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German Pages 266 Year 2014
Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht ILFS
Institute for Law and Finance Series
Edited by Theodor Baums Andreas Cahn
Band 15
Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht Herausgegeben von Eberhard Kempf Klaus Lüderssen Klaus Volk
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-037885-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037892-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-037898-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Medioimages/Photodisc Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Unternehmen und Unternehmensethik haben in allen Bänden, die bisher im Rahmen des Projekts „Economy, Criminal Law, Ethics“ (ECLE) veröffentlicht worden sind, eine Rolle gespielt. Im vorletzten der bisher erschienenen Bände ist speziell die Frage der Strafbarkeit von Unternehmen behandelt worden, und im letzten Band über das „Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht“ taucht das Unternehmen als Adressat dieses Postulats wiederum auf. In der vorliegenden Publikation werden diese Annäherungen unter dem – jetzt von allen Seiten zunehmend äußerst ernstgenommenen – Begriff der Unternehmenskultur zusammengeführt und weiterentwickelt. Das geschieht zunächst im Rahmen genereller Erörterungen über Probleme, die sich aus der Forderung nach Aufnahme demokratischer Elemente in die Unternehmensführung ergeben – sowohl grundsätzlich, wie auch bezogen auf die modernsten digitalen Kommunikationen, die ein Unternehmen zusammenhalten. Es folgt die Beschäftigung mit einzelnen Problemen, vor allem durch die Kritik am Trennbankengesetz und mit Blick auf die Kriminalpolitik des Insider-Strafrechts. Das alles war in der Tagesordnung für das Symposion, das wir im vorliegenden Band dokumentieren, bereits vorgesehen. Es handelt sich dabei um die Beiträge von Graf Kielmansegg, Trautmann, Lüderssen (1), Otto, Hamm, Trüg und Günther. Während der Vorbereitung der Veröffentlichung wurde uns klar, dass es gut wäre, die referierten Texte um Stellungnahmen von Teilnehmern des Symposions zu ergänzen. Das ist dann geschehen durch die nachträgliche Einbeziehung der Beiträge von Lüderssen (2), Fischer, Leipold, Taschke (unter Mitarbeit von Daniel Zapf) und Mansdörfer. In der Sache geht es dabei um genuin demokratische Aspekte im Unternehmen und spezielle, nicht zentral zu steuernde Government-Strukturen, ferner um Fragen der internen Untersuchungen von Unternehmen und ausgewählter Korruptions-Konstellationen. Wiederum danken wir den Herausgebern der Schriftenreihe, in der auch dieser Band erscheint, den Herren Prof.Dr.Theodor Baums und Dr.Andreas Cahn, für die Aufnahme. Unser Dank gebührt weiterhin ganz besonders Frau Christina Hagenbring, die im Institute for Law and Finance (ILF) für die Organisation verantwortlich war, unter der Leitung von Dr. Rolf Friedewald , dem Geschäftsführer des ILF. Auch ihm gilt unser Dank, und schließlich der umsichtigen Unterstützung durch die Lektorin bei De Gruyter, Frau Dominique Tank, sowie Frau Maria Erge für die unermüdliche Arbeit an der Herstellung. Die Herausgeber
Inhalt Vorwort
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Die Autoren und die Herausgeber Moderne Unternehmenskultur – allgemein Klaus Lüderssen Unternehmenskultur – begriffliche Klärungen
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Peter Graf Kielmansegg Was ist eine demokratiefreundliche Unternehmenskultur und warum brauchen wir sie? 9 Clemens Trautmann Digitalisierung und Unternehmenskultur – Trends und wirtschaftsethische 21 Dimensionen aus Perspektive der Praxis Klaus Lüderssen Der Beitrag der Unternehmenskultur zur modernen Demokratieentwicklung 45 Einzelfragen Vom Aufsichtsrecht zum Strafrecht – Das Beispiel des Trennbankengesetzes Mathias Otto Die Strafvorschriften des Trennbankengesetzes im System des 61 Aufsichtsrechts Rainer Hamm Die neuen Straftatbestände des Trennbankengesetzes – ein weiteres 81 Zeichen für die Unkultur des Unternehmens Strafrecht
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Inhalt
Einzelfragen: Neues vom Insider Gerson Trüg Die Ausnutzung von Informationsasymmetrien als strafbare Handlung? – Insiderstrafrecht 99 Klaus Günther Insider-Narrative vor dem Forum von Law and Literature: Oscar Wildes 117 „Ein idealer Gatte“ Einzelfragen: Entwicklungstendenzen im Korruptionsstrafrecht Klaus Leipold Die Strafbarkeit von Hospitality-Einladungen nach deutschem Recht 141 sowie den Vorschriften von FCPA und UK Bribery Act Thomas Fischer Interne und externe Compliance-Kontrolle im Gesundheitswesen
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Einzelfragen: Steuerungsprobleme Jürgen Taschke und Daniel Zapf Überlegungen zu einer Ethik interner Untersuchungen
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Marco Mansdörfer Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht 4.0 – von der nach wie vor akuten Steuerungsmisere zu einer integrierten Finanz- und 201 Kapitalmarktgovernance
Sascha Ziemann Diskussionsbericht zum 6. ECLE Symposion „Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht“ 235 Die Teilnehmer am Symposion
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Die Autoren und die Herausgeber
Die Autoren und die Herausgeber
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Prof. Dr. Andreas Cahn Andreas Cahn hat Rechtswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. und an der University of California at Berkeley studiert, wo er den Grad eines Master of Laws (LL.M.) erworben hat. Anschließend war er für sechs Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. H.-J. Mertens an der Universität Frankfurt. Während dieser Zeit verfasste er seine Dissertation zum Thema „Vergleichsverbote im Gesellschaftsrecht“ und seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Kapitalerhaltung im Konzern“. Von 1996 bis 2002 war er Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim. Seit 2002 ist er geschäftsführender Direktor des Institute for Law and Finance an der Universität Frankfurt. Seine gegenwärtigen Arbeitsschwerpunkte liegen im Aktien- und Konzernrecht, im Recht der Unternehmensfinanzierung, dem Kapitalmarktrecht und der Rechtsvergleichung. Er ist Mitherausgeber der Zeitschriften „Der Konzern“ und „Corporate Finance law“, der Institute for Law and Finance Series sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift „European Company Law“.
Prof. Dr. Thomas Fischer Geboren 1953. Studierte Germanistik in Frankfurt am Main, ab 1980 Jura und Soziologie in Würzburg. Strafrechtliche Promotion 1986; ab 1988 Richter in Bayern; 1993 bis 1996 Vorsitzender Richter am Landgericht Leipzig; 1996 bis 2000 Referatsleiter und stellv. Abteilungsleiter im Justizministerium Sachsen. 2000 Wahl zum Richter am Bundesgerichtshof, Mitglied des 2. Strafsenats; 2008 stellv. Vorsitzender seit 2013; Vorsitzender des Senats Honorarprofessor an der Universität Würzburg seit 1998 (Strafrecht, Strafprozessrecht). Mitglied des Großen Senats für Strafsachen.
Prof. Dr. Klaus Günther Co-Sprecher des Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen, Goethe-Universität Frankfurt. Geboren 1957; Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in Frankfurt am Main; seit 1998 Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität Frankfurt/Main; Co-Sprecher des Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen (gem. m. Rainer Forst), seit 2007. Mitglied des Forschungskollegiums am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/Main; Permanent Fellow und Mitglied des Direktoriums am Forschungskollegs Humanwissenschaften der Goethe-Universität in Bad Homburg v.d. H. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin 1995/96; Gastprofessuren: SUNY at Buffalo 2000, Corpus Christi College Oxford 2001, Maison des Sciences de l‘Homme/
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Die Autoren und die Herausgeber
EHESS Paris 2003, London School of Economics 2012. Wichtigste Veröffentlichungen: Der Sinn für Angemessenheit (1988, engl. 1993, portug. 2004); Schuld und kommunikative Freiheit (2005).
Prof. Dr. Rainer Hamm 1943 in Kusel/Pfalz geboren. 1964 bis 1968 Studium der Rechtswissenschaften in Saarbrücken, Berlin und Frankfurt a.M., Promotion. 1972 in Berlin bei Prof. Dr. Ernst Heinitz zum Thema: „Der gesetzliche Richter und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit“. 1972 bis 1973 Rechtsanwalt bei Redeker, Dahs und Kollegen in Bonn und von 1973 bis 1979 bei dem Frankfurter Strafverteidiger Dr. Erich Schmidt-Leichner. 1979 Gründung der eigenen Anwaltspraxis HammPartner zusammen mit dem früheren Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. h.c. Werner Sarstedt, heute mit 8 Rechtsanwälten spezialisiert auf Strafrecht. Seit 1991 Honorarprofessor für Strafprozessrecht an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Seit 1987 ist er Mitherausgeber der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ (NJW). Zu seinem 65. Geburtstag ist bei De Gruyter eine von seinen Sozien herausgegebene Festschrift erschienen mit 57 Beiträgen renommierter Autorinnen und Autoren (Inhaltsverzeichnis der Festschrift unter http://www.hammpartner.de/ pdfs/Hamm-FS_Inhalt.pdf). Im Jahr 2011 verlieh ihm der Deutsche Strafverteidiger e.V. den Max-Alsberg-Preis. Von 1996 bis zum 30.06.1999 war Rainer Hamm neben dem Beruf des Rechtsanwalts Hessischer Datenschutzbeauftragter. Im Deutschen Anwaltverein gehört er dem Strafrechtsausschuss an. Seit 2010 ist er Mitglied des Kuratoriums des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau. Buchveröffentlichungen: Festschrift für Schmidt-Leichner (Hrsg.), 1977 bei C.H. Beck, München; Festschrift für Werner Sarstedt (Hrsg.), 1981, De Gruyter, Berlin/N.Y; Die Revision in Strafsachen, 7. Auflage 2010 De Gruyter Berlin/New York; Herausgeber und Mitautor des „Beck’sche Formularbuch für den Strafverteidiger“, 5. Auflage 2010 C.H.Beck München; Große Strafprozesse und die Macht der Medien, 1997 und Michalke et al. „Rainer Hamm – Kleine Schriften“ 2013 jeweils bei Nomos Baden Baden.
Eberhard Kempf Rechtsanwalt, Jahrgang 1943, geb. in Lahr/Schwarzwald, Studium in Heidelberg, Berlin, Freiburg und Paris. Rechtsanwalt seit 1971, seit 1977 in Frankfurt am Main. Eberhard Kempf ist seit 1990 Mitglied und war von 1996 bis 2005 Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwalt Vereins und ständiger Gast
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des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Er hat eine umfangreiche Veröffentlichungs- und Vortragspraxis und ist mehrfach als Sachverständiger durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages gehört worden. Eberhard Kempf war aktiv an der Gründung des Barreau Pénal International/ International Criminal Bar beteiligt, einer Vereinigung der Rechtsanwälte am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er war von 2003 bis 2005 Vizepräsident und von 2005 bis 2007 Präsident des ICB.
Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg Geb. 1937; nach dem Studium der Rechtswissenschaften, der Geschichte und der Politikwissenschaft juristisches Staatsexamen und Promotion zum Dr. phil. Professuren für Politikwissenschaft an den Universitäten Darmstadt (1971), Köln (1971– 1985), Mannheim (1985 – 2003). Gastprofessuren an der Georgetown University Washington D.C. und am Bologna Center der Johns Hopkins University. Emeritiert 2003. Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2003 – 2009. Ausgewählte Veröffentlichungen aus den letzten Jahren: Die Instanz des letzten Wortes. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung in der Demokratie. Stuttgart 2005; Das geteilte Land. Deutsche Geschichte 1945 – 1989. München 2007; Braucht Europa Grenzen? In: Soziale Konstellation und historische Perspektive. Festschrift für Rainer M. Lepsius. Hrsg.von S. Sigmund/G. Albert/A. Bienfait/ M. Stachura. Wiesbaden 2008; Lässt sich die Europäische Union demokratisch verfassen? In: Die Verfassung Europas. Hrsg. von F. Decker und M .Höreth. Wiesbaden 2009; Die Grammatik der Freiheit. Baden-Baden 2013.
Dr. Klaus Leipold Von 1975 bis 1980 studierte Dr. Leipold Rechtswissenschaften an der Justus Liebig‐Universität Gießen. 1980 folgte das 1. und 1983 das 2. Juristische Staatsexamen. Von 1981 bis 1983 war er wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Internationales Strafrecht an der Universität Gießen, 1980 bis 1983 zugleich Doktorand im Rahmen eines Doktorandenstipendiats am Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. 1983 bis 1984 war Dr. K. Leipold zugleich Mitarbeiter an der Universität Freiburg. 1986 schloss Dr. K. Leipold seine Promotion über „Verkehrsunfallflucht – Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Länder Österreich, Schweiz und Bundesrepublik Deutschland“ ab. Dr. Leipold ist seit 1985 als Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Strafrechts tä-
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tig. 1995 folgte die Ernennung zum Fachanwalt für Strafrecht. Der renommierte Jurist ist Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität München und gefragter Dozent in der Rechtsanwaltsausbildung für die Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwalt Vereins, der Deutsche Anwaltsakademie und dem Münchner Anwaltsverein.
Prof. Dr. Klaus Lüderssen Jg. 1932, ist seit 1971 ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Mit dem Wirtschaftsstrafrecht beschäftigt sich schon eine frühere Arbeit über kartellrechtliche Probleme. Später folgten Arbeiten über Irrtumsprobleme im Steuerstrafrecht, ferner über Subventions- und Submissionsbetrug, Konkursprobleme im GmbH-Strafrecht, missbräuchliche aktienrechtliche Anfechtungsklagen und Strafrecht, Anti-Korruptionsgesetze und Drittmittelforschung, ökonomische Analyse des Strafrechts, Korruption und strafrechtliche Untreue, gesellschaftsrechtliche Grenzen der strafrechtlichen Haftung des Aufsichtsrats, Aktienrecht und strafrechtliche Untreue und Glücksspielstrafrecht. Einige dieser Abhandlungen sind zusammengefasst in den Bänden „Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts“I 1998 und II 2007. Neuere einschlägige Veröffentlichungen sind die in Anknüpfung an die bisherigen ECLE-Symposien gemeinsam mit Eberhard Kempf und Klaus Volk herausgegebenen Bücher „Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken“ (2009), „Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral“ (2010) und „Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?“ (2011), sowie die Beiträge in den Festschriften für Knut Amelung, „Systemtheorie und Wirtschaftsstrafrecht“, 2009, S. 67– 80, und für Klaus Volk, „Risikomanagement und „Risikoerhöhungstheorie“ – auf der Suche nach Alternativen zu § 266 StGB, 2009, S. 345 – 363. Muss Strafe sein? Das Strafrecht auf dem Weg in die Zivilgesellschaft, in Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, und Strafbefreiender Rücktritt vom fahrlässigen Delikt? in Festschrift für Erich Samson, 2010: Rechtsfreie Räume?, 2012. Mit der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Wolf-Dietrich Schiller und Kollegen in Frankfurt am Main gibt es eine ständige Kooperation.
Prof. Dr. Marco Mansdörfer Nach Studium, Promotion zum Europäischen Strafrecht und einem Forschungsaufenthalt zur Straftatlehre des Common Law am All-Souls-College in Oxford/ England, habilitierte sich Professor Dr. Marco Mansdörfer im Frühjahr 2010 mit
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einer Arbeit „Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts“ an der Albert-LudwigsUniversität in Freiburg im Breisgau. Er erhielt die Lehrbefugnis für Deutsches und Europäisches Strafrecht und Strafprozessrecht. Seither war Herr Professor Dr. Mansdörfer als Privatdozent an der Albert-Ludwigs-Universität, der FriedrichSchiller Universität in Jena sowie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken tätig und praktiziert als Strafverteidiger mit Schwerpunkt Wirtschaftsstrafrecht. Seit dem Frühjahr 2013 bekleidet er als ordentlicher Universitätsprofessor den Lehrstuhl für Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte von Herrn Professor Mansdörfer sind das Wirtschaftsstrafrecht und dessen internationale Bezüge. Herr Professor Mansdörfer vertritt hierbei einen interdisziplinären Forschungsansatz, der insbesondere neuere wirtschaftstheoretische Erkenntnisse, der sog. Neuen Institutionenökonomik, der Prozesstheorie und der Verhaltenspsychologie, einzubeziehen versucht. Aus dieser Verbindung werden projektbezogen konkrete Empfehlungen für die praktische Kriminalitätsprävention in Unternehmen oder spezifische kriminalpolitische Bemühungen abgeleitet.
Dr. Mathias Otto Dr. Mathias Otto ist der stellvertretende Chefsyndikus für Deutschland, Zentralund Osteuropa der Deutschen Bank und leitet die globale Praxisgruppe Regulatroy & Governance. Er berät vor allem zu Frage des Bankaufsichtsrechts und des Kapitalmarktrechts. Das schließt die aufsichtlichen Reformen, Fragen der Corporate Governance, Aquisitionen und Restrukturierungen sowie die Refinanzierung des Konzerns und eigene Kapitalmarkemissionen ein. Herr Dr. Otto hat zahlreiche strategische Initiativen der Deutschen Bank rechtlich betreut, wie beispielsweise die Entwicklung von hybridem Eigenkapital, die Notierung der Deutschen Bank an der New York Stock Exchange, die Umsetzung des SarbanesOxley Act in der Deutschen Bank und die Verschmelzung ausländischer Tochtergesellschaften auf die Mutter und die Integration der Postbank. In den knapp 23 Jahren seiner Tätigkeit für die Deutsche Bank war Herr Dr. Otto in den Rechtsabteilungen in München, New York und nun in Frankfurt a.M. tätig. Er hat Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg studiert und war Referendar beim OLG München. 1993 wurde er mit einer rechtsvergleichenden Arbeit im internationalen Zivilprozeßrecht promoviert.
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Dr. Clemens Trautmann 1977 in Braunschweig geboren. Geschäftsführer der Immonet GmbH, eines führenden Online-Immobilienportals, verantwortlich für die Ressorts Finanzen, Controlling, M&A, Strategie und Recht. Bis Januar 2013 leitete er das Büro des Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, wo er zuvor auch als Vorstandsassistent und International Licensing Director arbeitete. Als ausgebildeter Jurist und Rechtsanwalt war Clemens Trautmann in internationalen Anwaltskanzleien sowie am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht tätig und promovierte an der Universität Hamburg über ein europarechtliches Thema. Seine Ausbildung wurde gefördert durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, den DAAD sowie die ZEIT-Stiftung. Die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht lud ihn als Experten für ein Übereinkommen auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Rechtsauskunft ein; er war zudem Mitglied der europäischen Arbeitsgruppe, die die „Principles for Conflict of Laws in Intellectual Property“ (CLIP) konzipierte. Parallel zur juristischen Ausbildung studierte Clemens Trautmann Musik, unter anderem an der Juilliard School New York, und gab als Klarinettist Konzerte bei den Weltausstellungen in Lissabon und Hannover, in der Berliner Philharmonie („Debüt im Deutschlandradio“), beim Rheingau und Schleswig-Holstein Musik Festival sowie beim Mostly Mozart Festival am Lincoln Center. Veröffentlichungen liegen in Gestalt von CDs und Rundfunkaufnahmen, von Beiträgen in juristischen Fachpublikationen (Zeitschrift für Europäisches Privatrecht, International Review of Intellectual Property and Competition Law, Handbook of European Private Law) sowie von Rezensionen und Essays (WELT, Neue Musikzeitung) vor. Clemens Trautmann war Fellow des „Sulzberger Leadership Program in Media“ an der Columbia University sowie „Young Leader“ der Atlantik-Brücke.
Dr. Gerson Trüg Geboren 1971 in Tübingen. Studium der Rechtswissenschaft sowie der Anglistik und Germanistik in Tübingen und Mannheim. Nach der Ersten Juristischen Staatsprüfung wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen (Professor Dr. Hans-Jürgen Kerner). Thema der Dissertation: Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im Deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren. Ein strukturanalytischer Vergleich am Beispiel der Wahrheitserforschung. Nach dem Referendariat Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts in Freiburg im Breisgau. 2012 Habilitation (venia legendi für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht sowie Europäisches und Internationales Strafrecht). Thema der Habilitationsschrift: Kon-
Die Autoren und die Herausgeber
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zeption und Struktur des Insiderstrafrechts. Zunächst Privatdozent an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, seit 2014 Privatdozent an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen AnwaltVereins (DAV).
Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Volk Geboren 1944 in Coburg. Er hat von 1963 bis 1968 in München Rechtswissenschaften studiert. Nach dem Ersten Staatsexamen war er wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Paul Bockelmann an der Juristischen Fakultät der Universität ünchen. Nach der Promotion (1970) und dem Zweiten Juristischen Staatsexamen habilitierte er sich dort (1977) für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtstheorie. Nach einer Professur in Erlangen wurde er im gleichen Jahr (1977) Ordinarius in Konstanz. 1980 nahm er den Ruf an die Ludwig-Maximilian-Universität auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an. Am 29.03.03 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Urbino verliehen. Er ist auch als Strafverteidiger tätig.
Assessor Dr. Sascha Ziemann Sascha Ziemann, Jahrgang 1977, studierte Rechtswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2003 Erstes Juristisches Staatsexamen, 2010 Zweites Juristisches Staatsexamen. 2008 wurde Herr Ziemann bei Prof. Dr. Dr. h.c. Ulfrid Neumann mit einer Arbeit über die Rezeption der neukantianischen Wertphilosophie im Strafrecht promoviert („Neukantianisches Strafrechtsdenken“, BadenBaden: Nomos, 2009). Aktuell ist Herr Ziemann wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (Prof. Dr. Matthias Jahn). Die im Entstehen begriffene Habilitationsschrift widmet sich einer wirtschaftsstrafrechtlichen Grundlagenfrage: der Diskussion über Autonomie oder Abhängigkeit des Strafrechts gegenüber dem Zivilrecht.
Moderne Unternehmenskultur – allgemein
Klaus Lüderssen
Unternehmenskultur – begriffliche Klärungen Die Nüchternheit, die im Begriff des wirtschaftlichen Unternehmens anklingt, schließt eigentlich die Assoziation von Kultur aus. Das landläufige Verständnis verbindet mit Kultur eher nur Schönes und Erhabenes. Doch zweifellos gemeint ist alles Menschliche in Arbeit und Leben¹, sofern es einen gewissen Grad von Gestaltung aufweist. Allerdings muss es etwas Positives sein, was man dabei denkt. Verbrechenskultur etwa ist ein Unbegriff, allenfalls in zynisch-ironischer Entgegensetzung präsent. Auch die Kultur, die sich auf ordnungsgemäße und faire Abwicklung der Geschäfte beschränkt, ist noch zu wenig. Etwas darüber Hinausgehendes muss es sein, und das strebt immer ins Allgemeine, sei es auch auf eine kleine Gruppe bezogen. Ob dafür schon – um ein Phänomen aus dem Gesellschaftsrecht zu wählen – die Rücksichtnahme auf die Stakeholder genügt, ist bereits zweifelhaft. Leichter scheint es zu sein, an das Gemeinwohl schlechthin zu denken, jedenfalls an über das Alltagsgeschäft wesentlich hinausgehende Aktivitäten und Wirkungen. Damit ist aber sofort eine Unzahl von Problemen aufgerufen, von denen ich hier nur einige benennen möchte – schon um mich nicht in die Planungen unserer Redner einzumischen. Bei Gemeinwohl kommt primär der Staat in den Blick, wir wissen aber – nicht zuletzt aus unseren letzten Tagungen – , dass die Übergänge zum Privaten hier längst fließend geworden sind, und ich möchte deshalb auch nur zwei Punkte besonders herausheben: – Was sind die Quellen der Legitimation für Kulturansprüche und -verpflichtungen des Unternehmens? – Geht es um im Unternehmen selbst angelegte Kultur, oder ist sie etwas, das von außen an das Unternehmen als besondere Forderung herangetragen wird? Bei der ersten Frage ist klar, dass man nach Demokratie rufen möchte, dabei aber sofort merkt, dass die vertrauten Wege der repräsentativen aber auch der man-
Über die Diskussion des Kulturbegriffs informiert am besten Friedrich Jäger/Jörn Rüsen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaft, 3 Bände, 2004; speziell für die Jurisprudenz Lüderssen im 3. Band, S. 426 ff.
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Klaus Lüderssen
nigfachen Formen der direktiven Demokratie, die wir schon haben,² nicht weit führen; vielmehr stoßen wir im Rahmen einer Konzeption, die man sich inzwischen Rechtspluralismus zu nennen angewohnt hat, auf sekundäre Rechtswelten mit bereits populär gewordenen Segmenten wie etwa „soft law“. Was hier für Unternehmenskultur gleichsam abfällt, ist nur der Teil einer riesigen jenseits des formellen Verfassungsdenkens sich bewegenden Verhaltens- und Regelungsmaterie, für die Teubner unlängst in einem Aufsehen erregenden Buch³ als Basis herausarbeitet, was er als societal constitutionalism (gesellschaftliche Konstitutionalisierung) bezeichnet. Diese Erscheinung ist von der Rechtssoziologie schon früh registriert und unter verschiedenen Vorzeichen beschrieben worden, prominent insofern der soziologische Positivismus von Eugen Ehrlich als Kampfansage an Kelsens strikt ausschließliches System staatlicher Normen. Das Wirtschaftsrecht hat sich da inzwischen selbständig gemacht, in unzähligen Codices sich festgelegt, begünstigt vor allem durch die Globalisierung, die an den nationalen Souveränitäten vorbeigeht, und damit auch an den an diese Souveränitäten gebundenen parlamentarischen Formen der Demokratie. Das alles ist grundsätzlich und im einzelnen streitig und hat uns in den vergangenen Tagungen vielfach beschäftigt, wobei aber eben noch offen geblieben ist, wie viel Gemeinwohl eigentlich demokratiefähig und -bedürftig ist. Unter den Gegnern der Position, die vieles vom Gemeinwohl der Gesellschaft überlassen möchte, macht sich jetzt eine Gruppe bemerkbar, die lange zu der Materie geschwiegen hat und nun um so entschiedener, ja radikal auftritt. Es sind Rechtsphilosophen kantischer oder hegelianischer Prägung, die das Problem der Entstaatlichung durch Globalisierung mit rigorosen nationalstaatlichen Verfassungsargumenten zu lösen fordern. Was sie auf den Plan gerufen hat, ist die Wahrnehmung eines Missverhältnisses zwischen Finanzmarkt und Realwirtschaft, oder vorsichtiger und zugleich positiver ausgedrückt: die Eigenständigkeit des Finanzmarkts, dessen „Wertschöpfungen“ nicht vereinbar seien mit einer Geldwertstabiltät, die in Deutschland durch Art. 14 GG gewährleistet werde, und dass Abweichungen davon als Enteignung zu charakterisieren und entsprechend zu behandeln seien.⁴ Demgemäß soll ein Verhalten, das diese verfassungsrechtlich gebotene Kongruenz missachtet, au fond politisch gesehen und in ernsten
Johannes Rux Direkte Demokratie in Deutschland, Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit der unmittelbaren Demokratie in der Bundesrepublik Deuitschland und ihren Ländern, 2008. Gunther Teubner Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, 2012. Michael Köhler Die Wertstabilität des Geldes als Inhalt der Vertragstreue und der Eigentumsgarantie, JZ 2013, 157 ff.
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schweren Fällen als politische Straftat eingeordnet werden,⁵ wobei buchenswert ist, dass die Betonung des politischen Gewichts dieser Handlungskomplexe einhergeht mit einer Nachlässigkeit im klassischen Bereich des Strafrechts, nämlich der Bestimmtheit und substanziellen Beschränkung von Strafrechtsnormen, sowie beim Rückwirkungsverbot. Das ist ebenso inkonsequent wie weltfremd, und führt zu der zweiten Frage, die – etwas allgemeiner formuliert – lautet: Wie kann man „staatsinterventionistische Modelle“, die in die Nähe vergangener und als untauglich erlebter Wirtschaftsformen kommen, vermeiden und dann versuchen, ohne in funktionslose Egozentrik zurückzusinken, den Grad der Freiheit des Wirtschaftens zu ermitteln, der diesen Interventionen eine Grenze zieht. Längst gibt es auch da Modelle. Sie laufen auf die Formel hinaus: Regulierung der Selbstregulierung und legen dabei die Annahme zu Grunde, dass vernünftige Selbstregulierung schon für das Nötige sorgen werde. Allerdings ist dabei vorausgesetzt, dass freier Wettbewerb die höchste Effizienz verbürgt, oder aber, dass freier Wettbewerb im Verhältnis zur Effizienz das höhere Gut darstellt. Wer an die Kongruenz von freiem Wettbewerb und Effizienz nicht glaubt und die Effizienz nicht schmälern möchte, muss dann Außenregulierung zulassen, und was dabei praktisch herauskommt ist eine Art gemäßigter Keynesianismus. Wer jedoch bei gleicher Einschätzung der Realisierung der Effizienz der Meinung ist, der freie Wettbewerb stehe in jedem Falle höher,⁶ bleibt bei der Selbstregulierung, kann aber nicht leicht der Versuchung ausweichen, auch den Rest der Welt zu ökonomisieren, auch Kulturentscheidungen im Grunde nach dem Prinzip des Wettbewerbs zu organisieren. Wofür man sich hier entscheidet, müsste eigentlich eine Frage der Empirie sein, möchte man meinen. Aber deren Ergebnisse hängen von zu viel Vorannahmen ab, die normativ sind. Wenn es etwa heißt, der Sozialstaat „verlangt geradezu nach massiven externen Interventionen aus Politik, Recht und Zivilgesellschaft,“ aber eben nur nach solchen, „die auf Übersetzung in Selbstveränderung angelegt sind und deren Übersetzung in interne Wandlungsprozesse auch tatsächlich gelingt“⁷ kann, dann ist ein Freiheitsbegriff der Ausgangspunkt, der unweigerlich zu dem führt, was Luhmann ein Gründungsparadox nennt: „Das
Monographie von Wolfgang Naucke Die Wirtschaftsstraftat als politische Straftat, eine Annäherung, 2013. Zu dieser Kontroverse Lüderssen Das problematische Verhältnis von Effizienz und Wettbewerb, in: Klaus Lüderssen/Eberhard Kempf/Klaus Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt? 2011, S. 540 ff. Gunther Teubner Verfassungsfragment: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, 2012, S. 135.
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Klaus Lüderssen
Selbst muss erst heteronom durch Rechtsnormen definiert werden, um sich selbst definieren zu können.“⁸ Für die Kultur des Unternehmens (die man substanziell irgendwo zwischen privater Kultiviertheit und gemeinnütziger Staatsaufgabe lokalisieren muss), bedeutet das, dass alles darauf ankommt, wie man sich angesichts der großen Lücken unseres formellen demokratischen Systems die Rolle der Unternehmen vorstellt, und damit sind wir wieder bei der ersten Frage: Soll das Unternehmen die Lücke füllen, die der Staat läßt, genuin oder aus Gründen praktischer RessourcenKnappheit, wie beispielsweise in der Pharma-Forschung, oder darf man mit dem Kulturbegriff des Unternehmens eben nicht einen Gemeinwohlaspekt verbinden, der in Konkurrenz tritt zu den Gemeinwohlaufgaben des Staates, gleichviel, wie gut oder schlecht er sie erfüllt. Wie auch immer man sich hier inhaltlich entscheidet, die Frage, ob das alles im Wege der Selbstregulierung geschieht oder extern dem Unternehmen gewissermaßen übergestülpt wird, ist damit noch nicht entschieden. Die Determinanten für das Gründungsparadox sind vielfältig. Dabei fällt auf, dass auf allen Seiten eine gewisse Neigung besteht, ganzheitlich zu denken. Wenn etwas schon in einem Begriff enthalten ist, braucht man keine zusätzlichen problematischen Abwägungen mehr vorzunehmen, obwohl man sich dabei in die Tasche lügt, denn dem, was im Begriff aufgenommen ist, sind ja die entsprechenden Abwägungen vorausgegangen.⁹ Aber die Suggestion, mit inhaltsschweren Begriffen zu arbeiten und nicht im Einzelfall jeweils die Abwägung vorzunehmen, ist groß. Da ist einmal der von Georg Simmel apostrophierte kraftsparende Trieb nach Einheitlichkeit des Vorstellens beteiligt, andererseits aber auch – bona oder mala fide –
Teubner aaO., S. 166. In der ausgebreiteten Literatur über „Abwägung“, die es schon gibt, wird diese einfache Einsicht, wie mir scheint, wenig reflektiert (vgl. die Beispiele in Schiller-FS). Der Kampf gegen zu viel Abwägung wird geführt im Namen der Rechtssicherheit, obwohl man auch vielleicht sehen kann, dass durch eine entsprechende Definition die Abwägung nur umgangen wird. Wenn man den Begriff freilich bis zum Gesetzgeber zurückverfolgt, kann man die Abwägungen sehen, die ihn dazu gebracht haben, das Merkmal einer Rechtsvorschrift begrifflich-verbindlich zu fixieren. Aber auch in den zahllosen Fällen, in denen nach dem Willen des Gesetzgebers geforscht wird – im Rahmen der historischen Auslegung – kommt die Abwägung spätestens an den Tag, vgl. daher weiter im Text oben. Zum Ganzen rechts- und zeitgeschichtlich hoch informativ und analytisch scharf Joachim Rückert Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, JZ 2011, 913 ff.; zu den speziellen Fragen im öffentlichen Recht S. 916 f., sowie K. Heinz Ladeur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004; dazu Lüderssen Demokratie und Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht – Strukturen der Argumentation, in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, S. 109 ff.
Unternehmenskultur – begriffliche Klärungen
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die Tendenz, überzeugender zu wirken, wenn man – scheinbar – der Abwägung nicht mehr bedarf. Man findet das überall, der Beweis dafür kann aber gerade mit Blick auf das, was uns hier speziell beschäftigt, leicht geführt werden: Denn der impliziten Unternehmenskultur-Ethik, die auf Selbstregulierung pocht, tritt mit dem größten Gewicht diejenige Staatsintervention entgegen, die ihrerseits mit implikativen Postulaten arbeitet. Das zeigt der neue geplante § 54a Kreditwesengesetz, der eine große Rolle spielen wird bei den Referaten zum Trennbankengesetz, die für den zweiten Teil unseres Symposions vorgesehen sind. Diese Vorschrift geht davon aus, dass die BaFin – hier beziehe ich mich auf Abs. 3, der erst später aufgrund mannigfacher Kritik in den Entwurf eingefügt worden ist – alles besser weiß, bis ins kleinste Glied der strategischen Risikoplanung, so dass mit dieser Vorschrift im Grunde etwas versucht wird, was eigentlich nur holistisch sich begreifenden Planwirtschaften einfällt. Da so etwas offiziell und wörtlich genommen natürlich nicht gemacht werden kann, geht man den Weg über scheinbar harmlose Generalklauseln in sich neutral gebenden Gesetzen. Wobei es eigentlich apart ist, dass hier Akteure zusammenwirken, die voneinander nichts wissen. Schwerlich dürften die Beamten des Bundesfinanzministeriums den Aufsatz von Köhler in der Juristenzeitung und Nauckes Vision von der politischen Wirtschaftsstraftat vorausgeahnt haben, und umgekehrt sind beide Autoren sicher entsetzt, wenn sie sehen, was man bürokratisch auf der Basis ihrer Ideen anstellen kann. Für die Insiderproblematik – die andere Spezialmaterie, die wir uns vorgenommen haben – gilt entsprechendes. Wieder wird der Ganzheitsaspekt larviert, dieses Mal durch das Dickicht der von § 38 Wertpapierhandelsgesetz ausgehenden Verweisungstechnik, die den Kreis der Insider unüberblickbar macht. Mehr jetzt aber nicht, ich hoffe, ich habe hinreichend viel in der Schwebe gelassen und damit Ihre Neugierde beflügelt, wenn das überhaupt noch erforderlich gewesen sein sollte.
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Was ist eine demokratiefreundliche Unternehmenskultur und warum brauchen wir sie? Hätten die Organisatoren dieses Symposions das, was man im Konferenz-Englisch einen „call for papers“ nennt,veranstaltet, ich wäre sicher nicht auf den Gedanken gekommen, mich zu melden. Ich bin Politikwissenschaftler mit dem Arbeitsschwerpunkt Demokratietheorie – für die Thematik „Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht“, hätte ich mir gedacht, sind andere zuständig. Herr Lüderssen sah das nicht so. Er hat mich sehr eindringlich angesprochen, und nun stehe ich – auf mein und sein Risiko – hier. Was tun mit meiner Nichtzuständigkeit? Ich helfe mir damit, dass ich das thematische Stichwort Strafrecht beiseite lasse und das thematische Stichwort Unternehmenskultur versuchsweise zur Demokratietheorie in Beziehung setze. Damit kommt die jedenfalls von der Politikwissenschaft eher vernachlässigte Beziehung zwischen Demokratie und Marktwirtschaft ins Visier. Meine Frage wird sein: Welche Verantwortung tragen Unternehmen für das komplexe Verhältnis Demokratie – Marktwirtschaft? Genauer: Welchen Beitrag müssen sie dazu leisten, dass Demokratie und Marktwirtschaft eine lebens- und leistungsfähige Symbiose bilden können. Die diskursive Entfaltung dieser Thematik würde weit mehr Zeit in Anspruch nehmen, als mir mit den vorgegebenen 30 Minuten zusteht. Ich kann also den Argumentationsgang nur skizzieren und werde das in fünf knapp formulierten Gedankenschritten tun. Bevor ich damit beginne, empfiehlt es sich, mein Vorhaben nach zwei Seiten hin abzugrenzen. Mein Thema ist nicht die Gemeinwohlpflichtigkeit von Unternehmen im Allgemeinen. Seit die Wirtschaftsethik zu einem akademischen Fach mit Lehrstuhlwürde geworden ist, hat die Frage, ob, in welchem Sinn und aus welchem Grund Unternehmen gemeinwohlpflichtig seien, eine rasch wachsende Literatur hervorgebracht.¹ Die lasse ich im Wesentlichen links liegen. Meine
Aus der Fülle der Beiträge seien wenigstens einige Titel genannt: Peter Ulrich (Hrsg.) Unternehmerische Freiheit, Selbstbindung und politische Mitverantwortung. Perspektiven republikanischer Unternehmensethik. München 1999; ders. Integrative Unternehmensethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern u. a. 3. Aufl. 2001; David Vogel The Market for Virtue. The Potential and Limits for Corporate Social Responsibility. Washington 2006; Ludger Heidbrinck/ Alfred Hirsch (Hrsg.) Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt/NewYork 2008; Nioh Lin-Hi Eine Theorie der Unternehmensverant-
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Fragestellung ist enger und weiter zugleich. Enger, weil man sie als ein Kapitel einer systematisch entfalteten Lehre von der Gemeinwohlpflichtigkeit von Unternehmen auffassen kann. Weiter, weil sie die systemischen Beziehungen zwischen der politischen Ordnung Demokratie und der Wirtschaftsordnung Marktwirtschaft in den Blick bringt, das heißt sich einer Thematik zuordnet, in der es um weit mehr als Unternehmensethik geht. Mit dieser Abgrenzung will ich natürlich nicht sagen, es lohne sich für meine Zwecke nicht, die einschlägige wissenschaftliche Diskussion zur Kenntnis zu nehmen. Die Grundsatzpositionen, zwischen denen diese Diskussion hin und her geht – hier Milton Friedman‘s „The social responsibility of firms is to make private profits“² und dort das Postulat, auch für den Unternehmer gelte der Primat der republikanischen Bürgerpflichten; sie hätten Vorrang vor seinem Recht oder seiner Pflicht, Marktchancen zu nutzen³ – diese Grundsatzpositionen und das Diskussionsfeld zwischen ihnen sind auch für unsere Thematik bedeutsam. Und nun zu dem, wovon die Rede sein soll, zu meinen fünf Argumentationsschritten in Sachen demokratiefreundliche Unternehmenskultur. Ich beginne mit der Feststellung oder, vorsichtiger, Behauptung: Demokratie und Marktwirtschaft sind Komplementärordnungen in einem asymmetrischen Verhältnis.⁴ Komplementärordnungen heißt: Sie bilden gemeinsam ein Ganzes, sie ergänzen sich, sie gehören zueinander. Empirisch wird diese Behauptung durch die Beobachtung gestützt, dass die moderne verfassungsstaatliche Demokratie bisher nur in Verbindung mit einer Wirtschaftsordnung aufgetreten ist, in der die Produktionsmittel in der Hauptsache in privater Hand sind und der Markt der primäre Mechanismus der Koordination aller wirtschaftlichen Aktivitäten ist. Es gibt kein Beispiel für die stabile Verknüpfung von demokratischer politischer Ordnung und sozialistischer Wirtschaftsordnung, wenn wir unter sozialistisch eine auf ge-
wortung. Die Verknüpfung von gesellschaftlichen Interessen und Gewinnerzielung. Berlin 2009; Ingo Pies/Peter Koslowski (Hrsg.): Corporate Citizenship and New Governance. The Political Role of Corporations. Heidelberg u. a. 2011. Siehe auch die Diskussion zwischen Ludger Heidbrinck und Ingo Pies in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Bd.13. Stuttgart 2012. Zitiert nach Hans G. Nutzinger Unternehmen und Gemeinwohl. Vaterlandslose Gesellen oder Beraubung der Anteilseigner? in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.) Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz. WZB Jahrbuch. Berlin 2002, S.318. So Peter Ulrich Republikanischer Liberalismus und Corporate Citizenship. Von der ökonomistischen Gemeinwohlfiktion zur republikanisch-ethischen Selbstbindung wirtschaftlicher Akteure, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Bd. IV. Berlin 2003, S. 273 – 291. Dieser Gedanke ist genauer ausgeführt in dem Kapitel „Demokratie und Marktwirtschaft – eine schwierige Ehe“ meines Buches „Die Grammatik der Freiheit“, Baden-Baden 2013.
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samtgesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln gegründete und plangesteuerte Ökonomie verstehen. Dass das ein historischer Zufall ist, ist sehr unwahrscheinlich.⁵ Die Beobachtung wiederum wird bestätigt durch starke theoretische Argumente dafür, dass Demokratie auf Marktwirtschaft angewiesen ist: angewiesen auf ihre Effizienz – eine politische Ordnung, in der die Regierenden regelmäßig unter Wettbewerbsbedingungen die Zustimmung der Regierten einholen müssen, kann in der modernen Welt mit einer leistungsschwachen Ökonomie nicht dauerhaft koexistieren; angewiesen auf die Machtstreuung, die einerseits der Markt selbst in sich bewirkt und die andererseits durch die systemische Trennung von politischer Amtsmacht und der Verfügungsmacht über wirtschaftliche Ressourcen herbeigeführt wird; angewiesen schließlich auf den Markt als Distributionsmechanismus, der die Politik entscheidend dadurch entlastet, dass er bestimmte primäre Verteilungsleistungen unabhängig von ihr erbringt. Warum aber ein asymmetrisches Komplementaritätsverhältnis? Ganz einfach deshalb, weil die Marktwirtschaft keineswegs so eindeutig auf die Demokratie angewiesen zu sein scheint wie die Demokratie auf die Marktwirtschaft. Zwar braucht Marktwirtschaft Rechtssicherheit und insofern eine Art von Rechtsstaat. Ob sie aber, zumindest auf mittlere Frist, auch ein demokratisches politisches Umfeld braucht, ist angesichts der empirischen Evidenz sehr ungewiss. Und die theoretischen Argumente, die dafür sprechen, sind jedenfalls nicht zwingend. Meine zweite Feststellung lautet: Ungeachtet ihrer Komplementarität bilden Demokratie und Marktwirtschaft eine spannungsreiche und komplexe Symbiose. Spannungsreich ist die Symbiose, weil der Markt Ungleichheit schafft, während die Demokratie auf die Gleichheitsnorm gegründet und an ihr ausgerichtet ist.⁶ Zwar lassen sich beide Ordnungen primär als Freiheitsordnungen verstehen. Als solche konvergieren sie normativ. Aber die Marktfreiheit ist und soll sein eine Ungleichheit ermöglichende Freiheit, die politische Freiheit der Demokratie ist gleichheitsgebundene Freiheit. Prononcierter: Der Markt bewirkt und legitimiert eine ungleiche Verteilung ökonomischer und mittelbar dann auch politischer Machtressourcen. Für die Demokratie ist die Gleichverteilung der ultimativen Machtressource, des Stimmrechts der Bürger, konstitutiv und die Ungleichverteilung anderer Ressourcen immer auch ein Problem.
Die historische Genese der Symbiose ist ein Thema für sich. Es scheint, als hätten Demokratie und Marktwirtschaft ihre je eigenen Ursprünge und erst im Gesamtprozess der fortschreitenden Moderne zusammengefunden. Zur ethischen Bewertung des Marktes Wolfgang Kersting Wie gerecht ist der Markt? Ethische Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Hamburg 2012.
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Komplex ist die Symbiose, weil das Verhältnis von Demokratie und Marktwirtschaft zueinander weder als ein Verhältnis der Vor- und Nachrangigkeit noch als ein Verhältnis des vollkommenen Gleichgewichts angemessen beschrieben ist. Auf der einen Seite muss die Politik die Bedingungen der Funktionsfähigkeit des Marktes als Markt – und das heißt prinzipiell die Legitimität marktbewirkter Ungleichheit – respektieren, wenn sie nicht die Symbiose, auf die sie angewiesen ist, zerstören will. Auf der anderen Seite muss sie in der Lage sein, Marktergebnisse zu korrigieren und Marktmacht zu kontrollieren. Sie hat, innerhalb der durch diese beiden Aussagen vorgezeichneten Grenzen, den legitimatorischen Primat. Die Spannungen lassen sich auch so beschreiben: Der Markt gefährdet die Demokratie, eben weil er Ungleichheiten schaffen kann, die nicht mehr demokratiekompatibel sind und demokratiesprengend wirken können. Aber die Demokratie gefährdet auch den Markt – durch ihre Neigung nämlich, zu tief in Marktprozesse einzugreifen, es mit der Korrektur von Marktergebnissen zu weit zu treiben. Aus Spannung und Komplexität der Beziehungen zwischen Demokratie und Marktwirtschaft ist immer wieder der Schluss gezogen worden, sie seien miteinander unvereinbar, nicht nur in der Traditionslinie des orthodoxen Marxismus. Ganz neuerdings hat etwa Wolfgang Streeck aus der in seiner Sicht dramatischen Umprägung des Kapitalismus durch den Neoliberalismus gefolgert, der Punkt sei möglicherweise bald erreicht, an dem sich die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen müssten: entweder Kapitalismus ohne Demokratie, die „Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft“, wie es bei Streeck heißt, oder Demokratie ohne Kapitalismus.⁷ Einen Kapitalismus ohne Demokratie hält er für wahrscheinlicher als eine Demokratie ohne Kapitalismus. Dieser dramatischen gedanklichen Zuspitzung muss man sich nicht anschließen. Zwar ist eine gründliche Auseinandersetzung mit Streecks Thesen hier nicht möglich; mein Thema fordert sie auch nicht unbedingt. Aber so viel soll doch gesagt sein: Es ist richtig, das komplizierte Gleichgewicht, in dem die beiden komplementären Ordnungen sich halten müssen oder gehalten werden müssen, kann durchaus gestört werden. Und ist gegenwärtig tatsächlich gestört – zugunsten des Marktes. Wenn auch das Verhältnis Demokratie – Marktwirtschaft nicht angemessen als ein Verhältnis von Über- oder Unterordnung beschrieben werden kann, so gibt es doch Phasen der Dominanz, sei es des politischen, sei es
Wolfgang Streeck Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des Kapitalismus. Berlin 2013. Das Zitat findet sich auf Seite 235.
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des ökonomischen Systems.⁸ Die gegenwärtige Dominanz des Marktes hat mit seiner Fähigkeit, ziemlich mühelos große Räume zu erobern, zu tun. Die Demokratie findet, wenn überhaupt, nur schwer aus den für sie konstitutiven räumlichen Grenzen hinaus. Das Gleichgewicht ist also ein labiles, kein stabiles. Und wenn es auch wahr ist, dass es zu der Komplementärordnung von Demokratie und Marktwirtschaft nach unserem gegenwärtigen Erfahrungsstand keine freiheitliche Alternative gibt, so ist doch nicht garantiert, dass es gelingt, die labile Balance immer wieder neu zu justieren.⁹ Aber es ist eine – wohl auch der Neigung der Sozialwissenschaften zur dramatisierenden Deutung von Krisen geschuldete – Überinterpretation aktueller Störungen, dass gerade jetzt der Punkt erreicht sei, an dem das nicht mehr gelingen könne. Um eine Begründung dieser Einschätzung wenigstens anzudeuten: Es geht nach Streeck im Kern um die Frage, ob der Staat, ob die Politik die Fähigkeit behauptet oder auch wiedergewinnt, den Markt zu korrigieren. Genau dieses Thema steht inzwischen sehr hoch auf der politischen Agenda. Entscheidend in der globalisierten Welt sind wirksame internationale Vereinbarungen. Gewiss – sie sind schwer zu erreichen. Aber das ist nicht einfach eine Folge von Marktmacht als solcher. Es ist eine Folge der Heterogenität der Interessen der Staaten. Und das bedeutet auch: Wirksames politisches Handeln ist grundsätzlich möglich. Zurück zur Hauptlinie der Argumentation. Ganz allgemein lässt sich sagen: Wechselseitige Rücksichtnahme auf die Bedingungen der Funktionsfähigkeit beziehungsweise der Akzeptanz der jeweils anderen Ordnung ist eine Voraussetzung für die Lebensfähigkeit und Stabilität der Symbiose. Dabei gibt es, besonders was die Bedingungen der Akzeptanz angeht, beträchtliche kulturelle Unterschiede. Sie treten sehr deutlich hervor etwa im Vergleich zwischen den USA und Europa. Die USA trauen dem Koordinierungsmechanismus Markt mehr zu, sie vertrauen ihm mehr an – etwa das Bildungssystem – und sie akzeptieren die daraus resultierenden Ungleichheiten bereitwilliger als die politischen Kulturen Europas. Das hat natürlich Folgen für jenes ständige Justieren der Balance, von dem ich gesagt habe, nur so könne das labile Gleichgewicht der freiheitlichen Doppelordnung aufrecht erhalten werden. Wechselseitige Rücksichtnahme ist das Brückenstichwort, das hinüber führt von den allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Marktwirtschaft zueinander zu unserer Fragestellung. Meine dritte Feststellung lautet:
Näheres dazu in dem in Anm.4 genannten Kapitel. Klare Beispiele für das Scheitern der Symbiose zu benennen, ist deshalb schwierig, weil systemisches Scheitern in der Regel ein komplexes Geflecht von Ursachen hat. In dieser Komplexität ist die Frage, ob Demokratie und Markt „aneinander“ gescheitert sind, kaum isoliert zu beantworten.
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Die Pflicht aller Marktteilnehmer, auch und gerade der Unternehmer, die Komplementärordnung von Demokratie und Marktwirtschaft zu stützen, resultiert aus ihrer Fähigkeit, sie zu beschädigen. Wie aber und wodurch beschädigen Marktakteure, Unternehmer die Symbiose von Demokratie und Marktwirtschaft? Hält man sich an Milton Friedman‘s bereits zitierte Maxime „The social responsibility of firms is to make private profits“, so lautet die Antwort: dadurch, dass sie legale Gewinnchancen, die der Markt bietet, nicht nutzen. Man könnte diese provokativ zugespitzte These dadurch abstützen, dass man ihr ein Grundsatzargument beigibt: Haben in einer Ordnung der Freiheit die Institutionen nicht gerade die Aufgabe, den Bürger im öffentlichen Raum von moralischen Zumutungen zu entlasten; ihm die Freiheit zu geben, im Rahmen der Gesetze seine Interessen zu verfolgen?¹⁰ Nicht die Tugend der Handelnden, sondern die Institutionen haben nach dieser Logik die Gemeinwohlorientierung der Politik zu gewährleisten. Für den unternehmerisch tätigen Marktakteur, den wir im Blick haben, hieße das: Er darf und soll der Marktlogik folgen, wenn er nur das Gesetz beachtet. So wichtig es ist, die Legitimität der Orientierung des Einzelnen am eigenen Nutzen im Rahmen der Rechtsordnung als für eine freiheitliche Ordnung konstitutiv zu begreifen, so wichtig es ist, zugespitzter formuliert, Gemeinwohlpflichtigkeit, wo immer sie greift, als letztlich im Dienst individueller Lebenszwecke stehend zu verstehen – es ist zweifelhaft, ob die Friedman’sche Maxime wirklich alles sagt,was zur unternehmerischen Verantwortung für die Lebens- und Leistungsfähigkeit der Doppelordnung Demokratie/Marktwirtschaft zu sagen ist. Die Erfahrung, im Besonderen die Erfahrung der letzten Jahre, legt die Vermutung nahe, dass es sich anders verhält. So wie die These, die Institutionen der Demokratie könnten dem Bürger jede Verantwortung für das Gemeinwohl abnehmen, zu Ende gedacht fragwürdig wird, hält auch die These, für den Marktakteur gelte nichts als die Marktlogik, zu Ende gedacht, nicht stand. Sie greift aus mehreren Gründen zu kurz. Zum einen und grundsätzlich, weil Gesetzestreue auch gegen die eigenen Interessen niemals selbstverständlich, sondern immer ein erklärungsbedürftiges kulturelles Phänomen ist. Zum andern und im Besonderen, weil die Gesamtheit der Bedingungen der Lebens- und Leistungsfähigkeit der so komplexen wie spannungsreichen Symbiose von Demokratie und Marktwirtschaft allenfalls im Prinzipiellen, nicht aber im Konkreten rechtlich zu fassen ist. Handlungsspielräume, die eigenen Interessen am Markt ohne Rücksicht auf die Bestands- und Glaubwürdigkeitsbedingungen der Komplementärordnung De-
In diesem Sinn argumentiert Kurt Biedenkopf Unternehmensführung und Gemeinwohl, in: Eberhard Kempf/Klaus Lüderssen/Klaus Volk (Hrsg.) Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht. Berlin/ Boston 2013, S. 11– 19.
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mokratie/Marktwirtschaft zu verfolgen, sind auch für gesetzestreue Marktakteure immer gegeben. Dies schon deshalb, weil die einflussreichen Marktakteure im demokratischen politischen Prozess an der gesetzlichen Bestimmung ihrer eigenen Handlungsspielräume beteiligt sind. Lassen Sie mich diesen sehr abstrakten Feststellungen durch den Hinweis auf zwei Hauptspannungszonen etwas deutlichere Konturen geben. Die eine baut sich aus der Machtinterdependenz zwischen den beiden Ordnungen auf. Die andere aus dem Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Gerechtigkeitsideale. Machtinterdependenzen gehören notwendig zur Doppelordnung Demokratie/ Marktwirtschaft. Aber sie müssen verstanden und gehandhabt werden als Interdependenzen zwischen zwei im Prinzip autonomen, einer je eigenen Logik folgenden Teilordnungen.¹¹ Die Spannung zwischen Interdependenz und Autonomie der Teilordnungen ist konstitutiv für die Komplementärordnung. Das aber heißt: Beiden Seiten ist die Bewahrung einer ebenso labilen wie diffizilen Balance aufgegeben. Die Politik ist gehalten, die notwendigen Einwirkungen auf den Markt autonomieschonend zu bewerkstelligen, um die Funktionsfähigkeit des Marktes, auf die sie angewiesen ist, möglichst wenig zu beeinträchtigen. Und autonomieschonend ist das Stichwort auch für den Wirkungszusammenhang in der Gegenrichtung – er ist es, der uns hier interessiert. Zwar kann die Politik in der Doppelordnung Demokratie/Marktwirtschaft sich aus der Abhängigkeit von Marktprozessen, Konjunkturen etwa, prinzipiell nicht lösen. Diese Abhängigkeit stellt aber grundsätzlich, das heißt soweit sie aus der Komplementarität der beiden Ordnungen zwingend folgt,weder Legitimität noch Akzeptanz der Doppelordnung in Frage. Angegriffen wird die labile und diffizile Balance, wenn Marktakteure als Marktakteure der Autonomie der Politik die Anerkennung verweigern, indem sie sie durch den Einsatz der ökonomischen Ressourcen, über die sie verfügen, aufzuheben versuchen. Etwas einfacher formuliert: Angegriffen wird die Balance immer dann, wenn ökonomische Macht die Politik instrumentalisiert. Ist sie dabei anhaltend erfolgreich, sind Legitimität und Akzeptanz der Doppelordnung gefährdet. Dass in der Doppelordnung Demokratie/Marktwirtschaft unterschiedliche Gerechtigkeitsideale – um auch auf die zweite Spannungszone einen Blick zu werfen – aufeinander stoßen, liegt auf der Hand. Die Ungleichheitsfolgen der Marktprozesse sind zwar prinzipiell durch den Markt gerechtfertigt. Aber sie stehen notwendig in einem Spannungsverhältnis zu den letztlich auf das Gleichheitsideal ausgerichteten Gerechtigkeitsvorstellungen der Demokratie. Auch hier gilt: Beiden Seiten ist die Bewahrung einer schwierigen Balance auf-
Zum Folgenden siehe den in Anm. 4 genannten Beitrag.
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gegeben. Dafür, dass der Ausgleich gelingt, dass die Spannung keine Sprengkraft entwickelt, tragen die Marktakteure eine erhebliche Mitverantwortung. In beiden Fällen – ob es um die Machtinterdependenzen oder den Konflikt der Gerechtigkeitsideale geht – ist die Verantwortung der Unternehmer für das Gelingen der anspruchsvollen Komplementarität in der Friedman’schen Parole in keiner Weise angemessen erfasst. Das Mehr an Verantwortung, um das es geht, lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Es bedarf einer Kultur der Selbstdisziplinierung wirtschaftlicher Macht. Erst diese Selbstdisziplinierung macht Demokratie und Marktwirtschaft dauerhaft kompatibel. Klar geworden ist in der Krise der letzten Jahre, dass das Ausmaß der Abhängigkeit der Politik vom Marktgeschehen zu einem beträchtlichen Teil von der Politik selbst bestimmt wird. Das Niveau der Staatsverschuldung ist eine Hauptdeterminante dieser Abhängigkeit. Man kann deshalb plausibel argumentieren, dass ein verfassungsrechtliches Verbot oder mindestens eine Begrenzung der Staatsverschuldung auf längere Sicht eine Voraussetzung für die Bewahrung jener Balance innerhalb der Doppelordnung Demokratie/Marktwirtschaft ist, um die unsere Überlegungen kreisen. Auch die Deregulierung der Finanzmärkte oder, da wo die Politik die Notenbanken am langen oder auch kürzeren Zügel führt, die Geldpolitik sind mit Recht immer wieder als Beispiele dafür angeführt worden, dass die Politik selbst Marktentwicklungen auslöst, von denen sie dann ins Schlepptau genommen wird. Aber diese Wirkungszusammenhänge sind nicht unser eigentliches Thema. Es ist unvermeidlich, im vierten Argumentationsschritt die Frage aufzuwerfen, wie weit uns der dritte eigentlich gebracht hat. So schlüssig das Postulat auch sein mag, die Marktakteure, vor allem die unternehmerisch tätigen Marktakteure trügen eine Mitverantwortung für den Bestand der Doppelordnung Demokratie/ Marktwirtschaft, näherhin: für eine demokratiekompatible Praxis der Marktwirtschaft – diese Mitverantwortung in einer hinreichend konkreten politischen Ethik des Unternehmertums in der Demokratie auszubuchstabieren, ist außerordentlich schwierig. Die Formulierung, auf die es im dritten Argumentationsschritt hinauslief – es gehe um eine Kultur der Selbstdisziplinierung wirtschaftlicher Macht –, mag zwar als eine Art Wegweiser dienen, aber mehr leistet sie nicht. Wo genau verläuft die Grenze zwischen dem legitimen und dem illegitimen Einsatz wirtschaftlicher Macht zu politischen Zwecken im Einzelfall? Wann ist die „Drohung“ mit der Verlagerung des Standorts eines Unternehmens ein legitimer Hinweis auf Marktchancen und Marktzwänge? Und wann eine illegitime Erpressung der Politik? Was beschädigt, um eine bereits gestellte Frage zu wiederholen, die Legitimität und die Akzeptanz der Doppelordnung von Demokratie und Marktwirtschaft?
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Vielleicht hilft es – jedenfalls einen Schritt – weiter, sich ein einzelnes Problemfeld beispielhaft etwas genauer anzusehen. Das Thema Steuergerechtigkeit bietet sich an. Es ist ein Thema, das durchaus gesellschaftlichen Sprengstoff birgt. Es ist auch ein aktuelles Thema. Die Politik hat in den letzten Jahren die Frage mit zunehmendem Nachdruck auf die Agenda gesetzt, wie den Strategien legaler Steuervermeidung, die internationale Unternehmen mit immer größerem Raffinement entwickelt haben, beizukommen sei. Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf war das Niveau der Besteuerung ein wichtiges, kontroverses Thema, von denen, die einen höheren Spitzensteuersatz und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer forderten, prononciert unter die Überschrift soziale Gerechtigkeit gestellt. Die Thematik Steuergerechtigkeit ist aber auch exemplarisch geeignet, sichtbar zu machen, auf welche Schwierigkeiten wir beim Versuch einer Unterscheidung zwischen Gebrauch und Missbrauch wirtschaftlicher Macht stoßen, sobald die Aufgabe sich konkret stellt. Die staatlich verfasste, das heißt territorial begrenzte Politik steht in einem Wettbewerb mit anderen Territorien um Kapital, der umso härter wird, je mobiler das Kapital weltweit wird – das ist inzwischen eine Binsenwahrheit. Die Politik, und das gilt ganz besonders für demokratische Politik, muss Investoren gewinnen, weil Investoren Arbeitsplätze und Einkommen schaffen. Die Ausgestaltung des Steuersystems ist einer der Parameter, die in diesem Wettbewerb eine wichtige Rolle spielen. Ist es in dieser Wettbewerbskonstellation überhaupt noch möglich, ein Steuersystem gerecht zu gestalten? Oder ist der Zwang, Unternehmensgewinne und hohe Einkommen unverhältnismäßig stark zu schonen, aufgrund des Wettbewerbs, dem die Politik unterliegt, unentrinnbar? Wolfgang Streeck, den ich schon einmal zitiert habe, bringt den Weg in die Staatsschuldenkrise in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den wachsenden Schwierigkeiten der Staaten, von ihrer Steuerhoheit angemessen Gebrauch zu machen.¹² Was aber bedeutet es – das ist unsere Frage – für Legitimität und Akzeptanz der Doppelordnung Demokratie/Marktwirtschaft, wenn Marktzwänge die Politik zu einem System der Besteuerung nötigen, das als krass ungerecht wahrgenommen wird? Mit dem Postulat einer Kultur der Selbstbeschränkung wirtschaftlicher Macht ist hier nicht viel gewonnen. Denn es bedarf gar keiner bewussten, gezielten Ausübung wirtschaftlicher Macht zu politischen Zwecken. Den Druck auf die Politik üben die Marktgesetzlichkeiten als solche aus. Die Politik muss darauf reagieren, dass Investitionsentscheidungen ökonomischer Rationalität folgend getroffen werden. Hinzu kommt, dass der Steuerwettbewerb der Staaten nicht nur die Entscheidung beeinflusst, wo ein Unternehmen wirtschaftlich tätig ist, son-
Anm. 7 Kapitel II.
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dern auch die Möglichkeit schafft, den Ort, an dem es steuerpflichtig wird, relativ frei zu wählen. Zwar ist offenkundig – davon war bereits die Rede –, dass die Politik hier dem Markt keineswegs hilflos gegenüber steht, so mühselig die Arbeit an einschlägigen Vereinbarungen zwischen den Staaten auch sein mag. Aber auch wenn es gelingt, durch internationale Regulierungen das Verhältnis zwischen Markt und Politik wieder so weit ins Gleichgewicht zu bringen, dass der Steuern erhebende Staat elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit Genüge tun kann – die Frage bleibt: Wo verläuft die Grenze zwischen unternehmerischen Entscheidungen, die vernünftigen und legitimen Gebrauch von den Handlungsspielräumen des Marktes machen, und solchen, die Legitimität und Akzeptanz der Doppelordnung unverantwortlich beschädigen? Sie ist durch keine freiheitskompatible Marktregulierung aus der Welt zu schaffen. Vermutlich muss man, um einer Antwort näher zu kommen, von den Auswirkungen unternehmerischen Fehlverhaltens her argumentieren. Die Frage lautet dann: Wann trübt sich die Evidenz der Vernünftigkeit der Doppelordnung so, dass es unmöglich wird, diese Ordnung überzeugend zu rechtfertigen? Im Kontext unserer Thematik schlage ich versuchsweise drei Elemente einer Antwort vor: – wenn dauerhaft ein dem Markt zugerechnetes schweres Gerechtigkeitsdefizit von der Politik nicht mehr ausgeglichen werden kann; – wenn das Verhältnis zwischen Markt und Politik als dauerhaft stark ungleichgewichtig zu Lasten der Politik wahrgenommen wird; – wenn gravierende Zweifel an der Integrität derer, die die Marktwirtschaft repräsentieren, aufkommen und anhaltend Nahrung erhalten. Unternehmerische Mitverantwortung für die Akzeptanz der Doppelordnung heißt dann: sich als mitverantwortlich dafür begreifen, dass es zu solchen Entwicklungen nicht kommt; heißt, jede weittragende unternehmerische Entscheidung auch auf den Prüfstand dieser Maßstäbe zu stellen. Über das in Sätzen dieser Art konkretisierte Postulat hinaus, dass das Entscheidungskalkül des Unternehmers die Mitverantwortung für den Bestand der Doppelordnung ernst zu nehmen habe, zu einer Kasuistik, wann wie zu entscheiden sei, wird man kaum gelangen. Im fünften und letzten Schritt meiner Überlegungen bleibt – wiederum nur andeutungsweise – die Frage zu erörtern: Wie kann dem Postulat einer rechtlich nicht fixierbaren Mitverantwortung der einflussreichen Marktteilnehmer, insbesondere der Unternehmer, für die Lebensfähigkeit der Komplementärordnung Demokratie/Marktwirtschaft Nachdruck verliehen werden? Wie kann das Postulat Geltungskraft gewinnen? Etwas anders gefragt: Wer kann ihr Nachdruck, Geltungskraft geben? Die Antwort lautet: nur die Öffentlichkeit. Unternehmen rea-
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gieren inzwischen sehr sensibel auf die Gefahr von Reputationsverlusten.¹³ Öffentliche Debatten darüber, dass bestimmte Unternehmen Standards verantwortlicher Unternehmensführung verletzt haben oder verletzen – ökologische Standards etwa oder Standards der fairen Behandlung von Mitarbeitern –, können zu erheblichen Reputationsverlusten führen. Reputationsverlust kann sehr handfeste wirtschaftliche Folgen für ein Unternehmen haben. Deshalb können auch Unternehmensführungen, die sich an nichts als dem Gewinn orientieren, solche Gefahren nicht einfach ignorieren. Die Sorge vor Reputationsverlust vermag denn auch, das hat sich in den letzten Jahren immer deutlicher gezeigt, Verhaltensänderungen zu erzwingen. Es käme darauf an, den Gedanken einer Mitverantwortung der einflussreichen Marktteilnehmer für die Lebensfähigkeit und Akzeptanz der Komplementärordnung Demokratie/Marktwirtschaft in handhabbare Standards zu übersetzen. Zwar können sie, wie eben schon gesagt, nicht im Einzelnen ausbuchstabiert werden. Aber sie müssen es auch nicht. Ein sozialer Konsens über das, was sich – ganz altmodisch formuliert – nicht gehört, muss nicht ausformuliert sein, um wirksam zu sein. Selbstregulierung – und davon reden wir hier –, die in den Debatten über Unternehmensethik in den letzten Jahren zu einem zentralen Stichwort geworden ist, kann oft, aber eben nicht immer in einen exakt verbalisierten Verhaltenskodex einmünden. Dass die unternehmerische Mitverantwortung für die Komplementärordnung Demokratie/ Marktwirtschaft sich nicht so leicht in klare Regeln fassen lässt wie andere, engere, deutlicher umrissene Gemeinwohlpflichten, macht die Rolle der Öffentlichkeit nur umso wichtiger. Freilich: Das Vertrauen in die Öffentlichkeit als die Instanz, die Reputationssanktionen verhängt und dadurch Verhaltensstandards tendenziell zu gewährleisten vermag, kann nur das Vertrauen in eine urteilsfähige Öffentlichkeit sein. Haben wir – im Blick auf die Fragen, um die es hier geht – eine urteilsfähige Öffentlichkeit? Mit einem zuversichtlichen Ja kann man jedenfalls nicht einfach antworten. Urteilsfähigkeit heißt in unserem Fall, die Funktionsvoraussetzungen der Komplementärordnung jedenfalls im Elementaren begriffen zu haben und Gefährdungen der Ordnung vor diesem Hintergrund diagnostizieren zu können. Ohne urteilsfähige Medien ist das undenkbar. Aber auf die Urteilsfähigkeit der Medien ist natürlich auch kein sicherer Verlass. Sie sind ja, um nur an eine der vielen Ambivalenzen zu erinnern, selber Marktgesetzlichkeiten unterworfen. Und das bedeutet, dass sie, wo immer sich die Chance bietet, in ihrer Präsentation des
Ähnlich argumentiert Gunnar Folke Schuppert Das Gemeinwohl – Von den Tücken eines für sich einnehmenden Begriff, in: Eberhard Kempf/Klaus Lüderssen/Klaus Volk (Hrsg.) Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht. Berlin/Boston 2013, S. 21– 42.
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politischen und wirtschaftlichen Geschehens der Versuchung ausgesetzt sind, statt sich an ihrer Aufgabe zu versuchen, das Publikum urteilsfähig zu machen, Skandale zu inszenieren, also Gefühlsaufwallungen zu provozieren, in denen das überlegte, ruhige Urteil gerade keine Chance mehr hat. Und dennoch: Wir haben keine andere Instanz als die Öffentlichkeit – ich verstehe den Begriff hier sehr weit – mit all ihren Schwächen, um Spielregeln nicht-rechtlicher Natur im öffentlichen Raum Nachdruck zu verleihen. Die Komplementärordnung von Demokratie und Marktwirtschaft kann nicht einfach nur darauf vertrauen, dass es nach unserem Erfahrungsstand zu ihr keine freiheitliche Alternative gibt. Sie muss, wenn sie bleiben soll, was sie ist, in allen ihren Segmenten lernfähig sein. Eine demokratiefreundliche Unternehmenskultur – das ist eines der aktuellen Kapitel in dem stetig fortzuschreibenden, nie zu Ende geschriebenen virtuellen Lehrbuch für eine Praxis gelingender Freiheit.
Clemens Trautmann
Digitalisierung und Unternehmenskultur – Trends und wirtschaftsethische Dimensionen aus Perspektive der Praxis Gliederung I. II. III.
Einführung Dimensionen von Unternehmenskultur Typisierte Kernelemente digitaler Unternehmenskultur . Mission . Risikobereitschaft . Anpassungsfähigkeit . Mitarbeiter-Einbindung . Wissensmanagement und Entscheidungsfindung . Anreizsysteme und Grad der Nachhaltigkeit IV. Wirtschaftsethische Dimensionen einer digitalen Unternehmenskultur . Missionsgetriebenes Handeln in regulatorischen Grenzbereichen . Ambivalenz rein datengestützter Entscheidungen . Überwiegen kurzfristig ausgerichteter und inkonsistenter Anreizsysteme . Transparenz und Anpassungsfähigkeit . Förderung einer Verantwortungskultur V. Fazit und Ausblick VI. Literatur
I. Einführung Noch vor kurzem erschien die Digitalisierung als ein Phänomen, das bestenfalls die Medien- und Telekommunikationsindustrie, die Werbewirtschaft und den Einzelhandel betrifft. Diese Einschätzung hat sich radikal gewandelt. Die digitale Revolution hat binnen weniger Jahre alle Branchen und sämtliche Glieder der Wertschöpfungskette ergriffen. Befördert wurde sie von der Mobilisierung der internetfähigen Geräte, Infrastruktur für schnelle Datenübertragung, Algorithmen für die Auswertung riesiger Datenmengen, geobasierten Diensten und der Vernetzung von Einzelgegenständen zum sogenannten „Internet der Dinge“. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln und des IT-Branchen-
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verbands Bitkom hängen die Geschäfte von 50 Prozent aller Unternehmen in Deutschland inzwischen stark vom Internet ab¹. Glaubt man dem „Digital Readiness Index“, so haben viele Branchen indes einen Großteil der Transformation noch vor sich². Dabei ist keineswegs gesichert, dass sie den Wandel erfolgreich meistern. Darwin und Schumpeter sind die kulturphilosophischen Gewährsmänner der Stunde. Die KPMG betitelt eine Studie „Survival of the Smartest – welche Unternehmen überleben die digitale Revolution“? Danach rechnet über die Hälfte der Unternehmen (61 Prozent) in Deutschland aufgrund der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung bis zum Jahr 2020 mit neuer Konkurrenz – und zwar nicht aus der eigenen, sondern aus einer fremden Branche³. So treiben beispielsweise die deutschen Automobilhersteller die Vernetzung ihrer Fahrzeuge untereinander und mit der Verkehrs-Infrastruktur voran, um die Sicherheit durch Schwarmintelligenz steigern zu können – und finden sich dabei plötzlich im Wettbewerb mit Google und seinem Projekt „Driverless Car“ wieder. Das Schumpeter’sche Prinzip der schöpferischen Zerstörung wird wiederum gern im Zusammenhang mit der sogenannten SharingÖkonomie zitiert, also etwa wenn der digitale Privatunterkunfts-Vermittler AirBnB die traditionelle Hotellerie umkrempelt oder der Chauffeurdienst Uber das Taxigewerbe revolutioniert. Insgesamt zwingen solche Entwicklungen zunehmend auch etablierte Unternehmen, sich an der Digitalökonomie und ihren Strategien und Prozessen orientieren. Definiert man Unternehmenskultur mit dem geläufigen und immer noch treffenden Satz „this is how we do things around here“⁴, stehen im Zuge der Digitalisierung auch die Organisationsmerkmale und -werte vor einem immensen Wandel. Digitalisierung und Unternehmenskultur bedingen sich dabei wechselseitig: Technologie prägt die Arbeitsabläufe und damit mittelbar auch die Kultur einer Organisation, etwa durch Software zur Kommunikation, Projektkoordination und Wissensmanagement nach Vorbild sozialer Netzwerke (sog. Enterprise 2.0). Neue Technologie und Arbeitsmethoden werden wiederum nur dann adaptiert, wenn die Unternehmenskultur Veränderungsbereitschaft befördert. Nicht zu verkennen ist dabei auch die Schwierigkeit, dass in großen Organisationen heute sogenannte „digital natives“ – also die mit dem Internet aufgewachsene und
Institut der deutschen Wirtschaft/BITKOM, Wirtschaft digitalisiert – Welche Rolle spielt das Internet für die deutsche Industrie und Dienstleister?, veröffentlicht 10.4. 2014. Wirtschaftswoche/neuland, Digital Readiness Index 2014, veröffentlicht 24. 2. 2014. KPMG, Survival of the Smartest – welche Unternehmen überleben die digitale Revolution?, veröffentlicht 24.9. 2013. David Bright/Bill Parkin Human Resource Management. Concepts and Practices (1997), S. 13.
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vertraute Generation – auf „corporate residents“ treffen, die sich digitale Arbeitsmethoden erst aneignen mussten. Zu den traditionsreichen Unternehmen, die in der Digitalisierung ihres Geschäfts signifikante Fortschritte gemacht haben, zählt anerkanntermaßen die Axel Springer SE, für die ich während der intensiven Transitionsphase im Vorstandsstab tätig war. In der Entwicklung steht Axel Springer aber keineswegs allein: Die Otto-Gruppe gilt als erfolgreiches Beispiel für die Übersetzung des klassischen Versandhandels in E-Commerce-Modelle à la Amazon und Zalando. BMW hat seine Fahrzeuge am konsequentesten mit Internet- und Multimedia-Lösungen ausgestattet und Konzeptfahrzeuge zur Serienreife gebracht. Bei der Axel Springer SE betrug im Geschäftsjahr 2013 der Anteil der Digitalerlöse am Konzernumsatz knapp 48 Prozent. In absoluten Zahlen haben die digitalen Medien die UmsatzMilliarde seit 2012 deutlich überschritten. So überzeugend diese Kennzahlen aber vordergründig sein mögen – Axel Springer hat erkannt, dass das strategische Ziel, der führende digitale Verlag zu werden, nicht erreichbar ist, wenn mit der Transformation des Geschäftsmodells nicht auch ein Kulturwandel einhergeht. Der Kulturwandel wurde 2013 als zentrales strategisches Element eingeführt und mit Maßnahmen hinterlegt. Dazu zählen etwa die dauerhafte Präsenz und Frühphasen-Investments von Axel Springer im Silicon Valley oder der Neubau eines digitalen Medien Campus neben dem Berliner Verlagsgebäude. Zunehmend orientiert sich der Konzern aber auch an der unternehmerischen Praxis in den eigenen Online-Beteiligungen, die Digitalökonomie in Reinform repräsentieren. Zu diesen Beteiligungen gehört auch die Immonet GmbH, eines der führenden deutschen Immobilienportale, deren Geschäftsführer ich seit Anfang 2013 bin. Aus dieser Perspektive möchte ich folgende Fragen aufgreifen: Wie verändert die Digitalisierung typischerweise eine Organisationskultur? Was sind wesentliche Merkmale einer digitalen Unternehmenskultur?⁵ Die sozialwissenschaftlichen und organisationstheoretischen Erkenntnisse zu den prägenden Elementen einer Unternehmenskultur (II.) sollen hierbei durch praxisnahe Beispiele aus Online-Unternehmen veranschaulicht und angereichert werden (III.). In einem zweiten Schritt möchte ich Überlegungen anstellen, wie sich die beschriebenen Charakteristika einer digitalen Organisationskultur auf die Compliance und die wirtschaftsethischen Grundsätze eines Unternehmen auswirken, die sich zusammenfassend mit dem Begriff der Integrität bezeichnen lassen (IV.).
Die Begriffe „Unternehmenskultur“ und „Organisationskultur“ werden hier synonym gebraucht. Zum Teil wird unterschieden zwischen „organizational culture“ als gewachsenem Phänomen und „corporate culture“ als bewusst vom Management gestaltetem Umfeld. Andere Autoren stellen darauf ab, dass „Organisationskultur“ als weiter gefasster Begriff auch nicht in privatwirtschaftlicher Unternehmensform geführte Einheiten umfasst.
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Nachgewiesen ist nämlich der enge Konnex zwischen Unternehmenskultur und ethischem Handeln der Mitarbeiter. Auch wenn die konkreten Auswirkungen der Digitalisierung auf die Integrität des Unternehmens- und Mitarbeiterhandelns im jetzigen Stadium kaum mehr als Hypothesen sein können, ist ein frühzeitiges Bewusstsein für die Chancen und Probleme hilfreich, um positive Trends verstärken sowie Fehlsteuerungen und –anreize vermeiden zu können.
II. Dimensionen von Unternehmenskultur Die Methoden und Begriffe, mit denen die Sozialwissenschaft und Organisationstheorie eine Unternehmenskultur erfassen und beschreiben will, sind beinahe so divers und heterogen wie ihr Untersuchungsgegenstand selbst.⁶ Es ist auch schon gemutmaßt worden, die unterschiedliche Wahrnehmung von Organisationskulturen sei ihrerseits den spezifischen Kulturen geschuldet, in denen die Beobachter sozialisiert wurden.⁷ Die schärfste Definition von Unternehmenskultur ist zugleich die unschärfste: „This is how we do things around here“.⁸ Zur Schärfung trägt auch nicht bei, dass der Kulturbegriff aus der Anthropologie entlehnt wurde. Entsprechend ist der Diskurs darüber – und zwar sowohl in der Wissenschaft als auch in der Management-Praxis – von Analogien und Metaphern gekennzeichnet. So ist von „Artefakten und Ritualen“⁹ die Rede, von „starken und schwachen Kulturen“ oder auch von „Brot- und Spiele-Kultur“ ¹⁰ sowie neologistisch von einer „adhocrazy culture“. Bei genauerer Betrachtung lassen sich aber doch Konstanten identifizieren, die – in unterschiedlicher Ausprägung und unter variierender Terminologie – in vielen der Untersuchungsansätze wiederkehren. Auf sechs solcher Dimensionen von Unternehmenskultur, die auch in besonderem Maße relevant für die wirtschaftsethischen Aspekte sind, möchte ich mich stützen und konzentrieren. 1. Mission: Die Kultur einer Organisation wird zunächst maßgeblich bestimmt durch ihre Vision und strategischen Ziele. Denison sieht die Mission eines Unternehmens als erste von vier Dimensionen neben seiner Anpassungsfä-
Ausführlich dazu Joanne Martin/Peter J. Frost/Olivia A. O’Neill Organizational Culture, Beyond Struggles for Intellectual Dominance, Handbook of Organization Studies (2010), S. 725 ff. Jacques Rojot Culture and Decision Making, in: Oxford Handbook of Organizational Decision Making (2008), S. 135. Siehe Fn. 4. Edgar H. Schein Organizational Psychology (1980), S. 4. Terrence Deal/Allan Kennedy Corporate Cultures:The Rites and Rituals of Corporate Life (1982), S. 107 ff.
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higkeit, Mitarbeiter-Einbindung und Wert-Konsistenz.¹¹ Edgar Schein, der die Lehre von der Organisationskultur mit seinem aus der Anthropologie abgeleiteten Drei-Ebenen-Modell wesentlich mitbegründet hat, verortet die strategischen Vorgaben auf der Ebene des Normen- und Wertesystems (shared values) in einer vermittelnden Funktion zwischen den tieferliegenden Grundannahmen (tacit assumptions) und dem nach außen sichtbaren Symbolsystem (artifacts).¹² 2. Risikobereitschaft: Als kennzeichnend für eine Organisationskultur wird weiter angesehen, wie stark oder schwach die Risikobereitschaft oder – negativ formuliert – die Unsicherheitsängstlichkeit der Mitglieder ausgeprägt ist. Hofstede sieht die Ausprägung von „uncertainty avoidance“ als wichtige Dimension einer Unternehmenskultur.¹³ Deal und Kennedy haben eine Matrix für die rasche Einordnung von Organisationskulturen entwickelt, in denen das eingegangene Risiko in Relation zur erwarteten Belohnung gesetzt wird.¹⁴ 3. Anpassungsfähigkeit: Nach Denison ¹⁵ manifestiert sich diese Kulturdimension in dem Grad des Veränderungswillens einer Organisation, der Stärke der Kundenfokussierung und dem Bereitschaft zu permanentem Lernen. O’Reilly, Chatman und Caldwell erfassen diese Dimension von Organisationskulturen wiederum in Zusammenhang mit der Innovationsfähigkeit.¹⁶ 4. Mitarbeiter-Einbindung: Unter dem – insbesondere von Denison verwandten – Begriff der Einbindung (involvement) lassen sich der Umgang mit Status-Unterschieden, der Grad der Teamorientierung und die Selbst- oder Fremdbestimmung des Arbeitens fassen.¹⁷ Hofstede nimmt eine „power-distance“ Untersuchung, die IBM seit 1967 wiederholt unter den Mitarbeitern seiner mehr als 50 Länderorganisationen durchführte, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Organisationskultur und rekurriert auf den „power distance index“, der angibt, inwieweit weniger mächtige Individuen eine ungleiche Verteilung von Macht akzeptieren und erwarten.¹⁸ Konkret wird beispielsweise abgefragt, bis zu welchem Grad Mitarbeiter Angst haben, einen Dissens mit ihren Vorgesetzten zu artikulieren. O’Reilly, Chatman und Caldwell identifi Daniel Denison/Aneil Mishra Organization Science 1995, 204 ff. Edgar H. Schein Organizational Culture and Leadership (2010), S. 231. Geert Hofstede/Geert Jan Hofstede Cultures and Organizations – Software of the Mind, S. 163 ff. Terrence Deal/Allan Kennedy Corporate Cultures (Fn. 10), S. 107 ff. Daniel Denison/Aneil Mishra Organization Science 1995, 213 ff. C. A. O’Reilly III/J. Chatman/D. F. Caldwell People and Organizational Culture: A Profile Comparison Approach to Assessing Person-Organization Fit, Academy of Management Journal 1991, 487– 516. Friedemann Nerdinger/Peter Wilke Beteiligungsorientierte Unternehmenskultur (2009). Geert Hofstede/Geert Jan Hofstede Cultures and Organizations – Software of the Mind, S. 40 ff.
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zieren in ihrem Modell „people orientation“ und „team orientation“ als kulturprägende Faktoren. 5. Eng mit dem Stichwort der Mitarbeiter-Einbindung zusammen hängt der Komplex von Wissensmanagement und Entscheidungsfindung, der wegen seiner hohen Bedeutung für die Digitalökonomie separat betrachtet werden soll. „Power structures“ ist ein wichtiger Bestandteil des von Gerry Johnson entworfenen kulturellen Netzes – eines der gebräuchlichsten Modelle zur Erfassung von Organisationskulturen.¹⁹ Dazu zählt Johnson Entscheidungsarchitekturen, aber auch die Verbreitung von Wissen in Organisationen, welches ja bekanntlich mit Macht korrespondiert. 6. Entscheidend für die Unternehmenskultur ist schließlich die Lang- oder Kurzfristigkeit der Ausrichtung. Hofstede untersucht, inwieweit das Aufschieben von Belohnung in verschiedenen (nationalen) Kulturen befürwortet wird.²⁰ In der bereits erwähnten Matrix von Deal und Kennedy kommt der Belohnung für eingegangenes Risiko eine hohe Relevanz zu. Das vielleicht wichtigste Indiz für eine kurz- oder langfristige Ausrichtung sind demnach die vorhandenen Anreizsysteme für Führungskräfte und Mitarbeiter.
III. Typisierte Kernelemente digitaler Unternehmenskultur Mit Hilfe der genannten sechs Dimensionen lassen sich die Kernelemente digitaler Unternehmenskultur herausarbeiten. Da es hier allerdings nicht um die Kulturanalyse und -diagnose einer spezifischen Organisation geht, kann dies nur typisiert erfolgen. Kulturprägende Faktoren wie etwa die Persönlichkeit der Unternehmensgründer bzw. anderer Führungskräfte oder das konkrete Arbeitsumfeld müssen dabei weitgehend außer Acht bleiben.
1. Mission Die öffentlich erklärte Mission von Google ist es, „die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nützlich zu machen.“ Facebook beschreibt es als seine Aufgabe, „Menschen die Macht zum Teilen zu
Gerry Johnson Strategic Change and the Management Process (1987). Geert Hofstede/Geert Jan Hofstede Cultures and Organizations – Software of the Mind, S. 207 ff.
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geben und die Welt offener und vernetzter zu machen“.²¹ Amazon möchte „das am stärksten auf den Kunden ausgerichtete Unternehmen der Welt zu sein, wo Kunden alles finden und entdecken können, das sie online kaufen wollen, und das zum niedrigstmöglichen Preis“.²² Es klingt durchaus ambitioniert, welch universale Visionen die drei US-Internetgiganten formulieren. Aber auch ein im Wesentlichen national agierendes Online-Unternehmen wie Immonet, für das ich tätig bin, hat in einem umfassenden Strategieprozess immerhin das Ziel formuliert, „die Immobilienwelt zu revolutionieren“. Aus traditioneller Sicht mag diese Rhetorik befremdlich, ja anmaßend anmuten. Aufschlussreich sind allerdings die Implikationen für die Unternehmenskultur. In der Organisationstheorie hat sich die Unterscheidung zwischen „starken“ und „schwachen“ Unternehmenskulturen durchgesetzt.²³ Eine schwache Kultur ist dadurch geprägt, dass die Auffassungen über die Ziele und Werte innerhalb der Organisation variieren.²⁴ Die Folgen sind, dass es zusätzlicher Aufwand ist, das Unternehmen auf ein Ziel auszurichten und Mitarbeiter zu motivieren. In der Regel ist auch die Fluktuationsrate hoch. Je ausgeprägter dagegen eine Mission ist und je mehr Akzeptanz sie unter den Mitarbeitern hat, als desto stärker gilt wiederum eine Kultur. Die in der Digitalökonomie verbreiteten „mission statements“ haben intern eine bemerkenswert hohe Bindungskraft und wirken sinnstiftend auf die Mitarbeiter – wobei natürlich eine entscheidende Voraussetzung ist, dass die Mission zumindest erkennbar in konkretes Unternehmenshandeln übersetzt wird. Sonst ist der desintegrierende Effekt wiederum höher. Traditionellen Industrien sind solch ambitionierte Zielvorgaben fremd. Ihr Leitbild ist eher das einer evolutionären Optimierung, das sich aus einer intimen langjährigen Kenntnis der Kundenbedürfnisse und einer kontinuierlichen Verbesserung aller Prozesse speist. Entsprechend geringer ist die Bindungskraft. Die Bildung von Sub- oder sogar Gegenkulturen wird begünstigt, während in digitalen Unternehmen die dominante Kultur weitgehend unangefochten ist.
„Facebook’s mission is to give people the power to share and make the world more open and connected.“ „Earth’s most customer-centric company, where customers can find and discover anything they might want to buy online, and endeavors to offer its customers the lowest possible prices.“ Basierend auf dem Modell von Deal/Kennedy (Fn. 10). Stephen Robbins/Timothy Judge Essentials of Organizational Behavior (2011), S. 244.
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2. Risikobereitschaft Die Kultur digitaler Unternehmen ist geprägt durch eine grundsätzlich hohe Risikobereitschaft und Experimentierfreudigkeit ihrer Führung, die wiederum auf die Mitarbeiter abstrahlt. Dies wird befördert durch einige Spezifika von OnlineGeschäftsmodellen. Verglichen mit anderen Industrien sind keine hohen Anfangsinvestitionen in Infrastruktur, Produktionsanlagen, Marktforschung oder Marketing nötig. Auch Auslandsmärkte haben insofern niedrige Eintrittsbarrieren. Eine Realisierung neuer Geschäftsmodelle oder Produkte – und damit eine unmittelbare Erfolgskontrolle am Markt – ist typischerweise binnen weniger Wochen oder Monate möglich. Die Risikobereitschaft des Managements wird weiter gestützt durch eine hohe Finanzierungsbereitschaft auf Investorenseite (Venture Capital), die ihrerseits häufig einen Portfolioansatz verfolgt und bestenfalls davon ausgeht, dass sich von zehn neu gegründeten Aktivitäten eine am Markt durchsetzt und die Profitabilität erreicht. Ein beeindruckendes Praxisbeispiel für die hohe, aber zugleich kontrollierte Risikoaffinität ist die internationale Expansion der Rocket Internet GmbH, eines Inkubators für Online-Start-ups mit Sitz in Berlin. Rocket Internet ist bekannt dafür, erfolgreiche Online-Geschäftsmodelle aus den USA bereits in einem Frühstadium zu kopieren bzw. adaptieren und mit hoher operativer Schnelligkeit und Exzellenz in anderen Märkten auszurollen. Im Jahr 2011 hat Rocket Internet analysiert, welche historisch die zehn weltweit erfolgreichsten Internet-Geschäftsmodelle sind und hat dabei unter anderem E-Commerce (Amazon), Auktions- und Kleinanzeigen-Plattformen (eBay), Online-Partnerschaftsvermittlung oder auch Immobilien- bzw. Auto-Rubrikenportale identifiziert. Im nächsten Schritt hat Rocket Internet alle relevanten Schwellenländer daraufhin gescannt, ob es diese Geschäftsmodelle in den betreffenden Märkten bereits gibt. Sofern das nicht der Fall war, wurden für diese Märkte Management-Teams rekrutiert (typischerweise lokale Absolventen führender internationaler Business Schools, die über soziale Netzwerke angesprochen wurden). Diese bauten dann ihrerseits binnen weniger Wochen eine Organisation auf, nutzten zentral in Berlin vorgehaltene Technologie und Know-How und launchten ihre Aktivitäten zeitnah, unter anderem in Südamerika, Afrika, dem Nahen Osten und Südostasien. In einem traditionellen Unternehmenskontext hätte ein solches Expansionsvorhaben Jahre in Anspruch genommen und wäre womöglich angesichts der Tatsache, dass es sich um Hochrisikomärkte handelt, niemals realisiert worden. Gut drei Jahre später steht Rocket Internet vor einem Börsengang, bei dem eine Bewertung im niedrigen bis mittleren Milliardenbereich erwartet wird.
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3. Anpassungsfähigkeit Digitale Organisationen zeichnet eine hohe Anpassungsfähigkeit an veränderte Marktverhältnisse oder Kundenbedürfnisse aus. In gewisser Weise ist dies auch ein Faktor, der gegenläufig zur erhöhten Risikobereitschaft wirkt und Entscheidungen unter Unsicherheit revidierbar macht. Das Umfeld digitaler Unternehmen ist typischerweise sehr volatil. Häufig herrscht eine intensive Wettbewerbssituation, in der Produktvorteile binnen weniger Tage oder Wochen kopierbar sind. Der Erfolg oder Misserfolg digitaler Produkte ist unmittelbar messbar, und zwar nicht nur für das anbietende Unternehmen, sondern auch für den Kunden, woraus sich ständig Anpassungs- und Optimierungsdruck ergibt. Hinzu kommen zunehmend regulative Vorgaben, die in der Produktgestaltung berücksichtigt werden müssen. Traditionelle Organisationskulturen und -architekturen sind häufig nur bedingt geeignet, auf solche Anforderungen zu reagieren. Sie legen den Schwerpunkt auf Stabilität und Routinisierung und weisen eher eine Prozess- und Aufgabenorientierung anstelle einer Ergebnis- und Produktorientierung auf. Der Schlüssel, um sich in der Digitalökonomie einem volatilen Markt- und Wettbewerbsumfeld anzupassen und dabei zugleich das erforderliche Minimum organisatorischer Stabilität zu bieten, ist Agilität – ein Modell, das ursprünglich aus der Software-Entwicklung stammt und sich von dort in andere produkt- oder dienstleistungsnahe Unternehmensbereiche fortgepflanzt hat. Die Methode basiert darauf, dass sich selbst organisierende, multidisziplinär zusammengesetzte Teams in einem festgelegten Zeitrahmen schrittweise der angestrebten Lösung nähern und dabei Erkenntnisse aus vorangegangenen Iterationen sowie geänderte Anforderungen flexibel aufnehmen und einarbeiten können. In herkömmlichen Organisationsstrukturen herrschen dagegen homogene Teams vor, die in ihren jeweiligen Abteilungen arbeiten. Abstimmungsprozesse erfolgen dann zwischen Abteilungen. Ein agiler Innovationsansatz, der auch bei Immonet gebräuchlich ist, ist unter dem Begriff „Design Thinking“²⁵ bekannt und dadurch gekennzeichnet, dass Konzeption und Umsetzung überlappen. Die Teams setzen Ideen und Anforderungen direkt in Prototypen um (Scribbles, manchmal auch bereits SoftwareCode), die sogleich von Nutzer- oder Kundengruppen getestet werden. Je nachdem, wie erfolgreich die Erprobung der Prototypen war, kann das Team noch einmal ganz am Anfang beginnen und die Problemstellung neu definieren, auf einen Zwischenschritt zurückgehen und eine Funktion des Prototypen verbessern
Martin J. Eppler/Friederike Hoffmann Design Thinking im Management, OrganisationsEntwicklung 2012, 4 ff.
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und erneut testen, oder die Weiterentwicklung fortsetzen. Verbunden ist damit eine extreme Kundenorientierung. Agile Entwicklungsmethoden setzen schließlich eine Lernkultur voraus bzw. befördern sie. Am Ende eines Entwicklungsprojekts steht häufig eine Fehlerreflexion („Lessons Learned“). Die Anpassungsfähigkeit wird nach meiner Erfahrung bei Immonet weiter gesteigert durch eine ausgeprägte Fehlerkultur. Ein Ausspruch von Samuel Beckett, der auch in unserem Unternehmen einige Popularität hat, bringt diese Haltung treffend zum Ausdruck: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ In traditionellen Organisationen, die linear in Großprojekten denken, ist ein Scheitern ein erheblicher Kostenfaktor und Wettbewerbsnachteil, so dass drohender Misserfolg eher einer Angstkultur den Boden bereitet. „Fail better“ passt dagegen perfekt zu einem agilen, iterativen Vorgehen.
4. Mitarbeiter-Einbindung Bei einer Organisationskultur, wie agile Methoden sie bedingen, ist ein hoher Grad an Mitarbeiter-Einbindung und -Selbstbestimmung zwingend. Sie kommt zugleich den Wertevorstellungen der Generation nahe, die als „Digital Natives“ oder auch als „Generation Y“ bezeichnet werden, wobei die Zugehörigkeit zu dieser Kohorte teils an Geburtsjahrgängen (1975 – 1995)²⁶ oder – zutreffender – am Mind-Set²⁷ festgemacht wird. Die Zeitschrift „Führung und Organisation“ überschrieb die Juli-Ausgabe 2013 mit „Digital Natives – wie anders sind sie?“. Im Vergleich zu den anderen drei im Arbeitsleben befindlichen Generatio²⁸ nen schätzt die Gruppe der „Digital Natives“ die persönlichen Beziehungen zu Kollegen und dem Management am Arbeitsplatz am wichtigsten ein.²⁹ In praktisch sämtlichen Online-Unternehmen, die ich persönlich von innen kennengelernt habe, gibt es die viel beschworenen flachen Hierarchien und offenen Türen tatsächlich. Unter den Mitarbeitern herrscht eine Duz-Kultur – und zwar vom Praktikanten bis zum Geschäftsführer. Geduzt wird aber nicht nur innerhalb der Unternehmen, sondern ganz überwiegend auch auf Branchenveranstaltungen der Digitalwirtschaft.
Florian Kunze Werte der Digital Natives, zfo 2013, 233. Stiftung Neue Verantwortung, Policy Brief 3/12 „Digital Natives in deutschen Unternehmen – Hebel zur Vermeidung eines Culture Clash“, S. 2. Bezeichnet mit den Schlagworten „Generation Golf“ (1965 – 1974), „Baby Boomer“ (1955 – 64) und „Wirtschaftswundergeneration“ (1945 – 54). Kunze (Fn. 26) zfo, 2013, 234.
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Partizipation und Eigenverantwortung werden als hohe Werte angesehen.³⁰ Das berufliche Selbstverständnis der „Digital Natives“ – ganz gleich, ob sie in digitalen Technologieunternehmen oder anderen Industrien arbeiten – lässt sich durch vier Faktoren beschreiben: ziel- und aufgabenorientiert, wissbegierig und innovativ, karriereorientiert und ehrgeizig, vernetzt und kommunikationsstark.³¹ Deutlich mehr Nachwuchskräfte haben hohe Erwartungen im Bereich der intrinsischen Werte (78 Prozent) – insbesondere Spaß im Beruf, Neues lernen, mit guten Leuten arbeiten, sinnvolle und verantwortliche Tätigkeit – als im Bereich der extrinsischen Werte wie Karriere und Prestige (21 Prozent) und der Work-LifeBalance (25 Prozent).³² Diese Selbsteinschätzung und Erwartungshaltung deckt sich interessanterweise mit der Sicht der parallel befragten Unternehmen weitgehend. Tatsächlich findet in digitalen Unternehmen eine erhebliche Delegation von Entscheidungsrechten statt, die sich mit dem schwer zu übersetzenden Begriff des „Empowerment“ zusammenfassen lässt: Von den Vorgesetzten werden statt Aufgaben eher Ergebnisse definiert, und es liegt dann am Mitarbeiter, den Weg dahin zu finden und die notwendigen Entscheidungen selbst zu treffen. Damit einher geht natürlich auch eine Aufgabe von formaler Kontrolle. Flexible Arbeitszeiten sind absoluter Standard. Weitgehend ist die Erledigung von Aufgaben aus dem „Home Office“ möglich. Bei Immonet gibt es sogar einen festangestellten Mitarbeiter, der seine Aufgaben von Mexiko aus erfüllt, wohin seine Frau versetzt wurde. Ein treffendes, für deutsche Verhältnisse überraschendes Praxisbeispiel ist der Verzicht auf eine Urlaubsregelung, wonach jeder Angestellte so viele Urlaubstage nehmen kann, wie er will und es betrieblich passt. Die US-Unternehmen HubSpot, Evernote, NetFlix und Groupon waren 2010 Vorreiter einer solchen „no vacation policy“, damals noch bei einem Bruchteil ihrer heutigen Größe und Marktstellung. Auf eine solche Regelung gibt es zwei mögliche Reaktionen: Die einen befürchten, dass sie unter Leistungsdruck und Gruppenzwang durch hart arbeitende Kollegen noch weniger Urlaub nehmen können als mit einem formal festgelegten Kontingent an Urlaubstagen; andere sehen es als Chance, sich durch eine kluge Einteilung ihrer Arbeit mehr Freiraum zu verschaffen. Interessanterweise setzen Unternehmen mit einer „no vacation policy“ den Hinweis auf unlimitierte Urlaubszeiten in Bewerbungsgesprächen teils bewusst ein, um die Re-
Anders Parment Die Generation Y – Mitarbeiter der Zukunft, Herausforderung und Erfolgsfaktor für das Personalmanagement (2009). Andrea Gurtner/Frank Dievernich/Peter Kels Erwartungen der Digital Natives, zfo 2013, 248 (245). Gurtner/Dievernich/Kels (Fn. 31) zfo 2013, 247 (245).
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aktion der Bewerber und ihren sogenannten „kulturellen Fit“ zum Unternehmen zu testen.
5. Wissensmanagement und Entscheidungsfindung Von Heinrich von Pierer stammt das Bonmot: „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“. Diese Feststellung wird traditionell als Dilemma des Wissensmanagements in Unternehmen empfunden, was sich etwas auch in der Aussage von Peter Drucker spiegelt: „You can’t manage knowledge. Knowledge is between two ears and only between two ears“. Von meinem Unternehmen kann ich annähernd behaupten: „Immonet weiß, was Immonet weiß“. Und die Kollegen von Amazon und Zalando, die als vorbildlich in der perfekten Organisation und Nutzung ihrer Daten gelten, würden sicher eine ähnliche Aussage treffen. Welches sind die wesentlichen Elemente eines solchen Wissensmanagements? Technologisch handelt es sich zunächst um ein zentrales Enterprise Data Warehouse – eine Datenbank, in der Daten aus unterschiedlichen Quellen und Subsystemen – z. B. die kaufmännischen Daten aus den ERP-Systemen, die Kunden- und Transaktionsdaten aus der CRM-Anwendung, die Online-TrafficDaten aus Google Analytics oder anderen Tracking-Tools – in einem einheitlichen Format zusammengefasst und zusammen auswertbar werden. Daneben spielt die Organisation der unternehmensinternen Kommunikation nach dem Vorbild eines sozialen Netzwerks eine wichtige Rolle. Man spricht insoweit von „Collaborative Communication“ oder „Enterprise 2.0“.³³ Darunter fallen im einzelnen IntranetLösungen in Wiki-Form (statt einem herkömmlichen Content Management System), Projekt-Blogs, Social Networking-Plattformen inkl. Instant Messaging (statt E-Mail). Die Zusammenführung aller Kommunikationsvorgänge auf einer technologischen Plattform schafft die Möglichkeit, die berufsbezogenen Erfahrungen und der Aktivitäten der Mitarbeiter zu konservieren und kontextbezogen wieder zugänglich zu machen.³⁴ Das implizite Wissen kann von Mitarbeiter zu Mitarbeiter nicht nur in direkten Beziehungen (1:1), sondern auch gegenüber einer noch unbestimmten Mehrheit (1:n) erschlossen werden, sogar hierarchieübergreifend und
Der Begriff wurde 2006 geprägt durch Andrew McAfee und lehnt sich an das von Tim O’Reilly eingeführte Schlagwort „Web 2.0“ an, das die veränderte Internetnutzung beschreibt, wonach Nutzer Inhalte nicht nur konsumieren, sondern sie selbst generieren, verteilen und bearbeiten, siehe dazu Jäger/Petry (Hrsg.) Enterprise 2.0 – die digitale Revolution der Unternehmenskultur, S. 22. Niall Hayes Information Technology and the Possibilities for Knowledge Sharing, in: Handbook of Organizational Learning and Knowledge Management, S. 99.
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bidirektional zwischen Abteilungen. Mitunter genügt ein schlichtes Posting („Wer hat schon mal mit Hadoop gearbeitet?“), worauf sich dann vielleicht auch Kollegen melden, die man niemals direkt angesprochen oder angeschrieben hätte oder nicht einmal kannte. Eine Wettbewerbsbeobachtung findet etwa auch nicht mehr zentral in einer eigens dafür geschaffenen Abteilung statt, vielmehr gibt jeder Mitarbeiter, dem Markt- oder Wettbewerbsdaten begegnen, sie in die entsprechende Sektion des Unternehmens-Wiki (bei Immonet etwa „Periskop“ genannt) ein. So kann die kollektive Intelligenz eines Unternehmens nutzbar gemacht werden. Unter den Zielen, die für die Einführung von „Enterprise 2.0“ von Unternehmen genannt wurden, stehen auch an vorderster Stelle das Verfügbarmachen von implizitem Wissen (51 Prozent) sowie die Verbesserung der Speicherung von Informationen (49 Prozent), erst mit einigem Abstand folgen Aspekte wie die Verbesserung der internen Abstimmung oder Mitarbeitermotivation.³⁵ Kulturell vollzieht sich damit in Unternehmen, was das Internet in der Gesellschaft schon partiell erreicht hat, nämlich eine Demokratisierung des Wissens. Idealtypisch entsteht eine Kultur des Teilens, die in Kontrast zu dem tradierten Grundsatz „Wissen ist Macht“ steht und vielmehr auf Vertrauen und Autonomie aufbaut. Die Erwartungshaltung, dass ein Mitarbeiter alle notwendigen Informationen und Arbeitsmittel von seinem Arbeitgeber bzw. Vorgesetzten gestellt bekommt, wird in einem solchen Umfeld bewusst enttäuscht. Push-Mechanismen werden durch Pull-Mechanismen ersetzt, in der jeder sich die nötigen Informationen selbst zieht und sie auswertet. Bei Immonet haben von ca. 300 Mitarbeitern rund ein Drittel Zugang zum Data Warehouse und damit Zugriff auf viele unternehmenskritischen Daten, was zugleich ein Vertrauensbeweis ist. Dass ein solches Arbeiten – gerade für „Digital Immigrants“ – gewöhnungsbedürftig ist, liegt auf der Hand. So bedurfte es bei Immonet nach Einführung des Data Warehouse und des Unternehmens-Wiki „Immospace“ es eines von den Führungskräften aktiv gesteuerten Veränderungs-Prozesses, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Auch für das Management besteht die Herausforderung darin, eine solche Kultur vorzuleben, trotz Zeitdrucks selbst immer wieder interaktiv Wissen zu teilen und insgesamt Kontrolle aufgeben, dabei aber die Führung behalten (open leadership).³⁶ Entscheidungsprozesse in der Digitalökonomie sind in aller Regel partizipativ, relativ kurz und nicht zuletzt datengestützt (data-driven decision making). Bei Immonet gibt es etwa das Prinzip, dass das Management eine Entscheidung auf Thorsten Petry/Florian Schreckenbach Empirische Ergebnisse zum Status Quo von Enterprise 2.0 in Unternehmen, in: Enterprise 2.0 (Fn. 33), S. 45. Florian Schreckenbach Konsequenzen von Enterprise 2.0 für die Arbeitswelt der Zukunft, in: Enterprise 2.0 (Fn. 33), S. 128.
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keine anderen Daten als auf die qualitätsgesicherten, zentral vorgehaltenen aus dem Data Warehouse stützen soll. Geschäftsführungs-Sitzungen verlaufen ergebnisorientiert und unter „time-boxing“ für jeden Beschlussgegenstand. Besonders aufschlussreich ist in meinem Unternehmen der sogenannte immoGATEProzess, in dem über bereichsübergreifende Projekte ab einem höheren Volumen entschieden wird. Er greift in den Stadien der Initiierung, Konzeption, Umsetzung, Betriebsübergabe und Erfolgskontrolle, und es ist von Vornherein nur ein definiertes Set an Entscheidungsoptionen („Go“, „Kill“, „Hold“ oder „Rework“) zugelassen. Dieser Prozess ist insofern auch partizipativ, als er jedem Mitarbeiter unabhängig von seiner Hierarchieebene die Chance gibt, sein Vorhaben schon in einem frühen Stadium der gesamten Geschäftsleitung zu unterbreiten und im Fall der Zustimmung Unternehmensressourcen verbindlich zur Verfügung gestellt bekommt.
6. Anreizsysteme und Grad der Nachhaltigkeit Hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Ausrichtung digitaler Unternehmen ist ein eindeutiger Befund nur schwer möglich, da hier gegenläufige Einflussfaktoren zu berücksichtigen sind und die Geschäftsmodelle bzw. der Reifegrad von Organisationen stark differieren. Auch die Anreizsysteme sind sehr heterogen, und zwar sowohl im Vergleich verschiedener Unternehmen als auch innerhalb einer Organisation. Die Gründer von Internet-Unternehmen haben zwar grundsätzlich eine nachhaltige Perspektive, da sie im wesentlichen durch die Wertsteigerung ihrer Unternehmensanteile incentiviert sind. Modifiziert werden muss diese Aussage aber schon, wenn – wie meist – das Wachstum fremdfinanziert ist. Business Angels haben typischerweise einen Anlagehorizont von immerhin zehn Jahren; Seed Funds oder Early Stage Funds hingegen von lediglich fünf Jahren, teils auch deutlich darunter.³⁷ Nicht wenige Gründungen erfolgen auch von Vornherein im Hinblick auf einen lukrativen Exit durch Verkauf an einen strategischen Investor oder Börsengang. Studien zeigen, dass die extrinsische Motivation durch Vergütung für Digital Natives – trotz der hohen intrinsischen Motivation – durchaus eine erhebliche Rolle spielt.³⁸ Sie legen Wert auf transparente und gerechte Karrieremodelle, wo es Vgl. nur Madison Park Group, Guide to Venture Capital, S. 7. Kunze (Fn. 26) zfo 2013, 234: Intrinsische Anreize und Belohnungen – Digital Natives haben geringsten Wert, dagegen den höchsten bei extrinsischen Belohnungen, insbesondere im Vergleich mit der Baby-Boomer-Generation.
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auf Messbarkeit ankommt und Leistung angemessen honoriert wird. Langfristziele sind allerdings in den Bonusvereinbarungen nicht üblich. Eine Mitarbeiterbeteiligung in Form von Aktienpaketen ist häufig im Gründungsstadium zu beobachten, in gewachsenen digitalen Organisationen ist sie nicht mehr so verbreitet. Insgesamt dürften daher die kurzfristigen Anreize die langfristigen überwiegen. Auch die schnelle Veränderung der technologischen Rahmenbedingungen und des Wettbewerbsumfelds bei gleichzeitig geringer Visibilität führen dazu, dass eher kurz- bis allenfalls mittelfristige Ziele gesetzt werden.
IV. Wirtschaftsethische Dimensionen einer digitalen Unternehmenskultur Der Korrelation zwischen Unternehmenskultur und Erfolg eines Unternehmens ist häufig in Studien aufgezeigt worden. Dabei wird Integrität regelmäßig als ein wichtiger Erfolgsfaktor genannt. Die Unternehmenskultur wird als eine institutionelle Rahmenbedingung aufgefasst, die das moralische Handeln im Unternehmen systematisch beeinflusst.³⁹ Integer agierende Unternehmen haben nach verbreiteter Auffassung einen Wettbewerbsvorteil infolge besserer Reputation.⁴⁰ Weiter wird angeführt, dass Werte, die in Routinen oder kollektives Wissen der Organisationsmitglieder überführt sind, von Konkurrenten schwerer nachahmbar sind.⁴¹ Unternehmen mit einer wertebasierten Unternehmenskultur und einem moralischen Klima sind aber vor allem auch deshalb erfolgreicher, weil sie die Rechte und Interessen aller internen und externen Stakeholder berücksichtigen und ausbalancieren.⁴² Die unternehmerische Praxis zeigt, wie gravierend die technologischen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung sind. Ich bin überzeugt, dass die gravierenden Veränderungen in der Unternehmenskultur, die von der Digitalökonomie ausgeht und zunehmend von reiferen Organisationen adaptiert wird, mittel- und langfristig nicht ohne Auswirkungen auf die Compliance und das Integritätsmanagement bleiben können. Eine systematische Untersuchung, wie sich die Veränderungen der Organisationskultur infolge der Digitalisierung auf die Integrität des
Elisabeth Göbel Unternehmensethik (2012), S. 207; Karl Berkel/Rainer Herzog Unternehmenskultur und Ethik (1997), S. 113. Norman Bowie Organizational Integrity and Moral Climates, in: The Oxford Handbook of Business Ethics (2012), S. 720. Bowie Organizational Integrity (Fn. 40), S. 720. Bowie Organizational Integrity (Fn. 40), S. 722.
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Mitarbeiter- und Unternehmenshandelns auswirkt, existiert bisher allerdings nicht. Ohne valide Studien und Datenmaterial können Aussagen darüber kaum mehr als Hypothesen sein, die sich aus praktischer Erfahrung speisen und die es zu validieren gilt.
1. Missionsgetriebenes Handeln in regulatorischen Grenzbereichen Wir haben festgestellt, dass digitale Unternehmen typischerweise eine ausgeprägte Mission und erhöhte Risikobereitschaft aufweisen. Diese kulturelle Disposition erleichtert ein Tätigwerden unter hoher Unsicherheit in Märkten, die erst im Entstehen begriffen sind und für die es daher keinen – oder einen sehr breiten – regulatorischen Rahmen gibt, die also auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“ entstehen. Durch ihre Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit haben die Unternehmen unter diesen Bedingungen die Möglichkeit, ihr Geschäftsmodell bis an die Grenze des Zulässigen auszudehnen und dadurch kaum reversible Fakten zu schaffen. Manche nehmen sogar eine Überschreitung bewusst in Kauf. Ein solches Vorgehen kann man auf die Formel „erst tun, dann fragen“ bringen. Die Überzeugung, mit dem Projekt eine Mission zu erfüllen, macht es wiederum leichter, Kritik von außen standzuhalten und das Vorhaben als förderlich für das Gemeinwohl darzustellen. Die noch junge Internet-Historie hält einige Beispiele parat, die dieses Phänomen anschaulich machen. Google hat sowohl mit seiner Bilder- als auch NewsSuche das Prinzip des fair use im amerikanischen Urheberrecht genutzt und wegen seiner globalen Verfügbarkeit faktisch auch auf Jurisdiktionen ausgedehnt, die eigentlich ein höheres Schutzniveau vorsehen. Gerichtsentscheidungen (etwa zur Zulässigkeit von Bild-Suchergebnissen lediglich in Thumbnail-Größe) oder legislatives Tätigwerden wie im Fall des Leistungsschutzrechts haben Googles Aktivitäten – allerdings erst Jahre später – Grenzen gesetzt. Besonders aufschlussreich ist Google Books – ein Projekt, für das Google im Sinne seiner Mission, die Informationen der Welt organisieren zu wollen, nicht mehr verfügbare Bücher einscannte und veröffentlichte. Hier war von Anfang an klar, dass an diesen Werken noch Urheberrechte bestanden. Öffentliche Appelle von Buchverlegern und Autorenverbänden hatten kaum Wirkung; die Sammelklage von Verlagen und Autoren wurde durch das Google Book Settlement 2009 beigelegt. Ende 2013 hat ein US-Gericht nach achtjähriger Verfahrensdauer schließlich den Antrag der amerikanischen Author’s Guild im Urheberrechtsverfahren gegen Google Books abgewiesen und festgehalten, dass der Dienst grundsätzlich von dem Prinzip des fair use gedeckt ist. Google hatte durch ein anfangs klar rechtswidriges
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Vorgehen inzwischen Fakten geschaffen. Auch bei Google Streetview setzte die öffentliche Debatte über die Reichweite der Privatsphäre erst ein, als die ersten Kamerawagen schon unterwegs waren. Später stellte sich heraus, dass die Google Kamerawagen unzulässigerweise auch die W-LAN-Verbindungen der Nachbarschaft aufgezeichnet hatten. Ähnliche Muster kann man erkennen, wenn man sich Facebooks Verhältnis zum Datenschutz und zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung vergegenwärtigt. Die Standardeinstellungen für die Eingabe und das Teilen von personenbezogenen Daten sind stets so permissiv wie rechtlich gerade noch vertretbar; dadurch ist es Facebook gelungen, einen immensen Datenschatz aus 1,3 Milliarden Nutzerprofilen (Stand 2014) anzuhäufen. Eine Regulierung durch die Europäische Union wird die Möglichkeiten des Profiling anhand personenbezogener Daten – die den Kern des Werbe-Geschäftsmodells von Facebook ausmachen – voraussichtlich 2015 durch eine in jedem Mitgliedstaat unmittelbar anwendbare Datenschutzgrundverordnung einschränken, rund ein Jahrzehnt nach Gründung der Plattform. Man bedenke: Jeden Tag werden auf Facebook knapp 5 Milliarden neue Inhalte (Fotos, Postings etc.) hochgeladen. Die jüngsten größeren Konfliktfälle spielen auf dem Gebiet des Gewerbe- und Ordnungsrecht. AirBnB (was ursprünglich für „Air Bed and Breakfast“ stand) ist eine US-Plattform, die Privatleuten die Vermietung ihrer Wohnungen an Touristen und Geschäftsreisende ermöglicht. Beim Chauffeurdienst Uber können private Fahrer sich und ihre Fahrzeuge für kostenpflichtige Touren vermitteln lassen. Diese Ökonomie des Teilens von Privateigentum, die von ihren Befürwortern ideologisch überhöht wird, stößt auf ein Gewerberecht, das an Beherbergungsbetriebe und Personenbeförderung besondere strenge Anforderungen stellt. Solche Schutznormen werden durch die quasi-gewerbliche Nutzung von Wohnungen oder Pkw über Plattformen unterlaufen. Die Auswirkungen auf gewachsene Stadtquartiere sind schwer absehbar, wenn Apartments zunehmend kurzfristig genutzt werden und dem Wohnungsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Berlin hat die Zweckentfremdung von Wohnraum für kurzfristige Vermietung Ende 2013 untersagt. Aus Protest gegen den Service von Uber protestierten im Juni 2014 Zehntausende Taxifahrer in Europas Hauptstädten. Symptomatisch war schließlich, dass Uber im September 2014 unter Berufung auf seine Mission, die Art der Fortbewegung zu revolutionieren und die Verkehrsinfrastruktur zu verbessern, eine einstweilige Verfügung des Landgerichts Frankfurt ignorierte. Der Hinweis auf derartige Integritätsrisiken sollte nicht gleichgesetzt werden mit Beharrungstendenzen und Schutz von Monopolrenditen.Vielmehr befördert ein Wettbewerb durch neue digitale Marktteilnehmer fraglos die Nutzerfreundlichkeit und Effizienz. Kritikwürdig ist allerdings, wenn diese Marktteilnehmer – begünstigt durch ihre Technologie – Wertevorstellungen einseitig und ohne öffentlichen Dis-
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kurs durchsetzen, zumal sich missionarischer Eifer in der Regel mit handfesten ökonomischen Interessen paart.
2. Ambivalenz rein datengestützter Entscheidungen Datengestütztes Entscheiden weist auf den ersten Blick zahlreiche positive Momente für integeres Unternehmens- und Mitarbeiterhandeln auf. Wenn Entscheidungen auf objektive, nachvollziehbare Leistungsdaten gestützt und möglicherweise sogar mit außerhalb des Unternehmens vorhandenen Marktdaten plausibilisiert werden (was etwa ein Data Warehouse ermöglicht), bleibt für sachfremde Erwägungen – etwa bei Einkaufsentscheidungen – kein Raum. Grundsätzlich gilt eine Orientierung an quantitativ-ökonomischen Werten allerdings problematisch für Unternehmensethik.⁴³ Der Grund besteht in der Komplexitätsreduktion. Die Orientierung an Daten vermittelt eine Scheingenauigkeit. Es ist dabei nicht sichergestellt, dass die Rechte und Interessen aller internen und externen Stakeholder in dem zugrundeliegenden Modell auch tatsächlich erfasst werden. Bei konsequent rationaler Orientierung an Markt- oder Verbraucherdaten ist auch die Verletzung von Fairness-Normen nicht auszuschließen. Kontextabhängige Preiselastizitäten sind dafür ein gutes Beispiel. Der Chauffeurdienst Uber praktiziert – durchaus transparent – ein dynamisches Preismodell, wonach bei schlechten Wetterbedingungen oder Stoßzeiten die Tarife deutlich, teils 7-fach, über Normalniveau liegen. Uber selbst sieht darin ein perfektes Ausbalancieren von Angebot und Nachfrage, nach anderer Lesart kommt diese Praxis dem Ausnutzen einer Zwangslage, wie es etwa §§ 138 Abs. 2 BGB, 291 StGB zugrunde liegt, zumindest nahe. Datengestützten Entscheidungen ist immanent, dass sie sich eindeutiger ethischer Bewertung entziehen. Nehmen wir etwa an, dass ein gewerblicher Händler seine Waren über einen Online-Auktionshaus vertreibt, wofür das Portal eine Provision erhält. Die Daten ergeben, dass der Kunde seinen Vertrieb zunehmend über andere Plattformen und Kanäle organisiert. Um ihn zu halten, bucht das Portal – für den betreffenden Kunden nicht transparent – bei Suchmaschinen Keywords ein, die speziell auf die angebotenen Waren des Kunden optimiert sind. Der höhere Traffic auf den jeweiligen Warenangeboten führt wiederum zu einem schnelleren und höherpreisigen Abverkauf, woraufhin der Kunde dem Portal weiter treu bleibt. Manch einer wird eine solche Kundenbin-
Vgl. nur Göbel Unternehmensethik (2012), S. 208.
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dungs-Strategie für manipulativ halten, man kann das Vorgehen aber sehr wohl auch als Investition in die Kundenbeziehung sehen. Rein datengestütztes Entscheiden könnte schließlich einer bedenklichen Prämisse Vorschub leisten: Mehr Daten, bessere Entscheidungen. Die ohne bestehende Sammelwut könnte sich noch einmal beschleunigen. Selbst wenn man annimmt, dass diese Daten in Übereinstimmung mit geltendem Datenschutzrecht generiert werden, so bleibt doch ein Zielkonflikt mit dem Gebot der Datensparsamkeit und -vermeidung (§ 3a BDSG). Häufig genug werden bei der Erhebung aber rechtliche und ethische Grenzen überschritten. Im Monatstakt werden Fälle bekannt, wo elektronische Geräte heimlich Daten ihrer Nutzer aufzeichnen und übermitteln: So las etwa der Messaging-Dienst WhatsApp die Adressbücher seiner User aus. Apple speicherte Aufenthaltsdaten seiner Nutzer und hielt die Sounddateien, die User an die Spracherkennungs-Software Siri schicken, bis zu zwei Jahren vor. Internetfähige Fernseher der Marke LG übermittelten die Nutzungsdaten und Programmpräferenzen ihrer Besitzer an den Hersteller.
3. Überwiegen kurzfristig ausgerichteter und inkonsistenter Anreizsysteme Dass Anreize in der Digitalökonomie eher kurzfristiger Natur sind, hatten wir bereits festgestellt. Das schafft insgesamt ein schwieriges Umfeld für integeres Handeln. Die Technologie, insbesondere auch das Online- und Suchmaschinen-Marketing, stellt viele Stellschrauben zur Verfügung, um kurzfristig gesetzte Reichweiten- oder Umsatzziele zu erreichen. Die Grenze zwischen Investition in schnellen Unternehmenserfolg und Manipulation ist häufig fließend. Als problematisch muss auch angesehen werden, dass Anreizsysteme in jungen Digitalunternehmen häufig inkonsistent ausgestaltet sind. Hier haben gewachsene Organisationen einen Vorteil, bei denen Incentives in der Hierarchie nach unten kaskadiert werden. Gründer und Finanzvestoren sind häufig auf einen (Teil‐)Exit ausgerichtet, bei dem ihre Anteile mit einem Multiple des operativen Ergebnisses vergütet werden. Es ist bekannt, dass bei Equity-Vergütungspaketen eine höhere Korrelation zu Bilanzmanipulation besteht.⁴⁴ Die überdurchschnittlich hohen Anreize für die Eigentümer und das Management stehen zudem häufig in Kontrast zu einer eher durchschnittlichen Ver-
Jared Harris/Philip Bromiley Incentives to Cheat: The Influence of Executive Compensation and Firm Performance, Organization Science 13 (2007), 350 – 367.
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gütung der Mitarbeiter. Ein Klima, in dem die Fairness aus subjektiver Mitarbeitersicht in Frage gestellt ist, ist aber der Integrität tendenziell nicht zuträglich.
4. Transparenz und Anpassungsfähigkeit Integritätsdefizite liegen – neben den Gründen auf personaler Ebene – auf organisatorischer Ebene häufig in intransparenten Prozessen und mangelnden Kontrollen.⁴⁵ Softwaregestützte Prozesse schaffen hier Abhilfe. IT-Tools bei der Auftragsvergabe und Abrechnung inklusive Rechtemanagement und Abzeichnungsdatenbank sind schon lange Standard auch in reiferen Organisationen. Bei digitalen Unternehmen, die auf Transparenz ausgerichtet sind, gehen die Vorteile aber noch weiter. Transparenz ist ein Mittel indirekter sozialer Kontrolle. Zunächst ist die Wahrscheinlichkeit hoch, ertappt zu werden, desto weniger lohnend sind Regelverstöße. Das Wissensmanagement digitaler Organisationen lässt aber darüber hinaus einen weiteren Effekt erwarten. Je besser ich über das Unternehmen und den Wettbewerb informiert bin und in die Entscheidungsprozesse und -gründe involviert bin, desto geringer wird das Risiko von AgencyKonflikten. Die Anpassungsfähigkeit digitaler Organisationen ermöglicht schließlich eine schnelle Adaption an regulatorische Änderungen. Die Verbraucherschutz-Novelle, die im Juni 2014 in Kraft trat, war dafür in meinem Unternehmen ein gutes Beispiel. So mussten beispielsweise die Informationspflichten bei Abschluss von Maklerverträgen über ein Immobilienportal abgebildet werden. Ein crossfunktionales Projektteam bestehend aus Juristen, Produktmanangern, Entwicklern und Marketingmitarbeitern hat die komplexe Aufgabe binnen zwei bis drei Wochen erfolgreich abgeschlossen und den Anwendern kommuniziert. Wichtiger noch: Aktuelle Entwicklungen wie Abmahnversuche werden systematisch beobachtet, und Prozesse zur schnellen Reaktion darauf sind etabliert.
5. Förderung einer Verantwortungskultur Nach ihren Werten und Erwartungen befragt, nennen „Digital Natives“ ethische Verantwortung explizit als wichtigen intrinsischen Motivationsfaktor.⁴⁶ Douglas McGregor hat mit seiner Studie „The Human Side of Enterprise“ schon vor vier-
Thomas Faust Integritätsmanagement, zfo 2013, 280. Gurtner/Dievernich/Kels (Fn. 31) zfo 2013, 247.
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zig Jahren gezeigt, dass Mitarbeiter, die ihren Job mit einem hohen Grad an Selbstbestimmung und intrinsischer Motivation wahrnehmen, vertrauenswürdiger sind.⁴⁷ Er hat zwei Gruppen gegenübergestellt, die unterschiedlichen Weltbildern anhingen: Die eine sah Arbeit inhärent als lästig an und versuchte, Verantwortung zu vermeiden („Theory X“). Die andere strebte danach, die Arbeit kreativ und mit hoher Verantwortlichkeit zu verrichten („Theory Y“). Dadurch, dass der „Theory Y“-Gruppe ihre Arbeit sinnvoll erscheint, ist es leichter, individuelle Ziele der Mitarbeiter und überindividuelle Ziele der Organisation in Einklang zu bringen. Agency-Probleme tauchen seltener auf als in der „Theory X“Gruppe bzw. sind weniger kritisch. Die Kultur in digitalen Unternehmen, die auf „Empowerment“ beruht, ist das exakte Gegenmodell zur „organisierten Unverantwortlichkeit“, die häufig in größeren Unternehmen den Nährboden für Compliance-Verstöße schafft. Diese Hypothese wird durch Beobachtungen in der Praxis bestätigt. Als Geschäftsführer werde ich gelegentlich unmittelbar von Mitarbeitern außerhalb meiner Berichtslinien angesprochen und um eine Einschätzung gebeten, ob eine Praxis rechtlich zulässig ist. Nicht selten handelt es sich dabei um komplexe Fragestellungen des Datenschutzrechts. Den Mitarbeitern geht es in solchen Fällen nicht bloß um eine Absicherung durch die Geschäftsführung, sondern um eine Sachdiskussion über das Für und Wider. Das ist auch etwas fundamental anderes als Whistleblowing, wie es in großen Organisationen zur Sicherung von Compliance notwendig ist. Whistleblower können als vereinzelte Mitglieder einer Gegenkultur im Unternehmen gesehen werden,⁴⁸ während kritische Einwände in einem Unternehmen wie Immonet aus der Mehrheitskultur erwachsen. An einer solchen Unternehmenskultur wirkt sich auf die Integrität auch positiv aus, dass das Risiko von sogenanntem „Groupthink“ typischerweise weniger hoch ist. Damit bezeichnet die Verhaltens- und Organisationswissenschaft das Phänomen, dass aus Überschätzung der Gruppe und gleichzeitigem Erfolgsdruck ein Dissens nicht akzeptiert wird. Es wird mitunter auch als „dunkle Seite von Teamwork“ bezeichnet. Als Paradebeispiele gelten die Challenger- und ColumbiaKatastrophen, bei der NASA-Ingenieure die durchaus bekannten technischen Probleme jeweils selbstgerecht beiseite schoben. Die Risiken von „Groupthink“ können verringert werden durch divers zusammengesetzte Teams und Techniken wie Brainstorming-Elemente, die in digitalen Unternehmenskulturen überdurchschnittlich gut gepflegt werden.
Zustimmend Bowie Organizational Integrity (Fn. 40), S. 710. French/Rayner/Rees/Rumbles Organizational Behaviour (2008), S. 384.
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V. Fazit und Ausblick Welche Tendenzen werden sich mit fortschreitender Digitalisierung durchsetzen – die abträglichen oder förderlichen? Werden sie sich die Waage halten? Wird die Entwicklung eine andere, unvorhergesehene Richtung nehmen? Schon der Versuch einer Antwort wäre unseriös. Trotz atemberaubender technologischer Neuerungen dürfen wir nicht vergessen, dass wir noch am Anfang der Digitalisierung stehen. Das Internet wurde erst Anfang der 90er Jahre vom Militär für die zivile und kommerzielle Nutzung freigegeben. Ein Massenphänomen ist das Internet seit Ende der 90er Jahre. Mitte der 2000er Jahre glaubten wir, die Effekte des Internets im Wesentlichen zu kennen, dann wurde das Web interaktiv und mobil. Hatten digitale Geschäftsmodelle zunächst den Endverbraucher im Fokus (B2C), so ist in den letzten Jahren ein Shift hin zu Geschäftskunden-Anwendungen (B2B) zu beobachten. Festzuhalten bleibt gleichwohl, dass die Digitalökonomie in vielerlei Hinsicht ein Gegenmodell zur Kultur etablierter Organisationen darstellt. Allerdings ist eine erhebliche Konvergenz zu beobachten. Hierarchien werden flacher, Entscheidungsprozesse schneller und ergebnisorientierter, die Mitarbeiter-Partizipation wird gestärkt und Teams crossfunktional zusammengesetzt. Diese Entwicklung ist in ihren Konsequenzen für die Strafgesetzgebung und Selbstregulierung der Wirtschaft teils noch gar nicht hinreichend erkannt. Die Debatte um ein Unternehmensstrafrecht⁴⁹, die jüngst durch eine Gesetzesinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen befeuert wurde, beruht auf der Annahme, eine individuelle Verantwortlichkeit sei in großen hierarchischen Organisationen mit unscharfen Entscheidungsstrukturen kaum festzustellen, daher müsse das Unternehmen – über Ordnungswidrigkeitentatbestände hinaus – selbst Adressat von Strafnormen sein. Gerade in einer digitalen Unternehmenskultur ist aber die sprichwörtliche „organisierte Unverantwortlichkeit“ höchst selten, zumal das individuelle Verhalten jedes Mitarbeiters in softwaregestützten Prozessen transparent und nachvollziehbar ist. Für die Integrität des Unternehmens- und Mitarbeiterhandelns sind die Entwicklungen der Digitalisierung allerdings durchaus auch ambivalent. Sie gibt Managern viele Werkzeuge an die Hand, diese Veränderungen positiv zu gestalten. Sie birgt aber auch inhärente Integritätsrisiken. Letztlich wird es daher auch in der Digitalökonomie wieder auf personale Vorbilder und individuelle Verantwortung ankommen. Man erkennt daran: Das radikal Neue ist manchmal das ganz Alte.
Siehe dazu den Beitrag des NRW-Justizministers Kutschaty, ZRP 2013, 74 ff., sowie Leipold ZRP 2013, 34 ff.; Trüg, wistra 2010, 241 ff.; Löffelmann, JR 2014, 185 ff., Wagner/Witte, BB 2014, 643 ff.
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VI. Literatur Karl Berkel/Rainer Herzog Unternehmenskultur und Ethik, Heidelberg 1997. Winfried Berner Culture Change – Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil, Stuttgart 2012. Norman E. Bowie Organizational Integrity and Moral Climate, in: The Oxford Handbook of Business Ethics, Oxford 2009, S. 701 ff. David Bright/Bill Parkin Human Resource Management: Concepts and Practices, Sunderland 1997. Terrence Deal/Allan Kennedy Corporate Cultures: The Rites and Rituals of Corporate Life, New York 1982. Daniel R. Denison/Aneil K. Mishra Toward a Theory of Organizational Culture and Effectiveness, Organization Science 1995, 204 – 223. Martin J. Eppler/Friederike Hoffmann Design Thinking im Management, OrganisationsEntwicklung 2012, 4 – 7. Thomas Faust Integritätsmanagement, zfo 2013, 279 – 286. Ray French/Charlotte Rayner/Gary Rees/Sally Rumbles Organizational Culture, in: Organizational Behaviour, New York 2008, S. 377 – 416. Elisabeth Göbel Unternehmensethik, 3. Auflage, Konstanz 2012. Andrea Gurtner/Frank E. P. Dievernich/Peter Kels Erwartungen der Digital Natives – Was Unternehmen für technikaffine Nachwuchskräfte attraktiv macht, zfo 2013, 245 – 250. Niall Hayes Information Technology and the Possibilities for Knowledge Sharing, in: Handbook of Organizational Learning and Knowledge Management, S. 83 ff. Geert Hofstede/Geert Jan Hofstede Cultures and Organizations – Software of the Mind, New York 2005. Wolfgang Jäger/Thorsten Petry (Hrsg.), Enterprise 2.0 – die digitale Revolution der Unternehmenskultur, Alphen aan den Rijn 2012. Gerry Johnson Strategic Change and the Management Process, Oxford 1987. Florian Kunze Werte der Digital Natives – Führungs- und Anreizsysteme angemessen ausgestalten, zfo 2013, 232 – 236. Friedemann W. Nerdinger/Peter Wilke Beteiligungsorientierte Unternehmenskultur: Erfolgsfaktoren, Praxisbeispiele und Handlungskonzepte. Wiesbaden 2009. Jacques Rojot Culture and Decision Making, in: Oxford Handbook of Organizational Decision Making, Oxford 2012, S. 134 – 154. Edgar H. Schein Organizational Culture and Leadership, San Francisco 2010.
Klaus Lüderssen
Der Beitrag der Unternehmenskultur zur modernen Demokratieentwicklung Die Frage stellt sich angesichts dessen, dass im Wirtschaftsleben Phänomene zu registrieren sind, die sich nicht mehr auf den Binnenraum der unterschiedlichen Handlungsfreiheit beschränken. Vielmehr erscheint entweder schon als notwendiges Element der Handlung das Gemeinwohl, oder es wird als Forderung an die Handlung herangetragen. Das ist zunächst eine Frage der Definition, für die es keine zwingenden Vorgaben gibt. Vielmehr ist sie bereits das Ergebnis einer abwägenden Wertung, die letzten Endes vor dem Forum der Verfassung – das ist zunächst einmal der nationale Ausgangspunkt – gerechtfertigt werden kann. Ob und gegebenenfalls in welchem Maße das der Fall ist, weiß niemand genau, die Meinungen stehen gegeneinander, hängen ab von weitläufigen systemischen Annahmen über die Aufgaben der Wirtschaft, von dem Stellenwert individueller Freiheit in diesem Rahmen, auch gibt es psychologische Zwangsläufigkeiten.¹ Will man sich hier orientieren, ohne den Anspruch zu erheben, mit wissenschaftlich zwingenden Argumenten arbeiten zu können, so scheidet das, was man einmal „Manchester Kapitalismus“ genannt hat, ebenso aus wie – intellektuell überlebt und politisch gescheitert – staatlicher Sozialismus. Aber in dem Feld dazwischen sind noch viele Optionen möglich – vom gemäßigten Keynesianismus bis hin zu orthodoxen Formen des Ordoliberalismus. Verengt man den Spielraum möglicher Optionen noch einmal, so gibt es einen ernsthaften Streit eigentlich nur noch darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen der Wettbewerb die größtmögliche Effizienz ermöglicht, oder ob Wettbewerb als Element der Freiheit des Wirtschaftens größtmöglicher ökonomischer Effizienz vorzuziehen ist. Hier hat sich als eine Position von gewisser Tragweite herauskristallisiert, dass optimale Wettbewerbsintensität und auch Investitionsrationalität gegeben sind, wenn Regelungen für Selbstregulierung gefunden werden, welche die größtmögliche persönliche Handlungsfreiheit mit dem größtmöglichen Gemeinwohleffekt verbinden. Wirtschaftspolitisch kann man hier schon eine Art communis opinio sehen, so dass letzte Überzeugungsgründe nicht unbedingt gesucht werden müssen. Je-
Z.B. das Denken in ganzheitlichen Vorwegnahmen – bequem und plausibel. Dazu genauer Klaus Lüderssen Der archimedische Punkt der implikativen Unternehmensethik, in: derS., Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts, Band III, Baden-Baden 2014, S. 439 ff. (452 f.).
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denfalls nicht sozusagen „von oben“, in größeren Ableitungszusammenhängen, wohl aber vielleicht, um in diesem Bilde zu bleiben, „von unten“, durch die Beschreibung der Vorgänge, die jene optimalen Effekte der Selbstregulierung hervorbringen und damit eine normative Kraft des Faktischem demonstrieren. „Gesellschaftliche Konstitutionierungen“ werden sichtbar, deren Wirksamkeit die staatlich-derivativ verordneten Gemeinwohlförderungen so sehr übertreffen, dass sie bei ohnehin brüchiger Legitimationskette des staatlichen Gemeinwohlbetriebes vorzugswürdig sind. Es lohnt also nach Argumenten zu suchen, die aus dieser Plausibilität des Effektes mehr machen als nur demonstrativ faktische Überlegenheit. Freilich ist es gerade diese Überlegenheit, die gleichsam ein Wertewandel nach sich zieht. Wenn man bei Clemens Trautmann liest, wie im digitalisierten Unternehmensbetrieb Einzelinitiativen Raum gewinnen, sich auf gleicher Ebene miteinander verbinden und austauschen, und das dazu führt, dass das Unternehmen „besser läuft“, so ist das eine Neubewertung, an deren Zustandekommen faktische Elemente – hier der intensive innerbetriebliche Diskurs – beteiligt sind. Das ist kein unzulässiger naturalistischer Fehlschluss,² sondern beschreibt einen Transformationsprozess, dessen Mikroskopie notorisch schlecht erforscht bleibt, weil das Verdikt, dass aus Tatsachen keine Werte hervorgehen, als unübersteigbare Barriere gilt und alle Phantasie lähmt. Darüber kann man schließlich hinwegkommen.Viel ernster zu nehmen ist das Problem, dass durch diese Tatsachen ja keine empirische Grundlage gegeben ist, weil sie aspektabhängig konstruiert werden. Doch darüber später. Zunächst ist erst einmal die begonnene Linie fortzusetzen. Sie führt zum Phänomen der Wirksamkeit. So falsch es ist,Wirksamkeit mit Geltung gleichzusetzen, so falsch ist es auch, aus der Wirksamkeit gar nichts für die Geltung herleiten zu wollen.Wahrscheinlich hat hier das Handicap gelegen für Kelsens Auffassung, dass aus dem Sein kein Sollen folgen könne. Er konnte sich deshalb nicht anders helfen als mit einer Gleichsetzung von Wirksamkeit und Geltung.³ Dass man das jetzt differenzierter sehen kann, ist vor allem das Verdienst von Mathias Jestaedt. Er hebt hervor, dass Kelsen für das „positive Recht“ das relative Apriori der Grundnorm voraussetzt,⁴ und Wesentliches bewusst offen lässt, so wenn er die Gesetzgebung als „das große
Dazu Klaus Lüderssen Rechtsfreie Räume?, 2012, S. 81 ff. Freilich nicht durchgehend. Mit Recht hebt Matthias Jestaedt Geltung des Systems und Geltung im System, JZ 2013, 1019 (linke Spalte) hervor:Während Kelsen „für die Geltung der Rechtsordnung als ganzer, also für die Annahme der Grundnormen, die Bedingung formuliert, dass die Rechtsordnung im Großen und Ganzen wirksam sein müsse, fordert er entsprechendes nicht für die Geltung der einzelnen Rechtsnormen“ (S. auch S. 1020, linke Spalte). Vorrede zum Problem der Souveränität, zitiert nach Jestaedt JZ 2013, 1010.
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Mysterium von Recht und Staat“ bezeichnet.⁵ Weitere Einschränkungen der Kelsen’schen Konzeption beziehen sich darauf, dass er mit der Grundnorm nur den Geltungsgrund meint, nicht den Geltungsinhalt.⁶ Nach Jestaedt war sein Hauptanliegen, die Fehlschlüsse vom Sein zum Sollen und die Verbindung von Recht und Moral zu verhindern. So spielen Tatsachen nur eine Rolle als „Bedingung der Geltung“. Sie sind nicht die Geltung selbst, „die ein Soll ist“.⁷ Die einzige wirklich klare Aussage ist: „Nur eine Norm kann der Geltungsgrund einer anderen Norm sein“.⁸ Jestaedt zieht daraus den Schluss: „Indem die Grundnorm jeden anderen Rückgriff zur Begründung von Geltung ausschließt, verweist sie das positive Recht – faute de mieux – gewissermaßen auf sich selbst und behauptet insofern nichts weniger als die ‚Selbstsetzung des Rechts‘, d.i. die ‚dem Recht immanente Selbstkonstruktion von […] Geltung‘“. Folgerichtig stellt Jestaedt fest, die ‚Grundnorm‘ sei „nichts anderes als der Platzhalter für nicht belegbare positivrechtliche Geltung der ‚historischen ersten Verfassung‘“.⁹ Später sagt er sogar, dass „mit der Grundnorm (…) das Rätsel des positiv-rechtlichen Anfangs, des positiv-rechtlichen Urknalls ‚gelöst‘“ werde.¹⁰ Demgemäß ist die Grundnorm „nur eine gedachte Norm“.¹¹ „Sie kann folgeweise auch nur eine virtuelle, eine Als-ObGeltung vermitteln“.¹² Daraus wird dann ein Argument ad absurdum abgeleitet. Entweder vermittelt die Grundnorm „über die Erstnorm allen Normen einer Rechtsordnung ….“ Geltung oder aber keiner. Eine individuelle differenzierende Geltungsvermittlung kann die Grundnorm nicht leisten“.¹³ Es bleibt also dabei, dass die Grundnorm „nichts weniger als die radikale Selbstreferenz des positiven Rechts“ verkörpert.¹⁴ Die Grundnorm solle „folglich als das begriffen werden, was sie ist: Ein Sprach-Bild mit einem gedachten (…) ultimativen Normgrund, aber nicht als normative Realität“.¹⁵ Aber was ist damit gewonnen? Nichts als die Bestätigung der Einsicht, dass man die substantiellen Ursprünge des Rechts in den Kreationen des Lebens suchen muss, in denen sich Wertendes und Faktisches auf
In Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, zitiert nach Jestaedt aaO., 1012, linke Spalte. Jestaedt aaO., 1012, rechte Spalte. Jestaedt aaO., 1014, linke Spalte. Zitiert nach Jestaedt aaO., 1014, linke Spalte. AaO., S. 1016; S. aber auch die weiteren Ausführungen auf S. 1017. AaO., S. 1010, rechte Spalte. Kelsen Reine Rechtslehre, zitiert nach Jestaedt aaO., S. 1018, rechte Spalte. AaO. AaO. interessanter Hinweis auf die gleichen Aporien, die in Thomas von Acquins Summa Theologiae vorkommen. „Prima norma non normata“, prima causa, non causata“, „prima norma normans non normata“. AaO., S. 1020, rechte Spalte. AaO.
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letztlich undurchdringliche Weise unter der gemeinsamen Voraussetzung der Aspektabhängigkeit im Normativen zusammenfinden. Demgegenüber sinkt die Bedeutung der Denkbehelfe – auf den auch Jestaedt die Funktion der Grundnorm reduziert: „Im wahrsten Sinne des Wortes ein Lückenbüßer im System des normativistischen Rechtspositivismus, also ein improvisiertes Füllsel zur Überdeckung einer andernfalls sichtbaren Leerstelle“¹⁶ – ins Nichts. Die diskursiven Elemente, auf die es dann substantiell ankommt, beruhen auf der wechselseitigen Anerkennung der Diskursteilnehmer. Diese Anerkennungsrelevanzen sind es, die man sich genauer ansehen muss. Anerkennung ist zunächst als psychisch-sozialer Vorgang beschreibbar. Dass dieser Vorgang in den Status neuer Wertstrukturen einrückt – das Anzuerkennende an der Anerkennung – ist Ausdruck einer, könnte man vorschnell sagen, neuen politischen Reife. Aber damit würde man sich zu schnell für die direkte Bewertung entscheiden. Dass Anerkennung j e t z t in der Ökonomie Bedeutung erlangt, beruht zunächst darauf, dass wechselseitige Anerkennung ernstgenommen wird. Warum das geschieht, ist das Geheimnis, das wir nicht lüften können. Wir müssen nur registrieren, dass das Potential wechselseitiger Reaktionen sich ändert. Weit dahinter gewissermaßen steht natürlich dann doch ein politischer Wandel, den man mit großen Worten beschreiben kann. Alles was im Umkreis von Hegel und seinen späteren Interpreten über Anerkennung und ihre gesellschaftliche Bedeutung gesagt worden ist, wird hier wichtig und damit vielleicht zum ersten Mal in großer Breite diese neue Relevanz etabliert. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass auch die jeweils neue Wertimplikation einer menschlichen Handlung oder Unterlassung aspektabhängig ist. Man sieht eine Handlung in einem andern Licht, wobei man natürlich über die Quelle dieses neuen Lichts nachdenken muss. Das, was jetzt als Werthaftes entdeckt wird, kommt gleichsam auf einer Woge neuer Tatsachen dem Betrachter entgegen. An Trautmanns Beispielen kann man das gut studieren. Frühere Generationen hätten eine solche lebhafte paritätische Kommunikation unter Angestellten vielleicht achselzuckend belächelt, möglicherweise sogar abgelehnt oder bekämpft. Die gegenwärtige Generation aber entdeckt etwas, was für sich genommen vielleicht nichts bedeutet hätte. Diese wechselseitige Interdependenz wertender und beschreibender Elemente innerhalb institutioneller Tatsachen, wozu wir – Searle folgend – Teile der Anerkennung ohne weiteres rechnen können, ist die treibende Kraft neuer Geltungsansprüche, die eben nicht allein nur auf gestiegene Wirksamkeit sich stützen. Allerdings sind es Geltungsansprüche, die in der Struktur von dem, was wir unter Geltung zu begreifen gewohnt sind, abweichen. Sie sind qualitativ und
AaO., S. 1001, linke Spalte.
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quantitativ abgestuft, regional und gegenständlich begrenzt. Man muss sich wirklich in einem großen Schritt von den etatistischen Gewohnheiten lösen und zur Kenntnis nehmen, dass statt oder neben zentraler Dezision die nebeneinander bestehenden Gruppen oder Institutionen mit durchaus nicht immer gleichwertigen Autonomieansprüchen unmittelbar am Geltungsgeschehen teilhaben. Teubner hat das vor allem in seinem Buch über die Verfassungsfragmente auf vielen Seiten so anschaulich gemacht, dass hier darauf zunächst erst einmal kurzerhand verwiesen werden darf. Zu beginnen ist mit einem Text, den er zusammen mit Andreas Fischer-Lescano verfasst hat: „Bestimmte soziale Koordinatsmechanismen nicht hierarchischer Natur – wechselseitige Beobachtung, antizipatorische Anpassung, Kooperation, Vertrauen, Selbstverpflichtung, Verlässlichkeit,Verhandlungen, dauerhafter Beziehungszusammenhang – bilden die übergreifende Ordnung der Regimevernetzung“. Die entscheidende allgemeine Frage formuliert Teubner so: „Lässt sich in transnationalen Teilbereichen ein Äquivalent zu den Nationalverfassungen in Bezug auf deren Funktionen, Arenen, Prozeßstrukturen identifizieren“. Die äußerste Zuspitzung erfährt das Problem durch die Formulierung der Vermittlungsposition, die Teubner vorschlägt zwischen verfassungsfreier Wirtschaftsphilosophie und verfassungsfreier Vereinnahmung des Wirtschaftlichen durch das Politische. Dann wagt er die Formulierung eines vorläufigen Ergebnisses, das man als Prinzip der Regulierung der Selbstregulierung auffassen könnte: „Prototyp ist die Unternehmensverfassung, die mittels staatlicher Gesetzgebung Mitbestimmungsrechte gesellschaftlicher Gruppen einführte, dann aber die Resultate der Autonomie der gesellschaftlichen Akteure überlässt“.¹⁷ Wie dieser Balanceakt strategisch zu handhaben sein könnte, kommt gut in der Fragestellung zum Ausdruck: „Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme in einem solch massiven Ausmaß erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen über Handlungsoptionen wirksam werden?“¹⁸ Natürlich fehlt die Bezugnahme auf Luhmann nicht. Dessen glatte Formel lautet: Jedes Funktionssystem bestimme die eigene Legitimität selbst „durch eine elaborierte Semantik der Selbstsinngebung, der Reflexion der Autonomie“. Bei Teubner lautet die Formel „gesellschaftlicher Konstitutionalismus“.¹⁹ Die Folgerungen sind: „Das verlangt geradezu nach massiven externen Interventionen aus Politik und Recht der Gesellschaft. Aber eben nur nach solchen, die auf Übersetzung in Selbstveränderung angelegt sind, deren Übersetzung in interne Wandlungsprozesse auch tatsächlich gelingt“.²⁰
AaO., S. 46. Teubner Verfassungsfragmente, S. 133. AaO., S. 133. AaO., S. 133.
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Es kann nicht geleugnet werden, dass solche Visionen, auch wenn sie den soliden soziologischen Positivismus aus der Schule Eugen Ehrlichs geschichtlich für sich verbuchen können,²¹ gefährlichen Missdeutungen ausgesetzt sind. Gesellschaft und Staat des Nationalsozialismus waren auf eine ähnliche Weise – um gleich den terminus malus zu nennen – „gleichgeschaltet“. Hitler brauchte den Staat eigentlich nicht, die Gesellschaft hatte schon selbst das Erwartete getan. Demokratische Formen hätten hier möglicherweise Barrieren aufgerichtet. Wie kann der Wunsch – so Teubner – „Tendenzen der Selbstzerstörung entgegenzuwirken und der Umweltschädigung“, vor der Gefahr bewahrt werden, dass die gleiche soziologische Annäherung so etwas verlangt wie das völkische Denken, dem die staatlichen Normen zu weichen haben. Da gesellschaftliche Konstitutionierung nicht per se Moralisches hervorbringt, bleibt nur der Vergleich der Verfahren. Aber sie kann man sich nicht isoliert vorstellen. Die Option für sie beruht auf der Hoffnung, dass auf diesem Wege mehr Demokratie gewagt werden kann, durch ständige Korrektur im Rahmen der Verständigungsprozesse, deren Außenbeurteilung als „vernünftig“ nicht mehr für sich beanspruchen kann als die Plausibilität des Abbruchs eines infiniten Regresses. Das Material, das Teubner hier zusammenträgt, konkurriert nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit dem „organisiert-professionellen Bereich der Wirtschaft und anderer Funktionssysteme“.²² Beim Weiterlesen wartet man allmählich auf die Kriterien, aber die Formulierungen bleiben allgemein, auch wenn sie in dieser Form durch Variantenreichtum immer wieder neu überzeugen, z. B. „Das Recht kommt in den Selbstkonstitutionsprozessen von Sozialsystemen dann hinein, wenn sich die Autonomisierung nicht mit den Eigenmitteln des Sozialsystems vollziehen lässt (…). Autonomie wird dann nicht erreicht, wenn sich das Sozialsystem durch seine Eigenoperationen erster und zweiter Ordnung nicht hinreichend schließen lässt, wenn sich die reflexiven Sozialprozesse selbst nicht stabilisieren lassen, besonders dann, wenn sie durch Paradoxien paralysiert werden. Dann müssen Zusatzeinrichtungen der Schließung die Selbstkonstituierung sozialer Autonomien unterstützen“.²³ Constitutionalism from below heißt es – aber statt einer Konkretisierung folgen dann doch immer wieder abstrakte Hinweise auf die Autonomie des Teilsystems. Die Vermutung ist nicht ganz unbegründet, dass dahinter eine Ganzheitspsychologie steht, wie sie Jaspers seinerzeit vorgeführt hat²⁴. Eine Mischung
Dazu Röhl/Machura aaO. AaO., S. 143. AaO., S. 165. S. dazu Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts, Band III, aaO., S. 452 ff.
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aus Suggestivität und Großartigkeits-Phantasie. Dabei hat selbst Luhmann dem entgegengesteuert, wenn er sagt, „dass auf der Ebene der sich konsolidierenden Weltgesellschaft nicht mehr Normen (in Gestalt von Werten, Vorschriften, Zwecken) die Vorauswahl des zu Erkennenden steuern, sondern dass umgekehrt das Problem lernender Anpassung den strukturellen Primat gewinnt, und die strukturellen Bedingungen der Lernfähigkeit aller Teilsysteme abgestützt werden müssen“.²⁵ Die breitere Bewegung, in die diese Entwicklungen einzuordnen sind, ist die des Rechtspluralismus.²⁶ Denn es gibt ja längst die Theorie der secondary rules von H. L. Hart. ²⁷ Diese Interpretation der Rechtswelt beruht darauf, „dass die Menschen auch ohne staatlichen Befehl kooperieren und dass sich an vielen Stellen der Gesellschaft ohne die Nachhilfe übergeordneter Instanzen eigenständige Ordnungen herausbilden“.²⁸ Vorgebracht wird das gegen die „Tradition von Thomas Hobbes, dass eine Gesellschaft ohne Souverän in Unordnung und Krieg versinken würde“.²⁹ In allen diesen Zusammenhängen fällt das Wort Anerkennung sehr oft, aber es wird nicht gesagt, was es bedeutet. Ein komplexer Begriff, der ganz offensichtlich Wahrnehmungen und Wertungen zugleich bezeichnet, entweder in einer Art Nebeneinander gleichberechtigter Spezialdefinitionen von Anerkennung, oder aber – wahrscheinlicher – als undurchdringliche Einheit von beidem (Wahrnehmung und Wertung). Es gibt Versuche, die Komplexität des Begriffs aufzulösen unter dem Aspekt der Intensität von Anerkennungen. Da ist einmal die Formel Bierlings ³⁰ und dann eine spätere, etwas modernere³¹. Die Formeln gelten, ohne dass das ausdrücklich gesagt wird, sowohl für die Anerkennung von Normen, wie
Nachweis bei Teubner Verfassungsfragmente, S. 147. Gute systematische Darstellung bei Ralf Seinecke Das Recht des Rechtspluralismus, DisS. Frankfurt am Main, 2013. Vgl. die Darstellung bei Seinecke aaO., S. 131 ff. Röhl aaO., S. 1126. Röhl/Machura aaO. Denn unter dem Begriff der Anerkennung fallen „mannigfaltige Grade und weisen eines den Gemeinschaftsbedürfnissen entsprechenden innerlich gebundenen Verhaltens – von begeisterter Betätigung der Gemeinschaftsordnung und vollem, klaren Pflichtbewusstsein bis zum unbewussten oder doch nur gefühlsmäßigen Voraussetzen und zum widerwilligen Sich-beugen; Ernst Rudolf Bierling Juristische Prinzipienlehre, Band 5, 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1917, Aalen 1975, S. 193 – 194. Lüderssen Genesis und Geltung, 1996, S. 216: „Von widerstrebender,vielleicht sogar nicht ohne Druck zustande gekommener Anpassung über schlicht oberflächlich-indolente Akzeptanz, bewusster und kenntnisreicher Anerkennung bis hin zu auch Tiefenstrukturen erfassender habitueller oder reflektierter Internalisierungen“.
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Lebensverhältnissen, wie auch einzelne Menschen. Mit Blick auf Rechtsnormen und auch rechtliche Urteile sind schon Spezifizierungen versucht worden.³² Die Frage ist, ob die Vorgänge in Unternehmen, wie sie Trautmann beschreibt, Anknüpfungen bieten für weitere fruchtbare Differenzierungen des Begriffs der Anerkennung, und es damit auch möglich machen, die mit der Relevanz von Anerkennungsverhältnissen verbundene Rechtsgeltung weiter zu konkretisieren. Die durch die Digitalisierungswelt in einem neueren, intensiveren und erweiterten Kommunikationsnetz sich bewegende Geschäftstätigkeit wird als eine Folgerung begriffen, die sich ohne weiteres aus einer technischen Entwicklung ergibt. Das allgemeine Zivilrecht, insbesondere das Gesellschaftsrecht bietet den Rahmen; nach Legitimationen braucht gar nicht weiter gefragt zu werden. Könnte nicht diese praktische Vernunft sich auch auf anderen Gebieten durchsetzen, auf Gebieten, die mindestens so viel gegensätzliche Positionen auf einen Nenner bringen müssen wie die Geschäftswelt? Gemeint sind die Strafjustiz und die dort üblich gewordenen Absprachen oder Verständigungen. Der Schein spricht gegen diese Analogie. Von Beginn an waren die Absprachen umstritten, galten als mit dem geltenden Strafprozessrecht nicht für vereinbar. Es ist klar, wo das Zentrum dieser Verweigerung liegt: Die obrigkeitliche Prädominanz des staatlichen Strafbetriebes errichtet hier die Barrieren. Wie man weiß, haben viele Proteste nichts geändert, so dass man endlich genötigt war, ein sogenanntes Verständigungsgesetz zu schaffen, dass den erlaubten Rahmen abstecken sollte. Fortan ging es in den durch die nun folgenden Verständigungen in den Hauptverhandlungen oder auch Ermittlungsverfahren veranlassten Judikaten vorwiegend darum, dass diese Grenzen nicht eingehalten werden von den Beteiligten. Die berechtigten Klagen, dass es vielleicht zu weniger Absprachen kommen könnte, wenn der Gesetzgeber sich entschließen würde, mit den Strafbarkeitspostulaten nicht immer tiefer in die schwieriger werdenden, notwendig risikoreicheren geschäftlichen Vorgänge eingreifen zu wollen, ändern nichts daran, dass die Praxis der Absprachen sich unaufhaltsam weiter entwickelt. Schon ist von Novellierung des Verständigungsgesetzes die Rede, um die neuen, zum Teil als Umgehung diagnostizierten Verständigungsmanöver einzufangen, bzw. neue Freiräume zu schaffen, und es wird schon der unendliche Regress sichtbar, der darin besteht, dass der informelle Charakter der Absprachen die Beteiligten genuin motiviert, immer wieder an den vorhandenen Regeln vorbei zu agieren. Das wird so lange gehen, bis ein Stadium erreicht ist, in dem das Verhältnis von Regulierung und Selbstregulierung ausgewogen ist. Das Wort Selbstregulie-
Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts, Band III, 2014, S. 400 ff. (unter dem Stichwort „Das Gemeinwohl als prozedurales Problem“).
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rung scheint nicht in die Landschaft der Strafjustiz zu passen. In einer früheren Arbeit habe ich versucht, klarzumachen, dass die Säkularisierung auch der Strafjustiz längst einen Weg beschritten hat, welche der Autonomie der Beteiligten Raum gibt. Gewiss kann man sich „Sachzwängen“, muss es sogar, mit moralischen Regeln entgegenstellen. Nicht alles,was gemacht werden kann, darf auch gemacht werden. Das ist eine Binsenweisheit. Aber in dem Maße, wie die obrigkeitliche Orientierung der Strafrechtspflege durch eine Orientierung am Gemeinwohl ersetzt und die Erfahrung ernst genommen wird, dass es bei der „Feststellung“ von Tatsachen und deren Bewertung zunehmend Gewissheitsverluste gibt, wird mit Blick auf die Fraglichkeit der herangezogenen Prinzipien, aus denen etwas abgeleitet werden könnte, und die Aspektabhängigkeit der Beweisaufnahme und -würdigung, die Verständigung zum zentralen Begriff auch des Strafprozessrechts werden.³³ Die Ratlosigkeit, mit der die neuesten Missachtungen des Verständigungsgesetzes registriert werden,³⁴ ist ein unübersehbares Indiz für den Trend, den die empirischen Erhebungen offenbaren.³⁵ Von Demokratisierung in der Strafjustiz zu reden, wird bald immer weniger ein Tabu sein. Ob sich das Strafrecht als Spezialmaterie angesichts dieser Entwicklungen auf Dauer wird halten lassen, hängt davon ab, wie man diese Spezialität definiert. So lange das von den Folgen her, also zentral von der Freiheitsstrafe her geschieht, bleibt der Unterschied bestehen.³⁶ Das muss jetzt hier aber nicht im Einzelnen verfolgt werden.Vielmehr geht es nur darum, ob die Materie des Strafprozesses, in der sich der Verständigungsgedanke gerade deshalb so signifikant entwickelt, weil die Widerstände so groß sind, in den Versuch, „Anerkennung“ allgemein im Rechtsleben zu konkretisieren, einbezogen werden darf.Wenn es gelingen könnte, dass man, von den neuesten Entwicklungen der Betriebsführung im Geschäftsleben ausgehend, gerade auf einem so eminent öffentlich-rechtlichen Gebiet wie dem des Strafprozesses, Anschauungen über Einzelheiten von Verständigungen zu gewinnen, dann ist das für den Versuch, die Gemeinwohlaffinität einer Unternehmenskultur in demokratischen Prozessen zu verifizieren, von größter Bedeutung – in demokratischen Prozessen, deren Charakter, um es hier noch einmal
Vgl. dazu Lüderssen Rechtsfreie Räume?, aaO., S. 526 ff., 556 ff. Rainer Hamm Wie kann das Strafverfahren jenseits der Verständigung künftig praxisgerechter gestaltet werden – sind Reformen des Strafprozesses erforderlich? Strafverteidiger 2013, S. 652 ff.; Christopher Ehrhard Sind aus Sicht der Praxis nach dem Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts Reformen des Strafprozesses erforderlich? Strafverteidiger 2013, S. 655 ff. Hamm aaO., S. 554. Hierzu Lüderssen Präventionsorientierte Zurechnung – aktuelle Programme für die Strafverteidigung? Strafverteidiger 2011, 377 ff.; ders. Einführung zum StV-Ringpublikationsprojekt im Jahr 2014, Strafverteidiger 2014, S. 247 ff.
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deutlich zu sagen, darin besteht, sich unabhängig von den uns so geläufigen und internalisierten Mängeln der repräsentativen Demokratie zu entfalten. Der Prozess der gesellschaftlichen Konstitutionierung, der in optimalen Anerkennungsverhältnissen kulminieren sollte, kann seine demokratische Legitimation nur durch Verständigung über Verständigung gewinnen. Dieses durch den Gesetzespositivismus nicht abgedeckte Argument ist gleichwohl nicht metaphysisch, sondern Ausdruck eines soziologischen Positivismus, so wie ihn Eugen Ehrlich seinerzeit initiiert hat.³⁷ Das „Sachargument“, das gleichwohl in dem, wie man auch sagen könnte, meta-verständigungsorientierten Diskurs vorgetragen werden muss, ist von der Demokratieforderung so lange frei, wie es sich nicht gegen den Willen der Beteiligten durchsetzen soll. Am Gründungsparadox führt gleichwohl kein Weg vorbei, wie au fond schon die Abraham Lincoln-Formel zeigt: „… that Government over the people, by the people, for the people, shall not perish for years“.³⁸ Die unvermeidlichen Versuche, Selbstregulierung, wo und wann auch immer zu regulieren, müssen sich mit dieser Formel arrangieren. Dabei darf auf die bisherigen Bemühungen Bezug genommen werden, herauszufinden, wo die genuine Gemeinwohlbezogenheit der wirtschaftlichen Autonomie zusammentrifft mit – unbefangenen – extern an die Autonomie herangetragenen Gemeinwohlaspekten. Teubner hat dafür schon einige griffige Formulierungen gefunden, man muss nur noch dort, wo Teubner generös auf die Eigenständigkeit des jeweiligen Subsystems verweist, die Funktion gelingender Anerkennung einsetzen. Dazu ist erforderlich, dass man sich nun doch etwas genauer jenen Formeln zuwendet, von denen oben schon die Rede war. Die ersten Versuche, hier zu präziseren Eingrenzungen relevanter Konsense zu kommen,³⁹ sind nunmehr fortzusetzen. Bei den – im Rahmen des soziologischen Positivismus – heranzuziehenden Quellen des Soziallebens, hier des Geschäftslebens, ist natürlich stets die Aspektabhängigkeit des Gemisches von Kognition und Normativität zu beachten, und insofern auf die Funktion zu setzen, die auch hier die Argumente für den Abbruch eines Diskurses übernehmen. Die bisher erreichte Annäherung an „oberflächlich-indolente Akzeptanz oder bewusste und kenntnisreiche Anerkennung“ könnte durch Trautmanns Beobachtungen in seinem Unternehmen präzisiert werden. Dass er sich dabei auf
Röhl/Machura aaO. Beleg bei Klaus Jünemann Government of, by, for the people – Zur Archäologie eines klassischen Zitats, JZ 2013, 1128 ff. (1129 linke Spalte); s. auch schon die etwas saloppe Formel in „Yes Minister“, „It’s the people’s will. I am their leader. I have to follow them“, Lüderssen Ein Lehrstück des Subversiven, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.1. 2013. S. schon Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts III, 2014, S. 298 f.
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einschlägige Literatur beruft, macht die Sache leichter. Eine Art Vorfrage ist bezogen auf das Verhältnis von Wissensmanagement und Entscheidungsfindung. Parallel dazu läuft die Frage, was kann man tun, um Einfluss darauf zu haben, dass bei ungleicher Verteilung von Macht etwas akzeptiert wird.⁴⁰ Dabei spielt eine Rolle, mit welchen Mitteln jemand ausgestattet sein muss, „einen Dissens mit (….) Vorgesetzten“ zu „artikulieren“. Ein weiterer wichtiger Indikator für Anerkennungsmöglichkeiten und -bedürfnisse liegt in der Mitteilung der „vermittelnden Funktion zwischen den tiefer liegenden Grundannahmen (…) und dem nach außen sichtbaren Symbolsystem“.⁴¹ „Unsicherheit, Ängstlichkeit“ führt zu dem, was die Fachliteratur „uncertainty avoidance“ nennt, „als wichtige Dimension einer Unternehmenskultur“.⁴² Weiter: Wo sind „Anpassungsfähigkeit“ und die „Bereitschaft zu permanentem Lernen“ einzuordnen?⁴³ „Diese Dimension wird (…) … wiederum im Zusammenhang mit der Innovationsfähigkeit“ gesehen.⁴⁴ Auch die erwartete Risikobereitschaft und erstrebte „Agilität“⁴⁵ beeinflusst das Anerkennungsverhalten. Wenn es darauf ankommt, dass „sich selbst organisierende, multidisziplinär zusammengesetzte Teams in einem festgelegten Zeitrahmen schrittweise der angestrebten Lösung“ nähern, (…) „und dabei Erkenntnisse aus vorangegangenen Iterationen sowie geänderte Anforderungen flexibel aufnehmen und einarbeiten können“,⁴⁶ so macht das anschaulich, wie interpretationsbedürftig und ergänzungsbedürftig unsere Ausgangsbegriffe von „oberflächlichindolenter Akzeptanz“ und „bewusst und kenntnisreicher Anerkennung“ sind. Eine Art Katalysator für die Prozesse der Anerkennung sind „die persönlichen Beziehungen zu Kollegen“. Wie man sieht, reichen die Kategorien indolent auf der einen Seite und kenntnisreich auf der anderen Seite gar nicht aus, um die verschiedenartigen Abstufungen des Zusammenwirkens in einem modernen digital durchkonstruierten Betrieb zu erfassen. Wenn man für das „berufliche Selbstverständnis der ‚digital natives‘ fordert, ziel- und aufgabenorientiert, wissbegierig und innovativ, querorientiert und ehrgeizig, vernetzt und kommunikationsstark“⁴⁷ zu sein, wenn sogar „hohe Erwartungen im Bereich der intrinsischen Werte (78 %)“⁴⁸ bestehen, werden Aner-
Trautmann in diesem Band, S. 25. AaO. AaO. AaO., S. 26. AaO., S. 26. AaO., S. 27. AaO. Trautmann aaO., S. 27. AaO.
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kennungsverhältnisse geschaffen, für deren Definition die Oberbegriffe noch fehlen. Mit aller Vorsicht kann man einige Prämissen wahrnehmen, zum Beispiel die, dass „Integrität regelmäßig als ein wichtiger Erfolgsfaktor genannt“ wird. Die Unternehmenskultur wird als eine institutionelle Rahmenbedingung auf gefasst, die das moralische Handeln im Unternehmen systematisch beeinflusst, also mit Auswirkungen auf Compliance und Integritätsmanagement. Systematische Untersuchungen gibt es noch nicht.⁴⁹ Diese neuen Einsichten zwingen aber nicht dazu, von vornherein auch zu vermutende Mängel im Digitalsystem zu akzeptieren, wie beispielsweise zu kurzfristig ausgerichtete und inkonsistente Anreizsysteme.⁵⁰ Entscheidend sind vielmehr Beobachtungen von der Art, dass „‘digital natives‘ ethische Verantwortung explizit als wichtigen intrinsischen Motivationsfaktor“ nennen.⁵¹ Wie können die Einsichten und Reflexionen Trautmanns in die Beziehung, die Graf Kielmansegg zwischen Unternehmenskultur und Demokratietheorie herstellen will, integriert werden? Graf Kielmansegg sieht das Problem in der Auflösung der Spannung zwischen den Rechtsfolgen der Machtprozesse und den „auf das Gleichheitsideal ausgerichteten Gerechtigkeitsvorstellungen der Demokratie“.⁵² Es bedürfe „einer Kultur der Selbstdisziplinierung von staatlicher Macht“, ist die Folgerung.⁵³ Könnte es sein, dass diese Selbstdisziplinierung im Ergebnis identisch ist mit einer Kultur wechselseitiger Anerkennung – auf der Basis intrinsischen Verstehens, so wie Trautmann es vorgeführt hat – der betriebswirtschaftlichen Aktivitäten der Akteure? Auf diese Weise könnte die Marktlogik, „dass Investitionsentscheidungen ökonomischer Rationalität folgend getroffen werden“,⁵⁴ Eingang finden in das Netzwerk der Demokratisierung des Wissens. Die genauen Beschreibungen, die Trautmann für diese Demokratisierung des Wissens gibt, sind der Brückenschlag. Die Voraussetzung für dessen Gelingen ist gerade die „Integrität derer, die die Marktwirtschaft repräsentieren“,⁵⁵ die sich offenbart in einer Kommunikation, wie sie auf der Basis der Digitalität der Unternehmensführung entsteht. Das ist freilich nur der Teil der Unternehmensethik, die man als Implikat einer Unternehmensführung ansieht, und zu deren konkreter Strukturierung der Beitrag Trautmanns die notwendige Anschauung liefert. Die verbleibenden externen Gemeinwohlanforderungen werden damit direkt nicht erfasst – wohl aber indi-
Trautmann aaO., S. 30. Trautmann aaO., S. 30. Trautmann aaO., S. 32. Kielmansegg aaO., S. 7. AaO., S. 7. Trautmann aaO., S. 28. Kielmansegg aaO., S. 13.
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rekt, indem die Signifikanz des implikativen Anteils durch seine Konkretisierung deutlicher wird, und das seiner Relevanz zugeschlagen werden kann. Die von Graf Kielmansegg benannte Gefahr des Verlusts der Reputation als ein die Geltung der Regeln indirekt stärkender Faktor wird in ihrer Dimension durch die Trautmann’schen Konkretisierungen durchsichtiger und als Kontrolldatum damit brauchbarer.⁵⁶ Dass daraus folgen könnte, „den Gedanken einer Mitverantwortung der einflussreichen Marktteilnehmer für die Lebensfähigkeit und Akzeptanz der komplementären Ordnung-Demokratie/Marktwirtschaft in einen handhabbaren Standard zu übersetzen“,⁵⁷ liegt nahe. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Kommunikationskultur, wie sie Trautmann analytisch vorführt, steht und fällt mit freien Entscheidungen. Anerkennung als Vehikel der Gesellschaft schließt Zwang schon begrifflich aus. Deshalb hat es ja auch immer Zweifel am Rechtscharakter des Völkerrechts gegeben, weil die Kategorie der Anerkennung, die das Völkerrecht zusammenhält, mit einem Rechtsbegriff, der die Erzwingbarkeit einschließt, nicht vereinbar ist. Kielmansegg reduziert seine Erwägung deshalb auf das Institut der Selbstregulierung, die (deshalb) auch „in den Debatten über Unternehmensethik in den letzten Jahren zu einem zentralen Stichwort geworden“ sei.⁵⁸ Statt Zwang ist es die Lernfähigkeit, auf die gesetzt wird. Deren Kontrapart ist die Öffentlichkeit, nicht zuletzt repräsentiert durch die Medien. Hier könnte man an weit zurückliegende Paradigmenwechsel denken und feststellen, dass die Öffentlichkeit erneut in einem grundlegen Funktionswandel begriffen ist⁵⁹ und Hand in Hand damit ein Wandel einhergeht von Funktion und Inhalt der Rechtsgeltung.
AaO., S. 13. AaO., S. 13. AaO., S. 13. Wie weit hier Parallelen bestehen oder Unterschiede zum seinerzeit von Jürgen Habermas in seinem gleichnamigen Buch diagnostizierten Funktionswandel der Öffentlichkeit, muss hier offen bleiben.
Einzelfragen: Vom Aufsichtsrecht zum Strafrecht – Das Beispiel des Trennbankengesetzes
Mathias Otto*
Die Strafvorschriften des Trennbankengesetzes im System des Aufsichtsrechts Gliederung I. II.
Einleitung Die Leitungsaufgabe des Vorstands . Leitungsaufgabe im Gesellschaftsrecht . Leitungsaufgabe im Aufsichtsrecht . Verhältnis von gesellschafts- und aufsichtsrechtlicher Leitungsaufgabe III. Die Bedeutung der MaRisk . Rechtsnatur . Grundsatz doppelter Proportionalität IV. Die neuen Organisationsvorschriften . Systematische Einordnung und Reichweite . Mögliche andere aufsichtliche Maßnahmen V. Die neuen Organisations- und Strafvorschriften im Kontext der einheitlichen Europäischen Bankenaufsicht VI. Zusammenfassung und Thesen
1. Einleitung Die Krise, die Mitte 2007 auf dem US-amerikanischen Markt für Immobilienfinanzierungen ihren Ausgang nahm und schließlich das globale Finanzsystem erschütterte, zog auch in der Rechtsordnung deutliche Zäsuren nach sich. Eine Reihe von Banken und ein bedeutender Versicherer (AIG) waren in eine bedrohliche Schieflage geraten und wurden schließlich von den Regierungen mit gewaltigen Beträgen aufgefangen und saniert. In der Folge wurde das aufsichtsrechtliche Rahmenwerk ergänzt und verschärft mit dem Ziel, ähnliche Situationen in Zukunft zu verhindern.¹
* Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Vgl. auf internationaler Ebene z. B. das „Basel III“-Reformpaket des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht („Basel III: A global regulatory framework for more resilient banks and banking systems“), das mit der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06. 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (ABl. L176, S. 1) (CRR) und der Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06. 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditin-
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Gleichzeitig wurde kritisiert, dass die damals Handelnden für tatsächliches oder vermeintliches Missmanagement, das diese Schieflagen ermöglicht habe, nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Insbesondere die vorhandenen Strafnormen wurden hierfür als unzureichend erachtet.² Beim Tatbestand der Untreue (§ 266 StGB) sei der erforderliche Nachweis eines konkreten Vermögensschadens und des darauf gerichteten Vorsatzes³ bei einer allgemeinen Finanzkrise und volkswirtschaftlichen Schäden kaum zu führen.⁴ Für den Tatbestand des Bankrotts (§ 286 StGB) fehle hingegen infolge der staatlichen Rettung von Finanzinstituten die Strafbarkeitsbedingung des § 286 Abs. 6 StGB (Insolvenz).⁵ Hinweise, dass die Krise das Ergebnis eines systemischen Versagens des Finanzmarkts sei und eine individuelle Zurechnung von Verantwortung unter den zahllosen am Markt Beteiligten deshalb nicht möglich sei,⁶ blieben bisher ungehört. Im Rahmen des sogenannten „Trennbankengesetzes“ vom 7. August 2013⁷ hat der deutsche Gesetzgeber hierauf reagiert. Er führte mit § 54a KWG und § 142 VAG
stituten und Wertpapierfirmen (ABl. L176 S. 338) (CRD IV) in Europäisches Recht und dem CRD IVUmsetzungsgesetz vom 28.08. 2013 (BGBl. I S. 3395) in deutsches Recht übernommen wurde. Auf nationaler Ebene seien für Deutschland das Kreditinstitute-Reorganisationsgesetz (KredReorgG) vom 09.12. 2010 (BGBl. I S. 1900), für das Vereinigte Königreich der Financial Services Act 2010 (http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2010/28/introduction), für die Schweiz die Änderung vom 30.09. 2011 zum Bankengesetz (Stärkung der Stabilität im Finanzsektor; too big to fail) (AS 2012, 811) und für die USA der Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act von 2010 (Pub.L. No. 111– 203, 124 Stat. 1376 (2010)) genannt. So pauschal der RegE zum Gesetz zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen (umgangssprachlich als „Trennbankengesetz“ bezeichnet), BT-Dr. 17/12601, S. 28. Vgl. zu dem zugrundeliegenden Unmut: „Fast alle sind weich gefallen“, FAZ vom 05.07. 2013, S. 23. Zur Diskussion in den USA: „Der Ruf nach Klagen gegen Bankmanager wird lauter“, FAZ vom 01.11. 2013, S. 23 und die Stellungnahme von Justizminister Holder vor dem Rechtsausschuss des Senats: „Transcript: Attorney General Eric Holder on ’Too Big to Jail’“ (http://www.americanbanker.com/issues/178_45/transcript-attorney-generaleric-holder-on-too-big-to-jail-1057295 – 1.html). BVerfG 23.06. 2010, BVerfGE 126, 170/200 ff.; hierzu Saliger NJW 2010, 3195. Kasiske ZRP 2011, 137/138; Kubiciel ZIS 2013, 53/55; a.A. Schröder NJW 2010, 1169/1172 ff. (Existenzgefährdung als Pflichtwidrigkeit); Bittmann NStZ 2011, 361/362 ff.; vermittelnd Brüning/ Samson ZIP 2009, 1089/1991 ff. Vgl. zuletzt BGH 28.05. 2013, NStZ 2013, 715/716 f. = AG 2013, 640/ 642 ff. Kasiske ZIS 2013, 257/264; Schröder WM 2014, 100/102. Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.): Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral (2010), S. 211; Forkel ZRP 2010, 158/159; M. Jahn JZ 2011, 340/345; Kubiciel ZIS 2013, 53/59; J. Jahn: „Ohnmächtige Justiz“, FAZ vom 09.08. 2013, S. 11; a.A. Schröder Handbuch des Kapitalmarktstrafrechts (2. Aufl. 2010), Rn. 1139 ff. Gesetz zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen vom 07.08. 2013 (BGBl. I S. 3090).
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neue Straftatbestände ein, die sich speziell an die Geschäftsleiter von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten (im Folgenden vereinfachend „Banken“) sowie von Versicherungsunternehmen richten. Zu diesem Zweck wurden dem § 25c KWG⁸ die Absätze 4a bis 4c und dem § 64 VAG die Absätze 7 und 8 angefügt. Diese Vorschriften normieren Organisationspflichten, die sich an die Geschäftsleiter persönlich richten und nicht delegierbar sein sollen. Inhaltlich übernehmen sie wesentliche Teile der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk), mit denen die deutsche Finanzaufsicht ihre Erwartungen an ein umsichtiges Risikomanagement formuliert hat,⁹ und erheben sie in Gesetzesrang. Über die Sinnhaftigkeit und strafrechtliche Einordnung dieser Regelungen ist heftig diskutiert worden.¹⁰ Auch ihre Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot wird in Frage gestellt.¹¹ Aufgabe dieses Beitrags ist es, die neuen Vorschriften aus der Sicht des Aufsichtsrechts und der aufsichtlichen Praxis zu untersuchen.
II. Die Leitungsaufgabe des Vorstands § 25c Abs. 4a KWG und § 64a Abs. 7 VAG leiten aus den allgemeinen Anforderungen an die Organisation von Banken und Versicherungsunternehmen, die seit geraumer Zeit in § 25a KWG bzw. § 64a Abs. 1 VAG geregelt sind, einen Katalog von Pflichten ab, den sie den Geschäftsleitern „im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung“ persönlich zur Erfüllung zuweisen. Für Banken wird in § 25c Abs. 4b KWG dieser Pflichtenkatalog für Geschäftsleiter der Konzernobergesellschaft noch auf die gruppenangehörigen Unternehmen ausgeweitet. Im VAG fehlt diese Ausdehnung auf die Gruppe, obwohl § 64a Abs. 2 VAG auch in Versicherungskonzernen
§ 25c KWG wurde fast zeitgleich zum Trennbankengesetz durch das CRD IV-Umsetzungsgesetz mit Wirkung zum 01.01. 2014 neu gefasst und regelt nun die Eignung und die Tätigkeit der Mitglieder des Geschäftsleitungsorgans von Kredit- und Finanzdienstleitungsinstituten. Die Absätze 4a bis 4c treten einen Tag später hinzu. Die zuvor an dieser Stelle geregelten Pflichten von Instituten zur Geldwäsche- und Betrugsprävention wurden durch das CRD IV-Umsetzungsgesetz zu § 25g KWG verschoben (Art. 1 Nr. 49). Vgl. zuletzt die Rundschreiben 10/2012 (BA) vom 14.12. 2012 und 3/2009 (VA) vom 22.01. 2009 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins Nr. 29/2013 vom April 2013, abgedruckt in NZG 2013, 577; Hamm/Richter WM 2013, 865; Wastl WM 2013, 1401; Kubiciel ZIS 2013, 53; Kasiske ZIS, 2013, 257. Strafrechtsausschuss des DAV (Fn. 10), S. 580; Wegner in: Schork/Groß (Hrsg.), Bankstrafrecht (2013), Rn. 668; Ahlbrecht BKR 2014, 98/101; Kasiske ZIS 2013, 257/261; Rack Compliance-Berater 2013, 322/323.
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vom übergeordneten Unternehmen ein gruppenweites Risikomanagement verlangt. Die Gründe hierfür liegen im Dunkeln. Es soll nun zunächst der Frage nachgegangen werden, wie sich diese persönlichen Pflichten der Geschäftsleiter – bei Aktienbanken und -versicherern ist das der Vorstand¹² – in die Leitungsaufgabe des Vorstands einfügen.
1. Leitungsaufgabe im Gesellschaftsrecht Nach § 76 Abs. 1 AktG leitet der Vorstand die Gesellschaft in eigener Verantwortung. Er ist dabei an Recht und Gesetz sowie die Satzung der Gesellschaft gebunden, aber keinen Weisungen unterworfen. Besteht der Vorstand aus mehreren Personen, ist die Leitungsaufgabe eine gemeinsame Aufgabe aller Vorstandsmitglieder (§ 77 Abs. 1 AktG). Einzelnen Vorstandsmitgliedern können spezielle Aufgabengebiete zugeordnet werden, für die sie jeweils primär verantwortlich sind wie z. B. die Zuständigkeit für eine bestimmte Unternehmenssparte oder einzelne Sachthemen wie Vertreib, Produktion, Personal und Finanzen. Das erlaubt eine effektive Arbeitsteilung, löst aber die Gesamtverantwortung aller Organmitglieder nicht auf. Ein ressortmäßig zuständiges Vorstandsmitglied muss deshalb den übrigen Vorstandsmitgliedern über die Entwicklungen in seinem Ressort berichten und sich über die Entwicklungen in den anderen Ressorts auf dem Laufenden halten, notfalls nachfragen und eine Befassung des Gesamtvorstands herbeiführen.¹³ Auch bei einer Verteilung der Zuständigkeiten nach Ressorts bleiben der Vorstand ein Kollegialorgan und seine Mitglieder gemeinsam für die Leitung des Unternehmens verantwortlich. Die Leitung des Unternehmens umfasst die strategische Führung, die Unternehmensplanung, die Festlegung der Organisationsstruktur und die Überwachung der geschäftlichen Entwicklung und Finanzlage. Die Leitungsaufgabe ist nicht delegierbar.¹⁴ Auf nachgelagerte Führungsebenen können jedoch einzelne Aufgaben und Teilbereiche delegiert werden. Dabei müssen Führungskräfte, auf die Aufgaben delegiert werden, sorgfältig ausgewählt und überwacht und die Arbeitsgebiete und wesentlichen Betriebsabläufe klar definiert werden. § 91 Abs. 2 AktG ergänzt diesen Kanon um die Pflicht, ein Überwachungssystem zur Früherkennung existenzgefährdender Risiken einzurichten.Vorgaben,
§§ 1 Abs. 2 Satz 1 KWG, 7a Abs. 1 Satz 3 VAG. Fleischer ZIP 2003, 1/8; Hüffer AktG (10. Aufl. 2012), § 77 Rn. 15; MüKo AktG/Spindler § 77 Rn. 56 f.; instruktiv LG München I 10.12. 2013, NZG 2014, 345/348 (Siemens) (n. rkr.). Hüffer AktG, § 76 Rn. 7 f.; MüKo AktG/Spindler § 76 Rn. 15; Mertens/Cahn in: Kölner Kommentar zum AktG (3. Aufl. 2010), § 76 Rn. 4.
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wie solche Risiken schließlich zu bewältigen sind, macht das Gesetz nicht. Es will sicherstellen, dass der Vorstand Risiken frühzeitig erkennt und in seine Entscheidungen einbezieht, damit solche Risiken abgewendet werden. Auf dieser Grundlage führt der Vorstand das Risikomanagement im Rahmen seines Business Judgments durch.¹⁵ Existenzbedrohende Risiken können sich auch aus der Verbindung zu anderen Unternehmen ergeben, wenn die Krise des einen Unternehmens das andere in Mitleidenschaft ziehen würde. Das gilt insbesondere im Mutter-Tochter-Verhältnis, wo eine Krise bei der Tochtergesellschaft den Wert der Beteiligung bei der Mutter in Frage stellt. Gerade der Vorstand der Konzernobergesellschaft wird deshalb sein Risikofrüherkennungssystem so ausrichten müssen, dass es auch Risiken bei den Töchtern erfasst, die auf die Muttergesellschaft durchschlagen können.¹⁶ Eine Konzernleitungsaufgabe jenseits der in § 18 AktG angesprochenen gemeinsamen Leitung, die einen Eingriff in die Geschäftsführung der nachgeordneten Unternehmen erlauben würde, ist damit aber nicht verbunden.¹⁷ Hierfür wäre ein Beherrschungsvertrag notwendig (§ 291 AktG).
2. Leitungsaufgabe im Aufsichtsrecht a) § 25a Abs. 1 Satz 1 KWG verlangt, dass Banken eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation vorhalten. Dazu gehört „insbesondere ein angemessenes und wirksames Risikomanagement“ (Satz 3, 1. Halbsatz). Das Risikomanagement umfasst unter anderem eine auf die nachhaltige Entwicklung der Bank ausgerichtete Geschäftsstrategie und eine damit konsistente Risikostrategie, eine klare Aufbauund Ablauforganisation sowie Prozesse zur Risikosteuerung (Satz 3, 2. Halbsatz). Die Verantwortung für die ordnungsgemäße Organisation liegt bei den Geschäftsleitern (Satz 2), also beim Vorstand. Gleiches gilt für Versicherungsunternehmen. Auf den hier relevanten § 64a Abs. 1 VAG soll im Folgenden jedoch nicht gesondert eingegangen werden, weil er dem § 25a KWG nachgebildet wurde¹⁸ und keine weiteren Fragestellungen aufwirft. Die Ausführungen gelten deshalb für Versicherungsunternehmen entsprechend. Die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an das Risikomanagement sind umfassender als das von § 91 Abs. 2 AktG verlangte Risikofrüherkennungssystem.
Hüffer § 91 Rn. 7; MüKo AktG/Spindler § 91 Rn. 17; KK-Mertens/Cahn § 91 Rn. 25. KK-Mertens/Cahn § 91 Rn. 18; Preußner/Becker NZG 2002, 846/847. Fleischer in: Spindler/Stilz, AktG (2. Aufl. 2010), § 76 Rn. 86 ff.; MüKo AktG/Spindler § 91 Rn. 41; KK-Mertens/Cahn a.a.O. (Fn. 16); Preußner/Becker a.a.O. (Fn. 16). RegE zur 9. VAG-Novelle, BT-Dr. 16/6518, S. 15.
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Dem Bankgeschäft ist das Eingehen von Risiken, vor allem von Kredit- und Marktpreisrisiken, immanent. Deshalb unterliegt es auch detaillierten Regeln zu Risikopuffern und Risikobegrenzung und einer umfassenden staatlichen Aufsicht. § 25a Abs. 1 KWG bezieht sich auf alle eingegangenen Risiken und belässt es nicht bei ihrer frühzeitigen Erkennung, sondern macht auch Vorgaben dazu, wie sie sodann zu bewältigen sind. Auf der Grundlage dieser Vorgaben stellen die Banken ihre Risikotragfähigkeit sicher (§§ 25a Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 KWG), indem sie ihre wesentlichen Risiken ins Verhältnis zu ihrem verfügbaren Kapital setzen. Dieser institutsinterne Prozess (Internal Capital Adequacy Assessment Process – ICAAP) und die Bewertung der individuellen Risikosituation der betreffenden Bank durch die Aufsicht (Supervisory Review and Evaluation Process – SREP) treten als zweite Säule neben die quantitativen Vorschriften zur Risikomessung und -begrenzung, die nunmehr in der EU-Verordnung Nr. 575/2013 (CRR) enthalten sind (bis Ende 2013 in §§ 10 ff. KWG i.V.m. der SolvV und §§ 13 ff. KWG i.V.m. der GroMiKV geregelt). b) Die bankaufsichtlichen Vorschriften zum Risikomanagement gelten auch auf Gruppenebene. Hier ist der Vorstand des übergeordneten Unternehmens für die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation der gesamten Gruppe verantwortlich (§ 25a Abs. 3 KWG; Art. 11 Abs. 1 CRR). Wie sich diese Leitungsaufgabe im Risikomanagement zur rechtlichen Eigenständigkeit der Tochtergesellschaften verhält, ist im Detail nicht geklärt.¹⁸a Das gilt erst recht für Fälle, in denen das übergeordnete Unternehmen im Sinne des Aufsichtsrechts nicht die Konzernmutter ist.¹⁹
3. Verhältnis von gesellschafts- und aufsichtsrechtlicher Leitungsaufgabe Teilweise wird die Meinung vertreten, dass die umfassenden Vorschriften des Aufsichtsrechts zum Risikomanagement auf die gesellschaftsrechtlichen Pflichten von Vorständen ausstrahlen und das Aufsichtsrecht gar eine Schrittmacher-
a Vgl. nur die widersprüchlichen Ausführungen zu § 25a Abs. 3 Satz 3 – 4 KWG n.F. im RegE zum CRD IV-Umsetzungsgesetz (BT-Dr. 17/10974, S. 86). Die von Hannemann/Schneider/Weigl MaRisk (4. Aufl. 2013), S. 446 vertretene These von einem Vorrang des Aufsichtsrechts gegenüber dem Gesellschaftsrecht wird durch die Gesetzesmaterialien nicht gestützt. Das ist vor allem bei Finanzholding-Gesellschaften der Fall (§ 10a Abs. 2 KWG; zu weiteren Ausnahmen vgl. Abs. 1 Satz 5 – 7).
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funktion für das Gesellschaftsrecht habe.²⁰ Diese Auffassung übersieht jedoch dreierlei: Erstens: § 91 Abs. 2 AktG richtet sich unmittelbar an den Vorstand: „Der Vorstand muss [ein Risikofrüherkennungssystem] einrichten.“ Demgegenüber richten sich die § 25a KWG zunächst an das Unternehmen als Ganzes: „Ein Institut muss über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verfügen“ heißt es in Abs. 1 Satz 1. Erst im zweiten Satz kommen die Geschäftsleiter in Spiel. Hier wird also etwas angeordnet, was gesellschaftsrechtlich eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich dass zur Leitungsaufgabe des Vorstands auch die Pflicht gehört, dem Unternehmen eine angemessene Organisationsstruktur zu geben. Wo das Eingehen von Risiken Teil des Geschäfts ist, ist das Risikomanagement Teil der notwendigen Organisationsstruktur. Demzufolge gilt § 25a KWG unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens und ist Folge der Institutseigenschaft und Lizensierung für das Finanzgeschäft. Zweitens: § 25a KWG wurde im Rahmen der 6. KWG-Novelle im Oktober 1997 in das KWG eingeführt,²¹ während § 91 Abs. 2 AktG erst im März 1998 mit dem Gesetz zu Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) den Weg in das Bundesgesetzblatt fand.²² Die lex specialis ist also älter als die lex generalis, die sie angeblich konkretisiert. Drittens: Nach den Gesetzesmaterialien soll § 25a KWG Vorgaben aus der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie²³ (Art. 10) und der Kapitaladäquanzrichtlinie²⁴ (Art. 4 Abs. 4; richtig muss es wohl Abs. 5 heißen) umsetzen.²⁵ Materiell sei die Vorschrift nicht neu. Sie nehme vielmehr Verwaltungsvorschriften auf, welche die Aufsicht bisher auf ihre Aufgaben, Missständen im Kreditwesen entgegenzuwirken (§ 6 Abs. 2 KWG), gestützt hatte. Die ersten Verwaltungsvorschriften dieser Art
VG Frankfurt a.M., 08.07. 2004, WM 2004, 2157/2160; Preußner/Zimmermann AG 2002, 657/ 959 f.; Preußner NZG 2004, 57/59; Schäfer/Zeller BB 2009, 1706/1709; Braun in: Boos/Fischer/ Schulte-Mattler, KWG (4. Aufl. 2012), § 25a Rn. 8; Reischauer/Kleinhans KWG (Loseblatt, Stand: März 2014), § 25a Rn. 2; ähnlich wohl auch LG Berlin 03.07. 2002, AG 2002, 682/683 (aus formalen Gründen aufgehoben durch KG 27.09. 2004, AG 2004, 205). Gesetz zur Umsetzung von EG-Richtlinien zur Harmonisierung bank- und wertpapieraufsichtsrechtlicher Vorschriften vom 22.10.1997, BGBl. I S. 2518, Art. 1 Nr. 39. Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vom 27.04.1998, BGBl. I S. 786. Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10.05.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. L141 S. 27. Richtlinie 93/6/EWG des Rates vom 15.03.1993 über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen und Kreditinstituten, ABl. L141 S. 1. RegE zur 6. KWG-Novelle, BT-Dr. 13/7142, S. 87.
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reichen in die 70er Jahre des vergangen Jahrhunderts zurück.²⁶ Auch spätere Änderungen sind vor allem der Umsetzung europäischer Vorgaben geschuldet.²⁷ Auch als 2008 mit § 64a VAG Pflichten zum Risikomanagement in Versicherungsunternehmen normiert wurden, orientierte sich der Gesetzgeber allein am Bankaufsichtsrecht und an europarechtlichen Entwicklungen (Beratungen zur Solvency II-Richtlinie).²⁸ Demgegenüber will § 91 Abs. 2 AktG die Pflicht des Vorstands, ein System zur Risikofrüherkennung zu schaffen, aus der allgemeinen Leitungsaufgabe besonders hervorheben.²⁹ An keiner Stelle findet sich in den Gesetzesmaterialien ein Hinweis, dass und wie die aufsichtsrechtlichen Vorschriften zum Risikomanagement auf das Gesellschaftsrecht einwirken sollen. Zu Recht lehnt deshalb die überwiegende Meinung eine Übertragung der aufsichtsrechtlichen Risikomanagementvorschriften auf das Gesellschaftsrecht ab.³⁰ Richtigerweise muss man diese Normen als Teil eines eigenständigen aufsichtlichen Pflichtenprogramms von Bank- und Versicherungsvorständen sehen, das der Gesetzgeber aus der allgemeinen Missbrauchsaufsicht nach § 6 Abs. 2 KWG entwickelt hat.
III. Die Bedeutung der MaRisk 1. Rechtsnatur Auf der Grundlage von § 25a KWG hat die BaFin Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) erlassen, die weitere Einzelheiten enthalten.³¹
Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen Schreiben I4– 32 vom 24.02.1975 (Anforderungen an das Betreiben von Devisengeschäften); später zu Wertpapiergeschäften: Schreiben V3-Gr 8/77 vom 30.12.1980. Von den bisher 14 Änderungen lag lediglich der Ergänzung durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz vom 21.06. 2002 (BGBl. I S. 2010) eine eigene Initiative des deutschen Gesetzgebers zugrunde (BT-Dr. 14/8017, S. 124 ff.). Alle anderen Änderungen waren entweder technischer oder klarstellender Natur oder folgten einem Impuls durch EU-Richtlinien oder andere internationale Vorgaben wie Grundsätzen des Financial Stability Board (BT-Dr. 17/1291, S. 11). RegE zur 9. VAG-Novelle, BT-Dr. 16/6518, S. 15 f. RegE zum KonTraG, BT-Dr. 13/9713, S. 15. Bürkle WM 2005, 1496/1497 ff.; Schwennicke/Auerbach/Langen KWG (2. Aufl. 2013), § 25a Rn. 32; Hüffer AktG, § 92 Rn. 8; MüKo AktG/Spindler § 91 Rn. 31; KK-Mertens/Cahn § 91 Rn. 30 ff.; Spindler/Stilz/Fleischer § 91 Rn. 42 f.; Bürgers/Israel in: Bürgers/Körber, AktG (3. Aufl. 2014), § 91 Rn. 14. Vgl. oben Fn. 9.
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Die MaRisk wurden erstmals im Dezember 2005 veröffentlicht, als die BaFin ihre Mindestanforderungen an das Betreiben von Handelsgeschäften (MaH) aus dem Jahr 1995, an das Betreiben des Kreditgeschäfts (MaK, 2002) und an die Interne Revision (MaIR, 2000) in einem einzigen Rundschreiben zusammengefasste.³² Seitdem wurden sie praktisch im Zweijahresrhythmus an neuere Entwicklungen angepasst und ergänzt.³³ Außerdem sind sie Vorbild für zahlreiche Mindestanforderungen der Finanzaufsicht in anderen Regelungsbereichen.³⁴ Es handelt sich hierbei um Verwaltungsvorschriften, mit denen die Aufsichtsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 25a KWG interpretiert und Auslegungshilfen für ihre Anwendung gibt. Sie formuliert damit ihre Erwartungen daran, wie die Banken den § 25a KWG anwenden sollen, und nach welchen Maßstäben die Aufsicht die Einhaltung dieser Vorschrift prüfen wird. Damit binden die MaRisk die Verwaltung selbst und erhöhen die Vorhersehbarkeit und Transparenz ihrer Entscheidungen.³⁵ Sie sind aber gerichtlich voll überprüfbar. Auch wenn ihre faktische Bindungswirkung angesichts der über der Finanzbranche liegenden Aufsichts- und Regelungsdichte kaum zu überschätzen ist, handelt es sich bei den MaRisk deshalb richtigerweise und mancher Begriffsverwirrung im Schrifttum zum Trotz³⁶ um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften.³⁷ Eine normkonkretisierende Wirkung, wie sie vor allem einigen Verwaltungsvorschriften im Umweltrecht zukommt, haben die MaRisk nicht. Zwar
Rundschreiben 18/2005 vom 20.12. 2005. Rundschreiben 5/2007 vom 30.10. 2007, 15/2009 vom 14.08. 2009, 11/2010 vom 15.12. 2010 und zuletzt 10/2012 vom 14.12. 2012. Für Versicherungen: MaRisk VA (Rundschreiben 3/2009(VA) vom 21.12. 2009); für Kapitalverwaltungsgesellschaften: InvMaRisk (Rundschreiben 5/2010 (WA) vom 30.06. 2010); für Compliance: MaComp (Rundschreiben 4/2010 (WA) vom 07.06. 2010, 4. Neufassung vom 07.01. 2014); für Sanierungspläne: MaSan (Rundschreiben 3/2014 vom 25.04. 2014). Beck/Samm/Kokemoor KWG (Loseblatt, Stand: Dezember 2013), § 25a Rn. 13; Schwennicke/ Auerbach/Langen KWG, § 25a Rn. 8 a.E. Hellstern in: Luz/Neus/Schaber/Scharpf/Schneider/Weber (Hrsg.), KWG (2. Aufl. 2011), § 25a Rn. 3: „normkomplettierend“; Beck/Samm/Kokemoor a.a.O. (Fn. 35): „norminterpretierende und normkonkretisierende Auslegungsschreiben“; Eller/Heinrich/Perrot/Reif MaRisk in der Praxis (2006), S. 19: „normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften“. Ausführlich Wundenberg Compliance und die prinzipiengeleitete Aufsicht über Bankengruppen (2012), S. 92 ff.; Hannemann/Schneider/Weigl MaRisk, S. 24; Schwennicke/Auerbach/ Langen KWG, § 25a Rn. 6, 8; Reischauer/Kleinhans KWG, Anhang 1 zu § 25a, Rn. 2; Braun in: Boos/ Fischer/Schulte-Mattler, KWG, § 25a Rn. 67, 78; Kümpel/Wittig/Schelm Bank- und Kapitalmarktrecht (4. Aufl. 2011) Rn. 2.127; Hofer/Bothe BaFin-Journal 8/2012, S. 5 a.E.; obiter VGH Kassel 31.05. 2006, WM 2007, 392/393 a.E.
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geht jeder MaRisk-Novelle eine öffentliche Konsultation durch die BaFin voraus,³⁸ so dass sie den jeweiligen Erkenntnis- und Erfahrungsstand sammeln. Allerdings enthält das Gesetz keinen Auftrag an die Verwaltung, die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 25a KWG durch verbindliche Verwaltungsvorschriften zu konkretisieren, wie ihn die Rechtsprechung für eine normkonkretisierende Wirkung verlangt.³⁹
2. Grundsatz doppelter Proportionalität a) Nach § 25a Abs. 1 Satz 4 KWG hängt die Ausgestaltung des Risikomanagements im Einzelfall „von Art, Umfang, Komplexität und Risikogehalt der Geschäftstätigkeit“ ab. Die MaRisk behalten diese Flexibilität bei und verfolgen dementsprechend einen prinzipienorientierten Ansatz, der den Banken einen Handlungsrahmen vorgibt, innerhalb dessen sie die Regelungsziele flexibel und mit individuellen Lösungen erreichen können.⁴⁰ Festgelegt werden einzelne Parameter, die in die Geschäftsstrategie einfließen müssen oder sich in den Geschäftsprozessen, der Risikosteuerung und der Ressourcenplanung wiederspiegeln müssen. Da sie „der heterogenen Institutsstruktur [in Deutschland; d.Verf.] und der Vielfalt der Geschäftsaktivitäten Rechnung“ tragen,⁴¹ kommen auch sie meist über Programmsätze nicht hinaus, sieht man einmal vom Gebot der Funktionstrennung im Kreditgeschäft und bei Handelsaktivitäten⁴² und konkreten Berichtspflichten⁴³ ab. Die Bank muss nun in eigener Verantwortung⁴⁴ ihre individuelle Situation (Geschäftsstrategie, Wettbewerb, Marktentwicklung, Risiken, verfügbare Ressourcen usw.) bewerten und daraus anhand der Leitlinien der MaRisk ihre Organisationsstruktur und Betriebsabläufe entwickeln. Ziel ist, dass die Bank stets „genügend internes Kapital zur Abdeckung der wesentlichen Risiken hat“ und damit ihre Ri-
Zuletzt Konsultation 01/2012 – Überarbeitung der MaRisk vom 26.04. 2012 (http://www.bafin. de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Konsultation/2012/kon_0112_ueberarbeitung_marisk_ ba.html). BVerwG 28.10.1998, BVerwGE 107, 338/342 = NVwZ 1999, 1114/1115. Vgl. demgegenüber etwa § 48 BImSchG, § 35 Abs. 4 WpHG oder § 10 Abs. 1 KWG in der bis zum 01.07. 2002 geltenden Fassung (durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz (Fn. 27) in eine Verordnungsermächtigung geändert). AT 1 Rn. 2, 4 und 5; Hofer/Bothe BaFin-Journal 8/2012, S. 5/6. AT 1 Rn. 4 Satz 1. BTO 1.1 und BTO 2.1. Z.B. AT 4.4.2 Rn. 6 und 7; AT 4.4.3 Rn. 6; BT 2.4 Rn. 6 und 7. Luz/Neus u. a./Hellstern KWG, § 25a Rn. 45; Schwennicke/Auerbach/Langen KWG, § 25a Rn. 37.
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sikotragfähigkeit gewährleistet ist.⁴⁵ Im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gilt die Formel: je komplexer und risikoreicher, desto mehr, und je einfacher und risikoärmer, desto weniger. Dementsprechend ziehen sich Adjektive wie „wesentlich“, „angemessen“ und „geeignet“ wie ein roter Faden durch die MaRisk. Zahlreiche Öffnungsklauseln erlauben Vereinfachungen und bieten vor allem kleineren Banken Erleichterungen an.⁴⁶ Bei der letzten Novelle hat die BaFin aber auch daran erinnert, dass die MaRisk nicht nur nach unten, sondern auch noch oben flexibel sind, und sie diesem Aspekt künftig größeres Gewicht beimessen wird.⁴⁷ Auf einer zweiten Stufe überprüft sodann die Aufsicht regelmäßig, ob dieser interne Prozesses zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit (ICAAP) angemessen ist (Supervisory Review and Evaluation Process – SREP).⁴⁸ Die Prüfungen sind Teil der Jahresabschlussprüfung (§ 10 PrüfBV), deren Bericht vom Prüfer der Aufsicht vorgelegt wird (§ 26 Abs. 1 Satz 3 und 4 KWG), und können Gegenstand von Sonderprüfungen nach § 44 KWG sein. Die Prüfungen sind „risikoorientiert“ durchzuführen,⁴⁹ d. h. Häufigkeit und Umfang der Prüfungen hängen von den Besonderheiten des jeweiligen Instituts ab. So entsteht der die MaRisk prägende Grundsatz doppelter Proportionalität: Die internen Prozesse zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit (ICAAP) müssen ebenso wie die aufsichtlichen Prüfungen (SREP) proportional zur Größe, Komplexität und Risikosituation des einzelnen Instituts ausgestaltet sein.⁵⁰ Folgerichtig ist seit Beginn der Finanzkrise die Zahl von MaRisk-Prüfungen durch die BaFin deutlich gestiegen.⁵¹ b) Schließlich sind die MaRisk selbst auf eine kontinuierliche Weiterentwicklung angelegt und wurden praktisch alle zwei Jahre überarbeitet.⁵² Zu diesem Zweck hat die BaFin ein Fachgremium eingerichtet, in dem sie einen fortlaufenden Dialog mit der Praxis pflegt. All dies zeigt, wie wenig Risikomanagement einem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess gleicht. Das Geschehen auf den Finanzmärkten ist das Ergebnis des Handelns einer Vielzahl von Menschen und
AT 1 Rn. 2; Braun in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, § 25a Rn. 72, 91. Vgl. etwa AT 1 Rn. 4 Satz 2, AT 4.4.3 Rn. 1, BTO 1.1 Rn. 1 Satz 2 und die amtlichen Erläuterungen zu BTO 2.1 Rn. 2. Schreiben der BaFin zur MaRisk-Novelle 2012 vom 14.12. 2012 (BA 54-FR 2210 – 2012/0002), dritter Absatz. Art. 97 ff. CRD IV. Lutz/Neus u. a./Hellstern KWG, § 25a Rn. 48. AT1 Rn. 5. Braun in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, § 25a Rn. 82; Schwennicke/Auerbach/Langen KWG, § 25a Rn. 35; Wundenberg (Fn. 37), S. 100. Die Jahresberichte der BaFin weisen zwischen 2007 und 2013 einen Anstieg der MaRiskPrüfungen um über 50 % von 112 auf zuletzt 182 aus. AT1 Rn. 4 Satz 4 und 5; zu den Überarbeitungen oben Fn. 33.
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deshalb nicht unter experimentellen Bedingungen wiederholbar.⁵³ Alternative Geschehensabläufe sind deshalb ebenso wenig erprobbar wie es einen Beleg dafür gibt, dass sich Wirkungen unter gleichen Bedingungen wiederholen, denn die Marktteilnehmer beziehen auch ihre persönlichen Erfahrungen in ihr zukünftiges Handeln ein. Risikomanagement beruht somit auf einem ständigen Austausch an Ideen und Erfahrungen. Die MaRisk setzen einen solchen Dialog in den Banken und mit der Aufsicht in Gang. Er ist ein Kreislauf aus Prüfung, Identifizierung von Schwachstellen, Behebung dieser Schwachstellen und erneuter Prüfung mit dem Ziel, das System kontinuierlich zu verbessern.⁵⁴ Prüfungsmoniten sind deshalb Teil des Programms und per se noch keine Pflichtverletzung, solange die Moniten plangemäß abgearbeitet werden.⁵⁵ Subsumtionsfähigen Regeln oder Fallgruppen für die Zukunft kann ein solcher Prozess aber nicht hervorbringen.⁵⁶
IV. Die neuen Organisationsvorschriften 1. Systematische Einordnung und Reichweite a) Im Trennbankengesetz konkretisiert der Gesetzgeber nun seinerseits Vorgaben aus § 25a Abs. 1 KWG und weist sie in § 25c Abs. 4a und 4b den Geschäftsleitern zur persönlichen Erfüllung zu (ebenso für Versicherer § 64a Abs. 7 VAG). Eine Delegation ist nicht möglich. Inhaltlich greift er dabei auf die MaRisk zurück.⁵⁷ Die unmittelbare Folge ist, dass damit dieser Teil des Pflichtenkatalogs in Gesetzesrang erwächst und die Frage, ob eine solche Pflicht durch § 25a Abs. 1 KWG begründet ist, einer gerichtlichen Überprüfung entzogen ist. Gleichzeitig konzediert der Gesetzgeber, dass auch im Rahmen von § 25c Abs. 4a und 4b „die konkreten Anforderungen an das Risikomanagement […] von Institut zu Institut unterschiedlich“ sind.⁵⁸ Auch insoweit gilt also der Proportionalitätsgrundsatz aus den MaRisk, so dass die speziellen Sicherstellungspflichten der Geschäftsleiter von den Umständen des Einzelfalls abhängen.⁵⁹ Spindler Unternehmensorganisationspflichten (2. Aufl. 2011), S. 427. Braun/Wolfgarten in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, § 25a Rn. 200 ff.; Hannemann/ Schneider/Weigl MaRisk, S. 84. Das verkennen Schäfer/Zeller BB 2009, 1706/1710. Ausführlich Spindler (Fn. 53), S. 433 ff.; Wundenberg (Fn. 37), S. 101; a.A. wohl Schäfer/Zeller (Fn. 55), die aber die von ihnen erwähnten „branchenüblichen Riskomodelle“ nicht näher beschreiben, und Rack Compliance-Berater 2013, 368, der aber die MaRisk gänzlich unerwähnt lässt. RegE, BT-Dr. 17/12601, S. 44. A.a.O. (Fn. 57). Hänßler BaFin-Journal 9/2013, S. 19/20.
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Auch hier werden also abermals nur Zielvorgaben normiert. Darauf deutet die Ergänzung nahezu jeder einzelnen Regel um den Halbsatz „mindestens haben die Geschäftsleiter dafür Sorge zu tragen, dass …“ hin. Und dann folgen reihenweise unbestimmte Begriffe, die erheblichen Interpretationsbedarf nach sich ziehen. Die Strategie muss auf eine „nachhaltige Entwicklung des Instituts gerichtet“ sein, es geht um „wesentliche“ Geschäftsaktivitäten, Prozesse, Risiken und Beeinträchtigungen der Finanzlage, „klare“ Abgrenzungen von Verantwortungsbereichen, „klare“ Definition von Kontrollen und Kommunikationswegen, „angemessene“ Abstände für bestimmte Tätigkeiten, „angemessene“ Stresstests, eine „angemessene“ Ausstattung und dergleichen. Mit dem Hochstufen in Gesetzesrang geht jedoch die fortlaufende Überprüfung und Weiterentwicklung der Regeln im Dialog mit der Aufsicht, wie er in den MaRisk angelegt ist, verloren und erstarren einzelne Pflichten im Katalog des § 25c Abs. 4a und 4b KWG. Das hat Rückwirkungen auf die Entwicklung der MaRisk, die insoweit der Gesetzgeber an sich gezogen hat.⁶⁰ So oft wie die BaFin die MaRisk ändert, wird er das Gesetz nicht ändern wollen. b) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich die europarechtlichen Vorgaben an die Organisation von Banken, die § 25a KWG umgesetzt werden,⁶¹ in der CRD IV fortsetzen (Art. 74 Abs. 1 und 2). Allerdings ist nunmehr die Europäische Bankaufsichtsbehörde (EBA) aufgerufen, durch technische Aufsichtsstandards eine EU-weit einheitliche Umsetzung und Handhabung dieser Vorgaben herzustellen.⁶² Der deutsche Gesetzgeber ist hier mit seiner Detailregelung in § 25c Abs. 4a und 4b KWG also unnötig vorgeprescht. c) Der Regierungsentwurf schien mit der Formulierung „hat jeder Geschäftsleiter eines Instituts sicherzustellen, dass …“,⁶³ jedem einzelnen Geschäftsleiter sämtliche Sicherstellungspflichten auferlegen und damit die Ressortzuständigkeiten, die ihrerseits zum Teil aufsichtsrechtlich begründet sind,⁶⁴ zu beseitigen. Der Finanzausschuss hat mit der schließlich verabschiedeten Fassung „haben die Geschäftsleiter eines Instituts dafür Sorge zu tragen, dass …“,⁶⁵ deutlich gemacht, dass sich die Pflichten im Rahmen der Gesamtverantwortung des Vorstands nach den
So z. B. § 25c Abs. 4a Nr. 3 Buchst. g KWG, der bewusst über BT2.4 Rn. 6 der MaRisk hinausgeht (BT-Dr. 17/13539, S. 14). S.o. bei II.2.c. Art. 74 Abs. 1 CRD IV, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 Buchst. c i.V.m. Art. 16 der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.11. 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), ABl. L331, S. 12. BT-Dr. 17/12601, S. 22. MaRisk, BTO1.1 und BTO2.1 (Funktionstrennung bis auf die Ebene der Geschäftsleitung). BT-Dr. 17/13523, S. 35.
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Ressortzuständigkeiten richten. Ferner zeigt der Ersatz der im Regierungsentwurf formulierten Sicherstellungspflicht durch eine Sorgetragungspflicht, dass nicht eine Art Gewährleistungshaftung für jedes Einzelergebnis der eingeforderten Strategien, Prozesse, Verfahren, Funktionen und Konzepte gewollt ist, sondern deren Einrichtung und Überwachung.⁶⁶ d) Die wichtigste Ergänzung durch den Finanzausschuss ist jedoch die Einführung des § 25a Abs. 4c KWG (für Versicherer § 64a Abs. 8 VAG). Wenn die Aufsicht zu dem Ergebnis kommt, dass die vorhandenen Strategien und Systeme nicht den gesetzlichen Anforderungen genügen, kann sie konkrete Maßnahmen anordnen, die geeignet sind, innerhalb einer angemessenen Frist die festgestellten Mängel zu beseitigen. Eine solche Anordnung ist sofort vollziehbar (§ 49 KWG) und öffnet auch das Tor zur strafrechtlichen Verantwortung der Vorstandsmitglieder (§ 54a Abs. 3 KWG; § 142 Abs. 3 VAG). Eine solche Anordnung trägt dem Umstand Rechnung, dass die Sorgetragungspflichten in Abs. 4a und 4b wie oben gezeigt institutsspezifisch auszulegen und anzuwenden sind. Es ist deshalb sachgerecht, dass in einer so intensiv beaufsichtigten Branche die Verwaltung zunächst ihre Auslegung der Norm bezogen auf einen spezifischen Sachverhalt mitteilt und neben den Moniten auch konkrete Korrekturmaßnahmen benennt.
2. Mögliche andere aufsichtliche Maßnahmen Eine Anordnung nach § 25c Abs. 4c KWG kann „unabhängig von anderen Maßnahmen nach diesem Gesetz“ erlassen werden. Es lohnt deshalb ein Blick auf diese Alternativen. a) Zunächst einmal enthält die Organisationsvorschrift, auf die auch § 25c KWG aufbaut, eine eigene Anordnungsbefugnis (§ 25a Abs. 2 Satz 2 KWG). Die BaFin kann hiernach Maßnahmen anordnen, die geeignet und erforderlich sind, um eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation herzustellen. Anders als bei einer Anordnung nach § 25c KWG⁶⁷ wäre hier das Institut also solches (wenn auch vertreten durch den Vorstand) Adressat der Maßnahme. Diese Befugnis wurde 2002 mit dem Vierten Finanzmarkförderungsgesetz in das Gesetz eingefügt. Der seinerzeitige Regierungsentwurf besagt lapidar: „Mit dieser Norm soll die Bundesanstalt im Einzelfall Anordnungen treffen können, in denen das jeweilige
Cichy/Cziupka NZG 2013, 846/847; Wegner (Fn. 11), Rn. 676. Cichy/Cziupka NZG 2013, 846/848.
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Institut nicht die adäquaten, internen Maßnahmen geschaffen hat, um die […] Organisationspflichten zu erfüllen“.⁶⁸ Er übersah dabei, dass er schon fünf Jahre zuvor bei Einführung des § 25a KWG die Befugnisse der BaFin zur Durchsetzung dieser Pflichten ausgeweitet hat. 1997 war anlässlich der Einführung des § 25a KWG die Norm, die ansonsten nur die Aufgaben der BaFin regelt (§ 6 KWG), um einen Absatz 3 ergänzt worden. Dieser gibt der BaFin die Befugnis, auch gegenüber Geschäftsleitern Anordnungen zu erlassen, um Verstöße gegen aufsichtliche Bestimmungen zu unterbinden oder zu beseitigen. Dazu gehören insbesondere die Organisationsvorschriften. Verstöße gegen eine Anordnung nach § 6 Abs. 3 KWG sind allerdings trotz vielfacher Änderungen und Ergänzungen des KWG bis heute nicht sanktionsbewehrt. Demgegenüber stellen Verstöße gegen eine Anordnung nach § 25a Abs. 2 Satz 2 KWG eine Ordnungswidrigkeit dar (§ 56 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. f KWG). Mit der Umsetzung der CRD IV wurde dabei der Bußgeldrahmen kräftig ausgeweitet.⁶⁹ Welchen Sinn hat also eine Anordnung nach dem neuen § 25c Abs. 4c KWG? Inhaltlich hatte die BaFin bereits zuvor alle Befugnisse, um Banken zu einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation anzuhalten. Ebenso konnte sie schon bisher solche Maßnahmen auch unmittelbar an Geschäftsleiter richten. Damit ist das einzige, was die neue Anordnungsbefugnis mit sich bringt, der Einstieg in ein sehr konkretes Strafbarkeitsrisiko für die Geschäftsleiter. Nach einer solchen Anordnung ändert sich das aufsichtliche Verhältnis schlagartig von einem auf ständige Verbesserung gerichteten, im Großen und Ganzen kooperativen System⁷⁰ zu einem auf Sanktion und Repression gerichteten System. Die Wirkung einer solchen Anordnung dürfte ein weitgehendes Erlahmen der geschäftlichen Tätigkeit sein, wenn jeder aus Angst vor strafrechtlichen Folgen geschäftliche Initiativen fallen lässt.⁷¹ Nur ein Moratorium kann lähmender sein. Zudem wird die Aufsicht nach einer solchen Anordnung Schwierigkeiten haben, von den Geschäftsleitern noch irgendwelche Auskünfte zu erhalten. Diese werden sich fortan auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 44 Abs. 6 KWG bzw. § 83 Abs. 6 VAG berufen, um sich nicht der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Mit Blick auf eine mögliche strafrechtliche Gehilfenhaftung wird es auch schwer sein, Mitarbeiter der betroffenen Bank zu Auskünften zu bewegen. Das Verhältnis zu Aufsicht erhält damit über eine Anordnung nach § 25c Abs. 4c KWG dieselben Züge wie das Verhältnis des Beschuldigten zur Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren.
BT-Dr. 14/8017, S. 126. § 56 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. f i.V.m. Abs. 6 Nr. 1, Abs. 7 KWG. Kasiske ZIS 2013, 257/259; Cichy/Cziupka NZG 2013, 846/848. Rack Compliance-Berater 2014, 9.
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b) Die Anordnungsbefugnis in den neuen Vorschriften muss deshalb im Zusammenhang mit den Strafnormen gelesen werden, die eine Bestandsgefährdung des Instituts infolge der Nichtbeachtung der Anordnung unter Strafe stellen. Eine Anordnung nach §§ 25a Abs. 4c KWG, 64a Abs. 8 VAG kommt um eine Gesamtbewertung der Situation nicht herum. In diesem Zusammenhang werden die von der Aufsicht erstellten Risikoklassifizierungen relevant. Seit rund zehn Jahren unterzieht die Aufsicht Banken und Versicherer jährlich einer Gesamtschau ihres jeweiligen Risikoprofils und erstellt für sie eine Risikoklassifizierung.⁷² Über die Risikoprofile für die Finanzbranche insgesamt gibt der Jahresbericht der BaFin regelmäßig Auskunft.⁷³ Die Risikoklassifizierung bestimmt zwar die Intensität der Aufsichtstätigkeit,⁷⁴ müsste aber den Geschäftsleitern auch zeitnah als Feedback zurückgespiegelt werden, um den Weg zu einer Anordnung nach §§ 25a Abs. 4c KWG, 64a Abs. 8 VAG zu öffnen.⁷⁵ c) Außerhalb des § 25c Abs. 4c KWG stehen der BaFin noch weitere Mittel zur Verfügung, mit denen sie sehr wirkungsvoll auf die Beseitigung organisatorischer Mängel hinwirken und unbotmäßige Geschäftsleiter zur Ordnung rufen kann. Zum einen kann sie die Kapitalanforderungen erhöhen, um Risiken aus Organisationsmängeln Rechnung zu tragen. Das ergab sich bisher allgemein aus der Befugnis, für nicht ausreichend erfasste Risiken einen Kapitalzuschlag festzulegen.⁷⁶ Mit dem CRD IV-Umsetzungsgesetz wird diese Befugnis nun für organisatorische Mängel ausdrücklich geregelt (§ 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 10 KWG). d) Seit jeher kann die Bankenaufsicht verlangen, dass Geschäftsleiter, die nicht mehr zuverlässig im Sinne des KWG sind, z. B. weil sie vorsätzlich oder leichtfertig gegen aufsichtliche Normen verstoßen, abberufen werden. Dem muss jedoch eine Verwarnung durch die Aufsichtsbehörde vorausgehen (§ 36 Abs. 2 KWG). Eine solche Verwarnung ist ihrerseits ein belastender Verwaltungsakt. Die Rechtsprechung verlangt deshalb, dass die BaFin im Rahmen ihres Ermessens auch die Möglichkeit einer formlosen Missbilligung prüft.⁷⁷ Eine solche Missbilligung ist eine Belehrung über aufgetretene Verstöße und ein Hinweis auf die Möglichkeit eines Abberufungsverlangens. Wenn die Aufsicht also davon ausgehen muss, dass ein Geschäftsleiter schon auf eine solche Missbilligung hin die
Dazu ausführlich Hannemann/Schneider/Weigl MaRisk, S. 74 ff. Zuletzt BaFin Jahresbericht 2013, S. 85 (Banken) und 130 (Versicherungsunternehmen). BaFin a.a.O. (Fn. 73), S. 84 und 129. Die von Hannemann/Schneider/Weigl MaRisk, S. 75 a.E. erwähnte mündliche Kommunikation im Rahmen der Aufsichtsgespräche ist in der Praxis nicht zu beobachten und wäre auch zu informell, da in keiner Weise dokumentiert. § 10 Abs. 1b KWG a.F. VGH Kassel 31.05. 2006, WM 2007, 392/395; BVerwG 06.11. 2006, WM 2007, 1655/1656.
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notwenigen Maßnahmen ergreifen wird, um die Verstöße abzustellen, ist diese das mildeste und daher gebotene Mittel. Von der neuen Befugnis nach § 25c Abs. 4c KWG wird die Aufsicht deshalb mit Blick auf die Rechtslage zur Abberufung unbotmäßiger Geschäftsleiter Gebrauch machen. Sie muss sich insbesondere fragen, welche Wirkung sie mit den anderen Mitteln im Hinblick auf das Abstellen von Organisationsmängeln erzielen kann und was sie mit dem Aufzeigen der roten Linie für das Strafbarkeitsrisiko nach § 54a KWG zusätzlich erreichen will. Immerhin enthält eine Anordnung nach § 25c Abs. 4c KWG so massive Vorwürfe, dass die Aufsicht auch die Frage nach der Zuverlässigkeit des betreffenden Geschäftsleiters stellen muss. Sie wird deshalb auch prüfen, ob sie ihrer Aufgabe, die ordnungsgemäße Durchführung von Bankgeschäften und Finanzdienstleistungen zu gewährleisten, gerecht wird, wenn sie einen Geschäftsleiter, der seine Organisationspflichten verletzt, im Amt belässt, ihn aber gleichzeitig in eine Situation bringt, in der er jederzeit dem konkreten Risiko strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt ist. Mit Blick auf die zitierte Rechtsprechung darf man auch die Frage stellen, ob eine Verwarnung und Abberufung nach § 36 Abs. 2 KWG nicht sogar das mildere und geeignetere Mittel gegenüber einer Anordnung nach § 25c Abs. 4c KWG ist, um die Gefahr zu beseitigen.
V. Die neuen Organisations- und Strafvorschriften im Kontext der einheitlichen Europäischen Bankenaufsicht Für über zwanzig der größten deutsche Kreditinstitute geht die Aufsicht in am 4. November 2014 auf die EZB über.⁷⁸ Es soll deshalb zum Schluss noch kurz der Frage nachgegangen werden, wie sich die neuen Vorschiften des Trennbankengesetzes in dieses neue Gebilde einfügen. Der EZB wird unter anderem die Zuständigkeit übertragen, die europarechtlichen Vorgaben an die Unternehmensführung sowie die Eignung von Geschäftsleitern in Bezug auf die Banken durchzusetzen, die fortan der Aufsicht durch die EZB
Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15.10. 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank (ABl. L287, S. 63) (SSM-Verordnung); Gemeinsame Pressenotiz der BaFin und der Deutschen Bundesbank vom 23.10. 2013. Nach jüngsten Presseberichten wurden drei der ursprünglich 24 vorgesehenen Banken von der Liste für eine direkte EZB-Aufsicht gestrichen („EZB reduziert von 24 auf 21 Banken“, Börsen-Zeitung vom 28.06. 2014, S. 2).
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unterliegen.⁷⁹ Ferner wird sie zuständig sein zu prüfen, ob „die Regelungen, Strategien, Verfahren und Mechanismen der Kreditinstitute […] ein solides Risikomanagement […] gewährleisten“.⁸⁰ Für ihre Aufsichtstätigkeit erhält die EZB „sämtliche Befugnisse und Pflichten, die zuständige und benannte Behörden [hier also die BaFin; Anm. d.Verf.] nach dem einschlägigen Unionsrecht haben“.⁸¹ Die Anordnungsbefugnis nach § 25c Abs. 4c KWG bezieht sich indirekt über die Absätze 4a und 4b auf Pflichten, die auf EU-Recht zurückgehen (§ 25a Abs. 1 KWG). Sie wird deshalb künftig für Banken, die direkt von der EZB beaufsichtigt werden, bei der EZB liegen. Die EZB wird sich an die Europäischen Normen, insbesondere die CRD IV und die technischen Aufsichtsstandards der EBA halten. Ob sie bei der Bewertung der Organisationspflichten von Geschäftsleitern deutscher Kreditinstitute auch den Anforderungskatalog des § 25c Abs. 4a und 4b KWG zugrundelegen wird, ist unklar. Dieser Katalog ist, wie oben gezeigt, eine eigene Ableitung des deutschen Gesetzgebers ohne irgendwelche EU-rechtlichen Impulse. Es spricht deshalb einiges dafür, dass die EZB ihre eigenen Vorstellungen davon entwickeln wird, was die Geschäftsleiter als Kollektiv und persönlich alles sicherstellen müssen. Nur so kann sie in ihrem Beritt eine einheitliche Aufsicht gewährleisten.
VI. Zusammenfassung und Thesen Art. 3 und Art. 4 des Trennbankengesetzes sind nicht nur im System des Strafrechts, sondern auch im System des Aufsichtsrechts verwirrend. Nach den vorstehenden Ausführungen kann aber festgehalten werden: – Die neuen Geschäftsleiterpflichten sollen die in §§ 25a Abs. 1 KWG, 64a Abs. 1 VAG normierten Pflichten „konkretisieren“. Diese sind Ausdruck eines selbständigen aufsichtsrechtlichen Pflichtenkanons, der unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens gilt. Die Annahme einer Ausstrahlungswirkung oder Schrittmacherfunktion dieser Normen für das Aktienrecht geht deshalb fehl. – Der neue Pflichtenkatalog für Geschäftsleiter ist umfangreich und gespickt mit Begriffen, die immense Auslegungsspielräume eröffnen. Die angestrebte Konkretisierung gelingt damit nicht. Wie schon bei § 25a KWG und den MaRisk kommt man um eine Bewertung des Einzelfalls nicht herum. Indem der Gesetzgeber diese Bewertung in § 25c Abs. 4a und 4b KWG und § 64a Abs. 7 VAG an
Art. 4 Abs. 1 Buchst. e SSM-VO. Art. 4 Abs. 1 Buchst. f SSM-VO. Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 SSM-VO.
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sich zieht, unterbricht er den in den MaRisk angelegten fortlaufenden Dialog zwischen Praxis und Aufsicht zu Weiterentwicklungen im Risikomanagement. – Finanzmärkte sind kein naturwissenschaftliches Phänomen, sondern das Ergebnis des Handelns einer Vielzahl von Menschen. Risikomanagement ist demzufolge in hohem Umfang kontextbezogen. Vorbeugung gegen die Gefährdung eines Finanzunternehmens ist deshalb nicht vergleichbar mit der Entwicklung von Grenzwerten im Umweltrecht. – Auch bisher fehlte es der Aufsicht nicht an Befugnissen, ihre Vorstellungen von der angemessenen Organisation einer Bank oder eines Versicherers durchzusetzen. Mitunter hat der Gesetzgeber selbst vergessen, welche Befugnisse er schon geschaffen hat. Die §§ 6 Abs. 3 und 25a Abs. 1 Satz 8 KWG a.F./25a Abs. 2 Satz 2 KWG n.F. sind beredte Beispiele dafür. Insbesondere hat sie seit jeher die Befugnis, die Abberufung unzuverlässiger Geschäftsleiter zu verlangen (§ 36 KWG, § 87 Abs. 6 VAG). Der einzige Zweck einer Anordnung nach §§ 25c Abs. 4c KWG, 64a Abs. 8 VAG ist deshalb, die Anwendung der Strafvorschrift des neuen § 56a KWG bzw. § 142 VAG zu eröffnen. Mit einer solchen Anordnung ändert sich das Verhältnis zur Aufsichtsbehörde dramatisch. Die Geschäftsleiter und Mitarbeiter werden nun bei jeder Anfrage, jeder Sonderprüfung und jedem Aufsichtsgespräch sehr sorgfältig prüfen, ob sie von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen. Das wird der Aufsicht die Erkenntnisgewinnung und die Erfüllung ihrer eigenen Aufgaben deutlich erschweren. – Schließlich bleibt abzuwarten, wie die EZB in ihrer neuen Rolle als Aufseher der großen Banken in der Eurozone mit diesem nationalen Alleingang umzugehen gedenkt.
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Die neuen Straftatbestände des Trennbankengesetzes – ein weiteres Zeichen für die Unkultur des Unternehmens Strafrecht Gliederung 1. . . . . . . . . .
Einleitung Neuartigkeit des Straftatbestandes § a i.V.m. § c i.V.m. § a KWG § a Abs. und als extreme Blankettnormen Gesetzlichkeit schafft noch keine Bestimmtheit § a Abs. als „verwaltungsakzessorische Fristenlösung“? Rechtscharakter Regel-Ausnahme-Rückausnahme-Architektur Prozessuale Probleme Zweckverfehlung des Strafrechts Folgen für das „Unternehmen Strafrecht“ und die Strafrechtskultur Literaturhinweise
1. Einleitung Im Anfang war das Wort-Spiel. Darf man in einer Veranstaltung, die sich mit so ernsten Themen wie dem Wirtschaftsstrafrecht und seiner Bedeutung für die Unternehmenskultur befasst, einen Kalauer anbringen, in dem das Strafrecht selbst als Unternehmen bezeichnet wird? Und dann auch noch das schöne Wort von der Unternehmenskultur derart verballhornen, dass man dem „Unternehmen Strafrecht“ so etwas Hässliches wie „Unkultur“ anheftet? Dies mag die ersten Leser meines Vortragstitels so befremdet haben, dass in einem Entwurf für die heutige Tagesordnung zunächst statt vom „Unternehmen Strafrecht“ vom „Unternehmensstrafrecht“ die Rede war. Aber über die ständigen Bemühungen, ein Strafrecht für juristische Personen einzuführen, werde ich heute nicht sprechen – auch wenn ein ganz neuer Entwurf des Landes Nordrhein-Westfalen, der neben dem StGB ein eigenes Verbandsstrafgesetzbuch (VerbStrG) schaffen soll, genug Anlass wäre, darüber zu reden, was aus dem geworden ist oder zu werden droht, was man Strafrechtskultur nennt. Es geht mir stattdessen in der Tat darum, dass wir uns einmal experimentell vorstellen, es gäbe so etwas wie ein „Unternehmen Strafrecht“. Also um den
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Versuch, die gesamte Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis mit einem Privatunternehmen der Realwirtschaft, des Versicherungs- oder Kreditwesen zu vergleichen. In diesem Fantasiegebilde wären dann der BGH so etwas wie eine Konzernholding, die Strafrechtslehre so etwas wie ein Aufsichtsrat, das Bundesverfassungsgericht eine unabhängige Aufsichtsbehörde und der Strafgesetzgeber eine Art repräsentativ demokratische Satzungsversammlung. Wie jedes Privatunternehmen käme auch dieser gedachte Konzern nicht ohne unternehmerische Risiken aus. Seine Produkte und sein Management könnten fehlerbehaftet und sogar schädlich sein. Und nicht einmal gegen die Gefahr, insgesamt zu scheitern, wäre unsere „Fima Strafrecht“ gefeit. Einen Beitrag zu einer derartigen Bestandsgefährdung könnte die seit einiger Zeit bestehende Neigung der Führungskräfte und Mitarbeiter leisten, die der Qualitätssicherung geltenden Regeln nicht mehr einzuhalten und die Arbeitsabläufe mehr und mehr durch informelle und bequeme Handhabungen eigentlich streng formalisierter gesetzlichen Vorgaben zu bestimmen. Eine wirksame Vorsorge gegen eine Bestandsgefährdung des Unternehmens Strafrecht wäre sicherlich die durch das Bundesverfassungsgericht ausgeübte Erziehung des Strafgesetzgebers zu leicht verständlichen und damit einhaltbaren Regeln mit transparenten Kriterien zur Vermeidung von mangelhaften Produkten wie Willkürentscheidungen und Fehlurteilen. Als weitere „Compliance-Maßnahme“ im Unternehmen Strafrecht würde ich gerne eine Vorsorge dagegen postulieren, dass es für andere Zwecke als sein „Kerngeschäft“ missbraucht wird. Die beste Voraussetzung dafür wäre eine aus dem StGB und der StPO bestehende Unternehmenssatzung, die sicherstellt, dass wirklich nur Strafwürdiges und einer sauberen Beweisführung Zugängliches mit Sanktionen bedroht wird. Da das staatliche Strafen eine ebenso archaische wie eigentlich ziemlich primitive Waffe gegen Rechtsbrüche ist (Einsperren!), sollten die Voraussetzungen auch so klar und verständlich formuliert sein wie z. B. § 242 StGB: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird … bestraft.“
2. Neuartigkeit des Straftatbestandes § 54a KWG Vergleichen wir damit jetzt einmal den neuen Straftatbestand des § 54a KWG: (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen § 25c Absatz 4a oder § 25c Absatz 4b Satz 2 nicht dafür Sorge trägt, dass ein Institut oder eine dort genannte Gruppe über eine dort genannte Strategie, einen dort genannten Prozess, ein
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dort genanntes Verfahren, eine dort genannte Funktion oder ein dort genanntes Konzept verfügt, und hierdurch eine Bestandsgefährdung des Instituts, des übergeordneten Unternehmens oder eines gruppenangehörigen Instituts herbeiführt. (2) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) Die Tat ist nur strafbar, wenn die Bundesanstalt dem Täter durch Anordnung nach § 25c Absatz 4c die Beseitigung des Verstoßes gegen § 25c Absatz 4a oder § 25c Absatz 4b Satz 2 aufgegeben hat, der Täter dieser vollziehbaren Anordnung zuwiderhandelt und hierdurch die Bestandsgefährdung herbeigeführt hat.
Bei der in Absatz 3 bezeichneten Rechtsgrundlage für die BaFin-Anordnung mit Fristsetzung beschränke ich mich auf die Wiedergabe jenes § 25c Abs. 4c: Wenn die Bundesanstalt zu dem Ergebnis kommt, dass das Institut oder die Gruppe nicht über die Strategien, Prozesse, Verfahren, Funktionen und Konzepte nach Absatz 4a und 4b verfügt, kann sie, unabhängig von anderen Maßnahmen nach diesem Gesetz, anordnen, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die festgestellten Mängel innerhalb einer angemessenen Frist zu beseitigen.
Und die „dort genannte“ Weiterverweisung führt geradewegs zu dem Einleitungssatz des § 25a Abs. 1 Nr. 1 KWG: „Eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation muss insbesondere ein angemessenes und wirksames Risikomanagement umfassen, auf dessen Basis ein Institut die Risikotragfähigkeit laufend sicherzustellen hat; das Risikomanagement umfasst insbesondere 1. die Festlegung von Strategien, insbesondere die Festlegung einer auf die nachhaltige Entwicklung des Instituts gerichteten Geschäftsstrategie und einer damit konsistenten Risikostrategie, sowie die Einrichtung von Prozessen zur Planung, Umsetzung, Beurteilung und Anpassung der Strategien: …„
Und was dann folgt, verdient erst einmal einen Blick auf den Wortreichtum, also auf die quantitative Besonderheit dieses gesetzestechnischen „Outsourcings von Tatbestandsmerkmalen“ aus der Strafnorm selbst. Anders als der Diebstahlsparagraf ist nämlich der KWG-Straftatbestand aus sich selbst heraus noch gar nicht verständlich. Zwar setzt auch § 242 StGB die Kenntnis des im BGB geregelten Unterschieds zwischen Mein und Dein voraus. Aber dazu bedarf es keiner ausdrücklichen Verweisung, weil dies allgemein bekannt ist. Dagegen sind noch nicht einmal die Adressaten („tauglichen Täter“) des § 54a KWG aus dieser Norm selbst erkennbar. Das erfährt man erst aus einer anderen Norm und den „dort genannten“ Verantwortlichen für die ebenfalls dort genannten strafbewehrten Handlungs- und Organisationspflichten.
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3. § 54a Abs. 1 und 2 als extreme Blankettnormen Was infolge dieser Bezugnahme durch den Straftatbestand alles zu Strafbarkeitsvoraussetzungen wird (also der angeblich nur [eine] „Absatz 4a“ und der [eine] „Satz 2“ aus Absatz 4b in § 25c KWG), erstreckt sich im Bundesgesetzblatt über fünf Spalten und umfasst in Wahrheit 38 typografische Absätze mit rund 11.000 Schriftzeichen. Um das Textvolumen anschaulich zu machen, habe ich diese „Absätze“ in der folgenden Ablichtung aus dem Bundesgesetzblatt grau unterlegt:
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Soviel zu dem sprachlichen Volumen der Tatbestandsmerkmale. Nun zum Inhaltlichen: Diese Textbausteine stammen weitgehend als eine 1:1‐Kopie aus der ursprünglich für die interne Verwaltungspraxis bestimmten „Mindestanforderungen an das Risikomanagement, die sich an Kreditinstitute richten (MA-Risk BA)“. Sie hatten bis dahin keinen Gesetzesrang und waren gerade durch die zahlreichen darin vorkommenden Gummibegriffe besonders gut geeignet, einer flexiblen und nicht zwingend obrigkeitlich praktizierten prinzipienorientierten Aufsichtspraxis als Orientierung zu dienen. Schon deshalb können sie nicht als Voraussetzungen für das zwingend obrigkeitliche Bestrafen geeignet sein.
4. Gesetzlichkeit schafft noch keine Bestimmtheit Die Verlagerung dieser Umschreibungen von schönen Compliance-Vorkehrungen in das Kreditwesengesetz diente allein dazu, als Bezugsgrößen für den neuen Straftatbestand des § 54a KWG dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG formal Genüge zu tun. „Formal“ soll heißen: Da hängen sie nun, die Risikomanagementpflichten, wie jener Hut auf der Stange in Schillers Wilhelm Tell, den
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jeder Altdorfer, der daran vorbeikam, so zu grüßen hatte, als stünde da der wahre Reichsvogt Gessler. Aber ebenso wenig wie ein Besenstiel dadurch, dass man einen Hut darauf stülpt, zur Person wird, kann man durch die bloße Verlagerung von langer Verwaltungslyrik in das Bundesgesetzblatt die vom Grundgesetz geforderte Gesetzlichkeit von Strafbarkeitsvoraussetzungen herstellen. Ist diese Methode einer Scheinerfüllung des Gesetzesvorbehalt schon bedenklich genug, so erweist sich der zweite in Art. 103 Abs. 2 GG steckende Verfassungsgrundsatz, das Erfordernis der Bestimmtheit von Strafbarkeitsvoraussetzungen, als geradezu sträflich vernachlässigt, wenn man sich die „Strategien, Prozesse, Verfahren, Funktionen und Konzepte“, deren Fehlen oder Untauglichkeit zur „Sicherstellung“ des Bestandes der Bank die Strafbarkeit begründen soll, näher anschaut. Da wimmelt es von denkbar unbestimmten Vokabeln, die im Zusammenhang mit dem Regelungsgegenstand der MA-Risk als „Gummibegriffe“ ihren Zweck erreichen mögen, aber als Tatbestandsmerkmale für eine Strafnorm ungeeignet sind, den vom Bestimmtheitsgebot verfolgten verfassungsrechtlichen Sinn zu erfüllen. Ich liste sie einfach nur auf: – „Gesamtverantwortung“ – „Sorge tragen“ – „Strategien“ – „Prozesse“ – „Verfahren“ – „Funktionen und Konzepte“ – „nachhaltige Entwicklung“ – „konsistente Risikostrategie“ – „Gesamtziel“ – „wesentliche Geschäftsaktivität“ – „Maßnahmen … dokumentieren“ – „Verfahren zur Ermittlung und Sicherstellung der Risikotragfähigkeit“ – „Verantwortungsbereiche (klar abgrenzen)“ – „Kommunikationswege (klar definieren)“ – „keine miteinander unvereinbaren Tätigkeiten (ausüben)“ – „internes Kontrollsystem“ – „Compliance“ – „in angemessenen Abständen (über Risikosituation berichten)“ – „angemessene Stresstests“ – „angemessene personelle und technisch-organisatorische Ausstattung“ – „in zeitkritischen Aktivitäten und Prozessen angemessene Notfallkonzepte“ – „regelmäßige Überprüfung der Angemessenheit … des Notfallkonzeptes“ – „angemessene Verfahren und Konzepte, um übermäßige zusätzliche Risiken durch Auslagerungen zu vermeiden“
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Die verfassungsrechtlichen Bedenken u. a. gegen einen so mit Softlaw ausgefüllten Straftatbestand konnten wir trotz des ungewöhnlich eiligen Gesetzgebungsverfahrens (Wahlkampf!) durch eine DAV-Stellungnahme¹ und in einem Fachaufsatz² noch kurz vor der entscheidenden Sitzung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages veröffentlichen.
5. § 54a Abs. 3 als „verwaltungsakzessorische Fristenlösung“? Rechtscharakter Und dann geschah etwas seltenes: Die Abgeordneten nahmen die Kritik zum Anlass, sich buchstäblich über Nacht darauf zu einigen, dass der Tatbestand des § 54a Abs. 1 KWG noch durch den Absatz 3 und der § 25c KWG durch den Absatz 4c erweitert wurden. Außerdem wurde der Katalog der „Sicherstellungspflichten“ in § 25c KWG durch sprachlich etwas rätselhafte Änderungen „verschönert“. Sie bestehen im Wesentlichen darin, dass an 21 Stellen die Vokabel „sicherzustellen“ durch die Formel „Sorge zu tragen“ ersetzt wurde. Was dadurch an Gesetzesbestimmtheit gewonnen sein soll, bleibt unklar. Aber der Schwerpunkt der Last-Minute-Änderungen soll ja in dem neu eingeführten Abs. 3 des § 54a KWG liegen. Er führt eine Art aufsichtsakzessorische Fristenlösung ein. Es stellt sich aber die Frage, welchen Rechtscharakter die Gesetzgeber dieser Norm verleihen wollten. Darüber waren sich offenkundig die Verfasser selbst nicht im Klaren. In der BT-Drucksache, die den Absatz 3 vorschlug, heißt es, es handele sich um eine „Ergänzung des Strafausschließungsgrunds der Zuwiderhandlung gegen vollziehbare Anordnung der BaFin im Kreditwesengesetz ….“ Da ist in der Eile des Gesetzgebungsverfahrens sprachlich einfach alles durcheinandergeraten: Wie kann eine Zuwiderhandlung gegen irgendetwas (hier: eine vollziehbare Anordnung) ein Grund sein, die Strafbarkeit auszuschließen? Was ist ein „Strafausschließungsgrund“? Jedenfalls nichts, was im Gesetz beginnt mit den Worten: „Die Tat ist (nur) strafbar,wenn… .“! Es muss vielmehr eine an sich gegebene Strafbarkeit unter bestimmten Voraussetzungen entfallen. Die im StGB enthaltenen Beispiele für Strafausschließungsgründe (Strafvereitelung zugunsten von Angehörigen oder Geldwäsche an der Beute eigener Vortaten) zeichnen sich alle durch zwei Merkmale aus: Die Tat ist eigentlich objektiv und subjektiv vollendet begangen, aber das Strafbedürfnis fehlt aus persönlichen Gründen. Dies kommt dann aber jeweils nur dem Täter oder Teilnehmer zugute, in dessen Person der Ausschließungsgrund vorliegt. Das kann nicht gemeint sein.
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Vermutlich ist das Gegenteil von dem gemeint, was gesagt wird: Eine zusätzliche Bedingung der Strafbarkeit. Dann würde sich die Frage aufdrängen, ob hier an die Rechtsfigur der „objektiven Strafbarkeitsbedingung“ gedacht wurde. Auch so etwas gibt es im Strafrecht an verschiedenen Stellen. Dabei geht es jeweils um die Tat verschlimmernde Umstände, für die der Täter aber nichts kann, bei deren Fehlen aber das Strafbedürfnis entfällt. Die Merkmale von objektiven Strafbarkeitsbedingungen sind: Sie begründen zwar die Strafbarkeit, enthalten aber selbst keinen eigenständigen rechtsethischen Vorwurf. Sie sind schuldunabhängig, d. h. sie brauchen von Vorsatz oder Fahrlässigkeit nicht erfasst zu sein. Sie sind Umstände, die außerhalb der Tatbestandsvollendung liegen und bestehen aus Tatfolgen, deren Eintritt das an sich noch nicht verwerfliche Tun oder Unterlassen erst strafwürdig werden lässt. Sie sind dem Täter und dem Teilnehmer zuzurechnen. Beispiele solcher objektiven Strafbarkeitsbedingungen sind: – § 323a StGB, die Vollrauschtat: Sich so zu betrinken, dass man nicht mehr weiß, was man tut, ohne einen Schaden anzurichten, ist für sich genommen nicht strafwürdig. Wer dasselbe tut und in diesem Zustand einen Menschen erschlägt, wird wegen der durch seinen Suff bedingten Schuldunfähigkeit zwar nicht wegen Totschlags, aber nach § 323a StGB wegen des folgenschweren Vollrauschs bestraft. – StGB § 231 (Beteiligung an einer Schlägerei) Wer sich an einer Schlägerei oder an einem von mehreren verübten Angriff beteiligt, wird schon wegen dieser Beteiligung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn durch die Schlägerei oder den Angriff der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung (§ 226) verursacht worden ist. Mit solchen Konstellationen hat der § 54a KWG nichts gemeinsam. Ein „Zuwiderhandeln“ gegen eine behördliche Anordnung ist kein vom Täterverhalten unabhängiges Geschehen, für das er nichts kann. Und die Strafbarkeit ausschließen kann weder das Bestehen einer vollziehbaren Anordnung noch ihre Zuwiderhandlung. Was ist es aber dann? Das Zusammenspiel zwischen Absatz 1 und Absatz 3 ergibt nur dann einen Sinn, wenn man die Existenz und die Verletzung einer vollziehbaren Anordnung der Aufsichtsbehörde als zusätzliche Tatbestands-
Deutscher Anwaltverein (Ausschuss Strafrecht) Stellungnahme Nr. 29/2013 zum strafrechtlichen Teil des Trennbankengesetzes, NZG 2013, 577 ff. Hamm/Richter Symbolisches und hypertrophes Strafrecht im Entwurf eines Trennbankengesetzes, WM 2013, 865 ff.
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merkmale versteht. Gleichzeitig ist es aber auch eine Ergänzung des Fahrlässigkeitstatbestandes in Absatz 2.
6. Regel-Ausnahme-Rückausnahme-Architektur Das führt dann immer noch zu einer Regel-Ausnahme-Rückausnahme-Architektur, deren Verständnis einer Denksportaufgabe gleichkommt, zu deren Lösung man am Besten grafische Hilfsmittel verwendet. Bei der Präsentation während des Vortrags waren dies Ampelfarben: Grün für „nicht strafbar, gelb für Bestrafungsoder auch nur Verfolgungsrisiko und rot für strafbar. Übersetzt auf den hier verwendeten Schwarz-Weiß-Druck lassen sich die Szenarien wie folgt auflisten: – Wer alle gesetzlichen „Sorgetragungspflichten“ erfüllt, wird nicht bestraft. – Wer sie nicht erfüllt, wird deshalb allein auch noch nicht bestraft. – Erst wenn die BaFin das merkt und eine vollziehbare Anordnung mit Fristsetzung erlässt, entsteht ein Bestrafungsrisiko. – Wer die Anordnung fristgerecht befolgt, wird, auch wenn er vorher schwer gesündigt hat, nicht bestraft. – Erst wenn bei Fristablauf immer noch „etwas fehlt“, die Geschäftsleitung also der Anordnung „zuwiderhandelt“, wird, wenn die Anordnung vollziehbar geworden ist und die Bank infolge der Zuwiderhandlung und infolge der Verstöße gegen den Pflichtenkatalog zur Risikominimierung in ihrem Bestand gefährdet wurde, bestraft. – Ist der Bestand der Bank letztlich doch nicht gefährdet oder kann die Gefährdung auch auf anderen Ursachen beruhen, wir wiederum nicht bestraft.
7. Prozessuale Probleme Bei den beiden letztgenannten Szenarien wird deutlich, dass das Ganze ja auch noch eine strafprozessuale Seite hat: Wie beweist man auf dem Gebiet der multiplen und sich überlagernden Risikovorsorgepflichten die Kausalität zwischen dem Fehlen einzelner „Strategien, Prozesse, Verfahren, Funktionen und Konzepte“ und dem Auftreten einer Bestandsgefährdung, zumal wenn die Bank hinterher gerettet wird? Und wie beweist man die Kausalität zwischen der Zuwiderhandlung gegen die vollziehbare Anordnung und der u.U. schon lange davor angelegten Bestandsgefährdung? Ein Arzt, der einen Kunstfehler an einem danach gestorbenen Patienten begangen hat, wird stets freigesprochen, wenn nicht auszuschließen ist, dass der Tod des Patienten auch bei einer Behandlung lege artis eingetreten wäre. Der Ge-
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schäftsleiter eines Kreditinstituts, der eine durch die BaFin mit Fristsetzung angemahnte Maßnahme für Blödsinn hielt, bevor dann eben doch eine Bestandsgefährdung eingetreten ist, wird sich auch damit verteidigen können, dass die Beinahe-Pleite auf ganz andere Faktoren zurückzuführen ist, für die er nichts kann und auf die auch die BaFin nicht hingewiesen hatte. Ob die vollziehbare Anordnung zu Recht erging, ist weniger eine Frage nach Tatsachen als eine nach Wertungen. Hierüber müssten, wenn es je an ein Strafgericht gelangen sollte, vermutlich Sachverständigengutachten eingeholt werden. Dabei könnte herauskommen, dass zwar bezogen auf den einen Gummibegriff, zu dem sie eine Abhilfemaßnahme anordnete, die Aufsichtsbehörde richtig lag, bezogen auf den anderen aber falsch, als sie insoweit keine Anordnung traf. Soll dann allein die Existenz einer vollziehbaren Anordnung trotz ihres unrichtigen Inhalts die Strafbarkeit begründen, nur weil eine andere Risikovorsorgemaßnahme unterblieben war, was aber auch die BaFin gar nicht erkannt hatte? Gibt hier vielleicht sogar so etwas wie eine „Über-Kreuz-Kausalität“? Die zu Unrecht beanstandete Nichtberücksichtigung „stiller Lasten“ im Modell der Prüfung der Risikotragfähigkeit war für den wirtschaftlichen Fortbestand letztlich ganz ungefährlich, weil es gleichzeitig eine Kapitalerhöhung gab, während die von der BaFin übersehenen Mängel in der Organisation eines internen Kontrollsystems tatsächlich zur Bestandsgefährdung beitrugen. Und wie ist es, wenn ganz unvorhersehbare Außeneinflüsse – wie der völlige Zusammenbruch eines Finanzmarktsektors oder die unbegründete Aufkündigung einer Kreditlinie durch eine andere Bank – eine Kettenreaktion verursachten, die auch von der Finanzaufsicht vorher nicht für möglich gehalten wurde? Solche Beispiele sind nicht erfunden. Die Sache mit den stillen Lasten und der Risikotragfähigkeit ist derzeit Gegenstand einer Anklage gegen die Vorstände einer Landesbank noch ganz ohne das neue Trennbankenstrafrecht.³ Die Staatsanwaltschaften haben nämlich für den Fall des Scheiterns des Untreuevorwurfs einen Auffangtatbestand entdeckt: Falschdarstellung (der Risikolage) nach § 331 HGB. Er ist nicht spezifisch auf Banken gemünzt, setzt einen unrichtigen oder die Verhältnisse der Kapitalgesellschaft verschleiernden Jahresabschluss voraus, wozu man auch den Lagebericht zählt. Und er kommt ohne das Merkmal der Bestandsgefährdung aus. Damit erspart man sich auch die Definition dieses schillernden Begriffs und die Beweisprobleme hinsichtlich der Ursachen. Was ist eine Bestandsgefährdung? Ist der Patient tot, bestand vorher Lebensgefahr. Aber wann ist eine noch funktionierende und aktive Bank in ihrem Bestand gefährdet? Von dem einen oder anderen großen Kreditinstitut, dessen Aktien und dessen Erträge gerade wieder steigen, hat es mal geheißen, es sei in der Finanzkrise und sogar ein paar Jahre vorher einmal durch schweres Fahrwasser gesegelt. Früher habe eine Art informeller Solidarverbund der Banken geholfen,
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um den Ruf des Kreditwesens nicht durch eine Kettenreaktion zu gefährden, in der Finanzkrise war es der staatliche Rettungsschirm. Wären solche überwundenen Krisen dann künftig stets im strafrechtlichen Sinne als Bestandsgefährdungen zu werten? Ja, es gibt im KWG sogar eine Legaldefinition in § 48b Abs. 1 S. 2.Wer sich aber als Strafrechtler diese Definition ansieht, wird darin nichts Geringeres als einen Verstoß gegen ein anderes Prinzip finden: den Zweifelssatz (in dubio pro reo). Denn unter den dort genannten Voraussetzungen wird die Bestandsgefährdung schlicht „vermutet“. BaFin und Abschlussprüfer mögen damit gut leben können, aber es ist Gift für das Strafrecht, dem jede Beweislastumkehr schon aus verfassungsrechtlichen Gründen fremd zu sein hat. Niemand darf wegen einer bloßen Vermutung bestraft werden. Das wäre eine Verdachtsstrafe.
8. Zweckverfehlung des Strafrechts Mein Verdacht geht dahin, dass der Gesetzgeber gar nicht die Absicht verfolgt, Vorstandsmitglieder von Banken ins Gefängnis zu werfen oder auch nur auf die Anklagebänke zu setzen. In Wahrheit dürfte der Sinn und Zweck des Absatz 3 (und damit der ganzen Strafnorm) sich darin erschöpfen, der Verwaltungsbehörde ein neues Droh- und Druckmittel in die Hand zu geben, um möglichst effizient ihren Willen durchzusetzen. Damit mag man nach dem Schock der Finanzkrise die Hoffnung auf den utopischen „Idealzustand“ verbinden, dass es am Ende nur noch Banken gibt, die nach dem Muster „im Zweifel gegen das Risiko“ jedwede „Sorge tragen“ und den Aufsichtsbeamten aus lauter Angst vor dem Staatsanwalt die Wünsche von den Augen ablesen.
Die Strafkammer hat das Hauptverfahren eröffnet, aber nach 10 Verhandlungstagen am 11.04. 2014 nach Anhörung eines Sachverständigen zur Frage der Konsistenz des RTF-Überprüfungsmodells der Bank vorgeschlagen, das gesamte Verfahren nach § 153a StPO einzustellen. Der förmliche und mit Gründen versehene Vorschlag der Kammer enthielt u. a. die Sätze: „Die Kammer teilt … die Auffassung des Sachverständigen, dass das Modell, mit welchem die LBBW die Risikotragfähigkeit berechnet hat, … Mängel aufwies. Die Kammer sieht aber auch, dass es damals noch keine allgemein verbindlichen Standards zur Berechnung der Risikotragfähigkeit gab, sondern sich die Modelle erst in der Entwicklung befanden. Die Aufsicht hat hier eine eher beobachtende Haltung eingenommen… . Einen materiellen Schaden haben die Angeklagten … niemandem zugefügt. Ziel der Angeklagten in der damaligen Situation war es vielmehr, in Erwartung der Kapitalerhöhung, weiteren Schaden von der Landesbank Baden-Württemberg abzuwenden …“
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Nach § 25c Abs. 4c kann die BaFin anordnen, dass „geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die festgestellten Mängel innerhalb einer angemessenen Frist zu beseitigen“. Was geeignet ist, definiert die Behörde, die sich jetzt zu neuer Strenge veranlasst sehen darf. Vielleicht wird sie sogar geltend machen, dass allzu viel Großzügigkeit in der Aufsichtspraxis strafrechtliche Gefährdungen der Bediensteten selbst auslösen könnten. Das liegt zwar rechtsdogmatisch fern, aber ich habe aus der Anfangszeit des StGB-Umweltstrafrechts noch sehr gut den Fall in Erinnerung, in dem die StA Frankfurt den Werksleiter eines Chemieunternehmens am Main zusammen mit dem Wasserrechtsdezernenten des Regierungspräsidiums auf die Anklagebank setzte, weil er nach Auffassung der StA die Grenzwerte für die Belastung des aus einer neuen Kläranlage in den Fluss eingeleiteten Abwassers zu flexibel festgesetzt hatte.⁴ Verurteilt wurden sie am Ende zwar beide nicht, aber das mehrjährige Verfahren über mehrere Instanzen hat nachhaltig das Verhalten der Umweltbehörden beeindruckt und beeinflusst. So etwas mag begrüßen, wer schon immer der Meinung war, die Wirtschaft im Allgemeinen und das Kreditwesen im Besonderen müssten mehr reguliert und an die staatliche Kandare genommen werden. Mag ja sein. Aber mit Strafrecht? Was ist das für ein Strafrecht, das sich der Verwaltungsbehörden bedient, um gleichsam über die Bande zu spielen: Im verwaltungsrechtlich und prozessual geregelten Rechtsverhältnis zwischen der Obrigkeit und den Bürgerinnen und Bürgern, wozu auch juristische Personen gehören, wird der staatlichen Macht eine Waffe in die Hand gegeben, die nicht zum gewöhnlichen Prozessarsenal verwaltungsgerichtlicher Auseinandersetzungen gehört und die das Chancengleichgewicht aus dem Lot bringt: Die Aufsichtsbehörde darf künftig allein schon den formellen Ungehorsam ihr gegenüber „kriminell“ nennen. Und der potentielle „Täter“ wird in vorauseilendem Gehorsam nachgeben und weder die Vollziehbarkeit noch die Verwaltungsakte selbst anfechten. Im Übrigen gibt es einen entscheidenden Unterschied zum auch verwaltungsakzessorischen Umweltstrafrecht: Die für die Risikotragfähigkeit einer Bank maßgeblichen Parameter bis hin zu den Eigenkapitalkennziffern sind gerade nicht vergleichbar mit den wasserwirtschaftlich festgelegten Belastungsgrenzwerten, deren Überschreitung aus einer befugten eine unbefugte Gewässerverunreinigung macht. Es gibt keine Skala, an der eine Genehmigungsbehörde den Wert ablesen oder wie in den Naturwissenschaften ausrechnen könnte, bis zu dem die stets vorhandenen Ausfall- oder Marktrisiken noch hinnehmbar sind und oberhalb derer sie verboten werden müssen. Da es keine Null-Risiko-Bankgeschäfte gibt, muss die Aufsicht sich darauf beschränken, darüber zu wachen, dass die Gesamtheit aller Einzel-
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risiken mit der Grundabsicherung durch Eigenkapital und den realistischen Geschäftschancen saldiert einen Fortbestand des Unternehmens im Interesse seiner Kunden, Gläubiger und Gesellschafter erwarten lassen. Dass dabei vieles auch unter Fachleuten streitig ist, weil bekanntlich und kalauerhaft jede Prognose dann besonders schwierig ist, wenn sie mit der Zukunft zu tun hat, wird schlagartig klar, wenn man in der Presse der letzten Tage die Diskussion darüber verfolgt, ob vielleicht sogar die EZB selbst, die ab dem Herbst 2014 die Verantwortung für die Aufsicht über die großen und systemrelevanten Banken von der BaFin übernimmt, mit ihrer Politik des billigen Geldes so etwas wie „Zombiebanken“ heranzüchtet – Banken, die ihre nicht mit Eigenkapital zu unterlegenden Engagements (z. B. in Staatsanleihen) zu 100 % auf Pump finanzieren.⁵ Ich verstehe nicht genug davon, um beurteilen zu können, ob das stimmt. Aber ich entnehme aus solchen Diskussionen, wie wenig Gewissheiten auf diesem Gebiet auch unter Fachleuten bestehen. Die dabei jeweils „richtige“ Lösung mit strafrechtlichen Mitteln zu erzwingen, „geht gar nicht“. Strafdrohungen dürfen im Rechtsverhältnis zwischen Behörden und den von ihnen Beaufsichtigten jedenfalls nichts beitragen, was den gesetzlich geregelten Rechtsschutz faktisch abkürzt oder gar abwürgt. Die von der Exekutivbehörde ausgelöste Strafdrohung schafft aber eine Nötigungslage mit dem Ziel, Bankvorstände unabhängig davon zum Nachgeben zu bewegen, ob die angeordneten Maßnahmen rechtmäßig, effektiv, wirkungslos oder sogar kontraproduktiv sind. So atmet dieses neue Strafrecht den Geist eines vordemokratischen und vorrechtsstaatlichen Obrigkeitsdenkens. Wer als Bankvorstand nicht nach der Devise handelt: „Das Amt hat immer Recht“, riskiert ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren, das dann aber vermutlich in der Praxis nur deshalb ausbleibt, weil die mit solchen Drohwerkzeugen ausgestattete Obrigkeit regelmäßig ihren Willen durchsetzt, noch bevor er auf seine Rechtmäßigkeit gerichtlich geprüft werden konnte.
9. Folgen für das „Unternehmen Strafrecht“ und die Strafrechtskultur Damit stellt sich aber abschließend die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, über das Risikomanagement im Kreditwesen hinaus auch für die Kriminal- und Rechtspolitik so etwas wie ein „Strafrechtsrisikomanagement“ zu verlangen. Mit einem
Eine Zwischenphase des jahrelangen Verfahrens ist in OLG Frankfurt NJW 1987, 2753 dokumentiert.
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Katalog von Mindeststandards, der das Risiko für die Bürgerinnen und Bürger, sich strafbar zu machen, ebenso wie das Risiko für den Gesetzgeber, das System des rechtsstaatlichen Strafrechts in seinem Bestand zu gefährden, besser kalkulierbar machen würde. Die richtige Antwort lautet: So etwas haben wir doch schon. Es kommt mit viel weniger Wörtern und Schriftzeichen aus als die angeblich zwei neuen Absätze in § 25c KWG, ist aber auch viel besser zu verstehen als jene. Es steht in Artikel 103 Abs. 2 GG und lautet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Eine Gesetzgebung, die gleichwohl Strafe androht, ohne hinreichend klar zu bestimmen, in welchem Handeln oder Unterlassen die „Tat“ bestehen soll, gefährdet das verfassungsrechtlich verankerte Strafrechtssystem. Dies gilt umso mehr, als das neue Bankenstrafrecht sich auch völlig löst vom Prinzip der individuellen Schuld, indem es im Wege der pauschalen Zuschreibung von Kollektivverantwortung „die Geschäftsleitung“ ganz undifferenziert dafür in die strafrechtliche Haftung nimmt, dass „das Institut“ über eine der vielen „Strategien, Prozesse, Verfahren, Funktionen und Konzepte“ nicht (ausreichend) verfügt. So gesehen wäre es vielleicht doch noch lohnend, der Verwandtschaft zwischen dieser Art von „Organstrafrecht“ und den Plänen um die Einführung eines Verbandstrafrechts nachzugehen, bei dem dann gleich die juristische Person auf die Anklagebank gesetzt (und dort wiederum durch die Geschäftsleiter vertreten) wird. Dazu nur so viel: So sehr ich dagegen bin, dass wir uns vom Prinzip des individuellen Verschuldens als Wesensmerkmal des Strafrechts verabschieden, so sehr sehe auch die Gefahr, dass uns dagegen die Argumente allmählich ausgehen, wenn sich bereits das hier vorgestellte symbolische Organstrafrecht kollektiv gegen ganze Gremien richtet – ohne Rücksicht auf Ressortzuständigkeiten und ohne Rücksicht auf eine persönliche Befassung des jeweiligen Vorstandsmitglieds mit der streitigen „Sorgetragungspflicht“. Aber das wäre noch ein weiterer Einwand gegen das insgesamt schlechte neue Trennbankenstrafrecht. Mir kam es darauf an, Sie darauf hinzuweisen, dass vor dem Hintergrund dieser Problemlagen mein eingangs Ihnen vorgestelltes Fantasiegebilde „Unternehmen Strafrecht“ und der Vergleich mit dem Wirtschaftsunternehmen doch nicht so abwegig und befremdlich ist, wie es zunächst erschien. Und meine Hoffnung ist die, dass Sie jetzt auch meine Parallele zwischen dem Topos der Unternehmenskultur und dem der Strafrechtskultur ebenso nachvoll-
Plickert/Mussler FAZ v. 11.10. 2013.
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ziehen können wie meine Warnung vor einer „Unkultur“ der derzeitigen Kriminalpolitik. Und ich getraue mich sogar, das von der einen oder anderen Bank seit einiger Zeit gerne verwendete Schlagwort vom überfälligen Kulturwandel nun auch noch für das „Unternehmen Strafrecht“ zu postulieren. Dabei bin ich mir bewusst, dass das im einen wie im anderen Falle nicht von heute auf morgen möglich ist. Aber wer, wenn nicht die hier versammelten Strafrechtswissenschaftler, Praktiker und beobachtenden Teilnehmer am Bankenwesen sollen diese Aufgabe anpacken?
10. Literaturhinweise Ahlbrecht Banken im strafrechtlichen Regulierungsfokus – Trennbankengesetz und Steuerhinterziehungsinstitute, BKR 2014 98 ff. Beukelmann Strafbarkeit von Bankern bei fehlendem Risikomanagement, NJW-Spezial 2013 120. Brand Konfliktherde des § 54a KWG, ZVglRWiss 113 (2014) 142 ff. Cichy/Cziupka/Wiersch Voraussetzungen der Strafbarkeit der Geschäftsleiter von Kreditinstituten nach § 54 a KWG n. F., NZG 2013 846 ff. Deutscher Anwaltverein (Ausschuss Strafrecht) Stellungnahme Nr. 29/2013 zum strafrechtlichen Teil des Trennbankengesetzes, NZG 2013 577 ff. Gehrmann Aufsatzüberblick Kapitalmarktsstrafrecht, wistra 2014 94, 96. Goeckenjan Die neuen Strafvorschriften nach dem sog. Trennbankengesetz (§ 54a KWG und § 142 VAG), wistra 2014 201 ff. Hamm/Richter Symbolisches und hypertrophes Strafrecht im Entwurf eines Trennbankengesetzes, WM 2013 865 ff. Hetzer Kriegserklärung der Finanzmafia?, Kriminalistik 2013 558 ff. Jahn Die strafrechtliche Aufarbeitung der Finanzmarktkrise, wistra 2013 41 ff. Kasiske Bestandsgefährdung systemrelevanter Kreditinstitute als eigener Straftatbestand? ZRP 2011 137 ff. ders. Das Kapitalmarktstrafrecht im Treibsand prinzipienorientierter Regulierung, ZIS 2013 257 ff. Krause Symbolische Gesetzgebung: Der strafrechtliche Teil des „Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen“ – ein fehlgeschlagener Versuch, FS Feigen, 2014 S. 113. Kubiciel Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht, ZIS 2013 53 ff. ders. Das Trennbankengesetz als Mittel zur Sittenbildung durch Strafrecht?, StV 2013 Editorial Heft 10. Richter, Thomas German bank and insurance execs face new criminal liabilities, IFLR Online, Regulatory Compliance and Enforcement Special Focus (www.iflr.com). ders. The new German law establishing criminal liability of banking and insurance executives for failures in risk management, Journal of Risk Management in Financial Institutions, Vol. 6 – 4 (2013) 433 ff.
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ders. The New German Ringfencing Act Establishing Criminal Liability of Banking and Insurance Executives for Failures in Risk Management: A Step Towards Corporate Criminal Liability?, Brodowski/Espinoza de los Monteros de la Parra/Tiedemann/Vogel (Hrsg.) Regulating Corporate Criminal Liability, 2014 S. 321 ff.. Schork/Groß/Wegner Bankenstrafrecht, 2013 Rn. 667 ff. Schork/Reichling Der strafrechtliche Schutz des Risikomanagements durch das sog. Trennbankengesetz, CCZ 2013 269 ff. Schröder Keine Strafbarkeitsrisiken für verantwortungsvoll handelnde Geschäftsleiter nach § 54a KWG, WM 2014 100 ff. Volk Strafrecht ohne Grenzen im neuen Trennbankengesetz, FS Schiller, 2014 S. 672 ff. WastlTrennbankengesetz, Strafrecht, verschärfte Sanktionen … oder einfach nur ein gesetzgeberisches Paradoxon? WM 2013 1401 ff.
Einzelfragen: Neues vom Insider
Gerson Trüg
Die Ausnutzung von Informationsasymmetrien als strafbare Handlung? – Insiderstrafrecht Gliederung I. II.
III.
Einleitung Exzeptionalität des Insiderhandelsstrafrechts . Die bloße Ausnutzung von Informationsasymmetrien als Kern des tatbestandlichen Unrechts . Die Ausnutzung von Informationsasymmetrien als in der Marktwirtschaft grundsätzlich legales und legitimes Verhalten . Notwendigkeit eines Insiderstrafrechts auch in rechtstatsächlicher Perspektive? . Notwendigkeit der Ausnutzung von Informationsgefällen unter Untreuegesichtspunkten? Analyse und alternatives Regelungskonzept . Re-Regulierung der Kapitalmärkte . Funktionen der Kapitalmärkte . Das kapitalmarktrechtliche Schutz- und Gewährleistungskonzept nebst Sicherung von Verfahrensabläufen (§ WpHG) . Nachvollziehbarkeit eines auch repressiven Schutzkonzeptes . Das Schutz- und Gewährleistungskonzept als Rechtsgut des § Abs. WpHG? . Zum Deliktstypus . Repressiver Schutz der sozialen Ordnung „Kapitalmarkt“ . Auswirkungen auf den europäischen Rahmen
I. Einleitung „Insiderhandel ist ein Angriff auf die freien Märkte. Seine Verbrechen spiegeln einen Virus in unserer Geschäftskultur wider, der ausgerottet werden muss.“¹ Diese starken Worte des Vorsitzenden Richters eines US-Bundesgerichts in Manhattan anlässlich der Urteilsverkündung gegen den Gründer der Hedgefonds-
So der Vorsitzende Richter eines Bundesgerichts in Manhattan anlässlich der mündlichen Urteilsverkündung gegen den Gründer der US-amerikanischen Hedgefonds-Gesellschaft Galleon Group, Raj Rajaratnam, im Oktober 2011, der zu einer elfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, vgl. auch http://www.law.du.edu/documents/corporate-governance/criminal/rajaratnam/Memoran dum-and-Order-US-v-Rajaratnam-S1– 09-CR-1184-SD-NY-August-16 – 2011.pdf (alle Weblinks zuletzt abgerufen am 08.02. 2014).
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Gesellschaft Galleon Group Raj Rajaratnam im Oktober 2011 gehen konform mit den weithin anzutreffenden kriminalpolitischen Programmen zur Bekämpfung des Insiderhandels als sozial schwer schädliches, nicht bloß unmoralisches Verhalten. Dieser Beitrag fällt in eine Zeit, in der die effektive Anwendung und Durchsetzung des Kapitalmarktstrafrechts erst begonnen hat, wobei namentlich in den USA in mehreren Fällen langjährige Haftstrafen wegen Insiderhandels verhängt sowie zuletzt Rekordgeldzahlungen iHv 1,8 Mrd USD durch die SEC gegen die SAC Capital erwirkt worden sind. Hierzulande wird ein strafbewehrtes Insiderhandelsverbot, obwohl noch nicht einmal ganz zwei Jahrzehnte alt, weithin als fester Bestandteil des strafrechtlichen Schutzes des Kapitalmarktes zumeist positivistisch hingenommen und die Frage, ob das Strafrecht überhaupt ein Mittel zur Bekämpfung des Insiderhandels sein sollte, nur noch vereinzelt gestellt und selbst dann nach kurzer Erörterung zumeist ohne tiefere Begründung bejaht.² Das kapitalmarktbezogene Insiderstrafrecht des § 38 Abs. 1 WpHG verweist als unechter Blanketttatbestand auf das außerstrafrechtliche Insiderhandelsverbot des § 14 WpHG. Die für § 14 WpHG zentralen Merkmale „Insiderpapiere“ und „Insiderinformation“ sind in den §§ 12 und 13 WpHG legal definiert. Der Gesetzgeber hat mit § 38 Abs. 1 WpHG weite Teile des Verstoßes gegen die Verbotsnorm strafbewehrt. Der nicht strafbewehrte Verstoß gegen das Insiderhandelsverbot unterfällt der Bußgeldvorschrift des § 39 Abs. 2 Nr. 3, 4 WpHG. In einen größeren Kontext gestellt wird das Insiderstrafrecht als Teil eines weiter auszubauenden kapitalmarktstrafrechtlichen Regelungskonzeptes verstanden, welches, die bisherige Entwicklung künftig weiter fortschreibend, in ein AnlegerVerbraucherschutzstrafrecht münden könnte. Dabei steht das Insiderstrafrecht neben Vorschriften wie dem Kapitalanlagebetrug (§ 264a StGB), dem Verleiten zu Börsenspekulationsgeschäften (§§ 49, 26 BörsG), dem strafbewehrten Verbot der Marktmanipulation (§§ 38 Abs. 2, 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 11, 20a WpHG) und neben Strafvorschriften, die das Vertrauen des Anlegers in die Richtigkeit und Vollständigkeit bestimmter Angaben einer (namentlich: Kapital‐) Gesellschaft schützen, etwa der unrichtigen Darstellung (§ 331 HGB, § 400 AktG) und auch der Sanktionsnorm der falschen Angaben gem. § 82 GmbHG. Schließlich ist an die Vorschrift über verbotene Geschäfte bzw. das Handeln ohne Erlaubnis gem. § 54 KWG und an die Verletzung der Geheimhaltungspflicht (§§ 333 HGB, 85 GmbHG,
Vgl. zu alledem und darüber hinaus näher Trüg Konzeption und Struktur des Insiderstrafrechts, 2014 (Mohr Siebeck).
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404 AktG, 151 GenG) als Bausteine des hier thematisierten kapitalmarktstrafrechtlichen Regelungskonzeptes zu denken. Auffallend ist bei alledem aber, dass der für Kapitalmärkte eher allgemein geforderte verstärkte Schutz auf die Erscheinungsform des Insiderhandels schlicht übertragen wird, ohne speziell gerade die Erforderlichkeit eines Insiderhandelsverbots aufzuzeigen, und erst recht ohne eine Begründung für die Notwendigkeit des Einsatzes von Kriminalstrafrecht zur Bekämpfung von Insiderhandel zu liefern. Ich möchte die Frage nach der Legitimation und Legitimität des Strafrechtseinsatzes stellen und werbe für eine andere Sicht auf die Dinge. Dabei gehe ich von folgender These aus: Das kapitalmarktbezogene Insiderstrafrecht ist als Bestandteil eines börslichen Insiderstrafrechts gemessen an der strafrechtlichen Ordnung exzeptionell. Eine tragfähige Begründung für die Bekämpfung mittels Strafrechts findet sich nicht. Zunächst zur Terminologie: Die Bezeichnung „börsliches Insiderstrafrecht“ ist veranlasst, weil ein Insiderhandelsverbot in Folge der „Verordnung über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts“ vom 25.10. 2011³ nunmehr auch auf den Energiegroßhandelsmärkten etabliert (vgl. Art. 3 Verordnung (EU) Nr. 1227/2011: regulation on wholesale energy market integrity and transparency – REMIT) und gem. § 95a Abs. 2 EnWG strafbewehrt ist.⁴ Die zugrunde liegende EU-Verordnung bezieht sich auf die Strom- und Gasmärkte insgesamt. Auch wenn der außerbörsliche Handel ebenfalls vom Schutzbereich umfasst wird, ist davon auszugehen, dass die Erstreckung des Insiderhandelsverbots gerade mit Blick auf den börslichen Handel von Energiegroßhandelsprodukten erfolgt ist.⁵ Ferner hat der Gesetzgeber durch Art. 3 Nr. 7 Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagerechts mit Wirkung zum 13.11.
Abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:326: 0001: 0016: DE: PDF. Jedenfalls seit dem Jahre 2005 wurde der Verdacht geäußert, die führenden deutschen Energieunternehmen „manipulierten“ die Energiepreise; weil die Strombörsen keiner behördlichen Aufsicht unterlägen, könnten Insiderhandel und Marktmanipulation unkontrolliert stattfinden, vgl. BT-Drucks. 17/4469, BT-Drucks. 17/4309; http://www.faz.net/s/RubEC1ACFE1EE274 C81BCD3621EF555C83C/Doc~EFEC7B59173F446DA9 A5C56 A1DB4265D2~ATpl~Ecommon~Scon tent.html; vgl. auch Höpping/Stuhlmacher RdE 2012, 416 ff. § 95a EnWG durch Gesetz vom 05.02. 2012 (BGBl. I, S. 2403), in Kraft seit 15.08. 2013. Wie bekanntlich auch vom Schutzbereich der §§ 14, 20a WpHG umfasste Finanzinstrumente ohne weiteres außerbörslich gehandelt werden können.
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2011⁶ das (strafbewehrte) Insiderhandelsverbot auf Transaktionen im Zusammenhang mit der Versteigerung von Treibhausgasemissionszertifikaten erstreckt und damit den Insiderhandel mit den genannten Zertifikaten jenem mit Finanzinstrumenten gleichgestellt (§ 38 Abs. 2a, 3, 4, § 39 Abs. 2c WpHG). Über ein wertpapierrechtliches Insiderhandelsverbot hinaus besteht mithin ein so bezeichnetes „börsliches“ Insiderhandelsverbot, dessen zentraler Baustein freilich das hier in Rede stehende Verbot des § 14 Abs. 1 WpHG (und dessen strafrechtliche Flankierung durch § 38 Abs. 1 WpHG) ist.Wesentlicher Bezugspunkt des Insiderhandelsverbots ist mithin nicht das jeweils gehandelte Produkt (Finanzinstrumente, Energiegroßhandelsprodukte oder Treibhausgasemissionszertifikate), sondern die Börse als Markt bzw. als Handelsplattform. Die hier so bezeichnete exzeptionelle Stellung des Insiderhandelsverbots bezieht sich daher auf diesen „börslichen“ Bezugsrahmen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf den wesentlichen Baustein, das kapitalmarktrechtliche Insiderverbot.
II. Exzeptionalität des Insiderhandelsstrafrechts Die exzeptionelle Stellung des kapitalmarktrechtlichen Insiderstrafrechts vor dem Hintergrund der sonstigen strafrechtlichen Ordnung lässt sich anhand folgender Erwägungen und sich stellender Fragen konturieren: – Kern des tatbestandlichen Unrechts des § 38 Abs. 1 WpHG ist die bloße Ausnutzung von Informationsasymmetrien, weitere deliktische Merkmale sind nicht erforderlich; – Handelt es sich aber – so ist zu fragen – bei der Ausnutzung von Informationsasymmetrien nicht um ein in der Marktwirtschaft grundsätzlich legales und legitimes Verhalten? Immerhin ist die Ausnutzung oder Verwendung von Informationsgefällen außerhalb des Anwendungsbereichs des börslichen Insiderstrafrechts – insbesondere auf den Märkten der Realwirtschaft – nicht strafbewehrt; – Besteht die Notwendigkeit eines Insiderstrafrechts in rechtstatsächlicher Perspektive?
Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagevermittler- und Vermögensanlagerechts v. 6.12. 2011 (BGBl. I 2011, S. 2481); ferner Vogel in: Assmann/Schneider,WpHG, 6. Aufl. 2012, § 38 Rn. 1, 47a ff.; vgl. auch Gehrmann in: Schork/Groß, Bankstrafrecht, 2013, § 5 Rn. 548, mit dem zutreffenden Hinweis, dass der Insiderhandel von Treibhausgasemissionszertifikaten auch dann strafbar ist, wenn der Insider ein Gebot zurückzieht und den Kauf unterlässt.
Die Ausnutzung von Informationsasymmetrien als strafbare Handlung?
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– Und schließlich: Besteht – als Argument gegen ein Insiderstrafrecht – gerade die Notwendigkeit der Ausnutzung von Informationsasymmetrien unter Untreuegesichtspunkten? Im Einzelnen zur Konturierung der These:
1. Die bloße Ausnutzung von Informationsasymmetrien als Kern des tatbestandlichen Unrechts Die Insiderinformation begründet gegenüber anderen Marktteilnehmern eine Informationsasymmetrie. Die Besonderheit des auf dem Insiderwissen beruhenden Informationsgefälles ist der zeitliche Vorsprung des Insiders. Insidergeschäfte werden gerade mit Blick auf das spätere Bekanntwerden der jeweiligen Information vorgenommen, weil dies zur – gewinnbringenden bzw. verlustvermeidenden – Realisierung des „richtigen“ Kurses des Finanzinstrumentes führt (bzw. führen soll). Der Insider lebt also sozusagen nicht von zu hütenden Geheimnissen, sondern davon, dass normativ gesehen alles für den organisierten Kapitalmarkt Relevante als allgemeines Wissen zugänglich werden wird, also von der „Zeitdifferenz“. Bereits das Ausnutzen der auf einer Insiderinformation (§ 13 WpHG) beruhenden Informationsasymmetrie bei Durchführung einer Transaktion bzw. die Weitergabe oder Empfehlung des auf einem solchen Informationsgefälle beruhenden Sachwissens bilden den Kern des tatbestandlichen Unrechts. Weitere deliktische Merkmale, etwa eine Täuschung, die Verletzung eines besonderen Nähe- oder Treueverhältnisses oder die Verwertung eines fremden (Geschäfts- oder Betriebs‐) Geheimnisses, sind für § 38 Abs. 1 WpHG nicht erforderlich. Dies begründet eine solitäre Stellung des Insiderstrafrechts dergestalt, dass der objektive Tatbestand kein typisches, aus anderen strafrechtlichen Kontexten bekanntes deliktisches Merkmal aufweist.
2. Die Ausnutzung von Informationsasymmetrien als in der Marktwirtschaft grundsätzlich legales und legitimes Verhalten Das Ausnutzen von Informationsasymmetrien bzw. von Informationsgefällen namentlich in Bezug auf künftige Wertentwicklungen gerade auf dem Gebiet der Privatwirtschaft ist zunächst als ökonomische Erscheinung in einer Marktwirt-
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schaft im Grundsatz legal und legitim, bleibt also weithin nicht nur straflos, sondern ist regelmäßig auch nicht bußgeldbewehrt. Dabei ist zu sehen, dass ein Teilnehmer am Wirtschaftsleben (homo oeconomicus) insgesamt (gerade) dann erfolgreich sein wird, wenn er sich vor Vertragsschluss oder sonstiger Durchführung eines Engagements bestmöglich informiert, d. h., auf die ihm [scil. nicht nur: jedermann] zugänglichen Informationen, verstanden als „werthaltige und elementare Wirtschaftsressourcen“, zurückgreift und diese bei der jeweiligen (namentlich Kauf-/Verkaufs‐) Entscheidung berücksichtigt, also auch „Insidertipps“ verwendet. Und auch übergeordnet kann die Ungleichverteilung von Informationen als unmittelbare Folge eines marktwirtschaftlichen Systems verstanden werden. Aus diesem Grund wird ein Teilnehmer am Wirtschaftsleben, insbesondere ein Käufer bzw. Verkäufer, von seinem jeweiligen Vertragspartner allgemein gesprochen kein neutrales Marktverhalten erwarten können, sondern von einer möglichst umfassenden Informationsverwertung auch auf der Gegenseite ausgehen und darauf mit einer ebensolchen eigenen möglichst umfassenden Informationseinholung und -verwertung reagieren. Das Insiderhandelsverbot und erst recht das Insiderstrafrecht greifen in diese Determinate moderner Wirtschaftsordnungen für den Bereich der börslichen Märkte ein. Die im Schrifttum zur Begründung der Sonderstellung des Insiderstrafrechts häufig geäußerte Ansicht, die Verwendung von Insiderinformationen schließe weitere Marktteilnehmer von einer gleichberechtigten Nutzung ihrer Chancen im Wettbewerb aus, wobei das Gleichgewicht der Chancen zu den „strukturellen Grundbedingungen des Wettbewerbs“ zähle und sich Insiderhandel daher als „missbräuchlich“ darstelle, ist schon nicht aus sich heraus verständlich, weil der Insider niemanden aktiv „ausschließt“, auch keine „Marktmechanismen“ verzerrt, sondern eine Information zunächst lediglich nicht (mit‐)teilt. Ferner ist es nach unserem Wirtschaftsverständnis gerade nicht so, dass ein Gleichgewicht der Chancen im Sinne einer gleichmäßigen Informationsverteilung und –erlangung eine strukturelle Grundbedingung des Wettbewerbs darstellt. Schon mit Blick auf die bloße Ausnutzung von Informationsasymmetrien also ist die Frage nach der Legitimation des Strafrechtseinsatzes zu stellen.
3. Notwendigkeit eines Insiderstrafrechts auch in rechtstatsächlicher Perspektive? Legitimationsbedarf besteht weiter auch in rechtstatsächlicher Perspektive, weil die bekannten Fallzahlen (Hellfeld) auch unter Geltung der „Kronzeugenregelung“ des § 46b StGB gering sind. Im Jahre 2012 etwa verurteilten deutsche Gerichte
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insgesamt lediglich sieben Personen wegen Insiderhandels, davon vier im Strafbefehlsverfahren (Vorjahr: 2 verurteilte Personen, davon in einem Fall im Strafbefehlsverfahren). 46 Ermittlungsverfahren wurden durch die jeweilige Staatsanwaltschaft abgeschlossen (Vorjahr: 31 Verfahren), davon wurden 34 Verfahren eingestellt (Vorjahr: 24 Verfahren), 6 davon gem. § 153a StPO (Vorjahr: 4 Verfahren).⁷ Fallzahlen aus den Vorjahren seit 1995 sind vergleichbar niedrig, die Einstellungsquoten vergleichbar hoch. Auch in der Schweiz sind die Fallzahlen sehr gering, in Österreich erfolgte in den Jahren 2007– 2011 keine einzige Verurteilung wegen Insiderhandels.⁸ Dem wird das Argument eines weiten Dunkelfeldes von bis zu 95 % entgegengehalten und mit dieser Annahme wird die Effektivität des deutschen Insiderstrafrechts angezweifelt.⁹ Angesichts der EDV-gestützten breiten Insider- und Marktmanipulationsuntersuchungen durch die BaFin im Sinne einer automatisierten Marktüberwachung – im Schrifttum ist von einer Perfektionierung der Überwachung des Insiderhandels die Rede –, die eben nur in wenige sog. (Insider‐)Untersuchungen durch die BaFin und in noch weniger Strafverfahren münden, ist die Annahme der Existenz eines großen Dunkelfeldes hingegen nicht ohne Zweifel, zumal nur vereinzelt empirische Forschungsergebnisse vorliegen. Immerhin könnte aufgrund der vorliegenden Zahlen auch gegenteilig gefolgert werden, dass der institutionelle Handel mit Wertpapieren flächendeckend rechtmäßig verläuft, zumal kriminologische Erkenntnisse zu Möglichkeiten und Grenzen der Dunkelfeldforschung bzw. sozialwissenschaftliche Standards für die Erlangung repräsentativen
Vgl. 2012 Jahresbericht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, abrufbar unter http://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Jahresbericht/dl_jb_2012.pdf?__blob=publica tionFile&v=4; vgl. auch Hohnel in ders., Kapitalmarktstrafrecht, 2013, § 14 WpHG Rn. 8. Die im Falle einer Verurteilung verhängten Strafen sind vergleichsweise niedrig, vgl. ebenda, S. 179 ff., und beispielhaft F.A.Z. v. 20.01. 2012, S. 21: zweijährige Freiheitsstrafe ausgesetzt zur Bewährung für den früheren Sprecher der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) wegen Insiderhandels in 92 Fällen. Wohlers ZStW 125 [2013], 443 (446 ff.) mit weiteren Nachweisen, namentlich mit dem Hinweis, dass „die Insiderstrafnorm des schweizerischen Rechts die ihr zugedachte Funktion als Schlüssel zur Eröffnung von Rechtshilfe [für die USA, Anm. des Verf.] durchaus erfüllt“ (a.a.O. 447); vgl. auch ders. in: Ackermann/Heine, Wirtschaftsstrafrecht in der Schweiz, 2013, § 14 Rn. 8 ff. Hienzsch Das deutsche Insiderhandelsverbot in der Rechtswirklichkeit – Eine empirische Studie, 2006, S. 143 ff.: 95 %; vgl. zur Empirie auch Gracz Insiderhandel in Deutschland – Empirische Untersuchungen zu Aktienkäufen und -verkäufen von Insidern deutscher Aktiengesellschaften, 2007; Ransiek DZWir 1995, 53 (55); Duttge in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 263 StGB Rn. 91, Einschub zu § 14 WpHG §§ 49, 26 BörsG; Waßmer in: Fuchs, WpHG, 2009, Vor §§ 38 – 40b Rn. 13: naheliegend, dass das Dunkelfeld „sehr groß ist“; Eichelberger Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 3.
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Datenmaterials in strafrechtlichen Stellungnahmen nicht immer hinreichend zur Kenntnis genommen werden. Nach hier vertretener Ansicht ist daher eine auch nur vorsichtige, verlässliche Aussage zur Größe des Dunkelfeldes des Insiderhandels anhand des bislang vorliegenden Datenmaterials nicht möglich, auch wenn zutrifft, dass es sich um ein „leicht“ begehbares Delikt handelt, weil die einzelnen sichtbaren Tathandlungen für sich genommen nicht strafbar sind und dementsprechend Nachweisschwierigkeiten bestehen, die freilich für das Wirtschaftsstrafrecht (unter Einbezug des Kapitalmarktstrafrechts) häufig geradezu kennzeichnend sind. Weiter ist zu sehen, dass sich – ein Dunkelfeld des Insiderhandels von 95 % (s. oben) unterstellt – die Zahl sämtlicher Insiderdelikte unter Berücksichtigung des Dunkelfeldes in Deutschland auf ca. 1000 – 5000 Fälle beschränken würde. Ob diese in Relation zur Gesamtheit der Finanzmarktransaktionen verschwindend wenigen Fälle einen realen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte haben können, wird zu erörtern sein.
4. Notwendigkeit der Ausnutzung von Informationsgefällen unter Untreuegesichtspunkten? Die Frage nach dem Schutzkonzept und nach der Reichweite des Insiderhandelsdelikts stellt sich freilich auch in ganz anderer legitimatorischer Hinsicht. Insbesondere Organe juristischer Personen oder sonst vermögensbetreuungspflichtige Personen sind zur Einholung detaillierter Informationen nicht zuletzt wegen des sonst drohenden Untreuerisikos (§ 266 StGB) grundsätzlich verpflichtet. Mit Blick auf das Insiderhandelsverbot können hier konfligierende Interessen aufeinander treffen. Die folgenden zwei verwandten Beispiele mögen dies verdeutlichen: Beispiel 1: Vorstandsmitglied V der X-AG, welche Aktien an der Y-AG hält, erfährt durch die Chefsekretärin des Vorstandsvorsitzenden der Y-AG, dass die Y-AG überraschend insolvenzreif ist und die Stellung eines Insolvenzantrags unmittelbar bevorsteht. Dieser Umstand ist noch nicht öffentlich bekannt. Aufgrund der gegenüber der X-AG bestehenden Vermögensbetreuungspflicht (§ 266 StGB) müsste V eigentlich einen sofortigen Verkauf der Aktien veranlassen. Durch § 38 Abs. 1 Nr. 1 WpHG ist gerade dies strafbewehrt.
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Beispiel 2: Wenn Vorstandsmitglied V der X-AG aus obigem Beispiel sein Insiderwissen dafür verwendet, Produkte (etwa Laptops) der Y-AG, welche im Warenlager der X-AG noch in größerer Stückzahl vorrätig sind, vor dem Bekanntwerden der Insiderinformation „Insolvenzreife“ zu veräußern, scheidet nicht nur eine Strafbarkeit nach § 38 Abs. 1 Nr. 1 WpHG ersichtlich aus. V ist wegen des gegebenen Untreuerisikos (§ 266 StGB) vielmehr gerade zur verlustvermeidenden Veräußerung verpflichtet. Über das weitere berufliche Schicksal des V in seiner Eigenschaft als Vorstandmitglied, wenn er sich in Beispiel 1 tatsächlich normkonform mit Blick auf § 38 Abs. 1 WpHG verhält, muss möglicherweise nicht lange räsoniert werden, und auch weitergehende Fragen sind leicht zu stellen, welche das Dilemma des V beschreiben, etwa, wie sich V faktisch auf einer Hauptversammlung verhält, wenn aus dem Kreis der Aktionäre die Frage an ihn gerichtet wird, ob Gerüchte hinsichtlich der Insolvenzreife der Y-AG, deren Aktien man im Portfolio habe, zuträfen.
III. Analyse und alternatives Regelungskonzept 1. Re-Regulierung der Kapitalmärkte Auch wenn Insiderhandel als Erscheinungsform existieren dürfte, seitdem es einen Markt für handelbare Papiere gibt, wurde die Verwendung von Insiderinformationen in Deutschland zunächst, und eher am Rande, zwar als finanzökonomisches, weniger hingegen als rechtliches Problem wahrgenommen. Heute sollten an der grundsätzlichen Notwendigkeit des Schutzes der organisierten Kapitalmärkte und an deren Harmonisierung keine Zweifel mehr bestehen. Zugespitzt formuliert ist die Machtfrage einerseits zwischen denjenigen Staaten, die am internationalen Finanzverkehr teilnehmen und die durch die Kapitalmärkte erreicht werden, und der Finanzwirtschaft andererseits gestellt. Zusammengefasst zeigt die in den Jahren 2007/08 kulminierende und noch immer nicht vollständig überwundene Schieflage des globalen Finanzsystems, dass die von Vertretern der Finanzwirtschaft lange Zeit geforderte vollständige Deregulierung der Finanzmärkte heute jedenfalls aus normativer Sicht nicht nachvollziehbar ist. Richtigerweise hat sich vor diesem Hintergrund ein weitreichender Konsens entwickelt, dass eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte im Sinne einer Re-Regulierung und damit der Etablierung neuer Ordnungsrahmen
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erforderlich sei. Dieser Konsens wird durch die aktuelle Staatsschuldenkrise der Euro-Staaten noch verstärkt.¹⁰
2. Funktionen der Kapitalmärkte Bei der Entwicklung des Schutzes der Kapitalmärkte ist davon auszugehen, dass diese heute eine zweifache Funktion erfüllen sollen: zum einen die Transformationsfunktion, d. h. die Umwandlung von Sparkapital der einzelnen Anleger in Investitionskapital der Unternehmen. Indem dem einzelnen Kapitalanleger eine (ggf. auch kurzfristig) liquidierbare Geldanlage ermöglicht wird, erhalten die betreffenden Kapitalgesellschaften Eigenkapital. Die zweite, dem Kapitalmarkt zugeschriebene Funktion, die sog. Vermögensbildung, im Sinne einer Partizipation breiter Bevölkerungsschichten am ggf. bestehenden Wachstum, genauer: an steigenden Börsenkursen, ist freilich richtigerweise Voraussetzung der Transformationsfunktion. Beide Funktionen sind von der Bereitschaft der Bürger abhängig, Gelder am Kapitalmarkt anzulegen. Diese Bereitschaft setzt Vertrauen voraus, welches abhängig ist von der Funktionsfähigkeit der organisierten Kapitalmärkte, denen ihrerseits möglicherweise eine besondere Sensibilität und Fragilität eigen ist. Damit verbunden ist dann eine Kapitalmarktordnung, welche den Rückzug von Anlegern etwa wegen eines erkannten oder auch nur vermeintlich erkannten Risikos zu vermeiden sucht und eben nicht – was ökonomisch wohl ebenso nachvollziehbar wäre – Gewinnaussichten oder die Frage der Kalkulierbarkeit von Risiken thematisiert. Vor einem solchen Hintergrund vermag möglicherweise nicht einmal mehr zu erstaunen, wenn die „Sicherheit des Kundenvermögens“ an den Finanzmärkten gewährleistet werden soll. Dabei ist durchaus erwähnenswert, dass das Anlegerpublikum auch in den vergangenen Jahren zugenommen, nicht abgenommen hat und dies trotz aller sog. „Börsenskandale“. Hervorzuheben ist bei alledem aber, dass der Begriff „Anleger“ in unserem Gesamtkontext nicht auf Privatanleger beschränkt ist, sondern auch institutionelle Marktteilnehmer erfasst.
Bei alledem ist aber zu sehen, dass die politisch verfolgte „Europäisierung“ der zu fordernden Re-Regulierung der Kapitalmärkte über rechtliche Legitimationsprobleme hinaus (namentlich mit Blick auf Art. 83 Abs. 2 AEUV), auch durchgreifende Zweifel hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Maßnahmen aufwirft, vgl. dazu auch Schröder Europa in der Finanzfalle – Irrwege internationaler Rechtsangleichung, 2012.
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3. Das kapitalmarktrechtliche Schutz- und Gewährleistungskonzept nebst Sicherung von Verfahrensabläufen (§ 14 WpHG) Die historische Entwicklung des Insiderhandelsverbots ausgehend von den auf der Basis freiwilliger Selbstkontrolle der Wirtschaft beruhenden InsiderhandelsRichtlinien von 1970 hin zur gesetzlichen Implementierung einer Strafbewehrung durch das WpHG von 1994 zeigt, dass entscheidend für die Sichtweise des Gesetzgebers weniger gesicherte rechtstatsächliche Erkenntnisse, wie etwa ein konstatiertes erhöhtes Fallaufkommen, waren, sondern eine veränderte normative Sicht auf die organisierten Finanzmärkte. Der erste insoweit beachtliche europäische Rechtsakt, die EG-Insiderrichtlinie von 1989¹¹, gibt dabei noch immer das bis heute prägende Verständnis von der Erscheinungsform Insiderhandel vor. Dieses Verständnis ist fokussiert auf den Schutz des Kredit- und Finanzwesens im Sinne eines gemeinsamen Marktes und zielt ab auf Effektivität. Dementsprechend wurden bereits durch die EG-Insiderrichtlinie die Notwendigkeit des Schutzes der Funktionsfähigkeit der organisierten Kapitalmärkte und des korrespondierenden „Vertrauens der Anleger“ betont. Über den kapitalmarktbezogenen Schutz hinaus werden ferner auch Elemente einer Gewährleistung in das verfolgte Konzept einbezogen, die sich in der „Zusicherung der Gleichstellung“ (EG-Insiderrichtlinie und Marktmissbrauchsrichtlinie von 2003¹²) bzw. in der „Zusicherung der Gleichbehandlung“ (2. FFG von 1994¹³) zeigen. Darüber hinaus wird dieses Schutz- und Gewährleistungskonzept ergänzt durch die Sicherung von Verfahrensabläufen, plastisch zum Ausdruck gebracht in der Zusage eines reibungslosen Funktionierens und der Einhaltung von Marktspielregeln. Diese Kombination aus einem Schutz- und einem Gewährleistungskonzept nebst Sicherung von Verfahrensabläufen zieht sich durch alle das Insider(straf)
Richtlinie 1989/592/EWG des Rates v. 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte ABl. EG Nr. L 334 v. 18.11.1989; zur Vorgeschichte der Insiderrichtlinie vgl. Lücker Der Straftatbestand des Missbrauchs von Insiderinformationen nach dem Wertpapierhandelsgesetz, 1998, S. 8 ff.; Ziouvas Das neue Kapitalmarktstrafrecht. Europäisierung und Legitimation, 2005, S. 14 ff.; Mennicke in: Fuchs, WpHG, Vor § 12 bis § 14 Rn. 15 ff. mwN; dies. Sanktionen gegen Insiderhandel – Eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung des US-amerikanischen und britischen Rechts, 1996, S. 130 ff. Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.01. 2003 über InsiderGeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. Nr. L96/16 v. 12.04. 2003, zuletzt geändert durch Richtlinie 2008/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11. 3. 2008, ABl. L 81 v. 20. 3. 2008, S. 42 ff. Gesetz über den Wertpapierhandel und zur Änderung börsenrechtlicher und wertpapierrechtlicher Vorschriften (Zweites Finanzmarktförderungsgesetz) v. 26.07.1994, BGBl. I, S. 1749.
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recht betreffenden europäischen und nationalen Rechtsakte bis heute. Jedenfalls mit dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz (AnSVG) aus dem Jahre 2004¹⁴ erlangte darüber hinaus auch die Betonung des Schutzes der Marktteilnehmer eine eigenständige Bedeutung neben dem Schutz und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit und des Funktionierens des organisierten Kapitalmarkts. Durch die aktuelle Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.04. 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie – 2014/57/EU – im Folgenden: MAD)¹⁵ wird die Erscheinungsform des Insiderhandels – neben der verbotenen Marktmanipulation – abermals als schwerste Form des Marktmissbrauchs bezeichnet und durch die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.04. 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung – im Folgenden: MAR) ebenfalls von 2014¹⁶ gerade die Verordnung als das geeignetste Rechtsinstrument zur Festlegung eines Unionsrahmens in Bezug auf Marktmissbrauch bezeichnet. Der europäische Normengeber schreitet also auch hier voran. Dabei geht das in europäischen Rechtsetzungsakten und namentlich in den nationalen Gesetzen zur Regulierung des Kapitalmarktes (WpHG und dessen Novellierung durch das AnSVG) zum Ausdruck gebrachte weite Schutz- und Gewährleistungskonzept konform mit der Transformations- und der Vermögensbildungsfunktion. Vor diesem Hintergrund sind Parameter des Schutzes bzw. der Gewährleistung wie ein „reibungsloses Funktionieren“, die Sicherung von „Vertrauen“ und die „Zusicherung von Gleichstellung und Gleichbehandlung“ in sich schlüssig. Festzuhalten ist aber auch, dass sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Erläuterungen des deutschen Gesetzgebers bis heute eine Begründung für das behauptete Verständnis von Insiderhandel als eine der „schwersten Formen des Marktmissbrauchs“ fehlt. Es mangelt schon an einer Auseinandersetzung mit der behaupteten finanzökonomischen Notwendigkeit eines Insiderhandelsverbots. Hingegen wird der für die Kapitalmärkte allgemein (!) geforderte Schutz auf die Erscheinungsform des Insiderhandels übertragen und ferner auch dem Einsatz der Regelungsmaterie Strafrecht zugrunde gelegt. Dabei ist das weite Schutz- und
Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes, BT-Drucks. 15/3174 v. 29.10. 2004, BGBl. I, S. 2630. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/securities/abuse/index_de.htm; vgl. auch Weber NJW 2012, 274 (276); Veil/Koch WM 2011, 2297 ff.; Vogel in: Assmann/Schneider,WpHG, Vor § 38 Rn. 7 ff. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/securities/abuse/index_de.htm; für die Richtlinie http://ec.europa.eu/internal_market/securities/docs/abuse/COM_2012_420_de.pdf., KOM (2012) 420 endg.
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Gewährleistungskonzept für die Funktionsfähigkeit und für das Funktionieren der organisierten Kapitalmärkte Bezugspunkt des strafrechtlichen Schutzes.
4. Nachvollziehbarkeit eines auch repressiven Schutzkonzeptes Nach meinem Verständnis zeigt der Blick auf die Realisierung des Schutz- und Gewährleistungskonzepts des kapitalmarktrechtlichen Insiderhandelsverbots des § 14 WpHG, dass die dem Verbot zugrunde liegende marktbezogene Regelungsperspektive zwar nicht frei von finanzökonomischen Zweifeln ist, Insiderhandel jedoch im Sinne einer ökonomischen Gesamtschau und mit Blick auf die Fragilität und nahezu unvorstellbare Geschwindigkeit der Transaktionen an den Finanzmärkten, namentlich im Bereich des Hochfrequenzhandels, als Risikoerhöhung für die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte verstanden werden kann. Eine Risikoerhöhung ist dann anzunehmen, wenn man davon ausgeht, dass jegliche Form abweichenden Verhaltens ein Risiko für das Funktionieren der Märkte darstellt, auch der Insiderhandel unter der Prämisse, dass die Mehrzahl der Transaktionen ohne Verwendung von Informationsasymmetrien erfolgten. Unzutreffend ist demgegenüber die Behauptung, bei Insidergeschäften handle es sich um eine schwere Form des Marktmissbrauchs. Diese Einschätzung der Risikoerhöhung wird ergänzt durch eine wirtschaftsethische Perspektive, die durch Topoi wie Gerechtigkeit, Fairness und Rechtsgleichheit der Marktteilnehmer bzw. – überindividuell betrachtet – Rechtsstabilität der Börsen gekennzeichnet ist. In Ansehung dieser Perspektive kann auch aus juristischer Sicht die Legitimität des Verbots von Insidergeschäften als Teil des Kapitalmarktschutzes bejaht werden – zu Recht spricht Volk von einem „normativ verordneten Leitbild“¹⁷ – und vor diesem Hintergrund ist auch die Erforderlichkeit eines repressiven Schutzes vor Insiderhandel im Sinne eines abgestuften Verhältnisses gegenüber zivilrechtlichen bzw. verwaltungsrechtlichen Maßnahmen nachvollziehbar. Wie sollte dieser repressive Schutz ausgestaltet sein?
Volk ZHR 142 (1978), 1 (3) in Abgrenzung zur Frage, ob das Insiderhandelsverbot eine empirisch überprüfbare These ist.
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5. Das Schutz- und Gewährleistungskonzept als Rechtsgut des § 38 Abs. 1 WpHG? Bei der Rechtsgutsdiskussion darf zunächst überraschen, dass die Bestimmung des durch die Blankett-Strafvorschrift des § 38 Abs. 1 WpHG geschützten Rechtsguts durch die herrschende Meinung losgelöst davon erfolgt, dass die verfolgte kapitalmarktrechtliche Konzeption der Verbotsnorm des § 14 WpHG nicht lediglich Elemente des Schutzes, sondern darüber hinausgehend auch der Gewährleistung und ferner noch die Sicherung von Verfahrensabläufen umfasst. Die Rechtsgutsdiskussion zu § 38 Abs. 1 WpHG durch die ganz überwiegende Auffassung blendet dies schlicht aus. Stattdessen wird in gängigen strafrechtlichen Bahnen gedacht und allein ein überindividuelles Rechtsgut, die Funktionsfähigkeit der organisierten Kapitalmärkte bzw. das Vertrauen der Kapitalanleger in diese Märkte, als geschützt angesehen. Richtigerweise ist die Bestimmung des in Rede stehenden Rechtsguts komplizierter und im Ergebnis zutiefst ernüchternd. Zu sehen ist im Ausgangspunkt, dass neben dem kollektiv verstandenen Schutz der Funktionsfähigkeit der organisierten Kapitalmärkte auch ein vorverlagerter Vermögensschutz als Element des Marktteilnehmerschutzes hinzutritt mit der Folge, dass durch das Insiderhandelsdelikt ein komplexes Rechtsgut, bestehend aus kollektiven und interpersonalen Bezügen, geschützt wird. Bei alledem bildet das „Vertrauen“ im Sinne interpersonalen Vertrauens wie auch als Systemvertrauen eine Art „Scharnierfunktion“ zwischen den kollektiven und den individuellen Elementen des komplexen Rechtsguts. Dies führt zur Offenlegung der eigentlichen Problematik der Rechtsgutsdiskussion im Kontext des Insiderstrafrechts: Zwar ist es – technisch gesehen – durchaus möglich, ein strafrechtliches Rechtsgut zu „bilden“, welches über die bereits benannten kollektiven und individuellen Bezüge hinaus das reibungslose Funktionieren der Märkte, den Erhalt von Marktspielregeln bis hin zur Schaffung idealer Wettbewerbsbedingungen beinhaltet. Freilich ist ein solches Rechtsgut konturen- und damit grenzenlos. Die dem Strafrecht nach tradiertem Verständnis zugeschriebene Funktion, Rechtsgüterschutz zu leisten, hat in Ansehung eines solchen Rechtsguts keine materielle, erst recht keine limitierende Bedeutung mehr, vielmehr erschöpft sich die Rechtsgutsbestimmung dann in einem deskriptiven Akt. Der Rechtsgutsgedanke ist vorliegend „gesprengt“. Analytisch gesprochen führt der Einsatz von Strafrecht zum Schutz eines derart konturenlosen Rechtsguts dazu, dass sich § 38 Abs. 1 WpHG als Verflechtung strafrechtlicher und alternativer, nicht-strafrechtlicher Regulierungsmöglichkeiten darstellt. Das Insiderstrafrecht dient dabei unmittelbar dem Aspekt des Funktionenschutzes, ist weiter Gewährleistungsstrafrecht und nimmt auch die
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Aufgabe der Regulierung wahr.Von einer solchen Regulierungsfunktion geht offen argumentierend auch der EuGH aus,wenn das Gericht in der Entscheidung Spector Photo Group NV vom Dezember 2009¹⁸ ausführt, die effektive Durchführung des Verbots von Insider-Geschäften beruhe auf einer einfachen Struktur, in welcher die Möglichkeiten der Verteidigung mit subjektiven Elementen begrenzt seien, um Verstöße wirksam ahnden und vorbeugen zu können. Dies alles mündet in eine „radikale Funktionalisierung“ des Wertpapierhandelsstrafrechts, vorliegend in Gestalt des Insiderstrafrechts. Materielles Strafrecht und nicht-strafrechtliche Regulierungsfunktionen werden gezielt miteinander verbunden, um ein einheitliches Konzept der Rechtsgestaltung zu etablieren.
6. Zum Deliktstypus Hinzu kommt bei alledem, dass eine Beeinträchtigung oder gar Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte, auf welche sich die herrschende Auffassung wie gesagt rechtsgutsbezogen beschränkt, nicht von einzelnen Insidergeschäften ausgeht, sondern nur Folge von gleichartigen bzw. flächendeckenden Insidergeschäften, d. h. von Kumulationseffekten, sein kann. Die Gefährlichkeit des einzelnen Verstoßes gegen das Insiderhandelsverbot für das Schutz- und Gewährleistungskonzept, ergänzt durch die Sicherung von Verfahrensabläufen, ist daher für sich gesehen von vorneherein ausgeschlossen. Daran anknüpfend ist das Insiderdelikt als Kumulationsdelikt zu identifizieren.
7. Repressiver Schutz der sozialen Ordnung „Kapitalmarkt“ Die bisherigen Erkenntnisse zum gesprengten Rechtsgut sowie zum Deliktstypus prägen die weiteren Überlegungen zu dem Einsatz der Regelungsmaterie Strafrecht gegenüber dem Ordnungswidrigkeitenrecht. Nach herkömmlicher Sichtweise soll zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat lediglich ein quantitativer Unterschied bestehen. Demgegenüber zeigt der Blick – und hier greife ich eine aktuelle, namentlich in den skandinavischen Staaten geführte wissenschaftliche Debatte auf – auf den repressiven Schutz sozialer Institutionen bzw. sozialer Ordnungen, vorliegend des Kapitalmarkts, dass insoweit der Schutz gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in Rede steht, welche die jeweilige soziale Ordnung konturieren. Die Etablierung dieser sozialen Ordnung gewährleistet erst die Entfaltung individueller
EuGH NZG 2010, 107 – Spector Photo Group NV.
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Freiheit innerhalb der sozialen Ordnung. Das Insiderstrafrecht ist in diesem Kontext als Teil des Schutzes der sozialen Ordnung „Kapitalmarkt“ anzusehen. Versteht man, nach alledem folgerichtig, also auch den repressiven Schutz vor Insiderhandel gerade als Kapitalmarktordnungsdelikt, so ist grundsätzlich der Einsatz des repressiven Mittels Ordnungswidrigkeitenrecht, nicht des Strafrechts, zur repressiven Flankierung des Insiderhandelsverbots vorgezeichnet. Die Unterscheidung zwischen Ordnungswidrigkeit und Strafrecht ist vor dem Hintergrund des Schutzes sozialer Ordnungen qualitativer Natur. Dieses Ergebnis, das Insiderhandelsverbot lediglich ordnungswidrigkeitenrechtlich zu flankieren, ist dabei dreifach abgesichert. Erstens dadurch, dass die repressive Verbotsnorm einen Beitrag zum Funktionenschutz Kapitalmarkt leistet und damit dem Schutz einer sozialen Ordnung dient, nicht hingegen eine Verletzung individueller Freiheiten innerhalb dieser sozialen Ordnungen sanktionieren soll. Zweitens dadurch, dass das Insiderdelikt eine auch deutlich präventivverhaltenssteuernde Wirkung hat und – per definitionem als Kumulationsdelikt – weit von einer tatsächlichen Rechtsgutsgefährdung entfernt ist. Dabei spricht vieles dafür, Kumulationsdelikte generell als Deliktstypus des Ordnungswidrigkeitenrechts, nicht des Strafrechts, zu verstehen. Drittens führen die Erkenntnisse zu dem konturenlosen Rechtsgut, konkret unter Einbezug der Sicherung von Verfahrensabläufen und der Schaffung idealer Wettbewerbsbedingungen, dazu, den Einsatz von Strafrecht als Regelungsmaterie im vorliegenden Kontext abzulehnen. Zusammengefasst: Ein auf einem „gesprengten“ Rechtsgut aufbauender problematischer Deliktstypus dient dem Schutz der sozialen Ordnung „Kapitalmarkt“, ohne dass durch den Verstoß gegen das Insiderhandelsverbot eine personale Rechtsgutsverletzung/-gefährdung erfolgen würde. Dies mündet nach hier vertretener Auffassung in das dreifach abgesicherte Fazit, dass der Einsatz des Strafrechts als repressive Regelungsmaterie für den Normalfall des Insiderhandels weder sachdienlich noch dogmatisch vertretbar ist. Der Normalfall eines Verstoßes gegen das Insiderhandelsverbot stellt weder ein strafwürdiges noch ein strafbedürftiges Verhalten dar.
8. Auswirkungen auf den europäischen Rahmen Die hier vorgestellte Sicht auf die Dinge hat Auswirkungen auf den europäischen Rahmen: Nimmt man lediglich die Marktmissbrauchsrichtlinie 2003 als Folie, so entstehen hinsichtlich des hiesigen Ergebnisses, dass gegen Sekundärinsider und deliktische Primärinsider auch nicht mit den Mitteln des Ordnungswidrigkeitenrechts reagiert werden darf, keine Friktionen. Die Forderung der Marktmiss-
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brauchsrichtlinie, Maßnahmen zu etablieren, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sind, ist richtigerweise auch durch Maßnahmen des Wirtschaftsverwaltungsrechts erfüllt. Es ist daher mit Blick auf den derzeit gültigen europäischen Rahmen ausreichend, Insiderhandelsverstöße durch Sekundärinsider und deliktische Primärinsider mit solchen rein verwaltungsrechtlichen Maßnahmen zu belegen. Anders verhält es sich, wenn man die aktuelle Marktmissbrauchsrichtlinie (MAD) sowie die aktuelle Marktmissbrauchsverordnung (MAR) in den Blick nimmt. Die MAD begründet Mindestvorschriften in Bezug auf Straftaten auf dem Gebiet des Kapitalmarktrechts. Gestützt ist die Richtlinie auf Art. 83 Abs. 2 AEUV. Konkret geregelt sind Sanktionen bei Insider-Geschäften und Marktmanipulation. Dabei knüpfen die Straftatbestände des Insiderhandels und der Marktmanipulation an die Verbotstatbestände der MAR an. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass im Laufe der Trilog-Verhandlungen sog. Mindesthöchststrafen eingeführt wurden, die im ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission aus dem Jahre 2011 noch nicht vorgesehen waren. Die Notwendigkeit der Mindesthöchststrafen – und damit der zwingenden Einführung strafrechtlicher Sanktionen gegen schwere Formen des Insiderhandels sowie der Marktmanipulation – wird damit begründet, dass eine Angleichung der strafrechtlichen Sanktionen angesichts der großen in den Mitgliedsstaaten bestehenden Unterschiede erforderlich sei und eine unionsweite Regelung des Mindesthöchststrafrahmens notwendig mache (Erwägungsgrund 18 MAD). Dies führt dazu, dass die schwersten Fälle des Insiderhandels und der Marktmanipulation mit Freiheitsstrafen zu sanktionieren sind, deren Höchstmaß vier Jahre beträgt (Art. 7 Abs. 2 MAD). Für weniger schwere Taten etwa die Verbreitung von Insiderinformationen in dem Wissen, dass die Informationen falsch sind, sind Mindesthöchststrafen von zwei Jahren gefordert (§ 7 Abs. 3 MAD). Die Etablierung von Mindesthöchststrafen führt dazu, dass nunmehr für den Bereich des Kapitalmarktstrafrechts nach zutreffender Ansicht erstmals europarechtlich strafrechtliche Sanktionen vorgeschrieben werden. Dem ist aber entgegen zu halten, dass die auf Art. 83 Abs. 2 AEUV gestützte MAD den Anforderungen, die das BVerfG in der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267 ff.) an eine auf Art. 83 Abs. 2 AEUV gestützte europäische Strafrechtsharmonisierung gestellt hat, nicht gerecht wird. Das BVerfG hat als zwingende Voraussetzung insoweit ein „gravierendes Vollzugsdefizit“ hervorgehoben. Ein solches gravierendes Vollzugsdefizit ist mit Blick auf die Kapitalmärkte weder ersichtlich, noch auch nur dargelegt. Darüber hinaus erscheinen die Regelungen der MAD zur Bewältigung des Marktmissbrauchs auch jedenfalls verfrüht, weil die Kommission ausweislich der betreffenden Mitteilung zur europäischen Strafrechtspolitik „Auf dem Weg zu
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einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht“ vom 20.09. 2011 (KOM (2011) 573 endg.) die Einsetzung einer Expertengruppe vorgeschlagen hat, welche Unterstützung leisten soll gerade bei der wirksamen Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften in nationale Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten, namentlich auch, um die Klärung des Verhältnisses zwischen strafrechtlichen und nicht-strafrechtlichen Sanktionsarten zu bewirken. Vor diesem Hintergrund erscheint äußerst naheliegend, dass sich das BVerfG mit der Frage zu beschäftigen haben wird, ob die wesentlichen Vorschriften der MAD, die gerade zur Einführung strafrechtlicher Sanktionen gegen Insiderhandel und Marktmanipulation führen sollen, den deutschen verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Strafrechtsharmonisierung in Europa, gestützt auf Annex-Kompetenzen, gerecht wird. Dies ist nach hier vertretener Auffassung, aus den genannten Gründen, gerade nicht der Fall. Man mag der hier vertretenen Auffassung entgegenhalten, sie sei vor dem Hintergrund der EU-Harmonisierung nicht mehrheits- und erst recht nicht durchsetzungsfähig. Richtig ist demgegenüber, dass die Europäisierung des Kapitalmarktrechts und weitergehend die Rechtsvereinheitlichung in Europa dauerhaft nur dann auf die notwendige Akzeptanz stoßen wird, wenn ein auch dogmatisch stimmiges Konzept verfolgt und Kriminalstrafrecht nicht inflationär eingesetzt wird. Dies erfordert, und damit komme ich zum Schluss, eine mitunter so zu bezeichnende europäische Integrationsmaschinerie kritisch zu beleuchten und das Strafrecht nicht als Regulierungsinstrument einzusetzen, sondern als Mittel zur Wahrung eines rechtsethischen Minimums.
Klaus Günther
Insider-Narrative vor dem Forum von Law and Literature: Oscar Wildes „Ein idealer Gatte“ I. Es mag verwundern, dass im Rahmen einer wirtschaftsstrafrechtlichen Diskussion über Insider-Handel auf den Finanzmärkten von Recht und Literatur die Rede ist. Angesichts schwieriger Probleme des geltenden Rechts, vor allem der Frage, ob Insider-Handel entkriminalisiert und durch Selbstregulierung diszipliniert werden sollte, ist ohnehin schon fraglich, ob Literatur mehr als nur eine periphere Rolle bei deren Diskussion spielen kann – und bei so prosaischen Themen wie dem Wirtschaftsstrafrecht mag das noch mehr der Fall sein. Die Erwartung, Literatur könne unmittelbar zur Problemlösung beitragen, dürfte allerdings, von Zufällen abgesehen, unerfüllbar sein. Ein solcherart verkürztes Verständnis der Rolle von Literatur und Kunst überhaupt liegt dem sich seit längerer Zeit immer deutlicher artikulierenden „Law-and-Literature-Movement“ aber auch nicht zugrunde. Umgekehrt geht es auch nicht darum, Literatur nur daraufhin zu untersuchen, ob in ihr Rechtsfragen abgehandelt werden, um diese dann einer rechtlichen Analyse zu unterziehen. Produktive Verbindungen zwischen Recht und Literatur lassen sich daher am ehesten auf indirektem Wege erhoffen. Literatur hat den Vorzug, einen Fall, eine Kette von Handlungen, ein ungewöhnliches Ereignis, aus verschiedenen Perspektiven darstellen zu können, um so vorzuführen, wie die Beteiligten jeweils unterschiedlich darauf reagieren, welche Vorurteile, Erwartungen, welche – normativen – Überzeugungen sie leiten, welche Impulse und Emotionen ihre Handlungen motivieren, wie das Verständnis oder Missverständnis der Äußerungen und Handlungen anderer ihre Wünsche und Überzeugungen verändern und begleiten. Dadurch ist sie auch in der Lage, alternative Handlungsabläufe, Entwicklungsmöglichkeiten der Figuren und Ereignisse hypothetisch zu konstruieren und auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Auf diese Weise schult die Lektüre und Interpretation literarischer Texte Einbildungs- und Urteilskraft; letztere ist nach Kant ohnehin ein Vermögen, das sich nicht durch kognitives
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Lernen, sondern allein durch Übung verbessern lässt.¹ Wer über diese Vermögen verfügt, wird normativ relevante Merkmale des Einzelfalls sensibler wahrnehmen, komplexe Zusammenhänge genauer erfassen können, wird eher in der Lage sein, sich in die Perspektiven anderer hineinzuversetzen und so zu einem abgewogeneren Urteil kommen.² Freilich lässt sich Literatur wie auch die Kunst überhaupt nicht auf irgendwelche Zwecke festlegen, auch nicht als Schulungsmaterial für Einbildungsund Urteilskraft. Wenn sie überhaupt etwas sagt, wenn sie sich unseren unabschließbaren, immer wieder neu ansetzenden Deutungsversuchen überhaupt öffnet, dann allein dadurch, dass sie letztlich unbestimmbar bleibt, mit möglichen Zweckbestimmungen, interpretierenden Festlegungen und Bedeutungszuschreibungen ihrerseits nur spielt, um sie am Ende an der Autonomie der Kunst allesamt scheitern zu lassen. Die Eigengesetzlichkeit der Kunst sperrt sich hartnäckig gegen alle Versuche, sie an die Gesetze dieser Welt zu zurren, seien es die normativen Gesetze der Moral, des Rechts, der Gesellschaft, seien es die Gesetze der inneren und äußeren Natur. Gleichwohl bewegt sich Literatur nicht im luftleeren Raum, ist auch noch ein rein auf die Reflexion der Form fokussiertes Gedicht von Mallarmée, auch noch das fremdeste, sich der Verständlichkeit fast vollständig entziehende Kunstwerk darauf angewiesen, dass es die Gesetze der objektiven, subjektiven und sozialen Welt nicht umfassend und vollständig durchstreicht. Auch die provokanteste Dissonanz bedarf eines Kontextes, der kohärent und stimmig präsentiert werden muss, wenn die Form als solche funktionieren soll. Insofern bewegt sich also auch das autonome Kunstwerk in einer Welt, in der es Natur, Subjektivität und Gesellschaft gibt, die freilich nicht als solche unmittelbar zugänglich ist, sondern nur in der Pluralität ihrer Deutungen und Sinnzuschreibungen. Auch autonome Kunst hat an dieser Welt teil, nicht zuletzt auch an ihren normativen Ordnungen.
II. Von hier aus eröffnet sich ein neuartiger Zugang. Literatur, Erzählungen, Dramen beziehen sich neben der objektiven und der subjektiven auch auf die soziale Welt und ihre normativen Ordnungen. Dieser Bezug ist freilich vielschichtig und mehrfach gebrochen. Nicht nur können normative Ordnungen zum Gegenstand Vgl. dazu Klaus Günther Urteilen, in: Michael Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.), Bildung – Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure, Stuttgart/Weimar 2011, S. 102– 109. Vgl. hierzu vor allem die Studien von Martha Nussbaum, z. B. Love’s Knowledge, Oxford 1992, und Poetic Justice, Boston 1997.
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eines literarischen Werkes werden, indem über diese gesprochen und gehandelt wird, indem eine Erzählung oder ein Drama vorführt, wie sie gedeutet, angewendet, gebrochen, umgestürzt, verteidigt, bestritten, durchgesetzt, ad absurdum geführt werden. Auch auf der Ebene der Form, der Disposition des Stoffes, der Gestaltung eines Handlungsablaufs mit seinen Folgen, nimmt ein literarisches Werk an normativen Ordnungen teil, wenn es seine Helden und Heldinnen in ein Geschehen verstrickt, das auf die eine oder andere Weise endet. Freilich gilt auch umgekehrt, dass normative Ordnungen stets eingebettet sind in Kontexte, die in der Gestalt von Narrativen auftreten. Normen werden nicht nur aufgeschrieben und von Experten verwaltet, interpretiert, angewendet und durchgesetzt, sondern sie werden auch erzählt. Normative Ordnungen gehören in eine lokale Überlieferungsgeschichte, sind gesättigt mit den historischen Erfahrungen ihrer Adressaten und Autoren sowie den oftmals kontroversen Deutungen von historischen Ereignissen. Die Erzählungen von Revolutionen oder Bürgerkriegen sind exemplarische Fälle solcher Narrative, die dann oftmals zum Gründungsmythos einer Gemeinschaft und ihrer normativen Ordnung, namentlich einer Verfassung, werden. Solche Narrative können ihrerseits eine rechtfertigende Wirkung für die normative Ordnung haben, indem sie die rationalen Gründe für ihre Rechtfertigung stützen und in den lebensweltlichen Kontexten ihrer Adressaten und Autoren verankern. Solche Narrative sind stets Rechtfertigungsnarrative, sie lassen die Normen ihrer Ordnung so erscheinen, als seien sie die mehr oder weniger natürliche Folge jener historischen Erfahrungen und Ereignisse: „Überwiegend sind Normen und ihre Rechtfertigungen in Narrative eingebettet, in jene historisch und lokal geprägten, durch die jeweiligen Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte der Beteiligten bestimmten Erzählungen, Handlungen oder Rituale, welche die rechtfertigenden Gründe einer normativen Ordnung wie eine Tatsache erscheinen lassen (…).“³ Narrative können freilich Rechtfertigungen durch diskursive Gründe nicht substituieren, aber die stets prekäre, von Kritik und Dissens begleitete Geltung einer normativen Ordnung stabilisieren: „Über solche Narrative sind normative Ordnungen so eng mit der Lebenswelt der Beteiligten, mit dem jeweils öffentlich thematisierbaren Ausschnitt des Wissens von der objektiven, subjektiven und sozialen Welt verwoben, dass ihr konstruktiver, von diskursiv bestreitbaren Gründen bestimmter Charakter kaum noch wahrgenommen wird.“⁴ Umgekehrt können neue oder alternative Narrative aber auch zur Quelle neuer Kritik und
Rainer Forst u. Klaus Günther Die Herausbildung normativer Ordnungen, Frankfurt am Main/ New York 2011, 18. A.a.O.
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neuen Dissenses werden, die eine bestehende normative Ordnung herausfordern und einem Veränderungsdruck aussetzen. Im einen wie im anderen Fall spielen Narrative aber nicht nur bei den fundamentalen, für das Selbstverständnis einer bestimmten Gesellschaft konstitutiven Normen eine Rolle, sondern auch in den vielen Einzelfällen des Alltags. Wie in einem alltäglichen Konflikt einzelne Normen gedeutet, angewendet und durchgesetzt – aber auch kritisiert und verändert werden, wie der Einzelfall konstituiert und präsentiert wird, welche Merkmale für das normative Urteil relevant sind und welche nicht, wird mitbestimmt durch die jeweiligen narrativen Kontexte. Auch eine noch so professionelle Interpretation einer Norm bezieht sich letztlich immer auf den narrativen Kontext. ⁵ Dies gilt in besonderem Maße auch für das Recht und seine Anwendung. Zwar tritt es zumeist auch als ein isoliertes System abstrakter Regeln auf, das von Experten verwaltet und professionell durch geschulte Juristen interpretiert wird – gleichzeitig hat es jedoch stets teil an den komplexen normativen Ordnungen und ihren narrativen Kontexten, in denen die Adressaten und Autoren des Rechts jeweils leben. Zusammen formieren sie einen, wie Robert Cover es genannt hat, „Nomos“, der sich, jenseits aller Differenzierungen, Spezialisierungen und Professionalisierungen – z. B. ein zentralisiertes Recht mit einem professionellen Juristenstand – primär über seine narrativen Kontexte erschließt. Denn in diesem Nomos „leben“ die Mitglieder einer Gesellschaft ihr alltägliches Leben (und in ihm ereignen sich sie seltenen Augenblicke der Außeralltäglichkeit). Dieser Nomos ist nach Robert Cover „a world in which we live“, in der wir gleichsam „wohnen“: „to inhabit a nomos is to know how to live in it.“⁶ Literatur und Recht bewegen sich beide innerhalb eines solchen von den Mitgliedern einer Gesellschaft bewohnten Nomos. Darüber sind produktive Verbindungen zu erhoffen. Im Folgenden werde ich den Versuch unternehmen, am Beispiel der Komödie „Ein idealer Gatte“ von Oscar Wilde aus dem Jahre 1895 solchen Verbindungslinien nachzugehen.⁷
Vgl. dazu Klaus Günther Variationsspielraum des Erzählbaren – Juristische Normen und individuelle Fallgeschichten: Verbindungslinien zwischen Recht und Literatur, in: Frankfurter Rundschau (Forum Humanwissenschaften), 20. Nov. 2001, S. 20; ders. Poetische Gerechtigkeit in Recht und Literatur – Max Frischs Homo Faber, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) (http://www.zis-online.com), 5 (1/2010), S. 8 – 19. Robert Cover Violence, Narrative, and the Law, Ann Arbor 1995. Den Hinweis auf dieses Theaterstück verdanke ich Klaus Lüderssen. Ich beziehe mich auf die Ausgabe: Oscar Wilde Ein idealer Gatte, aus dem Engl. übersetzt von Rainer Kohlmeyer, Stuttgart 1991.
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III. Hier sei die Handlung des Stücks kurz zusammengefasst: Sir Robert Chiltern, ein angesehener Unter-Staatssekretär im Auswärtigen Dienst der britischen Regierung, hat vor mehr als zwanzig Jahren einem wohlhabenden Baron ein Staatsgeheimnis verraten: Drei Tage vor dem Beschluss der Regierung, Suezkanal-Aktien zu kaufen, rät er ihm, seinerseits diese Aktien zu erwerben. Durch die enormen Kurssteigerungen nach der Bekanntgabe des Beschlusses macht der Baron einen unermesslichen Gewinn. Dafür belohnt er Chiltern reichlich, womit dieser über die materielle Grundlage für seinen gesellschaftlichen und politischen Aufstieg verfügt und einen Sitz im Unterhaus gewinnt. Mrs. Cheveley, die Witwe des inzwischen verstorbenen Barons, besitzt den verräterischen Brief Chilterns und erpresst ihn nun damit: Er soll im Parlament für ein aussichtloses argentinisches Kanalprojekt plädieren, gegen das Votum einer von ihm selbst eingesetzten Untersuchungskommission, weil Mrs. Cheveley sich davon ebenfalls steigende Kurse für ihre Aktien erhofft. Sollte er sich weigern, droht sie damit, den Brief der Presse zuzuspielen. Damit wäre seine politische Karriere beendet. Chiltern verspricht, sich für das aussichtslose Projekt einzusetzen. Lady Chiltern, seine Ehefrau, beschwört ihn, sich von seiner ablehnenden Haltung nicht abbringen zu lassen und bei seiner gut begründeten Überzeugung zu bleiben. Nicht nur im Falle seines Nachgebens, sondern auch dann, wenn die ihr noch nicht bekannte Verfehlung öffentlich würde, müsste Chiltern ernsthaft fürchten, die Liebe seiner Ehefrau zu verlieren, da sie von dem aufrechten und integeren Charakter ihres Mannes überzeugt ist und in ihm den idealen Gatten sieht. Chiltern nimmt daraufhin brieflich sein Versprechen gegenüber Mrs. Cheveley zurück. Daraufhin sucht sie Chiltern auf, wird aber von seiner Frau zurückgewiesen, weshalb Mrs. Cheveley ihr das Geheimnis offenbart. Lady Chiltern will ihren Mann verlassen und wendet sich an dessen vertrauten Freund Lord Goring. Indem dieser seinerseits Mrs. Cheveley mit dem Wissen über eine von ihr gestohlene Brosche erpresst, gelangt Lord Goring in den Besitz des gefährlichen Briefes, ohne dass er der Öffentlichkeit bekannt wird. Lady Chiltern lässt sich nach einigen weiteren Verwechslungen und Verwirrungen von Lord Goring überzeugen, ihrem Mann zu vergeben – froh über die erfolgreiche Vertuschung der Angelegenheit. Für den guten Ausgang sorgt am Ende auch noch die beabsichtigte Heirat Gorings mit Chilterns Schwester Mabel.
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IV. Versucht man, das Stück innerhalb eines Nomos zu interpretieren, so wird schnell deutlich, dass es hier um eine rechtlich relevante Verfehlung mit ihren Folgen für die Protagonisten geht, die darauf wiederum mit ihren jeweiligen normativen Überzeugungen reagieren. Die rechtliche Verfehlung ist ein Insider-Geschäft: Die unbefugte Mitteilung eines Regierungsbeamten über einen geplanten Aktienkauf der Regierung an eine Privatperson. Zusätzlich handelt es sich noch um den Verrat eines Staatsgeheimnisses, was die Verfehlung noch gravierender macht. Von dieser Verfehlung wussten bis kurz vor dem Zeitpunkt, an dem das Stück beginnt, nur die beiden unmittelbar Beteiligten, der inzwischen verstorbene Baron Arnheim und Lord Chiltern. Dass sie aufgedeckt wird, ist dem zufälligen Fund des Briefes durch Mrs. Cheveley geschuldet. Mit ihrem Erpressungsversuch gegenüber Chiltern kommt die Handlung in Gang. Die Reaktionen der Beteiligten, sowohl von Mrs. Cheveley als auch des Erpressungsopfers, sind von Rechtfertigungsnarrativen durchzogen. Auch die übrigen dramatis personae deuten das Geschehen und die sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten in Rechtfertigungsnarrativen. So trägt Mrs. Cheveley zur Rechtfertigung ihrer Erpressung die Deutung vor, dass Chiltern für „ein cleveres, skrupelloses Geschäft“, das er vor langer Zeit gemacht habe und aus dem ein großer Erfolg geworden sei, nun einen Ausgleich schaffen, dass er bezahlen müsse: „Und jetzt müssen sie dafür bezahlen. Früher oder später müssen wir alle bezahlen. Sie müssen jetzt bezahlen.“⁸ Es handelt es sich um ein Motiv der ausgleichenden Gerechtigkeit, das von demjenigen, der sich mehr genommen hat, als ihm zusteht, der das Gleichgewicht und die Gleichheit zwischen den Personen zu seinen Gunsten und zu Lasten Dritter gestört hat, einen Ausgleich verlangt. Dabei geht es nicht nur um die Verfehlung des Insider-Geschäfts und des Geheimnisverrats, sondern vor allem um die daraus erwachsenden Vorteile für die weitere Laufbahn und das Leben Chilterns. Sie stehen ihm nämlich nicht zu, weil sie aus einem von ihm verschuldeten Unrecht generiert worden sind. Das „Bezahlen“ folgt dabei einem uralten Motiv der ausgleichenden Gerechtigkeit. Bereits Anaximander von Milet formulierte sie als das den gesamten Kosmos beherrschende Gesetz, nach dem alle Dinge einander Ausgleich schaffen und Buße zahlen für ihre Ungerechtigkeit. Mrs. Cheveley spielt mit diesem Motiv der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht nur, um ihren Erpressungsversuch zu rechtfertigen. Sie nimmt für sich gleichzeitig
I, 27 (Zitate aus der Komödie werden im folgenden mit der Nummer des Aktes und der Seitenzahl der o.g. Ausgabe bezeichnet).
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in Anspruch, Vollstreckerin dieser ausgleichenden Gerechtigkeit zu sein, der sich kein Mensch entziehen kann: Alle Menschen müssen bezahlen, nur der Zeitpunkt steht noch nicht fest. Derart totalisiert, wird die ausgleichende Gerechtigkeit zu einem Prinzip, das den Nomos der Gesellschaft grundiert. Nicht nur einzelne rechtliche Verfehlungen, sondern das ganze Leben steht unter dem Imperativ des Ausgleichs. Gleichzeitig beutet Mrs. Cheveley jedoch das Gerechtigkeitsmotiv egozentrisch für ihre eigenen partikularen und Interessen aus. Sie bemäntelt ihre bösartige Absicht, Chiltern zu erpressen, nur damit, glaubt aber darauf vertrauen zu können, das das Gerechtigkeitsmotiv öffentlich so anerkannt und wirksam sei, dass es seine eigengesetzliche Kraft auch unabhängig von ihren egozentrischen Motiven entfalten würde. Dazu macht sie sich den Umstand zunutze, dass eine heuchlerische Öffentlichkeit auf individuelle Verfehlungen dieser Art mit Skandalisierung und Vernichtung der Reputation reagiert: „Sie vergessen doch nicht, wie weit es der Puritanismus in England gebracht hat. Früher tat niemand so, als sei er besser als seine Mitmenschen. (…) Heute jedoch, in unserer moralsüchtigen Zeit, da muss jeder als Ausbund von Integrität, Unbestechlichkeit und allen anderen der sieben teuflischen Tugenden posieren – und was ist das Ergebnis? Sie fallen wie die Kegel – einer nach dem andren.“⁹ Sie spürt zugleich, dass es die Idealisierungen und Übersteigerungen dieser Tugenden und der Moral sind, die eine Fallhöhe erzeugen, an der die ausgleichende Gerechtigkeit ihr Werk verrichten kann. Freilich lassen sich auch der weitere Fortgang und vor allem das Ende des Stückes so deuten, dass Mrs. Cheveley, indem sie sich die Position der Vollstreckung ausgleichender Gerechtigkeit anmaßt, um damit nicht diese selbst, sondern nichts andres als ihre eigensüchtigen Ziele zu verfolgen, damit selbst in deren Mahlwerk begibt und zu deren Opfer wird. Denn sie verlangt, gleichsam spiegelbildlich, nun ihrerseits ein Insidergeschäft von Chiltern für ihr Investment in ein argentinisches Kanalbauprojekt und hat mit dem Diebstahl der Brosche selbst auch gefehlt. Nicht sie selbst, sondern die Dramaturgie des Stückes führt vor, dass die Gerechtigkeit auch bei ihr für einen Ausgleich sorgt. Lord Chiltern seinerseits weiß sich von dem Motiv der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht frei, setzt aber zunächst alles daran, die eigene Verfehlung und das Unrecht der ihm daraus erwachsenen Vorteile, zu neutralisieren. Dafür bemüht er das Rechtfertigungsnarrativ des Erfolgs, mit dem sich das frühere Unecht nachträglich beseitigen oder doch zumindest erheblich verkleinern lasse. Der Erfolg rechtfertige den Regelbruch – und er steigert dies zu einer Forderung der Gerechtigkeit: „Ist es denn gerecht, dass diese Jugendtorheit, diese Jugendsünde
I, 26.
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meinetwegen, wenn man es schon Sünde nennen will, ein Leben wie das meine zugrunde richten, mich an den Pranger stellen, alle meine Anstrengungen, alle meine Leistungen zunichte machen soll? Ist das etwa gerecht, Arthur?“¹⁰ Das Unrecht wird mit dem Argument des effizienten Regelbruchs neutralisiert.¹¹ Die beiden Regelbrüche, das Insider-Geschäft ebenso wie der Geheimnisverrat, waren eine notwendige Bedingung für seinen späteren Erfolg, im Beruf ebenso wie im Leben. Da er sich ansonsten nichts weiter hat zuschulden kommen lassen, ja sogar als Vorbild moralischer Integrität gilt, wäre eine Bestrafung, und sei sie auch nur informeller Art wie des Ruins seiner Karriere als aufstrebender Politiker, sinnlos. Er wäre gleichsam nicht resozialisierungsbedürftig, da er sozial bestens integriert ist und sich seither rechtstreu verhalten hat. Im Verhältnis zu seiner „Jugendsünde“ ist der spätere Erfolg eine Art von moral luck. Sein Erfolg besteht ja nicht nur in privaten Vorteilen, sondern auch im Erlangen einer Position, in der er dem Gemeinwohl dient, und dies offenbar besser und effizienter als vergleichbare Politiker. Um offenbar stets wiederkehrende Zweifel an der rechtfertigenden Wirkung seines effizienten Regelbruchs zu beseitigen, war er aber auch im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit aktiv. Zwar habe er keine Gewissensbisse „im üblichen Sinne“ gehabt: „Aber ich habe viele Male Sühneopfer gezahlt. In der törichten Hoffnung, ich könnte das Schicksal versöhnen. Über das Doppelte der Summe, die mir Baron Arnheim gab, habe ich seither für Wohlfahrtszwecke ausgegeben.“¹² Schließlich nimmt er für sein Rechtfertigungsnarrativ des effizienten Regelbruchs noch eine weitere normative Ordnung des Nomos seiner Gesellschaft in Anspruch. Es ist erstaunlich, mit welchem Spürsinn Oscar Wilde ein Prinzip antizipiert, das sich inzwischen in modernen kapitalistischen Gesellschaften weitgehend durchgesetzt hat. Es handelt sich um die Gleichsetzung von Erfolg und Geld, die den Imperativ gebiert, dass man Geld haben müsse, um erfolgreich zu sein, und dass der individuelle Ehrgeiz zu seiner Befriedigung vor allem auf Geld angewiesen sei: „Wer Ehrgeiz besitzt und nach oben will, muß mit den Waffen seines Jahrhunderts kämpfen. Unser Jahrhundert liegt vor dem Geld auf den Knien. Geld heißt der Götze unserer Zeit. Zum Erfolg braucht man Geld. Geld um jeden Preis.“¹³ Es ist die einfache Neutralisierungstechnik, die darin besteht, dass die anderen es doch auch so machen, dass sie zumindest gleiche Absichten
II (S. 41). Vgl. dazu ausführlicher: Klaus Günther De nihilo aliquid facit – Zur Kriminologie des effizienten Regelbruchs, in: Henning Schmidt-Semisch u. Henner Hess (Hrsg.), Die Sinnprovinz der Kriminalität. Zur Dynamik eines sozialen Feldes, Wiesbaden 2014, S. 121– 136. II (S. 45). II, 41.
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hätten, so dass das eigene Unrecht weniger gravierend erscheint: „Ich hatte das Gefühl, daß ich das Jahrhundert mit seinen eigenen Waffen bekämpft hatte – und siegte.“¹⁴ Die Ermahnung Gorings, dass er auch ohne Reichtum Erfolg gehabt hätte, weist er mit einem ebenfalls für den Nomos der Moderne charakteristischen Argument zurück: Es hätte zu lange gedauert. „Wahren Erfolg hat man nur, solange man noch jung ist. Ich wollte meinen Erfolg, solange ich jung war. Jugend ist die richtige Zeit für Erfolg. Ich konnte nicht warten.“¹⁵ Er deutet seinen Erfolg als das Ergebnis einer ungeheuren Selbst-Schöpfung: „Sein ganzes Leben auf die Spitze zu treiben, bei einem Wurf alles zu riskieren, gleichgültig ob es um Macht oder Vergnügen geht – darin liegt keine Schwäche. Sondern furchtbarer, ungeheurer Mut. Ich hatte diesen Mut.“¹⁶ Damit schlägt er ein uraltes Gerechtigkeitsmotiv an: Dass jeder das bekomme, was ihm zustehe, und zwar nach dem Gesetz der Zeit. Chiltern hat dieses Gesetz gebrochen, indem er sich nicht durch Leistung seinen Erfolg verdient hat, in einem gelingenden Leben, das eher an seinem Ende vom verdienten Erfolg gekrönt wird, sondern zur Unzeit, zu früh. Unweigerlich beschwört er damit einen weiteren Aspekt des Narrativs der ausgleichenden Gerechtigkeit herauf, das ebenfalls schon Anaximander von Milet formuliert hatte. Der Ausgleich der Ungerechtigkeit durch Bußzahlung, dem alle Dinge unterworfen seien, richtet sich nach der Maßgabe der Zeit. Die Ungerechtigkeit besteht nicht nur in der unrechten Handlung, sondern darin liegt zugleich auch ein Versuch, mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, als einem zusteht. Werden und Vergehen, Geburt und Tod sind Ausgleichszahlungen für die vermessene Überschreitung der zugemessenen Zeit. In dem Maße, wie Chiltern seinen Erfolg früher erreichen will, als es ihm, wie Lord Goring anzudeuten versucht, nach dem Verlauf eines gelingenden Lebens in einer gerechten normativen Ordnung zugestanden hätte, maßt er sich eine Zeitüberschreitung an, so dass er für diese Ungerechtigkeit bezahlen muss. Auch am Ende des Stücks werden Motive der ausgleichenden Gerechtigkeit nochmals aufgenommen. Die Rede ist von Gnade, Vergebung, Schulden, Strafe und Opfer.Wenn Lord Goring erfolgreich versucht, Lady Chiltern dazu zu bringen, ihren Mann von dem von ihr begrüßten Entschluss abzuhalten, sich auf dem glänzenden Höhepunkt seiner Karriere aus der Politik zurückzuziehen, weil dies ein zu großes und ihre Ehe langfristig belastendes „Opfer“ sei und sie daraufhin mit großer Geste die ihr von Lord Goring eingeredete Vergebung nachredet.¹⁷ Auch Robert Chiltern verwendet dieses Narrativ, wenn er nach dem
II, 44. II, 41. II, 44. IV 112, 113.
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glücklichen Ende zu seinem Freund sagt, er schulde ihm viel. Dieses Bekenntnis bereitet dann die Einwilligung Chilterns in die Heirat von Lord Goring mit seiner Schwester vor.
V. Was das Stück deutlich werden lässt, ist, dass fast alle Beteiligten das Geschehen in Narrativen deuten, in denen es um eine ausgleichende und eine proportionale Gerechtigkeit geht. Dies geschieht zunächst auf der Ebene der Handlung: Die dramatis personae deuten ihr eigenes und das fremde Verhalten ebenso wie das Geschehen insgesamt mit einem Gerechtigkeitsnarrativ. Durchbrochen wird dies nur von Lord Goring, der versucht, sowohl seinen Freund als auch dessen Frau von einem idealisierenden Gerechtigkeitsnarrativ abzubringen oder solche Narrative ironisch zu kommentieren. Doch lässt das Stück offen, ob es sich dieses Narrativ selbst zu eigen macht. Eigentlich führt es dieses und seine Wirkungen nur anhand der Personen und ihres Verhaltens vor. Damit versetzt es den Zuschauer in eine gebrochene Distanz zu diesem Narrativ. Er kann es gleichsam bei der Arbeit beobachten, wie es sich in den Deutungen und Selbstdeutungen der handelnden Personen zur Geltung bringt. Doch spielt das Gerechtigkeitsnarrativ möglicherweise auch auf der Ebene der Dramaturgie des Stückes eine wichtige Rolle. Das Handlungsgeschehen ist ja so angelegt, dass am Ende diejenige leer ausgeht, die mit ihrem Erpressungsversuch das Narrativ der ausgleichenden Gerechtigkeit überhaupt erst in Gang gesetzt hat. Da sie selbst eine Ungerechtigkeit begeht und das Narrativ der ausgleichenden Gerechtigkeit nur heuchelt, führt das Stück vor, wie sie selbst zu deren Opfer wird. Sie steht am Ende als die Düpierte da und kann froh sein, dass sie wegen des Diebstahls der Brosche nicht bestraft wird. Freilich wäre der Schluss zu einfach, dass das Stück das Walten der ausgleichenden Gerechtigkeit in seinem erfolgreichen Verlauf darstellen und gutheißen wolle. Denn dass sie am Ende obsiegt, verdankt sich einer Serie kontingenter Ereignisse, hinter denen keinerlei Notwendigkeit steht: Dass Mrs. Cheveley zufällig ihre Brosche verliert, dass Mabel Chiltern sie zufällig findet und Lord Goring übergibt, dass Briefe abgesendet werden, die in falsche Hände geraten oder, wie im Falle von Chilterns Lektüre des von seiner Frau eigentlich an Lord Goring gerichteten Briefes, missverstanden werden. Diese die ausgleichende Gerechtigkeit befördernde Serie von kontingenten Ereignissen ist ebenso unrealistisch wie das für die Protagonisten glückliche Ende unwahrscheinlich. Man könnte darin einen ironischen oder gar kritischen Kommentar über das Narrativ der ausgleichenden Gerechtigkeit lesen: Es folgt keiner archaischen Notwendigkeit, sondern bloßem Zufall. Wer hier Not-
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wendigkeit am Werk sehen wollte, müsste schon ein Narrativ von der Kausalität des Schicksals heraufbeschwören, das auch noch den kleinsten Zufall für sich arbeiten lässt, um eine vorbestimmte Notwendigkeit zu erfüllen.
VI. Es ist jedoch nicht nur das Rechtfertigungsnarrativ der ausgleichenden Gerechtigkeit allein, mit dem die Protagonisten des Stückes ihre Handlungen und deren Folgen sowie das Geschehen mit seinen Zufällen deuten. Gleichzeitig erzählen sie stets auch über sich selbst und über die anderen, und zwar nicht nur mit Blick auf das jeweilige äußere Verhalten, sondern vor allem über Subjektives, ihre Überzeugungen, Absichten, Wünsche, Pläne und Ziele, über Motive und Gründe, über ihr Selbstverständnis und ihre Identität ebenso wie über den Charakter der anderen. In dem Maße, wie sie aktiv oder passiv in das Geschehen involviert sind, wirkt es sich wiederum auf die Selbst- und Fremddeutungen aus. Dazu gehört auch das jeweils subjektive Verhältnis zu den normativen Ordnungen, in denen sie leben, den Nomos, in dem sie wohnen. Solche Erzählungen über Subjektives gehören unter einem besonderen Aspekt stets auch zu einem Rechtfertigungsnarrativ. Die historischen Erfahrungen und Erwartungen, die Erzählungen über Ereignisse und Umbrüche, die Kämpfe und Auseinandersetzungen, die den lebensweltlichen Kontext normativer Ordnungen bilden, beziehen sich immer auch auf handelnde Subjekte, ihre Überzeugungen und Absichten, ihre Ziele und Selbstverständnisse, ihre Motive. Denn soweit handelnde Subjekte an den historischen Ereignissen teilnehmen, gestaltend, verändernd, retardierend auf sie einwirken, sich dabei von Überzeugungen leiten lassen, Absichten verfolgen und Pläne realisieren, wahrscheinliche Folgen kalkulieren und Interessen abwägen, werden ihnen diese Ereignisse auch zugerechnet. In der Folge davon wird ihnen Verantwortung zugeschrieben – und zuweilen nehmen sie diese Verantwortung auch explizit für sich in Anspruch. Freilich schreiben Rechtfertigungsnarrative nicht umstandslos und blind eine totalisierende Verantwortung zu. Wer in welchem Maße wofür verantwortlich ist, ist ein zentrales und oftmals strittiges Thema eines Rechtfertigungsnarrativs. Keine Erzählung einer Revolution als Gründungsereignis der Verfassung und des Rechts einer Gesellschaft kommt ohne Verantwortungszuschreibungen aus. Insbesondere dann nicht, wenn es um die Überwindung eines Unrechtsregimes geht. Dabei geht es immer auch um die Unterscheidung von Unglück du Unrecht, Schicksal und Verantwortung. In welchem Maße jemand etwas wofür kann, in welchem Maße die schädlichen Folgen einer Handlung vorhersehbar und be-
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herrschbar waren oder dem Zufall und unglücklichen, unvorhersehbaren Umständen und Ereignissen geschuldet sind, ist ein ständiges strittiges Thema. Im Zentrum steht der Streit über die Frage, ob und in welchem Maße jemand fähig und willens ist, nicht nur die jeweilige normative Ordnung zu befolgen, sondern überhaupt sich den Forderungen der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Gerechtigkeit ist nicht nur ein allgemeingültiges und insofern objektivierbares Prinzip, sondern seit Platon und Aristoteles auch eine Tugend. Eine objektive Gerechtigkeit würde wirkungslos bleiben, wenn ihr nicht bestimmten Haltungen und Einstellungen der Subjekte entgegenkämen. So formulieren es noch die Eingangssätze der römischen Digesten: Gerechtigkeit sei der stetige und konstante Wille, ehrenhaft zu leben, niemanden zu schädigen und jedem das Seine zugeben. Als Tugend verlangt die Gerechtigkeit vor allem, dass dieser Wille sich nicht durch zufällige Impulse oder die Aussicht auf eigene Vorteile und Privilegierungen gegenüber anderen auf eine ungerechtfertigte Ungleichheit korrumpieren lässt. Wer zufällig sich bietende Vorteile zu Lasten anderer ausnutzt, ruft nicht nur die ausgleichende Gerechtigkeit wie die Kausalität des Schicksals auf den Plan, sondern er verdirbt und korrumpiert den eigenen Willen, erwirbt einen schlechten Charakter, der nur noch Missachtung verdient. Diese Gefahr ist besonders dann sehr groß, wenn die Befolgung von Regeln der Gerechtigkeit und der Regeln sozialer Kooperation wie z. B. das Einhalten eines Versprechens, nicht überwacht und kontrolliert wird, sondern der Selbstkontrolle und Selbsteinwirkungsfähigkeit des Einzelnen überlassen bleibt. Zwar stützt sich das Recht nicht allein auf diese Tugenden und operiert deshalb auch mit der Androhung von Zwang. Aber keine Rechtsordnung vermag sich allein auf Zwang zu verlassen, weil dies ständige Überwachung und Kontrolle der Rechtsbefolgung und den sofortigen Einsatz von Zwangsmitteln bei jedem Rechtsbruch verlangen würde. Ohne ein Vertrauen auf eine durchschnittliche Rechtsbefolgungsbereitschaft jenseits der Furcht vor Sanktionen, also ohne ein Vertrauen auf die Motivationskraft von Gründen und die motivationale Disposition der Adressaten, aus Einsicht in diese Gründe das Recht zu befolgen, würde keine Rechtsordnung über längere Zeit stabil bleiben können. Vertrauen ist eine wichtige Ressource für soziale Kooperationen, die sich nicht allein auf Überwachung und Zwang stützen. Wie Martin Hartmann gezeigt hat, gehört Vertrauen zu vielen sozialen Praktiken der Kooperation, in denen es darum geht, dass der eine Erwartungen des anderen erfüllt und dabei über einen Handlungsspielraum verfügt, ohne von dem Vertrauenden kontrolliert zu werden.¹⁸ Sein Inhalt richtet sich nach der jeweiligen Art der Praxis. Vertrauen spielt eine zentrale Rolle in Liebe und Freundschaft, in der Familie, in spontanen Be-
Martin Hartmann Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011.
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ziehungen, die sich auf ein Versprechen gründen, aber auch in organisierten Formen sozialer Kooperation, z. B. in Arbeitsverhältnissen. Lisa Herzog hat diese Form des persönlichen Vertrauens unterschieden vom Rechtsvertrauen und dem Systemvertrauen.¹⁹ Das persönliche Vertrauen ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Vertrauen Schenkende bewusst das Risiko eingeht, in seiner Erwartung bezüglich des Verhaltens des Anderen enttäuscht zu werden, sich insofern also verletzbar zu machen. Denn der Vertrauende verzichtet auf alle Mittel der Kontrolle des Verhaltens des Anderen und auf Mittel der zwangsweisen Erfüllung seiner Erwartung. Das Vertrauen richtet sich vor allem darauf, dass der andere, dem man vertraut, die Verletzlichkeit aus eigensüchtigen Motiven nicht zu seinen Gunsten, für seine Interessen ausnutzen wird. Vernünftiges Vertrauen ist keineswegs blind, sondern stützt sich auf Gründe, die in der Person des Anderen liegen. Nur wenn derjenige, dem Vertrauen geschenkt wird, sich als eine Person erweist, die über relativ stabile Haltungen und Eigenschaften verfügt, sich auch anderen gegenüber als vertrauenswürdig erwiesen hat, wer in dieser Hinsicht einen entsprechenden Charakter hat, verdient Vertrauen. Zwar stellt das Recht für die Sicherung dieser Erwartung Zwangsmittel zur Verfügung und verringert das Risiko von Dissensen über das, wozu die Praktiken der Kooperation ihre Teilnehmer verpflichten, indem es einige dieser Praktiken formalisiert. So kann ein Versprechen in der Form eines Vertrages formalisiert und für den Fall der Verletzung unter die Drohung des Rechtszwangs gestellt werden. Die durchschnittliche Erwartbarkeit der rechtsförmigen Reaktion auf einen Vertrauensbruch begründet dann das Rechtsvertrauen. Aber dennoch kommt auch das Recht nicht ohne die Ressource des persönlichen Vertrauens aus. Niemand würde einen Vertrag mit jemandem schließen, von dem bekannt ist, dass man ihm nicht vertrauen könne. Vertrauen gründet sich also insofern auf die Tugend der Gerechtigkeit, als diese verlangt, die Kooperationsbereitschaft anderer und die damit einhergehende erhöhte Verletzlichkeit nicht zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen, den Handlungsspielraum nicht für den Gewinn eigener Vorteile auf Kosten des Vertrauenden zu missbrauchen, generell, sich in der Verfolgung eigener Interessen soweit einzuschränken, wie dies für die Beförderung der Interessen des Vertrauenden innerhalb der gemeinsam geteilten Kooperationspraxis erforderlich ist. Diese Haltungen und Handlungsdispositionen dürfen nicht zufällig, sondern müssen relativ stabil als Charaktereigenschaften in der Person verankert sein. Dies gilt in sozialen Beziehungen unter einander bekannten Personen ebenso wie in
Lisa Herzog Persönliches Vertrauen, Rechtsvertrauen, Systemvertrauen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2013, S. 529 – 548.
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anonymen Beziehungen zu unbestimmt vielen. Die Rechtsbefolgungsbereitschaft ist ein Beispiel für generalisiertes, auf unbestimmt viele, anonyme Andere gerichtetes, wechselseitiges Vertrauen, ohne welches Kooperationen nicht möglich wären. Kooperationsbereitschaft bedeutet unter anderem, auf eigene Schutz- und Abwehrmaßnahmen zu verzichten, auf präventive Strategien gegenüber dem anderen und dessen machtgestützte Kontrolle, auf den Versuch, den anderen zu dominieren, um dessen Dominanzbestrebungen zuvorzukommen. In positiver Hinsicht zeigt sich Kooperationsbereitschaft darin, dem Anderen gegebenenfalls Vorteile zu gewähren und Leistungen zu erbringen, im Vertrauen darauf, dass diese vom Anderen für die gemeinsame Kooperationspraxis verwendet werden und nicht ausschließlich für die egozentrische Verfolgung der eigenen Interessen. In beiden Hinsichten, sowohl der negativen mit dem Verzicht auf Abwehrbereitschaft, und der positiven, mit der Bereitschaft zu Vorleistungen, macht sich der Vertrauende gegenüber dem anderen verletzbar.
VII. „Ein idealer Gatte“ ist nicht nur ein Drama über Gerechtigkeitsnarrative, sondern auch und primär, ein Drama über Vertrauen. Das Wort taucht immer wieder auf. Im Vordergrund steht das Vertrauen zwischen Lord und Lady Chiltern, weiterhin aber auch das Vertrauen, das beide Lord Goring entgegenbringen, schließlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Staatsmann und Politiker, das Vertrauen, das Mrs. Cheveley von Chiltern einfordert, wenn sie darauf anspielt, dass ihre Kenntnis von dessen früherer Verfehlung und ihre eigenen rechtswidrigen Absichten sie einander vertraut machen würden, und, nicht zuletzt, die Rolle der „vertraulichen Tips“, der Insider-Information, auf dem spekulativen Kapitalmarkt. Das Stück führt vor, wie Vertrauen gebraucht, missbraucht, gebrochen, verspielt und wiedergewonnen werden kann. Anhand des Titels konfrontiert es die Zuschauer aber vor allem mit der unabschließbaren Frage, auf welche Gründe sich Vertrauen stützen kann, welche Maßstäbe der Vertrauenswürdigkeit für den Menschen angemessen sind. Lady Chiltern hält ihren Ehemann explizit für einen idealen Gatten: „Für die Welt wie für mich bist du immer ein Ideal gewesen.“²⁰ Die Gründe dafür glaubt sie im Charakter ihres Mannes zu finden, der so hohen Ansprüchen an Integrität, Wahrhaftigkeit, Unbestechlichkeit, damit auch Selbstbeherrschung zu genügen scheint, dass er als verkörpertes Ideal sich von allen anderen unterscheidet. Und dies nicht nur in ihren eigenen, sondern auch in den
I, 36 u. II, 68.
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Augen der Öffentlichkeit: „Du bist anders. Dein ganzes Leben lang bist Du anders gewesen als die andern. Du hast dich nicht von der Welt beschmutzen lassen. (…) dass du in das politische Leben unserer Zeit mehr Würde gebracht hast, mehr Anstand, eine Wende zu mehr Integrität und höheren idealen (…).“²¹ Dabei verlangt sie außerdem, dass diese Charaktereigenschaften ungebrochen und von Anbeginn präsent gewesen sein müssen. Eine verheimlichte Verfehlung, eine ans Licht kommende Schande in der Vergangenheit würden das Ideal sofort ins Gegenteil verkehren. Freilich ist der Blick auf die Vergangenheit einer Person notwendig, um sich ihrer Vertrauenswürdigkeit zu versichern. Lady Chiltern macht aus dieser für jeden, der Vertrauen schenkt, unvermeidlichen kognitiven Operation eine Art Unfehlbarkeitstest, der den kleinsten Makel sofort mit der Verneinung der Vertrauenswürdigkeit straft: „Unsere Vergangenheit zeigt, was wir sind. Nur daran erkennt man den Wert eines Menschen.“²² Ein solcherart makelloser Charakter muss resistent sein gegen Veränderung, das Ideal darf sich nicht an der Wirklichkeit des Menschen und seiner Lebensverhältnisse brechen. Daher nimmt sie gegenüber Mrs. Cheveley für sich in Anspruch, sich nie zu ändern.²³ Ihr gegenüber nennt sie auch den Grund, warum sie misstrauisch ist gegenüber allen anderen, die nicht diesem Ideal entsprechen: Das Leben „hat mich gelehrt, dass eine Person, die einmal eine Ungerechtigkeit begangen hat, dies womöglich ein zweites Mal tut und daher besser gemieden wird.“²⁴ Wenn es bei den idealisierten, positiven Charaktereigenschaften keine Änderungen gibt, dann umgekehrt auch bei den negativen nicht.Wer einmal gezeigt hat, dass er gegenüber der Tugend der Gerechtigkeit versagt, dass er das Vertrauen in seine Rechtsbefolgungsbereitschaft nicht erwidert, offenbart eine Charakterschwäche, die ihn des Vertrauens dauerhaft unwürdig macht. Das Stück zeigt nun, dass ein Vertrauen, das sich auf zu hohe Anforderungen an den Charakter des Anderen richtet, dessen Maßstäbe der Vertrauenswürdigkeit unangemessen streng sind, indem sie vom anderen verlangen ein Ideal zu sein, an der Realität scheitern muss. Lady Chiltern muss diesen schmerzhaften Lernprozess durchlaufen. Dabei ist ihre Fallhöhe auch deshalb so besonders groß, weil ihre Liebe sich ebenfalls ausschließlich auf das Ideal ihres Gatten bezieht, ja, weil sie geradezu ein Bedingungsverhältnis zwischen der Achtung vor dem idealen Charakter des Mannes und der Liebe der Frauen herstellt: „Wir Frauen verehren, wenn wir lieben; und wenn wir die Achtung verlieren, verlieren wir alles.“²⁵ Und
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etwas später: „Ich werde dich immer lieben, weil du es immer wert bis, geliebt zu werden. Das Edle zwingt uns, wenn es sich zeigt, zur Liebe!“²⁶ Es verwundert daher nicht, wenn das Offenbarwerden einer verheimlichten früheren Verfehlung Achtung unmittelbar in Missachtung umschlagen lässt, wenn mit dem Ideal auch die Liebe zu verschwinden scheint: „Komm mir nicht nahe. Rühr mich nicht an. Mir ist, als hättest du mich für immer beschmutzt.“²⁷ Indem sie ihre Liebe an den idealisierten Charakter ihres Gatten bindet, exponiert sich Lady Chiltern in ihrem Vertrauen in extremer Weise, macht sich verletzlich für die kleinste Verfehlung, die eine Charakterschwäche offenbart.
VIII. Lady Chilterns Erfahrungsprozess wird durch zwei Momente vorangetrieben. Das erste besteht darin, dass ein Vertrauen, das sich auf zu anspruchsvolle Maßstäbe für den Charakter des anderen gründet, nicht nur sehr schnell an der Wirklichkeit scheitern kann, sondern dass es den Anderen auch dazu verführt, sich zu verstellen, zu lügen, unaufrichtig zu sein. Der idealisierte Charakter wird für denjenigen, dem er zugeschrieben wird, ohne dass er ihm in jeder Hinsicht genügen könnte, den er jedoch nach außen hin aufrechterhalten will, um Liebe und Vertrauen nicht zu verlieren, zur Maske. Lady Chiltern spricht diese Einsicht aus: „Ach, die Maske, die du all diese Jahre getragen hast! Eine schreckliche, geschminkte Maske!“²⁸ Diese Nötigung, sich zu maskieren, besteht auch gegenüber einer moralisierenden politischen Öffentlichkeit, die zu hohe Ansprüche an die Integrität der politischen Akteure stellt, so dass die Befürchtung, bei der geringsten Verfehlung fallen gelassen zu werden, zur Verheimlichung treibt. Das zweite Erfahrungsmoment besteht darin, dass Männer, namentlich Männer vom Schlage eines Lord Chiltern, dem idealen Charakter nicht genügen können. Freilich stellt Chiltern dieses Unvermögen dem von seiner Frau geglaubten und zugeschriebenen Ideal nur abstrakt entgegen, so, als würde es sich um ein Problem zwischen Männern und Frauen handeln: „Die Frauen denken, sie machen Männer zu Idealen. In Wirklichkeit machen sie nur Götzen aus uns. Du machtest mich zu deinem Abgott, und ich hatte nicht den Mut, herunterzusteigen, dir meine Wunden zu zeigen, meine Schwächen zu verraten, weil ich Angst hatte, ich könnte deine Liebe verlieren, wie ich sie jetzt verloren habe.“²⁹
I, 38. II, 67. II, 68. II, 69.
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Darüber hinaus wissen allerdings sowohl Lord Chiltern als auch seine Frau, dass die hohen Maßstäbe an den idealen Charakter, an die Vertrauenswürdigkeit, nicht nur der, wie Lord Goring es ausdrückt „Progression des weiblichen Moralgefühls“³⁰ zuzuschreiben sind, sondern auch den von ihm selbst in der politischen Öffentlichkeit erhobenen und für sich in Anspruch genommenen Maßstäben. Dabei steht Chiltern nicht allein, sondern, wie Mrs. Cheveley gleich bei der ersten Begegnung sagt, sei dies „dem Puritanismus in England“ und der daraus hervorgegangenen moralisierenden Öffentlichkeit zuzuschreiben: „(…)heute jedoch, in unserer moralsüchtigen Zeit, da muss jeder als Ausbund von Integrität, Unbestechlichkeit und allen andere sieben teuflischen Tugenden posieren – und was ist das Ergebnis? Sie fallen wie die Kegel.“³¹ Es geht also um die Maßstäbe, die an einen Charakter zu stellen sind. Denn das Ideal eines vertrauenswürdigen Charakters, der sein Eigeninteresse domestiziert zugunsten der Interessen desjenigen, der ihm Vertrauen schenkt, um eine Praxis der Kooperation einzugehen und fortzusetzen, kollidiert mit den Imperativen einer kapitalistischen Marktgesellschaft, die ihren Akteuren die Verfolgung des Eigeninteresses geradezu abverlangt. Sämtliche Versuche, das Unrecht seines Geheimnisverrats und seines Insidergeschäfts Lord Goring gegenüber zu neutralisieren, um sich gegenüber der ausgleichenden Gerechtigkeit zu verteidigen, artikulieren diesen Imperativ. Chiltern hat ihn sich zu eigen gemacht, und daraufhin nur diese eine, aber für seine politische Karriere entscheidende Verfehlung begangen, um mit illegitimen Mitteln das von allen Marktteilnehmern geteilte und angestrebte Ziel zu erreichen: Geld, Macht und Erfolg, in ihrem wechselseitigen Bedingungs- und Ergänzungsverhältnis. Chiltern stellt es in seiner Unterredung mit dem Freund gleichsam als ein Gesetz der Zeit, seines Jahrhunderts dar: „Ich hatte das Gefühl, dass ich das Jahrhundert mit seinen eigenen Waffen bekämpft hatte – und siegte.“³² Auch wenn er den Profit, den er aus seiner Verfehlung schlägt, für legitime Zwecke verwendet, ein dem Gemeinwohl dienender, Integrität verkörpernder und einfordernder Politiker wird, bleibt sein Motiv, seine charakterliche Disposition, der Ehrgeiz und das Streben nach Macht. Er übernimmt das Credo Baron Arnheims, des vom Insider-Wissen Chilterns Begünstigten: „(…) und dass Macht, Macht über andere, über die Welt der einzige lohnende Besitz sei, der einzige erstrebenswerte Genuß, die einzige unerschöpfliche Freude, und daß in unserem Jahrhundert nur die Reichen diese Macht besäßen.“³³ Daran ändert auch die drohende ausgleichende Gerechtigkeit nichts. Gegen die Ein
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wände seines Freundes hält er daran zumindest in der ersten Unterredung noch fest: „Ich war damals anderer Meinung. Und bin es auch jetzt noch.“³⁴ Das Schicksal Chilterns lässt erkennen, wie prekär Vertrauen in einer Welt ist, die gleichzeitig die Verfolgung des Eigeninteresses fordert, wie sehr die vom Vertrauen verlangte Einschränkung dieses Eigeninteresses zugunsten der Interessen des Vertrauen Schenkenden mit dem Motiv kollidiert, ehrgeizig zu sein und den eigenen Vorteil zu suchen. Es lässt auch erkennen, dass in einer solchen Welt paradoxerweise das, worauf sich Vertrauen gründet, die geachtete charakterliche Integrität einer Person, ihre Anerkennung, ihre ideale Reinheit, nur unter Bedingungen zu erwerben sind, in denen man ehrgeizig nach Macht streben, sein Eigeninteresse unnachsichtig verfolgen muss. Nur so kann man in dieser Welt in geachtete Positionen kommen, deren Inhabern Vertrauen geschenkt, denen charakterliche Integrität zugeschrieben wird. Der Preis dafür ist, dass man sich verstellen und maskieren muss, um das dominante Motiv des Ehrgeizes und der Gier nach Macht, Geld und Erfolg zu verleugnen. Der Charakter personifiziert unmittelbar die gesellschaftlichen Verhältnisse einer kapitalistischen Marktgesellschaft, die sich den Anschein von Vertrauenswürdigkeit und Integrität gibt, also des Gegenteils derjenigen Imperative, welche diese Gesellschaft regieren: Die Maske wird zur Charaktermaske. Es ist Lord Goring, der diesen Widerspruch zwar nicht als einen seiner Gesellschaft thematisiert, jedoch ein Gespür dafür besitzt, dass man den Menschen unter diesen Bedingungen nicht allzu viel abverlangen kann, dass die Maßstäbe der Vertrauenswürdigkeit nicht zu hoch gesetzt werden dürfen. Man muss immer damit rechnen, dass der Andere in bestimmten Situationen das ihm geschenkte Vertrauen missbraucht, dass die egozentrischen Motive dominieren. So sagt er zu Lady Chiltern, „nach einer langen Pause“: „Niemand ist außerstande, etwas Törichtes zu tun. Niemand ist außerstande, Unrecht zu begehen.“³⁵ Aber man darf daraus nicht wie Lady Chiltern den vernichtenden Schluss ziehen, den Anderen nur noch zu missachten. Die Erfahrung, dass Vertrauen in dieser Welt unter diesen Umständen stets prekär ist, dass auch wohlmeinende, vertrauenswürdige Menschen der Versuchung erliegen können, Unrecht tun, die Kooperationsbereitschaft der anderen zum eigenen Vorteil und zu deren Schaden auszunutzen, motiviert eine andere Reaktion als die der Verachtung: „Alles, was ich weiß, ist, dass man das Leben nicht verstehen kann ohne viel Mitgefühl, dass man es nicht leben kann ohne viel Mitgefühl.“³⁶ Der Widerspruch zwischen Kooperationsbereitschaft und
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Eigensucht, zwischen den Ansprüchen der Vertrauenswürdigkeit und der Selbstliebe treibt die Menschen in dieser Gesellschaft an ihre Grenzen, und wenn sie diese Grenzen gelegentlich durchbrechen, dann ist das nur die Folge einer strukturellen Überforderung, eines Zerrissenseins unter dem Widerspruch, eine Kollision entgegengesetzter Imperative, für die sie letztlich nichts können, für die sie als einzelne nicht verantwortlich zu machen sind. Niemand kann sich darüber erhaben fühlen, deshalb ist Mitgefühl und nicht Verachtung die angemessene Reaktion. Lady Chiltern erfährt dies auf eine indirekte, wiederum paradoxe Weise. Nachdem sie Kenntnis von der Verfehlung ihres Mannes erlangt hat und dazu ansetzt, ihn zu verlassen, wendet sie sich hilfesuchend an den Freund Lord Goring und kündigt ihren Besuch mit einem Brief an, in dem sie das von ihm zuvor angebotene Vertrauen annimmt: „Ich habe Vertrauen. Ich werde kommen.“³⁷ Aber dieser an Goring gerichtete Brief gerät auf den Umweg über Mrs. Cheveley, die damit wiederum die böse Absicht verfolgt, das Ehepaar Chiltern noch mehr zu entzweien, am Ende in die Hände Chilterns. Dieser liest den Brief jedoch so, als sei er von seiner Frau an ihn selbst geschrieben – als würde sie ihm nun doch im Angesicht seiner Verfehlung wieder vertrauen. Der falsche Adressat dieses Vertrauens sieht darin diejenige Manifestation der Liebe, die ihm seine Schwächen nachsieht und verzeiht. Und obwohl seine Frau die Verwechslung erkennt, spielt sie das Spiel mit und schenkt ihm das Vertrauen, das ursprünglich gar nicht an ihn adressiert war. Vertrauen ist nicht nur prekär, sondern ist auch kontingent, Zufälle und Verwechslungen können zu neuem oder wiedergewonnenem Vertrauen führen. Freilich operiert die Dramaturgie des Theaterstückes so, dass dieses glückliche Ende letztlich auch verdient ist im Sinne der Gerechtigkeit. Chiltern bereut nicht nur seine Verfehlung und die ihr zugrundeliegende charakterliche Disposition.³⁸ Er erfährt an sich selbst, dass ihm die Liebe zu seiner Frau wichtiger ist als sein Streben nach Macht und Erfolg.³⁹ Und er ist bereit, diese Änderung seines Charakters auch durch ein Opfer zu besiegeln, indem er sich trotz des ihm angebotenen Kabinettsranges aus der Politik zurückziehen will. Dies macht ihn fähig zur Gnade, zum Verzeihen. Aber auch Lady Chiltern erfährt, dass es falsch war, Liebe an Bedingungen zu knüpfen, die in dieser Welt, in dieser Gesellschaft kein Mensch und, namentlich, – in einer Zeit, in der nur Männer Akteure auf einem kapitalistischen Markt waren – kein Mann zu erfüllen vermag. Erst nach dieser Prozedur ist Lady Chiltern auch, wiederum durch Zureden Lord Gorings, bereit,
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ihrem Mann das angebotene Opfer seines Rückzugs aus der Politik nicht abzuverlangen. Die ausgleichende Gerechtigkeit sorgt nicht nur dafür, dass am Ende Mrs. Cheveleys Erpressungsversuch auf sie selbst zurückfällt. Sie bricht sich auch an den Widersprüchen einer Gesellschaft, die an ihre Mitglieder keine allzu hohen Anforderungen an ihre Kooperations- und Rechtsbefolgungsbereitschaft stellen kann. Aber sie reagiert auch auf Einsicht, Reue und die Emanzipation der Lebensführung von falschen Idealen – dem Ideal absoluter, Integrität und Vertrauenswürdigkeit auf der einen und dem Ideal eines dem Ehrgeiz, der Macht und dem Erfolg geweihten Lebens auf der anderen Seite. Beide Ideale werden in ihrer Verabsolutierung dem Leben nicht gerecht, ein diesen Idealen geweihtes Leben verfehlt sich selbst. Es ist die klassische Aufgabe der poetischen Gerechtigkeit, sich selbst verabsolutierende Positionen in einen Widerspruch zu verstricken, um sie im Durchgang durch diesen Widerspruch scheitern zu lassen und damit zu entidealisieren, lebensgerecht werden zu lassen. Sowohl Lady Chilterns Hochmut, nur einen idealen Gatten lieben, den Gatten nur als Ideal lieben zu wollen, wird durch die ausgleichende Gerechtigkeit zu Fall gebracht – ebenso wie, komplementär dazu, der sich selbst verabsolutierende Ehrgeiz ihres Mannes, alles aufs Spiel zu setzen für Geld, Erfolg und Macht. Mrs. Cheveley ist die Furie contre coeur, die diesen Prozess der wechselseitigen Korrektur in Gang bringt.
IX. Bleibt zum Schluss noch zu fragen, ob sich daraus etwas für die Diskussion über die Strafwürdigkeit des Insiderhandels ergibt? Wie nicht anders zu erwarten, gibt es keine unmittelbar verwertbaren Ergebnisse. Indirekt freilich lässt das Stück aufmerksam werden auf einige der Probleme, die sich bei der Regulierung des Insiderhandels stellen. Das beginnt bei der Frage nach dem Rechtsgut. In seiner ersten Unterredung mit Lord Goring versucht Chiltern sich mit Blick auf sein Insidergeschäft zu verteidigen mit dem Argument: „Und letzten Endes,wem habe ich denn damit geschadet? Niemandem!“⁴⁰ Dabei übersieht er freilich, dass sein Verrat es Baron Arnheim ermöglichte, die Suezkanal-Papiere günstig zu erwerben, bevor durch den Beschluss der Regierung der Kurs in die Höhe schnellte. Er hat das Vertrauen missbraucht, das er in seiner Position genoss – und das Vertrauen der übrigen Anleger in einen Wertpapiermarkt geschädigt, in dem niemand in Vertrauenspositionen erlangte, kursrelevante Informationen weitergibt, um einem
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Marktteilnehmer einen Informationsvorspruch zu verschaffen. In der zweiten Unterredung mit Lord Goring zeigt Chiltern dann auch diese Einsicht: „(…) daß ich meine Karriere mit einem schäbigen Betrug begann, daß ich mein Leben auf Sand und Schande baute – daß ich wie ein gewöhnlicher Händler das Geheimnis verschacherte, das mir als Mann von Ehre anvertraut war.“⁴¹ Was das Drama aber vor allem erkennen lässt, sind die Schwierigkeiten, die sich einer Regulierung entgegenstellen, wenn sie auf Personen zielt, die unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktgesellschaft agieren. Chiltern selbst beruft sich darauf, dass Spekulationsgewinne üblicherweise durch vertrauliche Informationen erzielt würden: „Natürlich hatte ich vertrauliche Informationen über gewisse Kaufabsichten der damaligen Regierung, und ich handelte entsprechend. Vertrauliche Tips sind nun einmal die Hauptquelle der heutigen Spekulationsgewinne.“⁴² Der Vertrauensbruch durch die vertrauliche Weitergabe vertraulicher Informationen, das Vertrauen, das ein hoher Beamter der Regierung in der Öffentlichkeit genießt, das Vertrauen, das die Frau ihrem Mann wegen seines vermeintlich idealen Charakters entgegenbringt – diese Konstellation von Vertrauensphänomenen innerhalb des Dramas zeigt, dass jedes Vertrauen, auch das Marktvertrauen, letztlich auf persönliches Vertrauen gegründet, das stets prekär bleibt und damit rechnen muss, dass die Personen, denen man vertraut, die Kollision der eigensüchtigen Motive mit dem Motiv der Kooperationsbereitschaft nicht aushalten. Für die Frage der angemessenen Regulierung könnte sich daraus eine Warnung vor übersteigerten Erwartungen an die Integrität der Marktteilnehmer ergeben. Dies gilt vor allem für die vielfach diskutierte Option einer Entkriminalisierung. Eine freiwillige, private Selbstregulierung müsste sich davor hüten, zu hohe Anforderungen an die compliance der Marktakteure zu stellen. Falsche Idealsierungen beschwören, wie das Stück zeigt, nur Verstellung und Verleugnung herauf. Jede Selbstregulierung ist aber darauf angewiesen, dass die Adressaten sich selbst binden, dass sie die Verfolgung eigner Vorteile auf Kosten anderer zugunsten der compliance zurückstellen. Auf einem globalen Finanzmarkt, dessen an jeden Akteur gerichteter Imperativ, erfolgreich zu sein und möglichst hohe Gewinne zu erzielen, noch härter ist als zur Zeit Oscar Wildes, dürfte es fraglich sein, ob man so viel charakterliche Integrität erwarten darf. Der globale Finanzmarkt lässt sich gewiss nicht als eine Tugend-Republik organisieren. Daher müsste zumindest ein öffentlicher Druck durch das Risiko der Skandalisierung, des öffentlichen shame and blame mit der Folge des Reputationsverlusts hergestellt
III, 80. II, 40.
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werden, um die Akteure zur compliance anzuhalten. Das spräche dann doch eher dafür, die Kriminalisierung beizubehalten. Das Strafrecht rechnet damit, dass Menschen Unrecht tun können. Deswegen verlässt es sich nicht allen und ausschließlich auf die durch charakterliche Integrität begründete Rechtsbefolgungsbereitschaft der Adressaten. Freilich müsste es auch wiederum die auf dem Finanzmarkt notorische Motivkollision zwischen Rechtstreue und einer ubiquitären Bereitschaft, Vertrauen auszunutzen, um sich Vorteile zu verschaffen, entlastend berücksichtigen – zumindest bei der Strafzumessung.
Einzelfragen: Entwicklungstendenzen im Korruptionsstrafrecht
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Die Strafbarkeit von Hospitality-Einladungen nach deutschem Recht sowie den Vorschriften von FCPA und UK Bribery Act Gliederung A. B. C. D.
E.
F.
G. H.
Einführung Wirtschaftsfaktor „Hospitality“ Die strafrechtlichen Rahmenbedingungen Reaktionen der Sponsoren- und Sportverbände . S -Leitfaden . Selbstverpflichtungserklärung der Fußballverbände . Stellungnahme zu diesen Lösungsansätzen Sozialadäquanz als Lösungsansatz . Die Lehre von der Sozialadäquanz . Sind Hospitality-Einladungen sozialadäquat? Ausländische Vorschriften: UK Bribery Act und FCPA . UK Bribery Act . FCPA . Vergleich von UK Bribery Act und dem FCPA . Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben in Deutschland Zusammenfassung Bibliographie
A. Einführung „Fußball ohne Nachspiel“ – die zunehmende Gelassenheit der Manager im Hinblick auf Einladungen in die VIP-Logen von Fußballstadien war dem Handelsblatt am 19.03. 2014 im Hinblick auf die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft eine ganze Seite wert.¹ Die Aufregung nach dem „Claassen-Fall“² bezüglich der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat sich gelegt, doch sie blieb nicht ohne Folgen. Zwar strömen die Manager wieder in die Stadien, doch sie sollen dabei angeblich auf absolute Transparenz achten: Dies beginnt idealerweise bei der Form der Einla-
Unter dem Titel „Fußball ohne Nachspiel-Manager lassen sich wieder in Logen der Stadien einladen. Rechtliche Bedenken schwinden.“, Handelsblatt, Ausgabe vom 19. 3. 2014, S. 22. BGHSt 53, 6.
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dung, geht über die Genehmigung dieser durch den Vorgesetzten, wobei Position und Einfluss des Eingeladenen zu beachten sind, und endet im Stadion, wo ein Treffen mit klarem Geschäftszweck stattfindet. Diese Vorgehensweise lässt sich zumindest den Empfehlungen der S20 in „Hospitality und Strafrecht – ein Leitfaden“ entnehmen.³ Im Hinblick darauf lohnt sich ein Blick auf die Bedeutung von HospitalityEinladungen für die Wirtschaft, die strafrechtlichen Rahmenbedingung, sowie die internationalen Reaktionen auf das Problem der möglichen Strafbarkeit.
B. Wirtschaftsfaktor „Hospitality“ Übersetzt man den Begriff „hospitality“ zunächst wörtlich, so bedeutet er Gastfreundschaft oder Gastlichkeit. Im Rahmen von Veranstaltungen, wie z. B. kulturellen Großereignissen oder Fußballspielen, hat sich die Bezeichnung als Sammelbegriff für einen Bereich mit besonderem Service, hohem Komfort sowie Bewirtung bzw. Catering etabliert.⁴ Hospitality-Einladungen kommen in vielen Bereichen vor. In absoluten Zahlen gemessen werden die meisten Einladungen dieser Art jedoch im Sportbereich ausgesprochen.⁵ Zwischen 20.000 und 30.000 VIP-Gäste strömen pro Spieltag alleine in der 1. und 2. Fußball-Bundesliga in die Stadien.⁶ Dabei werden mit den Eintrittskarten des Hospitality-Bereiches, welcher gerade einmal 5 bis 6 % des gesamten Platzangebotes ausmacht, rund 52 % des Ticketumsatzes erwirtschaftet. Der durchschnittliche Preis eines Logenplatzes in der Fußball-Bundesliga betrug im Jahr 2009 etwa 7.800 Euro pro Saison.⁷ Geht man dabei von zumindest 17 Heimspielen aus, so ergibt sich ein durchschnittlicher Preis je Spiel und Platz von höchstens 458 Euro.
Hospitality und Strafrecht – ein Leitfaden, S20 –The Sponsor′s Voice, Juli 2011 (Abrufbar unter anderem auf dem Internetauftritt von S20 und des Deutschen Olympischen Sportbundes (Fn. 54)); Zum Leitfaden siehe: Richter NJW-Spezial 2011 S. 568 f. Initiative Profisport Deutschland, Stellungnahme, S. 1 (Abrufbar unter: http://www.bundestag. de/bundestag/ausschuesse17/a05/anhoerungen/Steuerliche_und_rechtliche_Fragen_im_Zusam menhang_mit_Sportsponsoring_und_Hospitality-Angeboten/Stellungnahmen/Initiative_Profi sport_Deutschland-Stellungnahme.pdf [Stand 09.01. 2012]). Initiative Profisport Deutschland, Stellungnahme, S. 1 (Fn. 10). Ludwig/Jacobi Jahrbuch Sponsoring 2009 S. 40 ff. (40); Spannagel (Fn. 2) spricht sogar von 50.000. Thomas Hospitality unter Generalverdacht?, S. 4 (Abrufbar unter: http://www.markenkonferenz sport.de/mks/download/JET_MK_HH_2009.pdf [Stand 09.01. 2012]).
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Insgesamt wurden durch die Vermarktung der Hospitality-Pakete im Jahr 2009 über 240 Millionen Euro in den großen deutschen Profiligen⁸ erzielt, was einen Anteil von beträchtlichen 12,6 % des Gesamtumsatzes ausmachte. Allein dem FC Bayern München sollen nach Presseberichten rund 35 Millionen Euro pro Saison aus Hospitality-Einnahmen zufließen.⁹ Dabei entfällt auf die beiden höchsten deutschen Fußball-Ligen zwar ein Großteil der Einnahmen, die Abhängigkeit von diesen ist in den kleineren Ligen jedoch noch viel höher. Die Bedeutung der Hospitality-Maßnahmen für den deutschen Profisport ist somit immens und die Sportvermarkter entwickeln die Idee trotz der angesprochenen Unsicherheiten weiter. So war jüngst zu lesen, dass angesichts des Umstands, dass fast ein Drittel der VIP-Gäste mittlerweile weiblich sind, neben Sterneköchen und DJs demnächst auch Modenschauen und Shoppingangebote in den VIP-Bereichen vorstellbar seien und auch Kontakt zu einem Starfriseur bestünde.¹⁰ Ob wohl ein wirklich guter Haarschnitt einen Amtsträger oder eine Geschäftspartnerin geneigt machen könnte?
C. Die strafrechtlichen Rahmenbedingungen Wechselt man nunmehr die Perspektive und betrachtet die Einladungen zu entsprechenden Sportveranstaltungen aus Sicht des Strafrechts, so stehen die Korruptionstatbestände (§§ 108e, 299, 331 ff. StGB), die Steuerhinterziehung (§ 370 AO)¹¹ und die Untreue (§ 266 StGB)¹² im Fokus des Interesses. Die Straftatbestände der §§ 331 ff. StGB (öffentlicher Bereich) wurden in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt auch durch internationale Vorgaben, stetig ver-
DFL Deutsche Fußball Liga GmbH, Beko Basketball Bundesliga, Deutsche Eishockey Liga, und Toyota Handball Liga. Eberle im Spiegel 38/2011 vom 19.09. 2011 S. 132 (Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-80451042.html [Stand 09.01. 2012]). Eberle im Spiegel 38/2011 S. 132 (Fn. 15). Dem Aspekt einer möglichen Steuerhinterziehung soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Zur steuerlichen Behandlung siehe: Stellungnahmen des BMF mit den Schreiben vom 22.08. 2005 (BStBl. I S. 845 ff.), 30.03. 2006 (BStBl. I S. 307 ff.), 11.07. 2006 (BStBl. I S. 447 ff.) und 28.11. 2006 (BStBl. I S. 791 ff.). Siehe auch: Initiative Profisport Deutschland, Stellungnahme, S. 5 (Fn. 10). Auch der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Strafbarkeit nach § 266 StGB in Frage kommt, soll an dieser Stelle nicht vertieft nachgegangen werden.
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schärft.¹³ Ihre aktuelle Gestalt erhielten sie durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption,¹⁴ durch welches unter anderem¹⁵ in den §§ 331 und 333 StGB die so genannte Unrechtsvereinbarung „gelockert“ wurde.Weiter unterfallen den §§ 331 ff. StGB seither ausdrücklich auch Drittvorteile. Folge dessen ist eine massive Ausweitung der vom Anwendungsbereich der Straftatbestände potentiell erfassten Sachverhalte, was in vielen Bereichen zu massiven Wertungswidersprüchen und Abgrenzungsproblemen¹⁶ führt. Als geschützte Rechtsgüter der §§ 331– 338 StGB werden überwiegend die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes und das Vertrauen der Allgemeinheit hierin genannt.¹⁷ Maßgeblich für die vorliegende Betrachtung ist jedoch aus Sicht des Gebenden höchstens § 333 Abs. 1 StGB¹⁸ (Vorteilsgewährung). Nach dieser Norm macht sich derjenige strafbar, der einem Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB)¹⁹ für dessen Dienstausübung einen Vorteil für diesen selbst oder einen Dritten anbietet, verspricht oder gewährt. Unter einem Vorteil ist dabei jede Leistung materieller oder immaterieller Art zu verstehen, die den Amtsträger oder einen Dritten wirtschaftlich, rechtlich oder auch nur persönlich objektiv besser stellt und auf die er keinen rechtlich begründeten Anspruch hat.²⁰ Unstreitig ist ferner, dass der Tatbestand nicht schlicht jedwedes Anbieten usw. des Vorteils an einen Amtsträger pönalisiert. Auch nach den Änderungen durch das KorrBekG bleibt es dabei, dass zumindest eine so genannte gelockerte Unrechtsvereinbarung nachgewiesen werden muss.²¹ In der Variante des Anbietens genügt es dabei, wenn das Angebot auf den Abschluss einer solchen Übereinkunft gerichtet ist.²² Der Straftatbestand des § 299 StGB (geschäftlicher Verkehr) wurde erst durch das KorrBekG²³ in das StGB eingefügt und war ursprünglich in § 12 UWG a. F.
Zur Gesetzgebungsgeschichte: Kuhlen in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen § 331 Rn. 1 ff.; Sowada LK, Vor. § 331 Rn. 20 ff.; Fischer § 331 Rn. 1 f. Korruptionsbekämpfungsgesetz – KorrBekG – vom 13.08.1997, in Kraft getreten am 20.08.1997 (BGBl. I 1997). Ausführlich zu den Änderungen durch das KorrBekG: Korte NStZ 1997, 513 ff. Siehe beispielhaft: BGHSt 47, 295 ff. (Drittmittel); Michalke StV 2011, 492 ff. (492) m.w.Bsp. So z. B. Fischer § 331 Rn. 3; Trüg BeckOK-StGB, § 331 Rn. 3 ff. jeweils m.w.N. (str.). Pflichtwidrige Handlungen im Sinne des § 334 StGB können nicht sozialadäquat sein (Eser FS Roxin S. 199 ff. (201); Kuhlen in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen § 331 Rn. 88). Als weitere taugliche unmittelbare Vorteilsempfänger kommen nach § 333 Abs. 1 StGB auch die für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten (§ 11 Abs. 1 Nr. 4 StGB; Näher z. B.: Tsambikakis Anwaltskomm- StGB, § 11 Rn. 48 ff.) und Soldaten der Bundeswehr in Betracht. BGH NStZ 2002, 648 ff. (650); Fischer § 331 Rn. 11 m.w.N.; Näher zum Begriff des Vorteils: Sowada LK § 331 Rn. 31 ff.; Rudolphi/Stein SK-StGB, § 331 Rn. 19 ff. Näher hierzu z. B.: BGH NStZ 2008, 688 ff. (690); Sommer Anwaltskomm-StGB, § 331 Rn. 30 ff. BGH NStZ 2008, 688 ff. (691); Fischer § 333 Rdn. 4; Lackner/Kühl § 333 Rn. 3. Siehe Fn. 20.
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loziert,²⁴ wobei er nunmehr jedoch den §§ 331 ff. StGB systematisch nachgebildet wurde.²⁵ Die Regelung schützt nach herrschender Ansicht den freien Wettbewerb.²⁶ In Abweichung zu § 333 Abs. 1 StGB wurde die Unrechtsvereinbarung in § 299 Abs. 2 StGB für die Geberseite jedoch nicht gelockert,weshalb die Gewährung des Vorteils als Gegenleistung für eine künftige unlautere Bevorzugung angeboten usw. werden muss.²⁷ Schließlich kommt im Bereich der Korruptionsdelikte noch § 108e Abs. 1 StGB bezüglich der Abgeordneten des Bundes- sowie der Landtage und hinsichtlich der Einladung von kommunalen Mandatsträgern²⁸ in Frage. Dieser Straftatbestand ist allerdings derart restriktiv gefasst, dass ein Strafbarkeitsrisiko praktisch fast ausgeschlossen ist.²⁹
D. Reaktionen der Sponsoren- und Sportverbände In Anbetracht der auch nach dem BGH-Urteil in der Causa Claassen³⁰ weiterhin bestehenden Unsicherheiten im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen erlaubter Kontaktpflege und strafbarer so genannter „Klimapflege“ wurden von den Sponsoren unterschiedliche Wege zum Umgang mit der Problematik gewählt. Zunächst waren die Bedenken groß, dass es nunmehr zu einer panikartigen Flucht der Sponsoren aus dem gesamten Bereich komme und die Vereine mit erheblichen Einnahmerückgängen zu rechnen haben.³¹ Diese Befürchtungen sind zumindest in der breiten Masse nach Bekundungen in den Medien nicht eingetreten.³² Einige Unternehmen, wie z. B. die Telekom AG, hatten gleichwohl ihre Loge vorübergehend zurückgegeben. Andere Unternehmen gingen dazu über, die
Diemer/Krick MüKo, § 299 Rn. 1; Leipold NJW-Spezial 2007, 423. Heine Sch/Sch, § 299 Rn. 1; Staschick SpuRt 2010, 187 ff.(190 m.w.N.). BT-Drs. 13/5584 S. 9; Fischer § 299 Rn. 2; Diemer/Krick MüKo, § 299 Rn. 2 jeweils m.w. N. (str.). Näher z. B.: Böttger Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis, S. 366 ff.; Sahan in: Graf/Jäger/Wittig S. 834 ff. BGH NJW 2006 S. 2050 ff. (besprochen z. B. in NJW-Spezial 2006, 330 f.). Dementsprechend wird auch diesem Strafbarkeitsrisiko an dieser Stelle nicht vertieft nachgegangen. BGHSt 53, 6. So z. B. der Ansatz im Leitfaden „Hospitality und Strafrecht“ (Abrufbar unter: http://www.dosb. de/fileadmin/fm-dosb/downloads/recht/Sponsoren_S20_leitfaden_250711.pdf [Stand 09.01. 2012]) Siehe auch: Ludwig/Jacobi Jahrbuch Sponsoring 2009, 40 ff. (42). Siehe z. B.: Spannagel (Fn 2); Heermann Stellungnahme, S. 9 (Fn. 46); wohl a.A.: Initiative Profisport Deutschland, Stellungnahme, S. 5 (Fn. 10).
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Einladungen nunmehr mit einem Hinweis zu versehen und zu versenden, dass man mit dieser Einladung nicht beabsichtige Einfluss auf die Dienstausübung oder Entscheidungen zu nehmen.³³
1. S 20-Leitfaden Einen ganz anderen Ansatz wählte die Sponsorenvereinigung S 20 – The Sponsors Voice e.V., welche in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Olympischen Sportbund und unter Mitwirkung der Bundesministerien des Inneren und der Justiz den bereits angesprochenen knapp 30 Seiten umfassenden Leitfaden³⁴ – „Hospitality und Strafrecht“ – erarbeitete, welcher in den Medien auch als VIP-Kodex³⁵ bezeichnet wurde. Ausgehend von der Verunsicherung der Beteiligten und dem Hinweis, dass weder die gesetzlichen Vorgaben noch die Ausführungen im Claassen-Urteil des BGH³⁶ diese bisher beseitigen konnten, sollen die Ausführungen den Unternehmensjuristen und Mitarbeitern der Compliance-Abteilungen Hilfen im Umgang mit der Problematik an die Hand geben und die Diskussion in der Politik in Gang halten. Der Leitfaden ist hierzu in zwei Abschnitte unterteilt, wobei sich im ersten Abschnitt Ausführungen zu den Straftatbeständen der §§ 331 ff. StGB und § 299 StGB sowie grundsätzliche Empfehlungen finden und im zweiten Abschnitt die Empfehlungen auf Grundlage von typischen Einladungsszenarien und Beispielen erörtert werden. Eindeutig angemerkt wird dabei, dass die Risiken im Anwendungsbereich des § 299 StGB deutlich geringer sind als bei den §§ 331 ff. StGB. Im Fall einer Zuwendung an den alleinigen Betriebsinhaber scheide ein Strafbarkeitsrisiko ganz aus. Sobald jedoch im Hinblick auf die §§ 331 ff. StGB eine auch nur in Ansätzen problematische Konstellation präsentiert wird, beschränkt sich der Leitfaden darauf, dass nunmehr eine Einzelfallprüfung im Sinne einer Gesamtabwägung geboten sei. Das hilft dem Lösungssuchenden nur wenig weiter.
Paster/Sättele NStZ 2008, 366 ff (374 m.w.N.) im Hinblick auf eine zeitweise gewählte Vorgehensweise bei der Siemens AG und unter Verweis auf die Berichterstattung im Spiegel (Nr. 16/2008 vom 14.04. 2008 S. 79). Abrufbar unter anderem auf dem Internetauftritt von S20 und des Deutschen Olympischen Sportbundes (Fn. 54); zum Leitfaden siehe: Richter NJW-Spezial 2011, 568 f. So im Beitrag „Sponsoren wollen Rechtsunsicherheit beheben“ von Stefan Merx in der Onlineausgabe des Handelsblatts vom 28.07. 2011 (Abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com/ sport/fussball/nachrichten/ sponsoren-wollen-rechtsunsicherheiten-beheben/4441146.html? p4441146=all [Stand 09.01. 2012]). BGH NJW 2008, 3580 ff.
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2. Selbstverpflichtungserklärung der Fußballverbände Vom Ansatz her in die gleiche Richtung geht auch die von der Deutschen Fußball Liga GmbH (DFL) und dem Deutschen Fußball Bund (DFB) vorgelegte Selbstverpflichtungserklärung vom September 2011 mit dazugehörigem Memorandum.³⁷ Im Rahmen der Selbstverpflichtungserklärung versprechen die Unterzeichner, keine Einladungen zu Fußballspielen auszusprechen, die dienstliche oder geschäftliche Pflichten in rechtswidriger Weise beeinflussen oder den Anschein einer solchen Beeinflussung erwecken und die Grundsätze von Transparenz und ordnungsgemäßer Buchführung einzuhalten. Anschließend werden ebenfalls die relevanten Tatbestände erläutert und Verhaltensempfehlungen ausgesprochen. Auch enthält das Memorandum kurze Beispielszenarien und gibt detaillierte Hinweise, wie die eingeladenen Personen etwa auf die Genehmigungsbedürftigkeit oder ihre steuerlichen Pflichten hingewiesen werden sollten. Auch diese Publikation zeigt die Probleme, die sich bei Hospitality-Einladungen ergeben, ebenso wie Strategien zur Vermeidung dieser Probleme, auf.
3. Stellungnahme zu diesen Lösungsansätzen Die bisher aufgezeigten Lösungsansätze sind im Ergebnis unbefriedigend, da sie die bestehenden Unsicherheiten überwiegend nicht beseitigen. Teilweise erscheinen die Vorschläge zu radikal. Andere Vorschläge erzeugen hingegen eine fatale Illusion von Sicherheit, die sie nicht gewähren. Betrachtet man zunächst den Ansatz, welchen z. B. die Siemens AG zumindest zeitweise wählte, nach welchem die Einladungen mit dem Hinweis ausgesprochen wurden, dass man hiermit keine Einflussnahme beabsichtige, so erscheint dies nicht Erfolg versprechend. Wie Paster und Sättele ³⁸ zutreffend anmerken, werden sich die Ermittlungsbehörden hiervon kaum beeindrucken lassen. Papier ist geduldig und der Hinweis wird wohl als reines Lippenbekenntnis eingeordnet werden, welches keine Rückschlüsse ermöglicht. Auch der bereits angesprochene Ansatz der Telekom AG überzeugt nur zum Teil. Wenn man natürlich gar keine Amtsträger mehr einlädt, kann man sich grundsätzlich auch nicht nach §§ 331 ff. StGB strafbar machen. Zu beachten ist dabei jedoch, dass auch der Amtsträgerbegriff des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB im hohen Maße unbestimmt ist und häufig erst durch höchstrichterliche Rechtspre-
Abrufbar unter http://events.dfb.de/uploads/media/dfb_broschuere_hospitality_09 – 11_ 100dpi.pdf, zuletzt abgerufen am 13.05. 2014. Paster/Sättele NStZ 2008, 366 ff. (374).
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chung geklärt wird, ob eine Person tatsächlich als Amtsträger einzuordnen ist oder nicht.³⁹ Darüber hinaus ist der vollständige Ausschluss der Einladung von Amtsträgern im Ergebnis unbefriedigend, ja fast schon diskriminierend, und dürfte auch nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein. Man entschied sich im Gesetzgebungsverfahren bewusst nicht dafür, dass alle Zuwendungen an Amtsträger strafbar sind.⁴⁰ Soweit man eine monetäre Obergrenze für Einladungen vom Vorstand des Unternehmens vorgeben lassen will, mag dies den Angestellten bei der Orientierung helfen. Die Gefahr besteht dabei darin, dass die Ermittlungsbehörden sich nur insoweit daran orientieren könnten, dass sie bei Überschreitung dieser Grenzen durch Mitarbeiter des Unternehmens hierin ein klares Indiz für eine strafbare Zuwendung sehen, deren Einhaltung aber als nicht bindend betrachten. Der letztgenannte Aspekt lässt sich auch auf den S20-Leitfaden übertragen. Soweit dort darauf hingewiesen wird, dass das Strafbarkeitsrisiko im Rahmen des § 299 StGB auf Grund der Tatbestandsvoraussetzungen deutlich geringer ist, so ist dies zutreffend.⁴¹ Auch soweit angemerkt wird, dass Zuwendungen an den alleinigen Betriebsinhaber nicht der Regelung des § 299 StGB unterfallen, ist dies grundsätzlich richtig. Gleichwohl ist auch dort Vorsicht geboten, da die Frage, welche Personen davon erfasst sind, noch nicht abschließend geklärt ist.⁴² Weiter ist Schaupensteiner ⁴³ zuzustimmen, soweit dieser anmerkt, dass der Leitfaden fälschlicherweise im Bereich der Amtsträgerkorruption suggeriere, dass eine Strafbarkeit nur in Betracht komme, wenn man eine konkrete Gegenleistung erwarte. Der Anwendungsbereich von §§ 331, 333 StGB geht vom Wortlaut und der Intention des Gesetzgebers her deutlich weiter.⁴⁴ Schließlich beschränkt sich der Leitfaden in allen auch nur im Ansatz problematischen Konstellation auf den Hinweis, dass nunmehr eine Einzelfallprüfung im Sinne einer Gesamtabwägung geboten sei. Dies mag zwar ausgehend von den bisherigen Ausführungen und dem Claassen-Urteil des BGH zutreffend sein, bedeutet allerdings auch, dass der über
Siehe hierzu z. B. Michalke StV 2011, 492 ff. (492 f.). Siehe z. B. BGH NJW 2008, 3580 ff. (3582 m.w.N.). Zur Frage der grundsätzlichen Übertragbarkeit der Wertungsaspekte der Claassen-Entscheidung auf den Bereich des § 299 StGB siehe z. B.: Hamacher/Robak DB 2008, 2747 ff.; Staschik SpuRt 2010, 187 ff. Näher hierzu: Sahan in: Graf/Jäger/Wittig S. 838 ff.; Fischer § 299 Rn. 8a. Schaupensteiner zum Leitfaden im Beitrag „Noch ein Schnittchen vielleicht?“ von René Martens in der Financial Times Deutschland vom 06.09. 2011 (Abrufbar z. B. unter: http://www. schaupensteiner.de/_doc/20110906_FTD.pdf [Stand 09.01. 2012]). BGH NJW 2008, 3580 ff. (3582 m.w.N.).
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das Urteil hinausgehende Erkenntnisgewinn aus dem Leitfaden für Juristen minimal ist.⁴⁵ Es verbleibt mithin vorläufig der unbefriedigende Befund, dass die Benennung klarer Grenzen ausgehend vom Wortlaut der Regelung bisher nur schwer möglich war und auch der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes sich nicht in der Lage sah, Klarheit zu schaffen. Dieser führte wörtlich aus: „Der Senat ist sich bewusst, dass das Merkmal der Unrechtsvereinbarung nach der hier vorgenommenen Auslegung im Randbereich kaum trennscharfe Konturen aufweist; dies kann zu Beweisschwierigkeiten führen und räumt dem Tatrichter eine beträchtliche Entscheidungsmacht ein.“⁴⁶
Ob deshalb allerdings – ausgehend von Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz⁴⁷ – ein Abstellen auf die Verfassungswidrigkeit des Straftatbestands⁴⁸ Aussicht auf Erfolg hat, ist eher zweifelhaft.⁴⁹ Auch der Ruf nach dem Gesetzgeber⁵⁰ erscheint nicht zielführend. Einerseits hat sich dieser im Jahr 1997 bewusst für eine Aufweichung und Ausweitung der §§ 331 ff. StGB entschieden. Weiter sind die Probleme in der Anwendung der Regelungen nicht neu, sondern seit Jahren bekannt, ohne dass der Gesetzgeber bisher reagiert hätte. Schließlich mag eine gewisse Unsicherheit aus dessen Sicht auch nicht ganz unerwünscht sein. Gleichwohl hat die Justiz in anderen Ländern auf diese Unsicherheit reagiert. So ist zum 1. Juli 2011 der UK Bribery Act in Kraft getreten und in den USA hat 2012 der FCPA-Guide die Regelungen von 1977 präzisiert. Weitere Ausführungen zu diesen Vorschriften finden sich unten.
E. Sozialadäquanz als Lösungsansatz Zunächst soll aber auf den in Deutschland anwendbaren Lösungsansatz der Sozialadäquanz eingegangen werden.
Ebenso: Richter NJW-Spezial 2011, 568 f. (569). BGH NJW 2008, 3580 ff. (3583). BVerfG NJW 2010, 3209 ff.; Siehe zu diesem Beschluss auch: Saliger ZIS 2011, 902 ff. Hieran zumindest zweifelnd: Schäfer/Liesching ZRP 2008, 173 ff. (174 f.); Staschik SpuRt 2010, 187 ff. (189); Paster/Sättele NStZ 2008, 366 ff. (371 f.); Noltensmeier HRRS 2009, 151 ff. (154). Ebenso: Heermann Stellungnahme, S. 16 ff. (Fn. 46). Siehe Fn. 48; dies haben zwischenzeitlich auch die Vertreter der S 20 erkannt (Spannagel [Fn. 2]).
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1. Die Lehre von der Sozialadäquanz Nach der maßgeblich von Hans Welzel geprägten Lehre von der Sozialadäquanz sind Handlungen, die zwar vom Wortlaut des Straftatbestands erfasst sind, sich jedoch völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen (sozialethischen) Ordnung des Gemeinschaftslebens halten, aus dem Bereich des Unrechts auszuscheiden.⁵¹ In den aktuelleren Abhandlungen zum Thema wird jedoch neben dem Aspekt der Üblichkeit auch auf die rechtliche Billigung der Handlung abgestellt, da ansonsten auch gesellschaftlich nicht zu akzeptierende Missstände erfasst werden könnten. Maßgeblich kann insoweit z. B. der Wille des Gesetzgebers sein.⁵² Nach herrschender und zutreffender Ansicht stellt die Annahme der Sozialadäquanz nicht erst einen Rechtfertigungsgrund dar, sondern führt bereits zum Ausschluss des objektiven Tatbestandes.⁵³ Einen in der Literatur allgemein akzeptierten Anwendungsfall der Lehre bildet im Rahmen der §§ 331 ff. StGB die Hingabe geringwertiger Geschenke, wobei eine Wertgrenze von 30 Euro wohl weitgehend akzeptiert wird.⁵⁴ Daneben kommt die Lehre auch im Bereich der Beihilfe durch berufstypische bzw. neutrale Handlungen zur Anwendung⁵⁵ und wurde in § 86 Abs. 3 StGB sogar gesetzlich verankert. Auch die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung greift die Lehre von der Sozialadäquanz insbesondere im Rahmen der §§ 331 ff. StGB regelmäßig auf.⁵⁶ So ist insbesondere ein Beschluss des 3. Strafsenats im Hinblick auf die Thematik interessant. Insoweit wörtlich: „Danach ist nur das Anbieten, Versprechen, oder Gewähren in gewissem Umfang üblicher Vorteile von der Strafbarkeit auszunehmen, soweit es sich um gewohnheitsmäßig anerkannte, relativ geringwertige Aufmerksamkeiten aus gegebenen Anlässen handelt (…). … Überdies handelt es sich bei Zuwendungen im Wert von mehreren hundert Euro nicht mehr um geringwertige Aufmerksamkeiten (…). Schließlich lässt sich eine Sozialadäquanz nicht allein aus einer etwaigen „Üblichkeit“ herleiten, da dies bestehende Strukturen der Korruption verfestigen würde, denen durch die Strafrechtsbestimmungen gerade entgegengewirkt werden soll.“⁵⁷
Welzel ZStW 1939, 491 ff.; Rönnau JuS 2011, 311 ff. Siehe z. B.: Eser FS Roxin S. 199 ff. (205); Heine Sch/Sch § 331 Rn. 29a. Lenckner/Sternberg-Lieben Sch/Sch, Vor. §§ 32 ff. Rn. 107a m.w.N. Fischer § 331 Rn. 25 ff.; Trüg in BeckOK-StGB, § 331 Rn. 31 ff. jeweils m.w.N. Joecks MüKo, § 27 Rn. 55; Hoffmann-Holland/Singelnstein in: Graf/Jäger/Wittig, § 27 StGB Rn. 20. Siehe z. B.: BGHSt 15, 239 ff., BGHSt 31, 264 ff.; BGH wistra 2002, 426 ff.; BGH NStZ 2005, 334 f. BGH, Beschluss vom 26.05. 2011– 3 StR 492/10 = wistra 2011, 391 ff. (394)= BeckRS 2011, 19181.
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2. Sind Hospitality-Einladungen sozialadäquat? Auch wenn in der strafrechtlichen Literatur zum Claasen-Urteil dies meist, in einer Randbemerkung und mit dem Hinweis, dass nur geringfügige Zuwendungen erfasst sein können, verneint wird,⁵⁸ spricht viel für diese Annahme.⁵⁹ Unklar ist bereits, welcher Wert einer solchen Einladung überhaupt zukommt. Den tatsächlichen Preis der Karte, welcher vom Einladenden gezahlt wurde, wird man dabei kaum ansetzen können. Diese Problematik zeigte sich schon in der Diskrepanz der Wertangaben zwischen Staatsanwaltschaft und dem LG Karlsruhe im Fall Claassen. Geht man zur Vereinfachung vom oben genannten Durchschnittspreis von 458 Euro je Logenplatz im Jahr 2009 als Erwerberpreis aus, so bleibt unklar, warum eine solche Zuwendung, nach Abzug des monetär kaum genau zu bewertenden Spaßfaktors, nicht sozialadäquat sein soll. Zunächst zeigt die Entwicklungsgeschichte der Lehre und deren aufgezeigte Anwendungsfälle im Bereich der Beihilfe und § 86 Abs. 3 StGB, dass die Annahme der Sozialadäquanz nicht zwangsläufig von einer festen Wertgrenze oder gar der Geringwertigkeit abhängig sein kann. So wird auch im Rahmen der einschlägigen Kommentierungen zu §§ 331, 333 StGB zutreffend teilweise vertreten, dass auch wesentlich höhere Beträge als sozialadäquat eingeordnet werden können, wenn die Beteiligten einen entsprechenden Lebenszuschnitt haben und die Zuwendung nicht heimlich erfolge.⁶⁰ Hinsichtlich des Straftatbestands des § 299 StGB wird sogar regelmäßig angemerkt, dass man in diesem Bereich deutlich großzügiger sein könne als bei den §§ 331 ff. StGB und daher auch bei höherwertigen Zuwendungen die Sozialadäquanz gegeben sein kann. Zu berücksichtigen seien dabei der betroffene Geschäftskreis und die Stellung sowie die Lebensumstände der Beteiligten.⁶¹ Der Umstand, dass an jedem Spieltag mehrere zehntausend VIP-Gäste alleine die Stadien der beiden obersten Fußball-Bundesligen besuchen zeigt klar, dass Hospitality-Einladungen weit verbreitet sind. Dabei darf nicht übersehen werden, dass entsprechende Einladungen auch in kulturellen und anderen Bereichen üblich und sozial anerkannt sind. Schließlich widerspricht die Annahme der Sozialadäquanz in diesem Fall auch nicht dem Willen des Gesetzgebers, da sich den Gesetzgebungsmaterialien
Staschik SpuRt 2010,187 ff. (189); Richter NJW-Spezial 2011, 568 f. (568). So wohl auch Böttger Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis, S. 350. Kuhlen in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 331 Rn. 88; Trüg BeckOK-StGB, § 331 Rn. 32; Sowada LK, § 331 Rn. 74; Eser FS Roxin S. 199 ff. (205). Fischer § 299 Rn. 16 m.w.N.
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zum KorrBekG⁶² nämlich nicht entnehmen lässt, dass gerade solche Einladungen, die es auch zum damaligen Zeitpunkt schon gab, nunmehr unter Strafe gestellt werden sollten. Betrachtet man nunmehr die bekannte Einladungsliste im Fall Claassen (Regierungsmitglieder/Staatssekretär), so offenbart sich, dass es sich durchgehend um sehr hochrangige Amtsträger mit doch nicht unbeträchtlichen Einkünften handelt. Zudem werden entsprechende Amtsträger regelmäßig eingeladen,⁶³ wodurch die konkrete Einladung auch dem Lebenszuschnitt entsprach und nur einen geringen Bruchteil der monatlichen Einkünfte ausmachte. Auch der Umstand, dass es erstmals im Fall Claassen zu einem Strafverfahren in diesem Bereich kam, könnte angesichts der Häufigkeit der Einladungen so verstanden werden, dass selbst weite Teile der Ermittlungsbehörden keine Zweifel an der Üblichkeit und Straflosigkeit dieser Vorgehensweise hatten. Hinzu kommt, dass solche Einladungen unter anderem durch die Fernsehberichterstattung im höchsten Maße öffentlich und damit transparent sind. Der gleiche Befund ergibt sich, wenn man – wie die Kritiker der Lehre von der Sozialadäquanz – eher auf eine am Rechtsgut orientierte Auslegung abstellt.⁶⁴ Kein vernünftiger Betrachter kann annehmen, dass die Zuwendung einer solchen Eintrittskarte tatsächlich dazu dienen soll oder zum Anlass genommen wird, sich in Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Selbst das Vertrauen in die Lauterbarkeit der öffentlichen Verwaltung (§§ 331 ff. StGB) kann hierdurch kaum erschüttert werden, wenn man das Vertrauen nicht fälschlicherweise mit Missgunst und Neid gleichsetzt.
F. Ausländische Vorschriften: UK Bribery Act und FCPA Seit einigen Jahren nimmt die Bedeutung ausländischer Vorschriften zur Korruptionsbekämpfung stetig zu: Deutsche Unternehmen haben sich, sobald sie eine Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich oder in den Vereinigten Staaten entwickeln oder etwa ihre Aktien an einer dortigen Börse gehandelt werden, diesen Regeln zu unterwerfen. Daher bietet es sich an, diese ausländischen Vor-
Siehe z. B.: BT-Drs. 13/3353; BT-Drs. 13/6424; Weitere Nachweise: Fischer Vor § 298 Rn. 2. Ebenso: Paster/Sättele NStZ 2008, 366 ff. (373). Kritisch z. B.: Bannenberg in: Wabnitz/Janovsky S. 651 f.; weitere Nachweise bei: Eser FS Roxin S. 199 ff. (205 ff.).
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schriften hinsichtlich der dort getroffenen Aussagen zu erlaubten und verbotenen Hospitality-Praktiken zu untersuchen.
1. UK Bribery Act 2010 Der UK Bribery Act 2010 ist zum 1. Juli 2011 in Kraft getreten. Die Einführung war angesichts der unübersichtlichen vorherigen Rechtslage in Großbritannien und der Verpflichtungen aus internationalen Abkommen unumgänglich.⁶⁵ Zur Unterstützung der Unternehmen bei der Implementierung der Vorgaben aus dem UK Bribery Act existiert ein als „Guidance“ betiteltes Dokument, in dem eine Auslegung der Vorschriften vorgenommen wird. Hervorzuheben ist, dass dieses Gesetz eine weltweite Sanktionierung sowohl von natürlichen Personen, als auch von Unternehmen zulässt, weswegen die Reglementierung häufig mit dem unten aufgeführten FCPA verglichen wird. Es ist unerheblich, ob eine Bestechungshandlung ganz oder auch nur teilweise im Vereinigten Königreich stattgefunden hat.⁶⁶ Die Sanktionierung von im Ausland begangenen Straftaten ist jedoch nur möglich, wenn eine „close connection“ zum Vereinigten Königreich besteht. Dies ist schon dann der Fall, wenn nur ein Teil der Bestechungshandlung im vereinigten Königreich stattfindet und der Täter Staatsangehöriger eines der Länder des United Kingdom ist oder dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Bei Unternehmen genügt es bereits, dass Teile des Geschäfts im United Kingdom getätigt werden, eine Niederlassung ist nicht erforderlich, begründet aber in jedem Fall die „close connection“.⁶⁷ Somit wird der UK Bribery Act 2010 auch für deutsche Unternehmen relevant, die zumindest auch Geschäfte im Vereinigten Königreich betreiben.⁶⁸ Der UK Bribery Act 2010 stellt verschiedene Bestechungshandlungen unter Strafe, die weitgehend den Regelungen in §§ 299, 332, 334 StGB entsprechen. Hierbei sind auch „facilitating payments“, also kleine Schmiergeldbeträge, die an untere oder mittlere Amtsträger gezahlt werden um eine routinemäßige Amtshandlung, auf die ein Anspruch besteht, erfasst.
Deister/Geier CCZ 2011, 12 f. pwc: Der UK Bribery Act 2010, abrufbar unter http://www.pwc.de/de/compliance/assets/10_ Min_UK_Bribery_Act.pdf [Stand 10.06. 2014]. pwc: Der UK Bribery Act 2010, abrufbar unter http://www.pwc.de/de/compliance/assets/10_ Min_UK_Bribery_Act.pdf [Stand 10.06. 2014]. Scheint NJW-Special, 2011, 440.
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Die Vorschrift unterscheidet aktive und passive Bestechung, sowie die Bestechung von ausländischen Amtspersonen und die unterlassene Verhinderung von Bestechung. Damit schafft sie eine Durchgriffsmöglichkeit auf die Führungsebene von Unternehmen. Dabei ist es ausreichend, wenn der Manager, ohne Tätereigenschaften aufzuweisen, in die Bestechungshandlung eingewilligt, oder diese zumindest geduldet hat. Auch das Unternehmen selbst kann daher für die Handlungen von Dritten verantwortlich gemacht werden. Es kann sich jedoch gegen den Vorwurf zur Wehr setzten, wenn es über „adequate procedures“ zur Verhinderung von Korruptionstaten verfügt. Dazu muss es nachweisen, dass das ComplianceSystem eigentlich geeignet ist, derartige Verstöße mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu verhindern.⁶⁹ Einladungen und Geschenke gegenüber ausländischen Amtsträgern werden nicht kategorisch sanktioniert, sie sind zulässig, soweit sie angemessen und verhältnismäßig sind. Eine Verbindung des gewährten Vorteils und der Absicht ein Geschäft oder einen Geschäftsvorteil zu beeinflussen darf nicht vorliegen. Im geschäftlichen Verkehr sind sogar weitergehende Zuwendungen zulässig, solange sie nicht als Verleitung zu unangemessenem Verhalten anzusehen sind und der Verfestigung der guten Beziehungen dienen, so zum Beispiel auch Einladungen zu Fußballspielen im Rahmen von PR-Aktionen.⁷⁰ Verstöße ziehen durchaus schwerwiegende Sanktionen nach sich. Auf die handelnden Personen reicht die Straferwartung bis zu Geldstrafen in unbegrenzter Höhe und Freiheitsstrafen von bis zu 10 Jahren, Unternehmen sehen sich mit Geldstrafen in unbegrenzter Höhe, dem Ausschluss von öffentlichen Aufträgen und der Einziehung von Vermögenswerten konfrontiert.⁷¹ Der weite Anwendungsbereich der Regelung hatte bei in- wie ausländischen Unternehmen große Unsicherheiten zur Folge, woraufhin das Ministery of Justice am 30.03. 2011 eine Auslegungshilfe (Guidance) veröffentlichte.⁷² Hierin werden die sechs grundlegenden Elemente, die „Six Princeples“, die in jedem Unternehmen gesichert sein müssen, erläutert.⁷³ 1. Proportionate procedures: Unternehmen haben angemessene Maßnahmen zur Verhinderung von Bestechungsdelikten zu ergreifen. Hierzu gehören transpa-
Scheint NJW-Special, 2011, 440; Rubner NJW-Special 2011, 335. Scheint NJW-Special, 2011, 440. Scheint NJW-Special, 2011, 440; pwc: Der UK Bribery Act 2010, abrufbar unter http://www.pwc. de/de/compliance/assets/10_Min_UK_Bribery_Act.pdf [Stand 10.06. 2014]. Rubner NJW-Special 2011, 335. Rubner NJW-Special 2011, 335. ; pwc: Der UK Bribery Act 2010, abrufbar unter http://www.pwc. de/de/compliance/assets/10_Min_UK_Bribery_Act.pdf [Stand 10.06. 2014].
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rente und umsetzbare Richtlinien zur Korruptionsprävention, sowie die Umsetzung der Richtlinien im gesamten Unternehmen. Top-level commitment: Die oberste Führungsebene hat sich zu verpflichten gegen Korruption vorzugehen und eine Kultur zu schaffen, die diese ablehnt. Risk assessment: Korruptionsrisiken müssen erkannt und zuverlässig eingeschätzt werden, dazu haben regelmäßige Untersuchungen und Bewertungen derselben zu erfolgen. Due Diligence: Die Auswahl der Geschäftspartner hat sorgfältig und compliance-konform zu erfolgen. Communication: Es ist ein effektives Antikorruptionsbewusstsein im Unternehmen zu schaffen. Dies hat durch interne und externe Kommunikation, sowie Umsetzung erforderlicher Trainingsmaßnahmen zu erfolgen. Monitoring and review: Die Antikorruptionsmaßnahmen sind fortlaufend zu überwachen, zu überprüfen und ihre Wirksamkeit gegebenenfalls zu verbessern.
Vergleicht man den UK Bribery Act 2010 mit den Regelungen zur Bestechung im deutschen StGB fallen viele Parallelen auf. So wird in beiden Systemen sowohl die aktive, als auch die passive Bestechung sowie Bestechung von Amtsträgern und im geschäftlichen Verkehr unter Strafe gestellt. Beide Regelungen verbieten Facilitation Payments an Amtsträger. Einen grundlegenden Unterschied stellt die Strafbarkeit von Unternehmen dar, da das deutsche Rechtssystem kein Unternehmensstrafrecht kennt.⁷⁴ Zudem stellen die deutschen Gesetze keine Mindestanforderungen an Compliance-Regelungen. Zuletzt ist die Strafverfolgung nach deutschem Strafrecht zwar auch bei Auslandstaten grundsätzlich möglich, es besteht jedoch eine starke Fokussierung auf Inlandstaten.
2. FCPA Der „U. S. Foreign Corrupt Practices Act“ (FCPA) von 1977 wurde Ende des Jahres 2012 durch den sogenannten „Resource Guide to the U. S. Foreign Corrupt Practices Act“, auch als FCPA-Guide bezeichnet, ergänzt.⁷⁵ Dieser sollte – zuvor war der FCPA als Buch mit sieben Siegeln bekannt – mehr Klarheit bringen.⁷⁶
Leipold ZRP 2013, 34. Der Resource Guide enthält eine Reihe von Fallbeispielen, unter anderem zum Themenbereich „Gifts, Travel and Entertainment“. Weder die Verteilung von Werbeartikeln und Freigetränken, noch die Einladung zu abendlichen Drinks oder das Überreichen einer Kristallvase als Hochzeitsgeschenk an einen ausländischen Geschäftspartner, dessen Arbeitgeber sich zu 100 % in
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Allgemein gefasst stellt der FCPA Bestechungszahlungen an ausländische staatliche Amtsträger und unsachgemäße Buchführung von Börsenunternehmen diesbezüglich unter Strafe. Zur Verwirklichung einer Straftat nach dem FCPA müssen fünf Tatbestandsmerkmale erfüllt sein. Zunächst ist der Täterbereich sehr weit gefasst. Es kommen Privatpersonen, Unternehmen, Beamte, Führungskräfte, Angestellte, durch die Unternehmen beauftragte Mittelspersonen und Anteilseigner, die für ein Unternehmen handeln, in Betracht. Der Täter muss die Bestechungshandlung nicht selbst ausführen, es ist ausreichend, wenn Dritte angestiftet werden, das FCPA-Gesetz zu verletzten. Bei all diesen möglichen Tätern muss ein Bezug zu den USA bestehen: Öffentlich gehandelte, wie private Unternehmen müssen nach US-Recht organisiert sein oder ihren hauptsächlichen Geschäftsplatz in den USA haben, Privatpersonen müssen US-Bürger oder Ausländer mit Wohnsitz in den USA sein, alle anderen Unternehmen und Personen werden erfasst, wenn sie sich auf US-Territorium befinden.⁷⁷ Als Tathandlung kommen die Zahlung und das Anbieten und das Versprechen von Zahlungen in Betracht. Als Zahlung sind Geldzahlungen, aber auch andere Werte möglich.⁷⁸ Zudem ist eine Bestechungsabsicht in zweierlei Hinsicht erforderlich. Derjenige, der eine Zahlung veranlasst oder diese selbst durchführt, muss zum einen in der Absicht handeln, einen Amtsträger zu bestechen. Zum anderen muss die Zahlung dafür bestimmt sein, den Amtsträger dazu zu bringen, seine Stellung zu missbrauchen um dem Leistenden einen Vorteil durch den Zuschlag zu einem Geschäft zu verschaffen. Dieser Vorteil braucht nicht einzutreten, es ist ausreichend, dass dementsprechende Zahlungen angeboten oder versprochen werden. Dabei ist kein direkter Vorsatz erforderlich, es genügt bereits, wenn der Leistende sich darüber bewusst ist, dass der Vorteil höchstwahrscheinlich zu Bestechungszwecken verwendet wird.⁷⁹ Als Zahlungsempfänger kommen ausschließlich ausländische Amtsträger,
Staatsbesitz befindet, stellen demzufolge eine Verletzung des FCPA dar, weil dieser nicht geschaffen wurde, um Werbemaßnahmen oder jegliche Art von Gastfreundschaft zu verbieten.Wenn hochrangige Vertreter des selben ausländischen Unternehmens die Einrichtungen, in denen das vertraglich vereinbarte Training ihrer Mitarbeiter in den USA stattfindet, besichtigen wollen, und die Firma ihnen dafür interkontinental Business Class-Flüge bucht, Hotelzimmer zur Verfügung steht, sie zum Abendessen sowie – jetzt kommt es – zu einem Baseballspiel und einer Theateraufführung einlädt, stellt auch das keine Verletzung des FCPA dar. Anders soll die Lage lediglich sein, wenn die Reise statt zu den Trainingseinrichtungen nach Las Vegas führt, wo die Firma keine Niederlassung unterhält, und First Class geflogen wird oder, in einem anderen Fallbeispiel, eine klare Gegenleistung für die Zuwendung erwartet und erhalten wird. Spehl/Gützner CCZ 2013, 198. Spies MMR 2009, XIII. Spies MMR 2009, XIII. Spies MMR 2009, XIV.
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ausländische politische Parteien oder Parteivertreter und Kandidaten für ein politisches Amt im Ausland in Betracht. Der Rang des Zahlungsempfängers ist nicht von Bedeutung.⁸⁰ Die Zahlung muss im Hinblick auf einen Geschäftszweck geleistet werden, also das Ziel verfolgen dem Leistenden oder dessen Unternehmen einen Geschäftsabschluss zu verschaffen, eine Geschäftsbeziehung zu verlängern oder ein Geschäft an einen Dritten weiterzugeben. Das angestrebte Geschäft muss nicht direkt mit der ausländischen Regierung oder einem Staatsunternehmen geschlossen werden, es sind auch Abschlüsse mit privatwirtschaftlichen Unternehmen, Privatpersonen und nichtstaatlichen Organisationen erfasst.⁸¹ Wie der UK Bribery Act hat der FCPA ebenfalls einen weltweiten räumlichen Geltungsbereich und er stellt ebenso Mindestanforderungen an die ComplianceProgramme der Unternehmen. Anders als der UK Bribery Act und auch die Antikorruptionsgesetze im deutschen Recht beschränkt sich der sachliche Anwendungsbereich auf Amtsträger und es sind Facilitation Payments nach den einschränkenden Richtlinien der DOJ/SEC-Guidance“ zulässig. Bei der Strafbarkeit nach dem FCPA kommt es entscheidend auf das Bestehen und die Qualität von Compliance-Programmen in den Unternehmen an. Diese entscheiden darüber, ob überhaupt eine strafrechtliche Verfolgung stattfindet, in der Strafzumessung sprechen sie für eine geringe Geldstrafe.⁸² Es werden hier jedoch keine einheitliche Linie oder gar ein standardisiertes Compliance-Programm gefordert, ebenso wenig wird verlangt, dass die getroffenen Maßnahmen jede Art von kriminellen Aktivitäten der Mitarbeiter verhindern. Vielmehr gehen die US-Behörden nach eigenen Angaben bei der Bewertung nach drei einfachen Fragen vor: „Ist das Programm gut konzipiert? Wird es im guten Glauben konsequent angewandt? Funktioniert es effektiv?“⁸³ Zudem ist es von großer Bedeutung, dass die Unternehmen die ihrem individuellen Betrieb immanenten Risiken erkennen, bewerten und gegen diese Vorkehrungen treffen.⁸⁴ Als weiteres wesentliches Element der Compliance-Programme werden ein verständlich formulierter, knapper und für alle Mitarbeiter zugänglicher Code of Conduct sowie angemessene Richtlinien und Prozessvorgaben, die auch unternehmensinterne Disziplinarmaßnahmen, arbeitsrechtliche Sanktionen gegenüber Mitarbeitern und positive Anreize für konformes Verhalten
Spies MMR 2009, XIII. Spies MMR 2009, XIII. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 210. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 211. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 211 f.
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vorsehen, angesehen.⁸⁵ Hierbei sind auch wiederkehrende Trainingsmaßnahmen und Zertifizierungen für Mitarbeiter des höheren Managements und alle anderen Mitarbeiter bei denen es angebracht erscheint erforderlich.⁸⁶ Es ist zudem erforderlich, Natur und Umfang von Geschäftsbeziehungen der Unternehmen zu ausländischen Regierungen und Behörden zu prüfen und die unternehmensinternen Richtlinien zum Umgang mit diesen Partnern mit den FCPA-Vorgaben in Einklang zu bringen.⁸⁷ Da häufig außenstehende Vertriebspartner, wie Berater oder Distributoren, zur Verschleierung von Bestechungszahlungen an ausländische Amtsträger genutzt werden, ist eine risikobasierte due diligence bezüglich dieser Geschäftspartner unerlässlich.⁸⁸ Des Weiteren ist die Einrichtung eines verlässlichen unternehmensinternen Systems zur Untersuchung von gemeldeten Vorwürfen erforderlich. Hierzu gehört auch die Einrichtung einer anonymen Hotline oder eines Ansprechpartners für Mitarbeiter, die einen Verstoß melden wollen.⁸⁹ Eine letzte Anforderung an die Compliance-Systeme stellt die Optimierung der Regelungen durch wiederkehrende Überprüfung und Anpassung dar.⁹⁰ Im Gegensatz zu den amerikanischen Gesetzen bieten die deutschen Vorschriften keine erkennbare Möglichkeit durch die Umsetzung von ComplianceSystemen die Strafverfolgung oder die Höhe von Bußgeldern zu beeinflussen.
3. Vergleich von UK Bribery Act 2010 und dem FCPA Stellt man nun die beiden gesetzlichen Regelungen einander gegenüber, so zeigen sich elementare Unterschiede, die durchaus Auswirkungen auf die betroffenen Unternehmen haben.⁹¹ Im Gegensatz zum FCPA stellt der UK Bribery Act 2010 nicht nur die Bestechung ausländischer Amtsträger, sondern jede Ausformung der aktiven und passiven Bestechung unter Strafe. Er erfasst damit auch Bestechungsvorgänge in der Privatwirtschaft und zwischen Privatpersonen. Der UK Bribery Act 2010 be-
Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 211, 213. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 212 f. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 212. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 213. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 213. Rübenstahl/Skoupil in wistra 2013, 209, 213. pwc: Der UK Bribery Act 2010, abrufbar unter http://www.pwc.de/de/compliance/assets/10_ Min_UK_Bribery_Act.pdf [Stand 10.06. 2014].
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gründet die Strafbarkeit von Bestechungshandlungen in deutlich größerem Maß als der FCPA. So erlaubt der FCPA die sogenannten „facilitation payments“ (Beschleunigungszahlungen), während der UK Bribery Act 2010 diese, wie jede andere Art der Bestechung, unter Strafe stellt. Im Gegensatz zum FCPA erfasst der UK Bribery Act 2010 auch verschuldensunabhängige Handlungen, außer die Unternehmen können nachweisen, dass sie angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung von Korruption getroffen haben. Auch im Hinblick auf das Strafmaß sind die USA deutlich großzügiger. So drohen Unternehmen Geldbußen von maximal zwei Millionen US-Dollar und natürlichen Personen Geldstrafen von maximal 100.000 US-Dollar oder maximal zwei Jahren Freiheitsstrafe. Dem stehen nach dem UK Bribery Act, wie oben aufgeführt, Geldstrafen in unbegrenzter Höhe und bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe gegenüber.
4. Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben in Deutschland Ein entscheidender Unterschied des UK Bribery Acts 2010 und des FCPA zu den in Deutschland geltenden Gesetzen stellt die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen dar. Während es in Deutschland bislang kein Unternehmensstrafrecht gibt,⁹² sehen die beiden ausländischen Gesetze Unternehmensstrafen in nicht unwesentlichem Ausmaß vor. Aufgrund der sehr weiten Ausgestaltung des UK Bribery Acts 2010 laufen deutsche Unternehmen sehr schnell Gefahr, sich nach diesem strafbar zu machen. Hierfür ist es schon ausreichend, dass an irgendeinen Amtsträger oder Geschäftsmann in irgendeinem Land der Erde Schmiergelder gezahlt werden, sobald das Unternehmen unter anderem auch Geschäfte im Vereinigten Königreich betreibt. Den einzigen möglichen Schutz vor einer Strafbarkeit kann ein umfangreiches, sorgfältig ausgearbeitetes Compliance-Management-Programm, das den Schwerpunkt auf die Korruptionsbekämpfung setzt und die oben genannten sechs Prinzipien berücksichtigt, bewirken. Ähnliches gilt für Strafbarkeiten nach dem FCPA, der zwar etwas weniger einschneidend als der UK Bribery Act 2010 ist, jedoch trotzdem schnell in die Strafbarkeit von Beteiligten des Wirtschaftsraums Deutschland führen kann,wenn nur ein geringer Bezug zu den USA besteht.
Leipold ZRP 2013, 34.
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G. Zusammenfassung Der in der Branche auch nach dem BGH-Urteil in der Sache Claassen bestehenden Verunsicherung kann man am besten durch einen besonnenen Umgang mit den potentiell einschlägigen Straftatbeständen und der Lehre von der Sozialadäquanz begegnen. Bleibt die Rechtsprechung bei ihrem extensiven Verständnis der Tatbestände der §§ 331, 333 StGB und der Fokussierung auf eine Gesamtabwägung im Rahmen der Unrechtsvereinbarung, so besteht die Gefahr, dass es auch in Zukunft zu zum Teil abwegigen Anschuldigungen kommen wird. Es wäre zu wünschen, dass sich auch die Gerichte und der Gesetzgeber in Deutschland von der Lehre der Sozialadäquanz leiten lassen und diese als Grundlage für die Konkretisierung der Voraussetzungen der Tatbestandsverwirklichung heranziehen. Das Vereinigte Königreich und die USA haben vorgemacht, dass es durchaus möglich ist, zumindest den Versuch zu unternehmen, die Rechtslage etwas klarer auszugestalten. In ihren Auslegungshilfen haben sie neben theoretischen Ausführungen und Erläuterungen der Rechtsmaterie durch Fallbeispiele erörtert, welche Zuwendungen im Allgemeinen als angemessen und damit nicht strafbar anzusehen sind und welche nicht. Dies ist nichts anderes als die Konkretisierung der Lehre der Sozialadäquanz, indem man diese in nachvollziehbare Lebenssachverhalte kleidet. Auch wenn die aufgeführten Beispiele noch lange keine absoluten Grenzen zwischen erlaubten und strafbaren Handlungen ziehen, so zeigen sie den potentiell Betroffenen doch zumindest auf, in welche Richtung es gehen soll. Dem Bestimmtheitsgebot wäre so jedenfalls besser als bisher Rechnung getragen.
H. Bibliographie Böttger, Marcus (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis, 2011 Deister, Jochen/Geier, Anton CCZ 2011, 12 f Fischer, Thomas Kommentar zum StGB, 59. Auflage 2012 Graf, Jürger Peter/Jäger, Markus/Wittig, Petra (Hrsg.) Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2011 Hamacher, Karl/Robak, Markus DB 2008 S. 2747 ff. Heintschell-Heinegg, Bernd (Hrsg.) Beck’scher Onlinekommentar zum Strafgesetzbuch, 17. Edition, Stand 01. 12. 2011 Joecks, Wolfgang/ Miebach, Klaus (Hrsg.) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1 (Stand 2003), Band 4 (Stand 2006) Kindhäuser, Urs/Neumann, Ulfrid/Paeffgen, Hans-Ullrich(Hrsg.) Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Auflage 2010 Korte, Matthias NStZ 1997 S. 513 ff.. Lackner, Karl/Kühl, Kristian Kommentar zum Strafgesetzbuch, 27. Auflage 2011 Laufhütte, Heinrich Wilhelm/Rissing-van Saan, Ruth/Tiedemann, Klaus (Hrsg.) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 13, 12. Auflage 2009
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Leipold, Klaus/Tsambikakis, Michael/Zöller, Mark (Hrsg.) Anwaltskommentar zum Strafgesetzbuch, 1. Auflage 2011 Leipold, Klaus NJW-Spezial 2007 S. 423 Leipold, Klaus ZRP 2013, 34 Michalke, Regina StV 2011 S. 492 ff. Noltensmeier, Silke HRRS 2009 S. 151 ff. Paster, Inga/Sättele, Alexander NStZ 2008 S. 366 ff. Richter, Frank NJW-Spezial 2011 S. 568 f. Rönnau, Thomas JuS 2011 S.311 ff. Rübenstahl, Markus/Skoupil, Christoph wistra 2013, 209 ff Rubner, Daniel NJW-Special 2011, 335 ff Saliger ZIS 2011 S. 902 ff. Schäfer, Thomas/Liesching, Patrick ZRP 2008 S. 173 ff. Scheint, Katharina NJW-Special, 2011, 440 Schlösser, Jan wistra 2009 S. 155 f. Schönke, Adolf/Schröder, Horst Kommentar zum Strafgesetzbuch, 28. Auflage 2010 Schünemann, Bernd/ Achenbach, Hans/Bottke, Wilfire/ Haffke, Bernhard/ Rudolphi, Hans-Joachim (Hrsg.) Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001 Spehl, Stephan/Gützner, Thomas CCZ 2013, 198 ff Spies, Axel MMR 2009, XIII ff Staschik, Paul SpuRt 2010 S. 187 ff. Strahlendorf; Peter/Kruse-Anyaegbu, Anja/Wodzak, Yvonne(Hrsg.) Jahrbuch Sponsoring 2009 Trüg, Gerson NJW 2009 S. 196 ff. Wabnitz, Heinz-Bernd/Janovsky, Thomas (Hrsg.) Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Auflage 2007 Welzel, Hans ZStW 1939 S. 491 ff. Wolter, Jürgen (Hrsg.) Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 8. Auflage, Stand: 130. Lieferung (Oktober 2011)
Thomas Fischer
Interne und externe Compliance-Kontrolle im Gesundheitswesen* Gliederung I. II. III. IV. V. VI. VII.
Einführung Biographische Quellen Rechtliche Erkenntnisse Korruption Interne Kontrolle durch Compliance Externe Kontrolle durch Strafverfolgung Ausblick
I. Einführung Dass ich gebeten worden bin, einen Vortrag zum 10jährigen Bestehen des Fachausschusses interne Selbstkontrolle der forschenden Pharma-Industrie zu halten, freut mich umso mehr, als der Grund dafür, dass diese Einladung ausgerechnet an mich ergangen ist, nicht darin liegen kann, dass ich mich bislang den rechtspolitischen Anliegen der Forschenden Pharmaindustrie verbunden gezeigt habe.¹ Andererseits bin ich, was unser Thema betrifft, auch kein Spezialist. Allenfalls zwei besondere Quellen der Erkenntnis habe ich daneben aufzubieten: Beide sind aber möglicherweise, wie Sie bemerken werden: von minderer Art und Güte.
II. Biographische Quellen Die Schilderung meiner ersten Begegnungen mit der forschenden – und vertreibenden – Pharmaindustrie muss leider autobiographischer Art sein: Ich bin im Jahr 1953 geboren. Mein Vater, geboren 1898, als österreich-ungarischer Gebirgsjäger Kombattant im derzeit durch die Erinnerungen flirrenden
* Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser am 8. April 2014 aus Anlass des 10-jährigen Bestehens des Fachausschusses interne Selbstkontrolle der forschenden Pharmaindustrie in Berlin gehalten hat. Die Aufnahme in diesen Tagungsband beruht auf einer Anregung der Herausgeber. Das Vortragsmanuskript ist nur um einige Fußnoten ergänzt worden. Selbstverständlich liegt mir die Pharmazeutik lebensweltlich am Herzen – und zwar buchstäblich -; freilich ergibt sich daraus keine Expertise.
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„Weltkrieg Eins“, war, neben anderem, Flüchtling aus dem Sudentenland, Landwirt und Gutsverwalter, ab 1950 praktischer Arzt in den traurigen Tälern des Sauerlands. Aus Ersterem ergab sich, wie es üblich war, eine erhebliche allgemeine Mangellage der Familie; aus Letzterem die Erwartung auf deren Verbesserung; aus Mittlerem eine vielfach nützliche Verbindung zwischen Vegetativer Dystonie und Schweinezucht, Scharlach und Kälbermast, Darmkrebs und Fruchtwechsel; mit anderen Worten: Besichtigung und Begutachtung der Stallungen gehörten zum StandardProgramm der ärztlichen Hausbesuche. Honorare für medizinische Sonderleistungen wurden gern in landwirtschaftlichen Naturalia bezahlt und abseits des Einkommensteuerrechts angenommen. Zu meinen Obliegenheiten als Sohn zählte, Privatpatienten zu (er)kennen und mit ausgesuchter Höflichkeit zu grüßen. Ein- bis zweimal in der Woche kamen Pharmareferenten zu Besuch. Sie schleppten Kistenweise Probepackungen herbei, blieben zum Mittag- oder Abendessen, vergaßen nie Blumen für die Gattin und die Süßigkeiten für die Kinder des Arztes und verfügten über eine unerschöpfliche Quelle von lustigen Kugelschreibern, Spielen, Tisch-Dekorationen, Büroartikeln, Spielzeugtieren und anderem; eine Laterna Magica für den Sohn und ein Kistchen Wein für den Herrn Doktor waren als Höhepunkte gelegentlich drin. Ob darüber hinausgehende Geschenke gemacht wurden, weiß ich nicht. Über Fragen der Korruptionsbekämpfung machte ich mir vor meinem achten Lebensjahr keine Gedanken. Im Fernsehen spaßten Heinz Erhard und Peter Frankenfeld. Etwas anders – einen großen Schritt näher an unser Thema heran – gestalteten sich die Dinge, als gegen 1960 im Nachbarort sich ein ebenfalls der „Flüchtlings“Population entstammender Apotheker – nennen wir ihn X – niederließ. Da es dort eine „alteingesessene“ Apotheke Y gab (die einzige im Umkreis von 15 Kilometern), entbrannte die Marktwirtschaft. Mein Vater fand, man müsse X helfen. Er führte in den zwei Dörfern, die er als Arzt versorgte, ein trickreiches System des vereinfachten Medikamentenbezugs ein: Sämtliche Medikamente, die er verschrieb, lieferte die Apotheke X. Die Original-Rezepte verblieben beim Arzt und wurden abends von einer Botin dieser Apotheke abgeholt.Tags darauf lieferte diese die Medikamente an eine Abholstelle, die sich in der Hand der Leiterin der örtlichen Zweigstelle der Sparund Darlehenskasse befand. Dort konnten die Patienten zwischen 18 und 20 Uhr ihre Medikamente abholen. Von diesem System profitierten die Patienten, die nicht 10 Kilometer zur Apotheke fahren mussten. Es profitierte der Apotheker X, der 100 Prozent der von meinem Vater behandelten Patientenpopulation versorgen durfte. Es profitierten mein Vater durch freundschaftliche Zuwendungen sowie ich selbst durch zahllose Tüten mit vitaminhaltigen Bonbons sowie großzügige Feri-
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enjobs. Der einzige, der definitiv nicht profitierte, war Apotheker Y. Er grüßte nicht mehr – ein Übel, das mir damals leicht zu tragen erschien.² Damit will ich den einleitenden Ausflug in die Welt der frühen 60er Jahre beenden, in der, wenngleich auf in jeder Hinsicht niedrigem Niveau, bereits fleißig die eine Hand eine andere wusch. Man kannte sich; man vertraute sich; man verdiente gemeinsam. Heute, da schon die Kinder der so genannten Aufbau-Generation ins Rentenalter treten, finden Ahnungslose solche Geschichten eher rührend. Sie waren es mitnichten. Die Prinzipien der Korruption haben ein ewiges, aber überaus flexibles Leben.
III. Rechtliche Erkenntnisse Eine formellere und intensivere Wiederbegegnung mit dem Thema hatte ich, als ich im Jahr 2011/2012 als Mitglied des Großen Senats für Strafsachen des BGH über die Frage zu entscheiden hatte, ob ein Vertragsarzt in unserem System der vertragsärztlichen Versorgung ein Amtsträger (im Sinne von § 331, 332 StGB) oder ein Beauftragter des geschäftlichen Betriebs der gesetzlichen Krankenkassen (im Sinne von § 299 Abs. 1 StGB) sei. Ich will die Geschichte und den Inhalt der Entscheidung des Großen Senats vom 29. März 2012 nicht im Einzelnen schildern. Es hatte sich über die Jahre, ausgehend von zunächst nur einzelnen Stimmen in der Literatur³, ein „Stimmungsumschwung“ und eine Tendenz entwickelt, wonach korruptive Strukturen im Vertragsarztsystem nicht nur strafrechtlich erfasst werden sollten, sondern auch mit dem geltenden Strafrecht erfasst werden könnten. Dies führte schließlich zu Vorlagen von zwei Strafsenaten (des 3. und des 5. Strafsenats⁴), die – zunächst überraschenderweise – die Ansicht vertraten, Vertragsärzte seien als Amtsträger anzusehen, da es sich bei der Vertragsärztlichen Versorgung insgesamt um ein der staatlichen Verwaltung nahestehendes System der Daseinsfürsorge handelt, bei welchem trotz Beteiligung von Privaten die Elemente der staatlichen Steuerung überwiegen.
Allerdings verblieb ein unklar-kindliches Unrechtsbewusstsein. Den Anstoß leistete die Dissertation von Pragal (Die Korruption innerhalb des privaten Sektors und ihre strafrechtliche Kontrolle durch § 299 StGB, 2006 Diss. Bucerius Law School; vgl. auch dens. NStZ 2005, 133), deren Thesen zunächst vereinzelt (Fischer StGB ab 57. Auflage) und dann verbreitet aufgenommen wurden (vgl. OLG Braunschweig NStZ 2010, 392; weitere Nachw. bei Fischer StGB 61. Aufl. § 299 Rn. 10b). NStZ 2012, 35 Beschluss (3. StS); NStZ-RR 2011, 303 (5. StS).
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Eine andere Ansicht sah Vertragsärzte hingegen als Beauftragte des geschäftlichen Betriebs der Krankenkassen an, die – vereinfacht gesagt – durch die Verschreibung von Medikamenten oder Medizinprodukten die Naturalleistungspflicht der Krankenkasse konkretisieren und die Grundlage für den Kaufpreisanspruch der Apotheke gegen die Krankenkasse schaffen.⁵ Über die inhaltlichen Diskussionen in den Beratungen des Großen Senats habe ich zu schweigen. Ihr Ergebnis ist bekannt: Vertragsärzte sind danach weder Amtsträger noch Beauftragte.⁶ Sie werden bei der Verordnung von Medikamenten und Medizinprodukten von den Regelungen des geltenden Korruptionsstrafrechts nicht erfasst. Der große Senat hat über dieses Ergebnis ausdrücklich sein Bedauern geäußert und eine Regelung für erforderlich erachtet; an der Anwendung des bereits geltenden Rechts sah er sich durch den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 StGB gehindert. Es wäre nicht angebracht, wenn ich die Entscheidung in Ihren Ergebnissen kritisierte. Sie ist so und nicht anders ergangen; wir haben uns danach zu richten. Nach meiner Ansicht war sie freilich nicht zwingend und hätte auch anders ergehen können, ohne das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG zu verletzen.⁷ Kritik mag hier nur insoweit angedeutet werden, als die Begründung der Entscheidung sich – sowohl zur Prüfung der §§ 331 ff. StGB als auch zur Prüfung des § 299 – im Ergebnis beinahe ausschließlich auf die Erwägung stützt, die Besonderheiten des „Arzt-Patienten-Verhältnisses“ stünden einer Erfassung der Ärzte als – bestechungsgeeignete – Personen in Zuordnung zum staatlichen System der GKV oder zu deren geschäftlichen Betrieben entgegen. Diese Begründung erscheint mir rein voluntativ; sie stützt sich auf ein bloßes „Meinen“. Denn besondere Vertrauensverhältnisse gibt es in verschiedenen Formen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, ohne dass ihre Existenz einer Beauftragtenstellung entgegenstünde. Auch zwischen Rechtsanwalt und Mandant besteht ein besonderes Vertrauensverhältnis; gleichwohl kann der Rechtsanwalt im Verhältnis zum Mandanten Beauftragter eines – dritten – geschäftlichen Be Fischer StGB 59. Aufl. § 299 Rn. 10b mit Nachw. auch zur Gegenansicht. BGH NJW 2012, 2530 (zust. u. a. Brockhaus ZWH 2012, 275; Kraatz NZWiSt 2012, 273; krit. u. a. Kölbel StV 2012, 592; Krüger StraFo 2012, 208). Es darf – beispielhaft – daran erinnert werden, dass der BGH (und ihm folgend das BVerfG) etwa eine Auslegung des § 177 Abs. 1 (Nr. 3) StGB als verfassungskonform ansehen, wonach eine „Nötigung“ ohne Nötigungshandlung erfolgen kann; dass seit 60 Jahren die so genannte „echte Wahlfeststellung“ ohne gesetzliche Grundlage (§ 2b RStGB a.F. war durch das 11. Kontrollratsgesetz als NS-Strafrecht aufgehoben worden) angewandt wird, wenn eine angeblich „rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit“ vorliegt (dazu jetzt Anfragebeschluss vom 28.1. 2014 – 2 StR 495/12 = NStZ 1014, 392); auch sonst hat die höchstrichterliche Rechtsfortbildung schon manch höhere Hürde als die vom Vertragsarzt zum Amtsträger kreativ übersprungen.
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triebs sein. Vertrauensverhältnisse bestehen auch im Verhältnis des Bürgers zu Steuerberatern, Bankiers, Betreuern usw.; es ist schwer erkennbar, aus welchem Grunde ausgerechnet das Verhältnis zu seinem Arzt, der ihn einmal im Jahr sechs Minuten lang spricht und sodann ein Rezept ausstellt, alles andere in den Schatten stellen und die Kraft haben soll, den Arzt aus jeglicher Vermögensschutzposition gegenüber der Solidargemeinschaft herauszuheben – die ihm im Bereich des Abrechnungsbetrugs und der Untreue sodann aber wieder zuerkannt wird. Im Übrigen hindert das Arzt-Patienten-Verhältnis die Bestrafung eines in einem öffentlichen Krankenhaus angestellten Arztes wegen Bestechlichkeit oder Vorteilsannahme ersichtlich nicht; dass es dies bei der Konsultation eines niedergelassenen Vertragsarztes tun soll, leuchtet nicht ein. Hier ist der Große Senat, so meine ich, auf eine alte Argumentations-Figur der Medizin-Lobby hereingefallen: Eine Mischung aus Lobbyismus, Verbands-Politik, Appell an das individuelle Gefühl von Vertrauen-Wollen und seiner Überhöhung in eine angeblich zeitlose Ethik selbst der wirtschaftlichen Betätigung von Ärzten. Unmittelbare Folge der Entscheidung des Großen Senats war, dass bei zahlreichen Staatsanwaltschaften sämtliche Verfahren wegen korruptiver Vorgänge im Vertragsarztsystem eingestellt wurden. Damit dürften auch die Verfahren der Berufsorganisationen ihr Ende gefunden haben. Von den angekündigten harten berufsrechtlichen Sanktionen ist jedenfalls nichts mehr bekannt geworden. Unmittelbare rechtliche Folge der Entscheidung, Zuwendungen innerhalb dieses Systems zur Erlangung von Bevorzugungen bei Verschreibungen und Zuweisungen seien nicht strafbar, war die Legalisierung entsprechender Handlungen. Waren solche Zuwendungen schon zu der Zeit als Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit zu versteuern, als sie noch im Ruf oder unter der Drohung der Strafbarkeit standen, so galt dies nach dem 29. März 2012 erst Recht. Umgekehrt sind korruptive Zuwendungen von Schmiergeld und sonstigen Vorteilen für die Bestechenden wohl wieder in vollem Umfang Betriebsausgaben, die den steuerlichen Gewinn minderten. Es ist unbekannt, wie viele Vertragsärzte in den vergangenen zwei Jahren Einnahmen aus Schmiergeldzahlungen in Ihren Einkommensteuererklärungen als solche angegeben und versteuert haben; Zahlen wären auch schwer zu erlangen. Zu vermuten ist freilich, dass es außerordentlich wenige waren. Einer der Gründe hierfür liegt gewiss darin, dass die meisten Zuwendungen nicht als plumpe Zahlung erfolgen, sondern vielfältig verschleiert werden, am häufigsten als Unterstützung von Fortbildung und als Entgelt für – angebliche – Leistungen bei klinischen Forschung und Erprobung. Ein anderer, motivatorischer Grund geht über die übliche Steuerhinterziehungs-Mentalität von Freiberuflern hinaus: Es ist das Vorhandenseins eines ausgeprägten Unrechtsbewusstseins. Ärzte, Apotheker, Medikamenten- und Medizinproduktehersteller sowie andere im
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Gesundheitsbereich agierende Marktteilnehmer glauben dem Großen Senat tatsächlich nicht, dass (ihr) korruptives Handeln im Vertragsarztsystem straflos sei. Sie können ihr Glück nicht fassen und verhalten sich still wie die Mäuslein beim Vorüberschreiten des Katers. Sie haben selbst nicht den Eindruck, dass solches Handeln legitim sei oder dass es sich, in den Worten des Präsidenten der Bundesärztekammer, um ein „völlig normales Verhalten“ handele, also um ein Handeln im Bereich der Sozialadäquanz. Das Gegenteil ist richtig, und dies beweist – zumindest mittelbar – auch die Existenz und die Tätigkeit des Vereins zur Freiwilligen Selbstkontrolle (FSA) als unternehmensübergreifende ComplianceStruktur.
IV. Korruption Zur Bedeutung der Korruptionsbekämpfung im Allgemeinen sowie gerade auch im Bereich des Gesundheitswesens kann man kaum Neues vortragen. Sie ist bekannt und spätestens seit dem Deutschen Juristentag 1996 in den Fokus der öffentlichen Diskussion geraten. Das gilt auch (und gerade auch) für den Bereich des Gesundheitswesens insgesamt; dieser Sektor der Wirtschaft ist aufgrund spezifischer Eigenarten als besonders korruptionsanfällig anzusehen. Der Gesundheitsbereich ist – neben anderen – ein herausragendes Beispiel für die korruptive Anfälligkeit großer Solidarsysteme. Jährlich befinden sich im Gesamt-Topf der Gesundheitsfürsorge in der Bundesrepublik knapp 300.000 Millionen € – eine gigantische Summe, an deren Verteilung eine unübersehbare Zahl von teils mit-, teils gegeneinander wirkenden Marktteilnehmern hohes Eigen-Interesse hat. Die Verteilung findet statt durch ein System, das in seiner Kompliziertheit anmutet wie ein kafkaesker Albtraum, das nur von ganz wenigen in allen Facetten verstanden wird und dessen Output sich weithin der Transparenz und rationalen Beurteilung entzieht. Denn dies ist eine wichtige Besonderheit der Korruption im Gesundheitswesen: Der Gesamterfolg „Flächendeckende, angemessene, bestmögliche Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung“ ist schwer oder gar nicht zu messen; schon die Operationalisierung einer qualitativen Erfassung ist kaum möglich; diese kann allenfalls über zweit- und drittrangige Indikatoren gemessen und geschätzt werden. Korruption im Gesundheitswesen hat daher, nach allen seriösen Schätzungen, nicht allein einen besonders hohen Umfang (Schätzungen gehen von mindestens 5 % aus), sondern bleibt auch besonders leicht unsichtbar. Man wird aus allgemeinen kriminologischen Erfahrungen allerdings einige allgemeine Vorhersagen ableiten können:
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Insgesamt wird die Versorgung durch Ausbreitung von Korruption langfristig schlechter werden, weil ein tendenziell wachsender Anteil der verfügbaren Mittel für uneffektive, nutzlose oder gar falsche Behandlungen verwendet wird. Der Anreiz zu kostensparenden, einfachen Behandlungen massenhaft verbreiteter Krankheiten ist gering. Das betrifft namentlich auch die Forschung. Ein durch Korruption angeheizter Verdrängungswettbewerb etwa im Bereich der Pharmaindustrie, deren mittel- und langfristige Geschäftsperspektiven sich heute kritischen Fragen und ersten Warnungen aus dem Finanzsektor gegenüber sehen, führt (oder verführt) zur Einstellung oder Einschränkung von Forschung in Bereichen häufiger Krankheitsbilder und zur Verlagerung auf seltene, stark individualisierbare Krankheitsbilder – etwa in der Onkologie – mit extrem hohen Renditen bei außerordentlich geringer Kontrolldichte. Selbstverständlich ist „Korruption im Gesundheitswesen“ ein äußerst vielschichtiges Phänomen mit zahllosen Formen und Ausprägungen. Korruptive Zuwendungen von Pharmaunternehmen, Medizinprodukteherstellern und anderen Leistungserbringern an Ärzte – seien es öffentlich oder privat angestellte, freiberuflich privatliquidierende oder Vertragsärzte – sowie sonstige Personen, die über die Verwendung und Verteilung von Mitteln entscheiden, sind nur ein, wenngleich ein besonders wichtiger Zweig. Diese Wichtigkeit bemisst sich nicht allein an der Verbreitung entsprechender Praktiken und der Höhe der hierdurch versickernden Beträge. Sie resultiert auch daraus, dass an dieser Schnittstelle zum „normalen“ Leben, also zu den Außensystemen der Gesellschaft, Legitimationsprobleme leichter als im internen Zirkel zwischen Leistungserbringern auffallen und daher besonders verheerend wirken: Wenn innerhalb von zwei Jahren fünfmal herauskommt, dass das System der Organtransplantation in Deutschland korruptiv verseucht ist, bricht das ganze System langfristig zusammen. Eben dies ist ein Phänomen, das wir zurzeit beobachten können.⁸ Ähnliches wird in anderen Bereichen geschehen, sobald die korruptiven und qualitativen Verluste nicht mehr durch immer neue Geldzuflüsse aus der Solidargemeinschaft aufgefangen oder verschleiert werden können; dass dies nur eine Frage der Zeit – weniger Jahre – ist, sollte nicht zweifelhaft sein.⁹
Vgl. dazu auch Rissing-van Saan Der so genannte „Transplantationsskandal“ – eine strafrechtliche Zwischenbilanz, NStZ 2014, 233. Zum Stand der Dinge: Peter C. Gøtzsche Deadly Medicines and Organized Crime. How big pharma has corrupted healthcare, 2013.
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Mit anderen Worten: Das System der korruptiven Marktpflege funktioniert nur so lange weitgehend laut- und reibungslos, bis die ersten Fälle von Fakelaki ¹⁰ aus den Praxen deutscher niedergelassener Ärzte bekannt und skandalisiert werden, weil Ärzte, aus welchen Gründen auch immer, auch bei Patienten direkt Korruptionshonorar kassieren möchten für bevorzugte Behandlung, Verschreibung tatsächlich oder angeblich besonders wirksamer Medikamente oder besonders teurer sonstiger Leistungen. Korruption ist ein hochgradig gefährliches, letztlich tödliches Gift für jedes Gemeinwesen. Sie hat eine Vielzahl von Gesichtern, Stufen, Ausprägungen und Verankerungen; die grundsätzlichen Abläufe und die Wirkungsweisen sind freilich stets ähnlich. Korruption hat unterschiedliche Angriffspunkte; sie tritt bevorzugt und massiv vor allem auch dort auf, wo große Geldmengen in bürokratischen Systemen verwaltet und zugewiesen werden. Oft bereits am Anfang, an den Rändern, mindestens am Ende aber stets auch im Zentrum, fressen sich korruptive Strukturen immer in den Staatsapparat hinein; am leichtesten in die Legislative, in vielen Ländern bis in den Kern der Exekutive und Judikative. Dies ist, wie wir wissen, ein äußerst gefährlicher Zustand, denn er beruht auf einem selbsttragenden, kaum mehr rückführbaren System einer zerstörerischen Schattenwirtschaft bei zunehmender Auflösung staatlicher Strukturen. Die Folgen sind, wie wir in zahlreichen Ländern beobachten können, ein allgemeiner Verlust von Vertrauen in das Funktionieren des Gemeinwesens, die Ausbildung von parallelen Systemen der Verteilung und der Selbsthilfe, Ineffektivität des wirtschaftlichen und politischen Systems. Was systematische Korruption aus einer öffentlichen Gesundheitsversorgung machen kann, sehen wir nicht nur an Beispielen aus fernen Ländern, sondern inzwischen auch in Staaten der Europäischen Union. Dass dies niemand will oder gar anstrebt, liegt auf der Hand. Das Problem der Korruption ist nicht, dass sie als solche gewünscht wird. Denn jeder leidet unter der Korruption der jeweils anderen. Das Problem liegt vielmehr in den Sondervorteilen, welche der Einzelne sich durch korruptives Verhalten sichern kann oder zu sichern versucht. Mit anderen Worten: Jeder beklagt allein die Korruption der anderen. Es handelt sich um ein klassisches „soziales Dilemma“¹¹.
Das in Griechenland dem Vernehmen nach zwingend erforderliche und als sozial üblich angesehene Schmiergeld an Ärzte, um überhaupt, in absehbarer Zeit, mit Sorgfalt sowie unter Einsatz halbwegs wirksamer Methoden behandelt zu werden. Im Sinne der Spieltheorie: Ein nicht-kooperatives Spiel, in dem individuell rationales Verhalten aufgrund der Unvorhersehbarkeit fremden Verhaltens zu insgesamt negativen Ergebnissen führt. Die Besonderheit liegt hier darin, dass gerade die (illegale) Kooperation als dominante Strategie eingesetzt wird.
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Gehen wir, grob zusammenfassend, davon aus, dass es korruptive Strukturen im Gesundheitssystem der Bundesrepublik seit langem gab und immer noch – in erheblichem Umfang – gibt. Selbstverständlich ist in hohem Maße streitig, welche Verhaltensweisen, Usancen, Regelungen, Absichten überhaupt unter diesen Begriff fallen. Als Beispiel will ich hier nur die so genannten Anwendungsstudien nennen. Wir alle wissen, dass solche Studien dazu dienen können und vielfach gedient haben, Schmiergeld für gefällige Verschreibungspraxis auf einigermaßen unauffällige Weise in den Markt zu pumpen. Dass dies so war, war ja einer der Gründe für die Initiativen zu einer Freiwilligen Selbstkontrolle. Anwendungsstudien stehen in dem Ruf, sinnlose und wissenschaftlich irrelevante Schein-Nebentätigkeiten von niedergelassenen und angestellten Ärzten zu verschleiern, indem für banale Datenerhebungen zur Anwendung von Medikamenten oder Medizinprodukten Honorare gezahlt werden, die in keinem sinnvollen Verhältnis zum wissenschaftlichen Nutzen und daher zum wirtschaftlichen Nutzen des Auftraggebers stehen. Es handelt sich vielmehr um ein ebenso banales wie übliches Instrument der Verschleierung unberechtigter Sondervorteile. Aus der Sicht eines korruptions-empfänglichen, sich notorisch unterbezahlt und zu kurz gekommen fühlenden niedergelassenen Internisten, der dringend seine Praxiseinrichtung abbezahlen muss, bevor er selbst infolge Überarbeitung krank wird, ebenso wie aus der Sicht eines Pharma-Unternehmens, das seine Existenz zu einem Zehntel der Verbreitung eines einzigen Lipidsenkers verdankt, mag dies rational sein: Ebenso rational wie die Kundenbefragung eines Fischhändlers in Neapel im Auftrag eines der örtlichen mafiösen Kartelle von Thunfischhändlern. „Rational“ ist hier freilich nicht anderes als ein Synonym für die Logik des Verbrechens. Es gilt selbstverständlich der Rationalitätsbegriff der kapitalistischen Marktwirtschaft. Normativ bedeutet das für uns: gar nichts. Nebenbei: Man könnte den seit langem verheerenden Ruf von Anwendungsstudien leicht verbessern, indem man die Rohdaten veröffentlicht und einer an der Gesundheit der Patienten und der Wirksamkeit von Arzneimitteln interessierten Öffentlichkeit zur Prüfung unterbreitet. Dies wäre keinesfalls zu viel verlangt und würde in schützenswerte Geschäftsgeheimnisse nicht über die Maßen eingreifen. Wenn man solche Veröffentlichungen nicht will, mag man seine Gründe haben; dann muss dann mit der Kritik wie dem Verdacht leben. Die im Januar 2014 vom Gesundheitsausschuss des EU-Parlaments bestätigte Verordnung 2012/0192 (COD) zur Veröffentlichung Klinischer Studien¹² ist daher als erster Schritt¹³ zu begrüßen. Es ist zu hoffen, dass Ihr Inkrafttreten¹⁴ dem bislang un-
Vorschlag: 17.02. 2012, COM (2912)369 final, 2012/0192 (COD). Eine Veröffentlichungspflicht für (anonymisierte) Rohdaten ist nicht vorgesehen.
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durchsichtigen Feld der Anwendungsstudien einige erste Lichtstrahlen zukommen lassen wird. Anwendungsstudien sind nur ein Beispiel; ich habe es wegen seiner besonderen Bedeutung und Umstrittenheit gewählt. Es gibt zahllose andere Beispiele für Handlungsweisen und Verhalten, die in einem Grenzbereich der Legalität angesiedelt sind oder diesen bereits überschreiten. Kennzeichnend für die Diskussion über Korruption ist gerade dieser Streit über die Grenze der Sozialadäquanz. Das war oder ist im Bereich der Wissenschaft, der öffentlichen Verwaltung oder der Bauwirtschaft nicht anders. Im Gesundheitsbereich verläuft die Diskussion freilich besonders zäh. Man wird aber auch hier sagen können, dass jedenfalls in Deutschland – und einigen anderen wichtigen Märkten der Welt – ein hoher gesellschaftlicher Konsens besteht, wonach Korruption unerwünscht und gefährlich ist und mit Mitteln der formellen Sanktionierung auf einem möglichst niedrigen Niveau gehalten werden soll. Über diese gesellschaftliche Stimmung sollten wir froh sein.
V. Interne Kontrolle durch Compliance „Compliance“ ist ein Thema, das als unternehmerisches „Leitmotiv“ dieses Jahrzehnts in die Geschichte eingehen wird. Der ursprünglich dem medizinischen Jargon entnommene Begriff ist damit buchstäblich an seinen Ursprungsort zurückgekehrt. Wir verstehen darunter heute allerdings weniger die Zuverlässigkeit, mit welcher Rentner Betablocker einnehmen, als vielmehr die unternehmensbezogene Einhaltung von externen Regeln mittels interner Kontrolle und Unternehmenskultur; Verständigung auf und Implementierung von Strukturen, die Regelkonformität schaffen und absichern sollen. Die Regeln, um deren Einhaltung es geht, sind nicht neu: Sie sagen: Du sollst nicht bestechen, um Marktanteile zu sichern, zu vergrößern oder zu manipulieren. Du sollst nicht minderwertige Produkte zu überhöhten Preisen in den Markt drücken, zu Lasten von Personen mit strukturell niedrigerer Marktmacht und individuell verminderter Kritikfähigkeit. Du sollst Dich als Unternehmer an die Gesetze des Staates halten. Du sollst Deine Geschäfte betreiben wie ein ordentlicher Kaufmann und nicht wie ein Hinterhof-Dealer. Du sollst keine illegitimen Sondervorteile aus den Mitteln der Solidargemeinschaft anstreben, die Deine Existenz sichert.
Voraussichtlich Mitte 2016.
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Diese Regeln sind, alles in allem, ziemlich klar. Sie werden auch allgemein verstanden. Wäre das nicht so, dann wären die Aufwendungen unverständlich, mithilfe derer ihre Umgehung verschleiert wird. Volkstümlich ausgedrückt: Wenn der Chefarzt das Konto des gemeinnützigen Vereins zur Unterstützung der von ihm geleiteten Abteilung von seiner Ehefrau in Luxemburg führen lässt, muss man sich als Staatsanwalt über die Frage des Unrechtsbewusstseins nicht mehr allzu viele Gedanken machen: es ist evident. Dasselbe für die Planungs- und Organisationsaufwendungen, welche unternommen werden, um angebliche oder tatsächliche „Lücken“ in Regelungswerken zu finden oder um abhängigkeitsbegründende korruptive Beziehungen zu camouflieren. Ähnlich mag es mit anderem gehen, auch wenn es auf den ersten Blick komplizierter konstruiert ist. Es geht um den Sinn, nicht um die Konstruktion. Compliance ist (auch) eine Industrie. Sie ernährt Spezialisten für Compliance, Rechtsanwaltskanzleien;Verlage; Fortbildungs-Unternehmen. Sie beschäftigt und bindet erhebliche personelle Ressourcen in den Unternehmen. Sie pflanzt sich fort wie das Myozem eines Pilzes und scheint alles zu erfassen. Noch nie seit dem Beginn der Bundesrepublik war Deutschland so vom Compliance-Gedanken – in welcher Formulierung auch immer – durchdrungen wie heute. Und die Aufdeckung gigantischer korruptiver Systeme großer, in Deutschland ansässiger Konzerne hat nicht etwa dazu geführt, dass der Compliance-Gedanke als Schimäre verworfen wurde. Im Gegenteil: Jede Aufdeckung verdoppelt unseren Mut; jeder Skandal macht uns transparenter; jede Geldbuße an die SEC wirft die deutsche Industrie und den Finanzsektor tiefer in den Staub von Reue und Einsicht und damit in die Compliance. Ist das die Wahrheit? Ist es möglich, dass jahrzehntelang die qualitativ überragende deutsche Kraftwerks- oder Maschinenbautechnik in die weite Welt nur mithilfe von Milliarden an Schmiergeld verkauft werden konnte, seit der Verurteilung von einigen Managern der zweiten Ebene und einer schmerzhaften Bußgeldzahlung an die SEC aber plötzlich ohne jegliche korruptive Einflussnahme den Absatz nicht allein stabil hält, sondern den Gewinn noch weiter steigert? Waren die abgemusterten (und abgefundenen) CEO’s und subalternen Mitwisser der namhaftesten deutschen Gesellschaften allesamt wahnsinnig, als sie viel Geld in die Unterhaltung verrotteter korruptiver Systeme auf der ganzen Welt steckten, obgleich derselbe Erfolg sich doch – wie wir heute lesen können – auch ganz einfach ohne Korruption erzielen lässt? Hieran wird man zweifeln dürfen. Man trifft heute unter den „Compliance“-Fachleuten bereits auf eine zynische Wurschtigkeit und auf die „Theorie“, die ganze Compliance-Maschinerie diene allein dazu, die Vorstände großer Unternehmen von der Verantwortung zu entlasten und diese nach unten bzw. ins Nichts zu verschieben. Das wird gelegentlich recht plausibel dargelegt; gleichwohl meine ich, dass es nur eine Seite der Medaille
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sein könnte. Die andere Seite ist die hohe öffentliche Aufmerksamkeit und der fortbestehende rechtspolitische Wille, keine Gebiete selbstregulierender Schattenwirtschaft auf Kosten der Allgemeinheit (mehr) zuzulassen. Hier muss (und kann auch) eine „Selbstkontrolle“ durch interne Compliance ansetzen: Compliance ist zunächst eine Aufgabe der einzelnen Unternehmen und sonstigen Beteiligten. Hierzu ist, gerade auch im Zusammenhang mit der Pharmaund Medizinprodukte-Industrie, viel gesagt und geschrieben worden; ich will es nicht wiederholen. Es gelten hier die allgemeinen Anforderungen,Vorbehalte und Grundsätze, freilich mit bereichsspezifischer Ausrichtung. Eine solche wird sich zum Beispiel gerade auch aus der besonderen Bedeutung einer hochgradig ausdifferenzierten Vertriebs- und Werbestruktur ergeben. Unternehmens-übergreifende Compliance-Systeme können allenfalls auf einer solchen unternehmensinternen Struktur aufsetzen. Eine unternehmens-übergreifende, private Compliance-Kontrolle, wie sie im Bereich der Pharmaindustrie etwa der FSA e.V. darstellt, ist eine ohne Zweifel begrüßenswerte und nützliche Organisation interner Kontrolle. Ihre Kodices beruhen auf vielfach gesicherten Erkenntnissen und benennen zutreffende Schwerpunkte.¹⁵ Berufs- und branchenspezifische Compliance-Strukturen sind sinnvoll. Soweit sie unternehmens-übergreifend sind, repräsentieren sie nicht allein eine hohe Kompetenz in Einzelfragen, sondern sind strukturell auch dazu geeignet, wirksame Kontrolle auszuüben. Alles hängt hier freilich davon, ob sich solche Strukturen tatsächlich als Kontrollinstrumente verstehen oder ob sie eher als Foren des Interessenausgleichs und der (gemeinsamen) Abwehr funktionieren. Soweit es berufsständische Verbände betrifft, wissen wir, dass sie ein Eigenleben entwickeln, welches in gelegentlich rätselhafter Weise zwischen diesen Polen changiert: Sie sind interne Kontrolle und Lobbygruppe in einem.
VI. Externe Kontrolle durch Strafverfolgung Alle Erfahrungen zeigen überdies, dass eine Beschränkung von Compliance-Kontrolle auf freiwillige interne Strukturen nicht ausreicht, um Missbräuche und Re-
Die „Performance“ mag zunächst dagegen sprechen und könnte überdacht werden: Die Broschüren des FSA sind in Aufmachung und Anmutung von Informationsblättern über Lipidsenker oder Stimmungsaufheller nur schwer zu unterscheiden. Die penetrante Abbildung glücklich lachender Menschen aus Patientenorganisationen, Pharmaindustrie und medizinischen Fachkreisen, die sich gegenseitig Computergrafiken über den steten Fortschritt der Compliance zeigen, ist von einer „Apothekenrundschau“-gleichen Schlichtheit und kann daher ernsthafte Zweifel an der Ernsthaftigkeit begründen.
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gelverletzungen wirksam zu verhindern. Das mag im Einzelfall auch am sprichwörtlichen bösen Willen liegen; es liegt aber mehr in strukturellen Grundsätzen. Die deutsche Gesellschaft – „Zivilgesellschaft“ – ist offenkundig nicht bereit, die Bekämpfung von Korruption in erheblichem Umfang einer formellen, staatlichen Kontrolle zu entziehen und in private Hände zu legen; unabhängig davon, ob dies die Hände gerade derjenigen sind, deren Verhalten zu kontrollieren ist, oder ob selbständige private Kontrollstrukturen aufgebaut werden. Niemand glaubt ernsthaft, die Korruption im Bauwesen könne am besten durch die Vereinigung der deutschen Betonhersteller verhindert werden, oder die Korruption im öffentlichen Vergabewesen durch den deutschen Beamtenbund. Bestechung und Bestechlichkeit – im untechnischen Sinn – gelten vielmehr zu Recht als durchaus gravierende Straftaten, die einer staatlichen Strafverfolgung von Amts wegen zu unterziehen sind. Hiervon kann das Gesundheitswesen – oder gar: bestimmte Teile dieses Sektors, soweit sie nicht mit der staatlichen Verwaltung in unmittelbare Berührung kommen – keinesfalls eine Ausnahme bilden. Das liegt nicht allein an der hierdurch entstehenden Ungerechtigkeit, sondern auch daran, dass es sich bei der Gesundheitswirtschaft um einen besonders wichtigen Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge handelt, welcher die Lebensqualität der gesamten Bevölkerung unmittelbar mitbestimmt. Der Staat ist daher von Verfassungs wegen gehalten, dieses System, soweit es ihm möglich ist, auch mittels sanktionierender Normen zu stabilisieren und grobe, sozialschädliche Verstöße strafrechtlich zu ahnden. Gegen diese grundsätzliche Erwägung bestehen, soweit ich sehe, weithin keine durchgreifenden Einwände. Ansichten, wonach die Kontrolle vollständig den selbstregulierenden Kräften der Berufs- und Branchen-Organisationen überlassen werden sollten, haben keine Chancen, eine Mehrheit zu gewinnen. Der gegenwärtige Rechtszustand ist daher äußerst unbefriedigend; er ist nach meiner Ansicht skandalös. Seit drei Jahren leben die Bürger, aber auch die zweifellos noch vorhandenen so genannten „schwarzen Schafe“ mit dem Rechtsspruch des Bundesgerichtshofs, Korruption im Vertragsarztsystem sei nicht strafbar und könne allenfalls durch berufsständische Maßnahmen sanktioniert werden (die aber bekanntlich beinahe nie eintreten). Das ist, auch unter Gesichtspunkten der Legitimität unseres Rechtssystems und der Gerechtigkeit, unerträglich. Es ähnelt in seinem Sinngehalt einer höchstrichterlichen Anordnung, wonach von Stund‘ an das Stehlen einer bestimmten Automarke nicht mehr strafbar sei. Abhilfe tut somit Not. Bereits in der 17. Legislaturperiode hat es verschiedene rechtspolitische Ansätze gegeben: Zunächst mehrere Entschließungsanträge im Deutschen Bundestag, welche die Bundesregierung aufforderten, baldmöglichst die Regelungslücken zu schließen; sodann einen aus dem Bundesgesund-
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heitsministerium stammenden Entwurf eines Gesetzes mit dem rätselhaften Titel „Gesetz zur Verbesserung der Prävention“¹⁶, der vorschlug, eine Strafregelung in einen neuen § 233a SGB-V einzustellen; schließlich einen Bundesrats-Entwurf, der auf einem Gesetzesantrag Hamburgs beruhte und die Einführung einer alle Heilberufe umfassenden neuen Strafvorschrift in einem § 299a – neu StGB vorschlug. Alle Vorschläge sind mit dem Ende der Legislaturperiode der Diskontinuität anheimgefallen. Neue Initiativen in der 18. Wahlperiode sind bislang nur zäh angelaufen; die strafrechtliche Verfolgung von Korruption im VertragsarztSystem scheint keine rechtpolitische Priorität zu genießen.
VII. Ausblick Ein Handeln des Gesetzgebers ist dringend erforderlich. Weiteres Zögern hat nicht allein das Fortbestehen offenkundig kriminogener Strukturen und das praktisch sanktionslose Ausnutzen dieser Möglichkeiten durch besonders skrupellose Marktteilnehmer zur Folge, sondern schadet neben dem herausragend wichtigen Solidarsystem auch der Legitimität des Rechtsstaats. Es ist ein skandalöser Zustand, dass trotz jahrzehntelanger Kenntnis von korruptiven Systemen großen Ausmaßes der Sektor der vertragsärztlichen („kassenärztlichen“) Versorgung weiterhin beinahe ganz aus den – ohnehin lückenhaften – Ansätzen strafrechtlicher Korruptionsverfolgung ausgenommen ist. Vergleicht man das beredte Schweigen der Rechtspolitik und der Gesellschaft zu diesem Missstand etwa mit der Aufregung und den „Bekämpfungs“-Szenarien, die um Fehlentwicklungen wie „Sozialhilfebetrug“ oder Missbrauch von staatlichen Transferleistungen stattfinden, so muss das Ergebnis dieses Vergleichs beschämen. Interne, namentlich unternehmensübergreifende Compliance- Strukturen sind zu begrüßen, wenn sie tatsächlich das Ziel und die Macht haben, kriminogene Strukturen aufzudecken und zu verhindern. Ein „staatsfreier“ und strafrechtsfreier Bereich der Selbstkontrolle kann hierdurch freilich nicht begründet werden. Die berufsrechtliche Kontrolle durch die Organe der ärztlichen Selbstverwaltung hat sich als vollständig untauglich und unzureichend erwiesen. Die Probleme des Zusammenwirkens zwischen interner und staatlich-externer Kontrolle sind auf materiell-rechtlicher wie insbesondere verfahrensrechtlicher Ebene nicht zu unterschätzen; sie unterscheiden sich aber im hier behan Ein Titel, der nur von einer höchstspezialisierten, vollständig auf sich selbst bezogenen Bürokratie ausgedacht sein kann, die den (allgemeinen) Begriff der Prävention nur in einem einzigen konkreten Zusammenhang denken kann. Dem Rest der Menschheit erschießt sich nicht, ob es um Vorsorge für oder gegen Gesundheit, Klima, Kriminalität oder den Schutz der Waldohreule geht.
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delten Bereich keineswegs substanziell von ähnlichen Problemen in anderen Wirtschaftszweigen. Der Große Senat für Strafsachen hätte im Jahr 2012 mit guten Gründen eine Amtsträgerschaft (§§ 331 ff. StGB) oder eine Beauftragtenstellung (§ 299 StGB) von Vertragsärzten bejahen können. Da er stattdessen einen Appell an den Gesetzgeber richtete, die durch nichts zu rechtfertigende Regelungslücke zu schließen, muss endlich Ernst genommen werden.
Einzelfragen: Steuerungsprobleme
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Überlegungen zu einer Ethik interner Untersuchungen Gliederung A. B. C. D. E.
F.
Rahmenbedingungen interner Untersuchungen Notwendigkeit interner Untersuchungen Zwecke und Erscheinungsformen interner Untersuchungen Aktuelle praktische Problemfelder Rechtsethische Aspekte interner Untersuchungen I. Privatisierung der Strafverfolgung II. Rolle des anwaltlichen Beraters III. Compliance der Compliance IV. Sicherung der Rechte des Individuums Fazit
Rahmenbedingungen interner Untersuchungen Interne Sachverhaltsaufklärungen in Unternehmen gab es schon immer. Allerdings hat sich der Umfang und deren Bedeutung grundlegend geändert. Insbesondere die strafverfolgungsrechtlichen Aspekte waren früher nicht in dem Maße ausgeprägt, wie sie es heute sind. Interne Untersuchungen sind keine eigenständige Erscheinung, sondern vielmehr Teil von (Criminal‐) Compliance-Systemen. Unter Compliance können dabei die Gesamtheit der Maßnahmen verstanden werden, die das rechtmäßige Verhalten der Unternehmensleitung und der gesamten Mitarbeiter sowie ggf. nahestehender Personen sicherstellen soll.¹ Neben den gesetzlichen Vorgaben sind dabei auch oftmals eigene unternehmensinternen (Ethik‐) Regelungen Bestandteil der Compliance,² wobei in den Einzelheiten noch nicht abschließend geklärt ist, welche konkreten Anforderungen genau an ein entsprechendes System zu stellen sind.³ Vgl. Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 484; Bock ZIS 2009, 68; Hauschka in: ders. (Hrsg.) Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 1, Rn. 2 jeweils m.w.N. Vgl. Pelz in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, S. 165; Hauschka in: ders. (Hrsg.) Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 1, Rn. 24. Aus Sicht der Wirtschaftsprüfer hat das IDW den Prüfungsstandard „IDW PS 980“ im Jahr 2011 veröffentlicht, dazu Görtz CCZ 2010, 127; Schemmel/Minkoff CCZ 2012, 49, 51; zu den allgemeinen Kriterien siehe Taschke in: Wessing/Dann (Hrsg.), Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, 2013, § 12, Rn. 73 ff.
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Gerade die Criminal Compliance – als Teilbereich einer umfassenden Compliance Struktur – kann als eigenständiges Rechtsgebiet begriffen werden, das als Instrument zur Selbstkontrolle neben das klassische Strafrecht tritt.⁴ Ihr kommt nicht lediglich eine präventive Funktion zu.⁵ Insbesondere zählt auch die Aufdeckung und Aufarbeitung eines Verstoßes zu den wesentlichen Bestandteilen. Daher sind Compliance und interne Untersuchungen miteinander verzahnt und bedingen sich.⁶ Im aktuell diskutierten Umfang sind interne Untersuchungen erst seit knapp zehn Jahren in Deutschland bekannt. Maßgeblichen Einfluss hatten US-amerikanische Untersuchungen bei Unternehmen mit Sitz in Deutschland und einer Börsenzulassung in den USA, wobei die Siemens-Korruptionsaffäre ab 2006 den Startpunkt dieser Entwicklungen hierzulande darstellt. Bereits der Name „Interne Untersuchungen“ leitet sich aus dem englischen Begriff „Internal Investigations“ ab und ist in der US-amerikanischen Jurisdiktion bereits lange ein feststehender Begriff.⁷ Untersuchungsmaßnahmen sind jedoch keine Ermittlungsmaßnahmen im Sinne der Strafprozessordnung. Aus Klarstellungsgesichtspunkten sollte daher der Begriff „Ermittlungen“ vermieden werden. Neben den internationalen Einflüssen müssen interne Untersuchungen auch vor dem Hintergrund der massiven Veränderungen der Verfolgung der Wirtschaftskriminalität hierzulande gesehen werden, deren Verhinderung bzw. Aufarbeitung die Criminal Compliance dient.⁸ Seit Mitte der 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts kam es sowohl zu einer Spezialisierung der Gerichte und der Strafverfolgungsbehörden sowie darauf aufbauend zu einer Ausweitung der Ahndung von wirtschaftsstrafrechtlichen Sachverhalten⁹ als auch zu einer Ausweitung der Strafvorschriften im wirtschaftlichen Kontext. Insbesondere auf der
Siehe dazu ausführlich Rotsch in: ders. (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, S. 3 ff.; zusammenfassend bereits Timm ZIS 2013, 249 ff.; grundlegend Bock Criminal Compliance, 2011; kritisch zur Leistungsfähigkeit der (Criminal) Compliance Kölbel ZStW 125 (2013), 499 ff. So auch Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 485; a.A. noch Bock Criminal Compliance, 2011, S. 246. Ähnlich auch M. Jahn der die Compliance-Diskussion im Zusammenhang mit dem Unternehmensanwalt betrachtet, vgl. M. Jahn ZWH 2012, 477 ff., ZWH 2013, 1 ff. Vgl. Taschke in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, S. 65. Zur Begriffsbestimmung des Wirtschaftsstrafrechts siehe Rotsch in: Momsen/Grützner (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2013, Kap. 1 B, Rn. 1 ff. BGHSt 37, 106 ff. (Lederspray); BGHSt 40, 218 ff. (Nationaler Verteidigungsrat); BGHSt 49, 147 ff. (Bremer-Vulkan); BGHSt 50, 331 ff. (Mannesmann); insgesamt zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe auch Schünemann FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 621 ff.; Hassemer FS 50 Jahre Bundesgerichtshof , 2000, S. 439 ff.; Rogall FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 383 ff.; dazu auch Taschke NZWiSt 2012, 9 ff, 41 ff., 89 ff.
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Grundlage der OECD-Konvention zur Bekämpfung der Korruption im Jahr 1997 kam es zu Verschärfungen der nationalen Korruptionsvorschriften.¹⁰ Die Pharmaindustrie geriet Mitte der 90iger in den Blickpunkt von Strafjustiz und Gesetzgeber. Gegenstand der Untersuchungen bildeten dabei oftmals bisher übliche Formen der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und medizinischer Industrie.¹¹ Daneben ist an die medienwirksamen Untreue-Entscheidungen im Bereich der Parteispenden-Affären¹² sowie im Fall Mannesmann¹³ zu denken. Die Haftungsrisiken für Unternehmen haben sich zudem durch die verschärfte Anwendung der §§ 30, 130 OWiG sowie durch Verschärfungen der Verfallsregelungen nach §§ 73 ff. StGB deutlich erhöht.¹⁴ Aktuell unternahm das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat den Versuch, ein Unternehmensstrafrecht in Form eines Verbandsstrafgesetzbuches in den Gesetzgebungsprozess einzubringen, das – ähnlich wie §§ 30, 130 OWiG – eine Zurechnung von persönlichen, jedoch verbandsbezogenen, Pflichtverletzungen auf das Unternehmen vornimmt und ein breites Sanktionsarsenal bereithält.¹⁵ Nicht nur, aber vor allem auch im Wirtschafsstrafrecht vollzieht sich eine grundlegende Änderung der Präventions- und Sanktionsstile, hin zu mehr Selbstregulierung einerseits und einer umfassenden Publikmachung des Verstoßes als Sanktion anderseits.¹⁶ Interne Untersuchungen sind daher auch vor dem Hintergrund dieser neuen Entwicklungen rechtsethisch zu betrachten. Zahlreiche Praxisleitfäden und Handbücher wurden in den letzten Jahren zu diesem Thema veröffentlicht. Wirtschaftskanzleien sowie auch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften verlegen zum Teil ihren Schwerpunkt auf den Bereich Compliance und interne Großuntersuchungen. Teilweise wird dieser Bereich im Markt sogar als das „neue M&A“ herbeigesehnt. Auch wenn diese Entwicklung einer kritischen Begleitung bedarf, lässt sich insgesamt die Tendenz erkennen,
Dazu bereits Taschke StV 2001, 78 ff. Siehe dazu ausführlich Dieners/Lembeck/Taschke PharmR 1999, 156 ff.; Dieners in: ders. (Hrsg.), Compliance im Gesundheitswesen, 3. Aufl. 2010, Kap. 1 Rn. 5. Siehe dazu Saliger Parteiengesetz und Strafrecht, 2005. BGHSt 50, 331 ff.; siehe auch Schünemann Organuntreue. Das Mannesmann-Verfahren als Exempel?, 2004, Ransiek NJW 2006, 814; Götz NJW 2007, 419. Allgemein zu den Haftungsrisiken für Unternehmen siehe Taschke/Zapf in: Semler/Peltzer/ Kubis (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 2. Aufl. 2014, § 13, Rn. 251 ff. Gegen die Ausweitung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen siehe die BRAK-Stellungnahme 9/2013 (abrufbar unter: www.brak.de); Jäger FS für I. Roxin, 2012, S. 43 ff.; Leitner spricht aufgrund der umfassenden Sanktionsmöglichkeiten bereits jetzt von einem faktischen Unternehmensstrafrecht, vgl. Leitner StraFo 2010, 322, 326 ff. Dazu kritisch Bung ZStW 125 (2013), 536 ff. sowie auch Kölbel ZStW 125 (2013), 499 ff.
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dass das Thema „Interne Untersuchungen“ nicht bloß eine vorübergehende Modeerscheinung darstellt.
Notwendigkeit interner Untersuchungen Seit den Ermittlungen gegen Mitarbeiter von Siemens wegen Bestechungszahlungen in das Ausland hat es keine von der Intensität her vergleichbaren US-getriebenen internen Untersuchungen mehr bei deutschen Unternehmen gegeben. Vor allem der Umfang und die Intensität, mit der die (amerikanischen) „privaten Ermittler“ – die vom Unternehmen beauftragte Anwaltskanzlei – zu Werke gingen, sorgte für erhebliche Kritik.¹⁷ Mittlerweile besteht kein begründeter Zweifel mehr an der grundsätzlichen Zulässigkeit und Notwendigkeit von internen Untersuchungen. Auch wenn keine Norm im nationalen Recht existiert, die ausdrücklich die Notwendigkeit von internen Untersuchungen hervorhebt, so lässt sich die Notwendigkeit durchaus auch aus nationalen Recht ableiten.¹⁸ Der Bundesgerichtshof hat bereits im Jahr 1997 mit der ARAG-GarmenbeckEntscheidung¹⁹ die Sorgfaltspflichten des Aufsichtsrates präzisiert. Der Bundesgerichtshof führte dazu aus, dass „die Feststellung des zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestandes in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht“ zu erfolgen hat. Dieser Maßstab gilt auch auf der Vorstandsebene. In der Praxis ist danach die gesamte Unternehmensleitung verpflichtet, bei entsprechenden Verdachtsmomenten eine umfassende Sachverhaltsaufklärung zu veranlassen.²⁰ Verletzt die Unternehmensleitung die Pflicht zur Aufklärung und versäumt sie somit, eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für die Geltendmachung oder den Verzicht von Ansprüchen zu schaffen, können sich die Mitglieder neben einer zivilrechtlichen Haftung ggf. sogar dem Vorwurf der strafbaren Untreue aussetzen. Mittlerweile kam es zu einer Konkretisierung des unternehmerischen Ermessensspielraums durch die nach US-amerikanischen Vorbild in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG kodifizierte Business Judgement Rule.²¹ Danach ist die Unternehmensleitung
Vgl. Graeff/Schröder/Wolf Der Korruptionsfall Siemens, 2009; M. Jahn StV 2009, 41 ff.; Satzger NStZ 2009, 297 ff.; Wastl/Litzka/Pusch NStZ 2009, 68, 70; v. Rosen BB 2009, 230 f. Eine Übersicht über die Rechtlage im internationalen Kontext findet sich bei Spehl/Momsen/ Grützner CCZ 2013, 260 ff.; CCZ, 2014, 2 ff. BGHZ 135, 244 ff.; dazu Semler AG 2005, 321, 324; Taschke NZWiSt 2012, 89, 90. Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 90 m.w.N.; Wagner CCZ 2009, 8 ff.; zur Übertragung auf die gesamte Unternehmensleitung bereits Semler AG 2005, 321 ff. Ausführlich MüKo-AktG/Spindler 3. Aufl. 2008, § 93, Rn. 35 ff.; Hölters AktG, 2. Aufl. 2014, § 93, Rn. 29 ff.; Kocher CCZ 2009, 215 ff.
Überlegungen zu einer Ethik interner Untersuchungen
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verpflichtet, bei der Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Insbesondere ist sie verpflichtet, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, was auch die Aufklärung von Verdachtsfällen innerhalb des Unternehmens erfordert.²² Die Geschäftsleitung hat zudem nach § 130 OWiG Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um Pflichtverstöße, die mit Strafe oder Geldbuße bedroht sind, zu verhindern. Sie ist daher verpflichtet, möglichen Verdachtsmomenten nachzugehen.²³ Hieraus ist abzuleiten, dass Unternehmen Compliance-Systeme einzurichten und in Verdachtsfällen interne Sachverhaltsaufklärungen zu betreiben haben.²⁴ Ob sich auch aus dem Corporate Governance Kodex eine Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Systems ableiten lässt, wird unterschiedlich beurteilt.²⁵ In jedem Fall ist der Vorstand jedoch gehalten, bei Verdachtsmomenten eine Überprüfung eines möglichen Fehlverhaltens zu veranlassen. Nur bei Beachtung dieser Regelung kann der Vorstand die Entsprechungserklärung nach § 161 AktG abgeben, dass er für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und unternehmensinternen Richtlinien Sorge trägt.²⁶ Daneben kann die Verpflichtung zur Durchführung interner Untersuchungen auch aus § 153 AO folgen.²⁷ Sofern der Unternehmensleitung Hinweise dafür vorliegen, dass fehlerhafte Steuererklärungen abgegeben worden sind, hat sie unverzüglich die Steuererklärung zu korrigieren. Bestehen in diesem Zusammenhang Unsicherheiten im Sachverhalt, muss sie diesen Hinweisen nachgehen. Ebenso sind für Wertpapierdienstleistungsunternehmen die §§ 31 ff. WpHG zu beachten, die eine Notwendigkeit von internen Untersuchungen begründen
Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 90; zu Schadenersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder wegen Verletzung der Aufsichtspflichten siehe jüngst auch LG München I, Urt. v. 10.12. 2013 – 5 HK O 1387/ 10, BeckRS 2014, 01998. Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 90 f.; Potinecke/Block in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 2, Rn. 12 ff.; Hartwig in: Moosmayer/Hartwig (Hrsg.), Interne Untersuchungen, 2012, S. 8. So auch Moosmayer Compliance – Praxisleitfaden für Unternehmen, 2. Aufl. 2012, S. 5 f.; ders., NJW 2012, 3013; Momsen in: ders./Grützner (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2013, Kap. 1 C, Rn. 27. Zum Meinungsstreit siehe Bürkle BB 2007, 1797; Kremer/Klahold ZGR 2010, 113, 119 m.w.N.; Fleischer BB 2008, 1070, 1072; Kort NZG 2008, 81, 83. Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 91; Potinecke/Block in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 2 Rn. 18. Dazu Taschke NZWiSt 2012, 89, 90; Minoggio in: Böttger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis, 2010, Kap. 15, Rn. 3; Klein/Rätke AO, 11. Aufl. 2012, § 153, Rn. 1.
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können.²⁸ Bestimmte Finanzinstitute unterfallen zudem dem Anwendungsbereich des § 25c KWG. Nach dessen Abs. 3 besteht unter gewissen Voraussetzungen die Verpflichtung, zweifelhafte Buchungsvorgänge intern zu untersuchen.²⁹ Vor allem jedoch ausländische Rechtsordnungen schaffen, teilweise auch für Unternehmen mit Sitz in Deutschland, eine Verpflichtung zur Durchführung interner Untersuchungen. So ist für Unternehmen, die an US-amerikanischen Börsen gelistet sind, der FCPA aus dem Jahr 1977³⁰ zu beachten. Der FCPA findet ebenfalls Anwendung auf nicht börsennotierte Unternehmen, die Handlungen zur Förderung von Bestechungszahlungen in den USA vornehmen oder jegliche Verknüpfung zu den USA aufweisen.³¹ Der FCPA verbietet es u. a., Bestechungszahlungen an ausländische Amtsträger zu leisten oder im Rahmen der Buchführung korruptive Zahlungen zu verschleiern, und fordert ausdrücklich, dass Unternehmen effektive ComplianceProgramme unterhalten, womit auch die Verpflichtung zur Aufklärung von Gesetzesverletzungen mitumfasst ist.³² Dabei wird ein viel umfassenderer Maßstab als nach deutschem Recht angelegt. Ausgangspunkt ist die Verpflichtung zur Einführung und Unterhaltung von effektiven Compliance-Programmen.³³ Bei Verdachtsmomenten über den jeweiligen Einzelfall hinaus wird eine umfassende Untersuchung angestrengt, um somit auch möglicherweise noch nicht entdeckte Verstöße zu ermitteln.³⁴ Bestandteil solcher FCPA-Untersuchungen ist regelmäßig eine umfassende elektronische Durchsicht von Schriftverkehr, E-Mails und sonstiger Dokumente.³⁵
Vgl. dazu das BaFin-Rundschreiben 4/2010 – Mindestanforderungen an die ComplianceFunktion und die weiteren Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten nach §§ 31 ff. WpHG für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (MaComp), abrufbar unter www.bafin.de. Näher dazu Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Achtelik KWG, 4. Aufl. 2012,§ 25c, Rn. 22 ff.; Knauer ZWH 2012, 41, 45. Dazu auch Taschke NZWiSt 2012, 91; Grau/Meshulam/Blechschmidt BB 2010, 652 ff.; Rübenstahl NZWiSt 2012, 401 ff.; ders., NZWiSt 2013, 6 ff.; ders./Boerger NZWiSt 2013, 81 ff.; 281 ff.; 361 ff. Vgl. Grau/Meshulam/Blechschmidt BB 2010, 652, 656; Moosmayer Compliance – Praxisleitfaden für Unternehmen, 2. Aufl. 2012, S. 7. Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 91; als Auslegungshilfe haben die DOJ und die SEC Ende 2012 einen FCPA-Guide herausgegeben, dazu Spehl/Grützner CCZ 2013, 198 ff. Zu den FCPA Compliance Monitorships siehe Schwarz CCZ 2011, 59 ff. Vgl. Wybitul BB 2009, 606 ff.; zur Kritik an FCPA-veranlassten Untersuchungen siehe Wehnert NJW 2009, 1190 ff.; von Rosen BB 2009, 230 ff. Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 91; Wastl/Litzkal/Pusch NStZ 2009, 68, 69.
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Am 1.7. 2011 trat der UK Bribery Act in Kraft³⁶, mit dem das Vereinigte Königreich im Wesentlichen zu den anderen europäischen Nachbarn aufschloss und eine Reihe europäischer Vorgaben umsetzte.³⁷ Einige Besonderheiten sind auch für in Deutschland ansässige Unternehmen zu beachten. Zum einen sollen in den Geltungsbereich auch ausländische Unternehmen fallen, sofern lediglich ein irgendwie gearteter Bezug zum Vereinigten Königreich besteht.³⁸ Zum anderen besteht eine explizite Verpflichtung zur Einrichtung eines Compliance-Systems.³⁹ Eine strafrechtliche Unternehmenshaftung nach dem UK Bribery Act kann entfallen, wenn geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Bestechungshandlungen getroffen wurden.⁴⁰ Daraus kann eine Verpflichtung zur Durchführung von internen Untersuchungen abgeleitet werden.⁴¹
Zwecke und Erscheinungsformen interner Untersuchungen Bei der Durchführung von internen Untersuchungen ist immer zu berücksichtigen, weshalb sie durchgeführt werden. Der Anlass beschränkt immer auch das Ausmaß der Maßnahmen.⁴² Dabei besteht die praktische und rechtliche Schwierigkeit, dass oftmals ein Motivbündel als Anlass von internen Untersuchungen existiert, was eine einheitliche Betrachtung erschwert. Neben den beschriebenen (indirekten) gesetzlichen Verpflichtungen zur Durchführung von internen Untersuchungen existieren eine Reihe von konkreten Motiven, die eine interne Untersuchung zweckmäßig aus Sicht des Unternehmens erscheinen lassen. Sie dienen neben dem strafrechtlichen Aspekt vor allem arbeitsrechtlichen, haftungsrechtlichen sowie aufsichtsrechtlichen Zwecken. Speziell in Kartellsachen ist die Möglichkeit der europäischen und nationalen Kronzeugen- bzw. Vgl. dazu Taschke in: Wessing/Dann (Hrsg.), Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, 2013, § 12, Rn. 72; Klengel DB 2010, M 18; Pörnbacher/Mark NZG 2010, 1372 ff.; Kappel/Lagodny StV 2012, 695 ff.; Dixon/Gößwein/Hohmann NZWiSt 2013, 361 ff. Kritisch zur teilweisen „Panikmache“ siehe Moosmayer NJW 2010, 3013, 3015. Vgl. Knauer ZWH 2012, 41, 43; Hartwig in: Moosmayer/Hartwig (Hrsg.), Interne Untersuchungen, 2012, S. 12 ff. Zu der offiziellen Auslegungshilfe des britischen Justizministeriums (MoJ) siehe Daniel/Ruber NJW-Spezial 2011, 335 f.; Schorn/Sprenger CCZ 2013, 104, 105. Vgl. Schorn/Sprenger CCZ 2013, 104, 106 f. So auch Knauer ZWH 2012, 41, 43 der eine nahezu „zwingende Folge“ zur Durchführung von internen Untersuchungen sieht. So bereits Taschke in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, S. 66.
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Bonusregelungen zu sehen,⁴³ die bei Offenlegung von Kartellrechtsverstößen Bußgeldreduktionen bis zu 100 % ermöglichen. Diese Offenbarungen erfordern in aller Regel im Vorfeld eine umfassende interne Sachverhaltsermittlung.⁴⁴ Mit Blick auf § 298 StGB bestehen gerade bei Submissionskartellen jedoch auch strafrechtliche Implikationen, die zu Interessengegensätzen führen können.⁴⁵ Interne Untersuchungen können – eingebettet in ein Compliance-System – auch zu einer Weiterentwicklung des Compliance-Systems führen, indem aufgedeckten Risiken mit neuen Strukturen begegnet wird.⁴⁶ Das Unternehmen hat durch eigene Untersuchungen den Vorteil, den Sachverhalt meistens deutlich schneller und umfassender als staatliche Behörden aufklären zu können.⁴⁷ Dadurch ist das Unternehmen in der Lage, die Handlungs- und Deutungshoheit über die Vorwürfe zu erlangen und sich so aus der Abhängigkeit von hoheitlichen und langwierigen Ermittlungen zu befreien.⁴⁸ Gegenüber den betroffenen Mitarbeitern kann das Unternehmen, sofern sich die Vorwürfe erhärten, bereits frühzeitig arbeitsrechtliche sowie haftungsrechtliche Schritte einleiten. Sofern eine Haftung von Organen oder leitenden Angestellten im Raum steht, kann dadurch vielfach auch eine frühzeitige Verständigung mit den entsprechenden D&O-Versicherungen, ohne Abwarten des Ausgangs des strafrechtlichen Verfahrens, erwirkt werden.⁴⁹ Vor allem können durch eigene interne Untersuchungen unter Umständen auch staatlichen Ermittlungsmaßnahmen, wie z. B. medienwirksamen und breitflächige Durchsuchungen, vorgebeugt sowie Reputationsschäden für das Unternehmen abgewendet werden.⁵⁰ Weder die gesetzlichen Verpflichtungen zur Durchführung von internen Untersuchungen noch die Regelungen der Strafprozessordnung treffen eine klare Aussage darüber, wann und in welchem Umfang sich interne Untersuchungen und Strafverfolgung bedingen und in welchen Fällen eine Kooperation mit den Er-
Weiterführend Dannecker/Biermann in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Abschn. 5, Kap. 6, Rn. 232 ff.; Voet van Vormizeele wistra 2006, 292 ff. Umfassend dazu Wollschläger in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 24. Ausführlich Nickel wistra 2014, 7 ff. Vgl. Potinecke/Block in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 2, Rn. 181 f. Siehe auch Knauer ZWH, 2012, 41, 47. Vgl. Knierim in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 15, Rn. 194. Zu den versicherungsrechtlichen Auswirkungen siehe Fiedler in: Knierim/Rübenstahl/ Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 3, Rn. 87 ff. Dazu sowie zur „Litigation-PR“ siehe J. Jahn CCZ 2011, 139 ff.
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mittlungsbehörden notwendig ist. Abzuwägen sind daher immer Chancen und Risiken. Genau bedacht werden sollte, in welchem Umfang freiwillig und ohne konkrete Anfrage seitens der Ermittlungsbehörden Unterlagen oder Informationen zur Verfügung gestellt werden sollten, da die Freigabe unter Umständen auch zu einer Selbstbelastung des Unternehmens führen kann. Vielfach lösen interne Untersuchungen strafrechtliche Ermittlungen erst aus. Eine grundsätzliche Offenlegungspflicht gegenüber der Staatsanwaltschaft besteht nicht. Allerdings kommt es in Fällen der Offenlegungspflicht nach § 153 AO gegenüber den Steuerbehörden oftmals zu einer indirekten Offenlegung, da die Steuerbehörden grundsätzlich verpflichtet sind, Verdachtsmomente und die gewonnenen Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft mitzuteilen.⁵¹ Die Unternehmensleitung ist berechtigt bzw. kann aus gesellschaftsrechtlicher Sicht sogar verpflichtet sein, mögliches strafbares Verhalten eigener Mitarbeiter zum Wohle der Gesellschaft den Behörden gegenüber mitzuteilen.⁵² Die Unternehmensleitung hat im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob eine Information der Staatsanwaltschaft letztlich im Unternehmensinteresse liegt, d. h. ob eine Strafanzeige eine positive Auswirkung für das Unternehmen haben kann. Das Unternehmen kann zudem durch einen solchen Schritt für alle sichtbar, sowohl extern als auch intern, sich von der Rechtsverletzung distanzieren, wenn es selbst die Staatsanwaltschaft informiert. Dies kann zudem präventiv genutzt werden, um innerhalb des Unternehmens zu kommunizieren, dass die Unternehmensleitung auf der Einhaltung der Gesetze besteht und Straftaten nicht geduldet werden („tone from the top“).⁵³ Eine Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft kann zudem zu einer Milderung einer möglichen Unternehmensgeldbuße nach §§ 30, 130 OWiG führen.⁵⁴
Aktuelle praktische Problemfelder So wenig wie die Notwendigkeit der Durchführung von internen Untersuchungen im nationalen Recht geregelt ist, so wenig findet man explizite Regelungen zur Durchführung und zu dem Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen. Interne
Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 90 ff.; Madauß NZWiSt 2013, 176 ff. Vgl. Potinecke/Block in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 2, Rn. 186; Grützner in: Momsen/Grützner (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2013, Kap. 4, Rn. 458 ff. Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 92 m.w.N. Vgl. Potinecke/Block in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 2, Rn. 186.
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Untersuchungen berühren eine Vielzahl von juristischen Teildisziplinen. Neben strafprozessualen Fragestellungen sind vor allem arbeitsrechtliche und datenschutzrechtliche sowie auch gesellschaftsrechtliche und materiell-strafrechtliche Aspekte zu berücksichtigen. Aktuell wird versucht, in allen Teildisziplinen de lege lata eigene Aussagen zu internen Untersuchungen abzuleiten. Die BRAK-Stellungnahme 35/2010 zum Unternehmensanwalt⁵⁵ beschäftigt sich mit dem Phänomen von internen Untersuchungen sowie der Rolle des Unternehmensanwalts und stellt einen ersten Versuch dar, die aufgetretenen Fragestellungen in einem (unverbindlichen) Regelwerk Lösungen zuzuführen.⁵⁶ In der Praxis werden vor allem folgende Aspekte lebhaft diskutiert: Kernpunkt der Diskussion bildet die Frage der Rechtsstellung der betroffenen Mitarbeiter. Dies wird vor allem im Rahmen der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit und der strafprozessualen Verwertbarkeit von Mitarbeiterbefragungen diskutiert, dazu sogleich unter E. IV. Auch der Umgang mit datenschutzrechtlichen Bestimmungen vor allem im Bereich der E-Mail-Durchsicht ist nicht umfassend geklärt.⁵⁷ Erforderlich ist nach aktueller Rechtslage eine in der Praxis komplizierte Differenzierung zwischen Fällen, in denen die private Nutzung gestattet bzw. toleriert ist oder aber ein striktes Verbot ausgesprochen wurde. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass selbst bei erlaubter bzw. tolerierter privater Nutzung der Arbeitgeber nicht als Telekommunikationsdienstanbieter i. S. d. § 3 Nr. 6 TKG zu qualifizieren ist.⁵⁸ Daher entfallen auch mögliche Strafbarkeitsrisiken nach § 206 StGB bei der Durchsicht von E-Mails.⁵⁹ Dennoch müssen die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen bei der Durchsicht beachtet werden.⁶⁰ Dabei bedarf es der im Detail komplexen Beachtung des Bundesdatenschutzgesetz, insbesondere bei grenzüberschreitenden Datenübermittlungen, z. B. in einem internationalen Konzern.⁶¹
BRAK-Stellungnahme-Nr. 35/2010, abrufbar unter www.brak.de. Dazu Ignor CCZ 2011, 143 ff.; eine kritische Würdigung findet sich bei Mommsen/Grützner DB 2011, 1792 ff. Dazu Thoma in: Moosmayer/Hartwig (Hrsg.), Interne Untersuchungen, 2012, S. 81 ff.; Behling BB 2010, 892 ff.; Wybitul ZD 2011, 69 ff., Kempermann ZD 2012, 12 ff.; zur Problematik der Auswertung von Mitteilungen in Instant-Messenger-Programmen siehe Scheben/Klos CCZ 2013, 88 ff. So auch Wybitul , ZD 2011, 69, 73 m.w.N. Dazu Eisele Compliance und Datenschutzstrafrecht, 2012, S. 30 ff; Schuster ZIS 2010, 68, 70 ff. Wybitul Handbuch Datenschutz im Unternehmen, 2011, Kap. 5, Rn. 193; Knauer ZWH 2012, 81, 87 f. Allgemein dazu Eisele Compliance und Datenschutzstrafrecht, 2012, S. 89 ff.; zu grenzüberschreitenden Sachverhalten siehe Moosmayer Compliance – Praxisleitfaden für Unternehmen, 2. Aufl. 2012. S. 96; von Rosen BB 2009, 230, 232; zu dem sog. Safe-Harbor-Abkommen sowie den
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Ebenfalls wissenschaftlich umstritten und in der Praxis von hoher Relevanz ist der Beschlagnahmeschutz von Untersuchungsberichten.⁶² Dies gilt insbesondere für den Fall, dass das Unternehmen selbst noch nicht in den Blickpunkt der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen geraten ist, wobei schon unklar ist, zu welchem Zeitpunkt sich eine ggf. spätere Einbeziehung des Unternehmens im Voraus ausschließen lässt. Das LG Hamburg⁶³ lehnte einen Beschlagnahmeschutz nach § 97 Abs. 1 StPO für durch eine Anwaltskanzlei angefertigte Interviewprotokolle ab. Auf der Grundlage des neugefassten § 160a StPO bejahte das LG Mannheim⁶⁴ in einer späteren Entscheidung hingegen zumindest ein Beschlagnahmeverbot für den internen Untersuchungsbericht in den Räumen der Anwaltskanzlei.
Rechtsethische Aspekte interner Untersuchungen Losgelöst von den skizzierten rein praktischen Problemfeldern soll der Versuch einer rechtsethischen Betrachtung unternommen werden, ohne dabei die grundsätzliche Notwendigkeit von internen Untersuchungen in Frage zu stellen.
Privatisierung der Strafverfolgung Mit zunehmender Beachtung von Wirtschaftsstrafsachen und der Verfolgung der Wirtschaftskriminalität bei Unternehmen ist auch eine Tendenz zur Selbstregulierung zu beobachten. Dies ist Ausdruck der Komplexität dieses Bereiches, der akzessorisch an wirtschaftsrechtliche Sachverhalte anknüpft.⁶⁵ Die Selbstregulierung betrifft sowohl das materielle als auch das prozessuale Recht. Gerade im Pharmabereich entwickelte sich eine Selbstregulierung durch Verbandskodizes, durch die zulässige Formen der Zusammenarbeit zwischen Pharmaindustrie und Ärzten/Kliniken aufgezeigt werden und teilweise, wie z. B. durch
sog. EU-Standardvertragsklauseln siehe Wybitul Handbuch Datenschutz im Unternehmen, 2011, Kap. 7, Rn. 278 f. Dazu Zerbes ZStW 125 (2013), 551, 561 ff.; de Lind van Wijngaarden/Egler NJW 2013, 3549 ff.; Sahan in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, S. 133 ff.; Ballo NZWiSt 2013, 46 ff.; Greeve StraFo 2013, 89 ff; M. Jahn/Kirsch NStZ 2012, 718 ff. LG Hamburg NJW 2011, 942 ff. LG Mannheim NZWiSt 2012, 424 ff. Vgl. Taschke/Zapf in Semler/Peltzer/Kubis (Hrsg.): Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 2. Aufl. 2014, § 13 Rn. 5 ff.; dazu auch Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 496.
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den „FSA-Kodex Fachkreise“⁶⁶, verbindliche Verhaltensstandards mit eigener Gerichtsbarkeit für die Verbandsmitglieder festgelegt wurden.⁶⁷ Hier wird die Fachkompetenz der betroffenen Personengruppen genutzt, um sachgerechte Lösungen herbeizuführen. Der „FSA-Kodex Fachkreise“ wird von den Zivilgerichten zudem als Indiz zur Feststellung unlauteren Verhaltens herangezogen. Eine Bezugnahme auf die Kodizes ist ebenfalls im korruptionsstrafrechtlichen Bereich zu erwarten, auch wenn bislang noch keine Entscheidungen hierzu vorliegen.⁶⁸ Im materiellen Recht steht diese Entwicklung erst noch am Anfang. Mit Blick auf interne Untersuchungen kann jedoch davon gesprochen werden, dass im Strafverfahrensrecht bereits ein „Outsourcing“ bzw. eine „Privatisierung“ begonnen hat. Auch wenn mit internen Untersuchungen neben strafverfolgungsrechtlichen Aspekten noch – wie dargelegt – einer Vielzahl weiterer Intentionen verbunden sind, so sind sie primär im Lichte des Kriminalrechts zu sehen. Die Unternehmen leisten selbst Aufklärungsarbeit, wobei die gewonnenen Erkenntnisse im Anschluss daran von der Staatsanwaltschaft – teilweise auch gegen das Unternehmen selbst – verwendet werden. Dieser internationale Trend, dessen nationale Entwicklung vorstehend beschrieben wurde, lässt sich nicht mehr aufhalten und wird in Zukunft im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts noch zunehmen.⁶⁹ Interne Untersuchungen stellen private Untersuchungshandlungen im Vorfeld von hoheitlichen Strafverfolgungshandlungen dar oder verlaufen parallel zu diesen. Es erfolgt dabei jedoch weder eine Privilegierung, noch eine Schlechterstellung der betroffenen Unternehmen und Personen. Vielmehr wird dadurch den Besonderheiten des Wirtschaftsstrafrechts Rechnung getragen. Dabei kommt es auch lediglich zu einer „Teilprivatisierung“. Das Strafverfolgungsmonopol des Staates wird nur vordergründig tangiert. Die Offizialmaxime legt nach vorzugswürdiger Ansicht lediglich fest, dass der Staat im Falle eines Anfangsverdachts von Amts wegen verpflichtet ist, mögliche Straftaten aufzuklären.⁷⁰ Es besteht durchaus die Möglichkeit, als Betroffener durch eigene Untersuchungen zur Be-
Abrufbar unter www.fs-arzneimittelindustrie.de. Dazu Taschke in: Anhalt/Dieners (Hrsg.), Medizinprodukterecht, 2. Aufl. – im Erscheinen, § 20, Rn. 176 ff.; umfassend Dieners in: ders. (Hrsg.), Handbuch Compliance im Gesundheitswesen, 3. Aufl. 2010, Kap. 4, Rn. 1 ff. Siehe zu den Auswirkungen der Selbstregulierung auf das Strafverfahren Klümper/Eggerts PharmR 2010, 13, 15 ff. Vgl. M. Jahn ZHW 2013, 6; Taschke NZWiSt 2012, 9; Knierim FS Volk 2009, S. 247 ff; Beukelmann NJW-Spezial 2008, 280. So auch Wewerka Internal Investigations, 2013, S. 114 m.w.N.
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strafung des Täters beizutragen.⁷¹ Allerdings kommt den staatlichen Ermittlungen Vorrang vor den internen Untersuchungen zu.⁷² Zudem obliegen auch die Zwangsbefugnisse nur den staatlichen Ermittlern. Diese dürfen auch künftig nicht auf Private übertragen werden. Neben den Vorteilen für das betroffene Unternehmen dienen interne Untersuchungen auch den staatlichen Behörden und damit letztlich dem Rechtsstaat insgesamt. Wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte in größeren Unternehmen unterscheiden sich allein aufgrund des Umfangs und ihrer Komplexität von normalen Strafsachen. Die Herausbildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften ist Ausdruck dieser Komplexität. Allerding fehlen den staatlichen Ermittlern schlicht die zeitlichen und personellen Ressourcen, um entsprechende Sachverhalte selbstständig vollumfänglich aufzuarbeiten.⁷³ Im Zuge der Siemens-Ermittlungen kam es in den Jahren 2006 bis 2010 zum Einsatz von bis zu 100 Anwälten und 500 Wirtschaftsprüfer/Forensik- Experten.⁷⁴ Interne Untersuchungen ermöglichen erst die Aufklärung von komplexen Wirtschaftsstraftaten. Vor diesem Hintergrund sind interne Untersuchungen rechtsethisch nicht nur nicht zu beanstanden, sondern vielmehr sogar zu begrüßen. Sofern interne Untersuchungen mit Zustimmung oder gerade aufgrund von Absprachen mit staatlichen Ermittlungsbehörden erfolgen, so existiert gleichwohl keine rechtliche Verpflichtung des Unternehmens, die Untersuchungsergebnisse an die Behörden zu übergeben. Die rechtliche Situation in Deutschland unterscheidet sich grundlegend von Konzepten in anderen Jurisdiktionen, wie beispielsweise in den USA oder dem Vereinigten Königreich, wo die beauftragten Kanzleien verpflichtet werden können, die Untersuchungsergebnisse sogar ohne vorherige Kenntnisnahme durch den Mandanten den Behörden zu übergeben. Eine der Staatsanwaltschaft zugesagte Kooperation seitens des Unternehmens bedeutet keinen Verzicht auf die in der Strafprozessordnung statuierten Normen und lässt den Beschlagnahmeschutz nach §§ 97, 160a StPO unberührt.
Im Ansatz bereits BVerfGE 38, 105, 114 (=NJW 1975, 103, 104); auch Krey Zur Problematik privater Ermittlungen des durch eine Straftat Verletzten, 1994, S. 24 f.; dazu auch Hassemer/Matussek Das Opfer als Verfolger, Ermittlungen des Verletzten im Strafverfahren, 1996; dazu auch Wewerka Internal Investigations, 2013, S. 115. Ausführlich Gropp-Stadler/Wolfgramm in: Moosmayer/Hartwig (Hrsg.), Interne Untersuchung, 2012, S. 33 ff. Vgl. Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 488; Zerbes, ZStW 125 (2013), 551, 553 f. jeweils m.w.N. Vgl. http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,746295 – 4,00.html. Insgesamt rund 1 Mrd. Euro wurden für interne Untersuchungen aufgewandt, dazu jeweils die einzelnen Siemens-Geschäftsberichte, abrufbar unter www.siemens.com; siehe auch Taschke NZWiSt 2012, 9.
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Rolle des anwaltlichen Beraters Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Rolle des anwaltlichen Beraters bei internen Untersuchungen. Da in aller Regel eine strafrechtliche bzw. ordnungswidrigkeitenrechtliche Implikation zu Beginn von internen Untersuchungen nicht auszuschließen ist, ist es ratsam, anwaltliche Berater in interne Untersuchungen einzubinden. Es besteht dann eine (rechtlich geschützte) Mandatsbeziehung zwischen dem Anwalt und dem Unternehmen, nicht jedoch mit den betroffenen Mitarbeitern. Vor diesem Hintergrund hat sich die Rolle des anwaltlichen Beraters im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts grundlegend geändert. Neben dem Individualverteidiger entstand das neue Berufsfeld des Unternehmensverteidigers.⁷⁵ Einen Teilbereich der anwaltlichen Beratung umfasst die rein präventive Beratung von Unternehmen. Kerntätigkeit hierbei ist die Entwicklung und Implementierung von Criminal-Compliance-Systemen⁷⁶. Hauptaufgabe des strafrechtlichen Unternehmensanwalts ist jedoch die Unternehmensverteidigung im Strafverfahren. Eine gesetzliche Definition des Unternehmensverteidigers existiert nicht. Auch die BRAK-Stellungnahme 35/2010⁷⁷ zum Unternehmensanwalt im Strafrecht nimmt keine präzise Definition vor. In § 434 StPO wird dessen Existenz vorausgesetzt.⁷⁸ Aufgabe des Unternehmensverteidigers ist es, das Unternehmen in einem Strafverfahren vor vermeidbaren Schäden zu schützen.⁷⁹ Die Tätigkeit umfasst daher auch die Durchführung von internen Untersuchungen. Nur auf der Grundlage einer umfassenden internen Sachverhaltsaufklärung kann eine erfolgsversprechende Verteidigung des Unternehmens erfolgen.⁸⁰ Der Unternehmensanwalt ist allerdings nicht Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft im Sinne von § 152 GVG. Verpflichtet ist und bleibt er auch künftig lediglich dem Wohl des Unternehmens. Eine Kooperation mit den Ermittlungsbehörden darf daher nur angeraten werden, sofern dies im Interesse des Unternehmens ist. Dies bedarf einer umfassenden Interessenabwägung im Einzelfall.
Vgl. Kempf/Schilling in: Volk (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch – Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2. Aufl. 2014, S. 370 ff; Minoggio Firmenverteidigung, 2. Aufl. 2010, Rn. 9 f.; Wessing FS für Mehle, 2009, S. 665 ff.; Taschke StV 2007, 495 ff.; ders., FS für Volk, 2009, S. 801 ff.; umfassend auch M. Jahn ZWH 2012, 477 ff., ZWH 2013, 1 ff. Umfassend zur Criminal Compliance siehe Bock Criminal Compliance, 2011. BRAK-Stellungname-Nr. 35/2010, abrufbar unter: www.brak.de. Ausführlich M. Jahn ZWH 2013, 1, 2 ff. Vgl. Minoggio Firmenverteidigung, 2. Aufl. 2010, Rn. 167; umfassend zu Erscheinungsformen und Rechtsstellung des Unternehmensverteidigers auch Wessing FS für Mehle, 2009, S. 665 ff. Bereits Taschke FS für Hamm, 2008, S. 753 ff.; Moosmayer in: ders./Hartwig (Hrsg.), Interne Untersuchungen, S. 133 f.
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Compliance der Compliance Bei der Durchführung von internen Untersuchungen zur Aufdeckung von Pflichtverstößen und Straftaten sind selbst wiederum die gesetzlichen Vorgaben zu beachten. Lediglich zulässige Maßnahmen können auch rechtsethisch zulässige Maßnahmen der Compliance sein.⁸¹ Weitgehend Einigkeit besteht dabei, dass strafrechtswidrige Verhaltensweisen keine Maßnahme der Criminal Compliance und daher auch keine Maßnahmen von internen Untersuchungen darstellen können.⁸² Im Umgang mit Beweismitteln ist der Straftatbestand der Strafvereitelung nach § 258 StGB zu beachten.⁸³ Auf ein Herausgabeverlangen seitens der Ermittlungsbehörden hin dürfen keine Unterlagen vernichtet oder zurückgehalten werden. Das gleiche Strafbarkeitsrisiko droht in den Fällen, in denen Unterlagen vernichtet werden, die nicht von den Strafverfolgungsbehörden angefordert wurden, jedoch beweisrelevant sein können. Spiegelbildlich dazu dürfen auch keine Unterlagen vernichtet oder zurückgehalten werden, die für einzelne betroffene Mitarbeiter entlastende Wirkung entfalten können. In diesen Fällen besteht die Gefahr der Verwirklichung der Tatbestände der falschen Verdächtigung nach § 164 StGB bzw. des Vortäuschens einer Straftat nach § 145d StGB. Im Rahmen von internen Untersuchungsmaßnahmen darf es auch nicht zu strafbaren Nötigungshandlungen im Sinne von § 240 StGB kommen oder zu Amtsanmaßungen nach § 132 StGB, was der Fall sein kann, wenn z. B. der Anschein erweckt wird, zu Amtshandlungen – wie z. B. Festnahmen oder Vereidigungen – befugt zu sein.⁸⁴ Nicht ausreichend ist die jedoch die ausschließliche Beachtung von strafbewehrten Verhaltensvorschriften.⁸⁵ Vielmehr bedarf es der Beachtung sämtlicher Rechtsvorschriften. Insofern bedarf es bei der Durchführung von internen Untersuchungen im hohen Maße der Beachtung des Betriebsverfassungsrechts sowie des Daten- und Arbeitnehmerschutzrechts.⁸⁶ Es ist insgesamt darauf zu achten, dass die nationalen gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Die Einhaltung Vgl. Taschke NZWiSt 2012, 89, 94; so auch Behringer ZRFC 2013, 145; differenzierend Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 492 ff.; Hilgendorf in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, S. 20. So auch Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 493. Dazu auch Knierim FS für Volk, 2009, S. 247 ff. Ausführlich zu den Tatbeständen und den einzelnen Fallgruppen Schuster in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 11, Rn. 104 ff. So allerdings Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 492 ff.: Zu dem angeführten Beispiel bei Rotsch sei angemerkt, dass für die Unterbindung von Korruptionszahlungen eine möglicherweise arbeitsrechtlich unzulässige Kündigung des betroffenen Mitarbeiters nicht notwendig ist. Dazu bereits Taschke NZWiSt 2012, 89, 94 m.w.N.
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der gesetzlichen Vorgaben hat unter allen Umständen Vorrang vor dem Aufklärungsinteresse des Unternehmens. Wie im Strafprozess, darf es auch bei internen Untersuchungen keine Aufklärung um jeden Preis geben.⁸⁷ Sofern Compliance jedoch auch im Sinne einer verantwortungsbewussten Unternehmenskultur verstanden wird, bedarf es bei der Durchführung von internen Untersuchungen ebenso der Beachtung von ethischen Standards. Dies betrifft vor allem den Umgang mit den Mitarbeitern. Ihnen sollte – sofern nicht dringende Gründe dagegen sprechen, wie dies vor allem bei kartellrechtlichen Sachverhalten der Fall sein kann – der Zweck der Untersuchungen mitgeteilt werden. Für die Durchführung von Mitarbeiterbefragungen seitens externer Anwälte empfiehlt die BRAK-Stellungnahme 35/2010⁸⁸ in Form einer „good practice“Regel in Anlehnung an die Strafprozessordnung, dass Täuschungen i.S.v. § 136a StPO zu unterbleiben haben. Dazu sollen die betroffenen Mitarbeiter darüber belehrt werden, dass Aufzeichnungen an staatliche Ermittlungsbehörden weitergegeben werden können und ein betriebliches Amnestieprogramm keine Bedeutung im Rahmen des staatlichen Strafanspruchs erlangt. Ebenfalls sollte den Mitarbeitern das Recht eingeräumt werden, einen eigenen Anwalt zu konsultieren. Diese Standards – adressiert an die Anwaltschaft – sollten dabei Maßstab für das Handeln sämtlicher beteiligter Personen- und Interessengruppen sein.
Sicherung der Rechte des Individuums Neben den beschriebenen Vorteilen für Unternehmen sowie für die staatlichen Ermittlungsbehörden sind die Interessen der betroffenen Mitarbeiter zu beachten. Interne Untersuchungen dürfen nicht zu einer Aushöhlung der Rechtsgarantien für die betroffenen Mitarbeiter führen. Diese Gefahr ist real und bedarf eines umfassenden Lösungsansatzes.⁸⁹ Virulent wird dies vor allem bei der Frage der Aussageverpflichtung sowie der späteren Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen eines Strafprozesses.
Instruktiv dazu der Erfahrungsbericht bei Wybitul BB 2009, 606 ff. zu US-getriebenen Ermittlungen, bei denen es aufgrund des unterschiedlichen Rechtsverständnisses oftmals ein Spannungsverhältnis zwischen dem gewünschten Vorgehen und den nach deutschem Recht zulässigen Methoden besteht. BRAK-Stellungname-Nr. 35/2010, abrufbar unter: http://www.brak.de; dazu auch Ignor CCZ 2011, 143 ff. Vgl. Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 488; Zerbes ZStW 125 (2013), 551, 553 f.; M. Jahn ZHW 2013, 1, 6; Taschke NZWiSt 2012, 89, 93 f. jeweils m.w.N.
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Die Frage nach der strafprozessualen Verwertbarkeit folgt nach dem hier vertretenen Verständnis grundsätzlich akzessorisch zu der Frage der arbeitsrechtlichen Aussageverpflichtung. Eine grundsätzliche Mitwirkungspflicht der Mitarbeiter im Rahmen von Mitarbeiterbefragungen lässt sich zumindest aus der nebenvertraglichen, arbeitsrechtlichen Treuepflicht des Arbeitnehmers ableiten.⁹⁰ Sofern der Arbeitgeber ein berechtigtes und schützenswertes Interesse an der Beantwortung von Fragen über das direkte Arbeitsumfeld hat, kann der Arbeitgeber den Mitarbeiter anweisen, die Fragen wahrheitsgemäß und vollständig zu beantworten.⁹¹ Die Verpflichtung zur Auskunftserteilung darf jedoch keine übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellen.⁹² Streitig diskutiert wird die Frage, ob den Arbeitnehmer dann eine Auskunftsverpflichtung trifft, wenn er dadurch sich selbst belasten müsste und ihm Kündigung und/oder Strafverfolgung droht. Teilweise wird eine Selbstbelastung, nicht hingegen eine Belastung von Kollegen, als übermäßige Belastung und damit als grundsätzlich unzumutbar eingestuft.⁹³ Nach wohl überwiegender Meinung besteht hingegen überhaupt kein (arbeitsrechtliches) Auskunftsverweigerungsrecht, da es sich um eine privatrechtliche Auskunftspflicht handele.⁹⁴ Vorzugswürdig erscheint es, im konkreten Einzelfall eine Abwägung zwischen dem Aufklärungsinteresse des Unternehmens und dem Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers vorzunehmen.⁹⁵ Dabei ist entscheidend darauf abzustellen, ob und in welchem Umfang die Aufklärung des Sachverhaltes von der Aussage des Mitarbeiters abhängt. Es mag Sachverhalte geben, in denen das Unternehmen z. B. bereits über alle notwendigen Informationen zur Erfüllung seiner rechtlichen Verpflichtung verfügt und es daher der für den Einzelnen ggf. belastende Befragung nicht mehr bedarf. Auf einer zweiten Ebene ist sodann umstritten, ob eine vorgenommene Befragung und die daraus gewonnene Aussage strafprozessual gegen den Mitarbeiter verwendet werden kann. Nach derzeit überwiegender Ansicht sollen – auch selbstbelastende – Angaben des Arbeitnehmers voll strafprozessual verwertbar
Vgl. Greeve/Tsambikakis in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 17, Rn. 17. Teilweise wird zudem auf das Weisungsrecht des Arbeitgebers abgestellt, siehe Tscherwinka FS für I. Roxin, 2012, S. 526 ff. Vgl. Schürrle/Olbers CCZ 2010, 178 f.; Göpfer/Merten/Siegrist NJW 2008, 1703, 1705. Dazu BAG NZA 2009, 1011 ff. m.w.N. Vgl. Tscherwinka FS für I. Roxin, 2012, S. 521, 528; Rudkowski NZA 2011, 612, 613; im Ergebnis auch Zerbes ZStW 125 (2013), 551, 556 ff. Vgl. LG Hamburg NJW 2011, 942, 944; Lützeler/Müller-Sartori CCZ 2011, 19, 20; Knauer ZWH 2012, 81, 84. Vgl. Mengel in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 13, Rn. 38; Taschke NZWiSt 2012, 89, 93.
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sein.⁹⁶ Eine unmittelbare Anwendung der strafprozessualen Verwertungsverbote sowie des nemo-tenetur-Grundsatzes scheidet aus, da es sich bei der Aussageerlangung im Rahmen der Mitarbeiterbefragung um keine hoheitliche Maßnahme handelt. Zum Teil wird – mit Hinweis auf den Gemeinschuldnerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts⁹⁷ – vertreten, dass die selbstbelastenden Angaben im Strafprozess dennoch einem Beweisverwertungsverbot unterliegen.⁹⁸ Ebenso wird versucht, den „fair trial“-Grundsatz fruchtbar zu machen und über diesen Weg ein allgemeines Verwertungsverbot zu statuieren.⁹⁹ Diesen Lösungsversuchen steht entgegen, dass die Aussageverpflichtung vor dem Arbeitgeber aufgrund eines privatrechtlichen Arbeitsvertrags und nicht auf der Grundlage einer hoheitlichen Maßnahme, auf Gesetz beruhend, erfolgt. Unabhängig davon, ob dabei „fair“ mit dem Arbeitnehmer verfahren wurde, hat der Staat keinerlei Einfluss auf die Erlangung der Kenntnisse. Zudem steht es dem Mitarbeiter frei – unter Inkaufnahme von arbeitsrechtlichen Konsequenzen –, keine Angaben im Rahmen der Mitarbeiterbefragung zu machen. Hoheitliche Sanktionen treten in diesem Fall nicht ein. Dass private Untersuchungshandlungen im Einzelfall den staatlichen Ermittlungsbehörden zurechenbar sein mögen, ist nur in eng begrenzten Fallkonstellationen denkbar, etwa wenn eine gezielte Umgehung der prozessualen Hürden seitens der Ermittlungsbehörden vorliegt. Mit Blick auf die sog. „Hörfallen“Rechtsprechung¹⁰⁰ kann in diesen Fällen eine analoge Anwendung der §§ 136, 136a StPO bzw. des „fair trial“-Grundsatzes in Betracht kommen.
Fazit Die vorstehenden Ausführungen haben aufgezeigt, dass interne Untersuchungen zum Vorteil von Unternehmen und Strafverfolgungsbehörden sein können. Die bestehenden Kodifikationen sind für komplexe Wirtschaftsstrafsachverhalte und interne Untersuchungen jedoch nicht ausgelegt. Genaue Regelungen zum Ablauf und zur Verwertung der gewonnenen Erkenntnisse bestehen nicht. Erforderlich sind oftmals Abwägungen im konkreten Einzelfall. Für die tägliche Rechtspraxis stellt dies keine befriedigende Lösung dar. Für die Wissenschaft ergeben sich
LG Hamburg NJW 2011, 942, 944; Rudkowski NZA 2011, 612, 613; Gerst CCZ 2012, 1, 3 m.w.N.; Greeve/Tsambikakis in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2013, Kap. 17 Rn. 31. BVerfG NJW 1981, 1431. Vgl. von Galen NJW 2011, 945. Dazu siehe Knauer/Gaul NStZ 2013, 192 ff. m.w.N.; Momsen/Grützner DB 2011, 1792 ff. BGHSt 42, 139; dazu Jäger in HKGS, 3. Aufl. 2013, § 136 StPO, Rn. 6, 22 f.; Roxin NStZ 1997, 18 ff.
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daraus eine Vielzahl noch zu klärender Fragen. Es dürfte sinnhaft sein, ein eigenes kodifiziertes Verfahrensrecht für interne Untersuchungen in Erwägung zu ziehen und im Einzelnen zu prüfen.¹⁰¹
So auch die Mehrheit der Referenten der Tagung „Interne Ermittlungen – Eine Momentaufnahme“ des Deutsche Strafverteidiger e.V. und der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung e.V. (WisteV) am 14.03. 2014 in Frankfurt/Main.
Marco Mansdörfer
Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht 4.0 – von der nach wie vor akuten Steuerungsmisere zu einer integrierten Finanz- und Kapitalmarktgovernance Gliederung I. II.
III.
IV.
Erkennbare Unzufriedenheit mit dem Gesetzgebungsstand de lege lata Die Steuerungsmisere im Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht . Grundkonzeption im weiteren Sinne . Steuerungsanspruch des Kapitalmarktstrafrechts a) Erweitertes Steuerungsprogramm de lege lata b) Konkretisiertes Steuerungsprogramm des Insiderhandelsverbots c) Konkretisiertes Steuerungsprogramm des Marktmanipulationsverbots d) Zum Steuerungsprogramm des Finanzkrisenstrafrechts e) Konkretisiertes Steuerungsprogramm der §§ KWG, KAGB . Zwischenfazit Gewährleistungsstrafrechtliche Steuerungsalternative: Konzept einer vierstufigen integrierten Kapitalmarktgovernance . Vorüberlegungen zur Struktur einer integrierten Kapitalmarktgovernance . Stufe eins: Selbstregulierung nach dem Modell eines comply and benefit a) Problem der effektiven Durchsetzung von soft law Mechanismen b) Von der Idee des comply and explain zum Modell des comply and benefit c) Inhalt einer Verpflichtung zum „ethischen Finanzmarktakteur“ d) Weitere Durchsetzung durch Zertifizierung und Statusentzug . Stufe zwei: Stärkung eines kohärenten und wirksamen Aufsichtsystems a) Von der regelgeleiteten zur prinzipienorientierten Aufsicht b) Inhaltliche Konkretisierung der aufsichtlichen Leitprinzipien und Maßnahmen c) Zum Petitum präventiver und marktsynchroner Aufsicht d) Abgestimmte Aufsicht im europäischen Mehrebenensystem . Stufe drei: System gewährleistungsrechtlicher Sanktionen in aufsichtlicher und zivilrechtlicher Form a) Der Sanktionsausschuss der Börsen als institutioneller Ausgangspunkt b) Spezielle aufsichtliche Sanktion des „zusätzlichen Risikogewichts“ c) Insbesondere die Sanktion der zivilrechtlichen Gewinnabschöpfung d) Ansätze einer weiteren Systematisierung e) Die Einbeziehung Privater in die Marktüberwachung . Stufe vier: Nur komplementäre kriminalstrafrechtliche Sanktionen Auf dem Weg zu einem Kapitalmarktstrafrecht .
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I. Erkennbare Unzufriedenheit mit dem Gesetzgebungsstand de lege lata Rainer Hamm ¹ zu § 54a KWG und Gerson Trüg ² zum strafrechtlichen Insiderhandelsverbot haben mit Kritik am modernen Gesetzgeber nicht gespart. Rainer Hamm hat dem Gesetzgeber mit dem Erlass des § 54a KWG im Wesentlichen zurecht eine Totgeburt bescheinigt. Gerson Trüg hat neben seiner Kritik das strafrechtliche Insiderhandelsverbot – im Übrigen im Einklang mit der international durchaus herrschenden Ansicht³ – individualistisch interpretiert bzw. reduziert und tritt der prinzipiellen Konzeptionierung der Norm durch den Gesetzgeber offen entgegen. Beide Autoren stehen mit ihrer Skepsis nicht alleine. Gerson Trüg etwa personifiziert ein auch zwanzig Jahre nach der ersten Kriminalisierung des Insiderhandels weithin erkennbares Unbehagen.⁴ Rainer Hamm steht für ähnliche Skepsis gegenüber den aktuellen legislativen Bemühungen. Die Kritik an der Steuerungsmisere des Gesetzgebers im Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht provoziert den Versuch, die Gründe für diese Misere und mögliche Alternativen nochmals⁵ näher und grundsätzlicher zu diskutieren. Der Ansatz an einer indirekten Wirtschaftssteuerung nicht über das individuelle Verhalten der Marktteil In diesem Band. Ebenfalls in diesem Band. Insbesondere im Common Law ist der Insiderhandel seit der Schaffung von sec. 10 (b) SEC im Jahr 1942 eine anerkannte Fallgruppe betrügerischen Verhaltens und überschneidet sich zum Teil mit dem deutschen Verbot der täuschungsgestützten Marktmanipulation in § 20a Abs. 1 Nr. 1 u. 3 WpHG. Auffällig intensiv werden Legitimationsfragen bis in die Gegenwart im monographischen Schrifttum zum Kapitalmarktstrafrecht gestellt vgl. etwa Hild Grenzen einer strafrechtlichen Regulierung des Kapitalmarktes, 2004; Ziouvas Das neue Kapitalmarktstrafrecht – Europäisierung und Legitimation, 2005, S. 103 – 206; Eichelberger Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 87– 152; Fürsich Probleme des strafbaren Insiderhandels nach Inkrafttreten des Anlegerschutzverbesserungsgesetzes, 2008, S. 5 ff., 217 ff.; Degoutrie Scalping – Strafbedürftigkeit und Einordnung unter die tatbestandlichen Voraussetzungen der Kurs- und Marktpreismanipulation nach § 20a WpHG, 2008, S. 93 – 112; Schönwälder Grund und Grenzen einer strafrechtlichen Regulierung der Marktmanipulation, 2011. Im Rahmen früherer ECLE-Tagungen wurden ähnliche Bedenken etwa von Mennicke Insider-Delikte, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, ECLE V, 2013, S. 231 (244 ff.) oder von Meinhard Dreher Ordnungswidrigkeitenrecht statt Strafrecht im Kartellrecht – Folgerungen für Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, ECLE III, 2011, S. 217 (233 ff.) geäußert. Wichtige Beiträge zu dieser Diskussion wurden konzentriert bereits im Rahmen von ECLE III geleistet, vgl. Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, ECL III, 2011; vgl. jüngst auch Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (445).
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nehmer, sondern über einen Funktionenschutz⁶ bzw. als Makro-Wirtschaftsstrafrecht⁷ soll als gesetzgeberische Grundentscheidung beibehalten werden.
II. Die Steuerungsmisere im Finanzund Kapitalmarktstrafrecht 1. Grundkonzeption im weiteren Sinn Das Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht im weiten Sinne ist entsprechend der Grundentscheidung des Gesetzgebers seinem Wesen nach Verkehrsstrafrecht. Gegenstand des zu regelnden Verkehrs sind das Kapital im Sinne von geldwertem Vermögen und der Kapitalverkehr in den Bahnen des Finanz- und Kapitalmarkts als Teil des Wirtschaftsmarktes und als soziale Ordnung. Als Sanktionenrecht zum Schutz einer sozialen, öffentlichen Ordnung ist dieses Recht in Deutschland weithin mit Ordnungswidrigkeiten flankiert. Verfolgt und geahndet werden etwa die wertpapierhandelsrechtlichen Ordnungsverstöße gem. §§ 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, 40 WpHG von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) neben den ihr gem. § 4 Abs. 1 u. 2 WpHG obliegenden Aufsichts- und Überwachungsaufgaben.⁸ Die kapitalmarktrechtlichen Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts sind weithin akzeptiert und waren bislang weder seitens der Rechtspraxis noch seitens der Rechtswissenschaft größerer Kritik ausgesetzt.
2. Steuerungsanspruch des Kapitalmarktstrafrechts Anderes gilt freilich für das finanz- und kapitalmarktbezogene Kriminalstrafrecht. Dieses zeigt sich aus einer distanzierten Gesamtbetrachtung konzeptionell brüchig bis konzeptlos. Gründe für diese Brüche liegen vor allem in dem vom Gesetzgeber im Einzelfall formulierten überdimensionierten Steuerungsanspruch:
Zu diesem Steuerungsansatz bereits Mansdörfer Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, Rn. 21. Grundlegend zum Makro-Wirtschaftsstrafrecht im Gegensatz zum Mikro-Wirtschaftsstrafrecht Jürg-Beat Ackermann in: ders./Heine (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Schweiz, 2013, § 1 Rn. 9. Zu den Konsequenzen dieser parallelen Befugnisse, namentlich zum Verbot der Rollenvertauschung und zur Verwertung aufsichtsrechtlich gewonnener Erkenntnisse, stellvertretend Vogel in: Assmann/Schneider (Hrsg.), WpHG, 6. Aufl., 2012, § 40 Rn. 9.
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a) Erweitertes Steuerungsprogramm de lege lata Politisch formuliert wurde ein umfangreiches Steuerungsprogramm mit neben dem Funktionsschutz⁹ stehenden anspruchsvollen Einzelzielen wie der Chancengleichheit der Marktteilnehmer¹⁰, der Transparenz¹¹ oder Finanzmarktstabilität. Allein das Ziel der Finanzmarktstabilität umfasst so anspruchsvolle Teilziele wie das Vermeiden von Marktversagen, Fehlallokationen und Managerversagen. Dies alles geschieht in Bezug auf einen europäisierten Markt (sog. Eurozone) mit globalen Verflechtungen. Der Gesetzgeber hat zur Umsetzung dieses Programms nicht nur – wie andernorts etwa in § 144 GewO – kriminalstrafrechtliche Marktzugangsregeln (§§ 54 KWG, 339 KAGB) erlassen. Er hat vor allem auch den Insiderhandel gem. §§ 38 Abs. 1 i.V.m. 14, WpHG, die Marktmanipulation gem. §§ 38 Abs. 2, 39 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 11 i.V.m. 20a WpHG oder das Verleiten zu Spekulationsgeschäften gem. § 49 BörsenG normiert. Wenig untersucht ist bislang, ob und inwieweit die formulierten Steuerungsziele überhaupt miteinander vereinbar sind und welches Rangverhältnis zwischen diesen Einzelzielen grundsätzlich besteht. Immerhin zeigt schon der Normtext sowohl zum Insiderverbot als auch zum Verbot der Marktmanipulation, dass keines dieser Verbote absolut gilt. Erst recht wenig untersucht ist, ob dieses Steuerungsprogramm mit Vorgaben innerhalb der rechtlichen Handelnsordnung im Übrigen in Einklang steht. Die Finanzkrise der vergangenen Jahre hat gelehrt, dass Finanzmarktstabilität und Chancengleichheit in wesentlichem Umfang zur Disposition der Finanzpolitik stehen. So haben etwa die Entscheidungen im Rahmen der sog. EuroRettung unternehmerische Risiken von institutionellen Kapitalmarktakteuren in erheblichem Maß sozialisiert und das Petitum der Chancengleichheit in bislang ungeahntem Maß desavouiert.
Siehe etwa Assmann in: ders./Schneider (Hrsg.), WpHG, 6.Aufl., 2012, vor § 12 Rn. 49. Stellvertretend zu der dazu geübten Kritik Ziouvas Das neue Kapitalmarktstrafrecht – Europäisierung und Legitimation, 2005, S. 166 ff. Regulatorisch sollte ein erhöhtes Transparenzniveau etabliert werden, wozu neben dem Insiderhandelsverbot verstärkte Publizitätspflichten (vgl. etwa §§ 12 ff., 15 ff., 31 ff., 37 b, 37c, 37n WpHG) dienen sollen.
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b) Konkretisiertes Steuerungsprogramm des Insiderhandelsverbots (§§ 38 i.V.m. 14 WpHG) Misst man das Verbot des Insiderhandels am vorgegebenen Steuerungsprogramm, werden die vorgegebenen Ziele bestenfalls in schwachem Umfang gefördert. Der postulierte Schutz der Funktionsfähigkeit der Börse über ein erhöhtes Investorenvertrauen harrt bis heute eines harten empirischen Beweises. Chancengleichheit wird allenfalls minimal verbessert. Das eigentliche, theoretisch weit gewichtigere Problem der unterschiedlich hohen Informationskosten von – gerne zur Legitimation herangezogenen – Kleinanlegern und institutionellen Investoren bleibt ungelöst. Die Transparenz des Kapitalmarkts wird durch das mit dem Insiderhandel verbundene Informationsverwendungsverbot nicht erhöht. Wenn man das Insiderhandelsverbot (im Einklang mit der herrschenden Meinung) mit dem erhöhten Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt, der Integrität und dem Funktionieren des Marktes begründet, wird das Verbot also brüchig.¹² Der normativ (§ 13 Abs. 1 S. 2 WpHG) verständige Anleger erkennt im Hinblick auf die Verbotsnorm des § 14 WpHG im Übrigen durchaus hinreichend andere Möglichkeiten des Insiders, seine überlegene Kenntnis zu seinem Vorteil zu nutzen. Der verhaltenssteuernde Bereich der Strafdrohung ist schließlich schon dann verlassen, wenn eine hinreichende Bereichsöffentlichkeit hergestellt ist.¹³ Mit den heute gängigen Handelssystemen dürfte es kaum Schwierigkeiten bereiten, die öffentliche Information im Handel zu verwerten, bevor die Information von der Bereichsöffentlichkeit verarbeitet wird (legales frontrunning). Ein über die Publikation hinauswirkende Wartefrist hat der Gesetzgeber trotz frühzeitiger Hinweise auf die Problematik¹⁴ gerade nicht normiert. Im Übrigen dürften viele Insider-Transaktionen auf Einschätzungen beruhen, deren Basis noch unterhalb der Schwelle der Insiderinformation liegt.¹⁵ Weist der verständige Anleger dem Insider als homo oeconomicus also opportune¹⁶ Verhaltensmuster zu, wird § 38
Stellvertretend Hilgendorf in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl., 2013, vor § 12 WpHG Rn. 12; Assmann in: ders./Schneider (Hrsg.), WpHG, 6. Aufl., 2012, vor 12 Rn. 42; MAH WirtschaftsstrafR/ Rübenstahl/Tsambikakis, 2. Aufl., 2014, § 23 Rn. 22; zur insgesamt vernachlässigbaren rechtstatsächlichen Wirkung Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (447 zur Schweiz, 449 zu Deutschland und 450 zu Österreich). Hilgendorf in: Park (Hrsg.), Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl., 2013, § 13 Rn. 96 ff.; grundlegend dazu die Begründung des Regierungsentwurfs zum 2. FFG BT-Drs. 12/6679, S. 46. Siehe nur Hopt Europäisches und Deutsches Insiderrecht, ZGR 1991, 17 (30). Vgl. Binninger Gewinnabschöpfung als kapitalmarktrechtliche Sanktion, 2010, S. 34 Fn. 14, 81 ff. mit Hinweis auf die Bedeutung von sog. sub-information und Transaktionen auf der Basis von Vermutungen und Wissen über Tendenzen. Williamson Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, 1990, S. 50, 54.
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Abs. 1 i.V.m. 14 WpHG kaum zusätzliches Vertrauen begründen können. Natürlich kann man im gesetzgeberischen Konzept an die Stelle des verständigen Anlegers¹⁷ den naiven Anleger setzen. Ob das Verhalten des Letzteren hinreichend von skrupulösen Gedanken zum Insider getragen wird, erscheint aber gleichfalls zweifelhaft. So bergen etwa die offensichtlichen Sondervorteile und Handlungspotentiale großer Finanzmarktakteure nicht weniger Risiken als der Insiderhandel und die werden vom WpHG nicht begrenzt. In Zeiten des computergesteuerten Hochfrequenzhandels denkt der naive Anleger am heimischen PC vielleicht aber auch, dass das ihm konkret unterbreitete Angebot auf einen – von einem anderen PC errechneten – mathematischen Algorithmus zurückgeht.¹⁸ Beim Strafmaß liegt das deutscher Insiderhandelsverbot zwar noch weit unter der US-amerikanischen Strafdrohung von bis zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe nach sec. 24 (b), 32 (a) SEA]¹⁹, insbesondere die konkrete Strafbedürftigkeit scheint angesichts der genannten Brüche aber doch zweifelhaft.
c) Konkretisiertes Steuerungsprogramm des Marktmanipulationsverbots (§ 38 Abs. 2 i.V.m. 20a WpHG) Das Verbot der Marktmanipulation ist weit diffiziler einzuordnen: Gemessen an der gesetzgeberischen Entscheidung einer indirekten Wirtschaftssteuerung ist ein Tatbestand mit dem Ziel des „überindividuellen Funktionsschutzes der Leistungsfähigkeit der kapitalmarktbezogenen Einrichtungen und Ablaufmechanis-
Zu den insoweit unternommenen Definitionsversuchen Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (464); angesichts der tatsächlichen Regelungsdefizite kann jedenfalls nicht ernsthaft vom Modell eines (sich auch opportun verhaltenden!) homo oeconomicus ausgegangen werden (so aber z. B. Vogel in: Assmann/Schneider (Hrsg.),WpHG, 6.Aufl., 2012, § 20a Rn. 86). Falsch liegt aber auch Wohlers, der die Figur des homo oeconomicus ablehnt, weil es sich insoweit um eine Modellfigur handele und die Verhaltensökonomie in Einzelexperimenten Wahrnehmungsverzerrungen nachgewiesen habe. Bei der Figur des „verständigen Anlegers“ sucht die herrschende Meinung mit Recht nach einem normativen Maßstab, den Wohlers trotz seiner Hinweise auf die noch in den Kinderschuhen steckenden (und möglicherweise überschätzten) Versuche der behavioral finance wegen der daraus folgenden „Logik der Unvernunft“ (so Ackermann in: ders./Wohlers (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle, 2009, S. 1 [6]) gerade nicht bietet (S. 471). Die Deutsche Börse geht davon aus, dass 40 % des Handels an der Frankfurter Wertpapierbörse auf algorithmische Hochfrequenzhandelsstrategien zurückzuführen sind, vgl. BT-Drs. 17/ 11631 S. 15; knapp zusammenfassend zum Hochfrequenzhandel Schultheiß WM 2013, 596 (596). Unter www.sec.gov/about/laws/sea34.pdf ist eine konsolidierte Fassung des Securities Exchange Act 1934 abrufbar.
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men“²⁰ zunächst plausibel.²¹ Ebenfalls plausibel erscheint es, eine Art Generalklausel zu formulieren. Mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit wird zugleich die Stabilität gefördert (wenn auch nicht gewährleistet). Chancengleichheit und Transparenz werden lediglich als Reflex mitgeschützt. Auch hier weist das Konzept aber Brüche in seiner konkreten Ausgestaltung auf: Die in § 20a WpHG verbotenen informations-, handels- und täuschungsgestützten Marktmanipulationen beeinträchtigen den Marktmechanismus als solches nicht. Informations- und täuschungsgestützte Eingriffe setzen im Gegenteil die vorhersehbare Reaktion auf konkrete (Fehl)Informationen voraus. Die Preisbildung an der Börse muss also durchaus funktionieren, ehe der Delinquent seinen Vorteil realisieren kann.²² Anstelle eines echten Tatbestandes zum Institutionenschutz hat der Gesetzgeber hier eher²³ ein auf die Sondersituation des Börsenhandels zugeschnittenes Vorfeld- oder Sonderdelikt²⁴ zum allgemeinen Betrug normiert. Ein solcher Schutz überindividueller Rechtsgüter kombiniert mit individualstrafrechtlich-konzipierten Angriffsrichtungen gleicht einer auf halbem Wege eingelegten Rolle rückwärts. Kriminologisch erinnern die regelmäßig diskutierten Fallgruppen an mehr oder minder plumpe Betrügereien: Informationsgestützte Marktmanipulationen setzen die Verarbeitung der falschen Information per se voraus. Handelsgestützte Manipulationen und fiktive Geschäfte wie wash trades , matched orders²⁵ oder circular trades basieren auf Absprachen und auf dem dem Kurs impliziten Informationsgehalt eines höheren Wertes oder einer Information. Die Einschränkung des kriminalstrafrechtlichen Einrichtungsschutzes auf informations- und handelsgestützte Manipulationen vermag nicht recht zu über-
Stellvertretend Sorgenfrei in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl., 2013, § 20a WpHG Rn. 52; Grundmann in: Ebenroth/Boujoung/Joost/Strohn (Hrsg.), Handelsgesetzbuch, 2. Aufl., 2009, § 20a WpHG Rn. 1 hebt mit leichter Differenz die „Wahrung der Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung“ an den Börsen hervor. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich dem zuletzt angeschlossen und § 20a WpHG inzwischen ausdrücklich den Charakter eines Schutzgesetzes im Sinne von § 823 Abs. 2 StGB versagt, vgl. BGHZ 192, 90 = NJW 2012, 1800. Zum selben Ergebnis gelangt die ökonomische Analyse des Manipulationsverbots von Eichelberger Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 77– 82. So auch in dem der Entscheidung des BGH vom 27.11. 2013 – 3 StR 5/13 zugrunde liegenden Fall. Der tatsächlichen Täuschung oder Schädigung Dritter bedarf es nicht zwingend (vgl. BGH vom 27.11. 2013 3 StR 5/11). In diese Richtung Schönwälder Grund und Grenzen einer strafrechtlichen Regulierung der Marktmanipulation, 2011, Kap. 3 B, der als Kern der Marktmanipulation auf einen „Makroebenenirrtum“ abstellen will. Beispielhaft dazu OLG Stuttgart NJW 2011, 3667; ZWH 2012, 24 m. Anm. Koppmann; BGH vom 27.11. 2013 – 3 StR 5/13 Rn. 19: „matched orders bzw. prearranged trades“.
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zeugen. ²⁶ Eingriffe durch Manipulation von Daten oder Eingriffe in die Integrität der Einrichtungen sind ähnlich strafwürdig und strafbedürftig. Derartige Manipulationen schien der nationale Gesetzgeber bisher²⁷ entweder nicht für möglich zu halten oder als durch die allgemeinen Straftatbestände (z. B. §§ 202a ff., 303a f. StGB) hinreichend geschützt anzusehen. Jenseits des Begriffs der „Manipulation“ wird nicht versucht, „kapitalmarktfremde Eingriffe“ als solche zu bestimmen und – durchaus mit Kriminalstrafe – zu sanktionieren.²⁸ Kapitalmarktfremde Eingriffe können sowohl Eingriffe von innen als auch Eingriffe von außen sein.²⁹ Dazu gehört ganz generell – das Setzen falscher Zeichen und Signale, – die Behinderung anderer an der Marktteilnahme und – die künstliche Verknappung/Erhöhung des Angebots, die eine Einwirkung auf den Preis³⁰ eines Wertpapiers oder Index bezwecken. Der Kern eines solchen Institutionenschutzes wird im Ansatz bestenfalls noch in § 20a Abs. 1 Nr. 2 WpHG bzw. (in bedenklicher Ausdehnung des Ermächtigungsspielraums) in § 4 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV³¹ verwirklicht. In der konkreten Strafverfolgung bleibt die weitgehend farblose Beschreibung des tatbestandsmäßigen Verhaltens im Wesentlichen folgenlos. Gerade neuartige Handelsphänomene können daher oft nicht hinreichend eindeutig als strafrechtliches Unrecht qualifiziert werden.³² Rechtsvergleichend beschreitet auch das US-amerikanische Recht den Weg des Manipulationsschutzes in Form der Generalklausel in sec. 9 (a) (2) SEA. Tatbestandsmäßig ist insoweit jede Transaktion, die in der Absicht vorgenommen wird, andere zum Kauf oder Verkauf von Papieren zu veranlassen. Als Indiz für ein Geschäft mit rein wirtschaftlichem Interesse wird es gesehen, wenn zwischen den Transaktionen eine solche Zeitspanne liegt, dass sich ein von der vorhergehenden Transaktion unabhängiger Preis bilden kann. Eichelberger, Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S.29 unter Verweis auf SEC Rel. No. 34– 3056. Eine unionsrechtlich induzierte Ausweitung des Manipulationsverbotes deutet sich auch hier an, vgl. Kiesewetter/Parmentier BB 2013, 2371 (2375). Zu entsprechenden Ansätzen im US-amerikanischen Recht vgl. Binninger Gewinnabschöpfung als kapitalmarktrechtliche Sanktion, 2010, S. 69 ff. Anerkannt ist diese Unterscheidung etwa bei § 315b StGB, grundlegend bereits BT-Drs. IV/651 S. 28; aus dem aktuellen Schrifttum stellvertretend Zieschang in: NK-StGB, 3. Aufl., 2013, § 315b Rn. 10, 11. Zum Begriff des Börsenpreises ausführlich BGH vom 27.11. 2013 3 StR 5/13 Rn. 21 ff. Teuber Die Beeinflussung von Börsenkursen, 2011, S. 194 will konsequenter Weise zur näheren Bestimmung von § 4 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV auf § 19 GWB zurückgreifen; dagegen angesichts der Ermächtigungsgrundlage für ein „Anerkennungsmonopol“ der BaFin Vogel in: Assmann/ Schneider (Hrsg.), WpHG, 6. Aufl. 2012, § 20a Rn. 186. Zu der Frage, ob von der Europäischen Wert- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) in dringlichen Fällen verhängte Leerverkaufsverbote (Art. 114 AEUV iVm. Art. 28 VO EU Nr. 236/12) überhaupt mit Unionsrecht vereinbar sind, musste etwa erst die (die Verbotsmöglichkeit bestätigende) Entscheidung des EuGH C-270/12 vom 22.01. 2014 ergehen.
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Klarheit über das kapitalmarktrechtliche Verbot ist aber geradezu eine Grundvoraussetzung für strafrechtliche Sanktionen.³³
d) Zum Steuerungsprogramm des Finanzkrisenstrafrechts (§§ 54, 54a KWG, 64a i.V.m. 142 VAG, 30 h, 30j a.F. WpHG) Per se brüchig ist ein Konzept, das – wie im jüngsten Finanzmarktstrafrecht – in einer politisch opportunen Reaktion auf situationsbezogene Einzelphänomene (vgl. §§ 39 Abs. 2 Nr. 14a u. 14b i.V.m. 30 h, 30j WpHG a.F.³⁴ sowie 54c KWG) besteht. Die fortschreitende Kriminalisierung kapitalmarktrechtlicher Verhaltensweisen im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise der Jahre 2007 und folgende kann am besten als parlamentarisches Ablenkungsmanöver von politischem Versagen verstanden werden:³⁵ Die konzeptionellen Brüche der kapitalmarktstrafrechtlichen Regelung des § 54a KWG erfolgten bereits im Gesetzgebungsverfahren. Zu Beginn sollte eine europäische Musterregelung zur Sanktionierung unzureichender bankinterner Risikovorsorge und Risikocompliance geschaffen werden. Nach politischer Einflussnahme wichtiger Finanzakteure und der Ergänzung von § 54a KWG um den ursprünglich nicht vorgesehenen Abs. 3 wurde aus dem gut gemeinten Compliance-Straftatbestand mit strafrechtlich sanktionierten „Sicherstellungspflichten“ die kriminalstrafrechtliche Sanktionierung von in der Praxis nicht vorstellbarer Ignoranz gegenüber aufsichtsrechtlichen Einzelfallanordnungen. Das Ergebnis ist eine gesetzgeberische Totgeburt³⁶. Auf europäischer Ebene hätte die Norm allenfalls das Zeug zur Lachnummer. Wenn in dem Vorhaben bei aller Kritik etwas Positives gesehen werden soll, dann bestätigt § 54a KWG zusammen mit den §§ 39 Abs. 2 Nr. 14a u. 14b i.V.m. 30 h u. 30j a.F. WpHG wenigstens die in Zeiten der Globalisierung doch immer wieder in Zweifel gezogene theoretische Definitionsmacht des Staates über die handelbaren Güter und die Reichweite der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit. Die Normen
In diesem Sinne bereits Meinrad Dreher in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, ECLE III, 2011, S. 217, 234 f., wiederum zur geringen praktischen Bedeutung dieses Tatbestandes anhand des deutschen, österreichischen und schweizerischen Rechts Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (453 f.). §§ 30 h, 30j WpHG a. F. wurden durch das Umsetzungsgesetz zur Verordnung (EU) 236/2012 (BGBl 2012 I 2286) im Wesentlichen neu gefasst (§ 30 h WpHG) bzw. abgeschafft (§ 30j WpHG). Dazu ausführlich Mansdörfer in: ders./Britz (Hrsg.), Symposium anlässlich des 75. Geburtstags von Egon Müller, erscheint Anfang 2015. Schork/Reichling CCZ 2013, 269, 271 („blinder Aktionismus“, „handwerklich misslungen“).
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bestätigen damit das jedenfalls am Ende bestehende Primat der Politik über die Wirtschaft. Seit dem 31.01. 2014 sichert §§ 54 i.V.m. § 3 Abs. 2– 4 KWG die Stabilität der Finanzmärkte, indem besonders riskante Geschäftstätigkeiten (untechnisch: das Investmentbanking) vom klassischen Einlagen- und Kreditgeschäft (untechnisch: Commercial Banking) getrennt werden.³⁷ Ob damit auch systemische Ansteckungsrisiken ausgeschlossen sind, steht bislang nicht endgültig fest. Risikofaktoren wie die Institutsgröße an sich („too big to fail“), die wechselseitige Vernetzung der Kreditinstitute („to connected to fail“) und die Gesamtkomplexität des Finanzmarktes („to complex to fail“) sind damit noch nicht endgültig gelöst.³⁸ Der Sache nach handelt es sich bei den entsprechenden Vorschriften um Strafvorschriften im Rahmen eines noch offenen Steuerungsprozesses. In den parallelen Regulierungsansätzen auf supranationaler Ebene im sog. Liikanen-Report sowie den im Detail divergierenden Vorhaben in Frankreich und Großbritannien tritt die Bandbreite möglicher Handlungspotentiale offen zu Tage.³⁹ Immerhin bringt das Gesetz aber zumindest den Willen zum Ausdruck,Verlustrisiken in Zukunft wieder bei den konkreten Akteuren zu belassen.
e) Konkretisiertes Steuerungsprogramm der §§ 54 KWG, 339 KAGB Im Gegensatz zu den vorherigen Straftatbeständen liegt das Steuerungsprogramm der §§ 54 KWG, 339 KAGB relativ klar auf der Hand. Im Interesse der Lauterkeit des Marktes wird hier der Marktzugang für wesentliche Akteure von einer Erlaubnis bzw. Registrierung⁴⁰ abhängig gemacht oder es werden konkrete Geschäfte verboten. §§ 54 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 3 KWG verbietet traditionell etwa Einlagengeschäfte für Betriebsangehörige (sog. Werksparkassen) oder Zwecksparunternehmen. §§ 339 KAGB i.V.m. 20 KAGB dehnen diese Erlaubnispflicht auf alle deutschen Fondsverwalter aus. Der gegenständliche Anwendungsbereich des KAGB ergibt sich aus § 1 Abs. 1 S. 1 KAGB und erfasst jedes Investmentvermögen im Sinne eines
Einführend mit einer ersten Kommentierung insbes. des § 3 Abs. 2– 4 KWG dazu Möslein BKR 2013, 397; näher zum Trennbankengesetz auch Mathias Otto in diesem Band. Kritisch auch Möslein BKR 2013, 397, 398 f. jeweils mit weiteren Nachweisen. Vgl. dazu die systemvergleichenden Betrachtungen von Möslein BKR 2013, 397, 399 ff. Vgl. § 339 Abs. 1 Nr. 3 KAGB.
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Organismus für gemeinsame Anlagen, der von einer Vielzahl von Anlegern Kapital einsammelt.⁴¹ Die kriminalstrafrechtliche Absicherung der Marktzugangskontrolle ist grundsätzlich stimmig. Zwar begnügt sich die Rechtsordnung andernorts gerade bei einer präventiven Marktzugangskontrolle auch mit ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen (vgl. etwa § 144 GewO). Der Einsatz des Kriminalstrafrechts erscheint im Bereich der Zugangskontrolle zu gewerbsmäßigen Finanz- und Kapitalmarktgeschäften aufgrund der naheliegenden Vermögensgefährdung von Kunden aber gut vertretbar.
3. Zwischenfazit Ein erstes Zwischenfazit der bisherigen Überlegungen fällt insgesamt differenziert aus: Der Gesetzgeber des Finanz- und Kapitalmarktstrafrechts steckt auch bei einer umfassenderen Analyse der Einzelnormen in einer Steuerungsmisere. In der Sache beruht dieses Defizit auf verschiedenen Gründen. Einzelnormen wie §§ 38 i.V. m. 14 WpHG oder 54a KWG sind schlicht fehlkonzipiert und bedingen weithin Fehlsteuerungen. §§ 38 i.V. m. 20a WpHG ist im Kern unvollständig und müsste durch einen umfassenden Kapitalmarktmissbrauchstatbestand ersetzt werden. Gerade für die neuen technischen und institutionellen Entwicklungen ist das stark am Täuschungsschutz ausgerichtete derzeitige Verbot der Marktmanipulation nicht gerüstet. Dem Finanzkrisenstrafrecht kann zwar im Kern ein insgesamt etwas besseres Zeugnis ausgestellt werden. Der Gesetzgeber hat insbesondere bei der Marktzugangsregulierung durchaus erste wegweisende Schritte unternommen. Der Gesetzgeber bewegt sich gleichwohl erstens auf einer sehr unsicheren tatsächlichen Grundlage und die Finanzmarktakteure versuchen zweitens, sich unliebsamen Regulierungen durch geschickte Lobbyarbeit zu entziehen. Über die einzelnen Tatbestände hinausreichenden Gleichheitspostulaten hält das gegenwärtige Recht ebenfalls nicht stand. Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der wirtschaftsstrafrechtlichen Generalklauseln der §§ 263, 266 StGB im anonymen Massenmarkt,⁴² das weder mit dem Kernstrafrecht noch mit §§ 14, 20a WpHG vereinbare normative Leitbild des „verständigen Anlegers“ in § 13 Abs. 1 S. 2 WpHG oder die gelegentliche Absenkung der subjektiven Trotz der an sich generalklauselartigen Formulierung bestehen durchaus Auslegungsschwierigkeiten im Einzelfall,vgl. etwa zu der Frage, ob REIT-Aktiengesellschaften unter das KAGB fallen Merkt BB 2013, 1986. Siehe näher etwa Eichelberger Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 150 f.
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Tatseite auf leichtfertiges Verhalten⁴³. Das gegenwärtige Kapitalmarktstrafrecht ist ein solches für (Kapitalmarkt)Anfänger. Die aktuelle europäische Diskussion um eine Reform des Kapitalmarktstrafrechts ist bei diesem Befund kein Zufall. Der nationale Horizont des Kapitalmarktanfängers⁴⁴ wird vor allem um die Perspektive von in anderen Ländern bestehenden Strafbarkeitslücken ergänzt.⁴⁵ Nach den bislang absehbaren Entwicklungen drohen diese Bestrebungen in ein leicht überarbeitetes Kapitalmarktstrafrecht 2.0 mit einer eher stumpfsinnigen Forderung nach schärferen Sanktionen⁴⁶ und vereinzelten, in der Tendenz richtigen Fortschritten bei der Reform der Finanzmarktrichtlinie MIFID zu münden. Beispiele für solche Fortschritte sind insgesamt strengere Regeln für den Hochfrequenzhandel, Vorgaben über eine Mindesthaltedauer von Wertpapieren, die Beschränkung undurchsichtiger Handelsplattformen (sog. dark pools) und die Ausdehnung der MIFID auf alle organisierten Handelsplätze.⁴⁷ In dieser Situation das Kriminalstrafrecht als bevorzugtes oder zumindest prominent genutztes Steuerungsinstrument einzusetzen,⁴⁸ erscheint freilich fragwürdig.⁴⁹ Näher liegt es, das Instrument der Sanktion noch stärker als bisher in das verhaltensregulierende Gesamtkonzept des Finanz- und Kapitalmarktrechts einzufügen.⁵⁰
Die Ausdehnung erfolgte in Umsetzung der Marktmissbrauchsrichtlinie 2003/6/EG vom 28. 10. 2003. Schon vom (Kapitalmarkt)Fortgeschrittenen sollte man nach dem Modell des homo oeconomicus erwarten, dass er diese Lücken kennt und sie sich längst zu eigen gemacht hat. Siehe nur den Richtlinienvorschlag der Kommission vom 20.10. 2011, KOM (2011) 654 endg. S. 3 f. Dazu stellvertretend Schröder HRRS 2013, 253 ff. (insbes. 261 ff.); Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (454 ff.). Zu der geplanten MIFID II siehe AFP/Reuters/mahu/olkl, EU setzt Finanzmarkt engere Grenzen, SZ vom 15.01. 2014 (kurz-URL: sz.de/1.18633489). Vgl. nur BT-Drs. 15/930; 15/748; 15/369. Zum Strafrecht im Kanon der rechtlichen Gesamtsteuerung eingehend Wagner AcP 206 (2006), 352 et passim. Zu diesem elementaren Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts als – neben der zivil- und öffentlich-rechtlichen – einer von drei Säulen des Wirtschaftsrechts Jürg-Beat Ackermann, in: ders./ Heine, Wirtschaftsstrafrecht in der Schweiz, 2013, § 1 Rn. 12 ff. m. w. N.
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III. Gewährleistungsstrafrechtliche Steuerungsalternative: Konzept einer vierstufigen integrierten Kapitalmarktgovernance 1. Vorüberlegungen zur Struktur einer integrierten Kapitalmarktgovernance Zu der Suche nach Regelungsalternativen⁵¹ gehört es, das komplexe Schutzkonzept der kriminalstrafrechtlichen Regelungen aufzulösen und den insgesamt hohen Steuerungsanspruch zurückzunehmen. Gegenstand der Diskussion können dann auch für sich scheinbar weniger leistungsfähige Einzelmechanismen werden, deren Regulierungspotential im harmonischen Zusammenspiel mit ergänzenden Maßnahmen aber ein tragfähiges Gesamtpaket ergeben kann. Kapitalmarktrechtliche Sanktions- und Durchsetzungsdefizite sollen nicht entstehen, jedenfalls aber nicht vergrößert werden.⁵² Das (Kriminal)strafrecht ist prinzipiell so einzusetzen, dass die zu Institutionen insgesamt am Postulat größtmöglicher individueller Freiheit ausgerichtet werden.⁵³ Es hat demnach zurückzutreten hinter möglichst frühzeitig greifende Sanktionsmechanismen und Alternativeingriffen mit geringeren Freiheitseinbußen.⁵⁴ Orientiert sich die rationale Ge-
Vgl. ergänzend zu den nachfolgenden Überlegungen zuletzt auch Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (472 ff.). In diesem Sinn unter Hinweis auf bestehende zivilrechtliche Defizite Casper BKR 2005, 83 (87 f.); Gottschalk Der Konzern 2005, 274 (275 ff.); Köndgen in: FS Druey, 2002, S. 791 (802). Dazu Mansdörfer Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, Rn. 281 ff., 297 ff. Der von mir zunächst im Zusammenhang mit einer Untersuchung der Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung der Finanzkrise (Mansdörfer in: ders./Britz (Hrsg.), Symposium für Egon Müller, erscheint Anfang 2015) geprägte Begriff des Gewährleistungsstrafrechts ist der Ausdruck für ein stark verwaltungsrechtlich geprägtes Sanktionenrecht, das mit seinem Eingriffspotential dem Kriminalstrafrecht zeitlich vorgeht, dezidiert präventiv ausgerichtet ist und durch sektorspezifische Sanktionsmechanismen gekennzeichnet ist. Im Schrifttum ist dieses Phänomen durchaus schon (allerdings ohne eine eigene Kategorisierung) beschrieben worden (vgl. etwa im Ansatz Meinhard Dreher in: Kempf/Lüderssen/Volk [Hrsg.], Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, ECLE III, 2011, S. 217 [233 – 237]; Lagodny in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchner Kommentar, StGB Bd. 6, Nebenstrafrecht I, Einl., Rn. 9, 11 ff.). Im Unterschied zu dem von Klaus Lüderssen als Petitum geprägten Begriff des Interventionsrechts beschreibt der von mir gewählte Begriff de lege lata erkennbare Strukturen und Sanktionen, für die allerdings eine übergreifende Systematisierung noch aussteht. Der Begriff des Gewährleistungsstrafrechts soll als Oberbegriff dazu dienen, eine
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setzgebung an sachgebietsübergreifenden Steuerungsprämissen, begünstigt die marktliberale Wirtschaftsverfassung die Entwicklung eines ordo-liberalen Grundkonzepts (Walter Eucken/sog. Freiburger Schule).⁵⁵ Damit im Folgenden ein möglichst realistisches Alternativszenario entwickelt werden kann, soll einerseits an durchaus vorhandene Ansätze angeknüpft werden. Andererseits würde es nicht dem steuerungstheoretischen Stand der Wissenschaft entsprechen, bloße Einzelmaßnahmen zu benennen und zu diskutieren. Der Versuch soll also dahin gehen, ausgehend vom Istzustand⁵⁶ Eckpfeiler eines integrierten Gesamtkonzepts einer präventiven Finanz- und Kapitalmarktgovernance zu entwickeln.⁵⁷ Erst wenn ein solches Konzept zumindest in seinen Umrissen skizziert wurde, kann ernsthaft nach einem kriminalstrafrechtlichen Reststeuerungsbedarf gefragt werden. Bereits jetzt stellt das Finanz- und Kapitalmarktrecht eine Reihe effizienter und herausragender Instrumentarien zur Steuerung des Verhaltens der Finanzmarktakteure zur Verfügung: De lege lata vorfindliche Einzelmaßnahmen zur finanz- und kapitalmarktrechtlichen Lenkung sind etwa aufsichtliche Sanktionen nach § 20 KWG, präventive Erlaubnispflichten, Anordnungsbefugnisse der Aufsichtsbehörden, negative und punitive Publizität und spezifische Auflagen als Sanktion sui generis. Hinzu kommen Instrumente zur Selbststeuerung, wie z. B. Mechanismen des comply or abstain u. ä.⁵⁸ Wenig diskutiert sind zivilrechtliche Instrumentarien wie z. B. der Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 37b u. 37c WpHG,⁵⁹ die zivilrechtliche Gewinnabschöpfung, die andernorts als wirtschaftsrechtliches Steuerungselement eingesetzt wird,⁶⁰ der gezielte Einsatz der Au-
rechtsstaatliche Systematisierung und Verfahrensprinzipien zu entwickeln. Verfahrensrechtliche Probleme wurden bereits ganz deutlich gesehen von Joachim Vogel in: FS f. Jakobs, 2007, S. 731 Zu diesem grundlegenden Ausgangspunkt näher bereits Mansdörfer Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, Rn. 235 f. Zur allgemeinen Tendenz zur zeitlichen Vorverlagerung „moderner Verbote“ Lagodny in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB, Bd. 6 Nebenstrafrecht I, 2. Aufl., 2013, Einl. Rn. 9. Zu sehr Trennendes wird bei der Gesamtbetrachtung von Selbstregulierung, Aufsichtsrecht und Strafrecht meines Erachtens betont von Wolfgang Wohlers in: Ackermann/ders. (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle, 2009, S. 267 (274 ff.). Vgl. an dieser Stelle etwa Lüderssen in: Kempf/ders./Volk (Hrsg.), Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, ECLE V, 2013, S. 259 (272); näher zu diesem Themenkomplex unten 2. Dazu zuletzt etwa die Entscheidungen BGHZ 192, 90 = NJW 2012, 1800 u. BGH NJW 2013, 2114. Siehe etwa §§ 10 UWG, 34, 34a GWB, 33 EnWG, 43 TKG; vgl. in diesem Zusammenhang auch zur zivilrechtlichen Herausgabe des Verletzergewinns Loschelder NJW 2007, 1503 f.; Meier-Beck GRUR 2005, 617 ff.
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ßenhaftung von Gesellschaftsorganen⁶¹ oder Schadensersatzmöglichkeiten in Form von Verbands- oder Sammelklagen⁶². Werden die vorgenannten Einzelelemente zu einem Gesamtkonzept systematisiert, ergeben sich Grundzüge einer integrierten Kapitalmarktgovernance. Im Detail könnte ein derartiges Governancesystem in vier Stufen unterteilt wie folgt aussehen: 1. Stufe: 2. Stufe: 3. Stufe: 4. Stufe:
Unternehmensethische Selbstverpflichtung i.S.e. comply and benefit Stärkung aufsichtlicher Zulassung und synchroner Marktüberwachung Präventiv ausgerichtete aufsichtliche und zivilrechtliche Sanktionen Komplementäre Reststeuerung mit Strafrecht
2. Stufe eins: Selbstregulierung nach dem Modell eines comply and benefit Selbstregulative Kräfte wurden in der jüngeren Vergangenheit vor allem im Aktienrecht in Form des Deutschen Corporate Governance Kodex⁶³ und zur Korruptionsprävention⁶⁴ propagiert. Auch das Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht bietet sich wie kaum ein anderes Feld für Mechanismen zur Selbstregulierung an. Nicht umsonst haben sich im Schweizer Recht längst drei unterschiedliche Formen der Selbstregulierung entwickelt: die freie bzw. autonome Selbstregulierung, die anerkannte Selbstregulierung als Mindeststandard und die obligatorische Selbstregulierung auf der Basis eines gesetzlichen Auftrags.⁶⁵
a) Problem der effektiven Durchsetzung von soft law Mechanismen In der deutschen Wissenschaft werden derartige Ansätze noch durchaus kritisch gesehen: Das freiwillige System der Selbstregulierung habe sich historisch nicht bewährt und sei durch das hard law der Insiderhandelsrichtlinien und des WpHG
Hierzu aber ausführlich auch aus steuerungsrechtlicher Perspektive Köndgen, in: FS f. Druey, 2002, S.791 (800 ff.). Vgl. Hild Grenzen einer strafrechtlichen Regulierung des Kapitalmarktes, 2004, S. 196 ff. Dazu im Zusammenhang mit der allgemeinen Regulierungsdiskussion Lüderssen in: Kempf/ ders./Volk, Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, ECLE I, 2009, S. 241 (312 ff.). Exemplarisch der Versuch einer Collective Action Pieth (ed.), Collective Action, 2012. Einführend und m. w. N. Jürg-Beat Ackermann in: ders./Heine (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Schweiz, 2013, § 1 Rn. 24.
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bewusst abgeschafft worden. Auch neuere Vorschläge von Lüderssen ⁶⁶ zu einer kapitalmarktrechtlichen Selbstregulierung in Anlehnung an das Modell des aktienrechtlichen comply and explain sind auf Kritik gestoßen.⁶⁷ Im Wesentlichen wird entgegengebracht, dem soft law des comply and explain fehle es im Finanzund Kapitalmarktrecht an hinreichenden Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen. Eine dem Aktienrecht vergleichbare Verhaltenssteuerung könne nicht erreicht werden. Der Hinweis, dass soft law in gleichem Maß wie hard law nur wirksam werden kann, wenn es rechtstatsächlich effektiv durchgesetzt wird, ist so zutreffend wie der Hinweis, dass es an einer effektiven Durchsetzung der Selbstverpflichtungen in der Vergangenheit durchaus gemangelt hat. Gerade dem Petitum der effektiven Durchsetzung von soft law soll daher im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.
b) Von der Idee des comply and explain zum Modell des comply and benefit Soft law leidet am Problem der rechtstatsächlichen Durchsetzung um so weniger, je stärker die äußeren Handlungsanreize eine Selbstdurchsetzung des soft law gewährleisten.⁶⁸ Soft law ist daher immer und insbesondere dann sinnvoll, wenn die gewünschten ethischen Zielsetzungen in den Marktmechanismus integriert werden können. Am besten gelingt dies, wenn Marktakteure bereit sind, eine ethische Prämie zu bezahlen oder umgekehrt – wie im Fall des § 161 AktG – durch hinreichend wirksame Publizität eine ethische Rendite erzielen können. Gerade die in der Finanzkrise als systemrelevant qualifizierten Finanzmarktakteure können freilich verhältnismäßig leicht auf Verhaltensweisen im Sinne eines „ethischen Finanzmarktakteurs“ determiniert werden. Systemrelevante Finanzmarktakteure zeichnen sich nicht nur durch eine kritische Größe und ihre wechselseitige Abhängigkeit aus. Die Akteure sind gleichermaßen angewiesen auf die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand im Übrigen. Genau dort, bei
Lüderssen in: Kempf/ders./ Volk (Hrsg.), Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, ECLE III, 2013, S. 259 (272). Mennicke in: Kempf/ders./Volk (Hrsg.), Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, ECLE III, 2013, S. 229 (246 ff.) Auch für das soft law gilt die „elementare Prämisse, dass wirtschaftliche Effizienz nur in Orientierung an der jeweiligen Ordnung möglich ist“ Jürg-Beat Ackermann in: ders./Heine (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Schweiz, 2013, § 1 Rn. 17 und eben diese Ordnung wird, so wie sie z. B. auch durch private Normen (etwa DIN EN) etabliert wird, auch und erst recht durch soft law etabliert.
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der öffentlichen Hand als Finanzmarktakteur bei fiskalischem Handeln, liegt daher der zentrale Schlüssel für eine ethische Determinierung der übrigen Akteure: Die öffentliche Hand hat sowohl aufgrund des von ihr in Anspruch genommenen Kreditvolumens als auch aufgrund der von ihr (mittelbar über Privatpersonen) gewährten direkten oder indirekten Subventionen eine Marktmacht, der sich eine systemrelevante Bank praktisch nicht entziehen kann. Sie könnte daher im Rahmen der fiskalischen Vertragsfreiheit beschließen, z. B. Kredite nur bei „ethischen Finanzmarktakteuren“ nachzufragen oder private Rentenversicherungen nur öffentlich zu fördern, wenn diese bei „ethischen Finanzmarktakteuren“ abgeschlossen werden. Systemrelevante Institute wären daher auf die in Aussicht gestellte ethische Rendite geradezu angewiesen. Gestärkt wird diese Rolle der öffentlichen Hand durch das Verhalten der ebenfalls hoheitlich gesteuerten Zentralbanken. Zentralbanken könnten ethischen Finanzmarktakteuren z. B. beim Einlagengeschäft etc. durch Sonderkonditionen direkt eine gewinnwirksame ethische Rendite gewähren. Privatkunden und Geschäftskunden würde mit dem Label des „ethischen Finanzmarktakteurs“ ein einfaches Signal für Verlässlichkeit gegeben. So könnten internationale Fonds mit ihren Investitionsrichtlinien an eine solche Zertifizierung anknüpfen. Das Labelling schafft im Grunde erst die Möglichkeit, zwischen beliebigen Finanzmarktakteuren zu unterscheiden. Beim Handeln von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt könnte ein ausdifferenziertes Labelling System eine zusätzliche Zugangsqualifikation ermöglichen.
c) Inhalte einer Selbstverpflichtung zum „ethischen Finanzmarktakteur“ Dem konkreten Inhalt einer Selbstverpflichtung zum ethischen Finanzmarktakteur sind keine Grenzen gesetzt. In jedem Fall notwendig wäre aber eine Koordination der inhaltlichen Vorgaben mit der öffentlichen Hand, damit der Erhalt der genannten Vorteile tatsächlich gewährleistet würde. In der Sache können die Finanzmarktakteure auf alle im gegenwärtigen Finanz- und Kapitalmarktrecht niedergelegten Regulierungsziele verpflichtet und die Anforderungen an die jeweiligen Finanzmarktakteure selbst angepasst⁶⁹ werden. Dazu gehören bei dem
Denkbar wären spezifische Anforderungsprofile für kleine Banken, systemrelevante Geschäftsbanken, Versicherer und Investmentgesellschaften.
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gewählten indirekten Steuerungsansatz⁷⁰ Selbstverpflichtungen, unerwünschte Verhaltensweisen zu unterlassen und besondere positive Handlungen vorzunehmen, gleichermaßen wie Selbstverpflichtungen zu verstärkter Transparenz oder erhöhter Stabilität. Beispielhaft: Zu den negativ zu unterlassenden Verhaltensweisen könnte etwa die Selbstverpflichtung zu Insiderabstinenz und marktintegerem Verhalten gehören. Die Finanzmarktakteure könnten sich zu Insiderabstinenz in denkbar umfassendstem Sinn verpflichten, die bei ihnen beschäftigten Mitarbeiter auf das gleiche Ziel konditionieren und zugleich jede Weitergabe und sonstige Unterstützung von Insiderhandel untersagen. Auf dieser Art und Weise würde Insiderhandel zwar nicht umfassend verhindert, ausgeschlossen wären aber gerade diejenigen Personen, die berufsmäßig in erhöhtem Maß gefährdet sind. Eine Prämie für hervorgehobenes marktintegeres Verhalten könnte diesen Finanzmarktakteuren dafür gewährt werden, dass sie eine erhöhte Markttransparenz gewährleisten. Dazu könnten die angesprochenen Akteure ihre Geschäftstätigkeit dem Wesen nach den Marktaufsichtsbehörden melden und erklären, keine sonstigen, den Behörden nicht gemeldeten Tätigkeiten vorzunehmen. Auf diese Weise würde die Aufsichtsbehörden über neuartige Entwicklungen und bislang nicht bekannte Marktphänomene frühzeitig unterrichtet. Eine über das Normalmaß hinausreichende Stabilität könnten „ethische Finanzmarktakteure“ durch eine Selbstbeschränkung hinsichtlich des von ihnen akzeptierten unternehmerischen Risikos eingehen. Die Möglichkeiten zur Risikobeschränkung sind ihrerseits vielfältig. Die denkbaren Maßnahmen reichen von einer Verpflichtung zu einem im Vergleich zu den Normstandards (etwa um das Doppelte) erhöhten Eigenkapital⁷¹ und gleichermaßen erhöhten Liquiditätsanforderungen⁷² über risikobegrenzende Vergütungsstrukturen für Mitarbeiter oder die Begrenzung des Eigenhandels bis hin zu einem (beschränkten) Haftungsdurchgriff auf die Anteilseigner⁷³ im Fall der Insolvenz. Eine ergänzende Funktion könnte spezifischen internen Verfahren zukommen, die die materiellen Selbstbeschränkungen der „ethischen Finanzmarktak Bei einer direkten am individuellen Verhalten ausgerichteten Steuerung stünden Selbstbeschränkungen hinsichtlich opportunistischen Verhaltens, der Akzeptanz von Risiken und des Ausnutzens externer Effekte im Vordergrund. Die Deutsche Bank selbst hat schon im Vorfeld der Finanzkrise für erhöhte Eigenkapitalanforderungen plädiert, vgl. im Zusammenhang mit der Frage der Kapitalmarktregulierung Bänziger in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt, ECLE III, 2011, S. 50. Vgl. wiederum Bänziger in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt, ECLE III, 2011, S. 50, 51 f. Zur ursprünglich persönlichen Haftung von Bankinhabern Adamti/Hellwig Des Bankers neue Kleider, 2. Aufl. 2014, S. 61 ff. m.w.N.
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teure“ stützen. Dazu könnte ein offenes internes Kommunikationswesen, der Schutz von Whistleblowern, die Schulung von Mitarbeiter oder die Abstinenz von unlauteren Verkaufsmethoden gehören.
d) Weitere Durchsetzung durch Zertifizierung und Statusentzug Die praktische Durchsetzung der Selbstverpflichtung zum „ethischen Finanzmarktakteur“ kann eine externe Zertifizierung seitens speziell zuständiger öffentlicher oder privater Stellen sichern. Wird gegen die Selbstverpflichtung verstoßen oder werden keine hinreichenden internen Maßnahmen zur Gewährleistung der effektiven Durchsetzung der Selbstverpflichtung getroffen, muss der Status des „ethischen Finanzmarktakteurs“ dauerhaft oder vorübergehend entzogen werden oder das Unternehmen muss durch zusätzlich Maßnahmen glaubhaft darstellen, dass trotz dem Akteur zurechenbarer Verstöße der Status weiter erhalten werden kann. Die Reaktionen können von Verpflichtungen zur Schadenswiedergutmachung über organisatorische und personelle Maßnahmen nahezu beliebig ausdifferenziert werden.
3. Stufe zwei: Stärkung eines kohärenten und wirksamen Aufsichtsystems Überragende Bedeutung kommt neben dem System der Selbstverpflichtung einem notwendigen System der präventiven Aufsicht und der synchronen Marktüberwachung zu.⁷⁴ Die Marktaufsicht ist die entscheidende Instanz sowohl für eine wirksame Marktzugangsbeschränkung als auch zur frühzeitigen und wenn nötig international konzertierten Gegensteuerung bei überraschenden Marktentwicklungen.
a) Von der regelgeleiteten zur prinzipienorientierten Aufsicht Aufsicht muss grundsätzlich in einer dem spezifischen Markt konformen Art und Weise erfolgen. Aufsicht in regionalen, reifen oder innovationsarmen Märkten begegnet anderen Risiken als Aufsicht in übernationalen, dynamischen und
Ausführlich zur gegenwärtigen Struktur der Finanzmarktaufsicht Schäfer u. Köhler in: Park (Hrsg.), Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl., 2013, Teil 2 Kap. 1. (S. 43 – 97) m. umfangr. Nachw.
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entwicklungsstarken Märkten. Der Finanz- und Kapitalmarkt hat sich in dieser Hinsicht im Zuge der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung von einem reifen zu einem dynamischen Markt gewandelt und gehört in den vergangenen zwei Jahrzehnten in verschiedener Hinsicht zu den entwicklungsstarken Märkten. Das Bild des Kapitalmarktes ist heute von Spielern geprägt, die vor zwei Jahrzehnten noch im Wesentlichen unbekannt oder jedenfalls von untergeordneter Bedeutung waren. Die ehemals nationalen Märkte sind zumindest europäisiert, wenn nicht tatsächlich globalisiert. Unternehmen zur Generierung von Eigenkapital oder Privatpersonen zur Kapitalanlage suchen heute ungleich stärker als früher den direkten Zugang zum Kapitalmarkt. Nicht zuletzt werden weite Teile des Kapitalmarktverkehrs über elektronische Systeme generiert und abgewickelt. Ein derart verändertes Umfeld wirkt sich selbstverständlich auf die Art der notwendigen Aufsicht aus. Rechtsregeln, die ihrem Wesen nach auf eine Antizipation von Sachverhalten angewiesen sind, sind für die Steuerung dynamischer Märkte im vorbeschriebenen Sinn wenig sinnvoll. Die im Rahmen der Bestandsaufnahme festgestellten konzeptionellen Brüche (mit der Folge eines Sanktionenrechts, das sich im Wesentlichen an unbedarfte Geschäftsnovizen richtet)⁷⁵ sind daher theoretisch konsequent. Eine öffentlich-rechtliche Aufsicht kann in solchen Märkten nur sinnvoll sein, wenn sie prinzipiengeleitet ist. Konkret bedeutet dies, dass den Aufsichtsbehörden Tendenzaussagen und Optimierungsgebote vorgegeben werden⁷⁶ und die Handlungsspielräume – oder kritisch: die Machtbefugnisse⁷⁷ – der Aufsichtsorgane zunehmen. Divergierende Zielsetzungen sind im Sinne praktischer Konkordanz zu einem möglichst optimalen Ausgleich zu bringen. Jüngere Entwicklungen in diese Richtung durch Basel III und Solvency II sind daher nachdrücklich zu unterstützen.⁷⁸
b) Inhaltliche Konkretisierung der aufsichtlichen Leitprinzipien und Maßnahmen Die inhaltliche Konkretisierung der die Aufsicht bestimmenden Leitprinzipien ist nach dem bisher Gesagten im Wesentlichen vorgegeben. Unter den – von der
Siehe oben II. 3. Zu dieser Folge aus rechtstheoretischer Sicht grundlegend Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., 1994, S. 71 ff., 75 ff. Zu denkbaren Korrektiven sogleich unter d). Näher zu diesen Entwicklungen Meinrad Dreher in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, ECLE III, 2011, S. 217 (235) m. w. N.
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gegenwärtig wohl herrschenden Auffassung sogar zum strafrechtlichen Rechtsgut erhobenen – Leitgedanken (Oberziel) der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts und eines korrespondierenden Teilnehmervertrauens in diesem Kapitalmarkt sind die Aufsichtsbehörden insbesondere den Unterzielen der Stabilität, Transparenz, der Fairness sowie dem ungehinderten Zugang von Marktteilnehmern und der Manipulationsfreiheit des Finanz- und Kapitalmarktes verpflichtet. Die Unterziele können im Einzelnen weiterer konkretisiert werden. Das Ziel der Finanzmarktstabilität wurde daher bezogen auf die einzelnen Finanzmarktakteure durchaus zurecht dahin spezifiziert, dass künftig kein Akteur zu groß, zu vernetzt oder zu komplex sein darf, als dass ihm nicht mehr die negativen Folgen seines eigenen Handelns aufgebürdet werden könnten („too big to fail, to connected to fail, to complex to fail“). Hinsichtlich der Marktstabilität soll der Gefahr von Spekulationen (free ridern) auf externe Effekte vorgebeugt werden. Das präventive Handlungsspektrum der Aufsichtsbehörden kann nicht weit genug sein. Die Maßnahmen reichen von der Erlaubnispflicht und dem Verbot einzelner Verhaltensweisen bis hin zu weniger gravierenden und leichter zu verhängenden Einzelmaßnahmen wie etwa der Verhängung eines Beobachtungsstatus über einzelne Finanzmarktakteure.⁷⁹
c) Zum Petitum präventiver und marktsynchroner Aufsicht Beispielhaft für eine entsprechende Ausgestaltung der Aufsicht de lege lata ist die präventive Erlaubnispflicht potentiell gefährlicher Handlungen, wie im Fall des Hochfrequenzhandels (vgl. § 1 Abs. 1a S. 2 Nr. 4 lit. d KWG)⁸⁰. Beispielhaft für Verbote stehen die aktuellen Maßnahmen zur Durchsetzung eines TrennbankenSystems. Ein solcher Eingriff kann freilich eine nur sehr nachrangige Handlungsoption sein. Vorrangig hat die Aufsicht Möglichkeiten zur Veranstaltung eines Wettbewerbs um neue Ideen und Systeme der Risikovorsorge zu nutzen und die in diesem Kontext entwickelten Ideen (als noch unzulänglich oder bereits hinreichend) zu bewerten. Damit könnte einerseits Gefahren einer uniformen Risikovorsorge entgegen gewirkt werden; andererseits wird gewährleistet, dass die Aufsichtsbehörden über das Risikoprofil und das Risikomanagement der wesentlichen Finanzmarktakteure hinreichend informiert sind. Spekulative Ret-
In diese Richtung anscheinend auch Wohlers ZStW 125 (2013), 443 (479 f.). Näher zu den mit dem Hochfrequenzhandelsgesetz verbundenen Änderungen Kobbach BKR 2013, 233 (234 f.); Schultheiß WM 2013, 596 (599).
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tungsmaßnahmen wie im Fall der verstaatlichten Bank HypoRealEstate sollten damit obsolet werden. Gerade in einem sich schnell wandelnden Umfeld wie dem globalisierten Finanzmarkt ist Marktstabilität wesentlich davon abhängig, dass neuartige Phänomene hinreichend schnell erkannt, bewertet und damit marktsynchron reguliert⁸¹ werden. Die jüngeren Entwicklungen zeigen hier Handlungsbedarf. So hat die europäische Aufsichtsbehörde ESMA⁸² für das Problemfeld des Hochfrequenzhandels bereits am 24. 2. 2012 Leitlinien für „Systeme und Kontrollen für Handelsplattformen, Wertpapierfirmen und zuständige Behörden in einem automatisierten Handelsumfeld“ veröffentlicht. Die BaFin plant noch zwei Jahre später deren (teilweise) Umsetzung in nationale Anforderungen mittels eines Rundschreibens. Die einheitliche Koordinierung des Verhaltens über das Europäische System der Finanzaufsicht (ESFS)⁸³ hat also Defizite. Die Zusammenarbeit erfolgt bislang insbesondere auf der Basis von §§ 7 ff. WpHG sowie auf unverbindlichen Memoranda of Understanding.⁸⁴ Jedenfalls auf längere Sicht werden die Befugnisse der ESMA um die Möglichkeit zum Erlass von zwingenden Anordnungen im Einzelfall erweitert werden müssen. Die derzeitige Beschränkung entsprechender Befugnisse auf Krisenfälle (vgl. Art. 19 ESMA-VO) wird dem Petitum einer präventiv orientierten Aufsicht nicht gerecht. Auch das nationale Recht (allen voran § 4a WpHG) muss auf die europäischen Befugnisse hinreichend abgestimmt werden. Nationale und supranationale Aufsicht sollten künftig in einer Weise koordiniert werden, dass insgesamt eine konkurrierende Wertpapieraufsicht insbesondere durch ESMA und (in Deutschland) BaFin besteht.⁸⁵ Die Visibilität neuer bislang unbekannter Handelspraktiken könnte dadurch gesteigert werden, dass Marktteilnehmer zur Anzeige dieser Praktiken angeregt oder ver-
Das Petitum einer marktsynchronen Überwachung der Handelsgeschäfte wird insbesondere durch die Handelsüberwachungsstellen der Börsen (§ 4 BörsG) bereits erfüllt und soll daher nicht ausführlich thematisiert werden. Ergänzt werden könnte das bisherige System allenfalls durch eine ergänzende marktsynchrone Vergleichsbetrachtung von Unternehmenskursen und Fundamentaldaten. Im Einzelnen müssten entsprechende Systeme durch die Aufsichtsbehörden entwickelt werden. Zur näheren Ausgestaltung der ESMA vgl. VO (EU) Nr. 1095/2010 ABl L 331, 84 (im Folgenden ESMA-VO). Näher dazu Baur/Ganguli jurisPR-BKR 11/2013 Anm. 1. Schäfer in: Park (Hrsg.), Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl., 2013, Teil 2 Kap. 1. Rn. 99 – 104. Insbesondere sollte die Befugnisse der ESMA für Fälle mit transnationaler Bedeutung in Art 8 Abs. 1 Buchst. f ESMA-VO vergleichbar den Befugnissen der BaFin bei der Wertpapieraufsicht ausgestaltet werden.
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pflichtet werden bzw. bei einer Anzeige zumindest von einer repressiven Verfolgung freigestellt werden.⁸⁶
d) Abgestimmte Aufsicht im europäischen Mehrebenensystem Im Mehrebenensystem der Europäischen Union ergänzen sich die nationale und die supranationale Ebene. Maßnahmen gegen Einzelstaaten und systemrelevante Banken sollten in erster Linie auf Unionsebene durchgesetzt werden.Vorbild kann das Zusammenspiel der europäischen und nationalen Behörden auf dem Gebiet der allgemeinen Marktüberwachung im Kartellrecht sein. Als Korrektiv zu der mit einem Wechsel hin zu einer stärkeren prinzipienorientierten Aufsicht zunehmenden Kompetenz der Aufsichtsbehörden würde es sich anbieten, innerhalb der Aufsicht selbst einen zumindest mit beratender Funktion ausgestatteten, von Finanzmarktakteuren repräsentativ besetzten festen Beirat (advisory board) zu installieren. Der Beirat muss die Kompetenz haben, Maßnahmen und Aktivitäten der Aufsichtsgremien aufzugreifen und kritisch hinterfragen zu dürfen. Soll der Einfluss privater Institutionen noch etwas gestärkt werden, bietet sich ein gemeinsamer Ausschuss von Börse, Börsenaufsicht und Geschäftsbanken zur Bestimmung unzulässiger Handelspraktiken oder zur Bewertung kritischer Marktsituationen an. Ergänzend muss jederzeit hinreichender Rechtsschutz gegen einzelne Aufsichtsmaßnahmen bestehen.⁸⁷
e) Einbeziehung Privater in die Marktüberwachung Über das vorgeschlagene advisory board könnten Private im Übrigen stärker in die allgemeine Marktüberwachung einbezogen werden. Entsprechende Instrumentarien sind in anderen Rechtsbereichen wie z. B. im auf dem Gebiet der Gewährleistung der allgemeinen Produktsicherheit längst institutionalisiert.⁸⁸ Dazu könnte sowohl ein anonymes Meldesystem für „verdächtige Finanzprodukte“
Aus rechtstheoretischer Sicht für den verstärkten Einsatz von Instrumentarien zum Strafverzicht Trüg, in: FS f. Körner, Tübingen, 2013, S. 676 (687). Ob hierfür das für Beschwerden gegen die ESMA eingerichtete Board of Appeal (Art. 58 ff. ESMA-VO) ausreicht, kann derzeit noch nicht beurteilt werden. Kritisch fällt insbesondere die Besetzung des Board of Appeal auf (Beteiligung der ESMA und der ESA bei der Bestellung der Mitglieder, einseitige Vorkenntnis der Mitglieder, keine hinreichende richterliche Kompetenz). Ausführlich Weiß Die rechtliche Gewährleistung der Produktsicherheit, Baden-Baden, 2008, § 9 D. (= S. 412 ff.).
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gehören, mit dessen Hilfe Finanzmarktteilnehmer einzelne Papiere etc. direkt einer Prüfung durch die Aufsichtsbehörden zu leiten könnten. Auf jeden Fall sollte aber eine offene Beschwerde (auch mit dem Gedanken der Anzeige unlauterer Praktiken) bei der Aufsichtsbehörde verbunden mit einem Akteneinsichtsrecht und einer Bescheidungspflicht der Aufsichtsbehörde möglich sein. Gerade bei offenen Beschwerden sollte also die Rechtsposition des Beschwerdeführers gegenüber der Behörde gestärkt werden, um die Beschwerde in der Sache zu einem wirksamen Mechanismus auszugestalten.
4. Stufe drei: System gewährleistungsrechtlicher Sanktionen in aufsichtlicher und zivilrechtlicher Form Völlig unterthematisiert sind die Bedeutung und das Potential aufsichtlicher und zivilrechtlicher Sanktionen in einem System integrierter und gesamteuropäisch abgestimmter Kapitalmarktgovernance. ⁸⁹ Dies ist um so bedauerlicher, als solche (auch hinreichend präventiv wirkenden) Ordnungsmittel Zustände im kriminalstrafrechtlichen Vorfeld und namentlich diesseits selbst nur abstrakter Rechtsgutsgefährdungen wirksam aufgreifen können,⁹⁰ ihrer Art nach wesentlich flexibler und passgenauer sind und damit strafrechtlichen Reaktionen vorgehen könnten. Deutlich wird das auf diesem Feld vorhandene Steuerungspotential, wenn man sich in einem ersten Schritt die Breite des bereits de lege lata vorhandenen Sanktionsarsenals vor Augen führt: Dazu gehören etwa der Rechtsverlust in Form des Ruhens von Stimmrechten⁹¹, eine erhöhte Risikovorsorge als Sanktion sui generis⁹², der (zeitweise) Ausschluss von der Börse⁹³, Ordnungsgeld⁹⁴ oder die punitive Pu-
Die Regel bestätigende Ausnahme sind etwa die durch Hanno Merkt betreute Untersuchung von Binninger Gewinnabschöpfung als kapitalmarktrechtliche Sanktion, 2010 oder der Beitrag von Meinrad Dreher in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus recht im Finanzmarkt?, ECLE III, 2011, S. 217 (235 – 237). Das Referat für Ordnungswidrigkeiten der BaFin hat in den ersten zehn Jahren seines Bestehens insgesamt rund 4.000 Bußgeldverfahren abschließen können (zuletzt im Jahr 2012 586 Verfahren), vgl. die Nachweise bei Canzler/Hammermaier AG 2014, 57 (58 f.). Vgl. etwa §§ 59 WpÜG, 28 WpHG. Vgl. Art. 407 VO (EU) Nr. 575/2013 bzw. § 18b Abs. 6 KWG in der bis zum 31.12. 2013 gültigen Fassung. § 22 Abs. 2 BörsenG. § 22 Abs. 2 BörsenG.
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blizität⁹⁵. Hinzutreten könnten de lege ferenda eine Geschäftsleiterkontrolle bis hin zur directors disqualification⁹⁶, der Einsatz von seitens der Aufsichtsbehörden in das Unternehmen eingesetzten Untersuchungsbeauftragten⁹⁷, öffentlich-rechtlich organisierte Entschädigungsfonds oder eine kapitalmarktrechtliche Gewinnabschöpfung (z. B. bei Verstößen gegen Veröffentlichungspflichten bei Director′s Dealings oder bei Insiderhandel)⁹⁸.Werden diese Instrumente stringent eingesetzt,⁹⁹ besteht ein Bedürfnis nach einem Rückgriff auf kriminalstrafrechtliche Sanktionen nur dort, wo finanz- und kapitalmarktrechtliches Fehlverhalten nicht früh genug erkannt wurde.
a) Der Sanktionsausschuss der Börsen als institutioneller Ausgangspunkt Vorbild einer speziellen Institution mit einer derartigen früh eingreifenden Sanktionskompetenz könnte der bereits existierende Sanktionsausschuss der Börsen sein: Der Sanktionsausschuss der Börsen ist nicht etwa ein Kind entkriminalisierender Rechtsentwicklungen zum Beispiel der 1970er Jahre, sondern geht auf den seit je her bestehenden Ehrenausschuss der Börsen zurück.¹⁰⁰ Die ehrengerichtliche Radizierung des Sanktionsausschusses wird noch heute in § 22 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BörsenG deutlich. Danach können Handelsteilnehmer (auch solche im Freiverkehr)¹⁰¹ bestraft werden, wenn sie im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit „den Anspruch auf kaufmännisches Vertrauen oder die Ehre eines anderen Handelsteilnehmers“ verletzen. Die gleiche Sanktionsbefugnis besteht nach § 22 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BörsenG, wenn der Handelsteilnehmer „gegen börsenrechtliche Vorschriften
Publizität als Sanktionsform ist bislang noch wenig ausdifferenziert. Grundlegende Unterschiede bestehen dabei zwischen nur negativer und gezielt punitiver Publizität. Dazu mit rechtsvergleichenden Hinweisen Meinrad Dreher in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, ECL III, 2011, S. 217 (236). Näher zum Institut des Untersuchungsbeauftragten nach Schweizer Recht (Art. 36 FinMAG) Umbach-Spahn in: Ackermann/Wohlers (Hrsg.), Konkurs und Strafrecht, 2011, S. 179 ff. Ausführlich zur Gewinnabschöpfung als kapitalmarktrechtliche Sanktion Binninger Gewinnabschöpfung als kapitalmarktrechtliche Sanktion, Berlin, 2010. Rechtstatsächlich dominiert noch immer die Geldbuße als Sanktion, vgl. Canzler/Hammermaier AG 2014, 57 (58); zur Höhe der regelmäßig im sechsstelligen Bereich (Gesamtsumme 2012: 3,6 Mio €) liegenden Geldbußen vgl. BaFin Jahresbericht 2012, Bußgeldverfahren, S. 208 f. (abrufbar unter www.bafin.de). Näher dazu Benner in: Volk (Hrsg.), MAH Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 1. Aufl., 2006, § 22 Rn. 272 ff. Vgl. dazu VG Frankfurt vom 28.10. 2002– 9 E 551/02 (2) = NJOZ 2003, 192.
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oder Anordnungen verstößt, die eine ordnungsgemäße Durchführung des Handels an der Börse oder der Börsengeschäftsabwicklung sicherstellen sollen“. Emittenten, die selbst oder durch Hilfspersonen gegen ihre Pflichten aus der Zulassung verstoßen, können gem. § 20 Abs. 2 S. 2 BörsenG ebenfalls mit einem Ordnungsgeld bis zu 250.000 € sanktioniert werden. Der Sanktionsausschuss nach § 22 BörsenG erlaubt es der Börse, im Rahmen ihrer Selbstverwaltung durch ein eigenes Organ Handelsteilnehmern Sanktionen zur Aufrechterhaltung der börslichen Ordnung aufzuerlegen. Der Sanktionsausschuss übernimmt damit Aufgaben, die auch von der Börsenaufsicht selbst wahrgenommen werden könnten¹⁰². Die Besetzung erfolgt aus dem Kreis der Handelsteilnehmer bzw. der Emittenten. Die erhebliche rechtstatsächliche Bedeutung der Sanktionsausschüsse der Börsen ist bereits an der Zahl der Entscheidungen ablesbar.¹⁰³ Inhaltlich reichen die Verstöße von der verspäteten Vorlage von Unternehmensberichten bis zur eigennützigen und manipulativen Verletzung von Publizitätspflichten¹⁰⁴. De lege ferenda stellt sich freilich die Frage, ob die Entscheidungen der Sanktionsausschüsse in der allgemeinen Öffentlichkeit hinreichend wahrgenommen und damit hinreichend generalpräventive Wirkungen entfalten. Ein – gemeinsamer Sanktionsausschuss aller deutschen Börsen – im Sinne eines unabhängigen Gerichts gem. Art. 6 EMRK – mit moderat erweiterten Kompetenzen, – einem erweiterten Sanktionsinstrumentarium, – zur Sicherung der Sachnähe angesiedelt bei der BaFin,
Bis Mitte 2002 war etwa für die Sanktionierung der amtlich bestellten Kursmakler tatsächlich die Börsenaufsicht zuständig, vgl. Benner in: Volk (Hrsg.), MAH Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 1. Aufl., 2006, § 22 Rn. 277 Fn. 154. Der Sanktionsausschuss der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) hat etwa im Jahr 2013 16 Entscheidungen zur FWB getroffen. Die Entscheidungen sind in anonymisierte Form abrufbar auf der Internetpräsenz des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung. Beispielhaft dazu VG Frankfurt vom 28. 10. 2002– 9 E 551/02 (2) = NJOZ 2003, 192 (196): Statt es der Börsengeschäftsführung durch die Unterrichtung über die Aussetzung des Handels der Aktie an der Heimatbörse in Stockholm zu ermöglichen, den Handel mit der Aktie womöglich ebenfalls auszusetzen, hatte die Preisfeststellung dem Skontroführer ermöglicht, durch Selbsteintritt zu dem festgestellten Preis 36388 Aktien zu einem besseren Kurs zu verkaufen, als es möglich gewesen wäre, wenn er seine Unterrichtungspflicht beachtet hätte.
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– eng verknüpft mit dem dortigen spezialisierten Bußgeldreferat als Ermittlungsbehörde¹⁰⁵ und – mit der Möglichkeit einer Revision auf bundesgerichtlicher Ebene würde sicher ungleich größere Aufmerksamkeit erlangen.¹⁰⁶
b) Spezielle aufsichtliche Sanktion des „zusätzlichen Risikogewichts“ Für die Art der einem solchen Gremium möglicherweise zur Verfügung stehenden Sanktionen von geradezu paradigmatischer Bedeutung war die aufsichtliche Sanktion nach § 18b Abs. 6 KWG (i. d. F. bis zum 31. 12. 2013).¹⁰⁷ Danach konnte die Bundesanstalt das Risikogewicht einer Verbriefungsposition in angemessener Weise, aber mindestens um den Faktor 3,5 heraufsetzen, wenn ein Institut die in §§ 18 Abs. 1– 3 u. § 18a Abs. 4 geforderte Risikovorsorge in wesentlicher Hinsicht schuldhaft nicht erfüllte¹⁰⁸ Entsprechende Vorgaben sind nunmehr in Verordnung (EU) Nr. 575/2013 geregelt. Auch Art. 407 Verordnung (EU) Nr. 575/2013 erlaubt den zuständigen Behörden, denjenigen Anlegerinstituten, die ihre für Verbriefungen geltenden Sorgfaltspflichten nicht einhalten, ein „zusätzliches Risikogewicht“ aufzuerlegen. Das zusätzliche Risikogewicht wird mit jedem weiteren Verstoß gegen die bestehenden Sorgfaltsbestimmungen schrittweise angehoben (Art. 407 S. 2 VO [EU] Nr. 575/2013). Beiden Regelungen liegt folgender Gedanke zugrunde: Schuldhaft verursachte Mängel bei der Risikoanalyse und beim Risikocontrolling von Verbriefungen sollen mit einer Erhöhung des jeweiligen Risikogewichts sanktioniert werden und damit zur Anhebung der Eigenkapitalanforderungen führen. Der Grundgedanke der genannten Normen, Nachlässigkeiten im Umgang mit Risiken mit einer höheren Risikovorsorge zu sanktionieren, ließe sich ohne Weiteres zu einer kapitalmarktstrafrechtlichen Unternehmenssanktion sui generis mit besonderer Präventivwirkung verallgemeinern. Finanzmarktakteure könnten in dieser Form ganz allgemein dann sanktioniert werden, wenn sie die von ihnen eingegangenen Ri-
Zur aktuellen Tätigkeit des Bußgeldreferats der BaFin ausführlich Canzler/Hammermaier AG 2014, 57 ff.; beispielhaft zu früheren Forderungen einer Zentralisierung und Spezialisierung der Strafverfolgung Hienzsch HRRS 2006, 144 ff. Vgl. in diesem Kontext auch die Vorschläge von Wohlers in: ders. (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im schweizerischen und internationalen Wirtschaftsstrafrecht, 2007, S. 41 (60 ff.). § 18b Abs. 6 KWG ging zurück auf Art. 122a Abs. 5 EG-Kreditinstitute-RiLi (2006/48/EG) und wurde aufgehoben durch das CRD-IV-Umsetzungsgesetz (BGBl. 2013 I S. 3395, 3418). Näher dazu Gerth in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Hrsg.), KWG, 4. Aufl., 2012, § 18b KWG Rn. 18 ff. mit einer konkreten Beispielsrechnung.
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siken nicht mehr hinreichend genau übersehen oder sonstige Mängel beim Risikomanagement zutage treten. Finanzmarktakteure könnten also durch aufsichtsrechtliche Sanktionen weg von – wie manches Verhalten etwa der deutschen Landesbanken im Vorfeld der Finanzkrise schien – einem „Blindflug oder eingeschalteten Autopilot“ hin zu einer „Steuerung auf Sicht“ verpflichtet werden. Die Finanzaufsicht könnte damit bei der Gefahr neuer Krisen durch Abfrage des Risikostatus zumindest unzuverlässige Akteure unkompliziert zur Aufstockung der Risikovorsorge verpflichten. Die Sanktion würde im frühen Stadium einer Krise noch selbst zum interventionistischen Steuerungsinstrument.
c) Insbesondere die Sanktion der zivilrechtlichen Gewinnabschöpfung Eine entsprechende Sanktionskompetenz sollte überall dort ihre Grenze haben, wo Sanktionen überwiegend repressiven Charakter aufweisen. Zu diesen Sanktionen gehören etwa Geldsanktionen in Höhe eines Mehrfachen des Gewinns¹⁰⁹ und aufgrund seines speziellen Charakters auch der Verfall von unrechtmäßig erzielten Gewinnen. Unlautere Gewinne könnten in diesem (traditionellem Kriminalstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht vorgeschalteten) Konzept im Rahmen einer zivilrechtlichen Gewinnabschöpfung eingezogen werden. Eng verbunden mit einem Konzept der zivilrechtlichen Gewinnabschöpfung sind Gedanken der Wiedergutmachung und der Ausschüttung der Gewinne an Geschädigte. Entsprechende Modelle lassen sich nahezu beliebig ausgestalten.Vom Klagerecht von Verbraucher- und Geschädigtenverbänden über Ausschüttungsregelungen an Opfer von Finanz- und Kapitalmarktdelikten ist alles denkbar. Gleiches gilt für die Reichweite etwaiger Abschöpfungsmechanismen bis hin zu rein mittelbaren Gewinnen (etwa aus § 15a WpHG)¹¹⁰. Gerade hohe Gewinne und große Schäden können so zivilrechtlich – bis hin zum Tätigwerden professioneller Prozessfinanzierer – vorreguliert werden. Zivilrechtliche Formen eines punitiven Schadensersatzes würden dagegen zu weit gehen.¹¹¹ Die damit verbundene Privatisierung der Strafverfolgung steht mit dem Konzept einer vorwiegend öffentlichen Kapitalmarktgovernance und einem öffentlich-rechtlichem Sanktionsanspruch
Zu dieser Alternative bereits Eichelberger Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 139 – 141: Geldbuße bis zum maximal dreifachen Gewinn. Binninger Gewinnabschöpfung als kapitalmarktrechtliche Sanktion, 2010, S. 106 ff. Eine derartige Sanktionsform im konkreten Kontext dagegen grundsätzlich befürwortend Meinrad Dreher in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, 2011, S. 217 (236).
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nicht in Einklang. Eine zwanghafte Substitution der hoheitlichen Strafverfolgung ist gerade nicht vorgesehen.
d) Ansatz einer Systematisierung In dem Konzept einer integrierten Kapitalmarktgovernance müssten die Kompetenzen eines solchen nationalen (und ggf. eines weiteren supranationalen) Sanktionsausschusses klar abgestimmt sein mit den Regulierungskompetenzen der Aufsichtsbehörden. Insbesondere müssten die präventiven Sanktionen deutlich abgegrenzt werden von präventiven Aufsichtsmaßnahmen wie etwa dem per‐se Verbot bestimmter Handelsaktivitäten¹¹². Dazu könnte das Verbot ganz konkreter Handelsarten (z. B. der Hochfrequenzhandel oder der Handel auf der Basis mathematischer Algorithmen) ebenso gehören wie das Verbot einzelner Handelsformen (z. B. Leerverkäufe¹¹³ oder Leerverkäufe von gefährdeten Titeln). Neben die präventiv ausgerichteten Einzelsanktionen könnte in diesem System im Einzelfall ergänzend die Sanktion der punitiven Publizität treten. Punitive Publizität kann auf öffentliche Reputationssanktionen ausgerichtet sein. Dies ist aber weder zwingend notwendig, noch ist die Sanktion hierauf beschränkt. Denkbar wäre gerade in einem integrierten Governancesystem die Koppelung der punitiven Publizität an indirekte Sanktionen wie etwa dem (vorübergehenden) Entzug des für die Selbstregulierung vorgeschlagenen Status des „ethischen Finanzmarktakteurs“. Bei neuen Einzelphänomenen sollte stets in einem ersten Schritt geprüft werden, auf welcher Stufe sie in einer Weise reguliert werden können, dass die Freiheitseinbußen insgesamt am geringsten bleiben. Weiter der prinzipiellen Lösung bedürfen die diesem Konzept inne wohnenden verfahrensrechtlichen Probleme.¹¹⁴ Die enge Verknüpfung von Aufsichtsrecht und früh eingreifendem Sanktionenrecht im weiteren Sinne konfligiert grundlegend mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, der strukturellen Trennung zwischen ermittelnder und richtender Instanz und dem Verbot mehrfacher
Eichelberger Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 30. Vgl. dazu entsprechende Überlegungen im Vorfeld des 4. FMFG BT-Drs. 14/8017; vgl. auch die entsprechende Forderung bereits im AE Wirtschaftsstrafrecht in Bezug auf § 190 AE, vgl. Lampe/ Lenckner/Stree/Tiedemann/Weber Alternativentwurf eines Strafgesetzbuchs, Straftaten gegen die Wirtschaft, 1977, S. 75. Zu den hier bestehenden Konflikten auch Wolfgang Wohlers in: Ackermann/ders. (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle, 2009, S. 267 (292 ff.).
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Sanktionierung desselben Verhaltens (ne bis in idem).¹¹⁵ Die Sachlage ähnelt derjenigen im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht sowie im Kartellrecht. Sie dürfte aber insgesamt überwindbar sein.¹¹⁶ Rechtsstaatliche Einschränkungen, wie etwa im Ordnungswidrigkeitenrecht bei der Reduktion des Beweisantragsrechts,¹¹⁷ sind gerade angesichts der erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung der genannten Sanktionen nicht angemessen.
5. Stufe vier: Komplementäre kriminalstrafrechtliche Sanktionen Im Rahmen des vorgeschlagenen Konzepts einer integrierten Kapitalmarktgovernance fällt dem traditionellen, individualschützenden Kriminalstrafrecht eine nur noch komplementäre Funktion zu.¹¹⁸ Einem Großteil des devianten Verhaltens kann demnach bereits durch vorgeschaltete Maßnahmen einer wirksamen Selbstverpflichtung, prinzipienorientierten Aufsicht und nicht(kriminal)strafrechtliche Sanktionen wirksam und effektiv entgegen gewirkt werden.¹¹⁹ Dies gilt sowohl für schwerwiegende Einzelverstöße als auch für geringfügigere Massenverstöße: Gerade bei schwerwiegenden Einzelverstößen gegen die kapitalmarktrechtliche Handelnsordnung legt die Sachmaterie es nahe, dass die Tat von einem überschaubaren – und damit durch die Aufsicht kontrollierbaren – spezialisierten Täterkreis begangen wird. Potentiell massenhafte Verfehlungen mit gleichförmiger Erscheinungsform können dagegen durch den Einsatz elektronischer Überwachungsmechanismen hinreichend kontrolliert werden.
Dazu exemplarisch mit Bezug zum Schweizer Recht Wohlers in: ders. (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im Schweizer und im internationalen Wirtschaftsstrafrecht, 2007, S. 41 (53 ff.). Theoretische Lösungsvorschläge finden sich auch bei Wohlers in: Ackermann/ders. (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle, 2009, S. 267 (296 ff.). Vgl. §§ 77, 77a OWiG. Im Gegensatz zu dem hier vertretenen Ansatz definiert Wolfgang Wohlers in: Ackermann/ ders. (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle, 2009, S. 267 (291 f.) das Verhältnis des Strafrechts zum Aufsichtsrecht und zur Selbstregulierung an dem „Modell einer Zwiebel“ mit dem Strafrecht als innerem Kern. Das ist ein kategorialer Unterschied, weil Wohlers die Unterschiede in den Steuerungsmechanismen und insbesondere das Zusammenwirken von Mikro- und Makrostrafrecht damit gerade nicht beschreiben kann und in der Folge dem Strafrecht eine „Maßstabsfunktion für das Aufsichtsrecht“ (a. a. O. S. 312) abgewinnt. Ähnlich Ackermann in: ders./Wohlers (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle), 2009, S. 1 (8 ff.), der insoweit von einem Zusammenwirken von Mikro- und Makrostrafrecht ausgeht.
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Eine Ausnahme im Sinne eines Bedürfnisses nach einer kriminalstrafrechtlichen Reststeuerung¹²⁰ würde hauptsächlich in (singulären) Konstellationen bestehen, in denen sich aufgrund einer spezifischen Gefährdungslage ein wirksamer Schutz als notwendig herausstellen sollte.¹²¹ Ergänzend wirkt in diesem Zusammenhang das bestehende auf den Schutz von individuellen Rechtsgütern ausgerichtete Kriminalstrafrecht. Auch wenn dieses Strafrecht vorliegend nicht zum Ausgangspunkt sanktionenrechtlicher Steuerung genommen wurde, verstärkt es gleichwohl die Steuerungswirkungen eines überindividuell ausgerichteten Ansatzes. Aus diesem Grund ist es legitim, auch in diesem Kontext zumindest am Rande die Frage nach der Tauglichkeit des Individualstrafrechts zu stellen. Manipulative Eingriffe in die Preisbildung an der Börse im Sinne des § 20a WpHG in seiner derzeit gültigen Form sind Betrugsstraftaten im Sinne von § 263 StGB strukturell ähnlich: Der manipulative Handlung folgt eine (Kauf/Verkaufs)Order in der Weise, dass der Vermögensinhaber gemessen am theoretischen Marktpreis einen konkret bezifferbaren Verlust erleidet. Wenn solche Handlungen, wie z. B. grob unrichtige Ad-hoc-Mitteilungen mit ihren Folgen¹²², nicht vom Tatbestand des Betrugs in seiner gegenwärtigen Fassung erfasst werden, so bietet sich in der Tat eine moderate Anpassung dieser strafrechtlichen Generalklausel an Erfordernisse des ökonomischen Verkehrs in anonymisierten Massenmärkten an.¹²³ Will man den Tatbestand des § 263 StGB als solches unberührt lassen, könnte ein im WpHG normierter Spezialtatbestand eine Alternative sein. Der wesentliche Unrechtsgehalt des Tatbestands speist sich dann freilich aus dem gelockerten, aber gleichwohl expliziten vermögensstrafrechtlichen Bezug des Tatbestandes.
Vgl. dazu bereits oben III. 1. Beispielhaft hierfür ist im Fall des Wettbewerbsschutzes als Kriminalstraftatbestand neben dem allgemeinen Kartellordnungswidrigkeitenrecht § 298 StGB gerade aufgrund der spezifischen strukturellen Gefährdung der öffentlichen Hand als Kriminalstraftatbestand legitimierbar (näher dazu bereits Mansdörfer Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, Rn. 525). BGH NJW 2004, 2664, 2666 – Infomatec. Vgl. in diese Richtung für das Tatbestandsmerkmal der Täuschung BGH vom 6. 2. 2013 1 StR 263/12 = NJW 2013, 1545.
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IV. Auf dem Weg zu einem Kapitalmarktstrafrecht 4.0 Die Nachregulierung des Finanzmarktes im Zuge der Finanzkrise nähert sich ihrem Ende.¹²⁴ Im Vordergrund der gesetzgeberischen Bemühungen in Folge der Finanzkrise stand gerade bei der Bankenregulierung eine Risikoregulierung statt einer Verhaltensregulierung. Die Gefahren, die diese Regulierungsmethode mit sich bringt, liegen auf der Hand: Je konformer die Risikomanagementsysteme der Marktakteure ausgestaltet sind, um so anfälliger wird das Gesamtsystem für systemimmanente Fehlbewertungen und neu(artig)e Gefahren. Die bislang bestehenden Defizite und Brüche im Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht wurden im Rahmen der aktuellen Regelungsoffensive (etwa mit der Einrichtung einer europäischen Finanzmarktaufsicht) zwar teilweise mit der durchaus treffenden Stoßrichtung angegangen; an verschiedenen Stellen drohen sie aber weiter zementiert zu werden. Dem neutralen Beobachter präsentiert sich viel Flickwerk, dem eine klare Gesamtkonzeption abgeht und das an die Eigenheiten eines übernationalen, dynamischen und entwicklungsstarken Kapitalmarktes noch nicht angepasst ist. Das gegenwärtige Kapitalmarktstrafrecht präsentiert sich in der Folge als ein Kapitalmarktstrafrecht für Anfänger. Fortgeschrittene umgehen die Vorschriften. Profis haben sich vom Investment im klassischen Sinn längst verabschiedet und agieren im Hochfrequenzhandel oder Manipulieren ganze Leitindizes. De lege lata bröckelt angesichts der genannten Brüche im Gesamtsystem – jenseits der kriminologisch sicheren Sachverhalte des Betruges und der Untreue – sogar die Legitimationsbasis einer rechtsstaatlichen und an Gleichheitserwägungen ausgerichteten Sanktionierung und Strafbemessung von individuellem Fehlverhalten insgesamt. Nachdem die gröbsten Fehlregulierungen, die die Finanz- und Staatschuldenkrise der Jahre 2007 bis heute begünstigt haben, behoben sind, ist nunmehr eine Komplettrevision der Kapitalmarktgovernance geboten. Gemeint ist kein Kapitalmarktstrafrecht 2.0 nach der Art aktueller europäischer Vorschläge. Die vorstehenden Gedankenspiele zielen auf ein Kapitalmarktstrafrecht 4.0 mit intelligenten und flexiblen Sanktionen möglicherweise auch, aber nicht notwendig und nicht exklusiv kriminalstrafrechtlicher Natur, wie sie im geltenden Recht schon durchaus angelegt sind. In der Sache sollte dieses Recht im Sinne einer
Zu den letzten Bausteinen auf europäischer Ebene vgl. jurisNachrichten vom 29.01. 2014, Strukturreform des Bankensektors in der EU, JUNA140100272.
Finanz- und Kapitalmarktstrafrecht 4.0
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integrierten Finanzmarktgovernance komplementär zu durchaus gut implementierbaren Mechanismen der Selbstregulierung¹²⁵, des soft law und einer marktsynchronen prinzipienorientierten Aufsicht sein. Einhergehen sollte ein solches Kapitalmarktstrafrecht mit einer vertieften europäischen Union im Sinne einer echten Finanz- und Kapitalmarktunion.
Hierzu sei an dieser Stelle hingewiesen auf Damrau Selbstregulierung im Kapitalmarktrecht, Eine rechtsökonomische Analyse der deutschen Börse und ihrer Träger, 2003; Jürg-Beat Ackermann in: ders./Heine (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Schweiz, 2013, § 1 Rn. 23 ff.
Sascha Ziemann
Diskussionsbericht zum 6. ECLE Symposion „Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht“ Erster Tag Nach einer kurzen Begrüßung durch den „Hausherrn“ des Frankfurter House of Finance, Prof. Dr. Andreas Cahn (Universität Frankfurt am Main) und einer kurzen Einführung durch Prof. Dr. Klaus Lüderssen (Universität Frankfurt am Main), begann die Tagung mit zwei Vorträgen, die sich zunächst mit Begriff und Phänomen moderner Unternehmenskultur auseinandersetzten. 1. Den Anfang machte der Mannheimer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg mit seinem Vortrag „Was ist eine demokratiefreundliche Unternehmenskultur und warum brauchen wir sie?“ In der von Prof. Dr. Klaus Lüderssen moderierten Diskussion meldet sich zunächst Dr. Thomas Böckenförde (Köln) zu Wort. Er schlug ergänzend zu Graf Kielmansegg vor, zusätzlich zu Spannung und Komplexität ein drittes Charakteristikum der Symbiose zwischen Demokratie und Marktwirtschaft in den Blick zu nehmen: nämlich, dass Marktwirtschaft auf Entgrenzung angelegt sei (Stichwort: Globalisierung), während dem gegenüber Demokratie auf gewisse Entitäten, wie etwa den Staat, angewiesen sei. Zudem wies er darauf hin, dass es in neuerer Zeit durchaus das neue Phänomen gebe, dass Reformen nicht notwendigerweise nur staatlich initiiert werden könnten, sondern auch durch die Märkte angestoßen werden könnten, wie dies bei der Reform der Staatsverschuldung der Fall gewesen sei. Hieraus ergebe sich ein System wechselnder Unter- und Überordnungsverhältnisse (wenn auch nicht im Sinne eines selbstreferentiellen System a là Luhmann). Während der Hinweis auf das Charakteristikum des entgrenzenden Charakters der Marktwirtschaft volle Zustimmung bei Graf Kielmansegg fand, zeigte sich dieser gegenüber der These wechselnder Unter- und Überordnungsverhältnisse skeptisch. Nach Graf Kielmansegg dürfe diese These, und insbesondere das Beispiel der Staatsverschuldung, nicht zu dem Schluss verleiten, dass Demokratie dem Markt unterworfen sei. Auch sei, so Graf Kielmansegg, das komplexe Verhältnis weder durch Unter- und Überordnung noch durch Gleich-/Ungleichgewicht gekennzeichnet, da beides Stabilität insinuiere, während eigentlich Labilität vorliege. Richtig sei allerdings, dass sich aus historischer Sicht durchaus Entwicklungsphasen der spannungsreichen und
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komplexen Symbiose zwischen Demokratie und Marktwirtschaft unterscheiden ließen. Der Sozialstaat beispielsweise sei Zeichen einer starken Politikdominanz gewesen. Auch könne man – kontrafaktisch – sagen, dass die industrielle Revolution sich möglicherweise selbst zerstört hätte, wenn der Staat nicht eingegriffen. Auf der anderen Seite habe es immer wieder Phasen gegeben, wo der Staat sich fügen musste beziehungsweise: sich gefügt habe, da das Maß der Abhängigkeit der Politik, so Graf Kielmansegg,vor allem durch die Politik selbst bestimmt werde. Eine weitere Nachfrage von Trüg betraf die These von der Asymmetrie der Komplementärordnung zwischen Demokratie und Marktwirtschaft. Unter Hinweis auf das Beispiel Chinas, das ein Beispiel für eine asymmetrische Symbiose sei, fragte Trüg, welche Bedeutung die Asymmetrie im Konzept Graf Kielmanseggs habe oder ob nicht doch von einer Komplementarität auszugehen sei. Graf Kielmansegg verteidigte sein Konzept der Asymmetrie, räumte aber ein, dass Marktwirtschaft wohl eine einigermaßen gesicherte Rechtsordnung brauche, wenn auch offen bleibe, ob Marktwirtschaft auch Demokratie brauche. Die akteurszentrierte Perspektive Graf Kielmanseggs thematisierend, machte RA Dr. Gerhard Wächter (Berlin) in seinem Wortbeitrag geltend, dass in etlichen Bereichen nicht die Marktakteure agieren, sondern eigentlich der Staat der Akteur sei, der in das Marktgeschehen eingreife und das System in eine „Inbalance“ bringe. Beispiele hierfür seien die Abkehr vom Goldstandard, das Drucken von Geld und Staatsverschuldung. Graf Kielmansegg stimmte zu, dass auch der Staat Akteur sein könne, betonte aber, dass er in seinem Referat bewusst die Perspektive der Marktakteure eingenommen habe, um deren Beiträge zum Gelingen der Symbiose von Symbiose zwischen Demokratie und Marktwirtschaft zu analysieren. Prof. Dr. Cornelius Prittwitz (Universität Frankfurt am Main) erkundigte sich nach dem Fazit der Analyse und der Antwort auf die im Titel gestellte Frage. Seinem Eindruck nach habe Graf Kielmansegg eine eher pessimistische Einstellung zum erfolgreichen Gelingen der Symbiose zwischen Demokratie und Marktwirtschaft. Graf Kielmansegg bestätigte die Vermutung von Prittwitz: nach Ansicht von Graf Kielmansegg sei das Gelingen der Symbiose zwischen Demokratie und Marktwirtschaft nicht überwiegend wahrscheinlich. So lassen sich vielfache historische Belege für die Vorstellung innerhalb der Vertreter der Marktwirtschaft finden, die sagen, dass sie die Demokratie nicht bräuchten. Allerdings habe es in der Geschichte auch lange Phasen des Gelingens der Symbiose gegeben. Diese uneinheitliche Bild mache die Frage schwieriger als man gemeinhin denke. 2. Einen Blick auf und aus der Praxis bot das Referat „Digitalisierung und Unternehmenskultur“ von Dr. Clemens Trautmann, Geschäftsführer der Immonet
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GmbH (Hamburg). Die Diskussion beschäftigte sich vor allem mit den Verbindungslinien zwischen Strafrecht und digitaler Unternehmenskultur. So fragte RA Thomas Richter (Frankfurt am Main), in welchem Maße die als „Gegenmodell“ zur etablierten Organisationen dargestellte digitale Unternehmenskultur auch auf dem Gebiet des Strafrechts ein womöglich kollektivistisches Gegenmodell zum herkömmlichen Modell individueller Verantwortlichkeit bilde. Trautmann betont, dass trotz vereinzelter Neuerungen der digitalen Unternehmenskultur diese sich gleichwohl der Gefahren bewusst seien, wie sie beispielweise in gruppendynamischen Prozessen entstehen können (Stichwort: „group think“). Was das Strafrecht und insbesondere Unternehmensstrafrecht anbelange, warne er vor Experimenten, worin sich ein Unterschied zur digitalen Unternehmenskultur zeige, bei der Risikobereitschaft und Experimentierfreudigkeit zur kulturellen Disposition gehörten. 3. Mit den beiden, dem Trennbankengesetz gewidmeten Vorträgen der Nachmittagssektion begann die wirtschaftsstrafrechtliche Abteilung des Tagungsthemas. Den Beginn machte Dr. Mathias Otto, Syndikus bei der Deutschen Bank, mit einem Referat, das sich vor allem mit den aufsichtsrechtlichen Grundlagen des Trennbankengesetzes beschäftigte. Erste Fragen aus dem Plenum (Moderation: RA Eberhard Kempf [Frankfurt am Main]) galten der aufsichtsrechtlichen Praxis der BaFin. So fragte beispielsweise Kempf nach der Ablauf und Intensität der behördlichen Aufsicht. Otto führte hierzu aus, dass sich die Aufsichtsintensität seit der Finanzkrise, auch aufgrund politischen Drucks auf die Aufsichtsbehörden, stark geändert habe. Die BaFin habe ein fast schrankenloses Auskunftsrecht gegenüber den ihr unterworfenen Unternehmen. Neben formlosen Anfragen gebe es schriftliche Anfragen, die bei Bedarf auch direkt an den Vorstand oder einzelne Vorstandsmitglieder, zuweilen auch zugleich an Vorstand und Aufsichtsrat verschickt würden. Neben Auskunftsersuchen gebe es außerdem Sonderprüfungen, die durch die geprüfte Bank oder durch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften durchgeführt würden. Für kleine Wirtschaftsprüfungsgesellschaften seien solche Sonderprüfungen zu einem neuen Geschäftsfeld geworden, insofern die Prüfkosten von der Bundesbank übernommen würden. Ihre Zahl habe seit der Krise zugenommen, was aber gleichermaßen auch für interne Prüfungen gelte. In den Bericht kämen dabei allein die Monita, getreu des Satzes „Nicht gemeckert ist genug gelobt“. Weiteres Thema der Diskussion waren Aufsichtsmaßnahmen. RA Thomas Richter (Frankfurt am Main) berichtete dem Plenum von einem praktischen Erlebnis über neue Aufsichtsmittel. So habe einmal die BaFin zur Information über eine Gesetzesänderung Unterlagen verschickt, die, wie im Fußball, mit Illustrationen gelber und roter Karten versehen gewesen sei.
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Dr. Thomas Böckenförde (Köln) sah sich in seinem kritischen Befund bestätigt, dass es wenig Rechtsakte der BaFin gebe, die rechtlich angreifbar seien, und diese darüber hinaus für Fehler nicht abgestraft werde, was ein Haftungsprivileg sei. Es sei daher zu überlegen, wie man in diesem Bereich sowohl die Streitkultur als auch die gerichtliche Kontrolle verbessern könne. Der Referent bestätigte diese kritische Einschätzung. Es gebe in der Tat immense Ermessensspielräume, die die Justiziabilität von Entscheidungen der BaFin einschränkten. Auch gebe es vertrauliche Angelegenheiten, bei denen seitens der BaFin keine Bereitschaft bestehe, diese in einem öffentlichen Verfahren auszufechten. Ein notorisches Problem stellten zudem Sonderprüfungen dar, bei denen kein rechtliches Gehör gewährt würde. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum KWG beschäftige sich eigentlich nur zwei Schwerpunkten: mit der Erlaubnispflicht und mit der Abberufung der Geschäftsleiter. Zu § 25a KWG gebe es so wie keine Rechtsprechung, auch nicht zur Kapitalaufbringung. Man könne daher sagen, dass die Aufsichtstätigkeiten eigentlich „justizfreie Räume“ seien. Und dies, obwohl es durchaus Kooperation gibt und auch Eskalation, etwa bei Gesprächen über die Auslegung einer Norm, was, so Otto, ein Hebel sei, der alle Anordnungsbefugnisse übersteige. Ausgehend von der durch den Referenten berichteten Nichtdelegierbarkeit der in § 25c KWG geregelten Organisationspflichten für Geschäftsleiter erkundigte sich RA Dr. Eckart Sünner (Mannheim) nach den Konsequenzen für den Aufsichtsrat. Otto bestätigt, dass die gesetzlichen Neuerungen auch den Aufsichtsrat ins Visier nehmen und der BaFin eine Kompetenz zur Überprüfung der Einhaltung dieser Vorgaben zusprechen. RA Andreas Wattenberg (Berlin) erkundigte sich nach den Hintergründen der Neuerungen, ob es etwa Defizite gegeben habe und ob eine Evaluation der bisherigen Regularien gegeben habe. Otto berichtete, dass es seiner Kenntnis nach keine Evaluation gegeben habe und die Neuerungen im Wesentlichen dem CRD IVUmsetzungsgesetz zu verdanken sein, das seinerseits europäisches Recht umsetze. 4. RA Prof. Dr. Rainer Hamm (Frankfurt am Main) widmete sich in seinem Vortrag im Schwerpunkt den neuen Straftatbeständen des Trennbankengesetzes. Große Kritik zur These kam zunächst von Vors. Richter am BGH Prof. Dr. Thomas Fischer (Karlsruhe). Fischter warnte zunächst vor einem zu großen Jubel über den Fund eines vermeintlichen verfassungswidrigen Falles. Zwar würden 60 % der einschlägigen Dissertationen zum Ergebnis kämen, dass die Norm verfassungswidrig sei, doch werde das Bundesverfassungsgericht dies in aller Voraussicht nicht so sehen und einen Weg über die verfassungskonforme Auslegung der Norm suchen. Was § 54a Abs. 2 KWG anbelange, so sieht Fischer keinen Ansatzpunkt für eine
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mögliche Unbestimmtheit. Das Merkmal des Verstoßes gegen eine vollziehbare Anordnung sei gerade eine Konkretisierung, und zusätzlich enthielten in der Regel auch die Anordnungen der BaFin weitere inhaltliche Konkretisierungen. Was die vom Referenten kritisierte Legaldefinition der Bestandsgefährdung angehe, so sieht hier Fischer keinen Verstoß gegen den in dubio pro reo-Grundsatz. Ähnlich können man auch im StGB finden, etwa in § 69 oder § 316 StGB. Letzten Endes stellten die Ausführungen Indizien dar, die im Einzelfall widerlegt werden könnten. Die Gesamtkonstruktion erinnere, so Fischer weiter, stark an § 145c StGB, womit man es im Grunde mit normalem verwaltungsakzessorischen Strafrecht zu tun habe. Was die Sinnhaftigkeit der Norm angehe, so müsse man sich zunächst fragen, wem man den Primat zur Lösung des Problems zuspreche: dem Markt oder der Politik. Laute die Antwort Politik, so sei ein Gesetz eine sinnvolle Lösung. Dieses sei weder verfassungswidrig noch enthalte es sinnlose Prüfungen. Gerade die jüngste Vergangenheit zeige, dass immer wieder Bestandsgefährdungen passierten, deren Kosten dann von zwei Generationen abbezahlt werden müssten. Gegenüber den von Fischer angeführten Beispielen aus dem StGB machte Hamm geltend, dass auch frühere Sünden des Gesetzgebers Sünden blieben. Auch seien Beweisregeln nicht gleichzusetzen mit Vermutungen. RA Dr. Heiko Ahlbrecht (Düsseldorf) kritisierte die Qualität des Gesetzeswerks als miserabel. Die Bestimmtheit rangiere noch unter Blanketttatbeständen wie etwa § 34 AWG oder § 370 AO. OStA Dr. Hans Richter (Stuttgart) bemerkte dazu, dass eigentlich allein die Staatsanwaltschaft Grund zur Beschwerde habe, da auf sie schwere Arbeit zukomme. Was den Bestimmtheitsgrundsatz anbelange, so sei dieser vor allem darauf angelegt, einen Normappell für potentielle Täter zu stützen. Dieses Ziel könne nun aber möglicherweise gerade durch die Verweistechnik sinnvoll umgesetzt werden. Daneben bestehe gleichwohl das Demokratieproblem, insofern der Gesetzgeber anderen Akteuren die Regelung überlasse. Trautmann erinnerte daran, dass man auch vorläufige vollziehbare Anordnungen kenne. Auch lasse, was die Regelungstechnik anbelangt, eine Parallele zu § 113 StGB ziehen, der in seinem Absatz 4 die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung als objektive Bedingung der Strafbarkeit enthalte. Hamm entgegen dem, dass zentrale Unterscheidung die Unterscheidung zwischen Vollziehbarkeit und Bestandkräftigkeit sei. Im vorliegenden Fall spreche der Wortlaut wohl dafür, dass Vollziehbarkeit gemeint sei, womit es sich letzten Endes doch um Verwaltungsungehorsam gehe. Kempf stimmte zunächst Fischer zu, wonach der Straftatbestand nicht auf einem bloßen Pflichtverstoß beruhe, sondern auf einem Verstoß gegen eine Anordnung, die ihrerseits verwaltungsrechtlich, nicht strafrechtlich bestimmt sein müsse. Gegenüber dem von Trautmann angesprochenen § 113 StGB bemerkte
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Kempf, dass dort eine Strafbarkeit bei ungenauer Anordnung nach allgemeiner Meinung scheitere. Ansonsten erschien Kempf die Anknüpfung der Norm an die Nichteinhaltung von Pflichten für nachvollziehbar, worauf Hamm erwiderte, dass man auch Pflichten verletzen könne, ohne das es zu einer Bestandsgefährdung komme. Auch Bittmann stimmte Fischers Lesart von § 54a KWG zu. Entgegen Hamm seien allein die Voraussetzungen des Abs. 3 maßgeblich und nicht des Abs. 1. Entscheidend seien damit der Verstoß gegen die Anordnung und die Bestandsgefährdung. Mit dieser Lesart sei, so Bittmann, kein Bestimmtheitsproblem verbunden. Nach Ansicht Ottos habe der Gesetzgeber mit der Anordnung des Abs. 3 eine vollziehbare Anordnung gemeint. Hierdurch ergäbe sich auch ein Bezug zu § 49 KWG, der die sofortige Vollziehbarkeit von Anordnungen der BaFin regele. Der Bereich der Strafbarkeit beginne damit dann, wenn eine Anordnung der BaFin nicht befolgt werde. Offen bleibe allerdings, ob diese Anordnung rechtmäßig sein müsse. Eine gerichtliche Überprüfung hiervon sei über ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu erreichen, dessen Dauer zwischen sechs und 9 Monaten liege. RA Dr. Andre-M. Szesny (Düsseldorf) stellte einen Vergleich zur Regelung der Marktmanipulationen an. Es sei ein Glück, dass sich, anders als dort, bei § 54a KWG die ausfüllenden Normen im gleichen Gesetz befänden. Prof. Dr. Jürgen Taschke (Frankfurt am Main) bezeichnete die Regelung als handwerklich schlecht. Es ergäben sich mehrere offene Fragen, zu denen man Stellung beziehen müsste: etwa, ob man ein Gesetz wolle, das über europäische Vorgaben hinausgehe, oder ob man mit Mitteln des Strafrechts Bankenzusammenbrüche sanktionieren möchte. Die Weite der Voraussetzungen des Tatbestandes könne man im Übrigen auch positiv sehen, in dem Sinne, dass viele Voraussetzungen zugleich hohe Hürden für eine strafrechtliche Verurteilung enthalten könnten. Taschke wagte schließlich die Prognose, dass das Gesetz nicht angewendet werden würde. Und zwar nicht, weil es nicht funktioniere, sondern, weil es funktioniere. Wenn nämlich von der BaFin eine vollziehbare Anordnung komme, würde der Berater natürlich empfehlen, die Anordnung zu befolgen. Anderenfalls nämlich könnten ernste Nachteile drohen: der Geschäftsleiter könnte abberufen werden, mit seinem Vermögen persönlich in Haftung genommen werden oder es könnte auch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Untreue geben, insofern die Anordnung der BaFin Pflichten des Geschäftsleiters konkretisiert. Böckenförde hob hervor, dass aus seiner Sicht die Verwaltungsakzessorietät das Grundproblem bleibe. Diese verbinde zwei entgegengesetzte Vorstellungen von Bestimmtheit: während das Verwaltungsrecht auf Unbestimmtheit angelegt sei, sei das Strafrecht auf Bestimmtheit angelegt. Um diesem Widerspruch zu
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entgehen, brauche es neue Wege, wie sie etwa beispielsweise das Kartellrecht eröffnen könne. Auch RA Prof. Dr. Franz Salditt (Neuwied) zog eine Parallele zum Tatbestand der Baugefährdung nach § 319 StGB, der eine Pflichtverletzung voraussetze, die geeignet sei, eine Gefährdung herbeizuführen. Die Gefährdung sei hier als objektive Bedingung der Strafbarkeit geregelt. Wenn schon eine Baugefährdung strafbar sei, könne man angesichts der Krise eigentlich nicht bezweifeln, dass es Bedarf für eine entsprechende Norm gebe. Prittwitz äußerte sich skeptisch gegenüber der neuen Regelung. Die vom Referenten und vielen Stimmen im Plenum bemängelte handwerkliche Qualität des Gesetzes sei kein gutes Zeugnis und belege, dass es kein gutes Strafrecht sei. Dieses negative Urteil gelte, so Prittwitz weiter, unbeschadet davon, dass es nicht sehr wahrscheinlich sei, dass das Bundesverfassungsgericht das Gesetz wegen Unbestimmtheit aufhebe. Aus kriminalpolitischer Perspektive sei das Gesetz zudem symbolisches Strafrecht in einem schlechten Sinne, da der Gesetzgeber sich auf Aufstellung einer unübersehbaren Zahl von Pflichten verlasse, die zu einem nicht vorhersehbaren Strafrecht führten. Die Einrichtung verschiedener Staustufen im Übrigen gerade eine Schwäche, da man aus dem Blickwinkel der Strafwürdigkeit weniger den Verstoß gegen eine Anordnung als vielmehr die Bestandsgefährdung als strafwürdig ansehen müsste. Fischer stimmte Prittwitz in dessen kriminalpolitischer Analyse zu, führte aber dem gegenüber die vermeintlich schlechte Qualität nicht auf die Vielzahl der Pflichten zurück, sondern auf ein Anwendungsdefizit, insofern es seiner Ansicht nach niemals zur Bestrafung eines Vorstands führen. Eine neue Lesart vertrat schließlich RA Prof. Dr. Werner Beulke (Passau), der § 54a Abs. 3 KWG als Ausnahmeregelung und damit als Einschränkung der Strafbarkeit interpretierte. Nach dieser Lesart könne, entgegen Fischers Einschätzung, durchaus die Gefahr entstehen, dass ein Banker bestraft werde.
Zweiter Tag 1. Der zweite Tag führte wirtschaftsstrafrechtliche Perspektive fort und eröffnete mit einem Referat von RA PD Dr. Gerson Trüg (Freiburg i.Br.) zum Insiderstrafrecht. Thomas Richter zeigte sich zunächst froh darüber, dass der Referent nicht in die Diskussion der 1980er Jahre zurückgefallen sei, wo man sich gegen Steuerung der Kapitalmärkte ausgesprochen hätte. Gleichwohl sei er erstaunt, dass Trüg einerseits die Bedeutung der Kapitalmärkte betone und andererseits nur für ein Ordnungswidrigkeitenrecht eintrete – und das auch nur bei Marktmanipulationen und nicht bei Insiderhandel. Österreich gehe dem gegenüber genau den umge-
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kehrten Weg, insofern Marktmanipulationen als Ordnungswidrigkeiten und Insiderhandel als Straftat betrachte. In Frage stehe des Weiteren die Beweisbarkeit der Vorgänge. Prof. Dr. Matthias Jahn (Universität Frankfurt am Main) bescheinigte der von Trüg vorgebrachten wenig Neuerungen. Gegenüber dem Denken in Kategorien von ultima ratio und Verhältnismäßigkeit entspreche zwar der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion, sei aber rechtspolitisch nicht anschlussfähig, da harte Kriterien fehlen würden und am Ende auf eine rechtspolitische Dezision hinausliefen. Prof. Dr. Marco Mansdörfer (Universität Saarbrücken) stimmte Trüg in seiner Kritik zu. Die Politik der europäischen Kommission (und neuerdings auch NRW, Stichwort; Unternehmensstrafrecht) verfolge ein Konzept des „Strafrechtsimperialismus“, bei dem es nicht mehr um den Schutz von Rechtsgütern gehe, sondern um die Durchsetzung von Ordnungen. Auch sei zu fragen, warum es immer Strafrecht sein müsse. Müsse man sich nicht fragen, ob auch eine Steuerung durch Zivilrecht oder Verwaltungsrecht in Betracht komme. Trüg zeigte in seiner Antwort Sympathien für die Suche nach Alternativen zum Strafrecht und insbesondere Vorstellungen eines Interventionsrechts. Gleichwohl sprach es sich weiterhin für ein repressives Schutzkonzept aus, wenngleich dies nicht zwingend mit Strafe verbunden sein müsse. RA Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Volk (Universität München) macht geltend, dass die Funktionstüchtigkeit des Insiderstrafrechts nicht durch Insider gefährdet werde, sondern durch die Kapitalmärkte selbst. Ein Grund hierfür ist, dass das Insiderstrafrecht nur noch einen kleinen Teil der Geschäfte erreiche. So würden nur noch 50 % der Geschäfte über ### XETRA laufen und die Geschäfte sich mehr und mehr in Bereiche verlagern, die für die BaFin nicht erreichbar seien, etwa in sog. „dark pools“. Kempf pflichtete Volk mit dem Zwischenruf bei: „Die Großen weichen aus, die Kleinen sind die Dummen.“ Dr. Detlev Rahmsdorf (Frankfurt am Main) nahm Bezug auf einige im Plenum angesprochen Einzelprobleme. Beim „.front running“ müsse auf jeden Fall die persönliche Bereicherung verhindert werden. „Dark pools“ käme zwar eine gewisse Rationalität zu, indem über sie getätigt größere Finanzverschiebungen keine Kursschwankungen auslösten, doch würde damit zugleich die Funktionstüchtigkeit des Marktes unterlaufen. Szesny vertrat die Ansicht, dass das Insiderstrafrecht nicht dem entspreche, was auf dem Markt passiere. So seien würden Handelsplätze mittlerweile selbst als Marktteilnehmer auftreten, wodurch etwaige Informationsasymmetrien dort nicht mehr durch Insiderstrafrecht fassbar seien.
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2. Der Vortrag von Prof. Dr. Klaus Günther (CO-Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Universität Frankfurt am Main) beschloss die Tagung mit Ausführungen zur Bedeutung des Insiders als literarisches Narrativ am Beispiel der Komödie „Ein idealer Gatte“ von Oscar Wilde. RA Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Volk (Universität München) bemerkte zunächst, dass das eigentliche Problem des geschilderten Falles doch das sei, dass der verräterische Brief von Robert Chiltern aufbewahrt worden sei, was der Erfahrungsregel „Brief ist Gift“ widerspreche. Lüderssen zeigte sich in seiner Wortmeldung skeptisch gegenüber einer Abgrenzung im Ethischen. Auch wenn der Unterschied zwischen Recht und Moral möglicherweise kein qualitativer Unterschied sei, würde er doch gebraucht. Kern der rechtlichen Zurechnung sei die Orientierung an den Folgen. Nur durch seine strafrechtlichen Rechtsfolgen, die Strafe, erweise das Strafrecht als etwas Besonderes gegenüber den Rechtsfolgen anderer Rechtsgebiete. Ausgangspunkt sei die Überzeugung, dass durch Strafe etwa bei dem Täter passieren soll. Als einzig begründetes präventives Ziel komme hier nur noch die Resozialisierung in Frage. Das häufig erhobene Argument der Dunkelziffer besage gar nichts, da man verschiedenes daraus folgern könne: bei der Abtreibung hätten die einen aus der Dunkelziffer gefolgert, dass man nichts machen solle, während andere im Gegenteil gesagt hätten, dass man etwas machen solle. Für die juristische Zurechnung bedeutet dies, so Lüderssen weiter, dass sie sich an den Rechtsfolgen zu orientieren habe. Dies hätten schon Exner und Radbruch gefordert. Dies ernst genommen, würde verlangen, dass auch im Urteil alles steht, was für die Rechtsfolgen nötig sei, also alles enthalte, was für die Resozialisierung nötig sei. Für die Frage für und wider Insiderstrafrecht kann dann die präventionsorientierte Zurechnung gute Gründe gegen eine Strafbarkeit liefern, da es eine Antwort auf die Frage brauche: Wer solle eingesperrt werden? Wer brauche Resozialisierung? Anknüpfend an Lüderssen gab es im Folgenden Überlegungen zur besonderen Qualität des strafrechtlichen Rechtsfolgenausspruchs. Hans Richter fand das Besondere in dem Ernst des Vorwurfs, das mit dem strafrechtlichen Urteil und dem in ihm ausgesprochenen ethischen Unwerturteil verbunden sei. Hieran schloss Kempf mit der an das Plenum gerichteten Frage an, ob und unter welchen Voraussetzungen ein ethischen Unwerturteil möglicherweise im Laufe eines öffentlichen Strafverfahrens korrigiert werden könne. Er selbst sei in dieser Hinsicht eher skeptisch, da seiner Erfahrung nach immer ein Rest an Unwerturteil hängen bleibe. Volk warf dem gegenüber ein, dass es heutzutage viele Fälle gebe, in denen, wie etwa bei der Verfahrenseinstellung, kein Unwerturteil gesprochen werde. Kempf hielt dem entgegen, dass gerade die Verfahrenseinstellung gegen Geldauflage, obwohl sie auch nach den Maßstäben des EGMR keine Strafe sei, doch in
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der öffentlichen Wahrnehmung die Tendenz zeige, zumindest in Resten als Unwerturteil bestehen zu bleiben. Weitere Fragen galten den Narrativen und ihren Verbindungslinien zum Recht. Prof. Dr. Matthias Jahn (Universität Frankfurt am Main) interessierte sich zunächst für die produktiven Verbindungen zwischen Literatur und Recht und insbesondere für das Strafrecht. Kurz: Was könne man aus Literatur oder Film (Stichwort: Wallstreet) lernen? Direkt angesprochen, machte Günther deutlich, dass die Einbeziehung literarischer Stoff helfen könne, alternative Handlungsabläufe zu modellieren und auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. So lasse sich für den vorgestellte Text von Wilde fragen, ob eine Läuterung wirklich nur unter Drohung durch Strafe möglich sei oder nicht auch aus anderen Gründen wie etwa der Gefahr eines Ansehensverlusts. Konkrete strafrechtlicher Nutzen könne die Etablierung eines neuartigen, auf Reputationsverlust aufbauenden Präventionssystems sein (Stichwort: „blaming and shaming“). Allerdings sei er nicht sicher, ob dies funktionieren könne. So bestätigte Volk die Bedeutung von Narrativen an einem anderen Beispiel: so hätten etwa Zeugenaussagen im Strafprozess eine narrative Struktur. Man sei gewillt eher gewillt zu, der Aussage Glauben zu schenken, wenn die „story“ stimme. Ein weiterer Anwendungsfall für Narrative seien zudem die Absprachen. Den Hinweis von Volk zu den Absprachen als Anwendungsfall für Narrativen aufnehmend, betonte Lüderssen, dass Absprachen, aller Kritik zum Trotz, Teil unserer Welt seien. Hamm ergänzte dies durch die Bemerkung, dass es neben Deal, § 153a StPO zusätzliche eine „Sanktion durch Verfahren“ gebe. In der Praxis gelte durchaus der Satz, dass ein Jahr Hauptverhandlung schlimmer sei als eine Bewährungsstrafe. RA Dr. Stefan Kirsch (Frankfurt am Main) stimmte Günther zu, dass es eine spannende Frage sei, ob das Recht idealisiere oder nur durchschnittliche Erwartungen schütze. Hieraus ergebe sich aber die Frage, wie sich diese Erkenntnis praktisch umsetzen lasse, etwa bei der Frage, welche durchschnittlichen Erwartungen man bei einer vorsätzlichen Tötung oder, vielleicht leichter, bei einer fahrlässigen Tötung, schütze. Günther antwortete, dass das Strafrecht idealisiertes Verhalten schütze, wobei aber zu fragen sei, ob sich dies auch bei großen Verhaltensverstößen durchhalten lasse.
Teilnehmerliste 6. ECLE Symposium 22./23. 11. 2013 Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht Agresti, Dr. Anna Ahlbrecht, RA Dr. Heiko
ECB, Frankfurt a. M. Wessing & Partner, Düsseldorf
Bernsmann, Professor Dr. Klaus Beukelmann, Rechtsanwalt Dr. Stephan Bittmann, Leit. OStA Folker Böckenförde, Dr. Thomas Busch-Gervasoni, OStA Ulrich
Universität Bochum Lohberger & Leipold, München Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau, Dessau-Roßlau Köln Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a. M.
Dannenfeldt, RAin Eva Deiters, Professor Dr. Mark Doll, RA Peter Dörr, RA Dr. Felix Durth, RA Dr. Hanno
Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte, Frankfurt a. M. Universität Münster Clausen, Doll & Partner Rechtsanwälte, Nürnberg Dr. Günter Dörr & Partner GbR, Rechtsanwälte, Frankfurt/Main kipper+durth Rechtsanwälte, Darmstadt
Fischer, Professor Dr. Thomas Fischer, RA Dr. Jürgen Franzmann-Haag, RAin Sybille B.
Bundesgerichtshof, Baden-Baden Fischer & Euler, Frankfurt/Main Kanzlei Franzmann-Haag, Oberursel
Galen, RAin Dr. Margarete Gräfin v. Gercke, RA Dr. Björn Gielok, Dr. Lara Giese, Holger Gillmeister, RA/Prof. Dr. Ferdinand Greeve, RAin Dr. Gina Günther, Professor Dr. Klaus
GMBS Rechtsanwälte, Berlin Kanzlei Gercke & Wollschläger, Köln Klinkert Zindel Partner, Frankfurt Deutsche Postbank AG, Bonn Gillmeister Rode Rechtsanwälte, Freiburg MGR, Frankfurt/Main Offenbach
Hamm, RA Professor Dr. Rainer Hart-Hoenig, RA Dr. Kai Henneberg, Julius Herrschaft, Rain Bea Hild, RA Eckart C. Hugger, RA Dr. Heiner Hugger, Günter
HammPartner Rechtsanwälte, Frankfurt a. M. Dr. Kai Hart-Hönig Rechtsanwälte, Wiesbaden Frankfurt/Main HammPartner Rechtsanwälte, Frankfurt Kanzlei Eckart C. Hild, Frankfurt a. M. Clifford Chance, Frankfurt a. M. Commerzbank AG, Frankfurt a. M.
Ignor, Professor Dr. Dr. Alexander
Ignor & Partner GbR, Berlin
Jahn, Professor Dr. Matthias
Goethe-Universität Frankfurt a. M.
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Teilnehmerliste 6. ECLE Symposium 22./23. 11. 2013
Kappel, Dr. Jan Kayßer, RAin Dr. Marijon Keller, RA Alexander Kelnhofer, RAin Dr. Evelyn Kempf, Eberhard Kielmansegg, Professor Dr. Peter Graf Kienle, Dr. Christopher Kirsch, RA Dr. Stefan Köberer, RA Dr. Wolfgang Koppenhöfer, Vors. Richterin am LG a.D. Brigitte Krehl, Professor Dr. Christoph Kulenkampff, RA Christoph
AGS Legal Acker Görling Schmalz, Frankfurt a. M. Klinkert Zindel Partner, Frankfurt a. M. Keller Rechtsanwälte, Heidelberg Keller Rechtsanwälte, Heidelberg Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte, Frankfurt a. M. Universität Mannheim Commerzbank AG, Frankfurt a. M. HammPartner Rechtsanwälte, Frankfurt/Main HammPartner Rechtsanwälte, Frankfurt/Main Uni Witten / Herdecke
Lassak, Edith Maria Leipold, RA Dr. Klaus Leitner, RA Dr. Werner Lüderssen, Professor Dr. Klaus
Wolters Kluwer Deutschland GmbH, Köln Lohrberger & Leipold, München München Universität Frankfurt
Mansdörfer, Professor Dr. Marco Marsch-Barner, RA/Professor Dr. Reinhard Michalke, RAin Dr. Regina Müssig, Priv.-Doz. Dr. Bernd
Universität des Saarlandes Linklaters LLP, Frankfurt a. M.
Nolde, RAin Malaika Norouzi, RA Dr. Ali B. Nuzinger, Dr. Thomas
Kanzlei Verjans Böttger Bernd, Düsseldorf Widmaier Norouzi, Berlin psn Rechtsanwälte, Mannheim
Otto, Dr. Mathias
Deutsche Bank AG, Frankfurt a. M.
Park, RA/Prof. Dr. Tido Pasewaldt, Dr. David Peltzer, RA Dr. Martin Petermann, Dr. Stefan Poepping, Melanie Prittwitz, Professor Dr. Cornelius
PARK Wirtschaftsrecht, Dortmund Clifford Chance, Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. Eisenmann Wahlke Birk & Weidner, Stuttgart Deutsche Bank AG, Frankfurt a. M. Alzenau
Rahmsdorf, Dr. Detlev Reiss, Dr. Roman Richter, OStA Dr. Hans Richter, Edeltraud Richter, RA Thomas Rumpf, RA Alexander
Deutsche Bank AG, Frankfurt a. M. Robert Bosch GmbH, Gerlingen Staatsanwaltschaft Stuttgart Großbettlingen Hamm & Partner, Frankfurt a. M. Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte, Frankfurt a. M.
Saffenreuther, Rechtsanwalt Klaus Salditt, RA/Prof. Dr. Franz
Linklaters LLP, Frankfurt a. M. Neuwied
Karlsruhe JKW Integrity Services GbR, Frankfurt/Main
HammPartner Rechtsanwälte, Frankfurt/Main Redeker Sellner Dahs & Widmaier, Bonn
Teilnehmerliste 6. ECLE Symposium 22./23. 11. 2013
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Sander, Camill Carl F. Schilling, RAin Dr. Hellen Schlösser, RA Dr. Jan Schmitt-Leonardy, Dr. Charlotte Schmitz, Professor Dr. Roland Scholderer, RA Dr. Frank Sedlak, Benedikt Steinberg, Professor Dr. Georg Sünner, Dr. Eckart Szesny, Dr. André-M.
White & Case LLP, Berlin Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte, Frankfurt a. M. Nagel Schlösser Rechtsanwälte Universität Trier Universität Osnabrück Clifford Chance, Frankfurt a. M. Commerzbank AG, Frankfurt a. M. EBS Law School, Wiesbaden Allen&Overy LLP, Mannheim Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf
Taschke, Professor Dr. Jürgen Theile, Professor Dr. Hans Trautmann, Dr. Clemens Trüg, RA PD Dr. Gerson
DLA Piper UK LLP, Frankfurt a. M. Universität Konstanz Immonet GmbH, Hamburg Bender Harrer Krevet, Freiburg
Volhard, RA Dr. Rüdiger Volk, Professor Dr. Klaus
Clifford Chance, Frankfurt a. M. Universität München
Wächter, Dr. Gerhard Wattenberg, RA Andreas
Wächter Rechtsanwälte, Berlin kpw Rechtsanwälte, Berlin
Ziemann, Dr. Sascha
Goethe-Universität Frankfurt a. M.