerinnen müssen lernen, institutionalisierte Verknüpfungsordnungen von sozialen Gütern und Menschen als Räume zu erkennen und dabei eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln“ (Löw 2015a [2001], S. 245). Sozialräumliches Lernen bietet über das Kennenlernen des sozialen Raums unter figurativen Aspekten eine Möglichkeit, um Kinder und Jugendliche zu bemündigen bzw. sie zu befähigen, eigene Fragen zu stellen und darüber auch eigene kritische Positionen zu entwickeln.
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
4.2.7
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Diversity & Intersektionalität: Vielfaltskompetenz
Eine weitere schulische Schnittstelle und Querschnittsaufgabe hat den machtsensiblen bzw. den machtanalytischen Blick auf Interaktionsbeziehungen bereits in ihr Selbstverständnis integriert: Bildungs-, sozialarbeitswissenschaftliche und soziologische Forschung zu Vielfalt versteht die soziale Konstruktion von Differenz als grundlegende Facette einer ganzheitlichen Diversitätsforschung. Machtsensible Diversity-Ansätze und Theorieströmungen innerhalb der Intersektionalitätsfoschung wie Anti-Bias (vgl. Anti-Bias-Netz 2016; Fleischer 2016; Trisch 2013), Social Justice (vgl. Czollek et al. 2012; Young 1996) oder Dekonstruktionstheorie (vgl. Butler 1991; 2009) betrachten soziale und kulturelle Ungleichheit im Kontext sozialer Zuschreibungen und als Produkt von Interaktionsbeziehungen in sozialen Räumen. Sie untersuchen Vielfalt mit Blick auf eine strukturelle und institutionalisierte Verankerung von Ungleichheit. Die machtsensible und zu Teilen machtkritische Position dient der Beschreibung von Vielfalt und gleichfalls dem Erkennen von Ungleichheit, um dieser über die Reflexion sowie durch ein reflexives Handeln entgegenwirken zu können. Dabei integrieren diese Ansätze durch die Implementierung einer machtsensiblen Perspektive die makrosoziologische Ebene in ihre Analyse und wirken innerhalb der Sozialisationstheorie als Reflexionsräume für den Einfluss gesellschaftlicher Figurationen auf die Ich-Individuation und Persönlichkeitsentwicklung – eine Perspektive, welche in schulischen, didaktischen Ansätzen der Inklusions- oder Integrationsforschung bzw. in Theorien zum interkulturellen Lernen eher selten verankert ist. Die vorliegende Arbeit trägt den Untertitel „Demokratiebildende Koordinaten sozialräumlichen Lernens in einer Gesellschaft der Vielfalt“ – nicht ohne Grund bildet die Kompetenz, die es zum Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt braucht einen Schwerpunkt der Analyse. Hubert Schröer (2012) definiert aus Sicht der Sozialen Arbeit neue Anforderungen, die sich aus dem Paradigma der Vielfalt ergeben. Dabei greifen seine Betrachtungen über die Soziale Arbeit hinaus und fungieren als Querschnittsbeschreibungen für das Leben und Lernen in einer heterogenen und gleichfalls differenzierten Gesellschaft mit vielfältigen Formen der Lebensführung. Er beschreibt eine neue Kompetenz, die er als Vielfaltskompetenz bezeichnet und versteht darunter eine „Fähigkeit der organisatorischen und individuellen Bewältigung von sich ständig wandelnden Anforderungen und Aufgaben. Elemente dieser Kompetenz sind etwa der Umgang mit Ambivalenz, also mit Uneindeutigkeiten, die Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten von Ungewissheit und Fremdheit, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Flexibilität, die Einsicht in die Notwendigkeit reflexiven Handelns, das
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Denken in Zusammenhängen und eine ausgeprägte Analysefähigkeit. Die zu bewältigende Herausforderung ist es dabei, in und trotz dieser Vielfalt seinen Kohärenzsinn zu bewahren, in seinem Leben und Arbeiten weiterhin Sinn zu sehen.“ (Schröer 2012, S. 5)
Schröers Verständnis eines produktiven Umgangs mit Ambivalenzen, Ungewissheit und Fremdheit entspricht dabei der arbeitsspezifischen Kategorie einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden, aber auch die Kategorien situationsgerecht handeln können sowie Zusammenhänge kritisch reflektieren können kommen der von Schröer definierten Kompetenzfacette entgegen. Er stärkt die Notwendigkeit nach Reflexion indem er „das Denken in Zusammenhängen und eine ausgeprägte Analysefähigkeit“ (Schröer 2012, S. 5) explizit hervorhebt, ebenso wie die Herausforderung an Individuen trotz verzweigter Kausalketten, die ein Kennzeichen der Zweiten Moderne abbilden, eine Sinnhaftigkeit und Verstehbarkeit des eigenen Lebens zu generieren – eine Kompetenz der Gesundheitsförderung (vgl. Abschnitt 4.2.4). Schröer entwickelt mit dieser Definition ein erweitertes Verständnis von interkultureller Kompetenz und beschreibt sie aus der Perspektive eines betriebswirtschaftlich genutzten Diversity Managements heraus. Katharina Walgenbach (2017) unterscheidet dabei wesentliche Formen innerhalb des Diversity-Diskurses: affirmative Diversity-Management-Ansätze, welche aus Unternehmenskontexten hervorgegangen sind, sowie machtsensible DiversityAnsätze. Beide Formen stehen sich nicht antagonistisch gegenüber, vielmehr gibt es Überschneidungen und Verbindungen zwischen den Diversity-Strömungen. Dabei grenzt Walgenbach Diversity-Formen klar von Intersektionalitätsansätzen ab, da Diversity laut Walgenbach stärker auf den Abbau von Diskriminierung über Zielgruppenarbeit setzt, während im Intersektionalitätsdiskurs die Analyse der verschiedenen Differenzlinien und ihre Wechselwirkung zueinander im Vordergrund stehen. Christiane Riegel (2014) dagegen unterscheidet drei Hauptlinien diversitätsbezogener Ansätze: „Diversity als Anti-Diskriminierungsansatz. Diversity als Anerkennungsansatz und Diversity als Ressourcenansatz“ (Riegel 2014, S. 184). Riegel verweist jedoch auch auf Konzepte innerhalb des Diversity-Diskurses, die analog der Intersektionalitätsforschung soziale Ungleichheit und Diskriminierungserscheinungen untersuchen (ebd., S. 185). Eine ausschließlich ressourcen- und anerkennungsorientierte Betrachtung von Vielfalt, welche figurative Aspekte und institutionalisierte Ungleichheit ausblendet, läuft – so Riegel – Gefahr etablierte Machtstrukturen und -mechanismen zu reproduzieren (ebd., S. 188 f.). Dieser Argumentation folgend kann eine diversitätsorientierte Soziale Arbeit am Intersektionalitätsansatz ausgerichtet werden, um über eine machtsensible und -kritische Betrachtung von Vielfalt die zugrundeliegenden Interessen und Strukturen von
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Ungleichheit und Diskriminierung zu verstehen und im besten Falle korrigieren zu können. In der Sozialen Arbeit bzw. in der Sozialarbeitswissenschaft, die stark handlungsorientiert ausgerichtet ist, wird vorrangig mit Diversitäts-Konzepten gearbeitet, während die intersektionale Perspektive über makrosoziologische Analysen sozial konstruierte Grenzen analysiert und dekonstruiert. Machtsensible DiversitätAnsätze integrieren die intersektionale Perspektive und können dabei gleichfalls der Intersektionalitätsforschung zugerechnet werden – auch wenn Walgenbach hier eine Grenze zieht. Nach Riegel bildet eine wesentliche Grundlage der intersektionalen und diversitätsorientierten (Sozial)Pädagogik die Selbstreflexion in Form einer kritischen Betrachtung eigener Abhängigkeiten sowie in Form eigener Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozesse (ebd., S. 192). Diese Form der Selbstreflexion muss neben die intersektional geprägte Analyse struktureller Gegebenheiten gestellt werden muss. Auch im Intersektionalitäts- und Diversity-Diskurs wird die sozialisationstheoretische Position einer wechselseitigen Beeinflussung von innerer und äußerer Realität als Grundlage des Entwicklungsprozesses angesetzt, um eine Kompetenz zum Umgang mit Vielfalt zu beschreiben. Auf das sozialräumliche Lernen bezogen, ermöglichen sich über das Interagieren in komplexen sozialen Räumen neue Chancen für eine diversitätsspezifische (Sozial)Pädagogik sowie für die inklusive Didaktische Forschung. Dabei muss der Unterricht nicht zwingend in den Sozialraum hinein verlagert werden; eine thematische Fokussierung auf den Raum der Klasse, wenn Interaktionsbeziehungen bzw. Interdependenzbeziehungen der Schüler*innen untereinander sowie die Beziehung zwischen Lehrer*in und Schüler*in in den Lernkontext eingebunden werden. Die Annahme, dass ein Klassenverband heterogen ist, bildet das Primat der inklusiven Schul- und Bildungsforschung. Die Integration einer machtsensiblen Perspektive, welche den sozialen Raum des Klassenverbandes definiert, erweitert den inklusiven Ansatz im Verständnis ganzheitlicher Diversitäts- und Intersektionalitätsansätze – Voraussetzung dafür bildet ein Bewusstsein für soziale Räume und deren figurative Verschränkungen. Verfolgt man die Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Umgangs mit gesellschaftlicher Vielfalt wird deutlich, dass die pädagogischen Konzepte und Theorien sich den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen angepasst haben. Ein grundlegender Perspektivwechsel bildet ein wichtiges, neues Verständnis für die Notwendigkeit von Querschnitts- oder Schlüsselkompetenzen ab: von der „Ausländerpädagogik“ der 1970er Jahre hin zu einem notwendigen Diversitätsverständnis für einen produktiven Umgang mit Heterogenität und Ansätzen „Interkultureller Pädagogik“ – Vielfalt als „gesellschaftlicher Normalfall“ wird zum Ausgangspunkt. Schöers Definition einer Vielfaltskompetenz greift zudem die Kennzeichen einer Zweiten Moderne sowie die daran gekoppelte Notwendigkeit Reflexiver
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Modernisierung auf. Modernisierungstendenzen generieren unweigerlich eine Risikogesellschaft über die Verkettung von latenten Nebenfolgen, deren Konsequenzen – wie die Verteilung von gods und bads – das Individuum tragen muss (vgl. Beck 1993; 2017). Daher verwundert es nicht, dass Schröers Verständnis einer Vielfaltskompetenz den Umgang mit Ambivalenzen sowie Flexibilität als Anforderungen an das Individuum richtet. „Das Denken in Zusammenhängen und eine ausgeprägte Analysefähigkeit“ (Schröer 2012, S. 5) kommen dabei der Forderung der Modernisierungstheorie nach einer „Konstruktion des Selbst als reflexives Projekt [im Original kursiv, Anmerkung CK]“ nach – „ein Grundbestandteil der Reflexivität der Moderne; der einzelne muß sich unter den von abstrakten Systemen gebotenen Strategien und Alternativen umsehen, um die eigene Identität ausfindig zu machen“ (Giddens 1996 [1990], S. 155). In der Verkettung von Vielfaltskompetenz und Gesellschaftstheorie wird deutlich, dass „Vielfalt“ weit über die subjektiven Dimensionen des Individuums betrachtet werden muss, sind es doch auch vielfältige Facetten und Lebensgestaltungsmöglichkeiten des gesellschaftlichen Sozialraums, die auf das Individuum zurückwirken. Daher ist Christine Riegels Kritik am verkürzten Kompetenzverständnis der OECD berechtigt (Riegel 2014, S. 187 f.). Riegel merkt an, dass Vielfalt im Verständnis der EU auf Zugehörigkeiten reduziert wird und damit strukturelle Ungleichheiten und deren Reflexion außen vor bleiben (ebd., S. 188). Die Kritik schließt nicht aus, dass ein Umgang mit interkultureller Vielfalt oder geschlechtlichen Unterschieden nicht Gegenstand einer Vielfaltskompetenz wäre. Das Konzept der Vielfaltskompetenz integriert vielmehr Heterogenität als Normalfall gesellschaftlicher Realität in sein Selbstverständnis und definiert auf diesem Selbstverständnis aufbauende Fähigkeiten, die ein Leben in heterogenen Gesellschaften bzw. in einer Gesellschaft der Vielfalt erleichtern.
4.2.8
Soziomoralische Sozialisation: Soziomoralische Kompetenzen
Soziomoralische Kompetenzen sind Querschnittskompetenzen, die lebenslang erworben werden können und unterschiedliche schulische Schnittstellen über ihren Wesenskern kreuzen. Monika Keller und Tina Malti (2015) zeichnen in ihrem Beitrag des „Handbuchs Sozialisationsforschung“ soziomoralische Kompetenzentwicklung als Entwicklungsaufgabe, welche alle Lebensphasen umfasst. Sie verweisen dabei auf schulische Bildungsansätze zur Kompetenzstärkung (Keller/Malti 2015, S. 684), die bereits im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit benannt wurden: „Erwachsen werden“ – ein Programm der Life-Skills-Förderung an der Schnittstelle „Gesundheitsförderung/Krankheitsprävention“ (vgl. Abschnitt 4.2.4)
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
161
– sowie „Demokratie lernen und leben“, das demokratiekompetenzfördernde BKL-Programm der Demokratiepädagogik (vgl. Abschnitt 4.2.5). Die soziomoralischen Kompetenzen bilden den Schwerpunkt der Fachdidaktiken „Ethik“ (vgl. Abschnitt 4.2.1), „Philosophie“ und „Religion“ ab, fungieren aber gleichzeitig als fächerübergreifende Kompetenzen und Bildungsziel aller Fachdidaktiken, deren Grundlage das Lernen im sozialen Raum ist – ganz gleich, ob das Lernen die historische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, ökologische oder globale Perspektive integriert. Wolfgang Edelstein (2001) entwickelt Thesen schulischer Realität, die für eine essentielle Moralentwicklung in der Schule als übergreifendes Prinzip sprechen. Dabei wirft der Demokratiepädagoge einen Blick auf die wissenschaftliche Tradition moralpädagogischer Ansätze von Durkheim über Piaget zu Kohlberg. Als „Roten Faden“ des Aufsatzes nutzt Edelstein Platons fiktiven Dialog zwischen Sokrates und Menon von Pharsalos, im Werk „Menon“. Darin fragt Menon (frei übersetzt): „Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Moral (er sagt: die Tugend) durch Belehrung oder durch Praxis erworben wird – handelt es sich dann um eine natürliche Entwicklung? Oder wie sonst kommt es zum Erwerb der Moral?“ (Edelstein 2001, S. 26). Edelstein setzt dieser Frage zwei Antwortmodelle gegenüber: autoritätsgestützte Regeln sowie diskursethische Lösungen (ebd.). Edelstein selbst präferiert das zweite Modell (ebd., S. 26 f.). Durch Einsicht und Verständnis, die aus der Auseinandersetzung und Reflexion mit unterschiedlichen, teils abweichenden Perspektiven resultieren, kann moralische Orientierung wachsen. Die Diskussion und eine daran geknüpfte Suche nach einem möglichen Konsens fördern das Verstehen moralischer Grundsätze und führen zu personeller Entwicklung – stärker als das Befolgen äußerer, autoritätsgebundener Gesetze. Denn die Legitimation dieser Gesetze muss im Individuum selbst nicht zwingend Verankerung finden und kann vielmehr einer losen „Compliance“ entsprechen, deren Grundlage nicht durch soziomoralische Kompetenzen gebildet wird. Die aktiv gelebte Form des Moralerwerbs spricht dabei für ein sozialisationstheoretisches Moment und eine konstruktivistische Didaktik. Das sozialräumliche Lernen kann mit Blick auf eine soziomoralische Kompetenzentwicklung zur Herausforderung und zum Reflexionsmedium gleichermaßen werden, ist es doch der soziale Raum, der Widersprüche und Probleme generiert und dabei den Diskurs über die sozialen Interaktionen erst ermöglicht. Demnach kann soziomoralische Kompetenzentwicklung über das sozialräumliche Lernen stattfinden und als Methode bzw. Instrument der Moralentwicklung zum Einsatz kommen – sofern die Lernsituation reflektiert wird. Wissenschaftliche Grundlagen der Forschung zu soziomoralischen Kompetenzen bilden die Arbeiten von Jean Piaget (1986 [1948]), Lawrence Kohlberg (1996;
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
2001 [1976]) und Robert L. Selman (1984 [1980]). Piaget lieferte mit seinem Stufenmodell der Moralentwicklung die Basis der Arbeiten Kohlbers und Selmans; anders als die beiden Forscher geht Piaget von vier Stadien der Moralentwicklung aus, welche von allen Kindern mit einem bestimmten Lebensalter erreicht werden. Über Assimilations- und Akkomodationsprozesse vollziehen sich im Kind Entwicklungen, die seinen Umgang mit Regeln prägen. „Will man die kindliche Moral daher verstehen, so muß man mit der Analyse der entsprechenden Tatsachen beginnen. Jede Moral ist ein System von Regeln, und der Kern jeder Sittlichkeit besteht in der Achtung, welche das Individuum für diese Regeln empfindet.“ (Piaget 1986 [1948], S. 23) Kohlberg entwickelt aus diesem Modell sechs moralische Stufen, welche in drei Hauptebenen eingeteilt werden: die präkonventionelle (Stufen 1 und 2), die konventionelle (Stufen 3 und 4) und die postkonventionelle Ebene (Stufen 5 und 6) (Kohlberg 2001 [1976], S. 37). Während Piaget den Moralbegriff über die Definition und den Umgang mit Regeln konstruiert, wird Moral von Kohlberg an Prinzipen der Gerechtigkeit identifiziert: „Der Gerechtigkeitssinn eines Menschen ist das, was am ausgeprägtesten und fundamentalsten moralisch ist. Man kann alle Regeln infrage stellen und doch moralisch handeln. Man kann das größere Wohl infrage stellen und doch moralisch handeln. Aber man kann nicht zugleich moralisch handeln und die Notwendigkeit der Gerechtigkeit infrage stellen.“ (ebd., S. 48)
Ein weiterer Unterschied zu Piaget liegt in der Grundannahme, dass Moralentwicklung nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen, sondern lebenslang einen Bestandteil der Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung bildet. Als schulpraktische Form des moralischen Lernens prägten Kohlberg und seine Kolleg*innen – zu denen auch Robert L. Selman zählte – in den 1970er Jahren das Konzept der Just Community; einen reformpädagogischen Ansatz, welcher das demokratische und verantwortungsbewusste Lernen und Leben in einer Schulgemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Neben der Dilemmadiskussion finden in der Just Community demokratiepädagogische Ansätze wie der Klassenrat, Vollversammlungen und lebensweltnahe Unterrichtsgestaltung praktische Anwendung. Das Konzept der Just Community kann daher in enger Verbindung mit John Deweys Interpretation von Schule als embryonic society betrachtet werden: Das Verständnis einer Schule als „gerechte Gemeinschaft“ und einer „Gesellschaft im Werden“ kann als mögliches Primat eines normativen Auftrags von Schule in einer Gesellschaft der Vielfalt gewertet werden. Das damit verbundene sozialisationstheoretischkonstruktivistische Verständnis vom Lernen über die Erfahrung im Sozialraum
4.2 Sozialräumliches Lernen als …
163
transferiert Kohlbergs und Deweys Ansätze in die Theorie einer Reflexiven Modernisierung der Gegenwart und liefert der Didaktischen Forschung aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive neue Forschungsansätze. Selmans Schwerpunkt dagegen liegt auf den Entwicklungsprozessen des interpersonalen Verstehens: auf der sozialen Perspektivenübernahme. Dafür konzipiert er fünf Stufen der Perspektivenübernahme, die er in seinem Hauptwerk (1984 [1980]) mit Blick auf das Individuum und unterschiedliche Sozialisationsinstanzen beschreibt (ebd., S 147–203). Auch bei Selman wird deutlich, dass die soziale Perspektivenübernahme nicht einen entwicklungstheoretisch definierten Endzeitpunkt erreicht, sondern subjektiv von jedem oder jeder Einzelnen lebenslang durchlaufen wird. Der Transfer des Stufenmodells auf einzelne Menschen, die Freundschaftsbeziehung, die Gleichaltrigengruppe und die Eltern-Kind-Beziehung macht deutlich, dass die erreichte Stufe abhängig von den äußeren Umweltfaktoren und Erfahrungen beeinflusst wird und variieren kann. Für die Didaktische Forschung ergeben sich aus der Grundlagenforschung und den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen und Veränderungen neue Forschungsansätze zur Wirksamkeit der Theorien und ihrer praktische Anwendung im schulischen Kontext. Das BMBF-Programm „Grundlagen einer kompetenzorientierten Didaktik: Zur Förderung sozialer und soziomoralischer Kompetenzen in der Schule“ setzte von 2002 bis 2004 den Schwerpunkt auf eine Systematisierung und Bewertung theoretischer und praktischer Modelle der sozialen und moralischen Kompetenzentwicklung. Es fungierte als wichtige Ergänzung zum demokratiepädagogisch ausgerichteten BLK-Programms „Demokratie lernen und leben“, indem sich das Programm vor allem den Fragen der Kompetenzentwicklung und -stärkung widmete (Becker 2008, S. 9 f.). Demokratie-Kompetenz weist ein hohes Maß an Überschneidungen zu sozialen und moralischen Kompetenzen auf bzw. bilden diese Kompetenzen die Grundlagen für politische Mündigkeit, so dass demokratiepädagogisches Lehren und Handeln in Schule auch Fragen einer soziomoralischen Kompetenzentwicklung umfassen muss. Im BMBF-Programm „Grundlagen einer kompetenzorientierten Didaktik“ widmete sich eine „AG Soziomoral“ der Analyse entsprechender Modelle und konnte – anhand einer zweiten Projektlaufzeit von einigen Monaten – ein „Kompendium zur schulischen Förderung sozialer, moralischer und demokratischer Kompetenzen“ entwickeln, welches von Günter Becker 2008 als Publikation in überarbeiteter Form herausgebracht wurde. Aufgrund der engen Verbindung mit dem Edelstein/Fauer-Programm entwickelt Becker eine Dreiteilung zwischen sozialen, moralischen und demokratischen Kompetenzen. Über die Mitarbeit im BMBF-Programm und eine theorievergleichende Analyse entwickelt Becker sein Kompetenzmodell abgestimmt auf die drei Kompetenzbereiche. Dabei ordnet er den Kompetenzbereichen vier Fähigkeitsdimensionen
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4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
zu: kognitive, kommunikative, emotionale sowie handlungstrukturierende Fähigkeiten (Becker 2008, S. 14) – darauf aufbauend konzipiert er ein entsprechendes Kompetenzmodell, welches als Synthese und Metamodell verschiedenster Kompetenzdiskurse verstanden werden kann und anhand welchem schulische Förderkonzepte überprüft werden können. Anders als die meisten Kompetenzmodelle geht Becker in seiner Kompetenzbeschreibung weiter und entwirft für die einzelnen Kompetenzbereiche subsumierte Fähigkeiten, die zum einen – wie oben beschrieben – einzelne Fähigkeitsdimensionen widerspiegeln und gleichzeitig über graduelle Prozessebenen entwickelt werden (ebd. S, 112 ff.). Bei der graduellen Einordnung orientiert sich Becker an sozialpsychologischen Prozessmodellen des Handelns. Becker selbst bezieht sich in der Genese seines kompetenzorientierten Prozessmodells auf die Arbeiten von Robert L. Selman und Sigrun Adalbjarnardottir (ebd.). Er unterscheidet in seinem Modell für jeden Kompetenzbereich (sozial, moralisch und demokratisch) sechs Phasen, die zur Handlung führen und denen kognitive, kommunikative, emotionale sowie handlungstrukturierende Fähigkeitsdimensionen mit dahinterliegenden Fähigkeiten zugeordnet werden können. Die Phasen lassen sich graduell und begrifflich einteilen in: Situationserfassung, Zielsetzung, Motivation, Planung der Handlung, Handeln sowie Bewertung der Handlung. Letztere wirkt über die Reflexion in die davorliegenden Phasen zurück (ebd., S. 112 ff.). Dabei bleiben die Phasen in den jeweiligen Kompetenzbereichen in Benennung und Abfolge gleich, so dass Becker drei Abbildungen der Kompetenzbereiche entwickelt und darin in Abstufung die entsprechenden Fähigkeiten begrifflich zuordnet, die jedoch teilweise unspezifisch bleiben. So werden die kommunikativen Fähigkeiten oder moralische Dialogfähigkeiten nicht weiter differenziert (vgl. Becker 2008; S. 113, 125). Dennoch schafft Becker ein Kompetenzmodell, welches die Frage involviert, wann Kompetenzen über eine entsprechende Performanz auch abgerufen werden können bzw. wann das kompetente Handeln aktiviert wird. Oder um es mit den Worten John Erpenbecks zu formuliert: „Kompetenz manifestiert sich erst in der Performanz“ (Erpenbeck 2012, S. 18). Indem Beckers Modell volitionale und absichtsvolle Kompetenzen formuliert, die zu Handeln und anschließender Reflexion führen können, beschreibt das Modell auf sozialer, moralischer und demokratischer Ebene wesentliche Fähigkeiten, welche die Performanz einer Kompetenz begünstigen und auch auf weitere schulische Schnittstellen der Kompetenzentwicklung transferiert werden können. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an Beckers Darstellung sozialer und moralischer Kompetenzen und lässt die demokratischen Kompetenzen außer vor, welche bereits an der Schnittstelle „Demokratiepädagogik“ ausführlicher betrachtet worden. Über den Kompetenzvergleich als Ableitung eines arbeitsspezifischen Kategoriensystems sollte deutlich geworden sein, dass fächerübregeifende Kompetenzen
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
165
an unterschiedlichen schulischen Schnittstellen einen gemeinsamen semantischen Kern teilen, deren Schwerpunkte in vielen Bereichen auf sozialen Kompetenzen und dem moralisch-ethischen Umgang mit gesellschaftlicher und individueller Vielfalt beruhen. Dieses Kapitel widmet sich daher primär soziomoralischer Kompetenzen als Basis der Ich-Individuation und Vergesellschaftung als lebenslanger Prozesse und stellt in der Analyse den arbeitsspezifischen Kompetenz-Kategorien Beckers Definition von sozialen und moralischen Kompetenzen gegenüber. Speziell die arbeitsspezifische Kompetenz situationsgerecht handeln können entspricht in ihrem Verständnis einer Reihe von Fähigkeiten, welche den Kern soziomoralischer Kompetenzen bilden. Das sozialräumliche Lernen kann dabei als Lernkontext den Rahmen für Erwerb und Performanz soziomoralischer Kompetenzen bilden.
4.3
Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
4.3.1
Einzelkompetenzen in ihrer Nachhaltigkeitsperspektive
Mit Hilfe der vorausgegangenen Analysen bestehender Kompetenzmodelle und begriffe an unterschiedlichsten schulischen Schnittstellen der fächerübregreifenden Kompetenzentwicklung konnten neun abgeleitete Kompetenzen überprüft werden. Aus den synoptischen Gegenüberstellungen der arbeitsspezifischen Kompetenzen und aus den etablierten Kompetenzbegriffen lässt sich für jede Kompetenz eine Übersicht erstellen. Diese Übersichten resultieren aus semantischen Überschneidungen zu bestehenden Modellen und Theorien. Darüber sowie über das Berufsund Alltagswissen der Verfasserin werden nun im Folgenden als Beantwortung der Fragestellung Welche Kompetenzen, die für ein Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt relevant sind, können über das sozialräumliche Lernen trainiert und gestärkt werden?
die einzelnen Kompetenzen näher erläutert und auf das sozialräumliche Lernen transferiert. Hintergrund dafür bildet die Hypothese 1, nach welcher sozialräumliches Lernen speziell fächerübergreifende Kompetenzen anspricht. Die für jede Arbeitskategorie einzeln dargestellte Ableitung fungiert über die Aufführung der etablierten Kompetenzbegriffe zugleich als Begriffsdifferenzierung, welche die Definition des arbeitsspezifischen Kompetenzmodells zusätzlich stützen soll.
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Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
In die Gesellschaft integriert sein Die Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein fungiert in erster Linie als Fähigkeit, auf die Ressourcen der äußeren Umwelt zurückgreifen zu können – sofern strukturelle Rahmenbedingungen diesen Zugriff nicht behindern. Dabei steht die Fähigkeit des Individuums, Netzwerke und Kontakte produktiv zu nutzen, im Mittelpunkt. Der Begriff „Ressource“ umfasst dabei vorrangig immaterielle Güter wie funktionale Hilfen, wertschätzende Anerkennung, konstruktive Kritik oder auch Zuneigung. Ressourcen sind immer dann nutzbar, wenn das Individuum über das Wissen um die Ressource verfügt und gelernt hat, um die Ressource notfalls zu bitten; oder wenn das Individuum die Möglichkeiten hat, die Ressource in der Beziehungsarbeit mit Anderen zu entwickeln. Die Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein beschreibt primär die Fähigkeit des Einzelnen/der Einzelnen, soziale und kommunikative Prozesse zu anderen Menschen oder anderen Gruppen produktiv steuern zu können. Inwieweit eine Identifikation mit Gruppen oder gesellschaftlichen Teilsystemen erfolgt, wird dem Aspekt einer möglichen Ressourcennutzung untergeordnet, ebenso wie die reale Teilnahme an Prozessen des gesellschaftlichen Lebens – diese Indikatoren beschreiben Aspekte von Inklusion, lassen aber nur bedingt eine Aussage zu, inwieweit die sozialen Beziehungen Hilfen und Stütze im Sozialisationsprozess bieten. Kann auf äußere Ressourcen nicht zugegriffen werden, ist die Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein nur eingeschränkt verfügbar, selbst wenn beispielsweise persönliche soziale Medien auf ein breites Kommunikations-Netzwerk verweisen. Das Individuum muss kognitiv und real die Möglichkeit haben, sich über Beziehungs- und Lebensweltstrukturen zu entwickeln – z. B. über produktive Spiegelungen des Selbst von Außen oder über die Unterstützung durch Fach- und Beratungsstellen der Sozialen Arbeit. Die Persönlichkeitsentwicklung bildet einen Hauptaspekt der Sozialisation und wird durch Integrationsprozesse gestützt. Neben der Ressourcennutzung umfasst die Persönlichkeitsentwicklung resp. IchIndividuation weitere Aspekte: Als Teilaspekt der Persönlichkeitsentwicklung ist dabei die Ausbildung und Reifung einer eigenen Identität zu verstehen, welche auch ein Bewusstsein über subjektive Rollen umfasst. Diese können sich nur in Auseinandersetzung mit der umgebenden äußeren Realität entwickeln und sind gleichfalls an das Erleben von Rollenhandlungen gebunden. So integriert diese Arbeitskategorie ein subjektives Bewusstsein über die Rolle des/der „Bürger*in“, ebenso wie das innere und äußere Erleben als „Partner*in“, „Freund*in“ oder „Mitarbeiter*in“. Für Bildungs- und Lernprozesse wird dabei John Deweys Forderung nach experience/Erfahrungen als Grundlage des Lernens deutlich: Das sozialräumliche Lernen als konstruktivistische Lernform bietet dabei über die komplexe Raumerfahrung Grundlagen für den fächerübergreifenden Kompetenzerwerb, speziell dann,
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
167
wenn Lernende dazu aufgefordert sind, eine eigene Identität und Positionen zu gesellschaftlichen Sachverhalten zu entwickeln. Zum Lernprozess zählen dabei das Meistern von Herausforderungen sowie das Lösen von unbekannten Problemen. An dieser Stelle kann im sozialräumlichen Lernen die Einbindung externer, äußerer Ressourcen in den Lösungsprozess trainiert werden, da diese äußeren Ressourcen als Bestandteil des sozialen Raums bereits einen Teil der Lernsituation bilden. Das sozialräumliche Lernen schafft somit eine Komplexität, die in der klassischen Frontalsituation nur bedingt erreicht wird. Zur Persönlichkeitsentwicklung zählt gleichfalls die Fähigkeit, anderen Menschen Hilfe und Unterstützung anzubieten. Die Kategorie und Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein umfasst demnach auch die Eigenschaft, sich solidarisch gegenüber anderen Menschen zu positionieren. Unter figurativen Aspekten bildet diese Fähigkeit die Grundlage menschlicher Gemeinschaften und trägt maßgeblichen Charakter für die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft. Solidarität bildete eine zentrale Facette von Partizipation ab, ohne welche Gesellschaft sukzessive die Fähigkeit zur Sozialintegration verlieren würde, da es dem Individuum eine Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung entzieht. Die Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein entspricht einer wesentlichen Fähigkeit für das Leben in der Zweiten Moderne ab. Aufbauend auf der synoptischen Gegenüberstellung wurde eine Ableitung für die Kategorie resp. Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein entwickelt (Tab. 4.2.). Innerhalb aller untersuchten schulischen Schnittstellen bildet diese Kompetenz zahlreiche semantische Überschneidungen zu etablierten Kompetenzmodellen und -begriffen ab:
Tab.4.2 „Kompetenz – in die Gesellschaft integriert sein“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „in die Gesellschaft integriert sein“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 4
Fächerübergreifende Kompetenz/Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Fächerübergreifende Kompetenz/Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13 (Fortsetzung)
168
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.2 (Fortsetzung) Kompetenz: „in die Gesellschaft integriert sein“ Schulische Schnittstelle
„Übergang Schule/Beruf“
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Schlüsselkompetenz/Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/Kulturelle Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/Naturwissenschaftlichtechnische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/ Wahrnehmungskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/ Reflexionskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/ Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Berufswahlkompetenz – Adaptabilität/Curiosity-Neugier: Exploration
Ratschinski 2014, S. 14
Berufswahlkompetenz – Adaptabilität/Confidence: Erwartung
Ratschinski 2014, S. 15
Berufswahlkompetenz – Resilienz/Allgemeine Resilienz
Ratschinski 2014, S. 18
Berufswahlkompetenz – Resilienz/Selbstwertgefühl
Ratschinski 2014, S. 18
„Berufspädagogik“ Humane Kompetenz/allg. sowie Handlungskompetenz
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49
Handlungskompetenz
Sekretariat der Kultusminister-konferenz 2011, S. 30
Reflexive Handlungsfähigkeit/Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; 2014, S. 19 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
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Tab. 4.2 (Fortsetzung) Kompetenz: „in die Gesellschaft integriert sein“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention“
Life-Skills/effective communication
WHO 1997 [1994], S. 2
„Demokratiepädagogik“
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“
Life-Skills/Interpersonal relationship skills
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/empathy
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/coping with emotions
WHO 1997 [1994], S. 2
Politische Urteilsfähigkeit
GPJE 2004, S. 15 f.
Politische Mündigkeit/Handeln
Lange 2008a, S. 432
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
Interagieren in heterogenen Programm Transfer-21 2007, Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und S. 18 f. handeln können Interagieren in heterogenen Gruppen/An Entscheidungsprozessen partizipieren
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Interagieren in heterogenen Gruppen/Andere motivieren können, aktiv zu sein
Programm Transfer-21 2007,
Eigenständiges Handeln/Die eigenen Programm Transfer-21 2007, Leitbilder und die anderer reflektieren können S. 19 Eigenständiges Handeln/Selbstständig planen Programm Transfer-21 2007, und handeln können S. 20 Eigenständiges Handeln/Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Sich motivieren zu können, aktiv zu werden
Programm Transfer-21 2007, S. 21
„Intersektionalität & Diversity“
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
„Soziomoralische Sozialisation“
Soziale Kompetenzen/Soziale Kognitionen
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/Sozial-kommunikative Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/Emotionsbezogene soziale Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Becker 2008, S. 104+113 Handlungsstrukturierende soziale Fähigkeiten Moralische Kompetenzen/Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+125
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4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können Diese Kompetenz trägt ein komplexes Kompetenzniveau in sich, verweist sie doch auf die Fähigkeit, gestaltend und zugleich in interaktiven Prozessen kooperativ tätig werden zu können. Dabei umfasst die Kompetenz aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können Formen der Partizipation, wie ehrenamtlich aktiv zu werden oder an politischen Aktionen teilzunehmen. Dies verlangt den Dialog mit anderen Menschen und die kritische Auseinandersetzung mit womöglich abweichenden Positionen. Um gesellschaftliche Prozesse gestalten zu können, muss das Individuum zunächst eine Position entwickeln, der die Motivation zur Gestaltung und die Überwindung von Motivationshemmnissen folgen. Dabei müssen durch das Individuum Gestaltungsmöglichkeiten evaluiert und Planungsschritte realisiert werden. Die Umsetzung der Gestaltung erfolgt dabei als interaktiver Aushandlungsprozess mit Anderen, worüber sich neue Motivationshemmnisse ergeben können – was wiederum den Abbau dieser und abweichende Planungsschritte verlangt. Diese komplexe Kompetenz setzt einzelne Fähigkeitsschritte, die durchlaufen werden müssen, voraus, um die Kompetenz ganzheitlich entwickeln zu können. Damit die Fähigkeit zur Gestaltung im schulischen Lernen erworben werden kann, bieten sozialräumlich konstruierte Lernsettings optimale Voraussetzungen: Projektunterricht, der bewusst Lernendenvorstellungen und -motivation einbindet, schafft gute Voraussetzungen, um Motivationshemmnisse abzubauen. Dadurch kommen Lernende leichter in den Modus der Handlung und Gestaltung. Die direkte oder indirekte Thematisierung des sozialen Raums resp. Sozialraums schafft die Einbindung der Lerninhalte in gesellschaftliche Strukturen, worüber das Bewusstsein für Gestaltungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen – insbesondere zivilgesellschaftlichen – Kontexten gestärkt wird. Die Performanz der dargestellten Kompetenz aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können legt im Kind oder im Jugendlichen die Basis für ein künftiges gesellschaftliches Engagement. Das Erleben von Gestaltung und Veränderung schafft das Bewusstsein für die dahinterstehende gesellschaftliche und subjektive Relevanz des Einzelnen bzw. der Einzelnen als Gestalter*in der Lebenswelt. Das sozialräumliche Lernen überführt den Schüler bzw. die Schülerin automatisch bei Einbindung der sozialräumlichen Praxis vom passiven Rezipienten in die Rolle des aktiven Gestalters. Die Verankerung dieser arbeitsspezifischen Kompetenz kann der folgenden Tabelle entnommen werden (Tab. 4.3). Vor allem an der Schnittstelle „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wird im Modell der Gestaltungskompetenz die aktiv und kooperativ handelnde Kompetenz in gesellschaftlichen Prozessen als Schwerpunkt gesetzt:
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
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Tab. 4.3 „Kompetenz – aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/ Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 4
Fächerübergreifende Kompetenz/ Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/ Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Schlüsselkompetenz/Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/Kulturelle Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/ Kultusministerium Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz Sachsen-Anhalt 2015, S. 13 Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Kreatives Denken
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
„Berufspädagogik“ Humane Kompetenz Gesellschaftlich-politische Kompetenz
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49 Deutscher Bildungsrat 1974, S. 50 (Fortsetzung)
172
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.3 (Fortsetzung) Kompetenz: „aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Handlungskompetenz
Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2011, S. 30
Reflexive Handlungskompetenz/Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19
„Demokratiepädagogik“
Politische Mündigkeit/Handeln
Lange 2008a, S. 432
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“
Interagieren in heterogenen Programm Transfer-21 Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und 2007,S. 18 f. handeln können Interagieren in heterogenen Gruppen/An Programm Transfer-21 2007, Entscheidungsprozessen partizipieren können S. 19 Interagieren in heterogenen Gruppen/Andere motivieren können, aktiv zu werden
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Eigenständiges Handeln/Die eigenen Programm Transfer-21 2007, Leitbilder und die anderer reflektieren können S. 20 Eigenständiges Handeln/Selbstständig planen Programm Transfer-21 2007, und handeln können S. 20
„Sozialisation“
Eigenständiges Handeln/Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Sich motivieren zu können, aktiv zu werden
Programm Transfer-21 2007, S. 21
Sozial-kommunikative Fähigkeiten/Handlungsstrukturierende Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Emotionsbezogene moralische Fähigkeiten/Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+125
Ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln Ein Bewusstsein für nachhaltige Prozesse setzt die Reflexion unterschiedlicher Aspekte voraus und basiert auf einer Analyse von Kausalitätsketten, die Ulrich Beck auch als Nebenfolgen bezeichnet. Dabei ist es zweitrangig, ob das Nachhaltigkeitsbewusstsein auf ökologischer, ökonomischer oder sozialer Ebene entwickelt wird. Wesentlich ist, dass die Lernenden sich bewusst werden, dass ihr Handeln oder ihr Nicht-Handeln Konsequenzen für sie selbst und ihre Umwelt resp. Lebenswelt hat.
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
173
Das Nachhaltigkeitsbewusstsein impliziert demnach auch stets eine Vorstellung von sich selbst als sozialem Wesen, dessen Leben interdependente Verflechtungen zu anderen Menschen und Lebewesen aufweist, die nicht zwingend an räumliche Nähe gebunden sind. Allerdings setzt der Erwerb dieser fächerübergreifenden Kompetenz die räumliche Nähe als Lernumgebung voraus, indem die Interaktion mit anderen Menschen das Bewusstsein für Interdependenzen schafft. Erst das Erleben von Handeln und Wirkung sowie die Reflexion dieser Kausalität generiert das Wissen um Abhängigkeiten. So kann auch hier das sozialräumliche Lernen als Lernsituation für den Erwerb eines Bewusstseins für nachhaltige Prozesse angesetzt werden. Sozialräumliche Lernsituationen wie Service Learning schärfen das Bewusstsein für soziale Kausalitäten, citizen science-Projekte im biologischen und naturwissenschaftlichen Kontext stärken ein ökologisches Bewusstsein und sozialräumlich vernetzte Schülerfirmen und Produktionsschulen geben Einblicke in Wirtschaftsprozesse und -kreisläufe und können darüber ein ökologisches Nachhaltigkeitsbewusstsein schaffen, um wirtschaftlich erfolgreich und dennoch gleichzeitig fair zu produzieren bzw. zu handeln. Diese Nachhaltigkeitserfahrungen sind die Basis, um die Kausalitätsketten unter Einbindung weiterer Wissensbausteine auf neue und räumlich entfernte Kontexte zu transferieren. Auch hier ist das Bewusstsein um die eigene Kompetenz und Verantwortung die Grundlage, um künftig das Handeln oder Nicht-Handeln an diesen Erfahrungen auszurichten. Sozialräumliches Lernen kann somit für die Kompetenz ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln eine wesentliche Grundlage schaffen. Diese Fähigkeit führt das kritische Denken in Zusammenhängen sowie die Teilhabe an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung zusammen. Zudem wird mit der Kompetenz ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln auch die Reflexion eigener, subjektiver Lebensziele impliziert: Neben einer ökologischen, sozialen und ökonomischen Verantwortung integriert Sozialisation auch die subjektive Verantwortung für ein gelingendes Leben. Diese Fähigkeit setzt neben der kontinuierlichen Reflexion von Möglichkeiten und Zielen auch das Bewusstsein von Kausalitäten und Interdependenzen voraus. Gemäß dem Modell der produktiven Realitätsverarbeitung erfolgt die Ich-Individuation stets als Prozess der Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität und braucht daher das sozialräumliche Lernen als situierten Lernprozess, um aus Erfahrungen und Rückmeldungen der äußeren Umwelt ein Bewusstsein für das eigene Handeln als Instrument der Zielerreichung zu entwickeln bzw. um sich der eigenen Ziele zunächst bewusst zu werden. Daher ist die Arbeitskompetenz ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln auch Kompetenzschwerpunkt innerhalb schulischer Schnittstellenforschung wie „Gesundheitsförderung/Krankheitsprävention“. Die folgende Tabelle gibt als Ableitung
174
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
einen Gesamtüberblick und stützt über die etablierten Kompetenzbegriffe die weitere Ausdifferenzierung der Kompetenz (Tab. 4.4):
Tab. 4.4 „Kompetenz – ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/ Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 4
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/Naturwissenschaftlichtechnische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Verstehen und Deuten
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Kreatives Denken
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz/Ethische Basiskompetenz
Dietrich 2008
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Moralische Urteilsfähigkeit
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Ethische Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Berufsbindung
Ratschinski 2014, S. 7
Berufswahlkompetenz – Adaptabilität/Concern: Ziele/Intentionen
Ratschinski 2014, S. 12
Berufswahlkompetenz – Adaptabilität/Control: Planung
Ratschinski 2014, S. 13
„Übergang Schule/Beruf“
(Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
175
Tab. 4.4 (Fortsetzung) Kompetenz: „ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Berufspädagogik“
Handlungskompetenz
Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2011, S. 30
Reflexive Handlungsfähigkeit/Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19
„Gesundheitsförde- Life Skills/critical thinking rung/ Sense of coherence/Bedeutsamkeit Krankheitsprävention“
WHO 1997 [1994], S. 2
„Demokratiepädagogik“
Politische Urteilsfähigkeit
GPJE 2004, S. 15 f.
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauend
Programm Transfer-21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Vorausschauend denken und handeln
Programm Transfer-21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Interdisziplinäre Ergebnisse gewinnen und handeln
Programm Transfer-21 2007, S. 18
Interagieren in heterogenen Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 18 f.
Interagieren in heterogenen Gruppen/An Entscheidungsprozessen partizipieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Antonovsky 1997 [1987], S. 36
Interagieren in heterogenen Gruppen/Andere Programm Transfer-21 2007, motivieren können, aktiv zu werden S. 19 Eigenständiges Handeln/Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Selbstständig planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Sich motivieren zu können, aktiv zu werden
Programm Transfer-21 2007, S. 21 (Fortsetzung)
176
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.4 (Fortsetzung) Kompetenz: „ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Intersektionalität & Diversity“
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
„Sozialisation“
Moralische Kompetenzen/Moralkognitive Fähigkeiten
Becker 2008, S. 1004 f.+125
Moralische Kompetenzen/Emotionsbezogene moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 1004 f.+125
Moralische Kompetenzen/Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 1004 f.+125
An (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben Die Kompetenz an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben geht weit über den Kontakt mit heterogenen Gruppen hinaus. Sie beschreibt die Fähigkeit des Individuums offen und bewusst kulturelle Einflüsse der äußeren Lebenswelt in das eigene Selbst zu integrieren. Dabei sind kulturelle Einflüsse und Kulturgüter einer heterogenen Gesellschaft oftmals indirekt interkulturell bzw. transkulturell geformt und entwickelt. Schule muss über Lernprozesse ein Bewusstsein für die immanente Transkulturalität unserer Gesellschaft schaffen. Daran gekoppelt sind das Aushalten von Widersprüchen und das Respektieren von Fremdheit und „Anderssein“. Die Kompetenz an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben umfasst demnach nicht nur die Teilhabe an Vielfalt, sondern zugleich das Sich-Bewusst-Machen, dass Vielfalt zum einen Normalität abbildet und zum anderen gleichzeitig Spannungen erzeugt, die nicht immer gelöst werden können und statt dessen ausgehalten werden müssen. Kulturgüter fungieren dabei als Realisierungen abstrakter Begriffe und schaffen als Medien Begegnungs- und Reflexionsräume. Im sozialräumlichen Lernen kann gesellschaftliche Vielfalt unterschiedlich abgebildet werden bzw. schafft die Integration der sozialräumlichen Lebenswelt der Lernenden in den Unterricht ein Lernsetting, in welchem Kulturgüter, Kunst und Medien die Vielfalt der Klasse abbilden und über welches Vielfalt mit all ihren Konsequenzen verbalisiert werden kann. Speziell das Kulturgut „Kunst“ in all seinen Variationen und Spielarten ermöglicht einen sozialen Raum, der es zulässt, Spannungen und Konflikte, die sich möglicherweise aus Vielfalt ergeben, offen
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
177
und wertneutral zum Ausdruck zu bringen. Auch gesellschaftspolitisch „unbeliebte“ Standpunkte haben so eine Chance gehört und diskutiert zu werden. Kunst wird zum Schutzraum jenseits der Mehrheitsmeinung, der auch Rand- und Minderheitengruppen in die Kommunikation integriert. Dabei wird ein bewusster Umgang mit Vielfalt geschaffen, der über den reinen Kontakt mit heterogenen Gruppen hinausgeht. Wie Arbeiten zum Anti-Bias-Ansatz zeigen (vgl. 4.2.7), sind Bewusstwerdung von Vielfalt und Realisierung daran gekoppelter Zuschreibungen und Konnotationen die Basis für einen produktiven Umgang mit eben dieser Vielfalt – gerade, weil nach der Realisierung die allumfassende Betrachtung aus neuen Perspektiven erfolgen kann. Somit muss die Kompetenz an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung teilhaben über das Erleben und Reflektieren gesellschaftlicher Vielfalt auch Fähigkeiten wie Akzeptanz, Ambiguitätstoleranz und Reflexionsvermögen umfassen. Da kulturelle Vielfalt eine Facette gesellschaftlicher Vielfalt abbildet, ist die Einbindung von Kultur in den Bildungsprozess auch gleichzeitig ein wichtiges Instrument interkulturellen Lernens. Ethische und soziomoralische Kompetenzen sind dabei zentrale Kompetenzen zum Umgang mit Interkulturalität, Fremdheit und „Anderssein“. Die semantischen Überschneidungen der Kompetenzbegriffe zur arbeitsspezifischen Kategorie sind im Folgenden dargestellt (Tab. 4.5):
Tab. 4.5 „Kompetenz – an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung teilhaben“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung teilhaben“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 4
Fächerübergreifende Kompetenz/Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Kulturelle Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Differenzierendes Wahrnehmen
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 4 (Fortsetzung)
178
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.5 (Fortsetzung) Kompetenz: „an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung teilhaben“ Schulische Schnittstelle
„Berufspädagogik“
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Verstehen und Deuten
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Denken in Gegensätzen
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Wahrnehmungskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Perspektivübernahme
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Empathie
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Interkulturelle Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Argumentations- und Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Diskursfähigkeit
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Gesellschaftspolitische Kompetenz
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 50
„Gesundheitsförde- Life-Skills/interpersonal relationship skills rung/ Life-Skills/empathy Krankheitsprävention“
WHO 1997 [1994], S. 2 WHO 1997 [1994], S. 2
“Demokratiepädagogik”
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
“Bildung für nachhaltige Entwicklung”
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauend
Programm Transfer-21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Vorausschauend denken und handeln
Programm Transfer-21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Interdisziplinäre Ergebnisse gewinnen und handeln
Programm Transfer-21 2007, S. 18 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
179
Tab. 4.5 (Fortsetzung) Kompetenz: „an (inter)kultureller Vielfalt und Bildung teilhaben“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Interagieren in heterogenen Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 18 f.
Interagieren in heterogenen Gruppen/An Entscheidungsprozessen partizipieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Interagieren in heterogenen Gruppen/Andere Programm Transfer-21 2007, motivieren können, aktiv zu werden S. 19 Eigenständiges Handeln/Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Selbstständig planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
“Intersektionalität & Diversity”
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
“Sozialisation”
Soziale Kompetenzen/Sozial-kommunikative Becker 2008, S. 104+113 Fähigkeiten Moralische Kompetenzen/Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden Diese Kompetenz entspricht stark den Kennzeichen einer Zweiten Moderne – dem Erleben und Austarieren von Risikofaktoren, die als bads in gesellschaftlichen Prozessen ungleich verteilt werden. Dabei können Risikofaktoren sehr unterschiedlich definiert werden: Risikofaktoren können ökologisch bedingt sein und ihre Auswirkungen in wirtschaftlichen oder sozialen Kontexten zeigen, so zum Beispiel eine Überfischung des Meeres, wodurch einzelne Fischer*innen um Existenzgrundlagen gebracht und Familien auseinandergerissen werden. Risikofaktoren sind in ihren jeweiligen Kausalitätsketten sowie über ihre Nebenfolgen zu betrachten, prägen dabei stets den subjektiven Umgang des Individuums mit Risikofaktor und dessen Auswirkungen. Subjektiv erlebte Risikofaktoren können Transitionsprozesse
180
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
im Lebenslauf sein, deren Bewältigung aufgrund wirtschaftlicher Faktoren besonders herausfordernd ist. Auch alltägliche Situationen, wie Misserfolge oder der Umgang mit Kritik fließen in ein produktives Risikomanagement ein. Risikofaktoren können jedoch auch makrosoziologische Ursachen haben, wie zum Beispiel eine Beschleunigung von Arbeitsprozessen bei steigendem Kommunikationsverhalten im Freizeit- und Privatbereich, was zu biochemischen und gefühlten Stresssituationen führen kann. Mitunter liegen hierin Ursachen für eine stoffgebundene sowie stoffungebundene Sucht. Gleichzeitig werden helfende Netzwerke wie Familie und Partnerschaften fragiler, die Kirche als sinnstiftende Instanz verliert in westlichen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung. Das Individuum muss sich also in einer Gesellschaft der Vielfalt, die gleichzeitig einen verantwortungsbewussten Umgang mit Freiheiten und Freisetzungen verlangt, ein erhebliches Repertoire an Fähigkeiten zum Lösen von Problemen und Herausforderungen aneignen. Die Überschneidungen zu arbeitsspezifischen Kompetenzen wie in die Gesellschaft integriert sein, Zusammenhänge kritisch reflektieren können, situationsgerecht handeln können oder eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können werden deutlich, da die Kompetenz einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden eine komplexe Verschränkung von einzelnen Fähigkeiten verlangt – ähnlich wie die Kompetenz aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können. Über das sozialräumliche Lernen als komplexes Lernsetting werden vielfältige Herausforderungen geschaffen: das Arbeiten in Gruppen, das Verstehen neuer Handlungskontexte oder auch der Transfer bestehender Wissensbausteine auf unbekannte Situationen. Gleichzeitig verlangt diese Form des Lernens komplexe Fähigkeiten, um auf die Herausforderungen der besonderen Lernsituation entsprechend reagieren zu können. Wie speziell die Analyse der schulischen Schnittstelle „Gesundheitsförderung/Krankheitsprävention“ gezeigt hat, werden Fähigkeiten wie das Aushalten von Diskontinuitäten oder der Umgang mit Veränderungen zentral. Hierbei können Interaktionen mit anderen Menschen stützen, wenn an die Interaktion die Reflexion gekoppelt ist und der Lernende in der Lage ist, Wissen zu modifizieren und zu generieren. Das sozialräumliche Lernen schafft über den situierten Lernkontext eine Lerncommunity oder Community of Practice, die es erlaubt, sowohl äußere Ressourcen der Community – wie zum Beispiel Wissen – in das individuelle Kompetenzprofil zu integrieren, als auch subjektive Kompetenzen im Austausch mit Anderen weiterzuentwickeln. Semantische Überschneidungen zu weiteren schulischen Schnittstellen stellt die folgende Tabelle dar (Tab. 4.6), die gleichfalls hilft, die Kompetenz einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden weiter auszudifferenzieren:
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
181
Tab. 4.6 „Kompetenz – einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 4
Fächerübergreifende Kompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Fächerübergreifende Kompetenz/Problemlösekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Fächerübergreifende Kompetenz/Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Schlüsselkompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/Mathematische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/ Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/ Differenzierendes Wahrnehmen
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 4
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/ Untersuchen und Zergliedern
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Ethische Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76 (Fortsetzung)
182
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.6 (Fortsetzung) Kompetenz: „einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Rösch 2011, S. 76 Handeln/Handlungskompetenz „Übergang Schule/Beruf“
„Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention“
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Concern: Ziele/Intentionen
Ratschinski 2014, S. 12
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Control: Planung
Ratschinski 2014, S. 13
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Confidence: Erwartung
Ratschinski 2014, S. 15
Berufswahlkompetenz – Resilienz/ Allgemeine Resilienz
Ratschinski 2014, S. 18
Life-Skills/problem solving
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/creative thinking
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/effective communication
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/interpersonal relationship skills
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/self-awareness
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/empathy
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/coping with stress
WHO 1997 [1994], S. 2
Sense of coherence/Handhabbarkeit
Antonovsky 1997 [1987], S. 36
“Demokratiepädagogik”
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
“Bildung für nachhaltige Entwicklung”
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Tools)/Interdisziplinäre Ergebnisse gewinnen und handeln
Programm Transfer-21 2007, S. 18
Interagieren in heterogenen Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 18 f.
Interagieren in heterogenen Gruppen/An Entscheidungsprozessen partizipieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Eigenständiges Handeln/Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Selbstständig planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 20 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
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Tab. 4.6 (Fortsetzung) Kompetenz: „einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Eigenständiges Handeln/Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Sich motivieren zu können, aktiv zu werden
Programm Transfer-21 2007, S. 21
“Intersektionalität & Diversity”
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
“ Soziomoralische Sozialisation”
Soziale Kompetenz/Soziale Kognition
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Emotionsbezogene soziale Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenz/ Handlungsstrukturierende Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Moralische Kompetenzen/ Moralkognitive Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Kommunikative Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Fähigkeiten/ Emotionsbezogene moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Fähigkeiten/ Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Situationsgerecht handeln können Die Kompetenz situationsgerecht handel können zeigt breite Überschneidungen zu ethischen und soziomoralischen Kompetenzen. Tatsächlich umfasst das Fähigkeitsverständnis die Überlegung und das absichtsvolle Tun in reflektierter Auseinandersetzung zwischen eigenem Impuls und subjektiven Erwartungshorizont, der Erwartungshaltung des Gegenübers, den kontextuellen Besonderheiten sowie den möglichen Folgen der ausgeführten Handlung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer kritischen Reflexion des Situationskontextes, der sowohl Erwartungshaltung als auch Handlungsfolgen maßgeblich beeinflusst. Daran gekoppelt ist auch eine mögliche Affektkontrolle, die notwendig wird, wenn subjektive Affekte, die über den situierten Kontext generiert werden, das Handlungsziel behindern könnten. Während in bestimmten Handlungssituationen das Zeigen negativer Emotionen durchaus sinnvoll sein kann, gibt es eine Reihe von öffentlichen Interaktionen, die aufgrund von Interdependenzen eine Affektkontrolle verlangen. Dabei muss das
184
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Individuum in der Lage sein, zwischen öffentlicher und privater Situation zu unterscheiden bzw. eine generelle Einordnung des situierten Kontextes vornehmen zu können. Unterschiedliche soziale Kontexte verlangen einen unterschiedlichen Einsatz von Mitteln, zum Beispiel von Kommunikationsmitteln oder Sprachstilen. Ein eher umgangssprachlich geprägter Kommunikationsstil ist in einer Präsentationssituation im öffentlichen oder teil-öffentlichen Kontext meistens unangebracht. Damit wird die soziale Realisierung und Verkettung von Handlungs- und Kommunikationsräumen deutlich, in denen Lernen als Interaktion des Subjektes mit der äußeren Realität beschrieben wird. Das situierte Lernen als sozialräumliche Lernsituation fördert die Analyse des Lernkontextes, da sich aus diesem der Einsatz von Ressourcen, Wissen, Kommunikationsmitteln oder Affekten ableiten lässt. Anders als im frontalen Unterricht ist die Lernsituation resp. der soziale Kontext komplexer und nicht gleich zu Beginn der Lernsituation zu erfassen. Während der Frontalunterricht meist dialogisch als Frage-Antwort-Situation gestaltet wird, ist das situierte Lernen eher induktiv angelegt, indem der Lernende sich orientieren, analysieren, teilweise nachfragen, Wissen modifizieren sowie transferieren und auch umkehren bzw. neu beginnen muss. Der Weg von der Frage zur Lösung ist dabei nicht direkt, sondern impliziert eine Reihe von Lösungen und über den sozialen Kontext eine Vielzahl von Instrumenten und Ressourcen, die bei der Lösung zum Einsatz kommen können. Ob und in welcher Form diese Instrumente genutzt werden können, entscheidet dann die Performanz der Kompetenz situationsgerecht handeln können. Deren Abruf verlangt die eingangs beschriebene Reflexion verschiedener Faktoren, die primär durch die Situiertheit der Lernsituation beschrieben werden. Diese Komplexität der Lösungsfindung sowie der Instrumente, die dabei zur Lösungsfindung beitragen können, sind in der Frontalsituation wenig gegeben. Dass gerade ethische und moralische Kompetenzen in der Performanz der Kompetenz situationsgerecht handeln können eine hilfreiche Basis bilden, liegt im Kern dieser Kompetenzen, die ein hohes Maß an Analyse, Reflektion, Diskurs- und Kommunikationsfähigkeit mit anderen Menschen unter Einbindung persönlicher Affekte sowie deren Kontrolle verlangen. Die folgende Tabelle ermöglicht dazu einen vertiefenden Überblick (Tab. 4.7):
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
185
Tab. 4.7 „Kompetenz – situationsgerecht handeln können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „situationsgerecht handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/ Handlungskompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2007, S. 14
Fächerübergreifende Kompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/ Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/ Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Fächerübergreifende Kompetenz/ Problemlösekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Schlüsselkompetenz/Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/ Mathematische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/ Kultusministerium Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz Sachsen-Anhalt 2015, S. 13 Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/ Verstehen und Deuten
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/ Untersuchen und Zergliedern
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/ Denken in Gegensätzen
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz/Ethische Basiskompetenzen
Dietrich 2008 (Fortsetzung)
186
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.7 (Fortsetzung) Kompetenz: „situationsgerecht handeln können“ Schulische Schnittstelle
„Übergang Schule/Beruf“
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Empathie
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Interdisziplinäre Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Reflexionskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Argumentations- und Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Ethische Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Diskursfähigkeit
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Darstellungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Orientierungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Berufswahlreife/ Selbsteinschätzungs- und Innformationskompetenz
Bundesagentur für Arbeit 2006
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/ Realismus
Ratschinski 2014, S. 5
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Concern: Ziele/Intentionen
Ratschinski 2014, S. 12
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Control: Planung
Ratschinski 2014, S. 13
„Berufspädagogik“ Humane Kompetenz/Handlungsfähigkeit Handlungskompetenz
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49 Sekretariat der Kultusminister-konferenz 2011, S. 30 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
187
Tab. 4.7 (Fortsetzung) Kompetenz: „situationsgerecht handeln können“ Schulische Schnittstelle
„Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention“
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Reflexive Handlungsfähigkeit/ Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19
Life-Skills/problem solving
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/creative thinking
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/effective communication
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/interpersonal relationship skills
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/empathy
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/coping with emotions
WHO 1997 [1994], S. 3
Life-Skills/coping with stress
WHO 1997 [1994], S. 3
Sense of coherence/Handhabbarkeit
Antonovsky 1997 [1987], S. 36
“Demokratiepädagogik”
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
“Bildung für nachhaltige Entwicklung”
Interagieren in heterogenen Programm Transfer-21 2007, Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und S. 18 f. handeln können Interagieren in heterogenen Gruppen/ An Entscheidungsprozessen partizipieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Eigenständiges Handeln/ Selbstständig planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
“Intersektionalität & Diversity”
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
“ Soziomoralische Sozialisation”
Soziale Kompetenz/Soziale Kognition
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Sozial-kommunikative Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Emotionsbezogene soziale Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenz/ Handlungsstrukturierende Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Moralische Kompetenzen/ Moralkognitive Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Kommunikative Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125 (Fortsetzung)
188
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.7 (Fortsetzung) Kompetenz: „situationsgerecht handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Moralische Fähigkeiten/ Emotionsbezogene moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Fähigkeiten/ Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können Ähnlich wie die Kompetenzen in die Gesellschaft integriert sein, aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können sowie ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln verweist diese Fähigkeit auf die Notwendigkeit, in einer Gesellschaft der Vielfalt Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Damit der Lernende für sich und seine Umwelt ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln kann, braucht es die Erfahrung, selbst zu wirken und über sein Handeln Veränderungen zu erzeugen. Grundlage dafür bildet zunächst das Bewusstsein, aktiver Gestalter oder aktive Gestalterin des eigenen Lebens zu sein. Daran knüpft sich zum einen das Bewusstsein über eigene Ziele und zum anderen wird ein Methodenund Handlungswissen zu Prozessen eines eigenverantwortlichen und selbstwirksamen Gestaltens notwendig. Stärker als die oben benannten Kompetenzen betont die Fähigkeit eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können das planvolle und methodisch abgestimmte Vorgehen, um Handlungsschritte selbstständig festzulegen und – trotz möglicher Widerstände – umzusetzen bzw. neue Planungsschritte in dem Umsetzungsprozess zu integrieren. Ein wichtiger Schwerpunkt dieser Kompetenz ist auch die Frage, wie Wissen selbstständig erworben werden kann bzw. wie man Lernen lernen kann. Ein zunehmender Wandel der Lernkultur in Schule und Berufsleben fordert die selbstorganisierte Kompetenzentwicklung (vgl. Erpenbeck/Sauter 2016). Die Kompetenz eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können stützt das selbstorganisierte Lernen, Handeln und Arbeiten in einer Zweiten Moderne. Da Wissen zunehmend komplexer wird und durch einen hohen Verfallswert bezüglich der Aktualität gekennzeichnet ist, verlangt das Wissensmanagement vom Lernenden die Fähigkeit zur gezielten Information und den stetigen Erwerb aktueller Wissensbezüge, die gleichzeitig etablierten Wissensdiskursen gegenübergestellt werden müssen. Daher bildet der flexible und mündige Umgang mit Wissen sowie dessen Erwerb einen wesentlichen semantischen Baustein der Kategorie eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln.
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
189
Aufgrund der Komplexität sowie der gleichzeitig hohen subjektiven und gesellschaftlichen Relevanz dieser Kompetenz wird sie im Rahmen dieser Forschungsarbeit als eigenständige Kategorie begriffen, auch wenn sie semantisch Überschneidungen zu weiteren Kompetenzen aufweist. Im Rahmen der Didaktischen Forschung sollte daher auch diese Fähigkeit einen bewusst präsenten Platz im Kompetenzdiskurs einnehmen. Die Möglichkeit, Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, über das eigene Handeln Veränderungen zu bewirken und dafür ein Repertoire an methodischen Handlungsinstrumenten zu erwerben, muss Grundlage des Bildungsauftrags von Schule sein – will sie als Sozialisationsinstanz auf ein Leben in der Zweiten Moderne hinreichend vorbereiten. Dabei wird deutlich, dass ein ausschließliches Lernen im Frontalunterricht in einer Schule, die sich als fest geschlossenes System begreift, die Möglichkeiten zu Entwicklung dieser Kompetenz nicht hinreichend schaffen kann. Sozialräumliches Lernen als Vernetzung zu Partner*innen außerhalb der Schule sowie ein fächerübergreifendes Lernangebot können helfen, selbstständiges Lernen zu trainieren. Der Einsatz von Projekten oder Projektunterricht als konstruktivistischer Lernmethode ermöglicht den Lernenden die Konzeption und Realisierung eines eigenverantwortlichen Lernprozesses, der ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, selbst Verantwortung zu übernehmen, schafft. Der folgende Überblick vertieft die Schnittstellen zwischen der Kompetenz eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können und den Querschnittsaufgaben schulischer Sozialisations- und Bildungsprozesse (Tab. 4.8):
Tab. 4.8 „Kompetenz – eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Fächerübergreifende Kompetenz/Problemlösekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Schlüsselkompetenz/Sprachkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10 (Fortsetzung)
190
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.8 (Fortsetzung) Kompetenz: „eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Schlüsselkompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/Mathematische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/ Kultusministerium Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
„Übergang Schule/Beruf“
Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Verstehen und Deuten
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Argumentations- und Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Darstellungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Orientierungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Berufswahlreife/Selbsteinschätzungs- und Informationskompetenz
Bundesagentur für Arbeit 2006, S. 58
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Entscheidungssicherheit
Ratschinski 2014, S. 4
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Eigenaktivität
Ratschinski 2014, S. 4
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Berufsbindung
Ratschinski 2014, S. 7
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/ Concern: Ziele/Intentionen
Ratschinski 2014, S. 12 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
191
Tab. 4.8 (Fortsetzung) Kompetenz: „eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/ Control: Planung
Ratschinski 2014, S. 13
Berufswahlkompetenz – Adaptabilität/ Curiosity-Neugier: Exploration
Ratschinski 2014, S. 14
Berufswahlkompetenz – Adaptabilität/ Confidence: Erwartung
Ratschinski 2014, S. 15
Berufswahlkompetenz – Resilienz/ Allgemeine Resilienz
Ratschinski 2014, S. 18
Berufswahlkompetenz – Resilienz/ Selbstwertgefühl
Ratschinski 2014, S. 18
Berufswahlkompetenz – Resilienz/ Berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit
Ratschinski 2014, S. 19
Berufswahlkompetenz – Resilienz/ Berufliche Selbstwirksamkeit
Ratschinski 2014, S. 19
„Berufspädagogik“ Humane Kompetenz/allg. sowie Handlungskompetenz
„Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention“
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49
Handlungskompetenz
Sekretariat der Kultusminister-konferenz 2011, S. 30
Reflexive Handlungsfähigkeit/ Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19
Life-Skills/desicion making
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/problem solving
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/creative thinking
WHO 1997 [1994], S. 2
Sense of coherence/Verstehbarkeit
Antonovsky 1997 [1987], S. 36
„Demokratiepädagogik“
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“
Interagieren in heterogenen Programm Transfer-21 2007, Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und S. 18 f. handeln können Interagieren in heterogenen Gruppen/An Entscheidungsprozessen partizipieren
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Eigenständiges Handeln/Selbstständig planen Programm Transfer-21 2007, und handeln können S. 20 (Fortsetzung)
192
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.8 (Fortsetzung) Kompetenz: „eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Intersektionalität & Diversity“
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
„Soziomoralische Sozialisation“
Soziale Kompetenzen/ Soziale Kognitionen
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Emotionsbezogene soziale Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Becker 2008, S. 104+113 Handlungsstrukturierende soziale Fähigkeiten Moralische Kompetenzen/Moralkognitive Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Planvoll handeln können Im engen Zusammenhang mit der Kompetenz eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können steht die Kompetenz planvoll handeln können, die vorrangig den produktiven Umgang mit Wissen, methodischen Instrumenten und Kulturtechniken umfasst. Sie beschreibt den Prozess, Lösungen über einzelne Planungsschritte und -prozesse zu entwickeln. In diese Kompetenz fließt der bewusste Umgang mit Fachwissen, dessen Modifizierung und Transfer auf neue Sachverhalte, ebenso wie die Analyse einzelner Planungsschritte und deren reflektierte Umsetzung – eine Fähigkeit, die auch als Planungskompetenz bezeichnet werden kann. Planungskompetenz erwerben Lernende in Lernsituationen, welche eine Analyse, Konzeption und schrittweise Realisierung komplexerer Wissens- und Handlungsanforderungen verlangen. Bei der planvollen Lösung von Lernaufgaben gilt es, Lösungswege zu vergleichen, Ressourcen wie Wissen und Methoden zu analysieren, Handlungsschritte zu eruieren, Zeitkapazitäten zu berücksichtigen, Risikofaktoren zu benennen und in regelmäßigen Abständen eine Bedarfsanalyse durchzuführen. All diese Indikatoren beschreiben Lern- und Arbeitsprozesse, die in einer komplexen Zweiten Moderne zunehmend als Anforderungen an den/die Arbeitnehmer*in herangetragen werden. Auch hier entscheidet die Komplexität der Lernsituation, inwieweit Wissen, welches erworben wird, fruchtbar angewendet werden kann oder ob es – über das Sinnbild des „Nürnberger Trichters“ – ins Leere läuft. Das
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
193
bedeutet, dass Ansätze sozialräumlichen Lernens, die in den Unterricht integriert werden, aufgrund ihrer Komplexität die Planungskompetenz stärken. Semantische Schnittstellen der synoptischen Darstellung werden zur Kompetenz planvoll handeln können in der folgenden Tabelle zusammengefasst (Tab. 4.9):
Tab. 4.9 „Kompetenz – planvoll handeln können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „planvoll handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/ Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Fächerübergreifende Kompetenz/ Problemlösekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Fächerübergreifende Kompetenz/ Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Schlüsselkompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10
Schlüsselkompetenz/Mathematische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/ Kultusministerium Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz Sachsen-Anhalt 2015, S. 13 Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Kreatives Denken
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz/Ethische Basiskompetenz
Dietrich 2008
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Textkompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Sprach(analytische) Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Interdisziplinäre Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Reflexionskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Urteilen/Argumentations- und Urteilskompetenz
Rösch 2011, S. 76
(Fortsetzung)
194
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.9 (Fortsetzung) Kompetenz: „planvoll handeln können“ Schulische Schnittstelle
„Übergang Schule/Beruf“
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Diskursfähigkeit
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Darstellungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Orientierungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Entscheidungssicherheit
Ratschinski 2014, S. 4
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/ Realismus
Ratschinski 2014, S. 5
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Berufsbindung
Ratschinski 2014, S. 7
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/Concern: Ziele/Intentionen
Ratschinski 2014, S. 12
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Control: Planung
Ratschinski 2014, S. 13
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Curiosity-Neugier: Exploration
Ratschinski 2014, S. 14
Berufswahlkompetenz – Resilienz/Berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit
Ratschinski 2014, S. 19 f.
Berufswahlkompetenz – Resilienz/ Berufliche Selbstwirksamkeit
Ratschinski 2014, S. 19 f.
„Berufspädagogik“ Fachkompetenz
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 50
Handlungskompetenz
Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2011, S. 30
Reflexive Handlungsfähigkeit/ Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
195
Tab. 4.9 (Fortsetzung) Kompetenz: „planvoll handeln können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention“
Life-Skills/problem solving
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/creative thinking
WHO 1997 [1994], S. 2
Sense of coherence/Handhabbarkeit
Antonovsky 1997 [1987], S. 36
“Demokratiepädagogik”
Politische Mündigkeit/Urteilen
Lange 2008a, S. 435
Politische Urteilsfähigkeit
GPJE 2004, S. 15 f.
“Bildung für nachhaltige Entwicklung”
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln/Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauend
Programm Transfer 21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln/Vorausschauend denken und handeln
Programm Transfer 21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln/Interdisziplinäre Ergebnisse gewinnen und handeln
Programm Transfer 21 2007, S. 18
Interagieren in heterogenen Programm Transfer-21 2007, Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und S. 18 f. handeln können Interagieren in heterogenen Gruppen/ An Entscheidungsprozessen partizipieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Eigenständiges Handeln/ Selbstständig planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
“Intersektionalität & Diversity”
Vielfaltskompetenz
Schröer 2012, S. 5
“ Soziomoralische Sozialisation”
Soziale Kompetenz/Soziale Kognition
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Handlungsstrukturierende Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Moralische Kompetenzen/ Moralkognitive Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
196
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Zusammenhänge kritisch reflektieren können Die letzte Kompetenz wird von dem Soziologen Oskar Negt als Grundlagenkompetenz beschrieben (Negt 2016 [1997], S. 218–229); auch der Didaktiker Wolfgang Klafki (1999) beschreibt diese Fähigkeit als Schlüsselkompetenz und bezeichnet sie als „vernetztes Denken“ bzw. „Zusammenhangsdenken“ (ebd., S. 41). Für Negt wird die Kompetenz „Zusammenhang herstellen“ zum Kern des subjektiven und gesellschaftlichen Prozess der Sozialisation. Unabhängig von Negts Kompetenzverständnis wurde die Kompetenz Zusammenhänge kritisch reflektieren können von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit als Baustein des Kompetenzsystems angesetzt, um die Kausalitäten und Verflechtungen von Nebenfolgen als Kennzeichen einer Zweiten Moderne kognitiv durchdringen zu können. Die Darstellung der semantischen Überschneidungen zu schulischen Schnittstellen der fächerübergreifende Kompetenzentwicklung zeigt eine weitreichende Vernetzung mit etablierten Kompetenzbegriffen, so dass Negts Anspruch, diese Anlage als Grundlagenkompetenz zu begreifen, seine Rechtfertigung über die Komplexität und Vielschichtigkeit dieser Fähigkeit innerhalb verschiedener didaktischer und sozialisationstheoretischer Forschungsdiskurse findet. Negt beschreibt die Grundlagenkompetenz wie folgt: „Allgemeine Regeln für ‚Zusammenhang‘ gibt es nicht. Da Zusammenhang in dem von mir gekennzeichneten Sinne nicht in einer formalen Kombinationstechnik von Einzelmerkmalen und Faktoren besteht, ist die Kompetenz eher als eine spezifische Denkweise zu bezeichnen, eine ausgeprägte theoretische Sensibilität, die sich auf die lebendige Entwicklung von Unterscheidungsvermögen gründet. Nicht Zusammengehöriges trennen, den suggestiven Schein des Unmittelbaren durchbrechen und als Vermitteltes nachweisen oder, in begrifflichen Zusammenhängen, Grund und Begründetes entzerren – das wären konkrete Arbeitsregeln zur Überprüfung des Gegebenen, was ja nichts anderes als Kritik bedeutet. Die andere Seite dieses entwickelten Unterscheidungsvermögens wäre Urteilskraft im Sinne der Neubestimmung von Zusammenhängen aus dem entfalteten Besonderen heraus.“ (Negt 2016 [1997], S. 228)
Die Kompetenz Zusammenhänge kritisch reflektieren können verbindet im Verständnis der vorliegenden Arbeit verschiedene Fähigkeiten in einer zentralen Kompetenz, die durchaus Kombinationstechnik verlangt, um eine kritische Position zu Erscheinungen der äußeren und inneren Realität zu entwickeln: Um die Fähigkeit anwenden zu können, braucht es die Wahrnehmung einzelner Aspekte, eine Analyse der Aspekte bezüglich Ursachen und Wirkungen sowie die nachhaltige Verknüpfung der Nebenfolgen, um Phänomene der inneren und äußeren Realität aufgrund einer Verkettung dieser Aspekte beschreiben und beurteilen zu können. Dabei wird ein kritischer – dass heißt, ein machtsensibler – Blickwinkel eingenommen, der hilft, bereits bekannte und bewusste Deutungsmuster mit Distanz zu hinterfragen. Diese
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
197
Position greift auf Ergebnisse der sozialpsychologischen Forschung zur Eindruckbildung zurück, wonach die kontrollierte und differenzierte Eindrucksbildung einen allumfassenden Blick auf den Stimulus ermöglicht und wodurch Akkomodationsprozesse als Prozess der Wissensmodifizierung und -erweiterung ermöglicht werden (vgl. Chaiken/Trope 1999). Damit eine kontrollierte Eindrucksbildung erfolgen kann, braucht der Lernende eine entsprechende Motivation und Bereitschaft Energie über bewusste Reflexionsprozesse in die Wahrnehmungs- und Bewertungssituation einzubinden. Motivation kann dabei das Lösen von schulischen Lernaufgaben sein; inwieweit diese dann intrinsisch durch den Lernenden selbst gebildet wird, bestimmen Inhalt der Lernaufgabe und das Lernsetting. Die Einbindung eines kinder- und jugendnahen Lebenswelt-Diskurses kann hierfür entscheidend sein. Aus diesem Grund setzt Service Learning als sozialräumliche Lernform auch den Qualitätsanspruch, die Lernenden bewusst an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Somit erhalten diese einen Gestaltungsspielraum für subjektiven Bedarf und Wünsche während Aufgabenkonzeption und Lösungsfindung erhalten (Seifert/Nagy 2014; Billig/Weah 2008). Neben der intrinsischen Motivationsförderung schafft sozialräumliches Lernen eine Sensibilisierung für Kausalitätsketten und Nebenfolgen und geriert somit ein Nachhaltigkeitsbewusstsein, welches in direkter Verbindung zur Kompetenz ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln steht, indem die kritische Reflektion von Zusammenhängen als Grundlage fungiert, um Nachhaltigkeitsstrukturen wahrzunehmen und zu beurteilen (Tab. 4.10). Tab. 4.10 „Kompetenz – Zusammenhänge kritisch reflektieren können“. (Eigene Ableitung & Darstellung) Kompetenz: „Zusammenhänge kritisch reflektieren können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
„Unterricht“
Fächerübergreifende Kompetenz/ Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12
Fächerübergreifende Kompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 12 f.
Fächerübergreifende Kompetenz/ Problemlösekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012b, S. 13
Schlüsselkompetenz/Lernkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 10 (Fortsetzung)
198
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.10 (Fortsetzung) Kompetenz: „Zusammenhänge kritisch reflektieren können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Schlüsselkompetenz/ Medienkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Sozialkompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11
Schlüsselkompetenz/Demokratiekompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 11 f.
Schlüsselkompetenz/Kulturelle Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/Mathematische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 12
Schlüsselkompetenz/ Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Schlüsselkompetenz/Wirtschaftliche Kompetenz
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2015, S. 13
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Differenzierendes Wahrnehmen
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 4
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Verstehen und Deuten
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Untersuchen und Zergliedern
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Fachbezogene Urteils- und Handlungskompetenz/Denken in Gegensätzen
Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2012a, S. 5
Ethische Kompetenz/Ethische Basiskompetenz
Dietrich 2008
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Wahrnehmungskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Perspektivübernahme
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Empathie
Rösch 2011, S. 75 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
199
Tab. 4.10 (Fortsetzung) Kompetenz: „Zusammenhänge kritisch reflektieren können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Ethische Kompetenz – Wahrnehmen und Verstehen/Interkulturelle Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Textkompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Sprach(analytische) Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Interdisziplinäre Kompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Analysieren und Reflektieren/Reflexionskompetenz
Rösch 2011, S. 75
Ethische Kompetenz – Argumentieren und Rösch 2011, S. 76 Urteilen/Argumentations- und Urteilskompetenz Ethische Kompetenz – Argumentieren und Rösch 2011, S. 76 Urteilen/Moralische Urteilsfähigkeit Ethische Kompetenz – Argumentieren und Rösch 2011, S. 76 Urteilen/Ethische Urteilsfähigkeit
„Übergang Schule/Beruf“
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Diskursfähigkeit
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Konfliktlösungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Interagieren und Sich-Mitteilen/Darstellungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Orientierungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Ethische Kompetenz – Sich-Orientieren und Handeln/Handlungskompetenz
Rösch 2011, S. 76
Berufswahlreife/Selbsteinschätzungs- und Informationskompetenz
Bundesagentur für Arbeit 2006, S. 58
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/ Realismus
Ratschinski 2014, S. 5
Berufswahlkompetenz – Berufliche Identität/Berufsbindung
Ratschinski 2014, S. 7 (Fortsetzung)
200
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Tab. 4.10 (Fortsetzung) Kompetenz: „Zusammenhänge kritisch reflektieren können“ Schulische Schnittstelle
„Berufspädagogik“
„Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention“
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/Concern: Ziele/Intentionen
Ratschinski 2014, S. 12
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Control: Planung
Ratschinski 2014, S. 13
Berufswahlkompetenz – Adaptibilität/ Curiosity-Neugier: Exploration
Ratschinski 2014, S. 14
Humane Kompetenz – allg.
Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49
Handlungskompetenz
Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2011, S. 30
Reflexive Handlungsfähigkeit/ Berufliche Handlungskompetenz
Dehnbostel 2012, S. 14; Dehnbostel 2014, S. 19
Life-Skills/desicion making
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/problem solving
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/creative thinking
WHO 1997 [1994], S. 2
Life Skills/critical thinking
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/self-awareness
WHO 1997 [1994], S. 2
Life-Skills/empathy
WHO 1997 [1994], S. 2
Sense of coherence/Verstehbarkeit
Antonovsky 1997 [1987], S. 36
“Demokratiepädago- Politische Mündigkeit/Urteilen gik” Politische Urteilsfähigkeit
“Bildung für nachhaltige Entwicklung”
Lange 2008a, S. 435 GPJE 2004, S. 15 f.
Politische Handlungsfähigkeit
GPJE 2004, S. 17
Politische Mündigkeit/Sinngebungskompetenz
Lange 2008b, S. 255
Konzeptionelles Deutungswissen
GPJE 2004, S. 14
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln/Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauend
Programm Transfer 21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln/Vorausschauend denken und handeln
Programm Transfer 21 2007, S. 17
Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln/Interdisziplinäre Ergebnisse gewinnen und handeln
Programm Transfer 21 2007, S. 18 (Fortsetzung)
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
201
Tab. 4.10 (Fortsetzung) Kompetenz: „Zusammenhänge kritisch reflektieren können“ Schulische Schnittstelle
Kompetenzbegriff: Überbegriff/Unterbegriff
Quelle
Interagieren in heterogenen Gruppen/Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 18 f.
Interagieren in heterogenen Gruppen/ An Entscheidungsprozessen partizipieren können
Programm Transfer-21 2007, S. 19
Eigenständiges Handeln/ Selbstständig planen und handeln können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
Programm Transfer-21 2007, S. 20
Eigenständiges Handeln/Sich motivieren zu können, aktiv zu werden
Programm Transfer-21 2007, S. 21
“Intersektionalität & Vielfaltskompetenz Diversity” “ Soziomoralische Sozialisation”
Schröer 2012, S. 5
Soziale Kompetenz/Soziale Kognition
Becker 2008, S. 104+113
Soziale Kompetenzen/ Handlungsstrukturierende Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104+113
Moralische Kompetenzen/ Moralkognitive Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Kommunikative Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Becker 2008, S. 104 f.+125 Emotionsbezogene moralische Fähigkeiten
4.3.2
Moralische Kompetenzen/ Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Moralische Kompetenzen/ Handlungsstrukturierende moralische Fähigkeiten
Becker 2008, S. 104 f.+125
Ein anschlussorientiertes Kompetenzsystem
Die Darstellung der einzelnen Kompetenzen zeigt, dass die jeweiligen Fähigkeiten nicht trennscharf von einander differenziert werden können. Vielmehr bauen einzelnen Anlagen aufeinander auf oder involvieren in ihrer Konnotation weitere
202
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Kompetenzen. Dennoch möchte die Arbeit eine Darstellung der neun beschriebenen Kompetenzen ermöglichen, um diese von einander abzugrenzen bzw. sie mit Blick auf ein Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt einander gegenüber zu stellen. Folgende Grafik soll die Kompetenzen nach ihrer Komplexität sowie nach ihrem Aktivierungsgrad ordnen (Abb. 4.2).
Grad der Komplexität
ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln
an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben
eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können
Zusammenhänge kritisch reflektieren können
situationsgerecht handeln können
aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können
planvoll handeln können
in die Gesellschaft integriert sein
Inklusion & Partizipation
einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden
Bewusstwerdung & Reflexion
Handlung & Gestaltung
Modifizierung & Transformation
Grad der Aktivierung
Abb. 4.2 „Kompetenzsystem“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
Das Kompetenzmodell orientiert sich an zwei graduellen Achsen: der vertikalen y-Achse, welche den Grad der Komplexität einer Kompetenz beschreibt, und der horizontalen x-Achse, die Auskunft über das notwendige Potential zur Aktivierung und Performanz der Kompetenz widerspiegeln soll. Dafür wurden vier Kategorien resp. Prozessschritte gebildet, die der x-Achse zugeordnet sind. Jede Kategorie stellt einen Grad der Aktivierung dar; während die Kategorie „Integration & Partizipation“ eines verhältnismäßig geringen Aktivierungsgrades bedarf, verlangt die Kategorie „Modifizierung & Transformation“ viele Einzelfähigkeiten, in deren Verschränkung eine Kompetenz aktiviert werden kann, sowie ein vielschichtiges Kognitionsvermögen. Diese vier Prozessschritte korrespondieren mit dem in Kapitel 2 berschriebenen
4.3 Ableitung Eines Anschlussorientierten Kompetenzsystems
203
Differenzlinien einer Gesellschaft der Vielfalt und ermöglichen darüber Aussagen zur Wechselwirkung auf Makroebene. Über vier Prozessschritte der x-Achse wurden die neun Einzelkompetenzen bewusst in Cluster eingeteilt. Ein Blick auf die lineare Struktur der x-Achse macht deutlich, dass diese Cluster dem komplexen Wesen von Mündigkeit als übergeordneter Kompetenz entsprechen. Wie Kapitel 7 noch vertiefen wird, bauen die einzelnen Prozessschritte aufeinander auf und spiegeln in ihrer Prozesshaftigkeit Mündigkeit in ihrer Verflochtenheit wider. Zugleich dienen diese Prozessschritte als Anker und Orientierung, um Forschungsfrage B) Welche Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich über das sozialräumliche Lernen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ableiten?
beantworten zu können und um im Sinne der Sozialisationstheorie eine Verschränkung von Subjekt- und Strukturorientierung zu schaffen. Dafür wurde im theoretischen Arbeitsteil die Gesellschaft der Vielfalt anhand Erscheinungen der Zweiten Moderne unter Rekurs auf die vier Kategorien beschrieben. Mit der Darstellung eines arbeitsspezifischen Kompetenzmodells lässt sich Forschungsfrage B bereits in Teilen beantworten: Die vier Kategorien spiegeln gesellschaftliche Entwicklungsprozesse wider, die sich über sozialräumliches Lernen und eine daran geknüpfte fächerübergreifende Kompetenzentwicklung stützen lassen. Welche Kompetenzen, die für ein Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt relevant sind, können über das sozialräumliche Lernen trainiert und gestärkt werden?
Diese Forschungsfrage wurde über das Kompetenzsystem als arbeitsspezifisches Modell und dessen Visualisierung beantwortet. Sozialräumliches Lernen findet über seine methodisch-didaktische Konzeption zahlreiche Überschneidungen zu Instrumenten der untersuchten schulischen Schnittstellen. Diese Schnittstellen entsprechen didaktischen und sozialisationstheoretischen Diskursen der Unterrichts-, Schul- und Bildungsforschung. Diesen Diskursen sind Kompetenzorientierung sowie Förderung fächerübergreifender Kompetenzen eigen, so dass informelle Kompetenzentwicklung als wesentliche Zielstellung der Forschungsdiskurse verstanden werden kann. Die synoptische Gegenüberstellung von etablierten Kompetenzbegriffen und -modellen fungiert neben dem abgeleiteten Kompetenzmodell als
204
4
Didaktische Grundlagen | Kompetenzorientierung & Kompetenzanalyse
Verifizierung der Hypothese 1 – sozialräumliches Lernen spricht besonders fächerübergreifende Kompetenzen an, da sozialräumliches Lernen als konstruktivistischsozialisationstheoretische Lernform innerhalb der untersuchten schulischen Schnittstellen bereits eingesetzt wird oder optimal als komplexe Lernsituation eingesetzt werden kann.
4.4
Zwischenfazit III
Folgt man der Frage nach einem „guten oder gelingenden Leben (für uns)“ (Rosa 2016, S. 42) – der zentralen Frage, die der Soziologe Hartmut Rosa in seiner Publikation „Resonanz“ aufwirft – kann über das entwickelte Kompetenzmodell eine mögliche Antwort auf diese Frage geliefert werden. Rosa selbst beschreibt folgenden Lösungsansatz: „Ob Leben gelingt oder misslingt, hängt davon ab, auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandt wird und werden kann“ (ebd., S. 53). Das arbeitsspezifische Kompetenzmodell beschreibt – auch wenn sich Rosa in seinem Werk gegen einen ressourcenorientierten Ansatz ausspricht – neun Fähigkeiten resp. Kompetenzen, welche sich Welt zu eigen machen und über gelungene Resonanzbeziehungen zu Menschen und Dingen die Welt als Resonanzkörper „zum Klingen bringen“. Schule, die normativ verankert auf das Leben und Arbeiten in einer Zweiten Moderne vorbereiten und Lernende bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben stützen soll – also anschlussorientiert ausgerichtet ist – wird sich zunehmend dem informellen und non-formalen Lernen jenseits klassischer Unterrichtsgestaltung über einen Frage-Antwort-Modus bewusst. Im Mittelpunkt steht dabei der Erwerb fächerübergreifender Kompetenzen und die Vermittlung reflexiver, selbstgesteuerter und verantwortungsbewusster Lebensführung. Das Kapitel „Kompetenzanalyse“ führt dabei die bestehenden Diskurse des fächerübergreifenden Kompetenzerwerbs zusammen und entwickelt über das arbeitsspezifische Kompetenzmodell gemeinsame Schnittstelle für das lebenslange Lernen. Das sozialräumliche Lernen wird zur ganzheitlichen Lernform und verbindet formelle, non-formale und informelle Lernprozesse. Der Lebensweltbezug des sozialräumlichen Lernens schafft eine Form von Weltaneignung, welche die subjektive Persönlichkeitsentwicklung des Lernenden und die Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse gleichermaßen einbindet. Fächerübergreifende Kompetenzen – als Symbiose zwischen Fähigkeiten zur Gestaltung der subjektiven Lebenswelt und Kompetenzen der Gestaltung von Weltbeziehungen über soziale Interaktionen – werden im sozialräumlichen Lernen allumfassend gestärkt.
5
Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
5.1
Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretischer Kompetenzansatz
Die Reflexivität von Subjekt und Struktur Basierend auf der sozialisationstheoretischen Grundannahme, dass eine lebenslange Entwicklungsaufgabe im Austarieren persönlicher Individuation und sozialer Integration besteht (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015, S. 109 ff.), entwickelt die vorliegende Arbeit die Forschungsfrage Welche Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich über das sozialräumliche Lernen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ableiten?
Diese dritte, eingangs gestellte Forschungsfrage ergänzt im Verständnis der Sozialisationstheorie die erste Forschungsfrage nach den Kompetenzen, welche über das sozialräumliche Lernen erworben werden. Da diese Kompetenzen einen Anker zwischen Ich-Individuation und Vergesellschaftung bilden, indem sie Lösungen zum produktiven Umgang mit innerer und äußerer Realität implizieren, steht neben der subjektorientierten Fragestellung nach den individuellen Entwicklungsmöglichkeiten auch die strukturorientierte Frage nach den gesellschaftsgestaltenden Faktoren eines sozialräumlichen Lernens. Vertiefend zum Verständnis der Sozialisationstheorie stellt die vorliegende Forschungsarbeit die Frage nach den Effekten sozialräumlichen Lernens auf Integrations- und Partizipationsprozesse, Reflektionsprozesse, Handlungs- und Gestaltungsprozesse sowie Modifizierungs- und Transformationsprozesse – Prozessschritte, über welche Gesellschaft in ihren Strukturen beschreibbar, aber auch veränderbar wird. Dabei orientiert sich die
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_5
205
206
5
Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
Antwortsuche am eingangs entwickelten Kompetenzmodell und den in Kapitel 2 beschriebenen Differenzlinien einer Gesellschaft der Vielfalt. Inklusion & Partizipation, Bewusstwerdung & Reflexion, Handlung & Gestaltung sowie Modifikation & Transformation bilden in ihrer linearen Struktur eine Form von Vergesellschaftung ab, dem ein komplexes Verständnis von Mündigkeit zugrundeliegt. In der Auseinandersetzung mit Antonio Gramscis „Philosophie der Praxis“ beschreibt der Pädagoge Armin Bernhard (2005) Mündigkeit als Prozess der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Bewusstseins sowie als stete Neuversicherung der eigenen Handlungsfähigkeit: „Mündigkeit ist keine Bezeichnung für einen Zustand in der Entwicklung des Menschen, sondern für eine Fähigkeit, die beständigen Anfechtungen ausgesetzt ist und sich demzufolge permanent neu bewähren muss, um sich als solche zu erhalten.“ (Bernhard 2005, S. 239) Die vier Differenzlinien belegen dabei über eine strukturorientierte Kompetenzorientierung prozesshaft den Aktivierungsgrad der Mündigkeit: Chancengleichheit und Beteiligung bilden die essentielle Grundlagen der Mündigkeit aus. Basierend auf diesen Prinzipien kann ein kritisches Bewusstsein wachsen. Dieses bildet das Fundament für mündiges Handeln, welches den Anspruch auf Handlungsmacht integriert, woraus letztendlich das Potential für die Transformation gesellschaftlicher Strukturen wachsen kann. Die Änderung dieser Strukturen im Sinne des Inklusions-Ansatzes bildet ein stetes Bemühen ab, exkludierende Strukturen zu korrigieren, um die Basisbedingungen für Mündigkeit zu setzen. Zum anderen beschreiben diese Prozessschritte in der Subjektorientierung übergeordnete Kategorien der fächerübergreifenden Kompetenzen, denen das Erhebungsdesign zugrundeliegt. Die vier skizzierten Prozesse greifen somit den sozialisationstheoretischen Ansatz einer Verschränkung von Innen und Außen, von Individuation und Vergesellschaftung und von Individuum und Gesellschaft auf, indem sie gleichzeitig in der Strukturorientierung auf die in Kapitel 2 beschriebenen Differenzlinien einer Gesellschaft der Vielfalt referieren (Abb. 4.2). Im Verständnis eines relationalen Sozialraums als Gemengenlage aus Interaktionen, Interdependenzen und Machtbeziehungen, subjektiver und historisch-zeitlicher Situierung sowie dem Raum als Ort verschiedenster Aktanten bildet die Verschränkung von Innen und Außen zudem eine Verschränkung von Handlung und Form. „Raum ist demzufolge eine Konfiguration oder ein Netzwerk, welches Menschen, Dinge oder Handlungen in eine Ordnung bringt bzw. eine Ordnung zum Ausdruck bringt.“ (Löw 2015 [2001], S. 148) Analog zum Wesen der Zweiten Moderne, welches sich in einer Reflexivität von Handlung und Folge widerspiegelt, formiert sich diese durch Ulrich Beck beschriebene Rückbezüglichkeit in der Relation des
5.1 Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretischer Kompetenzansatz
207
Raums als „(An)Ordnungsstruktur, die jedoch zurückverweist auf das Handeln“ (ebd., S. 149). Martina Löw (2015 [2001]) konstituiert in ihrer Metaanalyse zum Sozialraum Raum als relational-reflexive Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen. Mit Löws Verständnis der Verankerung sozialräumlicher Strukturen in Institutionen (ebd., S. 169 ff.) werden innerhalb dieser Strukturen auch die normativen Handlungsmöglichkeiten fixiert und beschrieben. Das bedeutet zugleich, dass die Struktur das Handeln definiert. Wird also über eine mündige Bildung eine reflexiv-kritische Handlungsfähigkeit eingeübt, lassen sich sozialräumliche Strukturen und damit Institutionen gestalten, wodurch Kooperationen des menschlichen Miteinander institutionell neu beschrieben werden können. Eine individuelle Exodus-Strategie (vgl. Loick 2014; Boddenberg et al. 2017) schafft auf Subjektebene Veränderung, separiert und spaltet jedoch die Sozialräume in viele kleinteilige Sozialräume auf, aus denen nur bedingt ein situierter, community-basierter Lerneffekt generiert werden kann – und somit auch nur eine bedingte Transformation von Strukturen. Zusammenhänge zwischen Handlung und Struktur über die sozialräumliche Relation und Reflexivität wurden im Kapitel 5 über Nebenfolgenstrukturen zwischen Wahlergebnis, institutionellem Handeln und Wertnormierung am Beispiel der Arbeitserlaubnis für geflüchtete Menschen beschrieben. Die verbindende Klammer zwischen Subjekt- und Strukturorientierung liegt also in einem beschriebenen Kompetenzansatz, der sich auf die Vermittlung fächerübergreifender Kompetenzen zur Festigung der eigenen Persönlichkeit stützt, worüber mündig eine Position als Bürger*in bezogenen werden kann. Anders als skeptische Stimmen des Kompetenzansatzes plädiert die vorliegende Arbeit daher für eine bewusste Kompetenzorientierung als Grundlage einer Transformation gesellschaftlicher Strukturen. Analog der gesellschaftlichen Basis muss der Anspruch an die zu entwickelnden Kompetenzen sich am Wesen der Zweiten Moderne bzw. Der Postmoderne orientieren. Beschleunigung und Entfremdung (Rosa 2012) begegnet man über die Erfahrung dieser, um der Erfahrung eines beschleunigten Lebens bewusst die Resonanz (Rosa 2016) entgegenzusetzen. Einer zunehmenden Flexibilisierung alle Lebensbereiche (Sennett 1998) kann man nur begegnen, wenn man kompetent vermag, die eigene neoliberale Komplizenschaft (Nachtwey 2016b) mündig zu hinterfragen. Exklusion muss erlebt werden, um zu verstehen, weshalb es einer inklusiven Überwindung exkludierender Strukturen bedarf. Dieser Ansatz stützt sich auf das Verständnis, dass jeder Sozialraum in seiner Raum-Zeit-Struktur ein spezifisches Verständnis von Mündigkeit entwickelt, welches sich aus der Relation der jeweiligen Sozialraumstruktur speist. Wenn Mündigkeit als Synthese zwischen Subjekt- und Strukturorientierung auf die Fähigkeit, Wahrheiten zu suchen, komprimiert wird, dann wird die Aussage des Künstlers
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5
Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
Ernst Thronicke, „daß sich die Wahrheit doch scheinbar im Laufe der Zeit verändert“ (Staeck et al. 1994, S. 45), auch zur Wesensbeschreibung der Mündigkeit: Der zugrundeliegende Kompetenzansatz der Mündigkeit wird durch eine sozialräumliche Realität bestimmt und somit über die Raum-Zeit-Struktur veränderbar. Und sofern eine neoliberal-flexibel determinierte Lebenswelt den ökonomisch-flexibel handelnden Menschen schaffen will, dann muss Schule diese Fähigkeit lehren, um über die sozialräumliche Verbindung zwischen Handlung und Struktur eine Transformation dieser Verbindung zu erwirken. Wenn der Soziologe C. Wright Mills (2016 [1959]) Mündigkeit über das Konzept der Soziologischen Phantasie beschreibt, dann greift auch er auf diese Forderung an mündige Bildung zurück: „Die erste Frucht der soziologischen Phantasie – und die erste Lektion der mit ihr gerüsteten Sozialwissenschaft – ist die Einsicht, dass das Individuum seine eignen Erfahrungen nur verstehen und sein eigenes Schicksal nur beurteilen kann, wenn es in der Lage ist, sich in seiner Epoche zu verorten, und dass es seine eigenen Chancen nur zu erkennen vermag, wenn es sich der Lebenschancen aller unter den gleichen Bedingungen wie es selbst lebenden Individuen bewusst wird.“ (Mills 2016 [1959], S. 26 f.)
Ähnlich der in dieser Arbeit getroffenen Schlussfolgerung eines fächerübergreifenden Kompetenzansatzes, aus welchem sich Mündigkeit formt und welcher über das Lernen im Sozialraum angestoßen wird, verortet Mills sein Konzept der Soziologischen Phantasie wie folgt: „Die soziologische Phantasie ermöglicht uns, Geschichte und Biographie und den Zusammenhang beider in einer Gesellschaft zu begreifen.“ (Ebd., S. 27) Setzt man hier das relationale Raum-Modell eines sozialräumlichen Lernens an, greift über die Situations-Ebene eine Verschränkung von biografisch-historischen Raum und aktivem Erleben des lernenden Individuums. Im Koordinatensystem des Sozialraums würde sich die Soziologische Phantasie über die Koordinaten Situierung und Individuum anordnen und dabei die Community of Pracitice als gesellschaftliche Teilstruktur und äußerer Raum des Lernens berühren. Folgt man diesem Ansatz, dann bildet die Soziologische Phantasie eine Ausformierung des sozialräumlichen Lernens – und umgekehrt. Auch die dem Raum-Modell zugrundeliegende Zweiteilung zwischen Innen und Außen findet ihre Entsprechung im Mills Ansätzen über eine Verschränkung von „privaten Schwierigkeiten (troubles)“ (ebd., S. 30 f.) und „öffentlichen Problemen (issues)“ (ebd., S. 31). Wenn Mills also diese Form des reflexiv-relationalen resp. sozialisationstheoretischkonstruktivistischen Denkens als Fähigkeit des Perspektivwechsels und des Denkens in Zusammenhängen beschreibt (ebd., S. 29), dann beschreibt er Fähigkeiten des in dieser Arbeit zugrundeliegenden sozialräumlichen Kompetenzmodells und greift zugleich auf Scott Lashs (1996) dualistisches Reflexivitäts-Verständnis von
5.1 Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretischer Kompetenzansatz
209
Selbst-Reflexivität und struktureller Reflexivität zurück – was nicht verwundert, schließlich bildet Mündigkeit die zentrale Kompetenz im übergreifenden Bildungsdiskurs ab (vgl. Kiehl/Schnerch 2018). In diesem Grundverständnis kann Mündigkeit auch nur in einer Reflexivität von Subjekt und Struktur entstehen und gedacht werden. Daher nimmt die vorliegende Arbeit an dieser Stelle die makrosoziologische Perspektive des 2. Kapitels erneut ein und beschreibt die „Gesellschaft der Vielfalt“ an ihren Differenzlinien unter Einbindung der empirischen Erhebungsergebnisse – den subjektiven Perspektiven eines sozialräumlichen Lernens – um in Sinne C. Wright Mills Soziologischer Phantasie dem sozialräumlichen Lernen seine ganzheitliche Bedeutung im Bildungsdiskurs zu geben. Inklusion & Partizipation Stellvertretend für die gesellschaftsbildende Funktion der Integration und Partizipation als Basis von Mündigkeit hat die vorliegende Arbeit die Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein aus der vergleichenden Kompetenzanalyse abgeleitet. Zugrunde liegt das Verständnis einer Wechselwirkung zwischen einem innerhalb der Gesellschaft gefühlten Angenommenseins, der Möglichkeit, anzukommen und der gleichzeitigen Bereitschaft, anderen Menschen in ihrer Individualität einen Platz innerhalb der Gesellschaft einzuräumen. Im Rekurs auf Norbert Elias Interdependenztheorie als Verschränkung von Individuum und Gesellschaft kann mit Hilfe der Interpendenz Inklusion im Verständnis von Zugang und Beteiligung über die Exklusion beschrieben werden. Das Erleben von Exklusion ist dabei ein subjektives Mass und an das individuelle Empfinden der eigenen Situierung im sozialen Raum gekoppelt. Doch auch eine mit dem Inklusionsbegriff verbundene kritische Position zur (Ungleich)Verteilung von Ressourcen, wie sie beispielweise durch Pierre Bourdieu (1996 [1979]; 1992 [1979]) vertreten wird, lässt sich zur graduellen Beschreibung von Inklusion bzw. Exklusion heranziehen. Die Verteilung von Ressourcen wird dabei zum Gradmesser von Inklusion und Exklusion. Damit wird deutlich, dass ein ganzheitliches Inklusions-Verständnis stets nur in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen erfolgen kann. Die hier beschriebene Strukturposition steht gleichberechtigt neben der Subjektposition. In der Zusammenführung dieser Positionen entwickelt sich das zugrundeliegende Verständnis der Kompetenz in die Gesellschaft integriert sein, wie es in Kapitel 4 aus der Analyse und Gegenüberstellung der fächerübergreifenden Kompetenzdiskurse abgeleitet wurde: eine Wechselwirkung zwischen einem innerhalb der Gesellschaft gefühlten Angenommenseins – situativ-subjektive Wahrnehmung der eigenen Position im Sozialraum – der Möglichkeit, anzukommen – figurativ-machtsensible Verortung im Sozialraum – und der gleichzeitigen Bereitschaft, anderen Menschen in ihrer Individualität einen Platz innerhalb der Gesellschaft einzuräumen.
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5
Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
Letztere Position wächst aus einem Verständnis der wechselseitigen Verschränkung von Eigenverantwortung und Solidarität, von Persönlichkeitsentwicklung und Vergesellschaftung und von der produktiven Realitätsverarbeitung innerhalb der gemeinsamen Community of Practice. Bewusstwerdung & Reflexion Die Differenzlinie „Bewusstwerdung & Reflexion“ wurde über die Reflexivität zwischen Individualisierung und Entfremdung als gesellschaftliche Gestaltungs- und Entwicklungsaufgabe beschrieben. Während die Theoretiker der reflexiven Modernisierung die Reflexivität als Rückbezüglichkeit und Reflexion der inneren und äußeren Lebenswelt an die Individualisierung koppeln, gehen Theoretiker wie der Soziologe Thomas Kron in der Fortführung dieser Ansätze zusätzlich von einem zentralen Autonomie-Begriff aus. Dieser trägt das Verständnis von Freiheit und Entfremdung gleichermaßen in sich, so dass sich die Reflexivität der Zweiten Moderne über den eben beschriebenen Dualismus von Entfremdung und Individualisierung beschreiben lässt. Daher setzt die vorliegende Arbeit der Vielfalts-Facette „Bewusstwerdung & Reflexion“ als Prozess-Schritt von Mündigkeit folgende Kompetenzen entgegen: Zusammenhänge kritisch reflektieren können, an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben sowie ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln. Trotz einer zunehmenden Herauslösung aus tradierten Wertesystemen und kollektiven Strukturen kann Individualisierung nur produktiv gestaltet werden, wenn das Individuum den Entfremdungsprozessen seiner neuen Autonomie über ein kritisches Denken begegnet. Dieses nutzt die (inter)kulturelle Vielfalt als Erfahrungsraum, um darüber ein Bewusstsein für gesellschaftliche Nachhaltigkeit abzuleiten. In diesem Verständnis lassen sich subjektiv und gesellschaftlich verantwortungsbewusste, mündige Endscheidungen innerhalb risikohafter Freiheiten treffen. In der Kompetenzdarstellung (vgl. Kapitel 4) wird die Fähigkeit Zusammenhänge kritisch reflektieren können als Basiskompetenz beschrieben, welche versucht, die Nebenfolgenlogik der Zweiten Moderne über eine kritisch-analytische Verschränkung einzelner Wissensbausteine nachzuzeichnen. Auf dieser Fähigkeit aufbauend schließt die Kompetenz an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben an. Wie in Kapitel 4 zusammengefasst, beschreibt diese Kompetenz die Fähigkeit offen und bewusst kulturelle sowie interkulturelle Einflüsse der äußeren Lebenswelt in das eigene Selbst und die Reflexion des eigenen Erlebens einzubinden. Gesellschaftliche Heterogenität – auf individueller und kultureller Ebene – erweitert das
5.1 Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretischer Kompetenzansatz
211
kritische Denken und richtet es an einer Gesellschaft der Vielfalt aus. Eine Teilhabe an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt wird demnach über die bewusste Wahrnehmung dieser beschrieben. In der Kompetenz ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln werden die beiden eben skizzierten Fähigkeiten zusammengeführt und auf künftige subjektive und gesellschaftliche Entwicklungen bezogen. Dabei wird einbezogen, dass heutiges Handeln Konsequenzen für künftige Entwicklungen haben könnte. In Abgrenzung zum kritischen Denken in Zusammenhängen integriert diese Kompetenz verstärkt eine situativ-historische Perspektive, die sich an Reflexivität in zeitlicher Situierung orientiert. Über die situative Ebene leitet sich für sozialräumliche Lernsettings auch der Anspruch ab, subjektive Relevanz im Lernprozess einzubinden bzw. diese über das Lernsetting zu aktivieren. Speziell der Aspekt des Beziehungsaufbaus – im Kontext einer subjektiven Relevanz als Realitätsverarbeitung im inneren Raum sowie im Kontext eines affektiven Beziehungsaufbaus zu Anderen im äußeren Raum – kann mit Blick auf einen strukturgestaltenden Einfluss des sozialräumlichen Lernens als wichtiger Faktor beschrieben werden. Denn letztendlich setzt dieser Prozess der Entfremdung ein In-Verbindung-Treten mit sich selbst und anderen entgegen. In Rekurs auf Hartmut Rosas Entwicklung einer Resonanztheorie (Rosa 2016) wird diese Kausalität gestützt, entwickelt doch der Soziologie das Konzept der Resonanz als Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Entfremdungsprozessen (Rosa 2012). Der kompetente Umgang mit Individualisierung und Entfremdung fußt entsprechend dieser Beschreibung auf Prozessen der Bewusstwerdung und Reflexion. Aus der Verschränkung der beschriebenen Kompetenzen leitet sich die Handlungsfähigkeit ab. In der Berufspädagogik wird diese Kompetenzverschränkung über das Konzept der reflexiven Handlungsfähigkeit beschrieben (vgl. Abschnitt 4.2.3; Dehnbostel 2012; Gillen 2006). 1996 durch Scott Lash im Kontext einer Theorie reflexiver Modernisierung beschrieben, ist diese Fähigkeit analog sozialisationstheoretischer Grundannahmen sowohl eine Fähigkeit, die an das lernende Subjekt sowie an die Struktur eines äußeren, umgebenden Sozialraums gebunden ist. Im Konzept der Mündigkeit speist sich diese Fähigkeit aus einem Mindestmaß an gesellschaftlicher Partizipation, um darüber ein kritisches Bewusstsein ausbilden zu können. An die reflexive Handlungsfähigkeit schließt sich die Frage nach einem mündigen Handeln, welches auch mit dem Begriff der „Gestaltung“ beschrieben werden kann. Handlung & Gestaltung Ein weiterer Prozessschritt der Mündigkeit vollzieht sich über die eigentliche Handlung. Wenn Ulrich Beck (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994) von „riskanten Freiheiten“ spricht, dann impliziert über diese Kopplung die Freiheit der Individualisierung zugleich das Risiko. Mit der Entscheidungsfindung für eine Handlung
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Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
trifft das Individuum zugleich eine mögliche Entscheidung für eine neue risikohafte Nebenfolge, die den Motor des „Dschagannath-Wagens“ optimiert und immer „schnelltouriger“ laufen lässt. Die Differenzlinie der „digitalen Wissensgesellschaft“ zeichnet diese Formierung der Zweiten Moderne nach. Über das der Arbeit zugrundeliegende Kompetenzmodell setzt die Subjektorientierung dieser Struktur die Kompetenzen planvoll handeln können, situationsgerecht handeln können sowie eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können entgegen. Daraus wächst eine Beschreibung mündigen Handelns in einer Gesellschaft der Vielfalt. Das mündige Handeln verbindet den Prozess des Erkenntnisgewinns mit dem der überlegten Handlung, wobei die Frage an dieser Stelle lauten muss: Was formt in einer digitalen Wissensgesellschaft der Zweiten Moderne überlegtes, mündiges Handeln? Aus dieser Perspektive schaffen personenzentrierte Kompetenzen, die sich an den Bedingungen einer Zweiten Moderne ausrichten, auch eine Brücke zu Becks (2017) kosmopolitischen Erfahrungsräumen, aus denen heraus die Metamorphose einer kosmopolitischen Welt eingeläutet wird. Wird das Bewusstsein für die Nebenfolgen glokaler Prozesse gestärkt – eine glokale Mündigkeit erworben – kann das Handeln auf diese Reflexivität hin durch das Individuum ausgerichtet werden. Der digitale Sozialraum als gemeinsam geteilter Raum bietet eine zeit- und ortsunabhängige Ressource, um mündiges Handeln aus dem Bewusstsein der menschlichen Bedingtheit heraus zu entwickeln. Erfolgt ein Handeln – ausgerichtet an einer Selbstreflexivität sowie an einer strukturellen Reflexivität – dann kann von mündigem Handeln oder von Gestaltung gesprochen werden, da diese Handlung – stärker als die alltäglich Praxis – durch ein absichtsvolles Tun bestimmt ist. Modifikation & Transformation Bildung im Fokus von Mündigkeit ohne deren Facette „Modifikation & Transformation“ zu reflektieren, wäre – dem Nebenfolgen-Diskurs folgend – Bildung nur halb zu betrachten, da man ihre Intention aus den Augen verliert: Der Lernende soll über den schulischen Lernprozess zur ganzheitlichen Persönlichkeit begleitet werden. Doch wer „Persönlichkeit“ sagt, muss gleichfalls „Gesellschaft“ denken. Die künftigen Persönlichkeiten werden und sollen Gesellschaft gestalten – im Sinne des Inklusions-Diskurses soll die globale Gesellschaft künftiger Generationen ein Stück weit gerechter werden. Die Inklusive Didaktik beginnt damit, die exkludierenden Strukturen schulischen Lernens und Erlebens zu minimieren. Eine subjekt- und strukturorientierte inklusive Didaktik fragt dabei auch nach den Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Wandels, der als „Metamorphose“ (Beck 2017) exkludierender Strukturen seinen Anfang nimmt. Basierend auf dem Erleben von Exklusion, der Entwicklung eines kritischen Bewusstseins und einer daraus abgeleiteten Fähigkeit des mündigen Handelns richtet sich der
5.1 Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretischer Kompetenzansatz
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Blick einer sozialisationstheoretisch-orientierten inklusiven Didaktik auf eben jene gesellschaftlichen Strukturen. Über die Erfahrung dieser kann sich das kritische Bewusstsein entfalten, welches in der Weiterführung einer mündigen Handlungsfähigkeit dazu aufruft, Strukturen zu gestalten, um über deren Modifikation den gesellschaftlichen Wandel zu begünstigen. Somit bedeutet inklusive Didaktik auch, „dass die Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung auf eine Änderung des Systems setzt und nicht das System seine leistungsfokussierte Bildungsstrategie mit einigen kleinen Aufmerksamkeitsumwegen fortsetzen kann“ (Becker 2015, S. 157). Das kritische Bewusstsein wächst – ganz im Sinne John Deweys, des Aneignungs-Diskurses und Hartmut Rosas – aus der aneignenden und anverwandelnden Handlung selbst. Dabei ist das sozialräumlich angestoßene Handeln als Transformation der Handlung zu begreifen. Jedoch kann diese Transformation oder – im Sinne Ulrich Becks – diese Metamorphose nur über das inklusive Wir, die stete Reflexions-Arbeit und konsequente Aufforderung zum Handeln wachsen. Zu glauben, dass sozialräumliches Lernen dabei sozialpsychologische Prozesse oder Kosten-Nutzen-Kalkulationen ausblenden kann, wäre eine Illusion, die an der Realität und wissenschaftlichen Erkenntnis vorbei geht: Wir Menschen werden immer Vorurteile haben und uns an diesen orientieren; auch werden wir stets aus einem Eigeninteresse heraus handeln. Aber sozialräumliches Lernen als mündiges Lernen kann die Freiheit der Wahl einer Handlung stärken und an einem kollektiven reflexiven Wir ausrichten. Speziell für die Degrowth- oder Postwachstums-Forschung ergeben sich daraus vertiefende Ansätze, um Akteur*innen und Demokratie im Transformationsprozess zur Postwachstumsgesellschaft zu beschreiben, die trotz aller Handlungsmodifikation stets auch eine reflexive Moderne bleiben würde – womöglich aber eine mündigere, welche Wirtschaftsprozesse in ihren Transformationsprozess einbindet und anerkennt, dass die subjektive Freiheit als ökologisch und sozial gerechter Selbstversorgender noch längst nicht die Lösung auf globale und lokale Ungerechtigkeiten abbildet. Um es durch Rahel Jaeggi zu formulieren: „Eine gelingende Lebensform wäre dann eine, die sich dadurch auszeichnet, dass sie gelingende kollektive Lernprozesse – Lernprozesse [wie das sozialräumliche Lernen, Anmerkung CK], die zum Teil ausgelöst sein mögen durch Krisen funktionaler Art – nicht behindert, sondern ermöglicht.“ (Jaeggi 2013) Subjektive, personenzentrierte Kompetenzen wie einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden und aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können würden diese angesprochenen kollektiven Lernprozesse tragen können.
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5.2
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Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
Sozialräumliches Lernen als Kritische Pädagogik der Praxis
Diese beschriebenen Erkenntnisse sind nicht neu; vielmehr stehen sie in Tradition einer Kritischen Pädagogik und sind eng an das Verständnis von mündigem Handeln gekoppelt. Die Frankfurter Erklärung (2015) „Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ fasst die Bedingungen mündigen Lernens zusammen und greift dabei in ihrem Verständnis über den Ansatz des politischen Lernens hinaus. Indem es das Wesen der Sozialisation im interdependent-figurativen Sozialraum als Basis der Persönlichkeitsentwicklung und Vergesellschaftung ansetzt, generiert das Manifest einen machtsensiblen bis machtkritischen Blick der (politischen) Bildung auf Sozialräume. Zugleich erkennt die Frankfurter Erklärung die Situationsebene des Sozialraums an und fragt bewusst nach Interessen der verschiedensten Akteur*innen, aus deren Verschränkung sich das Politische des Sozialraums generiert. Die Erklärung greift die Verbindung von Subjekt- und Strukturebene auf und skizziert über die Bindung des individuellen an kollektives Handeln die Struktur des Sozialraums. Aus dieser heraus fungiert die Community of Practice als Netzwerk, um die Erfahrungen der Lebenswelt in Wissen um kosmopolitische Räume zu transferieren. Diese Form von mündiger (Selbst)Bildung gelingt nur über das praktische Erleben, da – gemäß des Konzeptes „Bürgerbewusstsein“ (Lange 2008a, 2008b) – das potentielle neue Wissen den Anker im lernenden Subjekt braucht, um fruchtbar als Wissen und Kompetenz im Selbst Verankerung zu finden. Hier bildet das sozialräumliche Lernen die wesentliche Brücke zwischen Lernender*Lernendem und Sozialraum bzw. sozialer Praxis. Mit der Frage „Erziehung – wozu?“ stellt Theodor W. Adorno (1993b [1971]) in seiner Vortrags- und Gesprächssammlung „Erziehung zur Mündigkeit“ die Frage nach dem Ziel der Bildung und beschreibt dabei den Weg dieser. Der Band vereint Grundlagentexte einer Kritischen Pädagogik, welche die Ausbildung eines kritischreflexiven Bewusstseins als Basis mündigen Handelns in den Mittelpunkt stellt. Für die Pädagogik und die Bildungswissenschaft leitet der Bildungspolitiker Hellmut Becker in einem Interview mit Adorno dabei folgende Handlungsorientierung ab: „Ich habe einmal, als ich vor jungen Lehrern über politische Bildung sprach, entwickelt, warum ich finde, daß derjenige, der zu Demokratie erziehen will, ihre Schwächen sehr deutlich machen muß. Das ist ein Beispiel für die Art, wie unsere Bildung notwendig ein dialektischer Vorgang ist, weil man die Demokratie nur leben und in der Demokratie nur leben kann, wenn man ihre Schwächen genauso realisiert wie ihre Stärken.“ (Adorno (1993a [1966], S. 109)
5.2 Sozialräumliches Lernen als Kritische Pädagogik der Praxis
215
Dabei kann die Kritische Theorie und ihre Verortung innerhalb bildungswissenschaftlicher Disziplinen nur bedingt Bildung an den komplexen Begriff der „Kritik“ binden. Über die Gefahr der „politischen Vereinnahmung“ stehen „kritische“ Wissenschaftler*innen im steten Legitimierungsdruck ihrer Arbeit – immer Gefahr laufend, die Gütekriterien wissenschaftlicher Arbeit zu verletzen, da an die Kritik stets auch eine Position gebunden ist. Wie aber die Arbeit über Kapitel 5 skizziert hat, kann eine sozialwissenschaftliche Forschung niemals eine Position außerhalb des sozialen Raums selbst sein. Den Blickwinkel auf dieses „Dilemma“ wechselnd konstatiert der Pädagoge Simon Kunert: „Obschon es nichtsdestotrotz keineswegs angemessen wäre, im neoliberalen Dogma als einer Antithese zur kritischen Gesellschaftstheorie den ausschließlichen Grund der Verunmöglichung von Kritik zu sehen oder es gar resignativ als gesellschaftlich deterministisch zu perpetuieren, so lassen sich dennoch für das Gebiet der Pädagogik deutliche Tendenzen einer Marginalisierung des Pädagogischen zu Gunsten einer neoliberalen Humanverwertungswissenschaft aufzeigen, welche mangels Kritik weitestgehend unwidersprochen bleiben.“ (Kunert 2015, S. 127)
Folglich darf man gleichfalls danach fragen, wie mündig eine wissenschaftliche Arbeit ist, die empirisch aufgebaut wird, aber in der Datenanalyse und -interpretation eine kritische Lesart der Daten ausspart, da sie – um Scott Lashs Dualismus anzusetzen – die strukturelle Reflexivität negiert. Sozialräumliches Lernen kann diese strukturelle Reflexivität und eine damit verbundene markosoziologische Perspektive nicht negieren, wächst doch die Erfahrung aus eben jener Struktur des sozialen Raums, die als Impuls das sozialräumliche Lernsetting trägt. Die Ansätze eines sozialräumlichen Lernens als Form einer kritischen Pädagogik der Praxis finden sich in den Ausarbeitungen Paulo Freires und Antonio Gramscis wieder. Zugleich spiegeln sie Positionen eines agonistischen Demokratieverständnisses, wie es durch die Arbeiten Chantal Mouffes geprägt wird. Dabei wird das konzeptionelle Verständnis des Sozialraums zum Brückenkonzept, welches – trotz aller bestehenden theoretischen Unterschiede – Mouffes Ansätze mit Ulrich Becks kosmopolitischen Handlungsräumen über das Konzept der Mündigkeit verbindet. Lernen im Verständnis einer wechselseitig bedingten, situativen und figurativen Sozialraumstruktur aufzubauen, generiert nach außen hin offene Sozialräume, deren Begrenzungen allein aus dem jeweiligen Lerngegenstand heraus wachsen. Das Erkennen und die Analyse dieser Strukturen, die eigene Verwobenheit mit diesen Strukturen sowie jene Verwobenheit der Anderen bestimmen Zielstellung und Weg der Lernsituation. Das Bewusstsein dieser Verwobenheit entfaltet sich dabei subjektiv im Lernenden, entsprechend individuell sind daher auch die abgeleiteten Analysen. In diesem Lernprozess kann der*die Lehrende nur begleiten und
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Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
Antworten anbieten, aber keine Antworten definieren, da die Situiertheit des Sozialraums die Definition der einen gültigen „Wahrheit“ nicht zulässt. Sozialräumliche Praxis formt sich daher subjektiv und individuell. In Paulo Freires (1991 [1970]) Verständnis einer Befreiungspädagogik bildet dieser epistemologische Prozess einen induktiven Lernweg ab, aus welchem heraus Mündigkeit wachsen kann. Die Umkehrung dieses Prinzips – den „Nürnberger Trichter“ – beschreibt Freire als „das ‚Bankiers-Konzept‘ der Erziehung, in dem der den Schülern zugestandene Aktionsradius nur so weit geht, die Einlagen [des Lehrenden, Anmerkung CK] entgegenzunehmen, zu ordnen und aufzustapeln. Sie haben zwar die Möglichkeit, Sammler und Katalogisierer der Dinge zu werden, die sie aufstapeln. Aber letztendlich sind es die Menschen selbst, die mangels Kreativität, Veränderung und Wissen in diesem bestenfalls mißgeleiteten System ‚abgelegt‘ werden. Denn ohne selbst zu forschen, ohne Praxis, können Menschen nicht wahrhaft menschlich sein. Wissen entsteht nur durch Erfindung und Neuerfindung, durch die ungeduldige, ruhelose, fortwährende, von Hoffnung erfüllte Forschung, der die Menschen in der Welt, mit der Welt und miteinander nachgehen“ (Freire 1991 [1970], S. 57 f.)
Indem das sozialräumliche Lernen die Welt innerhalb und jenseits des schulischen Raums in ihrer Reflexivität und Bedingtheit zum Lerngegenstand macht und an bestehende Lerninhalte koppelt, ermöglicht Unterricht dem*der Lernenden eine eigene Form der Forschung. Diese Lernform beschreibt Freire als „problemformulierende Bildung“ (ebd., S. 64 ff.), welcher der brasilianische Pädagogische eine dialogische Beziehungsstruktur zwischen Lernenden und Lehrenden zugrundelegt. Über die Kommunikation entwickelt sich „eine fortwährende Enthüllung der Wirklichkeit“ (ebd. S. 65). Der*die Lehrende wird – wie schon bei William H. Kilpatrick und John Dewey – zum Lernbegleiter bzw. zur Lernbegleiterin. Die wesentliche Qualität einer problemformulierenden Bildung gegenüber dem „Bankiers-Konzept“ der Bildung liegt im Anspruch, dem Lernenden die Möglichkeit zur Enthüllung einer eigenen, subjektiven Wirklichkeit zu geben, aus welcher heraus gegenhegemoniale Handlungsimpulse wachsen können – deren Formen Demokratie aus ihrem Grundverständnis heraus gestalten. Ähnlich wie auch John Dewey oder die Psychologen der Kulturhistorischen Schule steht bei Freire die aneignende Erfahrung der sozialräumlichen Wirklichkeit im Mittelpunkt. Diese erfolgt bereits durch die Benennung eines Problems, welche sich über den Dialog zu einem „Aktion-Reflexion-Modus“ entwickelt (ebd., S. 71 ff.). Dabei knüpft er die Reflexion an die „Situationalität“. Eine Reflexion anhand der Situationsebene des Sozialräumlichen „ist Reflexion über die eigentliche Bedingung der Existenz: kritisches Denken, mit dessen Hilfe Menschen einander als ‚in einer Situation‘ entdecken“ (ebd., S. 91), um daraus
5.2 Sozialräumliches Lernen als Kritische Pädagogik der Praxis
217
schlussfolgernd in die Wirklichkeit einzugreifen. Ernesto Laclau (2013 [1996]) und Chantal Mouffe (2008) formulieren hieraus – ohne direkten Rekurs auf Freire – das Praxis-Prinzip der „Äquivalenzkette“, welche einem geteilten Verständnis einer gemeinsamen sozialräumlichen Relation entspricht und diverse Gruppen über ein „situatives Wir“ miteinander verbindet. In der kosmopolitischen Soziologie Ulrich Becks stünde an dieser Stelle das basale Bewusstsein „advokatorischer Netzwerke“, welche als Gegenmacht jenseits nationalstaatlicher Macht „legitime“ Interessen und Forderungen bürgerrechtlich „legitimeren“ können (vgl. Beck 2009 [2002]). In diesem sozialräumlichen Fokus formiert sich Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ als sozialräumlich angelegte Befreiungspädagogik, welche letztendlich auch eine wichtige pädagogische Grundlage für Community-Education-Ansätze bildet. In seinen Arbeiten wurde Freire durch Antonio Gramsci beeinflusst (vgl. Mayo 2006, S. 23 f.). Der konstruktivistische Ansatz eines selbsterschließenden Lernens findet sich gleichfalls im pädagogischen Denken Gramscis. Der Pädagoge Armin Bernhard (2005) erschließt in einer Publikation zu Gramscis „Politischer Pädagogik“ dessen Grundverständnis von befreiender Bildung wie folgt: „Die Gewinnung eines höheren Bewusstseins kann sich demzufolge nur über eine ‚rekreative Bildung‘ [im Original kursiv, Anmerkung CK] vollziehen, die die gewonnenen Erkenntnisse der menschlichen Gattung vom Entstehungsprozess her rekonstruierend verflüssigt und mit den bisherigen Erfahrungen der Lernenden vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlich-historischer Verhältnisse vermittelt.“ (Bernhard 2005, S. 55)
Damit knüpft Gramsci an ein materialistisches Verständnis von Bildung an, wie es auch das tätig-aneignende Lernen der „Kulturhistorischen Schule“ beschreibt. Grundlage dafür bilden Karl Marx‘ Auseinandersetzung mit den Thesen Ludwig Feuerbachs (Marx 1988 [1845]), aus welcher sich das Prinzip der menschlichen Praxis und ein Begreifen dieser – oder eben auch Prozesse produktiver Realitätsverarbeitung – als rationelle Lösungen auf sozialräumliche Realitäten ableiten lassen. Gramsci beschreibt über das Wesen der „humanistischen Einheitsschule“ als Verflechtung zwischen tätigem Gestalten und intellektuellem Forschen den Weg, über welchen das Prinzip der menschlichen Praxis mit dem schulischen Lernen Verbindung findet (vgl. Gramsci 2012 [1932]; Merkens 2004; Bernhard 2005; Bernhard 1992). Dieser Weg einer ganzheitlichen Bildung speist sich aus dem Erleben der sozialräumlichen Realität und deren Überprüfung an tradiertem Wissen. Ähnlich wie bei Freire entwickelt sich aus dieser Verschränkung in der Pädagogik Gramscis eine Mündigkeit sowie eine Grundlage gesellschaftlich wachsender Gleichheit, indem jeder Mensch die potentiell gleichen Ausgangsbedingungen für Prozesse der
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Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
Persönlichkeitsentwicklung und Vergesellschaftung zuerkannt bekommt. Aus dieser Mündigkeitsperspektive speist sich das Potential gegenhegemonialer Räume, in welchen zuweilen eine gegenhegemoniale Praxis die menschliche Praxis des Sozialräumlichen konterkariert, karikiert oder dekonstruiert. Speziell imaginäre oder fiktionale Sozialräume der Kunst und Literatur bilden Räume zur Erprobung mündiger Praxis ab. Chantal Mouffe (2016 [2014]) schreibt eben jenen Räumen jenseits des realen, non-fiktionalen Sozialraums die Kraft der gegenhegemonialen Intervention zu – weshalb eine Vernachlässigung musisch-künstlerischer Fächer innerhalb der schulischen Bildung auch als Form der Entmündigung betrachtet werden muss. Daher impliziert sozialräumliches Lernen auch bewusst die Chance, im Lernprozess Wege jenseits etablierter und gewohnter Muster zu gehen; vielmehr fordert es die Lernenden dazu auf, neue Erfahrungen als Ausgang des Lernens zu nutzen und zudem neue Erfahrungen zu evozieren, um in der Synthese zwischen Handlung und Reflexion Mündigkeit zu bilden. Eng an den Mündigkeitserwerb sozialräumlichen Lernens gebunden ist die produktive Auseinandersetzung mit den Ebenen des relationalen Sozialraums: Dabei ist es notwendig, den Sozialraum der Zivilgesellschaft – wie ihn Gramsci zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gesetzt hat – als Referenzpunkt eines sozialräumlichen Lernens zu denken, diesen Raum jedoch stets in Beziehung zu einem komplexen Gemeinwesen zu setzen, um den Ebenen des Sozialraums in ihren Verschränkungen hinreichend gerecht werden zu können. Nur auf diese Weise schafft es das Lernsetting, Gesellschaft in all ihrer Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit und Unschärfe als reale Vielfalt an Wahrheiten erfahrbar zu machen. Dazu zählen auch das Anerkennen und Verstehen bestehender Machtordnungen. Wenn mündiges Lernen an Reflexion und Handlungsfähigkeit gebunden ist und eine demokratische Mitgestaltung des gesellschaftlichen Raums forciert, dann gilt Ernesto Lauclaus und Chantal Mouffes (2015 [1985]) Verständnis demokratischer Politik auch als Basis eines Demokratielernens in einer demokratischen Gesellschaft: „Die wichtigste Frage demokratischer Politik lautet deshalb nicht, wie Macht zu eliminieren ist, sondern wie Machtformen zu konstituieren sind, die mit die mit demokratischen Werten vereinbar sind. Die Existenz von Machtverhältnissen und die dringende Notwendigkeit, sie zu transformieren, anzuerkennen, während man auf die Illusion, dass wir uns vollständig von Macht befreien könnten, verzichtet […].“ (Laclau/Mouffe 2015 [1985], S. 25)
An mündiges Lernen ist daher gleichzeitig eine Möglichkeit der Selbstbemächtigung gebunden – etwas verstehen zu können, etwas hinterfragen zu können, etwas aussprechen zu können oder aber auch etwas ändern zu können. Sozialräumliches Lernen öffnet den Raum des Lernens in die Community des Gemeinwesens und trägt
5.2 Sozialräumliches Lernen als Kritische Pädagogik der Praxis
219
alle Fragen und zugleich alle Antworten über die Struktur des Sozialraums in sich. Auch bietet sozialräumliches Lernen einen öffentlichen Raum, um die sich im Lernen entwickelnde Sprache zu nutzen, damit der eigenen Stimme Gehör verschafft werden kann. „Sprache wird in diesem Sinne verstanden als Befähigung der Aneignung und Gestaltung von Welt, als Medium des Lernens, Verlernens, Umlernens, Neulernens.“ (Peterlini 2016, S. 9) In Anbetracht der Komplexität einer Gesellschaft der Vielfalt, in welcher sich Sprache formiert und zugleich handlungstragende Grundlage bilden soll, muss darauf verwiesen werden, dass Mündigkeit kein allumfassendes Wissen produzieren kann. Vielmehr geht es – ganz im Sinne des Sokrates-Zitates – darum zu wissen, wann Wissen fehlt, um von einer allgemeinen Wahrheit sprechen zu können. Ähnlich verhält es sich mit dem sozialräumlichen Lernen: Es wird nie sämtliche Facetten des Sozialräumlichen offenbaren können, es zeigt stets nur Ausschnitte und die Frage, wie allumfassend diese Ausschnitte zu neuem Wissen zusammengefügt werden können, ist eine Frage, deren Lösung im Individuum selbst liegt. Sozialräumliches Lernen entspricht daher auch einer Form des exemplarischen Lernens. Diese Form des Lernens ermöglicht es, einen Sachverhalt innerhalb einer LernendenCommunity zu erschließen und bindet dadurch die Beschreibung der Situation über unterschiedliche Perspektiven ein. Zugleich ermöglicht es, den Sachverhalt von seinen Ursprüngen bis hin zu seinen Nebenfolgen zu eruieren und ihn darüber innerhalb seiner Figurationen und Interaktionen differenzierter bewerten zu können. Im sozialräumlichen Lernen liegt die Chance auf ganzheitliches Lernen, welches es erleichtert, andere und neue Situationen über das sozialräumlich erworbene Denken leichter zu fassen. Oskar Negt (2016 [1971]) stellt das exemplarische Lernen daher auch die Nähe des durch C. Wright Mills Konzept der Soziologischen Phantasie als Form eines mündigen Denken und Handelns in sozialräumlicher Praxis. Die Soziologische Phantasie versucht die Struktur der modernen zu entschlüsseln Gesellschaft (Mills 2016 [1959], S. 26), damit die Vielfalt der Zweiten Moderne resp. Postmoderne in ihren Ansätzen leichter zu dechiffrieren ist. Die Soziologische Phantasie ist zugleich ein community-orientiertes Denken und Fragen, indem sie versucht, die Probleme und Herausforderungen des einzelnen Menschen über eine sozialräumlich geteilte Praxis in ein öffentliches Thema zu transferieren. So kann aus dieser Öffentlichkeit ein Diskurs wachsen, welcher diese menschlich geteilte Praxis kritisch hinterfragt, wodurch das private Problem eine kollektive Gestalt annimmt. Denn „das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx 1988 [1845], S. 199). Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Vernachlässigung und Negierung des Individuums wie in der Marx-Kritik formuliert. Marx Position findet durch Hannah Arendt (2016 [1958]) Ergänzung:
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Nachhaltigkeitstransfer | Subjekt- und Strukturorientierung
„Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allen Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allen Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“ (Arendt 2016 [1958], S. 214) Die gemeinsame Relation, Reflexivität und Praxis des menschlichen Wesens wird über den Sozialraum gebildet. Bei Hannah Arendt findet das Sozialräumliche seine Entsprechung in der „menschlichen Bedingtheit“; marxistische Theorie begreift die sozialräumliche Praxis unter anderem über das Konzept der „menschlichen Praxis“. Ein Denken sowie ein daraus folgendes Handeln innerhalb dieser Verwobenheiten – egal ob man diese als menschliche Bedingtheit, menschliche Praxis oder Sozialraum bezeichnet – kann über die Vorstellung der Soziologischen Phantasie beschrieben werden und findet in dieser ihren Ausgangspunkt. Soziologische Phantasie kann daher über ein bewusstes Lernen im Sozialraum angeregt und vertieft werden – als Konglomerat verschiedenster Kompetenzen und Fähigkeiten, wie sie durch das der Arbeit zugrundeliegende Kompetenzmodell beschrieben werden können, ist sie dem Menschen als sozialem Wesen in individuell beschreibbaren Maße angeboren. Soziologische Phantasie gilt es über Bildung und Unterricht zu stärken. So könnte man auch auf Adornos stilistische Frage „Erziehung – wozu?“ die Soziologische Phantasie als Konkretisierung von Mündigkeit setzen und den Weg dorthin methodisch-didaktisch über das sozialräumliche Lernen als kritische Reflexion und Handlung innerhalb einer sozialräumlichen Praxis beschreiben. Damit ergebe sich eine „Wahrheit“ aus einem abgeleiteten Theorie-Praxis-Transfer, die weitere „Wahrheiten“ fordert, um zu einer mündigen Lerntheorie wachsen zu können.
5.3
Zwischenfazit IV
Aufgrund der bedingten Verflechtung zwischen Subjekt- und Strukturebene kann ein Lernansatz, der sich – wie das sozialräumliche Lernen – aus der gesellschaftlichen Bedingtheit bzw. Praxis speist, nie nur ein subjektorientierter Weg des Lernens sein. Die in diesem Kapitel zu Beginn vorangestellte Forschungsfrage nach den Nachhaltigkeitsaspekten des sozialräumlichen Lernens umfasst daher auch mögliche Auswirkungen auf Prozesse der Vergesellschaftung. Da die dem sozialräumlichen Lernen zugrundeliegende Kompetenzorientierung sich von der Ebene der Bewusstwerdung über die Reflexion hin zur Gestaltung und Transformation entwickelt, ist davon auszugehen, dass ein sozialräumlich fundiertes Lernen eine potentielle Handlungs- und Gestaltungswirkung in sich trägt. Denn wie die Arbeit an verschiedensten Stellen bereits beschrieben hat, formieren Handlungen sozialräumliche Strukturen. Daraus entwickelt sich eine Wechselwirkung zwischen Sozialraum als
5.3 Zwischenfazit IV
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Ausgangspunkt des Lernens und Handlungen als Gestaltungskraft sozialräumlicher Strukturen. Das Kompetenzmodell eines sozialräumlichen Lernens beschreibt aufbauend auf den Koordinaten einer „Gesellschaft der Vielfalt“ den Entwicklungsprozess der Mündigkeit. Über die beschriebene Prozesshaftigkeit verfolgt das sozialräumliche Lernen demnach einen konkreten Ansatz der Emanzipation als selbstgesteuerten Weg der Selbstbemächtigung. Dabei ist jedoch eine Befreiung aus Abhängigkeit nicht möglich. Eine Ablösung aus sozialräumlichen Relationen bzw. aus sozialräumlicher Reflexivität wird es nie für niemanden geben; selbst der Weg in die äußere Einsiedelei oder der in die innere Emigration generiert keine Loslösung aus der sozialräumlichen Struktur, in welcher der Mensch sozialisiert wurde und welche bereits vor seiner Geburt über das Handeln anderer Menschen in ihrer spezifischen Form gewachsen ist. Diese abhängige Verkettung lässt sich über den Prozess der Emanzipation nicht lösen. Die generelle Frage – speziell für die Bildungswissenschaft – lautet daher, warum es dennoch ein mündiges Lernen im Prozess dieser „abhängigen Emanzipation“ braucht. Dabei müssen über das Konzept des Sozialraums zwei Pole anerkannt werden, die im scheinbaren Widerspruch stehen und dennoch nur gemeinsam gedacht werden können: Es existiert eine sozialräumliche Abhängigkeit, welche aber zugleich die Grundlage einer sozialräumlichen Emanzipation bildet. Die sozialräumliche Emanzipation, die sich über den prozesshaften, mündigen Kompetenzerwerb generiert, erkennt und anerkennt eben jene sozialräumliche Abhängigkeit. Aus diesem Erkenntnisprozess wächst jedoch zugleich die Verpflichtung eines mündigen Handelns, die auf einer grundlegenden solidarischen Verbundenheit mit anderen Menschen basiert. Schaffen es Bildung und Unterricht sich davon zu lösen, dass Begriffe wie „Solidarität“ und „Emanzipation“ semantisch geprägt wurden, aber dennoch das Wesen einer Gesellschaft der Vielfalt beschreiben, schaffen sie ein Bewusstsein und eine Unterrichtspraxis, welche Bildungsprozesse über bestehende Strukturen in einer vertiefende Mündigkeit überführen können. Das Individuum selbst hat in Lernprozessen wie dem sozialräumlichen Lernen die Möglichkeit zu bestimmen, wie es handeln wird – jedoch basiert das Handeln auf dem grundlegenden Bewusstsein, dass jede Handlung sich aus einer sozialräumlichen Abhängigkeit speist und neue sozialräumliche Strukturen und Abhängigkeiten generiert. Ein sozialräumliches Lernsetting diktiert keine Handlungsrichtung, vielmehr schafft es die notwendigen Bedingungen, damit das Individuum sich seiner sozialräumlichen Bedingtheit und Praxis bewusst abhängig emanzipieren kann.
6
Nachhaltigkeitstransfer | Implementierung
6.1
Hemmende und fördernde Faktoren einer Implementierung
6.1.1
Personelle Faktoren auf Mikroebene
Um den Mindestanforderungen guter Projektarbeit gerecht zu werden, gilt danach zu fragen, wann und unter welchen Bedingungen sozialräumliches Lernen verankert werden kann und auch kritisch zu konstatieren, warum diese Verankerung gegenwärtig einen schwierigen Weg abbilden würde. Dieses Kapitel greift daher die vierte Forschungsfrage auf und sucht entsprechender Antwort: Welche Aspekte behindern bzw. fördern die Implementierung sozialräumlichen Lernens?
Die Antworten wachsen aus der praktischen Begleitung des Promotionsvorhabens über berufspraktische Kontexte und beziehen diese auf theoriegeschichtliche und wissenschaftstheoretische Forschungen einer durch den Sozialraum bestimmten Gesellschaft der Vielfalt. Um mit einem Blick auf Handlungsempfehlungen und abgeleitete Handlungsschritte das sozialräumliche Lernen in der Praxis verankern zu können, teilt die Arbeit hemmende und fördernde Faktoren mit Blik auf die gesellschaftlichen Ebenen auf. Warum dieser Schritt? Dem Wunsch einer Implementierung folgend lässt sich anhand einer sich daraus ergebenden Dreiteilung eine bessere Anbindung der sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen ableiten. Während die Didaktische Forschung noch größtenteils auf der Mikroebene forscht, betrachtet die Politikwissenschaft vorrangig die Makroebene. Soziologie, Bildungswissenschaft und © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_6
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6
Nachhaltigkeitstransfer | Implementierung
Sozialpsychologie agieren auf der Mesoebene bzw. schaffen sie eine Verbindung zwischen Subjekt- und Strukturorientierung. Gleichzeitig wird in dieser Dreiteilung deutlich, dass Faktoren der Makroebene die jeweils anderen Ebenen determinieren und dass, selbst wenn auf Mikroebene nur fördernde Faktoren wirken, ein hemmender Faktor der Makroebene die Implementierung nachhaltig blockieren kann. Daher kann diese Arbeit, welche an die Didaktischen Forschung angebunden ist und aus Erfahrungen des Sozialraums erwächst, nie nur eine bildungswissenschaftliche Arbeit sein, da sie über den eigentlichen Gegenstand auch einen Appell an bildungspolitische Akteur*innen in sich trägt – und auch diese brauchen für ihr Handeln das Verständnis zu mikrosoziologischen Einflussfaktoren, mit denen dieses Kapitel nun beginnen wird: Reflexive Handlungsfähigkeit Wie Abschnitt 4.2.3 gezeigt hat, liegen die Grundlagen dieser für das berufliche – aber auch das private – Leben zentralen Kompetenz in der von Scott Lash (1996) getroffenen Zweiteilung zwischen struktureller Reflexivität und SelbstReflexivität. Aus dieser Zweitteilung heraus wird zudem deutlich, weshalb die reflexive Handlungsfähigkeit einen zentralen Faktor der erfolgreichen Implementierung eines sozialräumlichen Lernens abbildet. Als Lernprozess zwischen innerer und äußerer Realität (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015) beschreibt sie das Lernen in Auseinandersetzung zwischen innerem Raum des Individuums und äußerem Raum der Umwelt. In der Verschränkung beider Perspektiven sowie im Austausch mit anderen Praktiker*innen, die gleichfalls im Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung gebunden sind, entwickelt sich der relationale Sozialraum. Dessen Beschreibung und Analyse erfolgt im Kontext einer reflexiven Handlungsfähigkeit als sozialräumlich gebundener Kompetenz. „Reflexive Handlungsfähigkeit in der Arbeit heißt, im Prozess der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle von Arbeitsaufgaben sowohl über die Strukturen und Umgebungen als auch über sich selbst zu reflektieren. […] Reflexive Handlungsfähigkeit zeigt insgesamt das Vermögen, durch Lern- und Reflektionsprozesse vorgegebene Situationen und überkommene Sichtweisen zu hinterfragen, zu deuten und in handlungsorientierter, kompetenzbasierter Absicht zu bewerten.“ (Dehnbostel 2014, S. 27)
Damit beschreibt Peter Dehnbostel die Aufgaben der Lehrenden jenseits der reinen Bildungsarbeit innerhalb der Schule; der Ansatz ist auf alle Berufsbilder und -professionen übertragbar. Er zeigt jedoch zugleich, dass in diesem Verständnis von „etwas Können“ sich die Grenzen zwischen Berufsrolle und weiteren Rollen
6.1 Hemmende und fördernde Faktoren einer Implementierung
225
vermischen. Alternativ lässt sich diese Kompetenz auch über einen literarischen Brecht-Auszug beschreiben: Me-tis Schüler Do verfocht den Standpunkt, man müsse an allem zweifeln, was man nicht mit eigenen Auge sehe. Er wurde wegen dieses negativen Standpunktes beschimpft und verließ das Haus unzufrieden. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück und sagt auf der Schwelle: Ich muss mich berichtigen. Man muß auch bezweifeln, was man mit eignen Augen sieht. Gefragt, was denn dem Zweifeln eine Grenze setzte, sagte Do: Der Wunsch, zu handeln. (Brecht 1995 [1940], S. 137)
Möglicherweise wird an diesem – an Platons Höhlengleichnis angelehntem – Zitat die implementierende Wirkung der reflexiven Handlungsfähigkeit als fördernder Faktor noch deutlicher: Bleibt man im vierteiligen prozesshaften Schritt eines mündigen Lernens beschreibt die reflexive Handlungsfähigkeit auch den Prozess der „Handlung und Gestaltung“. Das würde bedeuten, dass Lehrende – und weitere Akteur*innen der Community of Practice – mit ausgebildeter reflexiven Handlungsfähigkeit neben der Situationsanalyse des Sozialräumlichen diese bewusst in eine Handlung überführen können. In Bezug auf das sozialräumliche Lernen steht dabei zunächst die Benennung fördernder Lernziele und hemmender Umsetzungsfaktoren eines sozialräumlichen Lernens im Vordergrund; wobei die Benennung bereits als konkrete Handlung zu verstehen ist und weitere Handlungsprozesse anstoßen kann, welche dann im besten Falle in den Prozess der „Modifikation und Transformation“ überleiten. Dabei ist natürlich stets zu bedenken, dass gerade das sozialräumliche Lernen fächerübergreifende Kompetenzen wie eine reflexive Handlungsfähigkeit fördert. Sollte also innerhalb einer Schulkultur das sozialräumliche Lernen in seinen unterschiedlichsten Facetten Verankerung finden, dann werden die sozialräumlichen Akteur*innen im Optimalfall konsequenter diese Fähigkeit anwenden, um hemmende Faktoren einer Implementierung zu beseitigen: Die Fähigkeit der reflexiven Handlungsfähigkeit lässt sich auf diese Weise stärken; der Lerngewinn innerhalb der sozialräumlichen Lernsituation kann erhöht werden. Aber auch reflexive und regressive Nebenfolgen werden konkreter offengelegt, wodurch sich möglicherweise bisher unwissende Problemkausalitäten ergeben, deren Bewältigung weitere Ressourcen bindet. Dessen muss sich eine Lern-Community bewusst sein, um sich dennoch – oder gerade deshalb – für sozialräumliches Lernen als Lernform zu entscheiden.
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Nachhaltigkeitstransfer | Implementierung
Lernbegleitung & Resonanz Auch wenn Hartmut Rosa (2016) seine Resonanztheorie als „Soziologie der Weltbeziehungen“ entwickelt, ist die Resonanz zunächst ein Moment, der sich vom Individuum auf andere Individuen überträgt und daher auf Subjektebene zu verorten ist. Resonanz setzt dort als zwischenmenschliches Prinzip im schulischen Lernprozess an, wo eine makrosoziologische Ökonomisierung von Bildung auf Beschleunigungsprozesse sowie auf eine bürokratisierte Gouvernementalität trifft. Die Folgen dieser makrosoziologischen Trias werden auf Mikro- und Subjektebene durch Entfremdungserscheinungen deutlich. Eine resonante Lernbegleitung kann an dieser Stelle der Entfremdung entgegenwirken, wie es Rosa im Kapitel V. seiner Resonanztheorie beschreibt (Rosa 2016, S. 246–328). Wenn man Becks Individualisierungstheorie auf den Verlust kollektiver Einbindungen des Individuums reduzieren möchte, woraus die eigentliche ambivalente Freiheit der Moderne erwächst, dann ist die resonante Lernbegleitung die bewusste, pädagogisch intendierte und methodisch-didaktisch verankerte Antwort der Bildung auf diese Realität einer Gesellschaft der Vielfalt. Wie aber der Jenaer Soziologe zu Recht anmerkt: „Resonanz bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung aber ist ihre Realität [Hervorhebung im Original kursiv und an dieser Stelle entfernt, Anmerkung CK].“ (Ebd., S. 624) Daher müssen durch die einzelnen Lehrenden bewusst Entscheidungen getroffen werden, trotz und wegen der makrostrukturellen Bedingungen, die Lernbegleitung auf eben jene Resonanzerfahrungen auszurichten. Ihre Entscheidung wird speziell dann Realisierung finden, wenn sie im Schulkollegium auf „Resonanz treffen“ und die Bildungspolitik – gemeinsam mit der Wissenschaft – die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schafft. Denn „selbst das, was als Resonanzsimulation [im Original kursiv, Anmerkung CK] beginnt, kann jederzeit in die spontane Herausbildung des vibrierenden Drahtes münden“ (ebd. S. 625). Das sozialräumliche Lernen in seiner genuinen Form fordert die Resonanzsimulation innerhalb der sozialräumlichen Community of Practice, wodurch es letztendlich zu einer wechselseitig gefühlten resonanten Lernbegleitung kommen kann. In Fortführung Rosas Resonanztheorie beschreibt Jens Beljan (2017) das Wesen der resonanten Lernbegleitung: Die pädagogische Haltung der Lehrkraft schafft die Basis gelingender Selbstwirksamkeitserfahrungen, welche – um das mündige Lernen innerhalb des Sozialraums einzubinden – die Grundlage bilden, um nach dem Erkennen und Reflektieren einer Situation in die Prozesse der Handlung und Transformation zu wechseln. Der Weg einer „abhängigen Emanzipation“, wie sie sich über Lernen und Bildung innerhalb und außerhalb schulischer Sozialräume vollzieht, ist auch hier ein interdependenter, ein machtvoller Prozess. Nur trägt dieser Weg aus macht-sensibler Perspektive Macht als Kraft in sich und formt diese Macht über die resonante Lernbegleitung in einer produktive Kraft um. Dabei bildet die
6.1 Hemmende und fördernde Faktoren einer Implementierung
227
Bereitschaft der gegenseitigen Wertschätzung eine Grundlage, um vorhandenen Entfremdungssituationen – die trotz gelungener Resonanz stets auch Bildungsprozesse prägen – etwas entgegenzusetzen. Besonders im sozialräumlichen Lernen, einer Situation, welche externe Akteur*innen in den Lernprozess integrieren will, werden Entfremdungen als „das Unbekannte“ und „das Neue“ Einfluss auf das Lernen nehmen. Im Interview zwischen Wolfgang Endres und Hartmut Rosa (Rosa/Endres 2016) bildet Vertrauen als Basis der Resonanzzonen ein eigenes, für sich stehendes Kapitel ab: „Das geschenkte Vertrauen verstärkt sich selbst. Vertrauen ist eine Ressource, die sich durch ihren Einsatz vermehrt.“ (Ebd., S. 87) Rosa bindet dabei Vertrauen stets auch an Verantwortungsübernahme; schaffen es also Lehrkräfte, Verantwortung im sozialräumlichen Lernen auch an Lernende und Externe abzugeben, wirken sie damit vertrauensschaffend und legen über dieses Prinzip die Basis für ein resonantes Miteinander. Das Prinzip der Resonanz im sozialräumlichen Lernen wirkt jedoch auch in seiner Umkehrung: repulsive und stumme Resonanzbeziehungen des Sozialräumlichen können über das Lernen selbst erfahren und reflektiert werden. Hierbei müssen nicht die Lehrkräfte zur „Stimmgabel“ werden, sondern es können weitere Mitglieder des community-basierten Lernens sein, die innerhalb des Sozialraums – bewusst und unbewusst – aufzeigen, wann und warum es zum Verstummen der Weltbeziehungen kommt. Diese Erfahrung einer stummen Resonanzbeziehung über das sozialräumliche Lernen kann somit zum eigentlichen Erfahrungs- und Lerngegenstand selbst werden, der aus der Situation heraus in die Reflexion zu überführen ist. Möglicherweise sind es sogar eben jene nicht-resonanten Erfahrungen, welche den größten Irritationsfaktor generieren, um über die wahrgenommene Ambivalenz die Irritation als Lernprozess zu lösen. „Das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Beunruhigung, einem Staunen, einem Zweifel [Hervorhebung CK]. Es ist kein Akt spontaner Entladung, es vollzieht sich nicht nach ‚allgemeinen Gesetzen’“. (Dewey 2002 [1910], S. 15) Wichtig ist es dann, die Lernenden mit der Beunruhigung und ihrem Zweifel nicht allein zu lassen, sondern ihnen die Begleitung – das Essentielle der pädagogischen Arbeit – anzubieten. Entfremdung & Verinselung Das Prinzip der Entfremdung wurde innerhalb der Pädagogik bereits 1994 über die Erscheinung des „verinselten Lebensraums“ beschrieben (Zeiher 1994; Zeiher/Zeiher 1994). Aufgrund dessen, dass kindliche und jugendliche Lebensräume resp. Sozialräume im Zuge einer Reflexiven Modernisierung immer funktionsgebundener werden, verlieren Sozialräume ihren heterogenen, verbindenden Charakter. Sozialräume werden über Prozesse der Segregation und Gentrifizierung
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stattdessen immer stärker habitusgebunden. Zwischen Kindern und Jugendlichen verschiedener sozioökonomischen Schichten wächst eine sozialräumliche Kluft, die auch als Entfremdung des Menschen vom Menschen (vgl. 1968 [1844]) sowie als Beziehung der Beziehungslosigkeit (vgl. Jaeggi 2016 [2005]) gewertet werden muss. Damit verbunden ist eine zwischen den Lebens- und Sozialräumen entstehende Lücke des Wissens, eine Auflösung der solidarischen Verbundenheit sowie ein Verlust der wechselseitigen Empathie bzw. Resonanz. Als Nebenfolge werden soziale Spaltungen begünstigt. „Der verinselte individuelle Lebensraum besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln in einem größer gewordenen Gesamtraum verstreut sind, der als ganzer bedeutungslos und weitestgehend unbekannt bleibt.“ (Zeiher 2014; S. 363) Was Helga Zeiher als Art „blinden Fleck“ beschreibt, bildet eine Ursache für die Risikohaftigkeit einer Gesellschaft der Vielfalt ab. Nicht-Wissen in all seinen Formen und Erscheinungen erwächst aus dieser mikrosoziologischen Verinselung resp. Entfremdung und führt zu gefährlichen makrosoziologischen Nebenfolgen. Dabei ist es eben jenes sozialräumliche Lernen, welches über die Institution „Schule“ und über das Lernen die verinselten Lebensräume verbinden und neu justieren könnte. Wolfgang Mack & Joachim Schroeder (2005) argumentieren, dass eine Trennung zwischen Schule und Sozialraum eine notwendige Voraussetzung darstellt, um gesellschaftliche Unterschiede innerhalb der Schule auszugleichen. Aber im Sinne eines mündigen Lernens und einer Reaktion auf Entfremdungs- und Verinselungserscheinungen ist es eben jene Grenze, die über ein sozialräumliches Lernen abgebaut werden muss, um beginnend mit dem Schritt der „Inklusion & Partizipation“ den Lernenden das Recht auf ein „relatives Gleichsein“ einzuräumen. Das Bewusstsein um diese Kausalitätskette bildet einen fördernden Faktor zur Implementierung eines sozialräumlichen Lernens ab. Möglicherweise sind es dann auch die eigenen Entfremdungserfahrungen der Lehrenden, die als Alltagserfahrungen auf die Gestaltung der Arbeitsebene Einfluss nehmen. Letztendlich geht es dabei auch um individuelle Strategien der Aneignung und Anverwandlung, um als Lehrender das eigene Verständnis von Welt und Selbst neu zu bestimmen. Ist dieses stark auf den begrenzten Sozialraum der Schule ausgerichtet und wirken strukturelle Rahmenfaktoren hemmend, dann wird ein sozialräumliches Lernen nur schwer Umsetzung finden. Daher gilt es, um bei Lehrenden für eben jene Form des Lernens zu werben, an die individuellen Erfahrungen von Entfremdung und Verinselung zu appellieren, will man auf Subjektebene die Bereitschaft einer Implementierung fördern.
6.1 Hemmende und fördernde Faktoren einer Implementierung
6.1.2
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Personelle und strukturelle Faktoren auf Mesoebene
(Demokratische) Schulkultur Wenn eine Resonanz-Beziehung durch Vertrauen gekennzeichnet ist (vgl. Rosa/Endres 2016), dann bildet Vertrauen auch die Basis einer fruchtbaren Schulkultur – Anverwandlung zwischen Menschen sowie Aneignung als produktive Auseinandersetzung mit Strukturen und Menschen beleben eine Schulkultur und lassen sie lebendig werden. Erinnert man sich, dass Schule im Sinne von Anthony Giddens (1997 [1993]) auch als „Machtbehälter“ definiert werden kann, dann lohnt der macht-sensible Blick auf eben diese Schulkultur, um die Frage zu klären, wie sie hemmend oder fördernd die Implementierung eines sozialräumlichen Lernens beeinflusst. Dabei ist „Macht“ mit Blick auf die Figurations-Ebene des zugrundeliegenden Sozialraum-Modells nicht per se „schlecht“, sondern als gesellschaftlicher „Normalfall“ zu begreifen, den es in seiner Struktur innerhalb des Sozialraums zu beschreiben gilt. Im Rekurs auf Michel Foucault (1995 [1976]) kann Macht als komplexe, strategische Situation auf gesellschaftlicher Ebene definiert werden (ebd., S. 114). Übertragen auf die Schulkultur als „embryonic society“ (Dewey 2007 [1899]) – als eine Gesellschaft im Werden – sind eben jene komplexen, strategischen – oder eben auch reflexiven – Situationen ausschlaggebend, ob trotz makrosoziologischer, hemmender Faktoren das sozialräumliche Lernen seine Implementierung finden kann. Aus Schulkulturtheorie-Sicht bezieht Werner Helpers (2015) mit einem Verweis auf die Arbeiten von Thomas Ziehe (vgl. Ziehe/Stubenrauch 1982; Ziehe 1991a, 1991b, 1996, zit. nach Helsper 2015, S. 449) die gesellschaftliche Makroebene und deren Erscheinungs- und Entwicklungstendenzen in die Formierung der Schulkultur auf Mesoebene ein. Indem die „Schulkulturen verschiedene schulkulturelle ‚Antworten‘ auf die jugendlichen Modernisierungsambivalenzen geben“ (Helsper 2015, S. 449), lassen sich aus der Formung der Schulkultur zugleich gesamtgesellschaftliche Gestaltungsimpulse ableiten. Die Wechselseitigkeit zwischen der „Gesellschaft im Werden“ und der gegenwärtig erlebten Gesellschaft ist über das Prinzip der Bildung als Prozess der individuellen Entwicklung zwischen innerer und äußerer Lebenswelt begründbar. Gesellschaft prägt und formt die Prozesse der Ich-Individuation sowie der Vergesellschaftung; zugleich schafft mündiges Lernen als Bildungsziel die Basis gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Aus diesem Verständnis heraus plädiert die Demokratiebildung auch für eine bewusste Sensibilisierung für Schulkultur als demokratiebildenden Prozess. Dabei stehen vor allem die situierten Praktiken aus denen heraus eine Schulkultur gebildet wird im Mittelpunkt:
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„Schulkultur bedeutet eine in jeder Schule besondere Konstellation von Überzeugungen, Normen und Wertvorstellungen, die vermittelt über die Kommunikationsund Interaktionsprozesse die Organisation und Struktur prägen. Schulkultur ist eine das demokratische Lernen und Handeln aller an Schule Beteiligten umfassend beeinflussende Variable.“ (LISUM 2010, S. 30)
Der über Erfahrungen der praktischen und theoretischen Demokratiebildung entwickelte Katalog zu „Merkmalen demokratischer Schulen“ (Landesinstitut für Schule und Medien Berlin – Brandenburg, LISUM 2010) bezeichnet die Schulkultur als wichtigen Qualitätsbaustein einer demokratischen Schule. Als unumgängliche situierte Praxis eines sozialräumlichen Lernens werden über die Ausgestaltung der Schulkultur bereits Werte und Normen, aber auch fächerübergreifende Kompetenzen trainiert. Die bewusste Gestaltung einer inklusiven und partizipativen Schulkultur setzt einen reflexiven, emanzipatorischen Prozess des Lernens voraus, welcher alle Beteiligten der Schule als Community of Practice begreift und den absoluten Raum der Schule in einen relationalen überführt. Diese Form des lernenden Gestaltens einer gemeinsamen Schulkultur fördert das kritische Denken, aber zugleich das Erleben resonanter, anverwandelnder resp. aneignender Lernprozesse. Dabei werden Machtbeziehungen bewusst gemacht und – notwendiger Weise auch als Reaktion auf Nebenfolgen – kritisch hinterfragt. Eine demokratische Schulkultur impliziert demnach stets auch eine machtsensible Perspektive. Nur aus dieser Perspektive heraus lässt auch das Bestreben nach Inklusion als Verringerung exkludierender Faktoren umsetzen. Diese Schulkultur erkennt Macht als komplexe, strategische Situation (Foucault 1995 [1976]) ihrer „Gesellschaft im Werden“ (Dewey 2007 [1899]) an, bemächtigt jedoch alle Sozialraum-Akteur*innen darin, diese Figuration zu erkennen und zu benennen. Dabei wird innerhalb der demokratischen Schulkultur der Sozialraum als Erfahrungsraum nicht allein auf den absoluten Raum der Schule begrenzt, vielmehr fordert eine demokratische Schulkultur die Öffnung in den Sozialraum des Gemeinwesens hinein und plädiert damit über ihr Selbstverständnis für ein sozialräumliches Lernen: „Demokratische Schulkultur schließt eine Öffnung der Schule zum Gemeinwesen mit ein. Ziel ist es, die Partizipation über die Schule hinaus in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Zivilgesellschaft einzuüben und sinnvolles Handeln in der sozialen Welt mit der Aufklärung des Handlungskontextes im projektbegleitenden Unterricht zu verknüpfen.“ (LISUM 2010, S. 30)
Mit dieser bewussten Öffnung in den Sozialraum hinein formiert die Schulkultur zum Bindeglied zwischen mikro- und makrosoziologischen Faktoren und verknüpft die Subjekt- mit der Strukturebene. Über eben jene Schnittstellenfunktion lassen
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sich fördernde Faktoren der Mikroebene trotz übergreifender hemmender Faktoren der Makroebene produktiv für die Implementierung eines sozialräumlichen Lernens einsetzen. Lokale Bildungslandschaften Anknüpfend an die Betrachtungen eines fördernden Einflusses einer demokratischen Schulkultur sind es eben jene Kooperationen im geöffneten relationalen Raum der Schule, welche entgegen makrosozialogischer Hemmnisse die Implementierungen eines sozialräumlichen Lernens tragen können. Denn Bildungslandschaften im Sinne lokaler bzw. regionaler Bildungsstrategien können alternative strukturelle Bedingungen schaffen, worüber Entfremdungs- und Beschleunigungstendenzen sowie einer chronische Unterfinanzierung des Bildungssektors entgegengewirkt werden kann. Was für die Berufsorientierung bereits ein gängiges Prinzip darstellt – „Gute Übergänge erfordern nicht angegrenzte Bildungsanstalten, die als soziale Systeme nacheinander durchlaufen werden, sondern Vernetzung zwischen diesen Systemen.“ (Eckert 2017, S. 18) – bildet für den schulischen Bildungs- und Sozialisationsprozess ein produktives Prinzip der Synergiebildung ab. Die Idee der Bildungslandschaft trägt diesen Gedanken fort. „Als wesentlicher Aspekt bei der Entwicklung von Bildungslandschaften erweist sich ihr Potential, die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu verbessern und die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen voranzutreiben.“ (Mindermann et al. 2012, S. 9) Während die lokale Bildungslandschaft ausgehend von Schule und Sozialraum gedacht und konzipiert wird, setzt das sozialräumliche Lernen als Bildungsprozess vom Individuum ausgehend an. Werden beide Konzepte miteinander verschränkt entwickelt, lässt sich sowohl die Bildungslandschaft als auch das methodisch-didaktische Lernkonzept stützen; wobei beide Prozesse nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Wenn das Konzept der Bildungslandschaft auch zeitliche Aspekte wie Bildungsbrücken – unter anderem in Form von Kooperationen zwischen Kita und Schule als Entlastungsansatz des bildungsbiografischen Transitionsprozesses – umfasst, liegt im Prinzip der Bildungskette bereits ein situativer Baustein des sozialräumlichen Lernens. Über sozialräumliche Erweiterungen verschiedenster Institutionen verbreitert sich zugleich der Lernraum der Community of Practice; Aneignung und Anverwandlung können im neu geschaffenen Lernsetting breiter greifen. Die lokale Bildungslandschaft selbst denkt dabei über die Institution der Schule hinaus und nimmt den Sozialraum als solchen in den Blick. Indem das Konzept das Gemeinwesen als lebendigen Sozialraum begreift und zugleich eine Planungs-
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sowie eine Professionsdimension umfasst (vgl. Stolz 2012), erfüllt die Bildungslandschaft als lernender Sozialraum den Anspruch einer reflexiven Modernisierung im Sinne Scott Lashs, da die Bildungslandschaft als Lern-Community sowohl die Selbst-Reflexivität als auch die strukturelle Reflexivität in ihr Analyseverständnis integriert. Jürgen Oelkers (2012) verweist auf das Potential der lokalen Bildungslandschaft als Grundlage einer reflexiven, mündigen Bildung. Der Schweizer Erziehungswissenschaftler beschreibt zudem die eingangs skizzierte Möglichkeit der auf Mesoebene verorteten Bildungslandschaft, um hemmende Faktoren der Makroebene auszugleichen: „Der Musikunterricht in den Zürcher Volksschulen ist klar unterdotiert. Ein Bildungsziel, dass eigentlich kein Kind die Schule verlassen dürfte, ohne ein Instrument spielen zu können, lässt sich nur in Kooperation mit den örtlichen Musikschulen realisieren, die ohnehin die musikalische Bildung weitgehend tragen. Was also läge näher, als sie am Curriculum der Schule zu beteiligen? Es gibt für die Form der Zusammenarbeit erste Beispiele in Zürcher Gemeinden, in denen Lernleistungen in dem einen Bereich in dem anderen verrechnet werden. Nur so kommt es zu mehr als zu einem unverbindlichen Miteinander.“ (Oelkers 2012, S. 43)
Damit veranschaulicht Oelkers die Möglichkeiten eines sozialräumlichen Lernens trotz hemmender Faktoren, die größtenteils durch Ressourcenprobleme gebildet werden. Die lokale Bildungslandschaft generiert über Synergien neue Ressourcen, welche sinnvoll „verrechnet“ das eigentliche Lern- und Bildungsziel stützen. Voraussetzung dafür bilden oftmals unbürokratische Lösungen, die eben aus jener Struktur der Bildungslandschaft heraus entstehen können; nämlich dann, wenn Bürokratie als entscheidungstragendes Gerüst in den Prozess eingebunden wird, Ziele versteht und mitträgt, um über „kurze Wege“ Bürokratie abzubauen. Die dafür notwendige Struktur ist „die Struktur eines Mehrebenensystems, in dem alle Beteiligten vorkommen: die Familien, die Kinder und Jugendlichen, die verschiedenen Behörden, die freien Träger und viele mehr“ (Sturzenhecker/Warsewa 2012, S. 60). Auch Benedikt Sturzenhecker und Günter Warsewa (2012) verweisen in ihrem Gespräch zu demokratischen Steuerungsstrukturen in Bildungslandschaften auf die Möglichkeit der Ressourcenbündelung: „Die einzige Chance, sich aus den großen Überforderungs- und Überlastungsproblemen zu befreien, ist genau das, was wir vorhin theoretisch umrissen haben, nämlich Ressourcen zu kombinieren. Entlastung kann nur erreicht werden, wenn man andere mitentscheiden und bestimmte Aufgaben erledigen lässt, die man sonst selbst erledigen müsste. Diese Art von Entlastung muss man allerdings zulassen und akzeptieren. Das
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geht eben nicht umsonst, sondern nur um den Preis, dass man anderen auch substanzielle Entscheidungsmöglichkeiten gibt und ihnen Beteiligungsrechte zubilligt.“ (Ebd., S. 71)
Das Konzept der Bildungslandschaft bildet somit einen komplexen Sozialraum ab, der gleichzeitig die der Arbeit zugrundeliegenden Ebenen impliziert: Situations-, Interaktions- und Figurationsebene werden über die aktive, reflexive und sich entwickelnde Bildungslandschaft berührt und angeschnitten; die Analyse der Ebenen und ihre jeweilige Verschränkung ist Gegenstand der Arbeit einer Bildungslandschaft, deren finale Aufgabe über ein informelles, mündiges Lernen im sozialen Raum gebildet wird. Unterricht über diese Bildungslandschaft zu denken und zu praktizieren, bildet nur einen weiteren Schritt dieser Idee ab – formiert aber zu jenem sozialräumlichen Lernen. Als Prozess ausgehend von der lokalen Ebene, als Bündelung der Ressourcen und Zusammenführung von Akteur*innen liegt in der lokalen Bildungslandschaft als Abbild des Gemeinwesens das Potential, um makrosoziologischen Prozessen Gestaltungs- und Transformationsformen entgegen zu setzen. Wenn also Ulrich Beck (2009 [2002]) die „advokatorische Bewegung“ als „Gegenmacht“ beschreibt, um legitime Forderungen des Sozialraums auch rechtlich zu legitimieren, dann ist es die lokale Bildungslandschaft, welche „von unten“ Impulse setzt, um diese an die (Bildungs)Politik weiterzugeben. Arbeiten in multiprofessionellen Teams Innerhalb der Schule formiert sich das komplexe Mehrebenensystem der lokalen Bildungslandschaft im multiprofessionellen Team. Neben den Professionen der Lehrenden und Schulsozialarbeiter*innen werden weitere Akteur*innen innerhalb und außerhalb der Bildungseinrichtung in die schulische Praxis eingebunden. Am Beispiel der „Inklusiven Universitätsschule Köln“ beschreibt der Didaktiker Kersten Reich (Reich et al. 2015) 10 Leitlinien, welche richtungsweise für das Gelingen dieser inklusiven Schulform sind. Unter Leitlinie 6 skizziert er dabei die Merkmale einer „Beziehungs- und Teamschule“; Ulrike Meier (2015) verweist dabei auf die besondere Rolle der Kommunikation innerhalb multiprofessioneller Teams. Demnach stellt die Kommunikation selbst einen stark bewussten Reflexionsprozess innerhalb der Community of Practice dar, welcher auf Inklusion und Partizipation innerhalb der CoP basiert und ins konkrete (transformative) Handeln überführen soll. Die größten Anforderungen an multiprofessionelle Teams bestehen in einer anfänglichen Überzeugungsarbeit, die vorhandenen Ressourcen der unterschiedlichen Professionen zu bündeln, sowie in der kontinuierlichen Bereitschaft, sich ergebende Widersprüche und Spannungen auszuhalten. Letztendlich bildet das multiprofessionelle Team in seiner stark reduzierten Struktur eine Gesellschaft der Vielfalt im Kleinen ab und wirkt – nochmals herunter gebrochen auf eine stark
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begrenzte Subjektebene – ebenso wie der schulische Sozialraum als „embryonic society“. Mit Blick auf eine agonistische Demokratiebildung (vgl. Mouffe 2016 [2014]; Schwarz 2017) offenbart das multiprofessionelle Team seine immanente Kraft im gegnerischen Aushandeln unterschiedlichster Zugänge und Positionen, wodurch die Vielfalt der Erfahrungen in ein produktives Ganzes überführt werden kann. Wird das Verständnis des multiprofessionellen Teams dabei auch im Sinne der lokalen Bildungslandschaft über den Sozialraum der Schule hinaus geöffnet, steigt die Vielfalt der Community – was natürlich auch das Komplexitätsniveau in seinem Herausforderungsanspruch erhöht, aber zugleich den potentiellen Lern- und Handlungseffekt verstärkt. Wesentlich für den Erfolg ist dabei die bewusste Darstellung aller Nebenfolgen-Konstellationen, die sich mit Öffnung des multiprofessionellen Teams verzweigen und letzten Endes auch den Sozialraum in seiner Komplexität abbilden. Die Arbeit innerhalb des multiprofessionellen Teams bildet damit für die Community-Mitglieder selbst bereits eine Form des sozialräumlichen Lernens ab. Zugleich lässt sich darüber der Prozess des eigentlichen sozialräumlichen Lernens mit den Lernenden der Klasse stärken – liegen doch Kausalitätsketten des sozialräumlichen bei guter Kommunikation innerhalb des multiprofessionellen Teams bereits offen im Bewusstsein derjenigen, die als Lernbegleiter*innen das sozialräumliche Lernen als Prozess stets auch steuern müssen; unabhängig davon, dass sie dabei natürlich stets auch Lernende bleiben. In diesem subjektorientierten Faktor der Mesoebene liegt eine große Chance, das sozialräumliche Lernen zu implementieren. Um die Kommunikation und sich daran anschließende Nebenfolgen als Ursachen und Wirkungen produktiv ins Team einzubinden, bedarf es jedoch einer bestimmten Systematik, die zu Teilen über eine gute Schulprogrammplanung abgedeckt werden kann. Schulentwicklung Dabei ist die Schulprogrammplanung ein wichtiger Baustein der Schulentwicklung und umfasst die methodisch-didaktische Formierung wesentlicher Lernziele in Auseinandersetzung mit curricularen Vorgaben und tatsächlichen strukturellen Rahmenbedingungen. Es soll gleich zu Beginn dieses Absatzes nicht verschwiegen werden, dass Schulentwicklung auch einen Prozess abbildet, der Verantwortung fordert – möglicherweise auch abdelegiert – und Ressourcen bindet. Hierbei steht die verantwortliche Weiterentwicklung der Schule im Fokus, wodurch in die jeweiligen Planungs- und Steuerungsprozesse auch alle Akteur*innen einzubinden sind. Derartige Prozess der Qualitätsentwicklung tragen jedoch die Gefahr einer
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Bürokratisierung und letztendlich auch das Risiko einer darüber ausgelösten Handlungsunfähigkeit in sich, denn final müssen die Schulen stets „Rechenschaft ablegen über das Erreichte“ (Rahm 2017). An dieser Stelle würden Prozesse der Anverwandlung und Aneignung sowie ein sozialräumliches Lernen über mangelnde bzw. fehlende Handlungsfähigkeit behindert werden. „Schule und Unterricht große Freude, aber dann schieben sich eben doch die Pflichtübungen in den Vordergrund, diese permanente Dokumentationspflicht und Transparenzpflicht und Berichtspflicht und Statistikpflicht und Sicherungspflicht und Schulungspflicht und Überwachungspflicht und Überprüfungspflicht – das alles hat ja einen unglaublich lähmenden Charakter. Und deshalb meine ich: Das Pflichtenpaket verhindert Resonanzen.“ (Rosa et al. 2018, S. 18)
Dennoch bildet ein Mindestmaß an fester und partizipativer Schulentwicklung einen fördernden Faktor sozialräumlichen Lernens ab. Die Schulentwicklungsforschung unterscheidet dabei zwischen Prozessen der Organisationsentwicklung, der Unterrichtsentwicklung und der Personalentwicklung (vgl. Rolff 2018). Dabei müssen die Ebenen in wechselseitiger Verschränkung analysiert und bearbeitet werden, denn „Stückwerk bedeutet demgegenüber Verschwendung [Hervorhebung des Originals entfernt, Anmerkung CK] von Energien und Synergien, von Geld und weiteren Ressourcen“ (ebd., S. 35). Die Schulentwicklungsforschung verweist hierbei auch auf einen übergreifenden Austausch zwischen innerer und äußerer Schulentwicklung (ebd., S. 37) – zwischen inneren und äußerem Sozialraum der Schule. Die zentralen übergeordneten Aufgaben einer Schulentwicklung liegen in der diagnostischen Bestandsaufnahme, welcher konkrete Ziele gegenüber gestellt werden sollten, über deren Inhalt zunächst jedoch ein gemeinsamer Konsens geschaffen werden muss. Besonders mit Blick auf Projekte oder einen projektorientierten Unterricht nimmt die Schulentwicklung eine zentrale Bedeutung ein, wird doch über entwickelte Planungs- und Steuerungsstrukturen das Management von Projekten deutlich vereinfacht – sofern Kompetenzen und Zuständigkeiten innerhalb des schulischen Teams bekannt und akzeptiert sind. Mit der Einbindung Externer in eine Form des sozialräumlichen Lernens zeigt sich, wie fest die zugrundeliegenden Prozessstrukturen in der jeweiligen Schulkultur verankert sind; vor allem dann, wenn Kompetenzen und Zuständigkeiten im eigentlichen Unterrichtsprozess sich in der sozialräumlich erweiterten Situation verschieben können. Denn letztendlich bedeutet Schulentwicklung auch Teamentwicklung und jenes muss in der Lage sein, Grenzen zu öffnen und neue Rollenformierungen zuzulassen. Die Basis dafür wird über einen gelebten Umgang mit Konflikten und Widerständen gebildet, der als produktiver Prozess der Realitätsverarbeitung die Schulentwicklung unterschwellig weiter vorantreibt. Zudem ist es Transparenz, welche eine Schulkultur in eine demokratische Schulkultur verwandelt,
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in welcher sozialräumliches Lernen wachsen und sich entwickeln kann. Der Faktor der zeitlichen Ressource, der den Faktor Kommunikationskultur bestimmt, steht dabei im engen Zusammenhang zu hemmenden Faktoren der Makroebene, welche im folgenden vertiefend beschrieben werden.
6.1.3
Strukturelle Faktoren auf Makroebene
Beschleunigung & Entfremdung „Athleten scheinen immer schneller zu rennen und zu schwimmen; fast food, speed dating, power naps und drive-through funerals [Hervorhebungen im Original kursiv, Anmerkung CK] demonstrieren unsere Entschlossenheit, das Tempo alltäglicher Handlungen zu beschleunigen; Computer rechnen mit immer höherer Geschwindigkeit, Transport und Kommunikation benötigen nur noch einen Bruchteil der Zeit, die noch vor einem Jahrhundert nötig war, die Menschen scheinen immer weniger zu schlafen (Wissenschaftler haben herausgefunden, daß die durchschnittliche Schlafdauer seit dem 19. Jahrhundert um zwei Stunden und seit den 1970er Jahren um 30 Minuten angenommen hat […]), und selbst unsere Nachbarn scheinen immer öfter umzuziehen.“ (Rosa 2013, S. 18 f.)
Auf diese Weise beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa ein wiederkehrendes Muster gesellschaftlicher Realität. Diese Muster haben entscheidende Auswirkungen auf Sozialräume: Auf Interaktions-Ebene werden Kommunikationsprozesse schneller, doch gleichzeitig Handlungen unverbindlicher. Im Zuge zunehmender Kommunikationsverzweigungen und -einbindungen kann eine auf die Kommunikation folgende Handlung der Diversität und Vielheit von Kommunikation nicht mehr äquivalent gerecht werden. Handlungen können demnach nicht mehr symmetrisch zur Kommunikation erfolgen, wodurch die Beziehung der Beziehungslosigkeit als Entfremdungserfahrung genährt wird. Das eigentliche Lernen in der Community, was auch als konkrete beziehungsbasierte Handlung verstanden werden muss, wird erschwert. Darüber wird es zunehmend komplizierter, die eigenen Abhängigkeiten und Figurationen im stetig wachsenden Interdependenzgeflecht zu erkennen, da Erkenntnis und Bewertung dieser Strukturen zudem an die Beziehungserfahrung zu Anderen gebunden sind. Das unzureichende Bewusstsein der wechselseitigen Interdependenz zwingt den subjektiven Wahrnehmungsfokus in eine individualisierte Perspektive, welche auf Situations-Ebene die biografische und historische Perspektive des jeweils Anderen nur all zu leicht negiert. Rosa bezeichnet dieses Phänomen als Weltentfremdung (vgl. Rosa 2013; 2016), an welche zugleich die Selbstentfremdung gekoppelt ist. Beschleunigung und Entfremdung bilden ein „teuflisches
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Konglomerat“, welchem daher gezielt eine Stärkung sozialräumlicher Lernerfahrungen entgegengesetzt werden müsste. Doch gerade die Beschleunigung wird in Zeiten des „Turbo-Abiturs“ einer Implementierung sozialräumlichen Lernens Barrieren in den Weg stellen. Mit Blick auf den Ressourcen-Faktor, der über das sozialräumliche Lernen in die Frage nach Implementierungs-Optionen einzubinden ist, wird der Zeit-Faktor zum größten Störfaktor eines sozialräumlichen Lernens. Der Organisationsaufwand ist wesentlich höher als in traditionellen Unterricht – es sei denn, man nutzt den traditionellen Unterricht und erweitert ihn auf eine sozialräumliche Perspektive, wie sie zum Beispiel ein sozialräumlicher Literaturunterricht abbilden würde. Aber selbst dann würde es für Lehrkräfte eine Überarbeitung bestehender Unterrichtsstrukturen und -materialien bedeuten. Weiterhin benötigt ein Lernen außerhalb des Schulgebäudes eine entsprechende zeitliche Planung, um absolute Raumstrukturen wechseln zu können. Auch die Einbindung möglicher Externer in die Unterrichtsgestaltung ist mit einem Zeitaufwand verbunden, der im sozialräumlichen Lernen eingeplant werden muss. Und gleichfalls nicht verschwiegen werden darf, dass – mit Blick auf standardisierte Leistungsmessungen, denen die Vermittlung quantitativer Mengen an Wissen zugrunde gelegt wird – sozialräumliches Lernen mehr Zeit für eine quantitative Wissensvermittlung erfordert, da Erfahrungen sich deduktiv entfalten müssen und nicht frontal induziert werden können. Im Kontext einer Schulprogrammplanung wird die Beschleunigungsproblematik als Herausforderung eines sozialräumlichen Lernens deutlich, weil sozialräumlicher Unterricht zeitliche Planung und Stoffverteilungspläne verlangt. Wenn diese Form des Lernens auf gemeinsamen Planungs- und Diskussionsformen basiert, diese aber aufgrund eines zeitlichen Ressourcenmangels nicht stattfinden – oder zu spät stattfinden – fehlen Strukturräume, in denen ein sozialräumliches Lernen als community-basiertes Lernen entwickelt werden kann. Treffen also fehlende Personalressourcen auf fehlende Zeitressourcen ergibt sich eine Situation, in welcher Beschleunigung ausdrücklich zunimmt: Verantwortungen werden auf weniger Schultern verteilt und Aufgaben verlangen eine effiziente, ökonomische Lösung. Zeitfenster werden dann automatisch für andere, dringlichere Aufgaben genutzt werden müssen. Und auch an dieser Stelle greift eine Kosten-Nutzen-Kalkulation, welche ungünstig auf die Motivation, sozialräumliches Lernen umzusetzen, wirkt. Unabhängig vom sozialräumlichen Lernen entwickelt sich Beschleunigung zum Wirkfaktor gesellschaftlicher Realität, worüber sämtliche Lebensbereiche beeinflusst werden – bewusst eine Entscheidung für Entschleunigung, entschleunigtes Lernen setzen, kann helfen, Beschleunigung und ihre Folgen kritisch wahrzunehmen und Abstand innerhalb dieser „neoliberalen Komplizenschaft“ zu finden.
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Ganztagsschule Das Konzept der Ganztagsschule kann eine solche bewusste Entscheidung darstellen. Als historisch gewachsenes Schulreformmodell greift die Ganztagsschule über ihre Kernstruktur Ansätze eines modernen Bildungsverständnisses auf. Prioritäres Kennzeichen ist dabei die Zeitstruktur, die eine Umsetzung reformpädagogischer Arbeit zumeist erst ermöglicht: Die Kultusministerkonferenz setzt die zeitliche Angebotsstruktur im Umfang von mindestens sieben Stunden an mindestens drei Tagen (KMK 2015, S. 9) als erstes Merkmal der Ganztagsschule. Damit wird Bildungsprozessen formell eine erweiterte Zeitstruktur zugestanden, um gesellschaftlichen Beschleunigungsprozessen entgegenzuwirken. Wie Rahm et al. (2015) ausführen, bietet jene Zeitstruktur Ressourcen eines informell ausgerichteten Projektunterrichtes wie es das sozialräumliche Lernen abbildet (ebd., S. 49). Darüber hinaus sieht die an die Zeitressource gebundene Betonung eines informellen Lernen eine fächerübergreifende Kompetenzentwicklung vor, die ihren Ausdruck in der Stärkung von Mündigkeit finden kann: „Im mündigkeitsfördernden Unterricht wird daher Zeit für Diskussionen und kritische Nachfragen eingeräumt.“ (Ebd.) Wie die Verfasserin gemeinsam mit Barbara Schnerch (Kiehl/Schnerch 2018) in einem Publikationsbeitrag zum mündigen Demokratielernen in der Schule darstellt, liegen im breiten und differenziert geführten Diskurs die grundlegenden Möglichkeiten, um Mündigkeit Gesellschaft aktiv und kritisch mitzugestalten. Aus dieser Perspektive heraus muss also gefragt werden, welche Verantwortung der Bildungspolitik zukommt, um ein Mindestmaß an Ressourcen zu schaffen, damit schulisches Lernen und Bildung ganzheitlich wirken können. Über die Vermittlung von Kulturtechniken und reiner Wissensvermittlung hinaus, kann das Ziel der Sozialisationsinstanz „Schule“ nur die Entwicklungsbegleitung der kindlichen und jugendlichen Persönlichkeit sein – diese, so hat die vorliegende Arbeit an unterschiedlichen Stellen bereits ausgeführt, braucht ausreichend Zeit. Ein besonderes Wesensmerkmal der Ganztagsschule wird zudem durch die Kooperation gebildet. Hier gelingt es Schule, über Kooperationen mit Externen des Gemeinwesens ihr Bildungsangebot im Sinne einer Community of Practice zu erweitern und den Lernenden eine vertiefende Möglichkeit der Partizipation zu bieten (vgl. Derecik et al. 2018). Wesentlich dafür ist die Entwicklung eines gemeinsamen Konzeptes, über welches die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsprofessionen geregelt werden kann. Grundlage dafür bilden eine auf Mesoebene verortete Schulprogrammplanung sowie die Einbindung der Schule in eine sozialräumliche Bildungslandschaft (vgl. Rahm 2015, S. 153). Die RessourcenPosten „Zeit“ und „Personal“ bilden dabei wichtige Einflussfaktoren auf das Gelingen eines Ganztagsschulbetrieb; zugleich bilden sie wichtige Eckpfeiler eines sozialräumlichen Lernens ab, ohne deren Berücksichtigung diese Form des
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Lernens nicht möglich wird. Die Ganztagsschule bietet daher eine wichtige Grundlagenstruktur, welche das sozialräumliche Lernen fördernd und in welcher die konzeptionellen Ideen eines sozialräumlichen Lernens entwickelt werden könnten. Weshalb dieser fördernde Faktor der Implementierung sozialräumlichen Lernens dennoch auf der Makroebene anzubinden ist, zeigt die kontroverse Diskussion um Ganztagsschulen, welche vor allem aus ökonomischer Perspektive geführt. Es bildet sich ein generelles Unterverständnis dafür ab, dass Bildung einen hohen Investitionsbedarf impliziert. Denn auch wenn Eltern vielfach die Mehrkosten tragen, verlangt ein kooperatives Schul- und Bildungskonzept, welches externe Akteur*innen einbindet, auch ein entsprechendes Budget. Nicht jede außerschulische Kooperation kann über das kostenlose Ehrenamt getragen werden, auch wenn vielfach ehrenamtliche Aktive gern bereit sind, ihre Arbeit an jungen Menschen weiter zu geben. Bildung ist ein Kostenfaktor, wenn an dieser Stelle gespart wird, werden fundierte theoretische Konzepte der Ganztagsschule sowie der inklusiven Schule im besten Falle zum „improvisierten Eiertanz“, im schlechtesten Falle formieren sie zu Makulatur und „Fördermittellyrik“. Das Bewusstsein, diesen zentralen Punkt als Ausgangspunkt schulischer Bildungsprozesse zu denken, bildet ein politisches Bewusstsein ab, welches durch eine gesellschaftliche Basis determiniert wird. „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Marx 1987 [1859], S. 503) Ökonomisierung von Bildung & Regression Der Einfluss des wirtschaftlichen Gesellschaftsgerüstes darf weder vernachlässigt noch die Kritik dessen als politische Positionierung missverstanden werden. Ignoriert man innerhalb der Didaktischen Forschung den Einfluss wirtschaftlicher und ökonomischer Faktoren auf die Bildung, negiert man automatisch deren Einfluss auf die inhaltliche Praxis schulischer Realität. Eine daran gekoppelte Machtperspektive auszusparen, entspricht dabei einem regressiven Prozess, der den Standard gesellschaftlicher Mündigkeit – wie er durch gesellschaftliche Entwicklungsprozesse in der BRD und die Wende-Zeit ’89 durch die DDR-Bevölkerung errungen wurde – um Jahrzehnte zurücksetzt. Allein gesellschaftliche Allokationsprozesse über das schulische Bildungssystem fungieren als Bindeglied zwischen gesellschaftlicher Ökonomisierung und Schule. Begleitend wirken Schulleistungsuntersuchungen und abgeleitete ElitePrädikate als Effizienz-Indikatoren und überführen Bildungsprozesse in Wirtschaftsprozesse, wodurch es zu Verschiebungen im eigentlichen Bildungsziel kommen kann. Die Kritik an dieser Form von „Miß-Bildung“ ist keinesfalls neu: Sie wird durch Colin Crouch (2017) aufgegriffen, durch Tim Engartner (2016),
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durch Christoph Butterwegge, Betina Lösch und Ralf Ptak (Butterwegge et al. 2017) oder aber durch Iwan Pasuchin (2012) – die Perspektive auf die Problematik erfolgt hier aus einer bewusst macht- und kapitalismuskritischen Haltung heraus. Zu einem ähnlich ernüchternden Analyseergebnis des gegenwärtigen Bildungsdilemmas kommen Jutta Allmendinger (2012; 2013), John Erpenbeck und Werner Sauter (2016) sowie Christiane Florin (2014) – wenn auch nicht als Kapitalismuskritik intendiert. Und auch wenn durch Wissenschaftler wie Pierre Bourdieu ein nicht zu leugnender Zusammenhang zwischen Schule als Institution, ihrer realen Formierung und gesellschaftlichen Spaltungen – wie sie durch fehlende Mündigkeit noch vertieft werden (vgl. Kiehl/Schnerch 2018) – bekannt ist, schaffen es Bildung und Schule nicht, sich neu zu positionieren. Vielmehr erlebt das Bildungssystem, welches die eigentlich Kraft der Modernisierung in sich trägt, eine Phase der Stagnation sowie der teilweisen Regression. Eine Arbeit mit Schulen, wie sie 2010 zu Beginn der sozialräumlichen Arbeit der Verfasserin in Schulen noch möglich gewesen wäre, ist 2018 nahezu undenkbar. Möglichweise wirkt hier aus sozialräumlicher Perspektive auch das Jahr 2010 auch als Zäsur: Es ist das Jahr, in welchem das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ laut Beschluss um fast 75 % seiner Mittel gekürzt wurde (vgl. Litschko 2010). Als Ergebnis des Regierungswechsels 2009 wurde durch die Unionsparteien und die FDP beim Bundesprogramm der „Rotstift“ angesetzt, da in diesem Programm – anders als in anderen Programmen der Verkehrsplanung und des Städtebaus – die Ergebnisse resp. Indikatoren nur schwer ersichtlich und noch schwerer zu messen sind. Denn anders als eine Straße, die am Ende fertig und befahrbar ist, zeigen sich die Ergebnisse (sozial)pädagogischer Arbeit oft erst Jahre später. Und vermutlich sind das Größen – diese Polemik sei der Verfasserin, welche 2010/2011 die Proteste gegen die Kürzungen als Quartiermanagerin in Wolfen-Nord aktiv begleitet hat, gestattet – die in einer „durchökonomisierten Gesellschaft“ (Verhaeghe 2013) weder fassbar noch greifbar sind und Unsicherheiten generieren, deren Risikohaftigkeit unter Nicht-Wissen-(Wollen) falsch begegnet wird. Mit Blick auf die dadurch entstehenden regressiven Nebenfolgen formuliert die italienische Politikwissenschaftlerin Donatella della Porta (2017): „Zur Bewältigung dieser Herausforderungen bedarf es zweifellos einiger Geduld, aber auch der Schaffung eines Raums für Begegnungen und für Learning by Doing. Schließlich haben progressive Bewegungen [in Form von Äquivalenzketten als Reaktion auf regressive Erscheinungen, Anmerkung CK] auch in der Vergangenheit hauptsächlich aus Erfahrungen in der Praxis gelernt.“ (della Porta 2017, S. 75)
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Aus diesem Blickwinkel heraus könnte gerade das sozialräumliche Lernen als situiertes Lernen innerhalb der Community of Practice das mündige Bewusstsein für den historisch-situativen Blick auf Interaktions- und Figurationsprozesse legen, welche Gesellschaft regressiv entwickeln. Um dann im eigentlichen Lernprozess der Handlung und Transformation aus dem regressiven Ist-Zustand eine progressive Entwicklung abzuleiten. Und auch an dieser Stelle muss erneut betont werden, dass die Bedingung für diesen Prozess im Erleben der eigentlichen – ökonomisierten – gesellschaftlichen Vielfalt liegt, welche mit einem machtsensiblen Blick auf die jeweilige Lernsituation den Prozess der „abhängigen Emanzipation“ einleiten kann. Kooperationsverbot & Bildungsfinanzierung Im Zuge der Betrachtungen einer „abhängigen Emanzipation“ im Kontext von Bildung und Didaktischer Forschung stellt sich auch die Frage nach der Bildungsfinanzierung. „Kritische Stimmen“ (Engartner 2016; Hirsch et al. 2016; OXI 2016b; LobbyControl 2017) merken dabei stets auch die Gefahr einer Unterfinanzierung des Bildungsbereiches an, durch welche eine mögliche Einflussnahme auf Lerninhalte durch unternehmensnahe Institutionen oder durch Unternehmen selbst steigt. Besonders die „Bertelsmann Stiftung“ steht dabei im Fokus der Kritik (vgl. Schuler 2010; Hirsch et al. 2016; Lieb 2012). Einen besonderen Fokus setzt die unternehmensnahe Stiftung auf den Bereich der Bildung; schließlich wird über das Bildungssystem stark präventiv meinungsbildend gewirkt. Der Journalist Thomas Schuler (2010) zeichnet unter anderem den Einfluss der Stiftung auf das Hochschulwesen nach: Dabei nimmt das gemeinsam mit der Hochschulkonferenz gegründete „Centrum für Hochschulentwicklung“ (CHE) über die Stiftung Einfluss auf Hochschulentwicklung und entsprechende Hochschulrankings mit dem Ziel einer Festigung unternehmerischer Verwaltungsstrukturen, die sich über Messbarkeit und QMS-Standards definieren lassen. Unterstützt wird das CHE als ThinkThank dabei direkt durch die Wirtschaft. Wolfgang Lieb (2012) führt hier den „Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft“ an, ebenso wie den „Aktionsrat Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.“, das arbeitgebernahe „Institut der deutschen Wirtschaft“ oder die „McKinsey & Company Inc.“. Der Soziologe Klaus Dörre (Dörre/Neis 2010) setzt sich kritisch mit diesem Ökonomisierungsprinzip und wissenschaftlicher Arbeit auseinander. Im Auftrag der „Hans-Böckler-Stiftung“ betrachtet Dörre gemeinsam mit Matthias Neis den „akademischen Kapitalismus“ in seinen gesellschaftlichen Nebenfolgen – ebenso wie eine 2016 veröffentlichte Studie des WBZ (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) (Hirsch et al. 2016), deren Präsidentin die Bildungswissenschaftlerin Jutta Allmendinger ist. In der WBZ-Studie mahnen die Autor*innen die fehlende
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Transparenz des Stiftungswesens an. Die Studie der Autor*innen, welches dieses Thema kritisch reflektieren möchte und daher als „Discussion Paper“ bezeichnet wird, befindet sich – laut Homepage des WBZ (Stand Juni 2018) – in der Überarbeitung. Die Studie selbst wird natürlich, wie alles deutschsprachige Schriftgut, durch die „Deutschen Nationalbibliotheken“ in Leipzig und Frankfurt/Main gesammelt und ist allen interessierten Wissenschaftler*innen damit frei zugängig. Wenn Thomas Schuler in seiner 2010 veröffentlichten Publikation nun die Zusammenarbeit des bertelsmann-nahen CHE mit der ZEIT über ein gemeinsames Hochschulranking nachzeichnet und den 2005 amtierenden Herausgeber Giovanni di Lorenzo zitiert, der dieses Bertelsmann-Ranking trotz aller Kritik ausschließlich lobt (Schuler 2010, S. 170 f.), muss man die gegenwärtige Verbindung des WBZ und der ZEIT beleuchten: Jutta Allmendinger hat im Mai 2017 – sieben Monate nach Veröffentlichung der benannten WBZ-Studie – die Mit-Herausgeberschaft der ZEIT übernommen. Möglicherweise ergibt sich daraus auch eine „neoliberale Komplizenschaft“ für die renommierte Bildungswissenschaftlerin und ihre wissenschaftlichen Mitarbeitenden – eine erzwungene Kooperation, in welcher sich gegenwärtig viele Lehrstühle und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen befinden. An dieser Stelle „liegt der Hase im Pfeffer“ und zeigt die wesentliche Gefahr einer stiftungsfinanzierten, weil unterfinanzierten, Bildung auf: „Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.“ – zitiert der Stern 1996 den Patriarchen Reinhard Mohn (zit. nach Engartner 2016, S. 23; Lieb 2012). Welches Umdenken? Soll Bildung nicht die mündige Selbstreflexion fördern? Und schützt nicht der „Beutelsbacher Konsens“ die mündige Demokratiebildung vor genau jener Einflussnahme? Die (bildungs)politische Debatte um das Kooperationsverbot dagegen ist eine alte und neue zugleich. Auch 2017 wird sie geführt. Es lohnt ein Blick, wer sie in welcher Form führt: Stellvertretend für die CDU lehnt Stefan Kaufmann die Forderung einer Abschaffung dieses Verbotes als „maßlos“ ab. Götz Frömming von der AfD plädierte: „‚Bei jedem, dem unsere Verfassung nicht gleichgültig und die Zukunft unserer Kinder wichtig ist, sollten deswegen die Alarmglocken klingen.‘ Gerade im Bereich der Bildung brauche man Freiheit und Wettbewerb statt Leistungsabsenkung und Gleichmacherei. Der ideologische Charakter des Antrags werde auch deutlich, wenn man die Vorhaben anschaue, die mit Bundesmitteln finanziert werden sollen. Als Beispiel nannte Frömming die Ganztagsschule.“ (Rollmann 2017)
Spätestens an dieser Stelle trägt Wissenschaft eine ethisch-moralische und gesellschaftlich-politische Verantwortung, aktiv zu werden – das Überdenken der
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eigenen „neoliberalen Komplizenschaft“ im „akademischen Kapitalismus“ der untenehmensnahen Stiftungen vorausgesetzt, sind es eben diese, welche vom Aufrechterhalt des Kooperationsverbotes innerhalb eines unterfinanzierten Bildungssystems am meisten profitieren. „Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.“ Sollen unsere Kinder im Sinne von Götz Frömming umgedacht werden? Sicher nicht, denn sie sollen selbst denken lernen. Gouvernementalität & Bürokratisierung „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter ‚Gouvernementalität‘ die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit langer Zeit zur Vorstellung des Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat.“ (Foucault 2003 [1978], S. 820)
In Anlehnung an Michel Foucaults skizzierte Facetten seines GouvernementalitätsVerständnisses konstatiert die vorliegende Arbeit einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, verwaltungsrechtlicher Direktiven, welche (hoch)schulisches Handeln – oftmals nicht freiwillig – gestalten und determinieren. Überspitzt formuliert bildet das Bildungssystem in seiner praktischen Formierung – gebildet durch Kitas, Schulen, Hochschulen – einen „verlängerten Arm“ des regierenden Verwaltungsapparates ab. Paul Verhaeghe (2013) beschreibt am Beispiel des Pflegewesen die Zusammenhänge zwischen verwaltungs-verselbstständigter Gouvernementalität und praktischer Arbeit am Menschen: Eine Bürokratisierung pflegerischer Handlungen geht an den eigentlichen Bedürfnissen der zu pflegenden Menschen vorbei, erfüllt aber die normativen Vorgaben „guter“ Pflegearbeit. Ähnlich logisch abweichende Zusammenhänge beschreibt die vorliegende Arbeit im Kontext sozialräumlicher Projektarbeit und einer zunehmend bürokratisierten Projektmittelverwendung, deren „gute“ Umsetzung bei weiten nicht die eigentliche Zielstellung der Mittelvergabe im Blick haben muss. Das damit zugrundeliegende Prinzip einer bürokratisierten Gouvernementalität greift jedoch auch in Kontexten von Schule und Hochschule.
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Nicht zuletzt im Zuge der Bologna-Reform ist aus einem interessengeleitetem Hochschulstudium ein Selbstmanagement-Studium geworden, in welchem der Erwerb notwendiger Credit-Points essentieller wird als die eigentliche (Selbst)Bildung (vgl. Florin 2014). Bedenkt man, dass das wesentliche Kapital der Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen in eben jener Selbstbildung liegt, sollte diese künstlich erzeugte Technokratisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften für Skepsis und Widerstand sorgen. Ist man jedoch als Lehrende*r an einer Hochschule selbst in bürokratischen Zwängen gefangen, fehlt dem Widerstand schlicht die Grundlage. Schließlich frisst Bürokratie genügend Zeit und Kraft, um nicht die Kompetenzen entwickeln zu können, die final als gebündelter Widerstand über die Bewusstwerdung und Reflexion hinaus handlungsführend wären. Beschleunigung und Ökonomisierung von Bildungsprozessen tun dabei ihr übrigens; „neoliberale Komplizenschaft“ innerhalb des Wissenschaftssystems – wie sie unter anderem durch Colin Crouch (2017) beschrieben wird – verstärkt daraufhin das umgreifende Wirken der Gouvernementalität. Und da ursprüngliches Verwaltungshandeln das Ziel der Eindeutigkeit und Unwiderlegbarkeit vertritt, wird dieser Anspruch auch ins universitäre Handeln übertragen. Entgegen dem eigentlichem Wesen einer Gesellschaft der Vielfalt verlieren Mehrdeutigkeit und abweichende Wahrheiten an Raum. Die Konsequenzen für das Nicht-Normative beschreibt der Dramaturg Heiner Müller zugespitzt in seiner Autobiografie – welche sich bewusst mit dem Leben in zwei Diktaturen auseinandersetzt und daher auch seine Reflexionen auf antidemokratische Strukturen bezieht – über ein indirektes Zitat des nicht unumstrittenen Chemikers Peter Adolf Thiessen (vgl. Schmaltz 2005): „Thiessen sprach darüber, daß alle Institutionen und Apparate die Tendenz zur Konservierung ihrer Struktur hätten, daß heißt, sie stoßen alles Kreative ab. Das Kreative tritt zuerst als das Verworrene auf, weil es nicht in die gegebenen Kategorien paßt und in den gegebenen Kategorien nicht zu erfassen ist. Deswegen entzieht es sich der Kontrolle, und deswegen tendieren Institutionen und Strukturen dazu, diese Phänomene abzustoßen und abzutöten, und deswegen, so seine Position, sei es wichtig, daß man den Spinnern besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das zielte auf die Ausbildung, es war ein Versuch, die Universitäten und Hochschulen aufzubrechen, denn es galt überall dieses negative Selektionsprinzip, nach dem die Besten aussortiert wurden, weil sie nicht einzuordnen, nicht zu kontrollieren waren.“ (Müller 1999, S. 128 f.)
Lassen sich demnach aus dem Grad einer disziplinierenden und bürokratisierenden Gouvernmentalität jenseits der klassischen Exekutive Aussagen zum Grad einer Demokratie ableiten – vor allem dann, wenn disziplinierendes Verwaltungshandeln das eigentliche Handlungsziel behindert? Diese Fragestellung wird die vorliegende Arbeit nicht hinreichend klären können, im Bezug auf sozialräumliches Lernen
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ist jedoch davon auszugehen, dass starre bürokratische Strukturen innerhalb der Schule – meist formiert über Forderungen der Landesschulämter sowie des Kultusministerium – einen notwendig flexibel zu gestaltenden sozialräumlichen Unterricht eher behindern. Denn selbst wenn Service Learning als Form des sozialräumlichen Lernens in den Lehrplänen Sachsen-Anhalts verankert wurde, ist dies nicht gleichbedeutend damit, dass eine Umsetzung in der Praxis nicht über parallele Vorschriften erschwert wird. Will man eher aus der Pflicht heraus den Unterricht verlagern und ist zwar bereit, die notwendigen Angaben an die zuständige Stelle mit einem zu bedenkenden Fristvorlaufszeitpunkt weiterzuleiten, werden diese Schritte im beschleunigten Bildungsprozessen möglicherweise dennoch nicht gegangen. Es greift ein Rational-Choice-Prinzip. Die gesellschaftlichen Nebenfolgen einer durch das Verwaltungshandeln bestimmten Bildung zeigt der Politik- und Bildungswissenschaftler Fabian Kessl (2005) in seiner Dissertationsschrift am Beispiel der Sozialen Arbeit auf: „Autonomes ‚Subjekt-Sein‘ erweist sich als Regierungsprogramm, als eine bestimmte Konzeption der Menschenführung.“ (Kessl 2005, S. 51) Im „Deckmäntelchen“ einer Mündigkeitsoffensive ruft die Aktivierungspädagogik den einzelnen Menschen dazu auf, Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen. Doch wird dabei das Prinzip der Mündigkeit auf die Selbstreflexion zurückgeworfen und spart den kritisch-reflexiven Blick in den umgebenden Sozialraum aus. Obwohl beinahe 15 Jahre alt, ist Kessls Dissertationsschrift aktueller denn je. Sie sollte – auch in der Form ihrer Neuauflage – sowohl im Kontext Sozialer Arbeit als auch im Kontext Didaktischer Forschung Berücksichtigung finden. Schließlich macht sie auf ein mögliches Demokratieproblem aufmerksam: Eine ausschließliche Fokussierung auf Eigenverantwortung und Selbstoptimierung läuft Gefahr, die strukturelle Reflexion des Sozialraums zu vernachlässigen, wodurch Probleme und Risiken in ihrer Reflexivität nicht mündig wahrgenommen werden können. Wenn wie eingangs skizziert, eine bürokratische Gouvernementalität eine reflexive – möglicherweise auch eine „kreativ-chaotische“ – Kritik von Strukturen nicht in ihr Selbstverständnis integriert und ihr innewohnendes Prinzip der Regeln, Vorgaben, Richtlinien und Statistiken auf andere Teilsysteme jenseits des Verwaltungsraumes überträgt, formieren sich unmündige Sozialräume, da der Dualismus von Selbstreflexion und struktureller Reflexion aufgelöst wird. Dieses Prinzip auf das Wesen der Sozialen Arbeit übertragen, generiert sich ein gesellschaftliches Teilsystem, welches seinen eigentlichen Professionsauftrag – neben der Unterstützung der Subjekte – aus dem Blick verliert und nur noch „Feigenblattpolitik“ machen kann: Soziale Arbeit wird entmündigt. Da aber Demokratie auf dem Prinzip der Gleichheit basiert, braucht die Soziale Arbeit eine Handlungsfähigkeit „auf Augenhöhe“. Letztendlich ist sie die Executive an der Basis, deren
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Rückmeldungen handlungsleitend für die Judikative und Legislative sein sollten. Analog dazu muss die Frage gestellt werden, wie dieses Prinzip im Sozialraum der Schule greift. Was passiert, wenn Handelnde des schulischen Raums nur noch Ausführende einer bürokratischen Gouvernementalität sein können, stets daran gemessen, wie gut sie selbst ihren Unterricht abhalten und dabei die Formalien einer „guten Schule“ gegenüber Lernenden, Eltern, Ämtern und Behörden beachten. Auch hier führt die Negierung der äußeren sozialräumlichen Strukturen – das Deaktivieren der strukturellen Reflexion – zur Unmündigkeit. Und können unmündige Lehrende mündige Lernende ausbilden bzw. sie auf ihrem Weg einer „abhängigen Emanzipation“ begleiten. Die Antwort auf diese Frage braucht es nicht. Öffentliche Soziologie und Wissenschaftskommunikation Wie die Diskussion zwischen Klaus Hurrelmann und Ullrich Bauer (Hurrelmann/Bauer 2015) im „Zwischenfazit IV“ gezeigt hat, ist die Problematik, inwieweit Wissenschaft sich in öffentliche gesellschaftliche Diskurse einbringen kann und muss, eine zentrale Frage einer reflexiven und regressiven Gesellschaft der Vielfalt. Aufgrund der beschrieben hemmenden Faktoren einer Implementierung, die – dem Mehrwert des sozialräumlichen Lernens gegenübergestellt – deutlich Strukturdefizite des äußeren Raums aufzeigen, braucht es den breiten gesellschaftlichen Diskurs zur Lösung dieser Defizite. (Bildungs)Politik allein kann diese Aufgabe nicht mehr bewältigen. Und auch wenn (Bildungs)Politik personell sich mit Wissenschaft vernetzt, ist es doch noch immer ein verhärtetes Selbstverständnis vieler Wissenschaftler*innen, die Praxis ausschließlich als „Feld“ und nicht als „gleichberechtigten Partner“ zu betrachten. Nur in der gemeinsamen, gleichberechtigen Analyse, welche den „wissenschaftlichen Elfenbeinturm“ öffnet, kann die Gesellschaft in ihrer Vielfalt sich mündig entwickeln. Die Öffnung der Wissenschaft in den Sozialraum hinein ist – ebenso wie die Öffnung der Schule in den Sozialraum – ein wichtiger Baustein der Demokratiebildung. Wenn Ulrich Beck (2009 [2002]) in „advokatorischen Bewegungen“ die Chance erkennt, Lösungen auf gesellschaftliche Risikofaktoren und Nebenfolgen über ein vernetztes Gemeinwesen als politische Gegenmacht zu entwickeln, dann steht die Wissenschaft als ein mögliches Expert*innen-System nicht außerhalb dieses Gemeinwesens. Vielmehr muss sie sich fragen, welches mögliche Nicht-Wissen sie transferiert, wie dieses Nicht-Wissen in Wissen gewandelt werden könnte und welches Wissen – über eine adäquate Wissenschaftskommunikation – dem Gemeinwesen bislang fehlt. „Ich weiß keine Lösung für das Problem der heutigen politischen Unverantwortlichkeit und auch keine für das kulturelle und politische Problem des fröhlichen Roboters. Aber ist es nicht klar, dass es keine Lösungen geben wird, solange man diese Probleme nicht
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wenigstens in Angriff nimmt? Liegt es nicht auf der Hand, dass dafür in erster Linie die Sozialwissenschaftler der reicheren Länder zuständig sind? Dass so viele von ihnen sich heute dieser Aufgabe entziehen, ist wohl das größte Versäumnis, dessen sich privilegierte Menschen in unserer Zeit schuldig machen.“ (Mills 2016 [1959], S. 262)
Ähnlich wie Thomas Piketty (2016, S. 15 f.) formuliert C. Wright Mills einen Anspruch an die Sozialwissenschaften, welcher sich in Konzepten einer Öffentlicher Soziologie (Aulenbacher et al. 2017) resp. Öffentlichen Gesellschaftswissenschaften (Selke/Treibel 2018) niederschlägt. Dabei geht es um einen Dialog und Austausch mit der Gesellschaft in all ihren Teilsystemen. Die Diskussion um jene dialogbereite Sozialwissenschaft wurde unter anderem durch Michael Burawoy (2015) wiederbelebt. Indem Burawoy auf das Spezifikum der Soziologie als öffentliche Disziplin verweist, verweist er zugleich auf das sozialräumliche Gefüge, deren Gegenstand eine öffentliche Soziologie nur sein kann: „Wenn ich sage, dass die Soziologie der Standpunkt der Zivilgesellschaft ist, bedeutet dies nicht, dass Soziologinnen und Soziologen nur die Zivilgesellschaft untersuchen. Ganz und gar nicht. Vielmehr untersuchen sie andere Bereiche der Gesellschaft, wie die Ökonomie und das politische System. Aber vom Standpunkt ihrer Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft oder ihre Abhängigkeit davon.“ (Burawoy 2015, S. 40)
Der britische Soziologe skizziert mit dieser Aussage die sozialräumliche Struktur eines Gemeinwesens, das – typisch dem sozialen Raum – nur über figurativ verschränkte Abhängigkeiten erschlossen werden kann. Diesen Gedanken weiterverfolgend bildet das sozialräumliche Lernen die didaktische Form einer öffentlichen Soziologie ab, wie sie über das kompetenzorientierte und teilweise fächerübergreifende Lernen innerhalb der Institution Schule implementiert werden kann. Dies kann aber nur gelingen, wenn es die Sozialwissenschaften als eigenständige Disziplinen schaffen, den Ansatz der öffentlichen Wissenschaft gleichberechtigt in ihr Professionsverständnis zu integrieren und diesen gegen Vorwürfe der ideologischen Überformung abzugrenzen. Denn letztendlich – und hier greift der Gedanke das Wesen des sozialräumlichen Lernens auf – ist das Lernen im sozialen Raum ein Prozess, der nur über das Individuum selbst mit Hilfe der Erfahrung und Reflexion erfolgen kann. Die Lehrenden können diesen Prozess lediglich begleiten und dafür Sorge tragen, dass über agnostische Diskurse die Fähigkeit der eigenen Meinungsbildung gestützt wird. Die Rolle der akademisch verankerten öffentlichen Sozialwissenschaften kann dabei in einer zusätzlichen Expert*innenund Mentor*innen-Rolle liegen, geht man davon aus, dass Sozialraum sich stetig weiterentwickelt und die Lehrenden selbst immer auch Lernende bleiben und
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Unterstützung brauchen; selbst wenn die Unterstützung gegenwärtig vor allem in einer gemeinsamen Stärkung der strukturellen Rahmenbedingungen von Schule liegen muss, damit Wissenschaftskonzepte der Theorie in der Praxis überhaupt Verankerung finden können. In seinem 2005 veröffentlichten Aufsatz „Für eine öffentliche Soziologie“ benennt Burawoy – in Anlehnung an C. Wright Mills – diesen Ansatz bezugnehmend auf Formen des sozialräumlichen Lernens: „Mit Hilfe unserer großen soziologischen Traditionen verwandeln wir ihre [bezogen auf die Studierenden, Anmerkung CK] privaten Probleme in öffentliche Angelegenheiten. Wir tun dies, indem wir ihr Leben aufgreifen, nicht, indem wir es ausklammern; indem wir dort anfangen, wo sie sind, nicht wo wir sind. Bildung wird zu einer Reihe von Dialogen auf dem Gelände der Soziologie, die wir fördern – einem Dialog zwischen uns und den Studierenden, zwischen den Studierenden und ihren eigenen Erfahrungen, unter den Studierenden selbst, und schließlich zu einem Dialog von Studierenden mit Öffentlichkeit jenseits der Universität. Service Learning [im Original kursiv, Anmerkung CK] ist der Prototyp dafür: Durch ihr Lernen werden Studierende in der übrigen Welt zu Botschafterinnen und Botschaftern der Soziologie, so wie sie ihre Auseinandersetzung mit diversen Öffentlichkeiten in die Seminarräume zurücktragen.“ (Burawoy 2015, S. 59)
Damit zeigt Burawoy zugleich die Wechselseitigkeit dieses Dialogs auf, der über den Erfahrungsaustausch mit der Praxis die Wissenschaft selbst bereichert, indem das Alltagserleben der Praxis auch unabhängig von empirischer Beobachtung und Feldforschung das akademische Wissen formieren und stützen kann. Im Rekurs auf die Community of Practice als Basis eines sozialräumlichen Lernens verschieben sich im Lernprozess stetig die Grenzen zwischen newcomer und old-timer – warum also dieses konstruktivistische Lern- und Lehrprinzip nicht in die Wissenschaft selbst als wissensgenerierende Disziplin integrieren? Als wichtiger Bestandteil der Wissenschaftskommunikation erfüllt der Dialog mit der Öffentlichkeit bereits Aufgaben eines sozialräumlichen Lernens. Bonfadelli et al. (2017) formulieren in ihrem Handbuch: „Wissenschaftliche Erkenntnisse beeinflussen beispielsweise die staatliche Bildungs- oder Integrationspolitik, aber auch unternehmerische Investitionsentscheidungen oder individuelle Maßnahme der Gesundheitsvorsorge“ (Bonfadelli et al. 2017, S. 3). Ein Blick auf die gegenwärtige Asylrechts-Diskussion (Stand Juli 2018) zeigt jedoch, dass diese Form der Wissenschaftskommunikation ausbaufähig ist. Ein im Juli 2018 veröffentlichtes Positionspapier der „Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit“ (DGSA 2018) verdeutlicht, dass zwischen Wissenschaftstheorie und gesellschaftlicher Praxis starke Divergenzen bestehen – oder anders ausgedrückt – Wissenschaft im gesellschaftspolitischen Diskurs immer weniger eine Expert*innen-Stellung einzunehmen scheint.
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Die Verengung der aktuellen Asylrechtsauslegung ist keine Antwort auf wissenschaftliche Erkenntnisse, welche Integration und Demokratiebildung gemeinsam denken, um perspektivisch den sozialen Zusammenhalt nicht durch regressive soziale Entwicklungen zu gefährden. Die Asylrechtsauslegung ist das Ergebnis multikausaler Faktoren, welche über entsprechende Sozialraumanalysen mit integriertem Blick auf historische Entwicklungen und bestehende Interdependenzen beschrieben werden können. An dieser Stelle kann Ulrich Becks „kosmopolitischer Handlungsraum“, der zwar ähnliche regressive Tendenzen aufweist, nicht über die globale, jedoch über die lokale sozialräumliche Perspektive begriffen werden – wenn es den Sozialwissenschaften im interdisziplinären und praxisintegrierenden Diskurs gelingt, die Öffentlichkeit – in ihrer Formierung als Gemeinwesen – als eigentliche Expert*innen wieder zu erreichen. Dann hat auch sozialräumliches Lernen trotz seiner Zeit-, Kosten- und Ressourcenbindung die Chance als mündiges Lernen innerhalb der Bildung Implementierung zu finden.
6.2
Zwischenfazit V
Dieses Kapitel findet aus der jeweiligen Projektarbeit heraus Antworten auf die Forschungsfrage Welche Aspekte behindern bzw. fördern die Implementierung sozialräumlichen Lernens?
Eine Aufteilung der Faktoren nach struktureller Wirkungsebene macht deutlich, dass gegenwärtig viele Faktoren der Makroebene, die Einfluss auf das sozialräumliche Lernen aus bildungswissenschaftlicher Sicht nehmen, eher tendenziell hemmend wirken. Vor allem gesellschaftliche Ökonomisierungstendenzen, die Effekte auf das Teilsystem „Bildung“ haben, wirken nicht fördernd und beeinflussen auch die Ganztagsschule als produktive Lösung der Bildungspolitik auf gesellschaftliche Herausforderungen. Eine Analyse der Faktoren auf Mikro- und Mesoebene zeigt jedoch auch, dass diese den hemmenden Faktoren der Makroebene wirkungsvoll Effekte entgegensetzen können. Insofern können speziell personelle Faktoren wie Lehrkräfte selbst Einfluss nehmen – ein Ergebnis, welches durchaus mit dem Resümee John Hatties (2013) korreliert, dass die Lehrkraft treibende Kraft eines guten Unterrichtes ist, ohne die Kontroverse um die „Hattie-Studie“ dabei zu negieren (vgl. Terhart 2014). Denn sozialräumliches Lernen wie es durch fächerübergreifenden Projektunterricht abgebildet wird, mag in den 1970er Jahren nicht die Bedeutung gehabt haben wie heute; die gesellschaftliche Reflexivität hat sich seitdem enorm potenziert. Und auf eben jenen, zeitlich zu datierenden Studien baut John Hattie
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Nachhaltigkeitstransfer | Implementierung
seine Metaanalyse auf, was die Bedeutung einer äußeren, gesellschaftlichen Sozialraumrealität für Bildungsprozesse leider nur wenig berücksichtigt – und im „worst case“ nur Ökonomisierungstendenzen innerhalb des Bildungsbereichs stützt, indem die Lehrkraft zur „Lösung“ stilisiert wird. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sicher personelle Faktoren fördernd auf die Implementierung eines sozialräumlichen Lernens wirken und dass jene Einflussgrößen strukturelle Rahmenbedingungen der Makroebene entlasten können. Letztendlich ist dies jedoch kein „Freibrief“ an die Bildungspolitik, um nicht hinreichend über – auch finanzielle – Ressourcen innerhalb der Bildung die Weichen für eine zeitgemäße, gesellschaftspolitisch notwendige Form der Bildung zu schaffen, damit mündiges Lernen perspektivisch makrosoziologische Strukturdefizite benennen und transformieren kann – entgegen regressiver Gesellschaftsentwicklungen. Der oder die Einzelne steht dabei im Mittelpunkt der Ansprache. Aber nur im gemeinsamen – auch gegnerischen – Austausch kann das gelingen, was Ulrich Beck als advokatorische Bewegung (Beck 2004, S. 160 ff.) ohne gewähltes Mandat, aber als hochlegitime Bewegung im Sinne der Menschenrechte beschrieben hat.
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Fazit & Ausblick
7.1
Sozialräumliches Lernen und seine demokratiebildenden Koordinaten
„Was für eine Sauwirtschaft, diese DDR! Der Putz in den Zimmern der Wohnungen bröckelte, die Fenster moderten, die Wände wackelten, von Toilette und Heizung ganz zu schweigen. So schimpften DDR-Bürger über den Staat. Nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern höchst offiziell in Briefen an Bürgermeister, Abgeordnete und die SEDParteiführung.“ (Schmidt 2008a)
Der Historiker Stefan Schmidt untersucht die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung über das Eingabewesen der DDR; konkret steht dabei die Frage im Vordergrund, ob und in welcher Form innerhalb einer Diktatur wie der DDR demokratische Räume geschaffen werden konnten. Man könnte auch die Eingangsfrage der vorliegenden Forschungsarbeit aufgreifen und nach der Anzahl der existierenden „Wahrheiten“ fragen, beschreibt doch das vorherrschende Dispositiv die DDR als relationalen Sozialraum, der innerhalb seiner Struktur ein „Erziehungssystem der Untertanen-Mentalität“ pflegte (vgl. Pfeiffer 1999). Die als „Töpfchenzwang“ medial verbreitete These vom unmündigen DDR-Bürger prägt damit bis heute ein Bild auf kollektive Identitäten der Menschen, welche aufgrund einer antidemokratischen und dogmatischen Prägung der DDR-Pädagogik scheinbar bewusst zur Unmündigkeit erzogen worden. In der Folge dieser Reflexivität wird oftmals im öffentlich-medialen Diskurs den ehemaligen DDR-Bürger*innen ein kritisch-reflexives Bewusstsein abgesprochen – ein kollektives Sozialisationsdefizit soll dann hinreichende Erklärungen für regressiv-antidemokratische Tendenzen liefern und blendet dabei weitere Nebenfolgen aus.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_7
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Fazit & Ausblick
Dieses Bild ist auch heute noch so gegenwärtig, dass speziell in Wissenschaftskreisen eine Auseinandersetzung mit DDR-Forschung und ihren größtenteils marxistisch zu verankernden Theorietraditionen stets eine Gradwanderung abbildet. So bleibt momentan innerhalb der Demokratiebildung eine direkte Gegenüberstellung der konstruktivistischen Lerntheorien John Deweys und der „Kulturhistorischen Schule“ im deutschsprachigen Raum weitestgehend aus; andernfalls müsste man sich nämlich fragen, inwieweit Dewey möglicherweise durch marxistische Theorien beeinflusst wurde – sind es doch eben auch jene 1888 erschienenen „FeuerbachThesen“, die das bewusste und kritische Erleben der Praxis zum Ausgang eines Lernund Transformationsprozesses machen, wie es auch Dewey mit dem Begriff der experience verankert. Wenn die Suche nach „Wahrheiten“ als Lernen im situativen Kontext – in Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten und Ereignissen sowie mit biografisch-subjektiven Sozialisationserfahrungen – eine Facette von Demokratie abbildet, dann fungiert die Situations-Ebene des relationalen Sozialraums als demokratiebildende Koordinate. Sie verbindet Zeitebenen und subjektives Bewusstsein (Abb. 3.7). Da die Geschichtswissenschaft anerkennt, „dass zunächst augenscheinliche Widersprüchlichkeiten durchaus parallel auftreten bzw. nebeneinander existieren können“ (Schmidt 2008b, S. 62), ist die Suche nach „Wahrheiten“ innerhalb anderer Wissenschaftsbereiche auch davon geprägt, Widersprüche als gegeben zu akzeptieren und sie bisweilen auch auszuhalten. Speziell dann, wenn es gilt, eine zutiefst widersprüchliche Gegenwart zu beschreiben und zu analysieren, sollte sich Wissenschaft nicht davor scheuen, eben jene Widersprüchlichkeit in der eigenen Forschung bedingt zuzulassen. Hier kann das Modell eines sozialräumlichen Lernens – auch jenseits von Schule – als Grundlage einer mündigen Wissenschaft angesetzt werden, da Demokratie ein kritisch-reflexives, antagonistisches Verhältnis zur Welt erfordert; auch wenn das heißt, Demokratie zunächst über ihre scheinbare Abwesenheit zu erschließen, wie es Stefan Schmidt in seiner Forschung umsetzt (vgl. Schmidt 2008b). Um sozialräumlichem Lernen weiterhin aus Sicht der Demokratiebildung zu folgen, soll das durch Schmidt untersuchte Eingabewesen der DDR vertiefend beschrieben werden. Am Beispiel der Einflussnahme auf die Wohnungsbaupolitik der DDR untersucht der Historiker Bürger*innen-Eingaben in der Stadt Halle/Saale im Zeitraum von 1972 bis 1980. „Durch die Analyse von Eingaben untersucht die Arbeit eine Verbindung zwischen den darin artikulierten Bedürfnissen der Bürger und den wohnungspolitischen Beschlüssen der SED herzustellen.“ (Ebd., S. 28) Diese Verschränkung von Raum und Politik zeigt bereits das Wesen des Sozialraums, der nie allein auf absoluter Ebene – auf Ebene der Wohnung oder des Wohnkomplexes – betrachtet werden kann, sondern stets auch in relationaler Reflexivität begriffen werden muss. Sicher steht dabei der*die Bürger*in im Mittelpunkt
7.1 Sozialräumliches Lernen und seine demokratiebildenden Koordinaten
253
des Sozialraums, aber sein*ihr Erleben vollzieht sich in Interaktion mit der äußeren Umwelt und zumeist in Auseinandersetzung mit anderen Menschen: Auf Ebene der Familie, die eine gemeinsame Wohnung bewohnt, auf Ebene der Nachbarschaft, die einen lebensweltlichen Kontext prägt, oder aber auf Ebene des*der Bürger*in in Interaktion mit den politisch Handelnden. Daher wirkt die Interaktions-Ebene des Sozialraum-Modells primär sozialisierend und zugleich demokratiebildend in ihrer Koordinatenverschränkung. Es formiert sich ein lebensweltlicher Sozialraum, um das Wohnungswesen der DDR. Dieser Sozialraum entwickelt sich im Sinne Gerhard Himmelmanns (2001) von der Demokratie der Lebensform bis hin zur Demokratie der Gesellschafts- und Herrschaftsform. Der Wohnraum als Lebenswelt ist über das Eingabewesen und das parteipolitische Grundsatzprogramm der DDR an die realsozialistische Wohnungspolitik auf Gesellschafts- und Regierungsebene gebunden, denn „es ist anzunehmen, dass die unvermindert hohen Eingabenzahlen, trotz der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen in der DDR, den Abbruch des Wohnungsbauprogramms Mitte der 1970er Jahre verhinderten“ (Schmidt 2008b, S. 61). Je nachdem, wie weit der relationale Sozialraum in seiner Reflexivität der Interaktions-Ebene daher angesetzt und analysiert wird, kann sozialräumliches Lernen die verschiedenen Ebenen der Demokratie im Sinne Himmelmanns in den Lernprozess integrieren. Die Koordinaten können dabei beliebig nach „Innen“ hin oder nach „Außen“ verschoben werden und erweitern auf diese Weise auch die zugrundeliegende Community of Practice und den Sozialraum der Aneignung bzw. Anverwandlung. Aus dieser Verschiebung der Interaktions-Ebene resultiert zugleich eine Verschiebung der Figurations-Ebene. Die von Schmidt beschriebene Frage nach den Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der DDR-Gesellschaft ist zugleich eine machtsensible Frage, die zwar nicht aus primär machtkritischer Perspektive heraus erfolgt, aber anerkennt, dass Macht, Gegenmacht, Interdependenzen und daraus resultierende Figurationen unweigerlich an Gesellschaft und Sozialraum gebunden sind. Möglicherweise ist dies ein Ansatz der Geschichtswissenschaft, welcher dieser Sozialwissenschaft immanent ist; es ist ein Ansatz, den jedoch andere Sozialwissenschaften – wie die Bildungswissenschaft – vernachlässigen (vgl. Danielzik 2013; Danielzik et al. 2013; Kehren 2015) oder unter dem Label „kritische Wissenschaft“ oftmals auch semantisch konnotieren. Im Rekurs auf die Untersuchungen zum Eingabewesen bilden sich über die Eingaben als Instrument Partizipationsräume, die das diktatorische Machtvakuum der SED gegenüber den Bürger*innen öffnen, wodurch sich Figurationen verschieben. Die ideologischen Versprechungen der SED-Propaganda umfassten das Recht auf Wohnraum als Lebensraum; sowohl bewusstseinprägend (Schmidt 2008b, S. 33 f.), als auch verfassungsrechtlich (ebd., S. 36). „Auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der ‚jeder nach seinen Bedürfnissen und jeder nach seinen Fähigkeiten
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Fazit & Ausblick
leben‘ sollte, befand sich die SED jedoch in einer hausgemachten ideologischen Falle“ (ebd., S. 34), so dass der partizipative Rückkopplungsprozess der Bürger*innen an die (Wohnungs)Politik über die Eingaben als Form der politischen Einflussnahme gewertet werden kann. Diese Form von Gegenmacht, die das Wohnungsbauprogramm beeinflusste, konnte auch innerhalb der DDR-Gesellschaft Einfluss nehmen und – wenn auch nur bedingt – Figurationen verschieben. Schmidt verweist zudem auf die Abhängigkeit der SED-Führung, Stimmungen und Tendenzen der Bevölkerung zu kennen, weshalb auch innerhalb der sozialistischen DDR Meinungsforschung betrieben wurde (ebd., S. 37 ff.). Hierbei muss das Eingabewesen als besondere Form der Meinungsforschung betrachtet werden: Sowohl mit Blick auf die quantitative Zunahme der Eingaben als auch mit Blick auf qualitative Aspekte – wie die Androhung der Wahlverweigerung – leiteten sich für die DDRPolitik aus dieser Meinungserhebung Handlungsnotwendigkeiten ab. Diese „bottom up“-Perspektive beschreibt einen machtgestaltenden Prozess, an welchen Figurationsverschiebungen des Sozialraums gebunden sind. Aus dieser Perspektive heraus ist der Sozialraum stets auch ein politischer Raum – unabhängig seiner Reichweitenwirkung oder -begrenzung. Die Frage, wie sich Macht entwickelt und verschiebt ist auch eine Frage der Demokratiebildung, die über das sozialräumliche Lernen ein Koordinatensystem findet, in welchem die Figurations-Ebene Interdependenzen und Machtbeziehungen als Koordinaten abbildet. Das Beispiel des Eingabewesens der DDR belegt innerhalb starrer Machtbeziehungen das Vorhandensein einer Form von Gegenmacht, die sich über das Eingabewesen als kleiner demokratiebildender Mitbestimmungsraum formiert. Das Verhältnis von Macht und Gegenmacht im Sozialraum erlaubt dabei auch reflexive Lernprozesse zu Prozessen von Mündigkeit und Emanzipation innerhalb bestehender Machtstrukturen. Dieser Entwicklungsweg einer „abhängigen Emanzipation“ beschreibt dabei einen Lernprozess, wie ihn die vorliegende Arbeit in den Prozessschritten „Inklusion & Partizipation“, „Bewusstwerdung & Reflexion“, „Handlung & Gestaltung“ sowie „Modifizierung & Transformation“ zugrundelegt. Richtungsweisend kann dabei die Suche nach „Wahrheiten“ werden, die – ganz im Sinne einer Demokratiebildung – ambivalent und dennoch gleichberechtigt nebeneinander stehen können. Der Historiker Stefan Schmidt (2008b) resümiert: „Um nachvollziehen zu können, wie die Machthaber in der DDR einerseits die demokratische Mitarbeit der Bürger fordern und andererseits ‚Abweichler‘ und ‚Andersdenkende‘ für Jahre in den Gefängnissen des Ministeriums für Staatssicherheit verschwinden lassen konnte, dürfen ‚westliche‘ Maßstäbe nicht von vornherein den Blick verstellen für das widerspruchsvolle Nebeneinander von staatlicher Repression und postulierter Absicht der SED, die politische Teilhabe der Bürger zu garantieren.“ (Ebd., S. 45)
7.1 Sozialräumliches Lernen und seine demokratiebildenden Koordinaten
255
Dabei können sich „Wahrheiten“ situativ wandeln, wie der Bitterfelder Künstler Ernst Thronicke im Zuge der „Dritten Bitterfelder Konferenz“ mahnt: „Mein Name ist Thronicke. Ich bin Bitterfelder. Das möchte ich von vornherein einmal in den Mittelpunkt stellen, denn ich halte es für wichtig, wenn wir als Bitterfelder zu diesem Problem [Kunst zwischen den Stühlen, jenseits von Wertfreiheit, Anmerkung CK] etwas sagen. Es geht doch jetzt offenbar bei dieser Dritten Bitterfelder Konferenz um die Grundsatzfrage ‚Kunst und Wahrheit‘. Ich möchte etwas ganz persönliches sagen. Wenn man alt geworden ist, dann kann man diesen Grundsatz auch in der Kunst im wesentlichen so empfinden, daß sich die Wahrheit doch scheinbar im Laufe der Zeit verändert. Wahrheiten, die wir empfinden in einer bestimmten Zeit brauchen also in einer nachfolgenden Zeit schon gar nicht mehr so wahr zu sein. Es geht doch in der Kunst um die Grundsatzfrage: Wo liegt eigentlich der normative Wert für die Kunst, wie richtet sich der Künstler auf die Wahrheit seiner Zeit aus? Ich meine nicht die Ausrichtung in dem Sinne, daß er mit jeder Richtung den Mantel ablegt und dann bei einer neuen Zeit einen neuen Mantel anzieht, den jeweiligen politischen oder weltlichen Strömungen gemäß.“ (Staeck et al. 1994, S. 45 f.)
Speziell über den Kontext des Thronicke-Zitates spiegelt sich eine weitere Spezifik des Sozialräumlichen wider: die Verschränkung der einzelnen Realitätsebenen über die Sozialraumstruktur selbst. Dabei bildet die Kunst als Abbildung und Verfremdung von Welt eine imaginäre Raum-Ebene ab. Ein Lernen auf Raum-Ebenen jenseits des realen, non-fiktionalen und analogen Raums bietet dabei die Chance, mit bestehenden Dispositiven zu brechen (vgl. Kiehl/Schnerch 2018). Dadurch lassen sich Perspektiven und Sichtweisen, die kontextuell als „unwahr“ konnotiert sind, dekonstruieren. Um die „Wahrheit“ der demokratischen Räume innerhalb der DDR-Gesellschaft aufzugreifen, lohnt der Blick mit und über die „Kunst“ und die Ebene des imaginären Sozialraums: Der im letzten Herbst in Dresden erneut entflammte „Bilderstreit“ offenbarte einen großen Gesprächsbedarf zur Kunst aus der DDR, nicht nur hinsichtlich des musealen Umgangs mit ihr, sondern auch im Hinblick auf ihre wissenschaftliche Aufarbeitung und Einbettung in eine breite Kunstgeschichtsschreibung. (Albertinum 2018)
Im Juni 2018 eröffnete das Dresdner „Albertinum“ eine Sonderausstellung zur „Kunst in der DDR“ mit eigenen Werken der Sammlung und bindet diese an ein umfassendes Programm zu Vorträgen und Diskussionen, wie bisher und künftig Museen DDR-Kunst in ihren Ausstellungen verankert haben bzw. verankern können und sollten. „Daneben verschafften sich in dieser von Karl-Siegbert Rehberg als „Stellvertreterdebatte“ bezeichneten und mit Vehemenz ausgetragenen Diskussion auch tiefer liegende Probleme des deutsch-deutschen Miteinanders eruptiv
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Fazit & Ausblick
Ausdruck.“ (Ebd.) Das Beispiel des Dresdner Ausstellungs-Diskurses spiegelt auf imaginärer Sozialraum-Ebene eine komplexe Sozialraumstruktur wider, die – unter anderem über aktuelle Diskussionen zu demokratiefeindlichen Erscheinungen im ostdeutschen Raum – eine Verschränkung zur realen Sozialraum-Ebene findet. Gegenwärtig ist die „Stellvertreterdebatte“ im Kontext der Kunst jener gesellschaftliche Sozialraum, der die Frage nach den „Wahrheiten“ und den Umgang mit diesen stellt. Wie der Stefan Schmidt demokratische Sozialräume über das Eingabewesen der DDR nachzeichnet, so findet die Gegenwartskunst als gesellschaftliches Teilsystem aktuell den Diskurs über einen möglicherweise zu kurz gegriffenen Umgang mit Sozialräumen innerhalb der DDR-Gesellschaft, die demokratisch und demokratiebildend waren, trotz ihrer Verortung innerhalb einer Diktatur. Die vorliegende Arbeit führt ihr Fazit eines sozialräumlichen Lernens als demokratiebildendes Moment bewusst am Diskurs zu DDR-Vergangenheiten, -biografien und situativen „Wahrheiten“, ist doch der Sozialraum Bitterfeld-Wolfen eben jener Raum, der die praktisch-erfahrenen und theoretischen Grundlagen eines sozialräumlichen Lernens in einer Gesellschaft der Vielfalt gelegt hat. Es ist eben jener Sozialraum, in welchem die AfD eine politische Hochburg bildet – und das, obwohl und gerade weil dieser Sozialraum wie kein zweiter eine besondere Bedeutung für den Umgang mit „Wahrheiten“ abbildet und über das sozialräumliche Lernen selbst – bisher zu wenig diskutierte – Fehler im Transformationsprozess der Wende ersichtlich macht. Zugleich zeigt dieser Raum Strukturdefizite einer gegenwärtigen Demokratie, die gleichfalls als „Wahrheit“ öffentlich bewusster gemacht werden müssten, damit demokratiebildend gestaltend gewirkt werden kann. Mit dem Stadtgebiet Wolfen-Nord, welches einen begleitenden berufspraktischen Sozialraum bildete, erschließt sich eines eben jener Wohngebiete, das im Zuge des Wohnungsbauprogramms der DDR in der 1960er Jahren bebaut wurde und speziell auch über die möglichen Partizipationsräume des DDR-Eingabewesens mitgestaltet werden konnte – ein Ansatz, der auch dem Programm „Soziale Stadt“ zugrundeliegt, welches mit Hilfe von ESF- und Bundesmitteln den Sozialraum gestalterisch und demokratisch zu entwickeln versucht. Über das Eingabewesen trifft Wolfen-Nord als DDR-Sozialraum auf den demokratischen Sozialraum der Gegenwart. Während aber das Wolfen-Nord im DDR-Sozialraum ein Wohnprivileg für viele Ingenieur*innen, Techniker*innen und Chemiker*innen des BitterfeldWolfener Industriebezirks abbildete, wird der Sozialraum heute als „Stadtgebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf“ gekennzeichnet; die Schnittmenge der Bevölkerung – gebildet durch einzelne Bewohner*innen – ist dabei gleich geblieben. Anhand dieser „Schnittmenge“ lässt sich jedoch eine sozialräumliche Verschiebung auf Figurations- und Interaktions-Ebene feststellen. Aus Perspektive der Menschen,
7.1 Sozialräumliches Lernen und seine demokratiebildenden Koordinaten
257
welche diese „Schnittmenge“ bilden, stellt sich dann die Frage, wie sich diese Verschiebungen begründen lassen. Fest steht, die Ursachen liegen nicht primär im Individuum oder auf Situations-Ebene, sie sind das Ergebnis eines sozialraumübergreifenden „Lernens“ innerhalb der Community of Practice, die sich über eine mediale Öffentlichkeit bildet. Es ist jene CoP, welche die „Wahrheiten“ der Situationsebene nicht hinreichend reflektiert oder diese unzureichend in den Lernprozess einbindet, wenn individuelle Vergangenheiten im DDR-Sozialraum marginalisiert oder verkürzt werden. Für die betreffenden Menschen formiert sich ein Identitätswandel, der bis hin zu Identitätsverlust wachsen kann; oder aber zu einer nach außen abgrenzenden stärkeren Identifikation mit der Eigengruppe führt, worüber Vielfalt negiert wird. Wenn die eigene Situations-Ebene im öffentlichen Reflektionsprozess nicht Berücksichtigung findet, wie sollen dann fremde Situations-Ebenen akzeptiert werden können? Die damit geschaffene Situation der Entfremdung und Verinselung von Lebensräumen spiegelt sich gegenwärtig damit auch im schwierigen Umgang mit DDR-Kunst wider. Dass es nun seit vielen Jahren öffentlich wahrnehmbar in Diskussionen um das Entfremdungsproblem deutsch-deutscher Biografien und „Wahrheiten“ geht, zeigt die Notwendigkeit dieser Debatte. Diese beschreibt die komplexe Reflexivität des zugrundeliegenden Problems. Die Nebenfolgen dieser Reflexivität – das Erstarken rechter und nationalistischer Strömungen oder institutionelle Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch der demographische Wandel und seine wirtschaftlichen und lebensweltlichen Folgen – befeuern weitere Nebenfolgen. Und diese sind nicht ohne Grund in einem Sozialraum wie Bitterfeld-Wolfen besonders deutlich zu spüren und zu beobachten. Blickt man auf die kulturästhetischen Wurzeln der DDR-Kunst, blickt man auf eben jenen Sozialraum Bitterfeld-Wolfens. Denn Literatur und Kunst „wurden zum Teil unter dem Zeichen des „Bitterfelder Weges“ geschaffen, der 1959 ausgerufen wurde, um Arbeiter an die Kunst heranzuführen und die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben (Albertinum 2018)“. Diese bewusste Entscheidung, Arbeit und Kunst zu verbinden, bildet einen konstruktivistischen Versuch ab, die Trennung zwischen realen Sozialraum und imaginären Sozialraum zu überwinden; die Entscheidung für einen produktiven Verarbeitungsprozess von Risikofaktoren zwischen innerer und äußerer Realität (vgl. Kiehl 2006). Es ist die Entscheidung der vertiefenden Reflexion – und in diesem Sinne auch die Entscheidung für ein sozialisationstheoretisch-konstruktivistisches Lernen über die Grenzen der Sozialräume hinweg. Der „Bitterfelder Weg“ bildet daher – ähnlich dem durch Stefan Schmidt beschriebenem Eingabewesen der DDR – einen demokratiebildenden Weg innerhalb realsozialistischer Lebenswelten ab, der in der Kunst weitreichend genutzt
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7
Fazit & Ausblick
wurde, um literarisch-künstlerisch verfremdet Gegenmächte und andere „Wahrheiten“ zur DDR-Diktatur zu schaffen. Selbst in „einfachen“ Kunstformen für Kinder wurde über den „Bitterfelder Weg“ ein sozialräumliches, demokratiebildendes Lernen geschaffen: Im DDR-Kinderhörspiel „Burattino“ nach Alexej Nikolajewitsch Tolstoi, unter Regie des Autors Dieter Scharfenberg, wechselt der Schauspieler und Sprecher Eberhard Esche in der Rolle des „Basilo“ in der 26. Minute vom Hochdeutschen in einen sächsischen Dialekt. Er trifft damit bewusst einen Sprachstil wie er auch von Parteivorständen wie Erich Honecker und Walter Ulbricht gesprochen wurde. Dabei geht es in der Szene um die Irreführung der Figur des „Burattino“, der seine Goldthaler in der Erde vergraben soll, damit daraus ein Goldthaler-Baum wachsen kann; final steht dahinter die Bereicherung des „Basilos“ an „Burattinos“ Unmündigkeit. Die Figur des „Basilo“ erklärt „Burattinos“ Bedenken in besagter Szene mit den Worten „hier im Land der Einfalt“ für nichtig – die Regime-Kritik an der DDR als Land zwischen Partei-Dogmatismus und gelebter Realität ist deutlich. Würde man der DDR-Kunst diese Formen von demokratiebildender Gegenmacht zusprechen, würden Kunst-Formen und weitere gesellschaftliche Teilsysteme oder Sozialräume innerhalb der DDR unter einem anderen Fokus als bisher untersucht werden müssen. Ebenso müsste als Nebenfolge der Umgang mit DDR-Wahrheiten hinterfragt werden. Dabei treffen „Wahrheiten“ unterschiedlicher Gesellschaftssysteme aufeinander, die sich bisher „feindlich“ und nicht „agonistisch“ gegenüberstehen. Für und auf den Sozialraum Bitterfeld-Wolfen müsste ein neuer Blick geschaffen werden, der es seinen Bewohner*innen erlaubt, über den Sozialraum, in welchem sie gelebt haben und weiterhin leben, anders wahrgenommen zu werden; zum Beispiel, indem man sie zu Wort kommen lässt und ihren aktuellen Protest, den sie als wählende bzw. nichtwählende Bürger*innen äußern, als Wortmeldung kritisch reflektiert. Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis eines fast zehnjährigen Prozess des sozialräumlichen Lernens über das Sozialraumgefüge der Region Bitterfeld-Wolfens. Sie zeigt, wie sich Mündigkeit als Demokratiebildung in den beschriebenen Ebenen des relationalen Hyper-Raums vollziehen kann und bindet eine Analyse der verschiedenen Realitäts-Ebenen bewusst in den Prozess ein. Die in Kapitel 2 erfolgte Beschreibung einer Gesellschaft der Vielfalt über den fiktionalen Sozialraum der Welt „Game of Thrones“ ist daher nicht beliebig – also nicht allein das Vergnügen der Verfasserin, Realitäten über Fiktionen zu ersetzen – sondern es zeigt der Demokratiebildung die Möglichkeiten einer politischen Bildung jenseits etablierter didaktischer Wege auf. Letztendlich versucht diese Arbeit bewusst bestehende „Wahrheiten“ darüber, wie Schule und Unterricht sein sollen, aufzubrechen und setzt weitere „Wahrheiten“ daneben, deren Ursprünge im Sozialraum als demokratiebildendem Koordinatensystem selbst liegen.
7.2 Die Forschungsfragen und ihre resümierenden Antworten
7.2
259
Die Forschungsfragen und ihre resümierenden Antworten
Die vorliegende Arbeit folgt fünf grundlegenden Forschungsfragen, die den zentralen Begriff eines sozialräumlichen Lernens zu definieren versuchen. Letztendlich ist sozialräumliches Lernen kein neues Phänomen oder Konzept, welches nun die Didaktik, Bildungswissenschaft oder Teile der Sozialwissenschaften „neu erfinden“ will. Sozialräumliches Lernen hat es unter anderen Begrifflichkeiten im ähnlichen Verständnis bereits als Theorie- und Praxisansatz gegeben. Es ist das Prinzip eines Erlebens von innerer und äußerer Realität; es ist der Weg der Reflexion dieses Erlebens und der Versuch, mündig im Sinne von selbstbestimmt das Erleben in das künftige Handeln einzubauen. Auch kann kein Mensch leben, ohne sozialräumlich zu lernen, denn kein Mensch folgt ausschließlich einer automatischen Eindrucksbildung, ohne das Erlebte an bestimmten Punkten seines Lebens kritisch zu hinterfragen. Die Arbeit ist jedoch ein Plädoyer für eben jenen Prozess im menschlichen Leben, der Weichen stellt, die Dinge anders zu tun als bisher; für den Prozess, der aus sich selbst heraus sozialisierend, konstruktivistisch und bildend ist. Die Arbeit ist ein Appell, diesen natürlichen Prozess bewusst in schulische Prozesse einzubinden, ihn als Lernen in seiner ursprünglichsten Form anzusehen und die strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen bzw. zu fördern, welche diesen Lernprozess stützen. Denn er ist die Basis gesellschaftlicher Tranformationsprozesse, die den gegenwärtigen regressiven Tendenzen entgegenwirken können. Um es Schule, Didaktik und (Bildungs)Politik „einfacher zu machen“, diese Form des Lernens ins Selbstverständnis zu integrieren – ohne dass eine semantische Konnotation wie „Reformpädagogik“, „Kritische Pädagogik“, „Linke Pädagogik“ oder gar „Kuschelpädagogik“ den Wert dieser Lernform über die Etablierung eines „politischen Kampfbegriffes“ versucht zu bestimmen – wurden fünf Forschungsfragen als Rahmung gesetzt. Darüber soll das sozialräumliche Lernen leichter zu definieren sein und vor allem soll es leichter möglich werden, interdisziplinär weitere Forschung an diesen Begriff anzuknüpfen. Welche Kompetenzen, die für ein Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt relevant sind, können über das sozialräumliche Lernen trainiert und gestärkt werden? Die Arbeit entwickelte deduktiv neun Kompetenzen. Grundlage dafür bildete das Arbeitswissen der Verfasserin, welches sich aus der sozialräumlichen Projektarbeit selbst speist. Die Kontexte dafür wurden sowohl durch ESF-, Bundes-, Landesund Stiftungsprogramme und ihre Rahmenrichtlinien gebildet, als auch durch die eigentliche Basisarbeit im Quartier und Sozialraum selbst: über den Austausch mit Bewohner*innen, aber auch über die Arbeit in thematisch breiten Netzwerkstrukturen auf Kommunal- und Landesebene. Weiterhin erfolgte ein erster Abgleich
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7
Fazit & Ausblick
mit Rahmenlehrplänen des Landes Sachsen-Anhalt, die sich speziell der fächerübergreifenden Kompetenzentwicklung widmen. Um die deduktiv abgeleiteten Kompetenzen auch als Kategorien der empirischen Erhebung ansetzen zu können, wurden diese in einer synoptischen Darstellung bestehenden Kompetenzbegriffen an verschiedenen schulischen Schnittstellen der fächerübergreifenden Kompetenzstärkung gegenübergestellt. Durch die semantischen Schnittstellen konnten die neun Kompetenzkategorien inhaltlich ausdefiniert und gestützt werden (vgl. Kapitel 4). Im Ergebnis entwickelt sich ein Kompetenzmodell und Kategoriensystem des sozialräumlichen Lernens, welches Kompetenzen gegeneinander nochmals gewichten kann (Abb. 7.1). Wesentlich dabei ist auch der Grad der Aktivierung. Das Aktivierungspotential bestimmt, wann jede einzelne Kompetenz im Prozess der „abhängigen Emanzipation“ – im Prozess von der „Inklusion & Partizipation“, „Bewusstwerdung & Reflexion“, „Handlung & Gestaltung sowie „Modifizierung & Transformation“ – in die Performanz findet: Grad der Komplexität
ein Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickeln
an (inter)kultureller Bildung und Vielfalt teilhaben
eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln können
Zusammenhänge kritisch reflektieren können
situationsgerecht handeln können
aktiv und kooperativ gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können
planvoll handeln können
in die Gesellschaft integriert sein
Inklusion & Partizipation
einen produktiven Umgang mit Risikofaktoren finden
Bewusstwerdung & Reflexion
Handlung & Gestaltung
Modifizierung & Transformation
Grad der Aktivierung
Abb. 7.1 „Kategoriensystem“. (Eigene Ableitung und Darstellung)
7.2 Die Forschungsfragen und ihre resümierenden Antworten
261
Welche Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich über das sozialräumliche Lernen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ableiten? Das sozialräumliche Lernen ist ein sehr gezielter Weg, um über schulische Lernprozesse gesellschaftlichen Entfremdungserscheinungen entgegenzuwirken. Nicht zuletzt die durch Helga und Hartmut Zeiher (Zeiher 1994; Zeiher/Zeiher 1994) beschriebene Verinselung der Lebensräume lässt sich gezielt über diese Form des Lernens aufweichen, indem die segregierten Lebensräume über einen gemeinsam geteilten Sozialraum erschlossen werden können. Die Form des Lernens, die es verlangt, einzelne Facetten des Sozialraums zusammenzuführen, entspricht einem kritischen Denken in Zusammenhängen, wie es Oskar Negt (2016 [1997]) und Wolfgang Klafki (1999) als Kernkompetenz des Bildungsprozesses ansetzen. Bedenkt man, dass gegenwärtig das regressive Erleben von Welt aus deren Reflexivität erwächst, braucht es diese Form des Lernens, um die Nebenfolgen in ihren Kausalitäten zusammenzuführen, die Ursprünge zu erschließen, um final künftige Nebenfolgen abzuschätzen. Sozialräumliches Lernen fördert das Verständnis vom Selbst innerhalb der Welt als Gesellschaft der Vielfalt. Es zeigt die wechselseitigen Verschränkungen und fordert zum Handeln heraus. Das parallele Bewusstsein zum Sozialraum als Machtraum trägt dabei das Potential in sich, Handeln und sich daraus ergebende Strukturen zu hinterfragen. Es ist jenes Bewusstsein um die eigene, unweigerliche Abhängigkeit innerhalb sozialräumlicher Strukturen, woraus der Wunsch zur Handlungs- und Strukturänderung wachsen kann – möglicherweise als Gegenmacht oder möglicherweise als Korrektur der eigenen Positionierung im Sozialraum. Sozialräumliches Lernen als sozialisationstheoretisch-konstruktivistische Lernform ist unweigerlich an den Prozess der Vergesellschaftung gebunden, da es das Lernen als Form der Persönlichkeitsentwicklung nur in Verschränkung mit dem äußeren Raum denken und entwickeln kann. Da das sozialräumliche Lernen in seinem methodischdidaktischen Verständnis über die Form einer Bildungsbegleitung erfolgen muss, finden sich darüber auch die Räume des notwendigen Schutzes, des Ausprobierens und des Andersmachens – quasi als Moratorium und Vorstufe für das mündige Leben als Bürger*in in einem stetigen Prozess der „abhängigen Emanzipation“. Welche Aspekte behindern bzw. fördern die Implementierung sozialräumlichen Lernens? Die Faktorenanalyse hat gezeigt, dass es vor allem Faktoren der Makroebene sind, die eine Implementierung behindern, da sie die notwendigen Strukturen des sozialräumlichen Lernens nicht schaffen, sondern behindern. Die Analyse hat jedoch gleichzeitig deutlich gemacht, dass es personelle und strukturelle Faktoren der Mikro- und Mesoebene sind, die das sozialräumliche Lernen stützen. Indem sie vor allem „von unten“ und auf lokaler Ebene gezielt Defizite der Makroebene
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7
Fazit & Ausblick
ausgleichen können, schaffen sie einen Ermöglichungsraum. Dennoch darf in diesen Faktoren nicht allein die Lösung gesucht werden; es braucht sie parallel auf gesellschaftlicher Makroebene – wobei vor allem die bundes- und landespolitische Bildungspolitik angesprochen wird. Mündigkeit ist es, die von Handlungstragenden in (bildungs)politischer Entscheidungsposition verlangt wird, um die gegenwärtige Weichenstellung in vielen Bereichen zu korrigieren. So wichtig eine schulische Kompetenzorientierung und die inklusive Schule sind, beide Konzepte bleiben in der Praxis Makulatur, wenn Probleme im Theorie-Praxis-Transfer nicht hinreichend benannt und wahrgenommen werden. Eine Öffentliche Sozialwissenschaft, welche die Positionen der Praktiker*innen, mit denen der Theoretiker*innen im (bildungs)politischen Diskurs verbindet, wäre ein möglicher Ansatz – dem jedoch auch nach gelungener Umsetzung weitere Ansätze folgen müssen. Was versteht man unter sozialräumlichem Lernen und wie lässt sich diese Lernform gestalten? Diese Fragestellung die zentrale Frage der vorliegenden Forschungsarbeit. Das Kapitel 3 beschreibt weitere Gestaltungsansätze und skizziert dabei die wesentlichen Qualitätsmerkmale eines sozialräumlichen Lernens: Bedarfsorientierung, curriculare Anbindung, Feedback und Reflexion sowie eine Lernbegleitung „auf Augenhöhe“. Wenn man es nun kurz und prägnant formulieren möchte, was sozialräumliches Lernen ist, dann ist es das Lernen im und über das Leben. Es ist ein Lernen mit Anderen, aber auch ein Lernen an sich selbst. Was als Wissen und Können nachhaltig bleibt, entscheidet dabei der Lernende selbst – indem er das wählt, was ihm oder ihr selbst die eigentliche Bedeutung inne hat. Sozialräumliches Lernen ist ein gesellschaftliches Lernen, welches ganz automatisch gesellschaftliche Rahmenfaktoren einbindet und über die sich aus dem Lernprozess heraus ergebende Fragestellungen Antworten auf ein Leben in einer Gesellschaft der Vielfalt bietet. Nicht alle Fragen werden dabei beantwortet, aber eben jene offenen Fragestellungen bilden die Basis für weitere Lernprozesse. Obwohl das sozialräumliche Lernen eine kollektive Lernform ist, ist sie wie keine andere ein an sich selbst ausgerichtetes Lernen und trägt damit auch eine hohe intrinsische Motivation in sich, um eigenständig Antworten auf Fragestellungen zu finden.
7.3
Abgeleitete, übergreifende Handlungsempfehlungen
Ursprünglich wollte die Arbeit an dieser Stelle eine klare Auflistung an Handlungsempfehlungen anbieten. Da jedoch die Arbeit der Verfasserin im Sozialraum Bitterfeld-Wolfen parallel zur Anfertigung dieser Arbeit weiterlief und neues
7.3 Abgeleitete, übergreifende Handlungsempfehlungen
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Erfahrungswissen generiert hat, muss gut drei Jahre nach Beginn des Promotionsvorhabens gesagt werden, dass es keine ultimativen Handlungsempfehlungen geben kann. So speziell jeder Sozialraum auch ist, so speziell ist die Wahrnehmung der einzelnen Akteur*innen auf diesen: Es wird – abhängig der handelnden Personen – Sozialräume geben, die bereits Formen eines sozialräumlichen Lernens fest in ihren Strukturen verankert haben; Sozialräume die das Prinzip eines sozialräumlichen Lernens bereits leben, ohne es als solches zu benennen. Parallel dazu wird es Sozialräume geben, jene wie die Region Bitterfeld-Wolfen, die ihre eigene Bedeutung als Sozialraum nicht allumfassend kennen und in welchen ein sozialräumliches Lernen zunächst die einzelnen Raumstrukturen beschreiben muss, bevor das Lernen methodisch-didaktisch darin Verankerung finden kann. Die Verfasserin hat sich daher entschieden, die Handlungsempfehlungen an eben jenem Sozialraum abzuleiten, aus welchem heraus die Arbeit auch erwachsen ist, und diese wirklich im Modus der „Empfehlung“ zu fixieren: Wie die Analyse gezeigt hat, verweist der Sozialraum Bitterfeld-Wolfen gegenüber anderen ostdeutschen, ländlichen Räumen auf einen besonderen Stellenwert. Obwohl die DDR über weitere Wirtschaftsstandorte mit möglicherweise umfassender Bedeutung verfügte, ist dieser Sozialraum besonders symbolträchtig; gleichfalls steht er wie kein zweiter für den ostdeutschen Raum der „Abgehängten“. Um sozialräumliches Lernen umsetzen zu können, bedarf es einer grundlegenden Sozialraumanalyse, die sich sowohl auf gegenwärtige Akteur*innen und deren Verschränkungen bezieht, aber zugleich den Sozialraum in seiner historischen Entwicklung nachzeichnet. Es braucht ein prinzipielles Bewusstsein um die Spezifik des Raums – egal, von welcher Größe man ausgeht, es entscheidet sich an den Menschen, die innerhalb einer räumlichen Begrenzung agieren. Um die Sozialraumanalyse ansetzen zu können, können einzelne Bewohner*innen befragt werden, aber auch Multiplikator*innen innerhalb der räumlichen Einheit, wobei diesen Beschreibungen dann auch statistischen Zahlen entgegengesetzt werden müssen. So verweist Sozialraum Wolfen-Nord allein aufgrund seiner statistischen Beschreibung auf einen generellen sozialen und ökonomischen Entwicklungsbedarf; die Befragung seiner Bewohner*innen wird jedoch vor allem das Gefühl der „Heimat“ wiederspiegeln, welches im ersten Moment rein semantisch in keinem Verhältnis zur statistischen Erfassung steht. Multiplikator*innen, die selbst in einer vermittelnden Form innerhalb der sozialräumlichen Figurationen agieren, können jene Widersprüche zu Teilen durch ihr Erfahrungswissen aufweichen oder erläutern. Darüber lässt sich bereits eine erste Strukturanalyse darstellbar machen: als visuelles Netzwerk, welches einzelne Positionen deutlich macht, Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten herausarbeitet, Schwerpunkte markiert und daraus auch
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7
Fazit & Ausblick
Handlungsbedarf als „blinden Fleck“ kennzeichnet. Wer im Bereich des Quartiermanagements tätig ist, wird dieses Netzwerk als „neuronale Landkarte“ im Kopf abgespeichert haben. Dabei werden folgende Fragen zentral: Welche Akteur*innen stehen in welcher Beziehung, wer hat welches Eigeninteresse, welches möglicherweise mit dem des Anderen kollidiert? Gibt es Kompromisse oder wie können diese innerhalb der gegebenen Strukturen geschaffen werden? Stehen die Eigeninteressen vielleicht dennoch in einem kollektiven Ziel und wer kann dafür von seiner Position abweichen? Tatsächlich geht es auch darum „das Gemeinsame“ zu finden und Unterschiede zu benennen. Auf diese Weise entstehen sozialräumliche Strukturen in einem achsenverschränktem Koordinatensystem. Ähnlich wie in der pädagogischen Arbeit selbst werden auch in der strategischen Sozialraumanalyse Situationen entstehen, welche Grenzen und Formen des Nicht-Wissens aufzeigen. Aber selbst das Bewusstsein des Nicht-Wissens schafft Transparenz innerhalb einer bestehenden Reflexivität. Denn „angesicht wachsenden Nicht-Wissens liegt im besonnenen Zweifel, im ‚effective distrust‘ (Wildavsky) [Beck bezieht sich hier auf ein Konzept des amerikanischen Politikwissenschaftlers Aaron Wildavsky, Anmerkung CK], durchaus Chancen für einen besseren Umgang mit (im mehrfachen Sinne) ‚unsicherem‘ Risikowissen“ (Beck 1996b, S. 305). Aus Wissen und Nicht-Wissen lassen sich daher Instrumente einer ganzheitlichen Sozialraumarbeit entwickeln, welche entsprechend aus den sozialräumlichen Strukturen abgeleitet werden. Für den Raum Bitterfeld-Wolfen sind es die Auseinandersetzungen mit der sozialräumlichen Geschichte, der historischen und gegenwärtigen Bedeutung des Sozialraums als Wirtschaftsstandort und die zentrale Herausforderung des demografischen Wandelns, der über das weiterhin bestehende Negativ-Image der überregionalen Wahrnehmung Abwanderungstendenzen nicht durchbrechen kann. Die Instrumente müssen daher schulische Bildung, sozialräumliche Identifikation, Berufsorientierung, Arbeitsplatzattraktivität und Imagepflege verbinden und darüber die Region in ihren Facetten als Wirtschaftsstandort und Lebenswelt denken – abgeleitete Instrumente, welche nur durch Verschränkungen unterschiedlicher Akteur*innen-Gruppen entwickelt werden können; Kommunalverwaltung trifft auf Praktiker*innen der sozialräumlichen Basis und muss zugleich einzelne Dezernate in Schnittstellenoptimierung zusammenführen. Schule braucht entsprechende strukturelle Grundlagen und Gestaltungsräume. Kommunalverwaltung und Landesschulamt können dabei unterstützen. Dennoch benötigt das sozialräumliche Lernen die Sozialraumakteur*innen, um vermittelnd zwischen Bildungsauftrag, Verwaltungsvorschrift und Persönlichkeitsentwicklung den Sozialraum als gemeinsam geteilten Lernraum konzeptionell und praktisch zu integrieren. Durch neue Formen der Mittelzuwendung ist es für viele Träger der
7.3 Abgeleitete, übergreifende Handlungsempfehlungen
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Sozialraum- und Quartierarbeit gegenwärtig das Hauptziel, die eigene Infrastruktur aus Personal und finanziellen Ressourcen aufrechtzuerhalten; Raum für Innovationen ist da eher weniger gegeben. Wenn jedoch gezielt Mittel eingesetzt werden, um Sozialraumakteur*innen bewusst eine Schnittstellenfunktion zwischen Schule und Sozialraum zu ermöglichen – wie es vor der Mittelkürzung mit dem Bundesprogramm „Soziale Stadt“ angedacht war – dann entstehen auch hier Räume, die das Potential zur Weiterentwicklung tragen; vorausgesetzt, die Mittel werden direkt an die Träger weitergeleitet und nicht allein in die „Koordinierungsstelle der Koordinierungsstelle“ investiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit der derzeitigen Fördermittelpolitik wird notwendig. Eine entsprechende Koordinierungsstelle, welche sowohl kommunalpolitische Themenbereiche als auch sozialräumliche Zielstellungen miteinander verbindet – moderierend und mediativ – muss über eine feste Regelfinanzierung in die kommunalpolitische Handlungsstruktur eingebunden werden. Sie braucht finanzielle und zeitliche Beständigkeit, denn Strukturentwicklung lässt sich nicht von heute auf morgen am Schreibtisch betreiben; sie fordert Kommunikation in die Periphere sowie nach „oben“ und nach „unten“. Speziell die Kommunikation mit den Bürger*innen wird zum wichtigen Kommunikationsmittel einer solchen koordinierenden Stelle, denn sie hilft, statistische Daten gegen subjektive Wahrnehmungen abzugleichen. Die Stadt Leipzig setzt seit 2018 das Sozialraumprojekt „Amt für Wunscherfüllung und VielleichtManagement“ um – ein Beteiligungsprojekt im Quartier Grünau. Angeschlossen an einen Sozialraumakteur, aber in kooperativer Verschränkung mit der Stadtverwaltung werden Bürger*innen des Quartiers zu ihren Wünschen befragt. Dabei kommen Methoden der Gesprächsführung zum Einsatz, die zum Perspektivwechsel anregen, um selbstgesteuert Lösungen und Wunscherfüllungen zu erwirken. Aber zugleich ist die Form der direkten Kommunikation ein gelungenes Instrument, um Stimmungen aufzufangen, Themen aufzunehmen und Verbindungen zu schaffen. Das Projekt muss daher auch als Partizipationsprojekt der Demokratiebildung betrachtet werden. Für den Sozialraum Bitterfeld-Wolfen wäre ein solcher Weg die Möglichkeit, mehrdimensional betrachtet Prozesse „von unten“ anzuregen und zu entwickeln – es ist der direkteste Weg als „Multiplikator“ jenseits etablierter Parteistrukturen auf dem Markt (neben dem AfD-Stand) mit Menschen des Sozialraums ins Gespräch zu kommen. Als klassische Form der aufsuchenden Sozialraumarbeit leiten sich aus dieser Form der Basisarbeit möglicherweise Handlungsnotwendigkeiten ab, welche eine rein statistische Betrachtung des Sozialraums durch den Blick der Kommunalverwaltung nicht leisten kann. Für das sozialräumliche Lernen als methodisch-didaktische Form bietet diese Art der „Bedarfsanalyse“ zugleich eine Betrachtung der Sozialraumstruktur ab, welche in der Vorbereitung die Lehrenden entlastet. Je nachdem, wo das „Amt für
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7
Fazit & Ausblick
Wunscherfüllung und Vielleicht-Management“ sein „Amt“ eröffnet, ergeben sich neue Perspektiven auf das demokratiebildende Koordinatensystem des Sozialraums. Bei der Umsetzung dieses strategischen Zugangs sowie bei der Zusammenarbeit schulischer Akteur*innen mit externen Partner*innen ist es wichtig, alle Beteiligte für das „Warum“ zu sensibleren. Nur wer weiß und verstehen kann, warum etwas zu tun ist, wird mit den ihm*ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sich auf neue und möglicherweise unbekannte Wege einlassen. Dabei bildet „die Unbekannte“ stets eine begleitende Größe des sozialräumlichen Lernens ab. Es wird nie einen rein deduktiven Weg des sozialräumlichen Lernens geben – ganz gleich ob schulisch angebunden oder kommunalpolitisch. Lernen bedeutet stets auch, induktiv Sachverhalte zu entwickeln und dabei auch „Sackgassen zu gehen“. Wenn man in diesem Bewusstsein das sozialräumliche Lernen zulässt, dann lässt man auch mögliche Probleme und Herausforderungen zu, welche final den eigentlichen Wissenszuwachs und Lerneffekt generieren. Auch wenn sozialräumliches Lernen keine festen und definitiven Formen annehmen kann und durch das Herabsenken bürokratischer Hürden, freier in der Umsetzung wird, braucht es dennoch eine bestimmte Struktur. Diese sollte jedoch gemeinsam erprobt und dann umgesetzt werden. Mögliche Handlungsleitfäden, die Erfahrungen fixieren und weitere Vorschläge geben, können dann als Struktur Anwendung finden. Wesentlich dabei ist es, sich im Vorfeld auf Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit zu verständigen. Dass auch diese Ziele stets ihre Grenzen haben, ist natürlich Realität, dennoch ist Zusammenarbeit dann fruchtbar, wenn alle Akteur*innen ein gemeinsames sowie ein individuelles Ziel in der Zukunft erkennen können, welches im besten Falle auch noch die Chance auf Verstetigung finden kann. Mit Fokus auf ein künftiges Ziel und auch im gegenseitigen Voneinander-Lernen lassen sich dann oft – auch wenn Konflikte nicht ausbleiben werden, welche jedoch zugleich neuen Anstoß geben können – weitere gemeinsame Ziele entwickeln. Für den Sozialraum Bitterfeld-Wolfen ist dabei eine unterstützende Begleitung von außen als Form des „neutralen Blicks“ hilfreich, denn die gegenwärtigen Strukturen werden von innen heraus nur schwer aufzustoßen sein.
7.4
Forschungsdesiderata
Da diese Arbeit das Ergebnis eines sich entwickelnden Prozesses über das eigentliche Promotionsvorhaben hinaus ist, ist die Entwicklung eines theoretischen und praktischen Konzeptes des sozialräumlichen Lernens auch nicht abgeschlossen. Die vorliegende Arbeit versteht sich lediglich als Anstoß, um Bestehendes neu zu sortieren und im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Bedingungen anders
7.4 Forschungsdesiderata
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zu verorten. Daher bleibt es nicht aus, dass an dieser Stelle auf weitere Perspektiven zu verweisen ist, welche das sozialräumliche Lernen in einem demokratiebildenden Koordinatensystem als „Idee“ und realen Prozess stützen. Die Arbeit verzichtet auf eine Forschungsstandanalyse, möchte aber an eben dieser Stelle auf die Forschungen junger Wissenschaftler*innen verweisen, die sich im akademischen Betrieb befinden und mit ihren jeweiligen Fokus innerhalb der breiten Themenfelder Sozialraum und Demokratie weitere Impulse setzen können: Malte Ebner von Eschenbach (2014) widmet sich dem Thema Raum durch theoretische Ansätze Jürgen Habermas, um darüber Zivilgesellschaft als Teilmenge des Sozialräumlichen in ihrer Möglichkeitsformen der Gegenmacht und Subpolitik zu entwickeln. Ebner von Eschenbach argumentiert zwar nicht mit Ulrich Becks Antworten auf gesellschaftliche Reflexivität, wie es die vorliegende Arbeit tut, jedoch zeigt auch er die Transformationspotentiale des Sozialraums über soziale Bewegungen aus der Zivilgesellschaft heraus auf. Die Zugänge beider Arbeiten sind in ihrer theoretischen Ableitung sehr verschieden, die Schnittstellen belegen jedoch das macht- und demokratiebildende Prinzip des sozialen Raumes. Jana Trumann (2014) untersucht soziale Bewegungen und bürgerschaftliches Engagement gleichfalls als Lernräume. Dabei wird der zivilgesellschaftliche Widerstand zum verschränkten Lern-Handlungsraum. Aus einer wieder sehr schulischen Perspektive heraus übernimmt Katharina Kindermann (2017) die Sicht auf demokratiebildende Handlungsräume, indem sie sich – wie die vorliegende Arbeit – den außerschulischen Raum als möglichen Unterrichtsort zu Eigen macht. Ebenfalls wie Jana Trumann stützt sich Katharina Kindermann dabei auf subjektwissenschaftliche Grundlagen Klaus Holzkamps. Wiederum makrosoziologisch betrachtet Luzia Sievi (2017) Demokratie und Demokratieentwicklung – sie stellt poststrukturalistische Ansätze in den Fokus, worüber sich wiederum Schlussfolgerungen für ein Lernen im Sozialraum ziehen lassen. Über dieser Arbeit werden verschiedene angegliederte Themenkomplexe angestoßen, auf welche an dieser Stelle nochmals explizit verwiesen werden soll: Theoretisch sowie praktisch ist diese Arbeit ein Appell an das sozialräumliche Lernen als konkrete Form einer Öffentlichen Sozialwissenschaft. Die gesellschaftliche Relevanz dieser wurde in der Arbeit bereits dargestellt; dennoch muss nochmals explizit die Notwendigkeit dieser Form der Wissensvermittlung betont werden, denn wie anders kann die Komplexität einer Gesellschaft der Vielfalt von eben jener Gesellschaft begriffen werden – „Wer nicht denkt und wer nicht weiß, der glaubt den ganzen Nazischeiß.“ – Das sozialräumliche Lernen muss dabei nicht auf den Bereich der Schule begrenzt bleiben, sondern kann unter lebenslangen Lernansätzen auch den Bereich der Erwachsenenbildung einbinden und eine öffentliche
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7
Fazit & Ausblick
Sozialwissenschaft über mediale Kommunikationskanäle sowie Institutionen der Erwachsenenbildung transportieren. Hierbei sind vor allem die sozialräumlichen Verschränkungen zur digitalen Raum-Ebene interessant. Da das Hyperraum-Modell von einer komplexen Vernetzung zwischen analogem und digitalem Sozialraum ausgeht, verweist die Arbeit nochmals konkret auf eine Einbindung der Demokratiebildung in die Informatikdidaktik. Diese kann sich nicht allein auf die Form und die Anwendung digitaler Medien konzentrieren, sondern muss perspektivisch auch im Sinne einer ganzheitlichen Medienpädagogik nach den gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Chancen und Grenzen des digitalen Sozialraums fragen. Dadurch werden Anwendungs- und Gestaltungsmöglichkeiten nochmals anders hinterfragbar – und vor allem transparenter. Aus dieser Transparenz leiten sich neue, noch nicht erprobte Formen der Demokratiebildung ab, welche zum gegenwärtigen Zeitpunkt innerhalb der politischen Bildung kaum erschlossen werden. Neben der Informatikdidaktik sind es vor allem auch Sprach- und Integrationskurse in ihrem methodisch-didaktischem Design, die durch das sozialräumliche Lernen profitieren. Dabei geht es um ein stärkeres Bewusstsein für den Wert des sozialräumlichen Bezugs bei der Vermittlung von Orientierungswissen. Ganz abgesehen davon, dass die Auseinandersetzung mit demokratischen Werte nicht zwingend jedem Menschen mit Migrationshintergrund bislang unbekanntes Wissen vermittelt – also davon ausgegangen werden muss, dass viele Menschen, die bewusst nach Deutschland kommen, dies aufgrund einer demokratischen Wertehaltung tun – ist eine Beschränkung des Orientierungswissens auf Normen, Werte und verfassungsrechtliche Grundlagen nicht zielführend. Demokratie muss erfahrbar werden und gelebt werden. Im Kontext der gegenwärtigen Asylrechtshandhabung in einigen Bundesländern muss an dieser Stelle betont werden, dass Demokratie „keine Einbahnstraße ist“; Demokratie muss zugleich (vor)gelebt werden. Sozialräumliches Lernen kann über sein demokratiebildendes Koordinatensystem auf mögliche Figurations- und Interaktionsprobleme verweisen, indem es sie in der reflexiven Auseinandersetzung mit dem Sozialraum deutlich macht. Zugleich ist ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit das Bewusstsein, dass der Sozialraum stets auch einen Machtbehälter abbildet und sich über Figurationen und Abhängigkeiten formiert. Wenn Bildung also das Ziel der Emanzipation in den Mittelpunkt rückt, dass kann diese Emanzipation stets auch „nur“ eine abhängige Emanzipation sein. Eine absolute Befreiung aus sozialräumlich-gesellschaftlichen Interdependenzen wird es für kein Individuum jemals geben. Spätestens mit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und deren aktuell erleb- und fühlbaren Auswirkungen im Klimabereich ist deutlich geworden, dass selbst der Einsiedler nie losgelöst aus
7.4 Forschungsdesiderata
269
eben jenen Abhängigkeiten leben kann. Er ist und bleibt der Abhängige von Menschen am anderen Ende der Welt, welche den Klimawandel negieren und darüber politische und gesellschaftliche bads befeuern. Wenn eben Bildung sich der Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit heraus widmet, kann Mündigkeit nur im Bewusstsein von absoluter Abhängigkeit erfolgen. Es ist die unweigerliche Einbettung in gegebene Machtstrukturen, welche im Zuge einer abhängigen Emanzipation die Frage nach möglichen Gegenmächten und ihrer Formierung stellt. Grundlage für diesen Bewusstseins- und Lernprozess, dem mögliche Handlungen folgen können, ist die Anerkennung der Bildungswissenschaft, dass ganzheitliche Bildung stets auch eine machtsensible Perspektive verlangt. Forschung mit und über den Sozialraum hat dieses Bewusstsein in ihr Verständnis integriert. Bildungsforschung jenseits des Sozialräumlichen ist nur im ersten Moment frei vom Sozialraum, in der vertiefenden Betrachtung kann es keine Bildungsforschung ohne die grundlegende Anerkennung des Sozialräumlichen und eine zumindest machtsensible Perspektive geben. Mit diesem Bewusstsein liegt in Bildung eine zentrale Antwort auf gegenwärtige Regressionsprozesse dieser Zeit. Einen Aspekt, den die vorliegende Arbeit ignoriert hat, ist die Frage nach dem Konzept der Kultur und wie sich dieses in das Modell des Sozialraums und eines sozialräumlichen Lernens einpassen lässt. Diese Frage kann die Arbeit an dieser Stelle nicht weiterverfolgen, möchte aber dazu anregen in Anknüpfung an die entwickelten Ideen, die Frage zu stellen. Final schließt die vorliegende Arbeit mit einer ähnlich nicht thematisierten Fragestellung ab: Welche Rolle spielt Intuition innerhalb der Wissenschaft? Auf dem ersten Blick scheinen sich beide Begriffe auszuschließen. Im Rückblick auf diese Arbeit und wie sie entstanden ist, muss das jedoch als – gewiss sehr persönlicher – Wunsch an künftige Forschungen weitergetragen werden. Sicher bilden Vorstudium und Berufserfahrung der Verfasserin Grundlagen dieser Arbeit, aber letztendlich ist sie ein sich entwickelnder, fließender Prozess gewesen, der einzelne Bausteine bereits im Bewusstsein markiert hatte, welche jedoch erst im eigentlichen Schreibprozess ein reflexives Ganzes ergeben haben. Viele Teile dieser Arbeit sind in einem „Flow“-Prozess entstanden, so dass die Frage nach der Intuition innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit ganz bewusst gestellt werden muss. Was wir erleben, muss nicht immer Zugang zu unserem Bewusstsein haben, aber möglichweise wird das unbewusste Erlebte im Prozess des Schreibens aktiviert und verbindet die bewussten Bausteine dann zu einer gemeinsamen Logik. Vielfach kam der Prozess dieser Arbeit an einen Punkt, an welchem theoretische Texte nicht etwas Neues erschlossen haben, sondern eher ein klareres Verständnis für die bewussten Bausteine lieferten. Die Bücher haben mit der Verfasserin „kommuniziert“. Dass sich Achtsamkeitsaspekte und Wissenschaft nicht ausschließen müssen, zeigt Hartmut Rosas Wagnis, die Resonanz für die Soziologie zugängig zu
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7
Fazit & Ausblick
machen. Vielleicht ein guter Zeitpunkt, um Wissenschaft auf eben diesen Schatz der Intuition und des Unterbewussten zu lenken.
7.5
Ausblick
Intuitiv, aber auch im klaren Bewusstsein der bisherigen Projekt- und Wissenschaftserfahrung kann die Arbeit nun abschließend einen Ausblick geben; dabei muss – und möchte – sie realistisch sein, was die Nachhaltigkeit der Untersuchungsergebnisse betrifft: Es braucht mehr Stimmen, gewichtigere Stimmen und möglicherweise auch präsentere Stimmen, um für das Lernen, die Bildung sowie für Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung und Vergesellschaftung den Sozialraum ganz gezielt und nachhaltig in den Unterricht zu integrieren. „Gewisse Typen von Kritikern beurteilen im Übrigen sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten danach, ob sie heiter oder trüb, negativ oder konstruktiv enden. Diese Gutwettermoralisten wünschen sich wenigstens am Schluss eine lyrische Aufwallung: Eine ordentliche Prise handfester Optimismus zum Ausklang, die einen frisch und munter entlässt, stimmt sie froh. Nicht alle von uns finden aber, dass die Welt, die wir zu begreifen versuchen, immer Anlass zu politischer Hoffnung und moralischer Selbstgefälligkeit gibt, was bedeutet, dass Sozialwissenschaftler es manchmal schwierig finden, den munteren Idioten zu spielen.“ (C. Wright Mills (2015 [1959], S. 126)
In Zeiten, in denen noch dazu Unterricht vielfach ausfällt, ist der Wunsch nach „Unterricht findet Stadt“ sicher ein berechtigter und wichtiger Wunsch, doch bleibt er als Normalfall schulischer Bildung in seiner Verstetigung gewiss lang noch unerfüllt. In den Handlungsempfehlungen wurde das Leipziger Projekt „Amt für Wunscherfüllung und Vielleicht-Management“ thematisiert. Wenn die Verfasserin sich nun rein fiktiv in diesem Amt begibt und den Wunsch nach „Unterricht findet Stadt“ formuliert, dann tut sie das in der Hoffnung, dass dieser Wunsch auch gehört wird – von eben jenen Stellen, die final die Weichen stellen können und sollen, damit Gesellschaft eine Gesellschaft für alle Menschen bleibt und im Selbstverständnis der Inklusion versucht, exkludierende Strukturen zu minimieren oder abzubauen. An dieser Stelle würde die Projektmitarbeiterin des Amtes für Wunscherfüllung die Verfasserin fragen: Was kannst Du tun, damit dieser Wunsch real wird? Und die Verfasserin würde antworten: Im Moment nichts anders als das, was ich getan habe. Die Idee der vorliegenden Arbeit in der Praxis erproben, Ergebnisse verschriftlichen, Menschen in der sozialräumlichen Praxis davon überzeugen und in diese Richtung weiterarbeiten – immer in der Hoffnung, dass andere gleichfalls erkennen, wie resonant, positiv, wertvoll und inspirierend das Lernen im sozialen Raum sein kann; wie
7.5 Ausblick
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viel persönlichen Mehrwert dies für einen selbst, aber auch für Andere bildet und dass dieser Erfahrungs- und Lernraum zu den von Ulrich Beck anvisierten kosmopolitischen Handlungsraum wachsen könnte – als Antwort auf die „Verrücktheit“ dieser Zeit.
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Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit?
An dieser Stelle darf die Arbeit endlich ins „Ich“ wechseln und frei ihre subjektive Meinung formulieren. Die Frage, wie „neutral“ eine wissenschaftliche Arbeit mit und über den Sozialraum, dessen Teil man seit vielen Jahren auch ist, sein kann, hat mich stets begleitet. Letztendlich ist diese Arbeit zu etwas sehr Persönlichem gewachsen, nach gut zweieinhalb Jahren Schreibprozess kann ich sagen, dass diese Arbeit meine „Therapie“ war, um fast zehn Jahre Sozialraumarbeit in Bitterfeld-Wolfen zu begreifen. Als ich vor vielen Jahren als Quartiermanagerin in Wolfen-Nord begonnen habe, wusste ich zum Einen nicht wirklich, was es bedeutet, für einen Sozialraum zu arbeiten, und zum Anderen plante ich bereits gedanklich meinen Wechsel in die Stadt: Wer will schon in Bitterfeld-Wolfen sein?! Übrigens eine Haltung, die mir seitdem stets und ständig begegnet; egal, ob durch einzelne Personen, die in die Region zum Arbeiten einpendeln, oder durch Gespräche mit Menschen in Leipzig oder aber durch Äußerungen Einzelner in den Medien. Ich muss sagen, dass mich selbst auch mit dieser Region lange Zeit eine Art „Hassliebe“ verbunden hat. „Gehasst“ habe ich den zwischenmenschlichen „Klüngel“, egal ob auf kommunalpolitischer Ebene oder zwischen Akteur*innen der Zivilgesellschaft; die sehr eingeschränkte Handlungsfähigkeit, die stets über Rechtsvorschriften, Bürokratisierung, Controlling und fehlender Motivation ausgebremst wird, sowie die Abhängigkeit zur „Deutschen Bahn“, die mich über die Strecke Leipzig – Bitterfeld – Wolfen endlos Nerven gekostet hat. „Geliebt“ habe ich diese Region für viele ihrer Menschen, die mich beeindruckt, beeinflusst und auch berührt haben: sei es die ehrenamtlich Aktiven der Freiwilligenagentur; Frauen, die mit viel Engagement ihre „Jugendkunstschule“ beleben; die Schüler*innen der „Altenpflege 14“; Akteur*innen der Integrationsarbeit; geflüchtete Menschen selbst, die hier leben, viel Grund zum Aufgeben hätten, es aber nicht tun, und auch couragierte
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kiehl, Unterricht findet Stadt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31427-9_8
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Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit?
Mitarbeiterinnen der Landkreisverwaltung, die menschlich und mit viel Herzensbildung klug Nischen innerhalb der Verwaltungsstrukturen finden und im Sinne der Region nutzen, sowie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die teilweise seit über 20 Jahren oft unter schwierigen Bedingungen immer das Beste aus dem, was sie tun, gemacht haben und machen. Diese „Hassliebe“ hat sich mit der Arbeit an Kapitel 5, der Beschreibung des reflexiven und regressiven Sozialraums Bitterfeld-Wolfen, final in eine größtenteils durchgehende Zuneigung zu dieser Region gewandelt. Obwohl ich eigentlich geplant hatte, den Raum vorrangig als Raum der Begrenzung zu beschreiben, ist mir dies nicht gelungen. Vielmehr wurde mir im eigentlichen Schreibprozess plötzlich bewusst, wie sehr die Begrenzungen dieses Sozialraums aus seiner bisherigen zu kurz greifenden Betrachtungsweise wachsen. Als hätte sich schreibtherapeutisch auch in mir etwas gelöst, kann ich nun die ganzen weniger schönen Aspekte der Region als das betrachten, was sie vielfach sind: Normalität und Facetten einer Gesellschaft der Vielfalt, deren Nebenfolgenreflexivität nicht bewusst genug ist, um zu verstehen und zu akzeptieren. Die Arbeit an diesem Promotionsvorhaben bildete somit die Reflexionsphase meines sozialräumlichen Lernens in der Region über diese vielen Jahre ab. All meine negativen wie positiven Erfahrungen haben sich teils neu ins Bewusstsein gedrängt und teils anders zusammengefügt, um daraus weiteres Wissen wachsen zu lassen. Dabei kommt das Wissen nie zu einem finalen Endpunkt, weshalb ich an dieser Stelle auch sagen muss: Ja, meine Arbeit ist nicht frei von eigener subjektiver Wahrnehmung – wie auch, wenn ich ein Teil ihres Untersuchungsgegenstandes bin – und ja, diese Arbeit ist eine „Wahrheit“, was nicht bedeutet, dass es keine weiteren „Wahrheiten“ daneben gibt und dass sich diese, meine „Wahrheit“ nicht in den kommenden Jahren auch innerhalb meiner Beschreibung wandeln wird. Wissenschaftliche Arbeiten können daher – entsprechend ihres Forschungsgegenstandes – eben auch Arbeiten sein, die lediglich eine einzelne Facette des Wissens abbilden, um dann vom jeweiligen Wissenschaftler bzw. von der jeweiligen Wissenschaftlerin mit neuem Wissen anders weiterentwickelt zu werden. Subjektives Wissen kommt nie in einen Endzustand, was das Wunderbare des Lernens selbst abbildet: die Entwicklung. Im Kontext dieser Entwicklung müssen auch all die Dinge begriffen werden, die mit am Sozialraum Bitterfeld-Wolfen so „gegen den Strich“ gehen: „Es menschelt“ zwischen Akteur*innen des Sozialraums, auch dann wenn sie politische Ämter inne haben und eigentlich professionell neutral sein müssten. In einem Sozialraum, der begrenzt ist und Jeder Jeden über einige Ecken kennt, bestehen besonders starke Interdependenzen. Man ist und bleibt voneinander abhängig, Figurationsgefüge des
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Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit?
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Sozialraums entstehen, in denen sich Macht und Gegenmacht immer wieder verschieben. Betrachtet man den kommunalen Mittelfluss, der eben auch durch EUund Bundesmittel beeinflusst wird, dann nehmen Machtgefüge in ihrer Bedeutung zu. Fehlt dann die Transparenz – ein Hauptproblem moderner Demokratie – dann können auch Formen von Machtmissbrauch entstehen. Trotz scheinbar transparenter Strukturen sind es eben doch eben jene zwischenmenschlichen Verflechtungen, die sich mit Hilfe von Zuwendungsbescheiden und Ausschussordnungen nicht nahtlos aufdecken lassen. Auch wenn mir diese Prinzipien schnell zu Beginn meiner Arbeit bereits bewusst geworden sind, hätte ich mich nie getraut, sie als solche zu formulieren. So ist schließlich der Vorwurf der Intransparenz und einer dadurch ermöglichten Korruption ein Vorwurf, der prinzipiell erst einmal demokratiefeindlich wirkt. Es gibt Gesetze, die eben jene Transparenz ermöglichen und schützen. Meinen persönlichen Erlösungsmoment in diesem inneren Konflikt hatte ich in einer Vortragsreihe an der Leibniz Universität Hannover, als ein Mitstipendiat, den ich sehr schätze, die Absolutheit der Demokratie offen im Plenum anzweifelte. Endlich hatte jemand das ausgesprochen, was ich tagtäglich in meiner Arbeit erlebe und ich konnte ab diesem Moment auf eben jener Tatsache mein weiteres Erleben des Sozialräumlichen aufbauen. Auch wenn meine Wahrnehmung sicher diskussionsbedürftig ist, aber nun hatte mein Standpunkt erstmals seine Daseinsberechtigung erhalten, ohne dass ich mir sofort den Vorwurf der politischen Überformung des linken oder rechten Randes zu eigen machen musste. Aus diesem Bewusstsein heraus ist auch die Akzeptanz einer Figurations-Ebene des Sozialraums gewachsen, gekoppelt an die Ebenen der Interaktion und der Situation lässt es sich leichter beschreiben, weshalb die Korruption womöglich genau auch ein Merkmal der Demokratie, wie wir sie erleben, abbildet und Demokratie nie frei davon sein kann – so wie Sozialwissenschaft nie absolut wertneutral sein kann. Wenn ich nun davon ausgehe, dass es vielen Menschen so geht, wie es mir ergangen ist, dass sie in ihrem tagtäglichem Erleben feststellen, dass viele Bereiche der Gesellschaft eben nicht ausschließlich demokratisch sind, dann stecken möglicherweise viele Menschen in diesem inneren Zwiespalt fest. Manche von ihnen sind 2015 mit PEGIDA auf die Straße gegangen, Machen wählen AfD und Viele haben sich sicher – weil es das Einfachste ist, wenn man etwas nicht verstehen kann – ins Private zurückgezogen. Im Bezug auf den Sozialraum Bitterfeld-Wolfens erlebe ich eben jenes Phänomen als Form fehlender, kreativer Handlungsfreiheit und oftmals auch als Resignation. Wenn Sinn nicht geschaffen werden kann, dann bleiben nur noch die Verwaltungsvorschriften und die Controlling-Zahlen, dann fehlt die Kraft und der Ansporn für Kreativ-Neues, was anders sein könnte, als das Bisherige und
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Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit?
dann kann ich auch keine Motivation erwarten, welche die Grenzen des Notwendigen sprengt. Ich stoße auf eben jene Unbeweglichkeit, die es mir schwer macht, im Sozialraum Neues anzustoßen. Und so könnte jeder seine Geschichte erzählen, die es ihm schwer macht, das anzustoßen, was es zu bewegen gilt. Obwohl ich immer noch eine sehr ungünstige Beziehung zur „Deutschen Bahn“ habe, weiß ich jetzt dank einer sehr couragierten und in sich ruhenden Zugbegleiterin, dass eben jene Zugbegleiter*innen, neuerdings selbst kontrolliert werden, ob sie die Fahrgäste richtig kontrollieren. Über die Auseinandersetzung mit Hartmut Rosas resonanztheoretischen Überlegungen und eigenen Erfahrungen, ist es eben jene Kontrolle als Form des fehlenden Vertrauens, die Resonanz zerstört und Entfremdung zwischen Menschen schafft. Möglicherweise ist es auch eben jene Kontrolle, „gut sein“ zu wollen, die es der Demokratie gegenwärtig so schwer macht, Resonanz bei den Bürgerinnen und Bürgern zu finden. Zur Kontrolle zählt dabei auch der Umgang mit „dem Osten“ und dem Wendeprozess. Mein persönliches „Erweckungserlebnis“ – jedoch als Form einer tiefen Verstörung – hatte ich dabei in einer Soziologie-Vorlesung der Universität Leipzig, als ehemaligen DDR-Bewohner*innen die umfassende Persönlichkeitsentwicklung wegen der eingeschränkten Reisefreiheit abgesprochen wurde. Dabei dachte ich an die Menschen, die mich in meiner Kindheit in der DDR begleitet haben und von Dritten möglicherweise als „Wendeverlierer“ bezeichnet werden würden; ebenso wie an mir bekannte Ingenieure, die mit der Wende „zu alt“ waren und die mir dann während diverser Nebenjob-Tätigkeiten im Wachschutzgewerbe begegneten. Vom TU-Dresden-Ingenieur zum Wachmann ist die Umkehrung des kapitalistischen Traums des Tellerwäschers, der dann mit Fleiß Millionär wird. Trotzdem formiert und kreist der Ruf des „Jammer-Ossis“ über all diesen Menschen. Und gleichzeitig erwartet diese Demokratie beherzte und couragierte Bürgerinnen und Bürger. In Zeiten, in denen in Sachsen Menschen, die „nichtdeutsch“ aussehen, von manchen dieser Bürgerinnen und Bürger durch die Straßen gehetzt werden, frage ich mich, ob es hätte so weit kommen müssen, hätte man spätestens 2015 nicht versucht, die Fehler in der Demokratie offen und selbstkritisch aufzuarbeiten, damit Menschen die Bestätigung erhalten, dass ihrem Gefühl eine bestimmte Form von „Wahrheit“ zugrundeliegt. Ja, ich plädiere eindeutig dafür, mit „Rechten“ zu reden. Sicher ist der Zug des Dialogs bei öffentlich bekannten Demagogen abgefahren. Dennoch bleiben sehr viele Menschen übrig, die Redebedarf hatten und möglicherweise auch haben. Die Oma, die ein Leben lang gearbeitet hat und nun in Bitterfeld-Wolfen Wohngeld beantragen muss, ist kein „Demagoge“, dennoch hat auch sie das Bedürfnis gehört zu werden. Aber das haben Viele. Das hatte 2010 auch die Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Bitterfeld-Wolfen, als sie mit ihrem Jahresbericht eindringlich an die damalige Oberbürgermeisterin appellierte, dass zwar rein statistisch die Stadt
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Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit?
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immer weniger Menschen zu verzeichnen hat, dass aber die Beratungsfälle quantitativ wachsen und auch die Qualität des Problemgemenges wächst, weshalb man nicht die Mittel reduzieren könne. Dieses Argument wurde in meiner Gegenwart an keiner Stelle hinreichend betrachtet. Und auch im 2015 gegründeten Demokratienetzwerk wurde diese oder andere Strukturfragen nicht hinreichend diskutiert, so dass auch dieses Netzwerk quasi gelebt nicht mehr extistiert. Was aber ist mit der Zivilgesellschaft, die ein solches Netzwerk tragen und gestalten könnte? – Gegenfrage: Gibt es Zusammenhänge zwischen lebendiger Zivilgesellschaft und Verwaltungshandeln? Mit Sicherheit gibt es diese. Eine Verwaltung, die gleichberechtigt neben Zivilgesellschaft agieren will, wird die Weichen stellen, dass Zivilgesellschaft wachsen kann. Dabei ist jedoch die wechselseitige Akzeptanz als Parteien von „Macht“ und „Gegenmacht“ Voraussetzung. Gibt es diese im Landkreis Anhalt-Bitterfeld in umfassender Form? Ich bin mir da nicht mehr allzu sicher. Zu viele Unstimmigkeiten und eine grundlegende fehlende Diskussion im Zuge einer landkreisweiten Asylrechtshandhabung haben mein Vertrauen in Verwaltungshandeln nachhaltig beeinflusst. Wenn Menschen keine Arbeitserlaubnis erhalten, weil sie den Vorwurf, nach Deutschland eingereist zu sein, um Sozialhilfeleistungen zu erhalten, nicht entkräften können – wie will man das auch wiederlegen – dann ist dies eine regressive Auslegung des Asylrechts, welche gegen Menschenrechte und die kritische Vernunft spricht: Eine Region, die von Überalterung betroffen ist, und händeringend im Pflege-, Dienstleistungs-, Produktions- und Logistikbereich Mitarbeitende sucht, sollte schon aus Eigeninteresse heraus, sich nicht von Wahlergebnissen beeinflussen lassen, sondern aus Verwaltungssicht heraus wirtschaftlich sinnvolle Entscheidungen treffen und stärker für eine umfassende Ursachenforschung des Wahlergebnisses eintreten. An dieser Stelle kann ich eine Analyse des Asylrechts, seine Unschärfe und seine „Löcher“ für institutionelle Diskriminierung nicht vertiefen. Es ist mir in der Zeit an dieser Arbeit nicht geglückt, einen wirklich öffentlichen Dialog zur Reflexivität zwischen Sozialraum, Asylrecht, Fremdenfeindlichkeit und Wirtschaftsinteressen anzuregen. Natürlich ist auch diese Reflexivität in erster Linie eine subjektive. Dennoch wünsche ich mir, dass sozialwissenschaftliche Arbeiten wie diese und andere in ihrer Summe eine Stimme bilden, welche Wissenschaft nicht mehr negieren kann. Diese Stimme tritt für eine klare und konsequente Verschränkung von Theorie und Praxis ein. Sozialwissenschaft kann ihr Feld nur noch in seiner Reflexivität begreifen, wenn sie sich diesem stärker zuwendet. Der „wissenschaftliche Elfenbeinturm“ ist gefährlich; er negiert nicht nur das Lernen im Sozialraum, er öffnet demokratiefeindlichen Strömungen auch Tür und Tor, indem er Wissenschaft aus dem Sozialraum zunehmend ausschließt. Immer wieder habe ich es in der Praxis erleben müssen, dass wissenschaftliche Theorien im praktischen Alltag nicht gehört
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Epilog | Weshalb diese Forschungsarbeit?
werden wollen. Trotz Bemühen, eine einfache Sprache zu wählen, wird Wissenschaftlichkeit – egal ob in Netzwerken oder gar in Fördermittelprojekten – schnell zum Ausschlusskriterium: Ein Verweis auf wissenschaftliche Quellen mag da noch gehen, aber die Konzeption ganzer Projekte mit Hilfe wissenschaftlicher Theorie wurde mir durch Praktiker*innen sehr oft angemahnt. Umgekehrt bekam ich an der Universität schnell die Empfehlung, mir einen „akademischen Habitus“ zuzulegen. Ich weiß bis heute nicht konkret, was dies sein soll, aber ich ahne es. In meiner Vorstellung bewegte ich mich mit diesem Habitus in der Praxis. Es hätte mir das Werben für die Akzeptanz von neuen Ideen für die Praxis innerhalb dieser Praxis unmöglich gemacht. So bin und bleibe ich in einer etwas merkwürdigen „Hybrid-Stellung“: Zu wissenschaftlich für die Praxis, zu praktisch für die Wissenschaft. Ich selbst bin dieser Hybrid-Stellung treu geblieben und werde ihr auch weiterhin treu bleiben, habe ich doch eben durch das ständige Wechselspiel zwischen diesen beiden Welten sehr viel gelernt. Mein verbindender Raum war stets der Sozialraum selbst und das Arbeiten, Lernen und Leben in ihm. Ich möchte nicht behaupten, dass ich mehr weiß als Andere, aber mit Hilfe des Sozialraums als Verschränkung von Menschen, Positionen, Rollen, Figurationen, Interessen, Interdependenzen und Gefühlen wird es für mich leichter, Zusammenhänge zu begreifen. Was ich mir mit dieser Arbeit wünsche: Jedem Menschen diesen Zugang zum Verständnis ermöglichen zu können. Dies würde es uns leichter machen, zu diskutieren und Vielfalt auszuhalten – um möglicherweise die Dinge neu und vielleicht auch besser zu gestalten.
Literatur- und Quellenverzeichnis
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