Unternehmensführung: State of the art und Entwicklungsperspektiven 9783486715712, 9783486706239

Ökonomische, rechtliche, sozio-strukturelle und technologische Veränderungsprozesse bzw. Dynamiken haben die Zielvorstel

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German Pages 535 [536] Year 2012

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Unternehmensführung: State of the art und Entwicklungsperspektiven
 9783486715712, 9783486706239

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Unternehmensführung State of the art und Entwicklungsperspektiven

von

MMag. Dr. Katharina Anna Kaltenbrunner Univ. Prof. Mag. Dr. Sabine Urnik

Oldenbourg Verlag München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Thomas Ammon Herstellung: Constanze Müller Titelbild: Andreas Pongruber Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik & Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-70623-9 eISBN 978-3-486-71571-2

Vorwort Ökonomische, rechtliche, sozio-strukturelle und technologische Veränderungsprozesse bzw. Dynamiken haben die Zielvorstellungen und damit die Ausgestaltungsformen der Unternehmensführung neu akzentuiert. Innovationen, Talenteförderung, Ethik- bzw. Werteorientierung, Interkulturalität, Steueroptimierung etc. – um nur einige wenige Aspekte zu nennen – stellen zentrale Herausforderungen für die Unternehmenswelt dar, die im Rahmen der Unternehmensführung einer qualitätsvollen Auseinandersetzung bedürfen. Mit dem Titel „Unternehmensführung – State of the art und Entwicklungsperspektiven“ werden diese Entwicklungen aufgegriffen und in einer Festschrift für Richard Hammer sowohl aus praktischer als auch wissenschaftlicher Sicht aufgearbeitet. Dabei sind die Hintergründe, Wirkungsbeziehungen und zeitaktuellen Instrumentarien der Unternehmensführung zu beleuchten sowie Handlungsbzw. Gestaltungsempfehlungen abzuleiten. Unternehmensführung umfasst hierbei sowohl eine personal-interaktive, eine strategisch-systemische als auch eine interdisziplinäre Dimension, deren Zusammenführung und integrative Berücksichtigung für den unternehmerischen Erfolg unerlässlich ist. Diese umfassende bzw. integrierende Perspektive der Unternehmensführung wird auch maßgeblich von Richard Hammer seit Anbeginn seines Wirkens an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg in seinen betriebswirtschaftlichen Forschungsbeiträgen untersucht und auch in der Lehre vertreten. Die Herausgeberinnen nehmen nun den 65. Geburtstag von Richard Hammer zum Anlass, mit dieser Festschrift ihre Wertschätzung gegenüber dem Jubilar zum Ausdruck zu bringen. In Anlehnung an die angeführten Dimensionen der Unternehmensführung, die zugleich den Gliederungsrahmen der vorliegenden Festschrift bilden, werden nun zunächst zur Generierung eines umfassenden Hintergrundverständnisses in Abschnitt 1 aktuelle Grundlagen und Rahmenbedingungen der Unternehmensführung aufgezeigt. Im Rahmen dessen wird sowohl die Europäische Union als zentrale, das Wirtschaftsleben determinierende Kontextbedingung behandelt, als auch auf die Spezifika des österreichischen Wirtschaftsraumes eingegangen. Ergänzung findet dieser Abschnitt durch Beiträge, die die Historie bzw. aktuelle Entwicklungen ausgewählter Unternehmensformen, nämlich der österreichischen Sparkassen, konfessioneller Privatschulen sowie der Universität als Institution per se, untersuchen. Abschnitt 2 widmet sich der personal-interaktiven Dimension der Unternehmensführung. Der hier gestellte Bogen erstreckt sich von psycho-soziologischen Überlegungen zur Arbeitszufriedenheit über die Rolle von Führungskräften im Talentemanagement sowie zur Reduktion von Führungsverantwortung durch Institutionalisierung bis zur Interkulturalität im Rahmen der Unternehmensführung. Weitere Überlegungen beziehen sich auf Fragen der „Klugheit“, der Auswirkungen eines Führungswechsels auf den Erfolg von Institutionen (Fußballvereinen) sowie zu Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft, aber auch zur rechtlichen Bewertung des Whistleblowings in Unternehmen.

VI

Vorwort

Zur Entfaltung der personal-interaktiven Dimension bedarf es eines entsprechenden strategischen bzw. strukturellen Rahmens, der in Abschnitt 3 eine entsprechende Auseinandersetzung erfährt. Themenfelder wie Werte- bzw. Ethikorientierung, Compliance Management oder Innovationsmanagement werden hier ebenso behandelt wie auch neuartige Ansätze des strategischen Denkens im Allgemeinen, der strategischen Führung in Franchisesystemen sowie der Strategie- bzw. Konzeptentwicklung in der Jugend- und Nachwuchsarbeit von NPOs. Überdies wird auch die Bedeutung bzw. Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen der operativen Planung dargestellt. Möglichen Verhaltensweisen bzw. Handlungsempfehlungen für die Unternehmensführung in Krisensituationen widmen sich die Verfasser der Beiträge „Sanierungsmanagement – Herausforderungen im Rahmen von Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten“ und „Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren“. Daran anschließend wird das Potenzial der Balanced Scorecard als Kennzahlen- und/oder Führungssystem diskutiert bzw. zentrale Aspekte des Sportsponsorings beleuchtet. Abschließend werden in Abschnitt 4 Fragen der Unternehmensführung in einem interdisziplinären Fokus aufbereitet: Diese beziehen sich auf die Rolle von Vorstandsvergütungen im österreichischen Corporate Governance Kodex sowie auf andere rechtliche Aspekte, die sich aufgrund strafrechtlicher Risiken im Zusammenhang mit der Rufbereitschaft über das Firmenhandy oder den Pflichten des Dienstgebers zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen ergeben können. Darüber hinaus werden Aspekte der Wirtschaftsethik thematisiert, aus rechtsphilosophischer Sicht das aufgeklärte Denken als Prozess dargelegt, Überlegungen zur Informationsgrafik dargelegt und auf den Aufbau bzw. Umgang mit dynamic capabilities eingegangen. Aufgrund der leichteren Lesbarkeit wird in den Beiträgen stets die maskuline Schreibweise verwendet. Das Erscheinen dieser Festschrift wurde durch die mannigfache Unterstützung ermöglicht. Unser Dank gilt insbesondere •

allen Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes, die ihre Beiträge mit Engagement und Sorgfalt erstellt haben; • der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris Lodron Universität Salzburg und dem Evers-Marcic-Fonds der Rechtswissenschaftlichen Fakultät für die finanzielle Unterstützung zur Drucklegung; • Herrn Diplom-Kaufmann Thomas Ammon und Frau Horn, M.A., die dieses Werk von Seite des Oldenbourg-Verlages umsichtig betreut haben; • den Teams der Bereiche Betriebswirtschaftslehre/Unternehmensführung und Rechnungslegung/Steuerlehre sowie des Schwerpunkts Recht, Wirtschaft und Arbeitswelt für die Unterstützung bei der Umsetzung dieses Projekts, insbesondere aber auch Frau Jennifer Öhm für die Layoutierung bzw. formale Überarbeitung der Beiträge. Auf das Herzlichste wünschen wir dem Jubilar weiterhin viel Gesundheit sowie Energie und Schaffenskraft – nicht nur im wissenschaftlichen Bereich! Ad multos annos! Salzburg, Jänner 2011 Katharina Kaltenbrunner Sabine Urnik

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

I

1

Aktuelle Rahmenbedingungen und Grundlagen der Unternehmensführung

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten Werner Tschiderer Der Standort Tirol auf dem Prüfstand Günther Berghofer Institutioneller Wandel der Unternehmensführung bei den Sparkassen in Österreich vom frühen 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Christian Dirninger Universität heute: Wissenschaftlicher Mikrokosmos oder Dienstleistungsunternehmen? Ulrike Aichhorn Die konfessionellen Privatschulen in Österreich und ihre wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Markt und Gesellschaft Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

3 17

31 45

55

Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010 Christian Haberfellner

75

II

87

Die strategisch-systemische Dimension der Unternehmensführung

Ist Werteorientierung wertorientiert? Claudia B. Wöhle Werteorientierung und regionale Verantwortung in der Führung von KMU – eine empirische Analyse in der Region Ingolstadt Harald Pechlaner und Benedict C. Doepfer

89

101

Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer

113

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung Christoph Schertler und Walter Schertler

125

VIII

Inhaltsverzeichnis

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen der operativen Planung Sabine Urnik und Michaela Fellinger Die neue Dimension strategischen Denkens Christoph Schließmann

137 159

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 175 Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung im deutschsprachigen Raum Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger Geschäftsmodellinnovation Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen Sanierungsmanagement – Herausforderungen im Rahmen von Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten Christoph Strobl

195 213

225

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft Minas Dimitriou und Erich Müller

237

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren Ernst Bleier

249

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem? Alois Pircher und Florian Silvestri

265

III

291

Die personal-interaktive Dimension der Unternehmensführung

Talente führen! Talent zum Führen? Überlegungen zu einem „Elchtest für Führungskräfte“ Stephan Laske und Gerhard Graf

293

Personalmanagement und Nachhaltigkeit: Psychosoziologische Überlegungen zu Fragen der Arbeitszufriedenheit Raimund Jakob

315

Verantwortungsreduzierung durch Institutionalisierung? Silvia Augeneder

325

Das Prinzip Klugheit – eine Außenseiterperspektive Michaela Strasser

337

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft Nikolaus Dimmel

347

Unternehmensführung im interkulturellen Spannungsfeld: USA und Polen Rudolf A. Thaler

373

Inhaltsverzeichnis Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management auf den Unternehmenserfolg am Beispiel von Fußballvereinen Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

IX

383

„Management by Treachery“: Zur rechtlichen Bewertung des Whistleblowings Walter Berka

405

IV

413

Unternehmensführung im interdisziplinären Spannungsfeld

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld Birgit Renzl und Julia Müller

415

Wirtschaftsethik im Spannungsfeld von Freiheit, Effizienz und Gerechtigkeit Christian Smekal

431

Aufklärung als Prozess Michael Fischer

441

Strafrechtliche Risiken moderner Betriebsführung: Das Beispiel der Rufbereitschaft über ein Firmenhandy Otto Lagodny und Nina Marlene Schallmoser Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie Günther Kreuzbauer Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als Gläubigerbegünstigung? Zum Konflikt zwischen § 153c und § 158 StGB Kurt Schmoller

459 473

497

Vorstandsvergütung im österreichischen Corporate Governance Kodex Michael Gruber und Anna Doblhofer-Bachleitner

507

Stichwortverzeichnis

517

I

Aktuelle Rahmenbedingungen und Grundlagen der Unternehmensführung

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten Werner Tschiderer

1

Einleitung

Die Staatsschuldenkrise einiger Euro-Mitgliedsländer hält die Finanz- und Wirtschaftswelt insbesondere seit den akuten Zahlungsproblemen Griechenlands in Atem. Täglich übertreffen sich Meldungen über neu entdeckte Schuldenprobleme in Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien (PIIGS, PIGS, oder GIPS), über deren Bewertung durch (private) Ratingagenturen, über Reaktionen der Euro-Kern- bzw. Gläubigerländer und der Akteure auf internationalen Finanzmärkten. Die Massenmedien sind voll mit Interviews und Artikeln von Experten, Regierungs- und Bankenvertretern und mit Fragen wie: Waren die griechischen Budgetprobleme 2010 ein Anzeichen für eine vorübergehende Zahlungsunfähigkeit (Liquiditätsproblem) oder für eine dauerhafte (Insolvenzproblem)? Wie wettbewerbsfähig ist die Wirtschaft, wenn das Leistungsbilanzdefizit seit dem Beitritt zum Euro-Raum zunahm (nationale Ebene)? Wie kann ein Land mit ca. 2,5 % des BIP im Euro-Raum eine Währungskrise für den Euro hervorrufen (EU-Ebene)? Wie kann dadurch die Existenz des Euro bzw. des Euro-Raumes aufgrund der Erwartungen und Einschätzungen der Finanzmarkt-Akteure auf der internationalen Ebene gefährdet werden? Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit Gründen für die Entstehung der Staatsschuldenbzw. Euro-Krise innerhalb des Prozesses der europäischen und internationalen Geld-, Finanz- und Wirtschaftsintegration. Eingeschlossen werden dabei Weichenstellungen der praktischen Wirtschaftspolitik im Vergleich zu mehr oder weniger beachteten theoretischanalytischen Grundlagen und Erfahrungen der Wirtschaftswissenschaften (eingeflossen in die wirtschaftspolitischen Konzeptionen).

2

Der Weg zur europäischen Währungsintegration: Konzeptionen und Umsetzungen

Die internationale (westliche) sowie die europäische Wirtschaftsintegration erfolgte nach 1945 auf der Grundlage ähnlicher wirtschaftspolitischer Konzeptionen: schrittweise Förderung marktwirtschaftlicher Koordination mittels langfristigem Abbau von Handelsschranken und Kontrollen des grenzüberschreitenden Geld-, Kredit- und Kapitaltransfers. GATT, Bret-

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Werner Tschiderer

ton Woods (IWF), Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) etc. sind symbolische Institutionen für diese Entwicklung. Dieser Trend wurde besonders in den 1960-er Jahren durch technische Neuerungen im Transport- und Kommunikationsbereich verstärkt. Er motivierte Unternehmen zu Direktinvestitionen (multinationale Unternehmen) und Anleger zu Portfolioinvestitionen (Aktien, Anleihen etc.) über die nationalen Grenzen hinaus.1 In den 1970-er Jahren wichen die Institutionen und Regeln der internationalen Währungsund Finanzordnung von Bretton Woods – dem obigen Trend entsprechend – teilweise den durch neue Techniken angetriebenen neuen Märkten: Devisenmärkten mit flexiblen Wechselkursen, Finanz-/Kapitalmärkten mit „freier“ Preis-/Kursbildung (bekannt unter den Schlagworten: Deregulierung, Dezentralisierung, Privatisierung). Mit dem Wegfall der Kapitalverkehrskontrollen verschob sich auch für die internationale Finanzordnung das Gewicht weg vom öffentlichen Bereich (Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank) hin zum privaten Bereich (Geschäfts-, Investitionsbanken, Versicherungen etc.) – so dass von einer „Neuaufteilung“ gesprochen werden kann. Gerade in diesem Jahrzehnt, in dem nach dem Wiederaufbau (auch bedingt durch eine überwiegend ausgewogene nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik) Wachstum, allgemeines Einkommen und Wohlstand zugenommen hatten, befand sich die Wirtschaftsintegration in Europa erst bei der Handelsintegration. Entsprechend dem analytischen Ansatz zur Wirtschaftsintegration von Balassa2, schickte es sich erst an, die nächsten Stufen des gemeinsamen Marktes, der Währungsunion und einer möglichen verstärkten Wirtschaftsunion anzustreben und wirtschaftspolitisch und rechtlich zu konzipieren. (Auf die komplizierten Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb der „Europäischen Verfassung“/Europäische Verträge mit den zwei Ebenen – der nationalen und der europäischen – soll hier nur erinnert werden.) Nach der eingeschlagenen Richtung zum Binnenmarkt war der europäische Finanzmarkt darin inkludiert und die Währungsunion zumindest angedacht (Werner-Plan). Für die Beurteilung der Funktionsweise und Funktionsfähigkeit des europäischen Finanzmarktes lagen (abstrakte) allgemeine und spezielle Marktanalysen vor.3 Die praktische Bewährungsprobe i. S. einer angemessenen Stabilität, im Gegensatz zu längerfristigen hohen Kurs- und Zinsausschlägen oder gar Krisenerscheinungen – kurz: die „Stabilitätsfrage“ – stand noch bevor. Analoges galt für die internationale Ebene mit den aufkommenden Finanzmärkten, worauf noch einzugehen sein wird. Zur Beurteilung und Konzeption der damals ins Auge gefassten Währungsunion boten sowohl Analyse und Erfahrung bezüglich der Bretton-Woods-Ordnung (mit Vorläufern) als auch die Diskussion um den „Optimalen Währungsraum“ reichhaltiges Material.4 Auf dieser

1 2 3

4

Zur Globalisierung: z. B. Waters, Globalization (1995); Reich, The Work of Nations. Preparing ourselves for 21st-Century Capitalism (1991). Balassa, The Theory of Economic Integration (1961). Wie z. B.: Bedingungen für „effiziente“ Allokation, Wachstum, längerfristige Stabilität, Verteilung, ergänzt durch: die Marktmängel-Analyse, Keynes und die beinahe vergessene prinzipielle Einsicht, der aus der deutschen historischen Schule entwachsenen ORDO-Gruppe um Eucken u. a., dass freie Märkte ohne konsequent durchgesetzte rechtliche Bedingungen/Ordnungspolitik ihre potenziellen Funktionen einbüßen und in Krisenerscheinungen münden. Mundell, A Theory of Optimum Currency Areas (1961), S. 657 ff.; Krugman/Obstfeld, Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außenwirtschaft (2004), S. 791 ff.

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten

5

Grundlage waren für die Wirtschaftspolitik folgende Bedingungen erkennbar und nicht zu übersehen: 1. Wenn Europa die Wirtschaftsintegration fortsetzen und damit die Währungsintegration angehen will, muss es sich von den internationalen Währungsturbulenzen (damals DollarSchwankungen) mit Auswirkungen auf die Binnenwirtschaft, die nach Ende der BrettonWoods-Ära auftraten, abschirmen. Der Weg dazu ist die Bildung eines eigenen stabilen Währungsraumes, was mit dem Europäischen Währungssystem (EWS 1979) angegangen und nach Maastricht (1999) vollzogen wurde. 2. Die Optionen für die Währungsordnung waren aufgrund von Analyse und Erfahrung mit Bretton-Woods vorgegeben: Will man eine gemeinsame Währungsunion (endgültig fixierte Wechselkurse mit oder ohne gemeinsame Währung) und gleichzeitig den freien Kapitalverkehr nach dem Binnenmarktkonzept erreichen und aufrecht erhalten (Verzicht auf Kapitalverkehrskontrollen), dann muss wenigstens die Geldpolitik zunächst national koordiniert und dann gemeinsam eingesetzt werden (umgesetzt im EWS und den Vorstufen zur Währungsunion vor 1999, dann Europäische Zentralbank/EZB).5 3. Die Theorie des optimalen Währungsraumes arbeitet die Vor- und Nachteile eines Beitritts zur Währungsordnung aus nationaler Sicht heraus. Sie konzentriert sich im Kern auf den Ausfall des Wechselkursinstrumentes für die nationale Wirtschaftspolitik und stellt eine Art „Konglomerat“ aus mehreren originären Beiträgen dar.6 Der Ansatz zählt auch bestimmte Kennzeichen für Länder auf, deren Vorliegen nach Abwägung nicht nur für den Beitritt eines einzelnen Landes vorteilhaft ist (nationale Ebene). Er bietet auch Richtlinien dafür, wie geeignet ein Land aus ökonomischer Sicht für den Beitritt ist. Die Frage lautet also, ob ein Land einer konsistenten Kombination von Bedingungen/Kriterien für das zukünftige Funktionieren der Währungsunion möglichst nahe kommt (europäische Ebene). Ohne hier auf Details eingehen zu können, zeichnete sich für die europäische Währungsunion ab, dass Kernländer für den Beitritt geeigneter seien als Peripherieländer.7 Aufgrund unterschiedlicher „Wirtschaftsstrukturen“ sei daher die Währungsintegration mit zwei Geschwindigkeiten empfehlenswert. Man denke z. B. an die Markt-Struktur-Kriterien: Offenheit, Faktormobilität (besonders Kapital), Diversifikation von Produktion und Austausch, die Makro-Größen: Inflations-, Zins-, Wachstumsraten, private, öffentliche und externe Verschuldung, Leistungsbilanz, Wechselkurse etc. oder an typische nationale Ausgestaltungen von Institutionen und Regelungen (Ordnungspolitik) in den Bereichen von Arbeit und Beschäftigung, privater und öffentlicher Finanzierung. Diese länderspezifischen Unterschiede mit mehr Gemeinsamkeiten der Kernländer im Vergleich zu Peripherieländern, warfen damals (wie heute) die grundsätzliche Frage auf, wie die Verteilung von nationaler und europäischer Kompetenz über die Geld- und Währungspolitik 5 6

7

Krugman/Obstfeld, Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außenwirtschaft (2004), S. 898 f. Neben Mundell, A Theory of Optimum Currency Areas (1961); McKinnon, Optimum Currency Areas (1963), S. 717 ff.; Kenen, The Theory of Optimum Currency Areas, in: Mundell/Swoboda (eds.), Monetary Problems of the International Economy (1969), S. 41 ff. Allgemein bei De Grauwe, Economics of Monetary Union (2000), S. 92 ff.; im kurzen Überblick: Tschiderer, Europäische Währungsintegration, in: Schuhmacher (Hrsg.), Perspektiven des europäischen Rechts (1994), S. 241; Tichy, Theoretical and Empirical Considerations on the Dimension of an Optimum Integration Area in Europe (1992), S. 107 ff.

6

Werner Tschiderer

hinaus gestaltet werden soll (Währungsunion und Wirtschaftsunion).8 Die Analyse zum „optimalen Währungsraum“ ergibt: •

Die Geld- und Währungspolitik kann auch bei (sogenannten) externen Schocks, wie der auf der internationalen Ebene entstandenen Finanzkrise von 2007/08 nicht mehr mit der nationalen Währungspolitik reagieren, sondern muss die gemeinsame Währung und die wirtschaftliche Lage der Mitgliedsländer mit berücksichtigen. • Die Analyse legt nahe, dass die Finanz-(Fiskal-)Politik in irgendeiner Form auf der Gemeinschaftsebene mit einzubeziehen ist.9 Es gab auch kaum Erfahrungen mit einer Währungsunion ohne politische Union – außer Einzelbeispiele von Münzunionen im 19. Jahrhundert. • Will man mehr Wirtschaftsintegration (der Binnenmarkt verstärkt diese), ist wegen der „strukturellen“ Unterschiede von Mitgliedsländern (besonders zwischen Kern- und Peripherieländern) auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik für mehr Konvergenz der Entwicklungsniveaus anzustreben. • Selbst bei gewollter oder vollzogener gemeinsamer Ordnungspolitik weisen traditionell gewachsene Verhaltensregeln (Sitten, Gebräuche) auf der nationalen Ebene langlebige Beharrungstendenzen auf, die nicht überbeansprucht werden können. (Das Subsidiaritätsprinzip und die „offene Methode der Koordination“ kommen dem allgemein entgegen.) Dies zeigt sich besonders im privaten Finanzierungsbereich zwischen der angloamerikanischen Tradition (Kapitalmarkt) und der kontinentaleuropäischen (Bankkredite), aber auch bei der grundsätzlichen Ordnungs- und Systemfrage (möglichst „Freie Marktwirtschaft“ gegenüber einer „Sozialen Marktwirtschaft“).10 Der europäische Weg wurde bekanntlich durch den Vertrag von Maastricht vorgegeben. Er bestand im Kern aus: einer unvollständigen Währungsunion, einschließlich Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), sowie „No-bail-out“-Bestimmungen: Für nationale Budgetdefizite haftet kein anderes Mitgliedsland und die EZB darf diese Budgetschulden nicht mitfinanzieren (alle damit zusammenhängenden Regelungen sind derzeit Gegenstand intensiver Diskussionen, die alle „Euro-Pakete“ begleiten, auf die noch kurz eingegangen wird). Dazu gab es: unterschiedliche wirtschaftliche Ausgangsbedingungen (Kern- und Peripherieländer), deren Differenzen im Laufe der weiteren Entwicklung noch verstärkt wurden.11 Unter Berücksichtigung von neuen Beitrittsländern zum Euro waren und sind diese „Strukturdifferenzen“ mitbestimmend für die heutige Unterscheidung zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern innerhalb des Euro-Raumes (z. B. Deutschland, Niederlande gegenüber Griechenland, Irland, Portugal, Spanien).

8 9 10 11

Besonders kritisch äußerten sich viele deutsche Ökonomen, stellvertretend dafür: Hankel/Starbatty, in: Hankel, Die Euro-Illusion (2001), S. 53 ff., S. 191 ff. De Grauwe, Economics of Monetary Union (2000), S. 195 ff. Z. B.: Albert, Capitalism vs. Capitalism. How America’s Obsession with Individual Achievement and Shortterm Profit Has Led to the Brink of Collapse (1993), insb. S. 127 ff. The EEAG (European Economic Advisory Group) Report of the European Economy: Governing Europe, CES-IFO (2009).

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten

3

7

Die internationale Finanzkrise

Im Laufe dieses Integrationsprozesses wurde die nunmehrige EU von der – seit der Weltwirtschaftskrise 1929 – größten internationalen Finanzkrise 2007/08 getroffen (externer Schock). Die internationalen de-regulierten Finanzmärkte hatten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können: Angebot und Nachfrage „selbstregulierend“ ohne längerfristige Krisenerscheinungen auszugleichen. Anzeichen dafür, dass die Bewährungsprobe nicht erfüllt werden kann, waren die „Vorläufer“ der großen internationalen Finanzkrise 2007/08: In den 1980-er Jahren die Schuldenkrise in Lateinamerika (Argentinien, Brasilien, Mexiko), in den 1990-er Jahren die Krisen in Mexiko, Russland und Asien.12 Schließlich platzte die Aktienblase für Technologiewerte 2000 vor allem in den USA. Wegen der internationalen Finanzverflechtung kam es weltweit 2008 zur Liquiditäts- und Kreditklemme, die sich negativ auf den Realsektor auswirkte.13 Die große Finanzkrise 2007/08 entspricht einem allgemeinen (Konjunktur-)KrisenErklärungsmuster, das (in Anlehnung an die Weltwirtschaftskrise) den Hauptursachenbereich im Finanzsektor sieht, dessen Instabilität auf den Realsektor übergreift.14 Dabei gilt das besondere Augenmerk dem Konjunkturaufschwung, der vom Finanzsektor finanziert wird und welcher zur Bildung von „Blasen“ neigt, die dann platzen, den rapiden Abschwung einleiten und die krisenhafte Instabilität auslösen. Bedingungen dafür sind: 1. Hohe Renditeerwartungen von Anlegern/Investoren in bestimmten Branchen oder Märkten. 2. Ein großes, ausdehnbares Liquiditätsvolumen zur Finanzierung dieser Investitionen. 3. Wirtschaftspolitische Bedingungen (Ordnungspolitik), die beides ermöglichen. Bei gestiegenen durchschnittlichen Einkommen und Vermögen in der (westlichen) Nachkriegsperiode, gegebener technischer Entwicklung (Globalisierung) und ordnungspolitischen Bedingungen (Deregulierung, Aufhebung von Kapitalverkehrskontrollen) nahmen die Akteure auf internationalen Finanzmärkten zu (Anleger, Versicherungen, Banken etc.). Die deregulierten Bedingungen erlaubten es auch, „Schattenbanken“ zu gründen, die sich der Zentralbank-Aufsicht entziehen konnten, z. B. durch „Auslagerung“ aus einer traditionellen Geschäftsbank oder durch Schaffung eines (Hedge-)Fonds. Auch die Geldpolitik entfernte sich immer mehr von der Geldmengensteuerung durch die Zentralbank. M. Friedman schlug noch hohe Pflichteinlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank vor, um die Möglichkeiten der Giralgeldschöpfung durch die Geschäftsbanken zu reduzieren oder gar zu beseitigen.15 Mit dem sogenannten „Jackson Hole Consensus“, von einer Konferenz des Federal Reserve Systems nach der Jahrtausendwende wurde die passive Rolle der Zentralbank beim Aufschwung besiegelt.16 Damit konnten sich auch die von der Zentralbank der USA beaufsichtigten Banken an der Ausdehnung der Kreditblase und Geld12 13 14 15 16

Vgl. Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen (2001), insb. S. 16 ff., 137 ff., 219 ff.; Krugman, Die große Rezession – Was zu tun ist, damit die Weltwirtschaft nicht kippt (1999), S. 41 ff., S. 116 ff. Stiglitz, Freefall. Free Markets and the Sinking of the Global Economy (2010), insb. S. 27 ff. Minsky, Stabilizing an Unstable Economy (1986); Hayek, Geldtheorie und Konjunkturtheorie (1929 – wiederabgedruckt: 1976). Ursprünglich: Fisher, 100 % Money (1936); Friedman, A Program for Monetary Stability (1960); zum Verhalten der Geschäftsbanken: Issing, Einführung in die Geldtheorie (1995), S. 73 ff. Vgl. Issing, Asset Prices and Monetary Policy (2009), S. 46.

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Werner Tschiderer

mengenvermehrung (M1) beteiligen. Die besondere Rolle des Banken- und SchattenbankenSystems für die Erweiterung des Liquiditätsvolumens und der Finanzierungsblase im Aufschwung wurde damit deutlich. Die Vorstellungen, Erwartungen und Handlungen der Finanzmarkt-Akteure entsprachen zunächst individuell-rationalen Verhaltensweisen, indem sie ihre Rendite- und Gewinnerwartungen nach der Technologiekrise von Aktien auf Immobilien umlenkten, deren Kauf in den USA für die breite Bevölkerung politisch gefördert wurde. Hier trafen sich die Geschäftsinteressen von traditionellen Banken und Schattenbanken bei der Kreditfinanzierung mit den Anlegerinteressen der übrigen Akteure. (Nach Ausbruch der Krise 2007/08 wechselten die Investoren bekanntlich auf zum Teil vermeintlich sichere Staatsanleihen – wie etwa jene von Griechenland, um nach der Griechenland-Krise 2010 die Rendite-Erwartungen auf knapper werdende Rohstoffe zu konzentrieren oder zu Erwartungen über den „sicheren Hafen“ Gold zurückzukehren.) Dazu gesellten sich aber auch nicht-rationale (nur sozial-psychologisch erklärbare) Verhaltensweisen mit ansteckender Wirkung, die die Beurteilung individueller Risiken zu verschleiern vermochten (moral hazard).17 Davon wurde auch der gesamte Bankensektor nicht verschont. Die Schaffung immer „innovativerer“ Finanzprodukte nahm deutlich zu (Finanzderivate von MBS, bis CDO und CDS).18 Es folgten: Anlage auf Anlage, Wertpapiere auf Wertpapiere, gemischt, gebündelt, fremd-finanziert: mit einer nominal enormen Volumensund Wertsteigerung und real zunehmender Entfernung von der gesicherten Kreditbasis (Bonität). Der Standardbegriff dazu ist „Hebelwirkung“ (leverage).19 Unter diesen Bedingungen liefen die Entwicklungsstränge auseinander: die individuelle Ebene mit den laufenden Interaktionsprozessen der Akteure und die Systemebene mit ausgedehntem Liquiditätsvolumen (Geldmenge) und Kreditblase. Die weiteren Abläufe vom Platzen der Immobilienblase bis zum Übergreifen auf die internationalen Finanzmärkte und die Realwirtschaft sind bekannt.

4

Notwendige und tatsächlich getroffene Maßnahmen gegen die Finanzkrise

Wenn nach dem Aufschwung der Abschwung einmal eingesetzt hat, dann bleiben nur mehr kurzfristige, symptomatische Maßnahmen, damit der Abschwung nicht in eine lang anhaltende Depression übergeht (Geld- und Fiskalpolitik nach der „Allgemeinen Theorie“ von Keynes 1936). Derartige Maßnahmen als Reaktion auf die Finanzkrise 2008 zur Stärkung des Realsektors, ob in Einzelstaaten durchgeführt oder koordiniert zwischen EUMitgliedsländern, endeten letztlich in zusätzlichen Budgetdefiziten. Deshalb wurden jene Länder am stärksten getroffen, deren Schuldenbestände bereits vor der Krise überdurchschnittlich hoch waren und deren Verantwortung dafür nicht der Krise zugerechnet werden kann (z. B. USA, EU: Ungarn, Euro-Raum: Griechenland, nicht Irland oder Spanien). 17 18 19

Der Klassiker dazu: Kindleberger, Manias, Panics and Crashes. A History of Financial Crises (1978); Shiller, Irrational Exuberance (2005). Zu den Abkürzungen z. B. Bürger/Rothschild, Wie Wirtschaft die Welt bewegt (2009), S. 187 ff. Genauer: Sinn, Kasino-Kapitalismus (2009), S. 88 ff.

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten

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Als Spezifikum dieser Krise veranlasste die zentrale Stellung der Banken bei der Finanzierung der Kreditblase Regierungen, zusätzlich öffentliche Ausgaben freizugeben, um die eigenen („systemrelevanten“) Banken vor dem Konkurs zu retten (z. B. USA bis und ab Lehman Brothers, EU: Großbritannien, Euro-Raum: Irland, Spanien). Um eine Wiederholung zu vermeiden und eine langfristige Stabilisierung des Finanzsektors zu erreichen, wäre auf Grund des oben angeführten Ansatzes schon beim Aufschwung zu vermeiden, dass es zu einer „Überhitzung“ und Blasenbildung kommt: Ein stabilisierter Finanzsektor mit nach oben und unten abgeschwächten Ausschlägen würde auch auf die realen Auf- und Abschwünge dämpfend und verstetigend wirken. Dazu wäre es notwendig, internationale, europäische und nationale Finanzmärkte abgestuften Graden von ReRegulierung zu unterziehen. Das bedeutet für die Geld- und Finanzordnung: •

„Schattenbanken“ unter die Aufsicht/Kontrolle der Zentralbanken oder anderer (möglichst unabhängiger Institutionen) zu bringen und den Informationsaustausch zu erhöhen.20 Damit verbunden ist die Erschwerung, der Aufsicht zu entgehen, indem in Länder und Gebiete mit minderer Kontrolle ausgewichen wird (z. B. Steueroasen, Bankgeheimnis ohne Kooperation). • Begrenzung des Liquiditätsvolumens auch mittels Eingrenzung der Bankaktivitäten zur Finanzierung von Forderungsrechten mit hohen, riskanten Renditeerwartungen. Eine zunehmende Lenkung der Bankaktivitäten wäre der Vorschlag von M. Friedman, den Schwerpunkt der Geldpolitik auf die langfristige Geldmengensteuerung zu legen und die Giralgeld-(Kredit)-Schöpfung durch die Zentralbank mittels Pflichteinlagen der Banken einzugrenzen. Weniger weitreichend wäre eine aktivere Rolle der Zentralbanken während des Aufschwungs. • Wenn, trotz der bisherigen Erfahrungen, die eingeschlagene De-Regulierung im Namen von Effizienz und Wettbewerb ohne derartige Regelveränderungen für die Akteure des Finanzsektors aufrechterhalten bzw. ausgebaut werden sollten, sind zumindest Fragen um den Komplex – Wettbewerb und Konzentration – zu berücksichtigen: Wie entstehen Banken, die auf der Systemebene zu bedeutend sind, um insolvent werden zu können? Welche Rolle spielt dabei die Eigenverantwortung (Bonitätsprüfung, Risikoeinschätzung, Rücklagen etc.), ein geordnetes Insolvenzrecht, gegenseitige Absicherung nach dem Versicherungsprinzip mit Prämienzahlung für Banken und Anleger (ohne Deckungsunsicherheiten, wie etwa beim abgeleiteten Finanzprodukt „Credit-DefaultSwaps“)? Welche Rolle spielt die Beurteilung und Bewertung durch Rating-Agenturen? Eine weltweite konsistente Regelung wäre zwar aus ökonomischen Gründen zur langfristigen Krisenvermeidung notwendig und wünschenswert. Sie ist aber wegen der bestehenden internationalen politischen Ordnung mit dominanten nationalen und regionalen Interessen nicht durchsetzbar. Dennoch sollen die Auseinandersetzungen um die praktische Umsetzung der angesprochenen Problembereiche wenigstens sporadisch angeführt werden. Die Aufsicht des gesamten Bankensystems und die Kontrolle durch Zentralbanken wurden verstärkt. Ausdruck dafür sind z. B. international der „Financial Stability Board“, für die USA der „Dodd-Frank Act“ mit dem einflussreichen „Office for Financial Research“, das nunmehr auch die Informationspflicht von Schattenbanken einfordern kann. Europa wartet

20

Über Märkte mit asymmetrischer Information vgl. die Schriften von Stiglitz, J. E. und Akerlof, G.A.

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mit einer Reihe neuer Institutionen auf: dem „European Systemic Risk Board“ bei der EZB in Frankfurt, das für die Beurteilung der Entwicklung von systemisch relevanten MakroGrößen der Mitgliedsländer verantwortlich ist. Dieser Ausschuss bildet einen Teil des „European Systems of Financial Supervisors“, zuständig für die Aufsicht und Regulierung von Banken, Versicherungen/Pensionsfonds – und für die Finanzmärkte/Börsen in Paris. Je länger der Ausbruch der Krise zurücklag, desto ruhiger wurde es um die Frage der Trennung von traditionellen Einlagen- und Kreditgeschäften gegenüber Investitionsgeschäften zwischen Banken (wie beim Glass-Steagall Act 1933–1999) oder innerhalb von Universalbanken, um Spekulationen einzuschränken. Ähnlich erging es dem Vorschlag von Friedman. Allerdings ließ die Äußerungen des Vorsitzenden der britischen Banken-Reformkommission aufhorchen: Die Trennung sei positiv zu bewerten, weil damit das Risiko von Bankeninsolvenzen verringert würde.21 Die Überlegungen des Ex-Gouverneurs der US-Notenbank, Paul Volcker, Eigengeschäfte von Banken zu verbieten, haben im „Dodd-Frank Act“ ihren Niederschlag gefunden. Sie sind aber im gegenwärtigen politischen Prozess der administrativrechtlichen Umsetzung zunehmendem Druck von Interessensgruppen ausgesetzt. Die Diskussion über die Rolle der Zentralbanken hat aber seit Beginn der GriechenlandKrise wieder zugenommen. Ansätze für eine aktivere Rolle der Zentralbank im KonjunkturAufschwung sind bei der Europäischen Zentralbank zu erkennen, im Gegensatz zum „Jackson-Hole-Consenus“ in den USA.22 Die EZB hat sich ja für das primäre Ziel „Geldwertstabilität“, gemessen am Verbraucherpreisindex entschieden, um die Geldfunktionen der neuen gemeinsamen Währung zu sichern. Deshalb greift sie auch im Aufschwung, nämlich bei Preissteigerungen, ein. Bei einem abrupten Abschwung behält sie sich kurzfristige Liquiditätserhöhungen vor. Die OECD typisierte bekanntlich Länder je nach internationaler Kooperationsbereitschaft in Steuerfragen und in der EU steht das Bankgeheimnis mehrheitlich unter Druck. (Luxemburg und Österreich berufen sich auf Nicht-EU-Länder, wie die Schweiz und Liechtenstein, diese ihrerseits auf Ausweichmöglichkeiten in außereuropäische Länder.) Es besteht zwar internationale Einigkeit darüber, dass die „Hebelwirkung“ (leverage), u. a. ausgelöst durch die gegenseitige Fremdfinanzierung der Banken, stark eingeschränkt werden muss. Sie führte zur überdimensionalen Ausdehnung des Liquiditätsvolumens der Kreditund Spekulationsblase. Beim „Wie?“ treten die Auffassungsunterschiede in G 10-20-Konferenzen zwischen den USA und Europa hervor. In der EU gehen die Meinungen zwischen Großbritannien einerseits und kontinentaleuropäischen Ländern wie Deutschland und Frankreich andererseits auseinander. Bei der Forderung nach Regeln für mehr Transparenz, also bei der Informationsfrage bezüglich Finanzderivaten und Rating-Agenturen, ergibt sich zwischen den USA und Europa ein ähnliches Bild. Die Beurteilung, welche Banken „systemrelevant“ sind und welche Auflagen für Haftungsübernahmen und finanzielle Unterstützung verlangt werden, ist ebenfalls stark nationalstaatlich orientiert. Mit der Gründung der Europäischen Aufsichtsbehörde in diesem Jahr wurden auch Wettbewerbsfragen in Bezug auf die drei marktbeherrschenden Rating-Agenturen neu

21 22

Zur Banken-Trennung: Reuters, Salzburger Nachrichten (24.01.2011), S. 21; zum Friedman-Vorschlag z. B. Huber, Finanzmarktreformen und Vollgeld, Vortrag vom 13.05.2011, URL: www.monetative.org,, insb. Folie 18. Issing, Asset Prices and Monetary Policy (2009), S. 49.

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten

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aufgeworfen, die nunmehr auch einem Registrierungs- und Genehmigungsverfahren unterzogen werden sollen. Die Eigenkapitalvorsorge für Banken (Basel III), die Angleichung von Regeln für Buchungswerte etc. sind bekannte Beiträge für kleine Stabilitätsschritte. Der für Europa nun doch wahrscheinlicher werdenden Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen werden in der vorgeschlagenen geringen Höhe kaum Lenkungseffekte zugeschrieben werden können.23 Sie könnte aber – als Ausgleich für frühere Bank-Rettungsaktionen – vorwiegend als eine Einnahmequelle zur Budgetsanierung dienen. Die verschiedenen Regelungs- und Steuerungsversuche gehen in die richtige Richtung, die langfristige Regelung der internationalen Finanzmärkte bleibt aber insgesamt ebenso unvollständig, wie jene der Europäischen Währungsunion. Der „Financial Stability Board“ beabsichtigt, seine Gesamtkonzeption bis 2013 vorzulegen.

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Finanzkrise, unvollständige Währungsunion, Euro-Krise: Erste korrigierende Schritte mit verbleibenden Konstruktionsproblemen

Die Widersprüche im Euro-Raum seit Beginn wurden spätestens 2010 mit der Griechenlandkrise wieder in Erinnerung gerufen. Das Zusammentreffen der öffentlichen und privaten Akteure in der Finanzkrise 2007/08 erfolgte innerhalb einer unvollständig geregelten internationalen, europäischen und nationalen Geld-, Währungs- und Finanzordnung. Deshalb ist die Instabilität und Krisenanfälligkeit nicht ausgeräumt. Vor allem nationale Großbanken, die z. T. gerade durch die öffentliche Hand abgesichert wurden (bail-out), beteiligten sich mit anderen, auf Sicherheit und Rendite bedachten Anlegern an der Finanzierung von US- und europäischen Staatsanleihen. Diese galten nach den Erfahrungen mit krisenanfälligen Aktienmärkten als sicherer. Während im Bundesstaat USA mit einer vollständigen Wirtschafts- und Währungsunion Bundesanleihen angeboten wurden (von denen China noch immer einen Großteil als Forderungsbestand hält), boten die Mitgliedsstaaten des Euro-Raumes ihre Schuldverschreibungen zur Budgetsanierung länderweise an. Die Bonitätsfrage, d. h. die Bewertung durch Rating-Agenturen, Anleger und deren Berater auf den verflochtenen internationalen und europäischen Finanzmärkten, betraf damit die einzelnen Mitgliedsländer auf der nationalen Ebene – inklusive der Banken, die Staatsanleihen von anderen Mitgliedsländern hielten. Die Bewertung erfolgt auf Grund der gesamtwirtschaftlichen Daten, „Strukturdifferenzen“ und Stellung als Gläubiger- oder Schuldnerländer.24 Die Folge waren die bekannten Risiko-Aufschläge (spreads) für die Schuldnerländer (GIPS) im Vergleich zu den Gläubigerländern. Mit darüber hinaus sinkendem Sozialprodukt (Rezession) ist die Rückzahlung der Schuldnerländer erschwert, bis hin zu sozialen Protesten. Die Zukunfts-Perspektiven wären finanziell gesehen, Wachstumsaussichten, sozial gesehen, eine für alle nationalen Gruppierungen ausgewogene Kostenbeteiligung. 23 24

Vorschläge stammen bereits aus den 1970-er Jahren, z. B. Tobin, A Proposal for International Monetary Reform (1978), S. 153 ff. Vgl. oben S.5.

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Diesen Bedingungen auf Seiten der Finanzmärkte stand das inkonsistente Regelwerk der Europäischen Währungsunion gegenüber. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), der Nicht-Haftungsklausel bezüglich der Schulden anderer Mitgliedsländer und der EZB sollte Haushaltsdisziplin gewährleistet werden. Einerseits galten diese Regeln für Mitgliedsstaaten mit „Strukturdifferenzen“ und unterschiedlichen (privaten und öffentlichen) internen und externen Forderungen und Schulden. Andererseits waren die realen Wirtschaftsbeziehungen bereits soweit mittels Export-Import, Direkt- und Portfolioinvestitionen miteinander verflochten, dass die Aufrechterhaltung des Binnenmarktes mit der Währungsunion im gemeinsamen Interesse der Mitgliedsländer lag. Dabei ist zu beachten, dass die nationalen Großbanken nicht so leicht „aussteigen“ können, wie andere Gläubiger auf den Finanzmärkten. Wenn ein Staat und nationale Großbanken Gläubiger sind, sind beide auf die Zahlungsfähigkeit anderer Staaten und deren Banken angewiesen. Somit besteht ein Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung der Real- und Finanzströme sowie an der Zahlungsfähigkeit der Schuldner. Spätestens mit der Griechenlandkrise und der damit verbundenen Euro-Krise wurde klar, dass deren Bewältigung mit Kosten für alle Beteiligten verbunden ist. Sie wird umso kostspieliger, je länger kurzfristige Maßnahmen unter den bestehenden Institutionen und Regeln verzögert werden – und je länger deren Reform auf sich warten lässt. Das europäische Regelwerk entsprach nicht mehr der Realität der Wirtschafts- und Finanzwelt. Alle bisherigen Vorschläge und Maßnahmen sind unter diesen Gesichtspunkten und einem andauernden 2-Ebenen Entscheidungsprozess zwischen EU und Nationalstaaten zu sehen. (Als EU-Entscheidungsträger fungieren: Kommission, Parlament, Rat, EUGH und speziell für Geld- und Finanzpolitik: Ecofin-Rat, EZB und neuerdings die europäischen Organe für die Finanzaufsicht.) Dazu gibt es einige Konzeptionen und Beschlüsse25: •

Die Rettungsschirme für Griechenland, später auch für Irland (wegen der Budgetbelastung durch Staatshaftungen für Immobilien und Banken) und Portugal. Damit wurde die „No-bail-out“-Klausel durchbrochen, indem Euro-Mitgliedsländer (und der IWF) eine Haftungsgarantie für fällige griechische u. a. Staatsanleihen gegenüber den FinanzmarktGläubigern übernahmen. • Durch den Kauf von Anleihen der GIPS-Staaten hielt sich auch die EZB im Rahmen des Finanzstabilisierungs-Mechanismus des zweiten Rettungsschirms (EFSF bis 2013) nicht an die Klausel. Größere Schritte in Richtung einer ausgebauten Wirtschaftsunion sind Maßnahmen für eine stärkere Koordination der Fiskalpolitik (und teilweise der Strukturpolitik): •



25

Der SWP wurde durch 4 Verordnungen reformiert, verbunden mit strengerer Haushaltsdisziplin, Abstimmungsregeln und Sanktionsmöglichkeiten zur Vermeidung von „moral hazard“ zwischen Staaten (Teil des sogenannten „Sixpacks“, das auch in zwei weiteren Verordnungen Makro-Fragen behandelt). Der ab 2013 vorgesehene Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM), als Fortsetzung des zweiten Rettungsschirms, ist ein umfassendes Konzept mit der Möglichkeit,

Vgl. z. B. die Übersicht bei Katterl, Europäische Instrumente zur Krisenbewältigung, Forum Finanz vom 28.02.2011; Essl/Katterl, Das „Sixpack“ der EU, Forum Finanz vom 05.07.2011.

Europäische Währungsunion und internationale Wirtschaftsintegration in Krisenzeiten

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eine unabhängige Haushaltskommission, einen Finanzierungsfonds und Makro-Anpassungsprogramme einzusetzen sowie den Privatsektor zu beteiligen. Der Fonds als EMF (European Monetary Fund) beinhaltet unübersehbare Elemente des IWF: Einzahlungen der beteiligten Staaten, ein Exekutivgremium, das über Auszahlungen unter Auflagen für Reformprogramme (Konditionalitäten) entscheidet. Zur Diskussion steht auch der Zugang zum Fonds für Schuldenrestrukturierungen (Fristenverlängerung, Zinssenkung bis zum teilweisen Schuldenerlass/„haircut“). Die angeführten Möglichkeiten des Fonds können unterschiedlich beurteilt werden: als gemeinsamer Versicherungsmechanismus gegen Risiko und Unsicherheit mit strengen Anpassungsprogrammen gegen „moral hazard“ von Staaten und Finanzierungsinstitutionen oder – analog zu den „Schattenbanken“ – als „Schattenregierung“, die die nationalen Parlamente umgeht.26 Gemeinsam aufgelegte Euro-Bonds werden von Gläubigerländern besonders kritisch interpretiert, sie könnten aber auch als Signal für die Ernsthaftigkeit der Kooperation für den Euro gegenüber den Finanzmärkten angesehen werden. Während der IWF als gemeinsames Finanzierungsinstrument zur (externen) Wechselkursstabilisierung wegen kurzfristiger Zahlungsbilanzungleichgewichte zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern vorgesehen war, wäre der EWF für kurzfristige Überbrückungskredite bei Budgetproblemen zuständig. In beiden Fällen ist die Befolgung von Reformprogrammen Bedingung für die Kreditfinanzierung. Da innerhalb der Euro-Zone die Anpassung mittels Wechselkursen wegfällt, stehen wegen der strukturellen Unterschiede der Gläubiger- und Schuldnerländer Programme zur Verfügung, die andere Anpassungsmechanismen unterstützen sollen (Preise, Löhne/Beschäftigung, Produktivität, Exporte, Importe, Sozialversicherungen etc.). Derartige Ansätze für Strukturpolitik sind Inhalt des „Paktes für den Euro“ und zweier Verordnungen im „Sixpack“. Sie sollen (mittels Ausgaben für Forschung, Innovation, Infrastruktur) der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU gegenüber Amerika und Asien dienen und könnten die bisher nicht sehr erfolgreiche „Offene Methode der Koordination“ ersetzen (OMK, Lissabon-Strategie bis 2010). Über Insolvenzverfahren für Staaten und (systemrelevante) Banken, einschließlich Restrukturierung der Schulden – bis zu den Kosten für einen Austritt – wird aktuell im Falle Griechenland besonders heftig diskutiert. (Die Kommission spricht auch von einer Richtlinie, in der, i. S. von „bail-in“ private Gläubiger und Bankaktionäre Kosten einer Bankenkrise mittragen sollten.) Hier zeigen sich wieder deutlich die Folgen für verabsäumte konsequente Regelungen der Finanzmärkte und des Euro-Raumes im Hinblick auf die Frage, wer letztlich die Verluste trägt: Die Möglichkeit von „moral hazard“ und „Ansteckung“ besteht prinzipiell sowohl für (private) Finanzmarkt-Akteure als auch für (öffentliche) Staats-Akteure. Finanzmarkt-Akteure werden, auch bei nur vermuteten Wertänderungen von Anleihen, diese zu verkaufen bzw. zu kaufen versuchen, bevor der Kurs sich ändert. Ihre subjektiven (auch nur durch Gerüchte entstandenen falschen) Einschätzungen können aber auch zu Ansteckungen führen, die den Kursverlauf auf dem gesamten Markt nach oben oder unten stark beschleunigen (Instabilität). Nationale Großbanken können hingegen, wie schon erwähnt, nicht so leicht „aussteigen“. 26

Dazu z. B. De Grauwe, Solidarity on a Larger Scale (2011), S. 3 f.; Breuss, Europäische Wirtschaftsregierung, Vortrag WIFO vom 16.06.2011.

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Die Euro-Politiker befinden sich in einem gewissen Dilemma: Eine Ausweitung von Kreditmöglichkeiten (Rettungsschirme) soll Vertrauen in Form von objektivierbaren Fakten für Finanzmärkte schaffen. Innerhalb der Euro-Zone besteht an der Aufrechterhaltung der Zahlungsströme ein gemeinsames Interesse zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern. Die politisch Verantwortlichen der Gläubigerländer können die weitere Budgetbelastung gegenüber ihren Wählern (und Steuerzahlern) nur vertreten, wenn die Verantwortlichen der Schuldnerländer damit Investitionen, Produktion, Einkommen und Steuereinnahmen schaffen können, und dies wiederum von ihren Wählern akzeptiert wird. Die Sanierungsfähigkeit Griechenlands ist äußerst fragwürdig geworden. Ein teilweiser Schuldenerlass bzw. eine Restrukturierung ist unerlässlich. Gläubigerländer befürchten in diesem Fall die mögliche Ansteckung und „moral hazard“ bei den übrigen GIIPS-Ländern und werden daher für strengere Überwachung plädieren, bis zur Einschränkung von Souveränitätsrechten. Die EZB kann zwar die Schuldnerländer kurzfristig günstiger finanzieren als dies die Finanzmärkte vermögen, sie setzt sich damit aber langfristig dem Risiko der Inflation bzw. dem Wertverlust des Euro aus. Die offiziell von der EZB bisher vorgenommenen Sterilisierungsmaßnahmen zur Begrenzung der Geldmenge würden bei einem Massenankauf von Staatsanleihen wohl überfordert. Ein europäischer Währungsfonds könnte die Lastenverteilung zwischen Mitgliedsländern – i. S. von gemeinsamer Finanzierung gegen kontrollierte Reformmaßnahmen – prinzipiell erleichtern. Diese Verteilung muss aber erst innerhalb von nationalen demokratischen Prozessen akzeptiert und umgesetzt werden (Legitimationsfrage).

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Schlussbetrachtungen

Die mit der Regelgestaltung verbundenen Anreize haben jedenfalls die Gratwanderung zwischen mangelnder Risikoeinschätzung der privaten und öffentlichen Akteure (moral hazard), Eigenverantwortung bezüglich der, mit Wahrscheinlichkeit vorhersehbaren Folgen und den unvorhersehbaren Ereignissen zu beachten.27 Dieser Gratwanderung ist die Ordnungspolitik auf allen Ebenen (international, europäisch, national) ausgesetzt. Wie im politisch-ökonomischen Denken üblich, findet jedes betroffene Individuum, jede Gruppe, jeder betroffene Nationalstaat (EU- oder Euro-Mitgliedsstaat) Gegenargumente, warum gerade der eigene Kostenbeitrag nicht zum Gesamtnutzen beitragen würde. Die interessensbezogenen nationalstaatlichen Argumente und Entscheidungen sind gerade nach der überwiegend exogen entstandenen internationalen Finanzkrise – und der darauf folgenden Euro-Krise – für die weitere europäische Wirtschaftsintegration von der Währungs- zur Wirtschaftsunion ausschlaggebend. Unvollständig geregelte internationale Finanzmärkte und ihre Akteure stehen weiterhin den öffentlichen und privaten Akteuren eines mangelhaft geregelten Euro-Raumes gegenüber. Es ist dabei offen, welche Mitglieder welchen Minimalkonsens für Solidarität aufbringen werden und ob der derzeitige Euro-Raum mit den unterschiedlichen nördlichen und südlichen Mitgliedsländern aufrechterhalten werden kann. Dass die politische Gestaltung weltweit die dezentralen, demokratischen Kräfte berücksichtigen muss, die auf der nationalstaat-

27

Zur Unterscheidung von Wahrscheinlichkeit und Unsicherheit vgl. Rothschild, Einführung in die Ungleichgewichtstheorie (1981).

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lichen Ebene angesiedelt sind28, zeigt sich auch deutlich innerhalb der EU. Bei allen Konzeptionen und Beschlüssen darf aber auch die ökonomische Logik mit ihren Wirkungsbeziehungen und Unvereinbarkeiten nicht außer Acht gelassen werden. Die Rechnung für deren Missachtung wird als unbeabsichtigte „Systemwirkung“ präsentiert, die einer neuerlichen Gestaltung bedarf, wie im bisherigen und laufenden Prozess internationaler und europäischer Wirtschaftsintegration.

Literatur Albert, M.: Capitalism vs. Capitalism. How America’s Obsession with Individual Achievement and Short-term Profit Has Led it to the Brink of Collapse, New York 1993. Aschinger, G.: Währungs- und Finanzkrisen. Entstehung, Analyse und Beurteilung aktueller Krisen, München 2001. Balassa, B.: The Theory of Economic Integration, Homewood (Illinois) 1961. Bürger, H./Rothschild, K. W.: Wie die Wirtschaft die Welt bewegt. Die großen ökonomischen Modelle auf dem Prüfstand, Wien 2009. De Grauwe, P.: Economics of Monetary Union, Oxford u. a. 2000. De Grauwe, P.: Solidarity on a Larger Scale, in: IHS Economics and Finance News, Wien 26.01.2011, S. 3 f. Essl, S./Katterl, A.: Das „Sixpack“ der EU, Forum Finanz vom 05.07.2011. Fisher, I.: 100 % Money, New York u. a. 1936. Friedman, M.: A Program for Monetary Stability, New York 1960. Hankel, W.: Die Euro-Illusion – ist Europa noch zu retten?, Reinbeck bei Hamburg 2001. Hayek, F. A.: Geldtheorie und Konjunkturtheorie, Wien 1929 – wieder abgedruckt: Salzburg 1976. Huber, J.: Finanzmarktreformen und Vollgeld, Vortrag vom 13.05.2011, URL: www.monetative.org [14.08.2011]. Issing, O.: Einführung in die Geldtheorie, 10., überarbeitete Aufl., München 1995. Issing, O.: Asset Prices and Monetary Policy, in: Cato Journal, 29, 1 (2009), S. 45 ff. Katterl, A.: Europäische Instrumente zur Krisenbewältigung, Forum Finanz vom 28.02.2011. Kenen, P.: The Theory of Optimum Currency Areas, in: Mundell, R./Swoboda, A. (eds.): Monetary Problems of the International Economy, Chicago 1969, S. 41 ff. Kindleberger, C. P.: Manias, Panics and Crashes. A History of Financial Crises, New York 1978. Krugman, P. R.: Die große Rezession – Was zu tun ist, damit die Weltwirtschaft nicht kippt, Frankfurt am Main 1999. Krugman, P. R./Obstfeld, M.: Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 6. Aufl., München 2004. McKinnon, R.: Optimum Currency Areas, in: AER, 53 (1963), S. 717 ff. Minsky, H. P.: Stabilizing an Unstable Economy, New Haven u. a. 1986. Mundell, R.: A Theory of Optimum Currency Areas, in: AER, 51 (1961), S. 657 ff. 28

Dazu für die Weltwirtschaft: Rodrik, Democracy and the Future of the World Economy (2011).

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Reich, R. B.: The Work of Nations. Preparing ourselves for 21st-Century Capitalism, New York 1991. Rodrik, D.: Democracy and the Future of the World Economy, New York 2011. Rothschild, K. W.: Einführung in die Ungleichgewichtstheorie, Berlin u. a. 1981. Shiller, R. J.: Irrational Exuberance, Princeton u. a. 2005. Sinn, H. W.: Kasino-Kapitalismus – Wie es zur Finanzkrise kam und was jetzt zu tun ist, 2. Aufl., Berlin 2009. Stiglitz, J. E.: Freefall. Free Markets and the Sinking of the Global Economy, London u. a. 2010. The EEAG (European Economic Advisory Group) Report of the European Economy: Governing Europe, CES-IFO, Munich 2009. Tichy, G.: Theoretical and Empirical Considerations on the Dimension of an Optimum Integration Area in Europe, in: Außenwirtschaft, 47 (1992), S. 107 ff. Tobin, J.: A Proposal for International Monetary Reform, in: Eastern Economic Journal, 4 (1978), S. 153 ff. Tschiderer, W.: Europäische Währungsintegration, in: Schuhmacher, W. (Hrsg.): Perspektiven, des europäischen Rechts, Wien 1994, S. 241 ff. Waters, M.: Globalization, London u. a. 1995.

Der Standort Tirol auf dem Prüfstand Günther Berghofer

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Erfahrungen aus einem halben Jahrhundert mit gesetzlichen Auflagen aus der Sicht eines Familienunternehmens

Rahmenbedingungen für Produktionsbetriebe gibt es viele: Personalverfügbarkeit, Zulieferer-Kapazitäten, Energiekosten, Umweltfaktoren, Standortvorteile, Transportwege. Aber die wichtigsten Bedingungen setzt oft der Staat. Mit seinen Vorschriften, Verordnungen und Auflagen greift er in jedes Unternehmen ein. Daraus ergeben sich Risiken, aber auch Chancen. An der Geschichte des Adler-Werkes in der Tiroler Bezirksstadt Schwaz soll dies exemplarisch aufgezeigt werden. Als mein aus Oberösterreich stammender Vater im Jahre 1934 in Schwaz eine liquidierte Farbenhandlung übernahm, hat er sicherlich nicht an irgendwelche Auflagen gedacht. Die Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre waren auch zu hektisch und als der Aufschwung in den fünfziger Jahren einsetzte, ging es vor allem darum, die stürmische Nachfrage zu stillen. Die Auflagen waren zwar von den Kosten her bereits nicht unbeträchtlich, der bürokratische Aufwand allerdings noch moderat. Das sollte sich mit der Zeit ändern. Das staatliche Netzwerk an Verordnungen und Gesetzen wurde immer engmaschiger und mit Beginn der achtziger Jahre auch komplexer: Verpackungsverordnung, Lösemittel-Verordnung, Abfallwirtschaftsgesetz, Maß- und Eichgesetz – die staatlichen Auflagen folgten in immer kürzerem Abstand. In gewisser Hinsicht waren wir darauf vorbereitet, weil wir den Gedanken des Umweltschutzes schon recht früh in unsere Fertigung integriert hatten. Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahre 1995 wurde das staatliche Regelwerk weiter verdichtet. Zweifellos hat Österreichs Wirtschaft von der Öffnung der Märkte und der Vereinheitlichung der Vorschriften erheblichen Nutzen gezogen. Aber das Bestreben der Kommission, alles und jedes zu harmonisieren, hat gerade im Wirtschaftsbereich die Bürokratie weiter befördert und die Effizienz der Abläufe nicht gerade gefördert. Negative Beispiele dafür sind das Europäische Chemikalienrecht (REACH) oder die BiozidRichtlinie.

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Ein kurzer Blick auf unsere Geschichte

Doch bevor ich auf diese Rahmenbedingungen näher eingehe – ein kurzer Blick darauf, woher wir kommen, was wir in den mehr als 75 Jahren unserer Firmengeschichte erreicht

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Günther Berghofer

haben und was wir künftig vorhaben. 1934 übernimmt mein Vater, Johann Berghofer, 25 Jahre jung, in der Schwazer Altstadt ein Farbengeschäft. Dreizehn Jahre später, nach überstandenen Kriegswirren, entsteht am Ortsrand von Schwaz die erste Fertigungsstätte, die konsequent ausgebaut wird. 1964 stirbt der Firmengründer. Gemeinsam mit meiner Mutter Hermine übernehme ich die Führung. Von 1972 bis 1983 wird in drei Baustufen eine nach europäischen Maßstäben konzipierte Lackfabrik gebaut. Drei Jahre später geht das erste Hochregallager Tirols in Betrieb und 1995 ein Umweltschutz- und Recycling-Zentrum. Seit 1984 wird die Internationalisierung des Unternehmens konsequent vorangetrieben. Heute gehören wir zu den größten Lackfabriken Österreichs. 2010 wurde mit 460 Mitarbeitern ein Umsatz von € 76,6 Mio. erzielt, fast die Hälfte davon entfällt auf den Export. Wir entwickeln, fertigen und vertreiben Beschichtungs- und Anstrichsysteme zum Schutz und zur Veredelung von Oberflächen. Ergänzt wird unser Angebot durch umfassende Schulungen, Beratungen und Serviceleistungen. Besondere Stärke beweisen wir auf dem Werkstoff Holz. Mit unseren Geschäftspartnern verbindet uns eine faire Partnerschaft. Wir pflegen langfristige, solide Beziehungen. Gute Zusammenarbeit mit den Behörden und anderen öffentlichen Institutionen ist uns wichtig.

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Dr. Richard Hammer – ein Vorbild

Ganz in diesem Sinne haben wir stets unsere Zusammenarbeit mit Univ.-Prof. Dr. Richard Hammer gesehen. Er ist ein Vorbild und Vordenker, der jahrzehntelang viele junge Menschen ausgebildet hat. Richard Hammer besitzt die außergewöhnliche Eigenschaft, Interesse zu wecken und seine umfassenden Kenntnisse klug zu vermitteln. Sein großer Wirkungskreis reicht daher von der universitären Forschung über die Beratung zahlreicher Unternehmen, Institutionen und Behörden bis hin zur erfolgreichen Moderation von Workshops. Richard Hammer ist seit Jahren Impulsgeber für mittelständische Betriebe und steht insbesondere auch Familienunternehmen mit seinem umfangreichen Wissen zur Seite. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, Lehr- und Fachbücher über Organisation, Personal & Führung, Management, Unternehmensführung und Strategische Planung zeugen von seiner umfassenden Forschungs- und Lehrtätigkeit. Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben wir die ersten Kontakte zur Universität Innsbruck und damit zu Richard Hammer geknüpft und diesen Wissenschaftler als Pionier der strategischen Unternehmensplanung kennen und schätzen gelernt. Er hat frühzeitig erkannt, dass ein Unternehmen nur langfristig Erfolg hat, wenn nicht nur mit Zielen geführt, sondern mit klaren strategischen Vorstellungen auch mittel- und langfristig in die Zukunft geplant wird. Mit unserem damaligen Führungsteam hat Richard Hammer die strategische Unternehmensplanung zunächst in Seminaren theoretisch vermittelt und später konkret in mehreren Schritten in die Praxis umgesetzt, wo sie bis heute in dieser Form fortgeschrieben wird. Wir danken ihm für seine wertvolle Unterstützung. Auch sie hat die Fortführung einer der vielen mittelständischen Erfolgsgeschichten möglich gemacht, auf die der Wirtschafts- und Arbeitsstandort Österreich existenziell angewiesen ist.

Der Standort Tirol auf dem Prüfstand

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Familienunternehmen – Rückgrat unserer Wirtschaft

Solche Männer braucht Österreich, besonders der Mittelstand. Klein- und Mittelbetriebe des produzierenden Bereiches unseres Landes sichern nämlich fast zwei Drittel der Arbeitsplätze und übernehmen einen großen Teil der beruflichen Ausbildung junger Menschen in Österreich. Leider wird dies von der Politik nicht erkannt. Sonst hätten sie die Unternehmen nicht durch Rahmenbedingungen eingeschnürt, die nicht selten zu Demotivation und Resignation führen. Sinnlose Überregulierung löst Unbehagen und Unverständnis aus, weil sie die Unternehmensführung nicht nur erschwert, sondern in beachtlichem Maß behindert. Aber gerade Familienunternehmen erfüllen das, was alle Politiker immer wieder fordern: Unternehmerische Nachhaltigkeit und verantwortungsvolles Handeln. Sie setzen mit großem Engagement und oft unter persönlichen Entbehrungen alles daran, um ihre Betriebe der nachfolgenden Generation gesund und kapitalstark übergeben zu können. An ihrer Spitze stehen Unternehmerpersönlichkeiten mit Engagement, Durchsetzungsstärke, Ideenreichtum und Risikobereitschaft, die damit Wirtschaftskraft, Wachstum und Arbeit im Land sichern. Von der Politik wird daher ein Umdenken in Sachen Regulierung gefordert: Die Unternehmen sollen nicht länger dem Staat dienen, sondern mehr Freiheit haben, in erster Linie ihren Kunden zu dienen, denn nur das ist die Grundlage für sichere Arbeitsplätze.

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Die erste Produktion am Ortsrand von Schwaz

Aber kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Mein Vater, ein gebürtiger Oberösterreicher, konnte erfolgreich in Tirol Fuß fassen. Schon bald entschloss er sich, eigene Produkte herzustellen. Er beschaffte Raum für die Fertigung und richtete sie nach den damals gültigen Anforderungen der Gewerbebehörde aus. Seine neuen Produkte für die Fußboden- und Möbelpflege sowie die Oberflächenbehandlung von Holz erforderten für die damalige Zeit relativ überschaubare Investitionen. Aber Kapital war knapp, das Risiko daher nicht unerheblich. 1947 war es dann so weit: am Ortsrand von Schwaz entstand die erste Fertigung. Damit waren neben dem baurechtlichen Genehmigungsverfahren erstmals auch Auflagen der Gewerbebehörde für die Herstellung brennbarer Produkte zu erfüllen. Die Zuständigkeit für die Genehmigung der Anlagen lag bei der Bezirkshauptmannschaft Schwaz als Gewerbebehörde erster Instanz. Grundlage der gewerberechtlichen Verfahren für die Herstellung von feuergefährlichen Produkten war die 49. Verordnung der Republik Österreich vom 17. Februar 1930, in der die Bestimmung über die Lagerung von brennbaren Flüssigkeiten in gewerblichen Betriebsanlagen festgeschrieben war. Zudem waren zahlreiche Maßnahmen für die Errichtung und Ausstattung explosions- und feuergefährdeter Räume erforderlich, zumal die inzwischen entwickelten Lackprodukte aus hochbrennbaren Lösungs- und Bindemitteln hergestellt wurden. Die Auflagen waren aus damaliger Sicht umsetzbar, vom Kostenaufwand zwar nicht billig, aber wegen der Betriebssicherheit und zum Schutze der Arbeitnehmer notwendig. In dieser für das Unternehmen so erfolgreichen Entwicklungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg ist mein Vater 1964 plötzlich verstorben. Für mich als damals sechsundzwanzigjährigen Jungunternehmer stellte sich die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Unternehmens. Unsere in der Zwischenzeit im Westen von Österreich gut eingeführten Produkte für die

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Holzoberflächenbehandlung, die in Tischlereien verarbeitet wurden, waren eine solide Voraussetzung für die weitere Expansion. Mein vordringlichstes Ziel war es zunächst, die Erweiterungsmöglichkeiten auf dem noch vorhandenen Betriebsgrundstück zu nutzen. Durch die starke Bautätigkeit in den Nachkriegsjahren war das Firmenareal inzwischen weitgehend von Nachbargebäuden umgeben. Ende der Sechziger Jahre wurde – wenn auch mit immer größeren behördlichen Auflagen – unter maximaler Ausnutzung des Geländes eine Produktionshalle mit 1.000 m² Grundfläche, die größte seit Bestand des Unternehmens, errichtet. Eine weitere Expansion an diesem Standort war jedoch nicht mehr möglich.

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Weitere Expansion ist unabdingbar

Als junger Unternehmer mit Visionen und Tatendrang hielt ich jedoch die weitere Expansion unserer Lackfabrik für unabdingbar. Bei der Umsetzung meiner Pläne halfen mir meine technisch-ökonomische Ausbildung und die Erfahrungen, die ich in mehreren europäischen Lackfabriken gesammelt hatte. Ich war mir aber auch der Risiken bewusst, die ein solcher Betrieb mit sich bringen würde. Mein Ziel war es, eine neue Lackfabrik nach modernsten Erkenntnissen auf der „grünen Wiese“ zu errichten. Ein Grundstück, zwei Kilometer östlich des Stadtkerns, wurde erworben. Zwischen 1970 und 1973 begannen wir mit der Planung einer modernen Lackfabrik in drei Baustufen.1974 wurde – gleich nach der Ölkrise – mit dem Bau des Rohstoff- und Lösungsmittel-Tanklagers (Baustufe 1) begonnen. Für die zwischenzeitlich zum Industriebetrieb gewachsene Lackfabrik waren erstmals die gewerberechtlichen Rahmenbedingungen für eine Monatsproduktion von 1.200 Tonnen Farben und Lacken der Gefahrenklasse 1 bis 3 zu erfüllen. Hierbei lag Österreich weit hinter den gesetzlichen Vorschriften in Deutschland. Bei uns galt noch immer die bereits erwähnte Verordnung aus dem Jahre 1930, in der Fassung BGBL Nr. 52/1966. In Zusammenarbeit mit der Baubehörde, der Gewerbebehörde, dem Arbeitsinspektorat und der Landes- und Bundesstelle für Brandverhütung galt es nun, die Auflagen für die Sicherheit des Produktionsbetriebes und aller Mitarbeiter zu schaffen und gleichzeitig die Weichen für eine gesunde Zukunft des Unternehmens zu stellen. Glücklicherweise stand mir der pensionierte Leiter des Arbeitsinspektorates beratend zur Seite. Dieser war nicht nur mit den österreichischen, sondern auch mit den deutschen Vorschriften zur Lagerung und Verarbeitung brennbarer Flüssigkeiten vertraut. Gemeinsam haben wir äußerst konstruktiv mit der Behörde zusammen gearbeitet und dabei im Rahmen ihres Ermessensspielraums die schon weiter entwickelten deutschen Gesetze herangezogen, um auch künftigen Standards zu entsprechen. Die Sachverständigen des Arbeitsinspektorates und der Landesregierung hatten uns übrigens empfohlen, die deutschen Vorschriften bei der Planung heranzuziehen, da der schon damals vorliegende Entwurf der neuen österreichischen Vorschriften sich weitgehend mit den deutschen deckte. In Deutschland war dies die Verordnung über Anlagen zur Lagerung, Abfüllung und Beförderung brennbarer Flüssigkeiten zu Lande (Verordnung über brennbare Flüssigkeiten – VBF), ausgegeben von der Bundesrepublik Deutschland am 1. April 1960, Überarbeitung 1970, neue Fassung von 1996 und 2005. Die Behörden hatten uns auch auf die gänzlich veralteten Vorschriften – ebenfalls aus dem Jahre 1930 – für die Elektrik im Lager und die Verarbeitung von brennbaren Flüssigkeiten hingewiesen. Auch hier haben wir die modernen Vorschriften aus unserem Nachbarland zugrunde gelegt.

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Österreichs mühsamer Weg zu einer neuen Verordnung

Es wäre der richtige Weg gewesen, die modernen Standards der Bundesrepublik Deutschland zu übernehmen. Stattdessen arbeiteten die Ministerien einen eigenen Verordnungsentwurf aus, der völlig überzogene Regelungen (beispielsweise Abstände zu anderen Bauwerken) enthielt. Begründet wurden diese strengen Vorschriften von der Behörde stets mit Unfällen, die jedoch nachweislich nie bei der Lagerung oder Verarbeitung, sondern überwiegend beim Transport von brennbaren Flüssigkeiten aufgetreten waren. Noch heute ist es mir unverständlich, warum die neue österreichische Verordnung über brennbare Flüssigkeiten VbF erst am 14. Mai 1991 in Kraft getreten ist. Man bedenke: Bereits 1973 hatte der erste Entwurf vorgelegen. Das neue und dem neuesten Stand der Technik entsprechende Produktionswerk (Baustufe 2) wurde am 9. Jänner 1978 in Betrieb genommen. Den vorläufigen Abschluss der Bauarbeiten bildeten die Errichtung der Forschungsabteilung mit Anwendungstechnik sowie des Verwaltungsbereiches mit den üblichen bau- und gewerberechtlichen, insbesondere auch sicherheitsrelevanten Vorschriften. Mit dem fünfzigjährigen Unternehmensjubiläum war diese Großinvestition ebenso wie die Verlegung des Betriebes in drei Stufen (1974–1984) von der Münchner Straße in die Schwazer Bergwerkstraße abgeschlossen. Die neue Fabrik war für unser Unternehmen die Basis für ein innovatives Forschungsklima zur Entwicklung zukunftsweisender Produkte nach neuesten Standards sowie die Grundlage für eine weitere erfolgreiche Expansion. Konsequent wurde die Marktbearbeitung zunächst auf ganz Österreich und in der Folge auf die Nachbarländer erweitert. Dank der Kooperationsbereitschaft der Behörden war es uns zudem möglich, den in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufkommenden Umweltschutzgedanken frühzeitig in unsere Planungen und Maßnahmen zu integrieren.

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Ständig neue Verordnungen und Vorschriften

Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die europäische Einigungsbewegung haben für die österreichische Industrie und damit auch für uns weitgehend akzeptable Rahmenbedingungen geschaffen. Anders verlief die Entwicklung im Bereich der Gesetzgebung. Ständig neue Vorschriften und Verordnungen schraubten die Auflagen immer höher. Fraglich war, ob damit wirklich immer die Sicherheit erhöht wurde – auf alle Fälle hatte sie einen hohen Preis, das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen drohte „aus den Fugen“ zu geraten. Rückblickend ist festzuhalten, dass sich in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Zahl der neu erlassenen Gesetze und Vorschriften schlagartig vervielfachte und diese eine bis dahin ungeahnte Komplexität erreichten. Lack durfte nicht mehr in ein einfaches Blechgebinde, sondern musste in eine durch ein Institut geprüfte Verpackung abgefüllt werden. Auf der Etikette war neben einer Gebrauchsanweisung eine zusätzliche chemikalienrechtliche Kennzeichnung mit sicherheitsrelevanten Angaben (R-Sätze für Risiko, S-Sätze für Sicherheit) anzubringen. Der Transport gefährlicher Güter auf der Straße wurde mit zahlreichen Auflagen personeller, sicherheitstechnischer und administrativer Art belegt. In unglaublichem Tempo jagte eine neue Vorschrift die andere. Kaum waren neue Gesetze in

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Kraft, gab es schon die ersten Novellierungen. Nicht, dass wir uns gegen praxisnahe und sinnvolle Auflagen ausgesprochen hätten – wir hatten nur kein Verständnis für Vorschriften, die von praxisfernen Juristen erstellt worden waren. Mit der „Lösemittelverordnung 1991“ zur Verringerung der Emissionen leistete sich Österreich einen Alleingang, den es in Europa so bisher noch nicht gegeben hatte. Die übrige europäische Lackindustrie sollte erst sehr viel später durch eine EU-Richtlinie über die Emission von organischen Lösungsmitteln betroffen sein. Zunächst stellte die neue Verordnung Österreichs Lackindustrie und damit alle Verarbeiter von Oberflächenbeschichtungen vor beinahe unlösbare Probleme. Die chemikalienrechtliche Durchführungsverordnung forderte nämlich von den lackverarbeitenden Betrieben – ob Gewerbe oder Industrie – innerhalb von fünf Jahren die Lösungsmittelemissionen jährlich auf maximal 2000 kg zu verringern. Berücksichtigt man den Bindemittelanteil in einem Lack, so bedeutet dies, dass ein Lackverarbeiter jährlich nur etwas mehr als 3.000 kg Lack (rund 200 kg monatlich einschließlich Verdünnung) verwenden durfte. Damit waren bereits Betriebe mit bis zu zwanzig Mitarbeitern betroffen, die beim Überschreiten dieser Grenze keinesfalls in der Lage gewesen wären, in teure Abluft- oder Nachverbrennungsanlagen zu investieren. 1995 kam zusätzlich die Lackieranlagenverordnung dazu, die ab einem Verbrauch von 5.000 kg noch strengere Grenzwerte auch für diffuse Emissionen von organischen Lösungsmitteln vorsah.

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Neue Chancen mit wasserverdünnbaren Lacken

Unser Forschungsteam hat diese restriktive Gesetzesvorlage jedoch als Chance genutzt und wasserverdünnbare Lacksysteme entwickelt. In einem eigenen Wasserlacklabor mit sieben Technikern – etwa ein Viertel unserer Entwicklungsmannschaft – wurde die Forschung auf diesem Gebiet konsequent vorangetrieben. Nach fünf Jahren intensiver Arbeit lagen ausgezeichnete Ergebnisse vor. Wir konnten unseren Kunden eine neue Produktpalette, bestehend aus wasserverdünnbaren Beizen, Möbellacken, Fensterbeschichtungs-Systemen und Bautenlacken, die gängige Qualitätsnormen erfüllten, anbieten. Parallel dazu mussten wir entsprechende Produktions- und Transportkapazitäten für die frostempfindlichen Produkte schaffen. Der in der Folge erhöhte Ausstoß von Wasserlacken führte zur Errichtung einer Abwasserreinigungsanlage, einer automatisierten Behälterreinigung mit katalytischer Nachverbrennung von Lösungsmitteldämpfen sowie eines Recycling-Zentrums. Insgesamt bedeutete dies einen Investitionsaufwand von zehn Millionen Euro. Den so gewonnenen Wissensvorsprung haben wir bis heute gehalten. Große Möbelfabriken in Österreich, Deutschland und Italien wurden als Kunden für wasserlösliche Oberflächenbeschichtungen gewonnen.

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Österreichs Beitritt in die EU

Anfang der neunziger Jahre war es absehbar, dass Österreich in den europäischen Wirtschaftsraum drängte, was wir durchwegs begrüßten. Aus industrieller Sicht erhofften wir uns neben erleichterten Exportbedingungen eine Vereinheitlichung von Vorschriften und Verordnungen – grenzüberschreitende Rahmenbedingungen aufbauend auf einer verantwortungsbewussten Umweltgesetzgebung, die in einem großen Wirtschaftsraum harmonisiert und umsetzbar sein sollte, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.

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1995 trat Österreich der Europäischen Union bei. Aus wirtschaftlicher Sicht profitierte unser Unternehmen von der vereinfachten Exportabwicklung in die europäischen Länder. Dass wir heute Vertriebsniederlassungen nicht nur in Deutschland, der Schweiz und Italien, sondern auch in Polen, Tschechien und der Slowakei betreiben, ist zweifellos auf die Europäische Integration zurückzuführen. Zudem brachte die Öffnung der Grenzen durch das SchengenAbkommen wesentliche Vereinfachungen in der administrativen Durchführung von Lieferungen in den gemeinsamen Wirtschaftsraum. Diese Vorteile sind unbestreitbar. Die Entwicklung und Harmonisierung des europäischen Gesetzeswerkes dagegen ließ für ein erfolgreiches und expandierendes Unternehmen dennoch manche Wünsche offen. Wir als Unternehmer agieren in einem globalen Umfeld. Doch auf Seiten des Staats sehen wir uns Behörden gegenüber, deren Vorschriften und Rahmenbedingungen nicht selten die fachliche Kompetenz vermissen ließen. Einige Beispiele mögen dies belegen.

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Viel Bürokratie und hohe Kosten – das Sicherheitsdatenblatt

Die erste Richtlinie zur Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe, zu denen auch Lacke zählen, wurde 1967 von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erlassen. Diese Richtlinie wurde 1989 im Chemikaliengesetz und einer ganzen Reihe von Durchführungsverordnungen, wie z. B. der Chemikalienverordnung, in Österreich umgesetzt. Jedes Produkt der Chemischen Industrie und damit auch der Lackindustrie musste, sofern es als gefährlich im Sinne der 15 gefährlichen Eigenschaften des Chemikaliengesetzes (entzündlich, brandfördernd, gesundheitsschädlich etc.) galt, nach detaillierten Vorgaben verpackt und gekennzeichnet werden. Das war die Geburtsstunde des „Sicherheitsdatenblattes“, das wir mit jeder ersten Produktlieferung dem Kunden zu übermitteln hatten. Diese Datenblätter enthalten detaillierte Informationen über die Art des Produktes, mögliche Gefahren, chemische Charakterisierung, Zusammensetzung, Erste-Hilfe-Maßnahmen, Brandbekämpfung, Lagerung, Schutzausrüstung und vieles andere mehr. Im Laufe der Jahre ist sein Umfang dank ständig erweiterter Vorschriften von ursprünglich zwei auf dann neun Seiten angewachsen. Dies alles war mit einem erheblichen administrativen Aufwand verbunden. Immer detailliertere Zusatzetiketten und Gefahrstoffsymbole mussten angebracht werden. Obwohl von der Industrie heftig bekämpft, bestand Österreich auf den sogenannten „höheren Standards“ im Bereich der Kennzeichnung und verlangte über das EU-Recht hinaus noch verschiedene Zusatzkennzeichnungen auf der Etikette wie beispielsweise die durchgestrichene Mülltonne oder die durchgestrichene WC-Brille und bestand zudem auf der unterschiedlichen Einstufung von fünfzig Stoffen. Das österreichische Recht wurde also nur zum Teil an das EU-Recht angepasst, was zur Folge hatte, dass exportierende Betriebe wieder teure Zusatzregelungen umsetzen mussten. EU-rechtlich war das zulässig, weil Österreich sich im Beitrittsvertrag zur Europäischen Union diese Abweichungen ausbedungen hatte. Diese sogenannten „höheren Standards“ galten zunächst für vier Jahre und wurden dann noch einmal zwei Jahre verlängert.

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Verordnungen am laufenden Band

Anfang der 1990er Jahre führte die von den Behörden geforderte Prüfung von Lackgebinden – angefangen von kleinen Dosen bis zu Fässern – zur Verpackungsverordnung, einer Durchführungsverordnung zum Abfallwirtschaftsgesetz, die im Jahre 1992 erlassen worden war. Die Verpackungsverordnung regelte den Umgang mit Verpackungen jeglicher Art und zielte darauf ab, Verpackungsabfälle wieder zu verwenden oder zu verwerten. Von diesem Zeitpunkt an durften unsere Produkte nur in Gebinden mit einer Prüfnummer abgefüllt werden. Darüber hinaus ist in der Fertigpackungsverordnung aus dem Jahr 1993 ein Passus enthalten, der vorschreibt, dass alle in den Handel gelangenden Produkte auf Nenninhalt und NennfüllMenge zu überprüfen sind. Dazu sind akribische und sehr bürokratische Aufzeichnungen erforderlich. Bei diesem Gesetzeswerk handelt es sich um ein geradezu unglaubliches Konvolut zum Teil überzogener Vorschriften, die uns immer noch vor große Probleme stellen. Bis heute – fast 20 Jahre nach Inkrafttreten dieser Verordnung – fehlt noch immer der vom Wirtschaftsministerium zugesagte Durchführungserlass für Buntlacke, die beim Farbenhändler abgetönt werden. Obwohl diese Produkte alle Bedingungen der Fertigpackungsverordnung erfüllen, dürfen sie nicht als „geprüft“ gekennzeichnet werden.

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REACH – ein Beispiel für überzogene Umweltpolitik

Anfang dieses Jahrhunderts machte die finnische EU-Umweltkommissarin, Margot Wallström, mit der Aussage auf sich aufmerksam, die im Umlauf befindlichen Chemikalien seien für viele Allergien und Krankheiten verantwortlich. Sie untermauerte diese Aussage sogar mit einer Untersuchung ihres eigenen Blutes, in dem gewisse Chemikalien nachgewiesen worden waren. Beide Aussagen waren natürlich reine Spekulation, zudem weiß bis heute niemand, welche Grenzwerte medizinisch vorgegeben oder vertretbar sind. Leider konnte die von ihr losgetretene Kampagne nicht mehr gestoppt werden, und so erschien im Jahr 2003 das „Weißbuch der EU“ für eine Neue Europäische Chemikalienpolitik. Die darin vorgesehenen Untersuchungen aller Chemikalien, Rohstoffe und Zubereitungen waren dermaßen aufwändig und kostspielig, dass sie das Aus für viele Klein- und Mittelbetriebe bedeutet hätten. Selbst der Europäischen Kommission war dieses Weißbuch anfangs unverständlich. Diese war nämlich nur von wenigen Grundchemikalien ausgegangen. Nur durch den Einsatz vieler Fachleute aus der Chemischen Industrie, der Lackindustrie, aber auch von Mitarbeitern aus unserem Hause, ist es gelungen, aus dieser Gesetzesvorlage unsinnige und nicht umsetzbare Passagen heraus zu streichen, sodass es dann letztlich zur REACH-Verordnung (Registrierung, Evaluierung, Autorisierung chemischer Rohstoffe) gekommen ist. Um es auf den Punkt zu bringen: REACH ist ein Beispiel für überzogene Umweltpolitik. Sie bringt vor allem Klein- und Mittelbetriebe nur geringfügigen Nutzen, auf der Kostenseite dagegen eine sehr große Belastung – und das trifft letztlich auch den Konsumenten. Das Chemikalienrecht wurde neu gestaltet, weil das umfassende Wissen über mögliche gefährliche Eigenschaften von chemischen Stoffen fehlte und damit die Möglichkeit, Mensch und Umwelt gegen Gefahren zu schützen. Neu ist dabei die verpflichtende Informationswei-

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tergabe innerhalb der Lieferkette und die Einführung eines „Erweiterten Sicherheitsdatenblattes“ sowie eines „Chemischen Sicherheitsberichtes“. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass wir bereits auf Grund der existierenden österreichischen Chemikaliengesetzgebung alle sicherheitsrelevanten Daten, die bei der Verarbeitung unserer Produkte erforderlich sind, in den schon 1989 gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsdatenblättern verpflichtend festgeschrieben hatten.

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Mehr Kosten und Bürokratie ohne mehr Sicherheit

Die Umsetzung der REACH-Verordnung brachte und bringt noch immer einen enormen Kosten- und Bürokratieschub für die Unternehmen ohne ein Mehr an Sicherheit für Anwender und Umwelt. Die Administration von REACH erfordert qualifizierte Chemiker und Fachkräfte zur Umsetzung dieses Regelwerkes. Neben dem reinen Gesetzestext gibt es noch eine Vielzahl von Leitlinien und Leitfäden der EU-Kommission und der europäischen Chemikalienagentur ECHA, die mehrere tausend Seiten umfassen. REACH kann als das komplexeste und anspruchsvollste Gesetzeswerk der EU überhaupt bezeichnet werden. Das Chemikalienrecht wird dadurch geradezu revolutioniert. Leider ist es nicht gelungen, die Fertigerzeugnisse, die in den EU-Raum importiert werden, dem vollen REACH-Regime zu unterwerfen, sodass große Wettbewerbsverzerrungen zu erwarten sind. Ein importiertes Möbelstück beispielsweise aus China oder aus der Schweiz, das lackiert ist, unterliegt nicht dem strengen REACH-Regime.

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Die Biozid-Richtlinie

Ein weiteres Beispiel ist die Biozid-Richtlinie der EU. Bei Bioziden handelt es sich um Wirkstoffe und Zubereitungen, die einen oder mehrere Wirkstoffe enthalten. Sie dienen dazu, auf chemischem oder biologischem Wege schädliche Organismen abzuschrecken, unschädlich zu machen oder zu zerstören, Schädigungen durch sie zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen. Holzimprägnierungen, Holzschutzmittel und Veredelungen, die im Außenbereich angewendet werden und das Holz gegen Schädlinge und Witterungseinflüsse schützen, sind in der Regel – je nach Anspruch und Verwendung – mit Wirkstoffen gegen Schimmel-, Pilz-, aber auch Insektenbefall ausgerüstet. Diese bioziden Wirkstoffe werden üblicherweise in einer Menge von 0,3–0,8 % dem jeweiligen Produkt zugesetzt. 1998 trat – völlig unbemerkt von allen Interessenvertretern und in ihren Auswirkungen völlig unterschätzt – die Biozid-Richtlinie der EU in Kraft und wurde im Jahr 2000 mit dem Biozidprodukte-Gesetz in Österreich in nationales Recht übernommen. Die EU schreibt vor, dass alle seit Jahrzehnten bekannten und bewährten bioziden Wirkstoffe aufwändig untersucht werden müssen, damit sie weiter verwendet werden dürfen. Die Kosten für diese Untersuchungen sind beträchtlich. Schon die Zulassung dieser Produkte selbst (z. B. Holzschutzmittel) kostet etwa € 200.000. Sie ist so aufwändig und bürokratisch, dass neben der Unterstützung durch Fachexperten monatelange Arbeit von qualifizierten Mitarbeitern in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen erforderlich ist. Besonders ärgerlich ist es, dass selbst zwölf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes noch lange nicht alle rechtlichen Fragen und Verfahrensabläufe geklärt sind. Für Zulassungswerber gibt

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es von Seiten der Behörden vielfältige Hürden und Hemmnisse. Und was bringt die BiozidRichtlinie? Werden Mensch und Umwelt damit besser geschützt? Die Praxis hat gezeigt, dass diese Vorschrift mit ihren überzogenen Forderungen die gewünschten Erwartungen bei weitem nicht erfüllt hat. Auch in diesem Fall wurden wieder einmal Gefahr und Risiko verwechselt. Nicht alles, was gefährlich ist, stellt auch ein Risiko dar, so beispielsweise bei Holzschutzmitteln: Werden sie nach der Gebrauchsanweisung der Hersteller angewandt (nur im Außenbereich, kein Verschütten in das Erdreich) stellen sie kein Risiko dar. Das Risiko, also die Eintrittswahrscheinlichkeit einer davonausgehenden Gefahr für Leib und Leben sowie der Verschmutzung des Bodens und des Grundwassers ist nämlich bei sachgemäßer Anwendung nahezu ausgeschlossen. Beim Erlassen neuer Gesetze verwechseln die Behörden jedoch laufend Sicherheit und Risiko und meinen, dass durch bessere Erforschung von Gefahren, die von Chemieprodukten ausgehen können, das Risiko einer Erkrankung gesenkt wird. Das stimmt nur in äußerst seltenen Fällen, denn durch eine bessere Erforschung einer Gefahr steigt nur die Menge ungenutzter Daten. Erst durch Einhaltung bestehender Arbeitsschutzvorschriften und Beachtung von Gebrauchsanweisungen sinkt das Risiko einer Erkrankung oder Umweltgefährdung. Dafür braucht es keine neuen Gesetze, sondern nur die Einhaltung der bestehenden Vorschriften und deren Kontrolle.

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Brüsseler Harmonisierungswahn

Auch im Steuerrecht sowie im Bilanzierungs- und Buchführungsrecht ist die Brüsseler Richtlinienmaschinerie nicht untätig geblieben. Vornehmlich geht es um Harmonisierung, um die Angleichung der einzelnen nationalen Gesetze. Ziel soll es sein, so wird immer wieder hervorgehoben, das Regelwerk in der EU zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Jahr für Jahr entstehen so Richtlinien, die von den Mitgliedsstaaten in der Folge jeweils in nationales Recht zu übernehmen sind. Wie zuletzt die Änderungen im Bereich der Mehrwertsteuer für Dienstleistungen oder die Verrechnungspreisthematik gezeigt haben, ist dieses Ziel jedoch nicht so einfach zu erreichen. Durch die Übernahme der Vorschriften von EU-Richtlinien in das jeweils nationale Recht entstehen nicht immer gleichlautende Normen in allen Mitgliedsstaaten oder diese werden von den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht immer einheitlich interpretiert. Dies führt regelmäßig zu Problemen, wenn Mutter- und Tochterunternehmen in zwei Mitgliedsstaaten sitzen, die denselben Geschäftsvorfall unterschiedlich interpretieren wie zum Beispiel die Umsatzsteuerpflicht im Ursprungsland oder im Bestimmungsland. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinien in jeweils nationales Recht werden häufig Regelungen nicht getauscht, sondern ergänzt. Die Vorschriften werden dadurch nicht selten komplizierter und sind schwieriger zu handhaben, wenn es auch in Teilbereichen zu Vereinfachungen kommt. Leider hat die Wirtschaftskrise gezeigt, dass die in den Mitgliedsstaaten eingeführten Vereinfachungen und Vergünstigungen zugunsten einer – leider einnahmenseitigen – Budgetsanierung wieder abgeschafft werden. So waren in Deutschland geringwertige Wirtschaftsgüter bis € 410,– sofort als Aufwand erfassbar. Im Zuge der Krise wurde diese Betragsgrenze abgeschafft und die Poolbewertung

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für Wirtschaftsgüter zwischen € 150,– und € 1000,– eingeführt. Um die Wirtschaft zu beleben, gibt es seit dem Jahr 2011 nun verschiedene Wahlrechte, wobei beide Regelungen – die alte wurde reaktiviert und die neue nicht abgeschafft – nebeneinander bestehen. Bei diesen geringen Betragsgrenzen stellt sich die Frage nach der Effizienz.

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Die Unternehmen als Erfüllungsgehilfen des Staats

Bereits in der Vergangenheit wurden die Unternehmen vom Staat zu einer Vielzahl bürokratischer Arbeiten wie beispielsweise der Erstellung von Statistiken oder der Erfassung und Weitergabe von Unternehmensdaten bzw. von Steuererklärungen herangezogen. Durch die Vernetzung der Finanzbehörden der Mitgliedstaaten sowie durch den Informationsaustausch zwischen den einzelnen EU-Mitgliedern mittels elektronischer Erfassung von Steuererklärungen ist die Belastung weiter gestiegen. Jetzt müssen auch Kennzahlen weitergegeben, innergemeinschaftliche Geschäfte gemeldet und die elektronische Vorsteuerrückerstattung innerhalb der EU ausgeführt werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Viele Vorgänge wurden zwar vereinheitlicht und vereinfacht. Auf der anderen Seite sind jedoch neue Vorschriften entstanden, die zudem noch von den Mitgliedsländern unterschiedlich ausgelegt werden, was wiederum unsere Abläufe behindert. Mehrarbeit und Mehrkosten sind die Folge. So entstehen eben keine neuen Arbeitsplätze.

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Arbeitsrecht weitgehend nicht harmonisiert

Die Harmonisierung im Arbeitsrecht lässt dagegen auf sich warten. Auch in absehbarer Zeit scheint dieser Komplex nicht auf der Agenda zu stehen. Nach wie vor hat jedes Land sein nationales Arbeitsrecht mit abweichenden Steuern und Abgaben, was dazu führt, dass die Standards stark voneinander abweichen und der Faktor „Arbeit“ unterschiedlich belastet wird. Das führt zwangsläufig zu Wettbewerbsverzerrungen. Da es offenbar den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht möglich ist, in absehbarer Zeit ein langfristig finanzierbares, einheitliches Pensionsrecht für alle Arbeitnehmer zu realisieren, wäre Brüssel gefordert, initiativ zu werden. Stattdessen leistet sich Österreich ein entbehrliches „Sozialpartner-Paket zum Nationalen Aktionsplan (NAP) für Gleichstellung“, wonach künftig auch Einkommensberichte für den Betriebsrat zu erstellen sind. Außerdem ist bei Stellenausschreibungen der Kollektivvertrag anzugeben – eine unsinnige Regelung, da doch die Leistung zu beurteilen ist und eine geringere Entlohnung als im Kollektivvertrag vorgesehen, nicht möglich ist. Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass in unserem Betrieb stets der Mensch Mittelpunkt des Geschehens ist. Wir brauchen keine unnötigen Gendergesetze. Wir brauchen verständliche, umsetzbare und praxisnahe Gesetze und Vorschriften, bei denen das Verhältnis Kosten zu Nutzen stimmt und die unsere Arbeit nicht erschweren, sondern eher erleichtern.

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Kritik an der Politik muss deutlicher werden

Als von der Regierung Schüssel das sogenannte „Golden Plating Verbot“ beschlossen wurde, dass bei der Umsetzung der EU-Richtlinien in nationales Recht nicht strengere Regelungen entstehen dürfen als die in den EU-Richtlinien festgelegten, schöpften wir Hoffnung auf einheitlichere Wettbewerbsbedingungen. Es blieb aber leider nur bei einem Lippenbekenntnis. Die Interessenvertretungen Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung haben zwar diese überzogenen gesetzlichen Rahmenbedingungen kritisch vermerkt. Dennoch greift deren Kritik am „Versagen der Politik“ zu kurz. Kaum jemand geht den Ursachen auf den Grund. Ist es die Schwäche der Interessenvertretungen, fehlt es an Durchsetzungsvermögen, an Hartnäckigkeit? Oder ist es das Unverständnis der Legislative für die notwendigen Rahmenbedingungen einer sinnvollen Unternehmensführung? Wie kann es sonst möglich sein, dass Gesetze beschlossen werden, deren Vollzug geradezu unmöglich ist? Oder ist gar die Qualifikation unserer Politiker – Minister, Abgeordnete und Mandatare –, die letztlich die häufig wirklichkeitsfremden Beschlüsse verantworten, nicht ausreichend? Haben unsere Politiker nicht die Voraussetzungen, um betriebswirtschaftliche und wirtschaftspolitische Zusammenhänge zu erkennen? Die Zeit drängt. Meiner Meinung nach müssen jetzt Vorschläge auf den Tisch, wie die Wirtschaftskompetenz im Bereich der Legislative gefördert werden kann. Politiker müssen mehr Sachverstand und Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge mitbringen! Wir brauchen kompetente Politiker, die die Zusammenhänge einer globalen Wirtschaft verstehen und diese den Bürgerinnen und Bürgern erklären können. Die Finanz- und Schuldenkrise hat uns leider – nicht nur in Österreich – die Inkompetenz der Politiker drastisch vor Augen geführt. Eine solche Initiative erfordert daher Vision, Geduld, Ausdauer und natürlich finanzielle Mittel. Parteien und Interessenvertretungen müssen die Verantwortung für den politischen Nachwuchs übernehmen. Strukturen gilt es zu entwickeln, um junge, dynamische, in Wirtschaftsfragen kompetente Fachleute heranzuziehen, die dann auch eine Chance in der Politik erhalten. Unternehmer haben dazu nur selten die nötige Zeit – aber auch sie sind gefordert, Ideen zu entwickeln und finanzielle Mittel bereit zu stellen, um eine solche Elite heranzubilden.

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Mit der Freunderlwirtschaft muss Schluss sein

Aber auch die ethischen Standards in der Politik sind ein wichtiger Faktor für eine sinnvolle Wirtschaftspolitik. So gesehen müssen uns die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte und auch die jüngsten Ereignisse in Österreich nachdenklich stimmen. Zahlreich sind die Fälle, in denen Volksvermögen verschleudert wurde und hart erarbeitete Steuerleistung zur Finanzierung von Fehlleistungen des Staates herhalten musste. Die Verluste der verstaatlichten Industrie, Skandale rund um „Klimatechnik“, „Konsum“ oder „Arbeiterzeitung“, ein rechtmäßig wegen Steuerhinterziehung verurteilter Finanzminister, BAWAG- und ÖGB-Skandal sind dafür nur einige Beispiele. Zu begrüßen ist die Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe. An der Freunderlwirtschaft unter den Politikern, sich lukrative Posten zuzuspielen, hat sich allerdings nichts geändert. Ein Finanzminister, der laut Eigendefinition „zu schön und charismatisch und zu intelligent“ ist, aber eben nicht „super sauber“ agierte oder die „Lobbying“-Aktivitäten eines nunmehr ehemaligen Europaabgeordneten – all das zeigt: Es ist wirklich nicht überraschend, dass die Bevölkerung kein Vertrauen mehr in die Politik hat.

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Während diese Steuergelder verschleudert wurden, legten familiengeführte Betriebe Schilling auf Schilling und seit dem Jahr 2002 Euro auf Euro zusammen, um Kredite für Investitionen zu erhalten oder Eigenkapital anzusammeln, das letztlich dazu dient, Arbeitsplätze zu schaffen. Geht es den Politikern nur um die Befriedigung der eigenen Wählerklientel? Wo bleibt die Leistung, an der sich die Wirtschaft orientieren muss, um zu überleben? Wo bleibt die Vorbildfunktion für die Bevölkerung, für die Jugend von heute, welche die heute beschlossenen Belastungen von morgen erwirtschaften soll? Wo bleibt die Integrität jener Personen, denen wir anlässlich jeder Wahl Vertrauen und Zuversicht als Vorausleistung entgegen gebracht haben? Wo bleibt die Moral und Anständigkeit der Politiker, die uns in Sonntagsreden Versprechungen machen und am Montag bereits die Meinung ändern? Die aktuelle Entwicklung verstärkt den Eindruck, dass Machtgier und nicht die Problemlösung oder Umsetzung von Visionen im Sinne des Gemeinwohls im Vordergrund stehen.

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Mehr politische Ethik braucht der Staat

Wir brauchen daher eine neue Generation von Politikern, die sich nicht persönlich bereichern und der Freunderlwirtschaft widerstehen. Unternehmen, Berufsvereinigungen und Interessengruppen haben sich Ethikkodizes zugelegt, während Politiker und staatliche Einrichtungen offenbar glauben, ohne solche Selbstverpflichtung auszukommen. Angesichts der Ereignisse ist es höchst an der Zeit, endlich „die Sümpfe trocken zu legen“, wie es seinerzeit Bundespräsident Rudolf Kirchschläger formuliert hatte. Österreich braucht mehr politische Ethik. Diese müsste nicht neu erfunden werden. Es kommt nur darauf an, die traditionellen Werte der Familienunternehmen wie Anstand, Ehrlichkeit, Vertrauen oder Pflichtbewusstsein im Sinne des Gemeinwohls bewusst zu leben. Für viele Familienunternehmen ist das eine Selbstverständlichkeit. Umso gravierender ist es, dass sie durch Überregulierung daran gehindert werden, ihre volle Leistung zum Wohle der Volkswirtschaft zu entfalten.

Institutioneller Wandel der Unternehmensführung bei den Sparkassen in Österreich vom frühen 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Christian Dirninger

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Dimensionen des Wandels

So wie in anderen europäischen Ländern setzte auch in Österreich im Verlauf der 1960er Jahre und dann in deutlich verstärkter Weise ab den 1970er Jahren ein nachhaltiger Wandel der Sparkassen von traditionellen Geld- und Kreditinstituten hin zu regionalen Universalbanken mit starker regionaler Verankerung im Retailgeschäft ein.1 Die dabei vor sich gegangene Etablierung moderner Managementstrukturen in der Betriebsorganisation und in der Unternehmensführung haben Richard Hammer und Katharina Kaltenbrunner am Beispiel der Salzburger Sparkasse ausführlich dargestellt.2 In dem vorliegenden Beitrag geht es um die Entwicklung davor – im Speziellen seit der Gründungsphase der österreichischen Sparkassen im frühen 19. Jahrhundert und deren Wandel von ursprünglich explizit sozialpolitischen Institutionen zu regionalen geld- und kreditwirtschaftlichen Unternehmen. Besonders interessiert dabei die Entwicklung der institutionellen Struktur der Unternehmensführung, also der Organe und deren Kompetenzen. In der Tendenz wird dabei eine langfristige Kontinuität einer Grundstruktur erkennbar, die im Verlauf der Entwicklung, entsprechend den sich im industriellen Wachstums- und Modernisierungsprozess sowie auch im Wechsel der politischen Regime verändernden Rahmenbedingungen variiert bzw. adaptiert wurde. Wenn in Bezug auf Sparkassen im auf diese Weise abgegrenzten Betrachtungszeitraum von „Unternehmen“ bzw. „Unternehmensführung“ die Rede ist, dann handelt es sich um eine spezifische Form von „Unternehmen“, für die die Ertrags- bzw. Gewinnerzielung – jedenfalls in formaler Hinsicht – gleichsam Mittel zum Zweck war. Dies fand auch in der Gestaltung 1

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Dirninger, Transformationen im österreichischen Bankensystem seit der Mitte der 1950er Jahre, in: Ahrens/Wixforth (Hrsg.), Strukturwandel und Internationalisierung im Bankwesen seit den 1950er Jahren (2010); Frasl/Haiden/ Taus (Hrsg.), Österreichs Kreditwirtschaft. Von der Reichsmark über den Schilling zum Euro (2007); Österreichischer Sparkassenverband (Hrsg.), Die Sparkassen. Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft (2005). Hammer/Kaltenbrunner, Managementsysteme & Führungsstrukturen der Salzburger Sparkasse 1970–2004, in: Dirninger/Hoffmann (Hrsg.), 150 Jahre Salzburger Sparkasse. Geschichte – Wirtschaft –Recht (2006); Hinsichtlich der dabei maßgeblichen Veränderungen in der geschäftlichen Entwicklung: Scherrer, Wirtschaftliche Aspekte der Entwicklung der Salzburger Sparkasse von der Mitte der 1970er Jahre bis zur Gegenwart, in: Dirninger/Hoffmann (Hrsg.), 150 Jahre Salzburger Sparkasse. Geschichte – Wirtschaft – Recht (2006).

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und Veränderung des staatlich vorgegeben bzw. kontrollierten normativen Regelwerkes, das eine wesentliche konstitutive Determinante für die Handlungsspielräume der Unternehmensführung bei Sparkassen bzw. deren Professionalisierung darstellte, seinen Niederschlag.3 Charakteristisch ist, dass dabei der ursprüngliche „Unternehmenszweck“, nämlich das primär auf die Bedürfnisse der regionalen Bevölkerung und Wirtschaft ausgerichtete Angebot an vorsorgeorientierter Sparmöglichkeit und kostengünstiger Finanzierung von Konsum und Investition formal erhalten geblieben ist, dass aber andererseits die rasch darüber hinaus expandierende faktische Geschäftsentwicklung zunehmenden Anpassungsdruck erzeugt hat.4 Wie erwähnt sind die Sparkassen in Österreich bereits im frühen 19. Jahrhundert entstanden, wobei die, nach englischem und französischem Vorbild im Jahre 1819 in Wien-Leopoldstadt gegründete „Erste österreichische Spar-Casse“ eine der ersten derartigen Institutionen in Europa gewesen ist und in den drei folgenden Jahrzehnten in etlichen größeren Städten des Habsburgerreiches, insbesondere in Provinzialhauptstädten, nach dem Wiener Vorbild ebensolche Sparkassen gegründet wurden.5 Dieser ersten Gründungswelle folgte ab Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine wesentlich umfangreichere zweite Gründungswelle im mittelund kleinstädtischen Bereich. Ab den 1880er Jahren kam es dann sukzessive zur Gründung von Sparkassenverbänden auf Länderebene bis dann 1905 der „Reichsverband deutscher Sparkassen in Österreich“ errichtet wurde.6

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Vereinssparkassen in den ersten Jahrzehnten

In der ersten Gründungswelle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden die Sparkassen als Vereinssparkassen. Dabei bildete sich aus der jeweiligen städtischen Oberschicht ein Sparkassengründungsverein („Gesellschaften von Menschenfreunden“) als Trägerorganisation der zu gründenden und zu betreibenden Sparkasse. Dessen Mitglieder brachten je nach Höhe des bereitgestellten Betrages als so genannte „Gründer“, „Stifter“ oder „Beförderer“ der Sparkasse das Gründungskapital auf und übernahmen bis zur Bildung eines entsprechenden Reservefonds die Haftung für die Einlagen bei der Sparkasse. Die Sparkasse selbst stand aber nicht im Eigentum des Vereins bzw. der Vereinsmitglieder, sondern firmierte als eigene Rechtsperson, beispielsweise als „Erste österreichische Spar-Casse“ oder „Allgemeine Sparcasse zu Salzburg“.7 Sie war somit eigentümerlos, hatte aber in Form des Vereins einen Gewährträger. 3 4

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Grundsätzlich entwickelten sich diese Regelsysteme in drei aufeinander bezogenen Rechtsmaterien, den obrigkeitlichen Erlässen und Gesetzen, den Satzungen und den Geschäftsordnungen. Dies lässt sich in Fallstudien immer wieder feststellen: Z. B. Haiden, Die Z – Eine Wiener Erfolgsgeschichte. Von der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien zur Bank Austria 1907 bis 1991 (2007); Sandgruber, 150 Jahre Sparkasse Oberösterreich (1999); Rauchenwald, Die Grazer Sparkassen. Chronik 1825–2000 (2000); Dirninger/Hoffmann (Hrsg.), 150 Jahre Salzburger Sparkasse. Geschichte – Wirtschaft –Recht (2006). Thausing, Hunder Jahre Sparkasse. Anläßlich des hundertjährigen Bestandes der ersten österreichischen SparCasse 1819–1919 (1919); Wien, am Graben 21, 150 Jahre Erste österreichische Spar-Casse. 150 Jahre österreichische Geschichte (1969). Dirninger, Ein Vergleich der Gründungsgeschichte der Sparkassen Österreichs und Bayerns (1997); Paleczny/ Kraetschmer, Im Dienste der Sparkassen. Die Geschichte des österreichischen Sparkassenverbandes, in: Österreichischer Sparkassenverband (Hrsg.), Die Sparkassen, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft. 100 Jahre Sparkassenverband Österreich (2005). Die Salzburger Sparkasse wurde ursprünglich (1856) noch als Vereinssparkasse gegründet, 1860 dann aber in eine kommunale Sparkasse umgewandelt: Dirninger, Die geschäftliche und institutionelle Entwicklung der

Institutioneller Wandel der Unternehmensführung bei den Sparkassen in Österreich

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Die Rechtsgrundlage für das Sparkassengeschäft bestand zum einen in der an den Verein erteilten obrigkeitlichen (letztlich kaiserlichen) Genehmigung zur Errichtung einer Sparkasse und zum anderen in den, ebenfalls auf diese Weise zu genehmigenden Statuten. Bis in die 1840er Jahre wurden die Sparkassen somit im Einzelgenehmigungsverfahren errichtet. Die diesen Genehmigungen zugrunde liegende primäre Aufgabenstellung war die Annahme und Verzinsung von kleinen Spareinlagen der unteren Bevölkerungsschichten zur Daseinsvorsorge, also in diesem Sinne ein sozialpolitischer „Unternehmenszweck“. So hatte beispielsweise die, auch in dieser Hinsicht modellhafte Erste österreichische Spar-Casse laut der Präambel ihrer Statuten vom 9. August 1819 den Zweck, „dem Fabriksarbeiter, dem Handwerker, dem Taglöhner, dem Dienstboten, dem Landmanne oder sonst einer gewerbsfleißigen und sparsamen minderjährigen oder großjährigen Person die Mittel in die Hand zu geben, von ihrem mühsamen Erwerb von Zeit zu Zeit ein kleines Kapital zurückzulegen, um solches in späteren Tagen, zur Begründung einer besseren Versorgung, zur Aussteuer, zur Aushilfe in Krankheit, im Alter oder zur Erreichung irgendeines löblichen Zweckes zu verwenden.“8 Im Sinne dessen war die Einlagenhöhe begrenzt um größere Kapitalien von der Benützung der Sparkasse auszuschließen. Die Veranlagung der Spargelder hatte im Wesentlichen in Hypothekardarlehen, in Staatspapieren oder in Aktien der 1816 errichteten Oesterreichischen Nationalbank zu erfolgen. Die „Verwaltung“, in diesem Sinne also die „Unternehmensführung“ dieser Vereinssparkassen geschah durch im Rahmen des Vereins gebildete und über ein bestimmtes Wahlverfahren durch die Vereinsmitglieder besetzte Organe.9 Diese waren der „Ausschuss“, die „Direktion“ und das „Kuratorium“. Dabei stellte der Ausschuss das oberste Gremium dar, das aus seinen Mitgliedern wiederum die Direktion und das Kuratorium wählte sowie die Reglements für diese Organe erstellte. Weitere wesentliche Kompetenzen des Ausschusses waren die Genehmigung der Rechnungsabschlüsse, die Beschlussfassung über Gewinnverwendung, über eventuelle Statutenänderungen und allenfalls über die Auflösung des Vereins. Dabei wurde die Tätigkeit des Ausschusses alsbald in Abteilungen („Komitees“) gegliedert. Die aus dem und durch den Ausschuss gewählte Direktion bestand aus ein oder zwei „Obervorstehern“, mehreren, für einzelne „Geschäftszweige“ verantwortliche „Vorstehern“ und aus „Ersatzmännern“. Die gewissermaßen als leitende Direktoren fungierenden Obervorsteher wiesen „den Vorstehern die Abteilungen zu, über welche sie statutenmäßig die Aufsicht zu führen“ hatten.10 Die Aufgabe der Direktion war die „Verwaltung des Vermögens nach den Statuten und der Geschäftsordnung“, also im Grunde die Geschäftsführung. Über „ihre Geschäftsführung“ hatte die Direktion gegenüber dem als Aufsichtsorgan agierenden Ausschuss „jährlich ausführliche Rechnung“ zu legen und war „jedem einzelnen Interessenten der Sparkasse nach den Grundsätzen der Gesellschafts- und Bevollmächtigungsverträge für die genaue Beobach-

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Salzburger Sparkasse von ihrer Gründung bis zu den 1970er Jahren, in: Dirninger/Hoffmann (Hrsg.), 150 Jahre Salzburger Sparkasse. Geschichte – Wirtschaft –Recht (2006), S. 19 ff. Statuten der Ersten österreichischen Spar-Casse vom 9. August 1819, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 252. Nach dem Muster der Statuten der Ersten österreichischen Spar-Casse, die Vorbild für andere Vereinssparkassen waren: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 254 ff. § 8 des Reglements der Ersten österreichischen Spar-Casse 1819, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 258.

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tung der Statuten und des Reglements verantwortlich.“11 Für die materielle Durchführung des täglichen Kassenverkehrs und der laufenden Buchführung bzw. Rechnungslegung war die Direktion zur „Bestellung von Beamten“, also von Personal berechtigt. Das ebenfalls aus dem und durch den Ausschuss gewählte Kuratorium schließlich fungierte als permanentes Kontrollorgan gegenüber der Direktion. Ihm oblag die diesbezügliche „Kontrolle des Rechnungs- und Kassawesens.“ Dabei konnten die Kuratoren, „so oft sie es im Laufe des Jahres gut finden, nach Weisung der Statuten und des Reglements, Rechnungsund Kassenrevisionen vornehmen, nötigenfalls auch den Ausschuss zusammenberufen.“12 Die „Sperre“ der „alle Gaben der Stifter und Beförderer, alle Erlage, alle angekauften Effekten und öffentliche Staatspapiere“ enthaltenden Kasse lag in der gemeinsamen Kompetenz eines Obervorstehers, eines Vorstehers und eines Kurators, wobei dem „Kassier“ für die laufende operative Geschäftstätigkeit jeweils „nur so viel in seiner Verwahrung“ belassen wurde, „als ihm nach zu machender Erfahrung zu den täglichen Ausgaben erforderlich ist.“13 Insgesamt also lag die „Unternehmensführung“ der Vereinssparkassen bei aus dem Trägerverein, jeweils auf bestimmte Zeit gewählten Organen und Funktionären (Wiederwahl möglich). Und es gab in Form der von der Direktion zu bestellenden „Beamten“ auch angestelltes Personal im laufenden Geschäftsbetrieb. Dabei waren „die Dienstleistungen der Obervorsteher, Vorsteher, Ersatzmänner und Kuratoren“, also der Funktionäre, ehrenamtlich und als solche „unentgeltlich“. Dem gegenüber wurde den „für die ununterbrochenen oder laufenden Geschäfte der Sparkasse“ von der Direktion „unumgänglich nötig bestellten Beamten“ ein „Gehalt“ bewilligt.14 Eine spezifische, in irgendeiner Weise normierte Vorgabe für eine fachliche Qualifikation gab es weder für die Funktionärsebene noch für die „Beamten“. Die Geschäftstätigkeit der in dieser organisatorischen Struktur betriebenen Vereinssparkassen nahm rasch zu, wobei vor allem die Begrenzungen auf kleine Einlagen bzw. die unteren Bevölkerungsschichten in zunehmendem Maße überschritten wurden. Somit wuchs in der Staatsverwaltung die Ansicht, dass es zu einer generellen Regelung für die Geschäftstätigkeit der Sparkassen kommen sollte. Diese kam dann auch 1844 mit dem so genannten „Regulativ“ zustande.

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Regulativ 1844 und kommunale Sparkassen

Für die weitere Entwicklung von Unternehmensform und Unternehmensführung von Sparkassen waren insbesondere drei inhaltliche Schwerpunkte des Regulativs relevant: Erstens die Bekräftigung des Unternehmenszweckes hinsichtlich der Konzentration auf die Unterschichten und kleinen Sparkapitalien, zweitens die Ausdehnung der Trägerschaft auf die Gemeinden und drittens die Einführung einer permanenten Staatsaufsicht.

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§ 19 der Statuten der Ersten österreichischen Spar-Casse, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 255. § 21 der Statuten der Ersten österreichischen Spar-Casse, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 255. § 33 der Statuten der Ersten österreichischen Spar-Casse, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 256 f. §§ 22 u. 23 der Statuten der Ersten österreichischen Spar-Casse, § 14 des Reglements der Ersten österreichischen Spar-Casse 1819, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 255 u. 259.

Institutioneller Wandel der Unternehmensführung bei den Sparkassen in Österreich

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Im Sinne der Bekräftigung des Unternehmenszweckes bezeichnete das mit kaiserlicher Entschließung vom 2. September 1844 als „gesetzliche Richtschnur“ erlassene Sparkassenregulativ15 die Sparkasse explizit als „gemeinnütziges Institut“ mit dem „auf die allmähliche Verbesserung des Zustandes der ärmeren Volksklassen gerichteten Zwecke“, die „vor Mißbräuchen“, also der Ausdehnung ihrer Tätigkeit auf größere Einlagen und Veranlagungen, „sicher zu stellen“ sei. Demgemäß lautete der § 1: „Die Bestimmung der Sparkassen besteht darin, den minder bemittelten Volksklassen Gelegenheit zur sicheren Aufbewahrung, Verzinsung und allmählichen Vermehrung kleiner Ersparnisse darzubieten, dadurch aber den Geist der Arbeitsamkeit und der Sparsamkeit bei denselben zu beleben.“ Mit der im Regulativ festgelegten Ausdehnung der Trägerschaft auf die Gemeinden (§ 3) wurde die rechtliche Grundlage für die ab Mitte der 1850er Jahre einsetzende und in den folgenden Jahrzehnten rasch zunehmende Gründungswelle kleiner und mittlerer kommunaler Sparkassen gelegt. Dabei trat die Gemeinde hinsichtlich der Bereitstellung des Gründungskapitals und der Garantie bzw. Haftung für die Einlagen in die Position des Gründungsvereins bei den bisherigen Vereinssparkassen.16 Zugleich wurde eine strikte Trennung des Sparkassenvermögens vom Gemeindevermögen dahingehend verordnet, dass Sparkassen „immer einen besonderen, von den Kassen der Kommunalverwaltung in Absicht auf Verwahrung und Verrechnung völlig getrennt zu haltenden Fonds zu bilden“ hatten (§ 22). Nachdem dies in der Praxis häufig nicht ausreichend geschah und „die Tendenz einer verstärkten Einflussnahme der Organe der Gemeindeverwaltung auf die Sparkasse und eine Verwischung der institutionellen Grenzen bemerkbar“17 wurde, wurde die institutionelle Unabhängigkeit der Sparkasse von der Haftungsgemeinde in einem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Mai 1890 neuerlich festgestellt und in der Folge im § 2 der Mustersatzung 1892 explizit formuliert: „Die Sparkasse ist keine Gemeindeanstalt, sondern ein selbständig errichtetes und organisiertes, unter Staatsaufsicht stehendes Institut“.18 In dieser Trennung von Sparkassenvermögen und Gemeindevermögen lag auch ein spezifischer Ansatzpunkt für die Herausbildung einer das laufende Kassengeschäft sowie die Buchführung und Rechnungslegung betreffenden hauptamtlichen Geschäftsführung. Allerdings erfolgte diese, jedenfalls bei den kleineren Sparkassen, zunächst oft in Personalunion durch einen oder mehrere Gemeindebeamte. Die für die „Verwaltung“ der kommunalen Sparkassen, also für die „Unternehmens“- bzw. Geschäftsführung relevanten Bestimmungen sind in den in den Jahren 1853 und 1855 erlassenen Mustersatzungen enthalten, in denen nochmals der „Zweck der Sparkassen“ dahingehend bestimmt wurde, „den minderbemittelten Volksklassen die Gelegenheit zur sicheren Aufbewahrung, Verzinsung und allmählichen Vermehrung kleiner Ersparnisse darzubieten“ und dadurch „den Geist der Arbeitsamkeit und Sparsamkeit bei denselben zu wecken.“19 Für einzelne Sparkassen gab es spezifische, auf die regionale Wirtschafts- und Gesellschafts15 16

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Regulativ für die Bildung, Errichtung und Überwachung der Sparkassen, abgedruckt in: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 260 ff; Die folgenden Zitate sind danach zitiert. Neben Gemeindesparkassen (wobei auch mehrere Gemeinden gemeinsam eine Sparkasse gründen konnten) wurden ab den 1860er Jahren auf Grund des Reichsgesetzes vom 5. März 1862 in der Steiermark, in Böhmen und Galizien auch Bezirkssparkassen gegründet. Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 204. Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 204. Zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 204. Diese Bestimmung findet sich auch in allen späteren Mustersatzungen wieder. § 1 des Musterstatuts 1855, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 274.

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struktur bezogene Zusätze. So heißt es etwa im § 1 des Statuts der Wiener Neustädter Sparkasse: „Der weitere Zweck der Sparkasse ist, durch Verwendung der Einlagen auf Darlehen unter möglichst billigen Bedingungen die Erhaltung, Verbesserung und Vermehrung des Realbesitzes und der Industrie im allgemeinen zu fördern.“20 Im Musterstatut 1855 wurden nun, in entsprechender Adaptierung der Verhältnisse in den bereits bestandenen Vereinssparkassen jene Organe und deren Kompetenzen festgelegt, die mit kleinen Änderungen im Prinzip bis in die 1930er Jahre die Verwaltung, also die Unternehmens- und Geschäftsführung der Sparkassen darstellten.21 Und zwar waren dies der „Ausschuss“ und die „Direktion“, wobei analog zu den Vereinssparkassen der Ausschuss quasi als Aufsichtsorgan gegenüber der Direktion als geschäftsführendem Organ fungierte. Die Ausschussmitglieder wurden von der Gemeindevertretung (Gemeinderat) mit relativer Mehrheit für eine bestimmte Dauer gewählt. Die Kompetenzen des Ausschusses waren im Wesentlichen: „Festlegung einer Geschäftsordnung, Festlegung des Einlagenzinsfusses sowie der Verwendungsart der Einlagen, Festlegung der Verwendung des Reservefonds, Personalangelegenheiten, Instruktion der Direktion und des Personals, Änderung der Statuten vorbeh. der aufsichtsbeh. Genehmigung, Beratung über sonstige wichtige Angelegenheiten, Bewilligung außerordentlicher Verwaltungsauslagen“ sowie die „Wahl der Direktion und deren Vorsitzenden“.22 Das heißt, dass auch bei den kommunalen Sparkassen, so wie bei den Vereinssparkassen, nicht nur das Aufsichtsorgan sondern auch das geschäftsführende Organ bzw. dessen Funktionäre gewählt wurden. Der auf diese Weise bestellten Direktion oblagen die „Leitung der Sparkasse“ (§ 38) im Sinne der „Führung der laufenden Geschäfte“ (§ 39) und die Verpflichtung zur „Vorlage des Rechnungsabschlusses an den Ausschuss“ (§ 40). Sie wählte aus ihren Mitgliedern einen „Vorsitzenden“ (§ 33) und einen „Kanzleivorsteher“ (§ 34), dessen Funktion die „Überwachung der Geschäftsführung“ war. Das betraf „die gehörige Verwendung der Einlagen, insbesondere für die ordnungsgemäße Elozierung, dann … die ordentliche Verwahrung der Gelder, und die Führung der laufenden Geschäfte überhaupt mit Beachtung der Bestimmungen der Statuten und der besonderen Instruktion“ (§ 38). Die Durchführung dieser Agenden konnte gegebenenfalls „mit Hilfe des angestellten und besoldeten Personals“ besorgt werden, sodass es neben den gewählten, ehrenamtlichen Funktionären auch angestelltes und besoldetes Personal gab. In der Praxis war es so, dass bei den kleineren Sparkassen die laufenden Geschäftsagenden durch die Funktionäre längere Zeit noch selbst erledigt wurden und es erst im späten 19. Jahrhundert zunehmend zur Anstellung von entsprechendem Personal gekommen ist. Währenddessen hat es bei den Vereinssparkassen und auch bei den großen kommunalen Sparkassen seit Beginn so genannte „Beamte“ gegeben. Diese „Beamtenschaft“, die bei letzteren zunächst oft auch aus der Gemeindeverwaltung rekrutiert, später aber gesondert angestellt wurde, bestand zunächst in der Regel aus einem „Kanzlisten“, einem „Sekretär“ und einem „Buchhalter“. Letzterer war meistens der erste qualifizierte Angestellte bei der Sparkasse. Alsbald ging auch die Funktion des „Kassiers“, also des Kassenverwalters, aus den Händen eines gewählten Funktionärs in diejenigen eines besoldeten Beamten über. Für den Kanzleivorsteher gab es jedenfalls insofern eine Qualifizierungsvorgabe, als dieser womöglich ein „Rechtsverständiger“ sein sollte. Wenn dies nicht der Fall war, dann musste 20 21 22

Zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 291 Anm. 1. Musterstatut 1855, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 274 ff. §§ 31 u. 32 des Musterstatuts 1855, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 212.

Institutioneller Wandel der Unternehmensführung bei den Sparkassen in Österreich

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„von der Direktion mit Genehmigung des Ausschusses ein besonderer Rechtsanwalt“ bestellt werden.23 Eine hinsichtlich der Verbindung der Gemeindeverwaltung mit „ihrer“ Sparkasse bzw. hinsichtlich des Einflusses der Gemeindepolitik auf die Geschäftsführung der Sparkasse wesentliche Bestimmung wurde in der Mustersatzung 1872 festgelegt, nämlich jene, dass der Bürgermeister der Haftungsgemeinde ohne Wahl Mitglied des Ausschusses (wo er auch den Vorsitz führen konnte) sowie der Direktion wurde.24 Wesentlich im Unterschied zu den in Österreich ab den 1880er Jahren nach dem Raiffeisensystem entstandenen ländlichen Genossenschaftskassen25 erscheinen die im Regulativ 1844 enthaltenen und auch für die Gemeindesparkassen adaptierten Inkompatibilitätsvorschriften zwischen Funktion und Kundenstatus, da darin der grundsätzliche Wesensunterschied in der Unternehmensform zum Tragen kommt. Im Sparkassenregulativ ist festgehalten „dass alle Vereinsmitglieder und die für die Verwaltung bestellten Organe von jeder Teilnahme an der nutzbringenden Verwendung der Sparkassengelder ausgeschlossen seien und bei Darlehen niemals in das Verhältnis als Schuldner zur Anstalt treten dürfen.“26 Derartiges gab es bei den Genossenschaftskassen naturgemäß nicht, da diese ja eine Selbsthilfeorganisation mit dem ausdrücklichen Zweck der auf gegenseitige Haftung an die Genossenschaftsmitglieder zu vergebenden Krediten bzw. Darlehen waren. Im Sinne dessen waren alle nicht der Genossenschaft angehörenden Personen von der Möglichkeit der Darlehensnahme explizit ausgeschlossen.27 Der dritte für die weitere Entwicklung von Unternehmensform und Unternehmensführung von Sparkassen relevante Teil des Regulativs von 1844 war die Einführung einer permanenten Staatsaufsicht. Bei den Vereinssparkassen war in den ersten Jahrzehnten über die Genehmigung zur Gründung einer Sparkasse bzw. der jeweiligen Statuten hinaus keine explizite Staatsaufsicht vorgesehen gewesen. Als es aber sehr rasch zu einer Ausdehnung des Einlagengeschäftes über die „minderbemittelten“ Personenkreise hinaus und damit zu einer Ausdehnung des Geschäftsvolumens, auch hinsichtlich der Veranlagung kam, womit die Sparkassen zu vergleichsweise großen Instituten zu werden begannen, änderte sich das. So wurde 1832 bei der Ersten österreichischen Spar-Casse ein „landesfürstlicher Kommissär“ eingesetzt, ebenso auch alsbald bei den anderen Vereinssparkassen. Das Regulativ 1844 führte dann eine allgemeine permanente Staatsaufsicht ein, „welche sich hauptsächlich auf die unausgesetzte und sorgfältige Überwachung ihrer Vermögensgebarung und auf die genaue Befolgung der in diesem Regulativ enthaltenen allgemeinen und der in den einzelnen Statuten erteilten Vorschriften zu beziehen hat.“28 Für den Handlungsspielraum der „Unternehmensführung“ in den Sparkassen relevant war dabei vor allem, dass die Staatsaufsicht, „falls sich ein Anlass zur Besorgnis in bezug auf die vollständige und gehörig gesicherte Bede23 24 25 26 27

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§ 35 des Musterstatuts 1855, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 279 f. § 33 der Mustersatzung 1872, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 288. Bruckmüller/Werner, Raiffeisen in Österreich. Siegeszug einer Idee (1988); Dirninger, 100 Jahre Raiffeisenverband Salzburg (2005). Regulativ § 22, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 264. Die Beschränkung der Darlehens- und Kreditvergabe auf die Genossenschaftsmitglieder bestand im Prinzip jedenfalls bis in die 1950er Jahre; Dirninger, 100 Jahre Raiffeisenbank Hallein 1907–2007 (2007), S. 123 ff.; Dirninger, Geschichte der Raiffeisenbank Altenmarkt-Flachau-Eben, in: 100 Jahre Raiffeisenbank AltenmarktFlachau-Eben 1910–2010 (2010), S. 71 ff. Regulativ § 27, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 265.

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ckung der Einlagen ergeben sollte“, jederzeit eingreifen und „sogleich die geeigneten Vorkehrungen zur Abwendung von Nachteilen“ treffen konnte. Im Sinne dessen wurde jeder Sparkasse „ein eigener landesfürstlicher Kommissär beigegeben, der sich von dem Gange der Geschäfte, dem Stande der Kassen und dem ganzen Betriebe der Anstalt fortwährend in Kenntnis zu erhalten, über die genaue Beobachtung der Statuten zu wachen, bei wahrgenommenen Mängeln oder Unregelmäßigkeiten die zur Herstellung der Ordnung und zur Sicherheit der Anstalt erforderlichen Vorkehrungen im gehörigen Wege zu veranlassen, und der Landesstelle nach den ihm erteilten Weisungen über den Stand der Anstalt und seine Amtshandlungen Berichte zu erstatten hat.“29 Diese, die Sparkassen von den anderen geldund kreditwirtschaftlichen Unternehmen in besonderer Weise unterscheidende unmittelbare Staatsaufsicht blieb bis ins 20. Jahrhundert erhalten, wobei nach dem Ende der Monarchie an die Stelle des „landesfürstlichen Kommissärs“ der „Staatskommissär“ mit den gleichen Befugnissen trat.30 Eine mit der Staatsaufsicht ursprünglich zusammenhängende Dimension der Unternehmensführung der Sparkassen war das Revisions- bzw. Prüfungswesen. Hier ergaben sich im Rahmen der seit dem späten 19. Jahrhundert, zunächst auf Länder- und dann auf Staatsebene entstandenen Sparkassenverbände verstärkte Bestrebungen, dieses in den organisationsinternen Bereich zu verlagern. Und zwar indem die mit der Aufsichtstätigkeit des landesfürstlichen Kommissärs verbundene laufende Rechnungsrevision durch die Landesbehörde und das Innenministerium an entsprechende Verbandsorgane delegiert werden sollte. Dies kann sicherlich auch als Bestreben nach einer gewissen Emanzipierung der Unternehmensführung der Sparkassen von der unmittelbaren Staatsaufsicht interpretiert werden. So kam es denn auch dazu, dass 1904 als erster Landesverband der „Verband deutscher Sparkassen in Böhmen“ die obligatorische Revision für seine Mitglieder durch eigene, angestellte Revisoren einführte. Alsbald wurde derartiges auch in anderen Landesverbänden eingeführt und in der Folge auch bei dem 1905 gegründeten „Reichsverband deutscher Sparkassen in Österreich“.31 Wirft man nun hinsichtlich der Professionalisierung der Unternehmensführung der Sparkassen einen Blick auf die Entwicklung der Qualifikation des Personals in den Organen und in der Geschäftsführung, so zeigt sich, dass es dafür weder im Regulativ 1844 noch in den Mustersatzungen des 19. Jahrhunderts speziellere Vorgaben gegeben hat, mit Ausnahme des Erfordernisses der „Rechtskundigkeit“ des „Kanzleivorstehers“ bzw. bei deren Fehlen der Bestellung eines „besonderen Rechtsanwalts“.32 Andererseits aber ergab sich bei den kommunalen Sparkassen doch ein gewisser, spezifischer Ansatz von Professionalisierung und Entwicklung spezifischer fachlicher Qualifikation daraus, dass es sowohl auf Funktionärsebene wie auf „Beamten“-Ebene aus der Kommunalverwaltung heraus ein, wenn auch nicht unmittelbar sparkassenspezifisches Know-how in Kassen- und Rechnungsführung gegeben hat. Sowohl hier wie auch auf der „Beamten“-Ebene bei den Vereinssparkassen entwickelte sich im Verlauf der Zunahme und Ausdifferenzierung der laufenden Geschäftstätigkeit seit 29 30 31

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Regulativ § 27, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 265. StGBl. Nr. 178/1919; Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 224. Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 226 f.; Sorger, Das Sparkassenrevisionswesen. 75 Jahre zentrales Prüfungswesen – 25 Jahre Sparkassen-Prüfungsverband, in: Österreichischer Sparkassenverband (Hrsg.), Die Sparkassen. Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft. 100 Jahre Sparkassenverband Österreich (2005), S. 118 f. § 35 des Musterstatuts 1855, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 279.

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den 1860er Jahren eine gleichsam damit mitwachsende Qualifizierung „on the job“, die mit entsprechenden Entwicklungen in der Betriebsorganisation und Betriebstechnik Hand in Hand gegangen ist. Hier kam wiederum den großen Instituten eine Vorreiterrolle zu, während es bei der Masse der kleinen Sparkassen relativ spät zu einschlägigen Modernisierungseffekten gekommen ist. So gab es bis zur Jahrhundertwende in der Masse der kleinen und mittleren Sparkassen noch keine elaborierten generellen Standards für Betriebsorganisation, Betriebstechnik und Geschäftsführung, sondern dies war stark abhängig von den jeweiligen institutsspezifischen Verhältnissen und Möglichkeiten bzw. Erfordernissen. Eine echte Vereinheitlichung des Rechnungswesens der Sparkassen kam eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg in Gang. Eine im Jahr 1913 vorgelegte Untersuchung über „Rechnungsabschlüsse und Buchhaltung der Sparkassen“, stellte fest, dass sich bis dahin beim Großteil der Sparkassen im Prinzip eine aus vier Teilen bestehende Form eines vollständigen Rechnungsabschlusses üblich geworden war: Der so genannte „Geldverkehr“ in Form einer Übersicht über die Einnahmen und Ausgaben des abgelaufenen Jahres, die die einzelnen Geschäftszweige darstellende „Fondsgebarung“, eine „Gewinn- und Verlustrechnung“ und die „Bilanz“. Die Untersuchung stellte aber in der konkreten Ausführung der Rechnungslegung eine Reihe von Unterschieden bzw. regionalen Spezifika fest.33 Die Vereinheitlichung des Rechnungswesens der Sparkassen war ab dem späten 19. Jahrhundert von der allmählichen Entwicklung einer spezifischen Ausbildung des im Kassen- und Rechnungswesen angestellten Personals begleitet, etwa mit in den Landesverbänden und im Reichsverband schrittweise eingeführten „Fachkursen“.34 Die Zunahme des Geschäftes, die sich auch in der Einführung des „Tagesverkehrs“ niederschlug, sowie die immer mehr erforderlich werdende fachliche Qualifikation, bewirkte, was bei den großen Sparkassen schon seit längerem der Fall war, zur Jahrhundertwende auch vermehrt bei den mittleren und kleineren Sparkassen, dass sich in der Praxis die Geschäftsführungsagenden und -entscheidungen zunehmend aus dem ehrenamtlichen Funktionärsbereich auf die hauptamtliche „Beamten“-Ebene verlagerten.

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Vom Ersten Weltkrieg bis zu den 1970er Jahren

Betrachtet man die institutionelle Entwicklung der Unternehmensführung der Sparkassen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bzw. in der Zwischenkriegszeit, dann spielt hierbei eine wesentliche Rolle, dass es im Zusammenhang mit der Funktion der Sparkassen in der Kriegsfinanzierung35 zu einer deutlichen Ausdehnung von deren Geschäftsspektrum gekommen ist, so etwa im Zusammenhang mit den Kriegsanleihen. In der Folge ist es der Verbandsführung gelungen, den in bankmäßige Geschäftszweige erweiterten Geschäftskreis gegen vehemente Bestrebungen des Bankensektors, die Sparkassen wieder auf ihre „ursprünglichen“ Funktionen zurückzuführen, zu behaupten.36 Dies fand im „Erlass des Bundesministeriums für Inneres und Unterricht vom 20. Juni 1922 über die Erweiterung des 33 34 35 36

Lick, Rechnungsabschlüsse und Buchhaltung der Sparkassen (1913). Hinweis bei: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 732. Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 797 ff. Pichler, Finanzierung (2004), S. 34 ff. Domes, Sparkassenwandlungen. Grundzüge einer Wirtschaftsgeschichte der deutschen und österreichischen Sparkassen (1999).

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Geschäftsbereiches der Sparkassen“37 seinen gesetzlichen Niederschlag und betraf u. a. den Scheckverkehr, Kontokorrentkredite, Wechselgeschäft, Wertpapiergeschäft und Devisengeschäft. All dies ergab einen verstärkten Handlungsdruck in der Entwicklung der Betriebsorganisation und Betriebstechnik sowie hinsichtlich der fachlichen Qualifikation bei der Bewältigung des laufenden Geschäftes sowie in der Geschäftsführung. Daraus folgte im Zuge des Überganges von der kameralistischen zur doppelten Buchführung bis Anfang der 1930er Jahre die Entwicklung einheitlicher Bilanzformulare und einheitlicher Drucksorten sowie einheitlicher Buchhaltungsvorschriften. Ebenso eine Konsequenz war der Ausbau des fachlichen Ausbildungswesens in Fachkursen. Dies betraf auch den Umgang mit den zunehmenden technischen Modernisierungsmaßnahmen wie die Einführung von Kartotheksystemen und den Einsatz von Rechen- und Buchungsmaschinen. Einen diesbezüglich besonderen Entwicklungsschub brachte schließlich die Einführung des Giroverkehrs im Jahr 1937. Ein wesentlicher Entwicklungsschritt in der überbetrieblichen Sparkassenorganisation war die 1929 eingeführte einheitliche und obligatorische Verbandsrevision, wozu beim Reichsverband ein so genannter „Revisionsausschuss“ eingerichtet wurde.38 Ein in wesentlichen Punkten neuer gesetzlicher Rahmen für die Unternehmensführung der Sparkassen wurde im so genannten „Ständestaat“ 1935 mit dem „Sparkassenverwaltungsgesetz“ geschaffen. Die darauf basierende Mustersatzung 1936 installierte in Fortsetzung der bisherigen Struktur als Führungsorgane einen „Verwaltungsausschuss“ mit Aufsichtsfunktion und den „Vorstand“ mit geschäftsführender Verantwortung, der in der Praxis weiterhin die Bezeichnung „Direktion“ führte. Die Aufgaben des Verwaltungsausschusses waren die Festsetzung einer Geschäftsordnung, die Bestimmung der zeichnungsberechtigten Beamten, die Festsetzung der Zinssätze, die Bewilligung außerordentlicher Verwaltungsauslagen, die Entscheidung über die Verwendung der Widmungsrücklage und die Entscheidung über Dienstverhältnisse.39 Dem Vorstand (Direktion) oblagen unter der Leitung eines von den Vorstandsmitgliedern aus ihrem Kreis zu wählenden Vorsitzenden die Führung der laufenden Geschäfte, die Aufstellung des Rechnungsabschlusses sowie die „Vertretung der Sparkasse“ im Sinne einer umfassenderen Zeichnungsberechtigung. Diese erstreckte sich „auf alle Geschäfte und Rechtshandlungen, die die Verfolgung des Zweckes der Sparkasse mit sich bringen kann.“40 Die Durchführung der laufenden Geschäfte erfolgte „mit Hilfe der Angestellten und Bediensteten der Sparkasse“, wobei die „Überwachung der Geschäftsführung“ stellvertretend für den Vorsitzenden des Vorstandes einem ebenfalls aus dem Kreis der Vorstandsmitglieder zu wählenden „Kanzleivorsteher“ übertragen werden konnte. Dabei stand der Direktion für die Bestellung des „zur Führung der Geschäfte, im besonderen des Rechnungs- und Kassenwesens … nötigen Personals“ ein Vorschlagsrecht zu, während die „Anstellung, definitive Ernennung sowie die Lösung des Dienstverhältnisses oder die Versetzung in den Ruhestand“

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Abgedruckt in: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 306 ff. Sorger, Das Sparkassenrevisionswesen. 75 Jahre zentrales Prüfungswesen – 25 Jahre Sparkassen-Prüfungsverband, in: Österreichischer Sparkassenverband (Hrsg.), Die Sparkassen. Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft. 100 Jahre Sparkassenverband Österreich (2005), S. 119. § 35 der Mustersatzung 1936, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 213. § 55 der Mustersatzung 1936, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 319.

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dem Verwaltungsausschuss vorbehalten war.41 Gleichermaßen hatte die Direktion ein Vorschlagsrecht bei den für die Angestellten geltenden „näheren Dienstvorschriften“, die dann vom Verwaltungsausschuss zu genehmigen waren. Wesentlich ist, dass es nunmehr dem Beamtentum analoge dauerhafte Dienstverhältnisse gab, wofür aber nur Personen in Frage kamen, „welche den Befähigungsnachweis nach den vom Sparkassenverband erlassenen Vorschriften erbracht haben.“ Und zu „leitenden Beamten“ durften nur Personen bestellt werden, „welche den besonders hiefür vom Sparkassenverbande festgesetzten Erfordernissen“ entsprachen.42 Neu und der Einordnung der Sparkassen bzw. deren Aufsichtsorgane in das nunmehrige politische Regime des „Ständestaates“ entsprechend war, dass der vom Gemeindetag zu wählende Verwaltungsausschuss nach „ständischen Gesichtspunkten“ zusammen zu setzen war. Und zwar hatte eine entsprechende Anzahl von Verwaltungsausschussmitgliedern jeweils „dem Berufsstande Land- und Forstwirtschaft, dem Berufsstande Handel und Verkehr, dem Berufsstande Gewerbe und den übrigen Bevölkerungskreisen“ anzugehören, „wobei auf die Berufsstände ,Freie Berufe‘ und ,Öffentliche Angestellte‘ entsprechend Bedacht zu nehmen ist“.43 Wie bisher war der Bürgermeister der Haftungsgemeinde ohne Wahl automatisch Mitglied des Verwaltungsausschusses und des Vorstandes (Direktion). Ebenfalls der ständestaatlichen Wirtschaftsordnung gemäß wurde im Rahmen des 1935 geschaffenen „Finanzbundes“ ein „Fachverband der Sparkassen“ eingerichtet, der unter anderem für die regelmäßige Revision der Sparkassen zuständig war.44 War die ständische Gliederung des Verwaltungsausschusses in gewisser Weise eine systemkonforme politische Vorgabe für die Unternehmensführung, so lag eine solche in expliziter Weise auch in den allgemeinen Bestimmungen des Sparkassenverwaltungsgesetzes über die Qualifikation der Mitglieder der Sparkassenorgane. Diese mussten „vaterlandstreue österreichische Bundesbürger sein, welche mindestens 30 Jahre alt sind und die für die Besorgung ihrer Aufgaben bei der Verwaltung der Sparkasse nötige Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit besitzen; insbesondere müssen sie in geordneten Erwerbs- und Vermögensverhältnissen leben sowie über eine entsprechende allgemeine Bildung und eine bei der Verwaltung der Sparkasse verwertbare berufliche Erfahrung verfügen“ und ihr Wohnsitz musste innerhalb des Geschäftsgebietes (Gemeinde, Bezirk) der Sparkasse liegen.45 Die damit deutlich sichtbar werdende politische Vereinnahmung der Sparkassen und damit auch deren Unternehmensführung fand unter dem nationalsozialistischen Regime unter anderen politischen Vorzeichen verstärkte Fortsetzung. Zum einen in institutionell-personeller Hinsicht, indem das Sparkassenpersonal auf allen Ebenen nach „politischer Verlässlichkeit“ ausgewählt wurde, zum anderen funktionell, indem die Sparkassen zu einem wesentlichen Element der Umleitung der volkswirtschaftlichen Sparquote in die Staatsfinanzierung und dabei in spezieller Weise der so genannten „geräuschlosen Kriegsfinanzierung“ gemacht wurden.46 41 42 43 44 45 46

§ 61 der Mustersatzung 1936, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 321. § 61 der Mustersatzung 1936, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 321. § 36 Abs. 7 Sparkassenverwaltungsgesetz, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 314. Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 230. § 36 Abs. 2 u. 3 Sparkassenverwaltungsgesetz, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 207 f. Pichler, Die Rolle der Sparkassen bei der Finanzierung des Ersten und Zweiten Weltkriegs(2004), S. 159 ff.; Pichler, Arbeitswelt (2008), S. 425 ff.

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Hinsichtlich der formalen Betriebsorganisation wurde die Mustersatzung 1936, mit einigen Abänderungen in der Mustersatzung 1941 weitgehend beibehalten. Zu den Abänderungen gehörte, dass der Verwaltungsausschuss nunmehr nicht mehr nach ständischen Kategorien zusammengesetzt war. Allerdings war bei der Bestellung der Mitglieder des Verwaltungsausschusses „auf die wichtigsten im Wirkungsbereich der Sparkasse vertretenen Berufsgruppen … tunlichst Rücksicht zu nehmen“.47 Eine weitere Änderung bestand darin, dass der Bürgermeister der Haftungsgemeinde nunmehr automatisch Vorsitzender des Verwaltungsausschusses war. Ferner wurde die Altersgrenze für die Mitgliedschaft im Verwaltungsausschuss auf 25 Jahre herabgesetzt sowie die zulässige Anzahl der Mitglieder des Verwaltungsausschusses, die Funktionen in der Gemeindeverwaltung bekleideten auf ein Drittel beschränkt.48 Eine weitere wesentliche Änderung war, dass nunmehr an die Stelle des bisher vom Vorstand gewählten „Kanzleivorstehers“ ein vom Verwaltungsausschuss bestellter „Sparkassenleiter“ trat. Die unmittelbarste Anpassung an das politische Regime war die Einführung des „Führerprinzips“, indem dieser Sparkassenleiter in Vertretung des Vorstandes im Sinne des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Jänner 1934 als „Führer des Betriebes“ fungierte und die Angestellten die an entsprechende Dienstvorschriften gebundene „Gefolgschaft“ bildeten. Dabei mussten die „Gefolgschaftsmitglieder … den besonderen fachlichen Erfordernissen des Sparkassendienstes entsprechen.“49 Hinsichtlich der Staatsaufsicht wurde der „Staatskommissär“ beibehalten. Darüber hinaus aber wurden die Sparkassen einer vom Reichstatthalter ausgeübten „besonderen Staatsaufsicht“ unterstellt.50 Am Beginn der Zweiten Republik wurde auf Grundlage des „Rechtsüberleitungsgesetzes“ (Staatsgesetzblatt Nr. 6/1945) die organisatorische Rekonstruktion der Sparkassen und deren Unternehmensführung vorgenommen. Zunächst wurden im Rahmen des Besatzungsregimes kommissarische Sparkassenleiter bestellt und im Personalstand Entnazifizierungsverfahren durchgeführt.51 Danach kam es zur Neubestellung von Verwaltungsausschuss und Vorstand bzw. Direktion. Bei den kommunalen Sparkassen war wiederum der Bürgermeister der Haftungsgemeinde automatisch Mitglied. In etlichen Fällen, wie etwa bei der Salzburger Sparkasse, hatte er auch die Funktion eines Direktors und später die des Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses inne.52 Wesentlich ist, dass nach dem Krieg und in der Wiederaufbauzeit die bereits in den 1930er Jahren in Ansätzen beginnende und sich in der Sparkassenorganisation des NS-Regimes verstärkende Tendenz der Verlagerung der faktischen Unternehmensführung von der gewählten Funktionärsebene auf die in einem dem Beamtenstatus angeglichene Ebene der leitenden Angestellten vollendet wurde. Wie bereits in der Kriegszeit, wo immer mehr männliche Sparkassenangestellte zum Militär eingezogen wurden, war auch nach Kriegsende angesichts 47 48 49 50 51

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§ 34 der Mustersatzung 1941, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 350. § 34 der Mustersatzung 1941, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 211. §§ 47 u. 53 der Mustersatzung 1941, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 357 u. 359. § 57 der Mustersatzung 1941, zit. nach: Fritz, 150 Jahre Sparkassen in Österreich, Bd. 1 (1972), S. 359. Pichler, Arbeitswelt ostmärkischer Sparkassen. Eine Durchleuchtung der Arbeitssituation der Gefolgschaften in den ostmärkischen Sparkassen während der NS-Herrschaft und der anschließenden Entnazifizierung (2008), S. 775 ff. Hoffmann, Die Salzburger Sparkasse als soziales System, in: Dirninger/Hoffmann (Hrsg.), 150 Jahre Salzburger Sparkasse. Geschichte – Wirtschaft –Recht (2006), S. 169 f.

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dessen dass zahlreiche männliche Sparkassenangestellte in Kriegsgefangenschaft waren, der weibliche Anteil vergleichsweise hoch. Die schwierigste Aufgabe für die Leitung und die Angestellten der Sparkassen bis Anfang der 1950er Jahre lag in der konkreten Durchführung der Währungsreform und Währungsumstellung. In den 1950er und 1960er Jahren bewirkten der Wiederaufbauaufschwung und der Übergang in die Konsumgesellschaft ein dynamisches Wachstum der Geschäftstätigkeit der Sparkassen und damit auch einen starken Professionalisierungsdruck in der Unternehmensführung, für den die tradierten Organisationsstrukturen zunehmend zu eng wurden. Am Beginn der 1970er Jahre wurde klar, dass für die nunmehr voll einsetzende Entwicklung der Sparkassen hin zu „Universalbanken“ neue Wege zu beschreiten waren. In exemplarischer Weise fand das in einem vom 1971 bestellten neuen Direktor der Salzburger Sparkasse, Harald Zimmerl, verkündeten 8-Punkte-Programm Ausdruck: „(1) Neuer Führungsstil und echtes Management, (2) Schrittweise Einführung des Marketings, (3) Konsequenter Ausbau der Automation, (4) Aufbau eines aussagefähigen Rechnungswesens, (5) Neuzeitliches Schulungswesen, (6) Verbreiterung des Dienstleistungssortiments, (7) Systematischer Ausbau des Geschäftsstellen- und des Zweigstellennetzes, (8) Konzentration der Salzburger Sparkassen.“53 Im Jahr 1979 sind dann mit dem „Kreditwesengesetz“ (KwG) und dem „Gesetz über die Ordnung des Sparkassenwesens“ (Sparkassengesetz) jene gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden, die die organisatorische Struktur der Unternehmensführung der Sparkassen den modernen Managementerfordernissen angepasst haben.

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Betriebsnachrichten der Salzburger Sparkasse 1971 Nr. 9, zit. nach: Hoffmann, Die Salzburger Sparkasse als soziales System, in: Dirninger/Hoffmann (Hrsg.), 150 Jahre Salzburger Sparkasse. Geschichte – Wirtschaft – Recht (2006), S. 174.

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Christian Dirninger

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Universität heute: Wissenschaftlicher Mikrokosmos oder Dienstleistungsunternehmen? Ulrike Aichhorn

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Einleitung

Wie in ihrer viele Jahrhunderte langen Geschichte wohl nur selten, wird die Institution Universität am Beginn des 21. Jahrhunderts einer Umstrukturierung unterworfen, die bis tief in ihr Fundament reicht. Nach umfassenden Änderungen im Studien-, Dienst- und Organisationsrecht durch das UOG ’931, brachte das UG 20022 völlig neue Rahmenbedingungen und weitere strukturelle Neuerungen im Studien-, Organisations- und Personalrecht. Das hat dazu geführt, dass die Universität als höchste Form der Wissens- und Wissenschaftsvermittlung von einer staatlichen Bildungsanstalt und Gelehrtenschule immer mehr zum „Unternehmen Universität“ mutiert. In dieser aktuellen Diskussion ist ein Blick auf die historische Dimension erhellend. Der „Bologna-Prozess“ etwa und auch der neu geschaffene Studienabschluss „Bachelor“ weisen – jedenfalls begrifflich – auf die große Geschichte der Universitäten im Mittelalter hin. Aber sind die tradierten Begriffe auch mit dementsprechenden Inhalten gefüllt? Erst mit der notwendigen Kenntnis der Wurzeln, des Werdens und der Reformen über Jahrhunderte hinweg, ist ein besseres Verständnis für den „Mikrokosmos Universität“ möglich. Der Blick aus der Rechtsgeschichte heraus trägt auch dazu bei zu beleuchten, welche Aspekte einer Universität überhaupt in Richtung eines Unternehmens wandelbar sind. Wie die Universitäts-Rechtsgeschichte zeigt, spiegeln Organisationsform und rechtliche Struktur einer Universität immer auch die Sozialordnung eines Staates wider. Freier Zugang zur höchsten Bildung oder Beschränkungen nach Herkunft, durch numerus clausus und Studiengebühren, Bildung nur für Männer oder für Männer und Frauen, autonome oder zentralistisch gelenkte Strukturen, freie Lehre und Forschung oder Zensur etc., all diese Bereiche waren und sind oftmals einem gravierenden Wandel unterworfen und beziehen sich auf Paradigmenwechsel in Staatsformen und Regierungen. In Österreich befindet sich der tertiäre Bildungssektor traditionellerweise überwiegend in staatlicher Hand. Die Universitätsreformen über die Jahrhunderte hinweg pendelten daher zwischen denselben Polen wie der Staat selbst: demokratische versus monarchische (zentralistische) Struktur, Autonomieanspruch der Universität versus Aufsichtsanspruch der (Stiftungs-)Obrigkeit. Der Bildungsbegriff bewegt sich zwischen einem Verständnis von Bildung um ihrer selbst willen und praxisbezo1 2

Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten, BGBl. Nr. 805/1993. Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002.

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gener Ausbildung nach wechselnden Bedürfnissen. An den letztgenannten Polen – Bildung vs. Ausbildung – soll der gravierende Wandel der Universitätslandschaft exemplarisch dargestellt werden.

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„Produkte“ einer Universität im Wandel der Zeit „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ (Aristoteles, Metaphysik I 1, 980 a 21)

Wissen um des Wissens willen, Lernen und Lehren um die Menschheit voranzubringen, der gelehrte Disput unter Seinesgleichen – das waren Ziel und Anliegen der ersten Universitäten3, die im mittelalterlichen Europa gegründet wurden. Sie entsprangen einem Bedürfnis nach Bildung und gelehrtem Diskurs, das die bestehenden Kloster-, Dom- und Stiftsschulen nicht länger befriedigen konnten. Lehrer und Schüler schlossen sich quasi als Berufsgenossenschaft zusammen, häufig rund um eine berühmte Autorität, und bildeten so – wie im „Bologneser Modell“ – eine universitas magistrorum et scholarium bzw. universitas studii.4 Es begann eine neue Epoche, die zur Erweiterung des Wissenschaftsbildes und zur Sprengung des tradierten Rahmens des Schulbetriebes führte. Die wohl erste Universitätsgründung in Europa erfolgte 1088 in Bologna, Namensgeberin der aktuellen Umwälzungen der europäischen Universitätslandschaft. So wie die Universität in Bologna waren auch die nachfolgend gegründeten Universitäten autonom und selbständig. Sie basierten auf einer genossenschaftlich strukturierten Personenmehrheit, hatten eigene, selbst gewählte Organe und eine eigene Rechtsgrundlage für Verwaltung und Rechtsprechung. Ab dem 14. Jahrhundert wurde es Usus, dass sowohl Papst als auch Kaiser bzw. die Landesfürsten oder kommunale Gewalten (z. B. die Städte) Universitätsprivilegien verliehen. Sie erhoben damit Schulen in den Rang einer Universität und gaben ihr den Rechtstitel für das „studium generale“. Durch den Privilegienschutz der Universalgewalten für die Korporationen und ihre Mitglieder erlangten diese also Freiheiten gegenüber weltlichen und geistlichen Obrigkeiten und es entstand ein „Sonderrechtskreis“ für den akademischen Berufsstand. Der korporative Verband der Universität war somit ein kleiner Staat im Staat, mit eigenem Recht, eigener Gerichtsbarkeit, eigenen Regeln und Traditionen, eigener Amtstracht, eigener Verwaltung, eigenen Insignien und relativer wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Die Autonomie einer mittelalterlichen Universität umfasste alle akademischen Verwaltungsgeschäfte wie Vermögensverwaltung, Organisation der Lehre, Verleihung akademischer Grade, Regelung des Zugangs zum Studium, Matrikelführung, Wahl aller Funktionsträger – vom Rektor bis zum Pedell. Die Selbstverwaltung umfasste auch die (Blut-)Gerichtsbarkeit. Diese Universitätsgerichtsbarkeit bezog sich nicht nur auf das Disziplinarwesen, sondern auch auf die Gerichtskompetenz sowohl auf dem Gebiet des Zivil- als auch des Strafrechts. Sie bezog alle Universitätsmitglieder und deren Familienangehörigen bzw. Angestellte mit 3

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Zur Geschichte der mittelalterlichen Universitätsgründungen siehe etwa Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1992); Müller, Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule (1990); Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 (1885). Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1992), S. 23.

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ein. Die Universitätsgerichtsbarkeit war somit nicht nur auf Professoren, Studenten5 und Bedienstete der Universität beschränkt, sondern erfasste auch deren Ehefrauen bzw. Witwen, die Kinder und das Dienstpersonal, ebenso Lieferanten und deren Arbeitskräfte.6 Der Sondergerichtsstand der Universitätsgerichtsbarkeit erklärt sich aus dem Wesen und der Rechtsstruktur der Korporation. Da ein Teil der Studenten dem geistlichen Stand angehörte, andere aber nicht, wären (für gleiche Delikte) verschiedene (geistliche bzw. weltliche) Gerichte zuständig gewesen. Außerdem hätte die Zugehörigkeit etwa zum Adels- oder Bürgerstand die Rechtskreise und somit die Gerichtszuständigkeiten noch weiter vergrößert. Um das reibungslose Funktionieren der autonomen Korporation zu gewährleisten, bedurfte es also einer einzigen Gerichtszuständigkeit. Die Gerichtsbarkeit lag in den Händen des Rektors und ging erst im Absolutismus auf ein Kollegialorgan (z. B. Senat) über, um auf diese Weise die Einbindung von juristisch gebildeten Professoren zu sichern, ehe sie unter Joseph II. abgeschafft wurde. Der erste akademische Grad war das Baccalaureat. Mit Absolvierung der vorgeschriebenen Vorlesungen und Disputationen konnte der Kandidat zur Prüfung zugelassen werden. Nach bestandener Prüfung sprach sich die Fakultät für die Aufnahme zum „baccalarius“ aus. Aber erst nach einem anschließend zu haltenden öffentlichen Vortrag und der Zahlung verschiedener Taxen stieg man in die Gruppe der „baccalarii“ auf. Diese ranghöheren Studenten bildeten den „Übergang“ zwischen Studenten und Lehrern, indem sie sich teils selber weiterbildeten, teils aber auch schon Vorträge und Repetitionen hielten.7 Der nächste Grad umschloss die „licentiates“. Sie bildeten die untere Kategorie der Universitätslehrer. Um mit den „doctores“ bzw. „magistri“ gleichziehen zu können, bedurfte es noch der Promotion. Diese Struktur der mittelalterlichen korporativen Universität mit Selbstverwaltung überdauerte Jahrhunderte, nicht zuletzt deshalb, weil der akademische Stand im gesellschaftlichen Ansehen zunehmend neben den Geburtsadel rückte und schließlich ab dem aufgeklärten Absolutismus den sog. „Beamtenadel“ bildete. Dies wiederum resultierte aus der Tatsache, dass die zunehmend komplexer werdenden Strukturen und Verwaltungsabläufe in Kirche und Staat bestens ausgebildete und gebildete Fachkräfte benötigten. Mit der Frühneuzeit wandelte sich die Universitätslandschaft. Universitäten wurden zunehmend ein Statussymbol für die Landesfürsten. Mit der nun einsetzenden Periode landesfürstlicher Universitätsgründungen stellten Universitäten keine Reichs- oder Nationaluniversitäten mehr dar, sondern waren Landesuniversitäten und als solche untrennbar mit der Territorialisierung des Reiches verwoben. Die Gründung von Universitäten im eigenen Land lag im Ehrgeiz der Territorialfürsten. So waren die Universitäten zwar einerseits öffentliche Institutionen, hinsichtlich Reichtums, Stipendien, Bibliotheksausstattung etc. waren sie aber „von quasi privatem Mäzenatentum abhängige Sozialorganismen“ 8. Auch heute noch begegnen wir dem einen oder anderen „Territorialfürsten“, dessen Ehrgeiz in der Gründung einer eigenen (privaten) (Landes-)Universität liegt … Das Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus führte im Habsburger Herrschaftskomplex zu einer Reihe einschneidender Staats-, Rechts- und Sozialreformen, die auch den Bildungssek5 6 7 8

Die ausschließlich männliche Formulierung entspricht der Tatsache, dass lediglich Männer zum Universitätsstudium und erst Recht als Universitätslehrer zugelassen waren. Erler (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Sp. 506 f. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien (1854), S. 44. Boehm/Müller (Hrsg.), Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (1983), S. 17.

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tor betrafen. Das Bestreben absolutistischer Herrscher, autonome Machtträger wie Universitäten zurückzudrängen bzw. auszuschalten und in die staatliche Verwaltung einzugliedern, bedeutete für die Universitäten9 die Umwandlung von einer autonomen Korporation in eine staatliche Anstalt (wenn nicht überhaupt die Herabstufung zu einem Lyzeum, wie z. B. Graz und Innsbruck), deren Lehrinhalte und Lernunterlagen unter strenger staatlicher Zensur standen. Der bislang vorherrschende starke kirchliche Einfluss im Bildungssektor wurde weitgehend beseitigt. Es wurden staatliche Vorschriften für den Unterricht ebenso erlassen wie für die Prüfungen und die Universitätsorganisation. Durch die Säkularisierung und Verstaatlichung der Universität sollte insbesondere auch ihre Sonderstellung als „Staat im Staat“ beseitigt, ihre traditionelle Autonomie gebrochen und sie allen anderen Instanzen gleichgestellt werden. Die staatlich verordnete Umgestaltung von Universitäten und Studien zielten auch auf eine dem Staatszweck dienende Modernisierung der Lehre und eine Anhebung des Studienniveaus ab, um mit anderen Ländern Schritt halten zu können. Für den Lehrbetrieb wurde verordnet, dass der Stoff zu gliedern und in Abschnitten vorzutragen war und durch laufende öffentliche Prüfungen kontrolliert werden musste. Verwaltung und Finanzen der Universität übernahm der Staat, die historische Steuerfreiheit der Universität wurde aufgehoben. Das Universitätsvermögen ging in den Staatshaushalt ein. Ein wesentlicher Pfeiler einer selbständigen Korporation war somit zum Einsturz gebracht worden. Der naturwissenschaftliche Unterricht bekam starken Auftrieb, vor allem die Medizin, ansonsten standen die rechts- und staatswissenschaftlichen Fächer im Vordergrund. Grundprinzip war die Ausbildung zu gebildeten und verlässlichen Staatsdienern, der Lehrinhalt an den Hochschulen bezog sich daher auch primär auf jene Bereiche, die dem Staat dienlich waren. Der Hochschulabschluss bzw. die Graduierung wurde Anstellungsvoraussetzung für bestimmte staatliche Berufe, was die Verbindung von Staat und Universität unterstützte.10 Der Staat diente nun nicht mehr ausschließlich als Verteidiger des wahren Glaubens und der territorialen Grenzen, sondern es waren neue Aufgaben des Staatsganzen zu erfüllen wie die Vermittlung von Wissen und Bildung an die Untertanen. Damit erhoffte man sich wiederum Nutzen für den Staat, wenn besser gebildete Staats„diener“ ihre Kenntnisse einbringen konnten. Gerade im Unterrichts- und Bildungsbereich wird der Spagat zwischen dem Bestreben der Aufklärung, den modernen Staatsbürger zur geistigen Selbstbestimmung hinzuführen, und den utilitaristischen, auf die Absicherung der Staatsallmacht zielenden Anliegen der absoluten Monarchie besonders deutlich. Betrachtet man vor diesem Spannungsfeld die Bildungs- und Universitätsreformen vor allem unter Maria Theresia und Joseph II., wird rasch deutlich, dass der Utilitarismus hinsichtlich der Heranbildung loyaler, im passenden Ausmaß gebildeter Staatsdiener und -bürger, im Vordergrund stand. Dass in selbständiger Arbeit hervorragende wissenschaftliche Leistungen als gleichsam von der Obrigkeit unbeab9

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Zu Wesen und Reform der Universitäten im aufgeklärten Absolutismus siehe exemplarisch Engel-Janosi/Klingenstein/Lutz, Formen der europäischen Aufklärung. Untersuchungen zur Situation von Christentum, Bildung und Wissenschaft im 18. Jahrhundert (1976); Hammerstein, Besonderheiten der österreichischen Universitätsund Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Joseph II. (1985); Klingenstein/Lutz/Stourzh (Hrsg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (1978); Kreuzinger, Gerhard van Swieten und die Reform der Wiener Universität unter Maria Theresia bis zur Errichtung der Studienhofkommission (1924); Ferz, Ewige Universitätsreform. Das Organisationsrecht der österreichischen Universitäten von den theresianischen Reformen bis zum UOG 1993 (2000). Baltl/Kocher, Österreichische Rechtsgeschichte, S. 173.

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sichtigte Nebenwirkung zutage traten und die Ausbildung nicht ausnahmslos nur auf staatsbürgerliche Erziehung, sondern auch auf wissenschaftliche Bildung gerichtet war, ändert an diesem Befund wenig. Maria Theresia formulierte den Zweck der Studienreform – hier bezogen auf das Medizinstudium an der Universität Wien – klar: „In solcher allergnädigster Gesinnung haben Ihre kaiserl. königl. Majestät beobachtet, dass insonderheit bey allhiesiger uralten Universität das Studium Medicum, woran doch dem Statui publico so vieles gelegen ist, verschiedenen Gebrechen unterliege, und dass folglich jene Aufmerksamkeit, die man dem gemeinen Wesen schuldig ist, ja auch der Aufnahm, Ruhm und Ansehen ersagter Universität erfordern, alle dienliche Abhelfungsmittel unverweilt fürzukehren“ 11. Vor allem die Universitätsreformen unter Kaiser Joseph II. dienten dazu, Hochschulen als Vorbereitunganstalten für künftige Staatsdiener als Beamte, Lehrer und Mediziner zu etablieren. Universitäten sollten keineswegs mehr „nur“ wissenschaftliche Bildungsstätten sein. Denn noch deutlicher als seine Mutter Maria Theresia sah Joseph II. die Universität als Staatsdienerschmiede, die ausschließlich der Ausbildung von Fachpersonal zu dienen hatte. Ganz in diesem Sinne sollte nach dem Willen Josephs „nichts den jungen Leuten gelehrtet werden, was sie nachher entweder sehr seltsam oder gar nicht zum Besten des Staats gebrauchen, oder anwenden können, da die wesentlichen Studien in Universitäten für die Bildung der Staats Beamten nur dienen, nicht aber bloß zur Erzielung Gelehrter gewidmet sein müssen…“12. Die Studieninhalte wurden somit streng am Staatsnutzen ausgerichtet und der Zweck eines Studiums war die praxisorientierte „Beamtenausbildung“. Unter der Maxime, dass das Universitätsstudium ausschließlich der Ausbildung besonderer Talente zu geeigneten, benötigten und brauchbaren Staatsbeamten dienen sollte, waren die nächsten Schritte zwangsläufig vorgegeben. So durfte niemand mehr in den Staatsdienst aufgenommen werden, der nicht die betreffenden Studien und Prüfungen absolviert hatte. Die Verknüpfung von absolviertem Studium und Aufnahme in die Beamtenlaufbahn zog sich durch alle Berufsgruppen und verdichtete die Verflechtung von Staat und Universität: • •



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„Es soll künftig keiner, der nicht das Studium Metallurgiae mit gutem Fortgange vollendet hat, zu einem k. oder landesfürstlichen Bergamtsdienste befördert werden…“13. „Zu Aufmunterung des Studiums der Kammeral- und Polizeiwissenschaften sind die in dem ergangenen Reskripte enthaltenen Verheissungen nochmals kund zu machen… als zu Erlernung derlei Wissenschaften, und der neuen Rechnungsart erforderlich ist, keine andere Subiekte, als welche diesen Wissenschaften obgelegen, zu geschwornen Landesbuchhaltern, und Stadtsindikern aufzunehmen.“14 „In Hinkunft wird Niemand zu einer Judizialbedienstung gelangen, er verweise denn mit einem, von dem Direktor Juris ausgestellten Zeugnisse, dass er die praktischen Vorlesungen mit Nutzen gehöret habe.“15

Allerhöchste Resolution über die Verbesserung der medizinischen Studien, vom 7. Februar 1749, abgedruckt im Codex Austriacus, Bd. V, Wien 1777, S. 400 ff. Zit. bei Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien (1854), S. 546 f., Fn. 728. Hofreskript Wien den 19. Februar 1763, Sammlung Joseph, Bd. IV, S. 146. Hofdekret vom 26. März 1969, Theres. Gesetzbuch, Bd. V, S. 415. Verordnung betreffend die Qualifikation für den Justizdienst, 16. Januar 1778, in: Reiter/Hoke (Hrsg.), Quellensammlung zur österreichischen und deutschen Rechtsgeschichte (1993), S. 286.

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Beim Verbot, Nichtgraduierte in den Staatsdienst aufzunehmen, stand die Loyalitätssicherung im Vordergrund. Denn durch die Staatsaufsicht über die Studienpläne wurde nur dasjenige gelehrt und gelernt, was von der Obrigkeit gewollt war und gebraucht wurde. Die ehemals weltoffenen Universitäten wurden so zu Stätten der Nationalerziehung und regionalen Studienanstalten für Landeskinder und die Universität mutierte zur „Staatsdienerschule“.16 Die Reformen stießen auf mehr oder weniger Widerstand. Besonders heftig wurde die Frage des zeitgemäßen Studienzwecks an der Juridischen Fakultät der Universität Wien diskutiert: „… in einem Zwiespalte der Meinungen über den Hauptzweck, den diese Facultät zu erfüllen habe. Es erhob sich nämlich der (seitdem, wie es scheint, perennierend gebliebene) Streit der Ansprüche, welche der Staatsdienst einerseits, und die Wissenschaft andererseits an das juridische Studium stellten“ 17. Auch in der aktuellen Diskussion gehen die Meinungen darüber auseinander, was der Zweck eines Universitätsstudiums und einer Universität sein soll, ob der Nutzen für Stakeholder, z. B. Staat oder Wirtschaft, oder die Wissenschaft und die Wissensvermittlung an sich im Vordergrund stehen sollen. Vor allem der sog. „Bologna-Prozess“ führte zu einer gravierenden Neuorientierung der europäischen Universitätslandschaft. 1999 vereinbarten in Bologna die europäischen Bildungsminister, einen einheitlichen Hochschulraum in Europa zu schaffen, international akzeptierte Studienabschlüsse zu etablieren, die Qualität von Studienangeboten zu verbessern und die Beschäftigungsfähigkeit der Absolventen zu fördern. Mit letzterem war ein zentrales Ziel des Bologna-Prozesses geschaffen worden, die „Employability“18: „in order to promote European citizens employability and the international competitiveness of the European higher education system.“ (Bologna Declaration of 19 June 1999)19. Um Akademikerrate und Employability zu steigern, wurde ein neues dreigliedriges System des Hochschulstudiums etabliert und der Studienabschluss „Bachelor“ neu eingeführt. 1. Abschluss: Bachelor 2. Abschluss: Master 3. Abschluss: Doktor bzw. PhD Zentrales Element im neuen Kurzstudium Bachelor ist die Employability, also die Fähigkeit, Beruf und eigene (Weiter-)Bildung gestalten zu können. Als 10 Jahre nach „Bologna“ im Kommuniqué von Leuven/Louvain-la-Neuve im April 200920 die Ziele für den europäischen Hochschulraum bis zum Jahr 2020 definiert wurden, stand die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit erneut im Mittelpunkt und Hochschulen wurden angehalten, verstärkt auf die Bedürfnisse der ArbeitgeberIn einzugehen. 16 17 18

19 20

Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1992), S. 48; Müller, Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule (1990), S. 59. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien (1854), S. 465 f. Die „Gemeinsame Erklärung zur Harmonisierung der Architektur der europäischen Hochschulbildung“, kurz „Sorbonne Erklärung“ vom 25.5.1998 nennt bereits die Employabilität: „creation of the European higher education area as a key way to promote citizen’s mobility and employability and the continent’s overall development“; http://www.ond.vlaanderen.be/hogeronderwijs/bologna/documents/MDC/SORBONNE_DECLARATION1.pdf. Zum Volltext siehe etwa unter http://www.ond.vlaanderen.be/hogeronderwijs/bologna/documents/MDC/BOLOGNA_DECLARATION1.pdf. Volltext etwa unter http://www.bmwf.gv.at/fileadmin/user_upload/europa/bologna/Leuven-Kommunique_2009-dt.pdf.

Universität heute: Wissenschaftlicher Mikrokosmos oder Dienstleistungsunternehmen?

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Die Employability ist also zentrales Verbindungselement zwischen Hochschule und dem Arbeitsmarkt. Bildungs- und Beschäftigungsfähigkeit rücken so nahe aneinander wie im 18. Jahrhundert aufgrund der Reformen Josephs II. Im Unterschied zur Ausrichtung der Reformen im aufgeklärten Absolutismus steht jetzt aber nicht mehr das Staatsinteresse an gut ausgebildeten Staatsdienern im Vordergrund, sondern das Interesse der Wirtschaft an gut ausgebildeten Arbeitskräften. Der Staat ist gerade eben kein Abnehmer mehr für das Gros der Absolventen der neuen Bachelorstudien, wird doch der Abschluss „Bachelor“ im öffentlichen Dienst bislang nicht als akademisch eingestuft. Die Kritik an der fachwissenschaftlichen Ausbildung und der Dominanz der Beschäftigungsfähigkeit in den Bachelorstudien ist mannigfaltig. Einer der scharfzüngigsten Kritiker ist Konrad Paul Liessmann: „Die flächendeckende Einführung berufsorientierter Kurzstudien wird das Bild der Universität nachhaltiger verändern als alle anderen Reformen zuvor. Der wissenschaftspolitische Sinn des Bakkalaureats … liegt auf der Hand: Verkürzung der Studienzeit und Hebung der Akademikerquote. Polemisch ausgedrückt: Der Bachelor ist der Studienabschluß für Studienabbrecher. Wer bislang mangels Qualifikation an einer Diplomarbeit scheiterte, wird nun zum Akademiker befördert.“21 Die Kritik am neuen Studienzweck der Employability richtet sich vor allem gegen die damit einhergehende „Verschulung“ des Studiums und darauf, dass das Studium zu stark auf rein wirtschaftliche und berufsbezogene Kriterien reduziert werde. Statt einer umfassenden Bildung stünden primär die praxisbezogenen Qualifikationen für einen Arbeitsmarkt und die ökonomischen Interessen des Marktes im Vordergrund. Durch „schulartige Formierungsprozesse“ erhalten „alle ein fast identisches Profil“, „als ob sie geklont wären“.22 Aber nicht nur die (Aus- und Weiter-)Bildung von Studierenden ist zum Produkt Absolventen mutiert, auch die Forschungsleistungen sollen am Markt umsetzbar sein. Die ökonomische Regulierung durch marktförmige Steuerungssysteme im Sinn eines Unternehmen Universität schreitet voran. Bildung wird zur Ware, die Universitäten müssen sich auf einem (Aus-) Bildungsmarkt bestmöglich positionieren und finanzkräftige Nachfrager – Drittmittelgeber und Auftraggeber für Forschungsleistungen (vielleicht auch bald Studierende?) – rekrutieren. Globalhaushalte, Autonomie, Selbstverwaltung sind nun nicht mehr das institutionelle Pendant zum individuellen Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, sondern Notwendigkeiten für die geforderte Marktpositionierung.23 Aber kann eine Universität überhaupt ein Unternehmen werden? Ein Unternehmen ist eine planvoll organisierte Wirtschaftseinheit, in der Sachgüter bzw. Dienstleistungen hergestellt bzw. angeboten und auf einem Markt abgesetzt werden. Eine Universität ist der Ort und institutionelle Rahmen für Forschung und Lehre, sie ist eine nicht gewinnorientierte wissensproduzierende Expertenorganisation.24 Obwohl Ziele, Produkte und Strukturen zwischen Wirtschaftsunternehmen und Universität also auseinanderklaffen, gibt es doch Berührungspunkte, denn auch das „Non-Profit-Unternehmen Universität“ muss die Ziele wirtschaftlich und effizient erreichen. Da Universitäten aber als unwirtschaftlich gelten, sollen sie durch Umstrukturierungen wirtschaftlicher werden und ihr „Produkt Wissen“ sowie den Unterneh21 22 23 24

Liessmann, Theorie der Unbildung (2006), S. 106. Keupp, Unternehmen Universität. Vom Elfenbeinturm zum Eventmarketing (2007), S. 1197. Keller, Die Universität als Unternehmen? (2004), S. 902. Ausführlich zur Universität als Organisation siehe etwa Pellert, Die Universität als Organisation. Die Kunst, Experten zu managen (1999).

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mensgegenstand „Forschung und Lehre“ bestmöglich auf dem Markt und im internationalen Wettbewerb an die Kunden bringen. Die Universitäten wenden sich mit ihren Produkten „Absolventen“ und „Forschungsergebnisse“ dabei primär an die Wirtschaft und nicht mehr – so wie im Mittelalter – an die Menschheit oder – wie im aufgeklärten Absolutismus – an den Staat. Auch wenn die Universitäten in Österreich öffentliche, staatlich finanzierte Hochschulen sind und keine privaten Wirtschaftsunternehmen (auch die meisten sog. „Privatuniversitäten“ lukrieren öffentliche Gelder), sehen sie sich daher zunehmend mit einem marktwirtschaftlichen Steuerungsinstrumentarium konfrontiert. Das auch für Universitäten immer mehr vorherrschende New Public Management (NPM) suggeriert, dass deren Produkte quantifizierbar und durch ein umfassendes Berichtswesen abbildbar sind. Mit dem New Public Management halten Indikatoren, Kennzahlen, Wissensbilanzen, die Messung der Qualität der Produkte u. a. mittels Balanced Scorecard, Benchmarking, Ranking etc. Einzug in die Universitätslandschaft. Die Mittelvergabe erfolgt über Leistungs- und Zielvereinbarungen, Universitäten sind Anbieter und müssen die gewünschten Dienstleistungen produzieren, z. B. Optimierung des Drittmittelvolumens. Dieses Drittmittelvolumen wird zum Zauberwort für den Zugang zu Reputation und wissenschaftlicher Exzellenz, die Qualität des einzelnen Wissenschafters misst sich an seiner „unternehmerischen Potenz“.25 Dass damit vor allem Wissenschaftsdisziplinen außerhalb des naturwissenschaftlich-technischen Fächerkanons ihre Probleme haben, ist evident. Selbst für „drittmittelstarke“ Forschungsbereiche ist die Verflechtung von Wissenschaft und Wirtschaft, von Universität und Unternehmen, auch nicht ausnahmslos positiv zu bewerten. NPM verändert nicht nur die Struktur der Universität, sondern unweigerlich deren Produkte, Ziele und Intention. Nicht mehr Wissen, Reputation, intrinsische Motivation wie im Mittelalter oder das Staatsinteresse liegen dem Wirken der Universitäten zugrunde, sondern bestmögliche Lukrierung von Drittmitteln, die arbeitsmarktbezogene Ausbildung der Studierenden und die Orientierung an den Bedürfnissen der Stakeholder wie Wirtschaft und Arbeitsmarkt. War Forschung Jahrhunderte lang die Grundlage für die bildungsorientierte Lehre an den Universitäten, dient sie heute gerade in naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen der Drittmittelgewinnung. Die forschungsgeleitete Lehre ist im Bachelorstudium (jedenfalls theoretisch) kaum mehr präsent. Forschung und Lehre werden zunehmend entkoppelt bzw. in das Masterstudium verschoben.

3

Resümee

Die oben ausgeführte Einschätzung der Gelehrten der Universität Wien im 18. Jahrhundert, wonach der Streit über die Ansprüche, welche der Staatsdienst einerseits und die Wissenschaft andererseits an das Studium stellen „perennierend“ zu sein scheint, ist wohl nach wie vor aktuell und wird an vielen österreichischen Fakultäten und Universitäten geteilt. Und das Bildungssystem begegnet auch nicht erst in der aktuellen Entwicklung mit großem Misstrauen all jenem, was man als „Imperialismus des ökonomischen Denkens“ empfindet.26 Doch genau die Ökonomisierung des Bildungssystems und der Universitätslandschaft hat in 25 26

Böcking, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (2007). Pechar, Ökonomie von Hochschulsystemen (2006), S. 121.

Universität heute: Wissenschaftlicher Mikrokosmos oder Dienstleistungsunternehmen?

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den letzten Jahren zunehmend Raum gewonnen. Die wachsende Bedeutung der Wissensgesellschaft als ökonomischer Faktor steigert zwar den Stellenwert von Bildung, rückt zugleich aber die Kosten von Bildung und Wissenschaft immer deutlicher in das gesellschaftliche und politische Rampenlicht und verlangt nach einem marktwirtschaftlichen Steuerungsinstrumentarium. Universitäten sind derzeit in einem wohl noch nie erreichten Ausmaß gefordert, sich veränderten Umgebungsbedingungen anzupassen und dabei nicht ihr ureigenstes Selbst zu verlieren. Die „Unternehmerisierung“ der Hochschullandschaft veränderte diese grundlegend. Wissen und Wissenschaft sind nicht länger selbst Zweck, sondern Mittel zu einem externen Zweck, dem der Vermarktung und Wettbewerbsfähigkeit. Und die hektische Wettbewerbssituation, der sich Universitäten und Hochschulbildung zunehmend ausgesetzt sehen, wird nicht selten zu einer „Zähmung der wissenschaftlichen Neugier“27 führen. Ein Blick zurück zeigt, dass Universitäten in ihrer Jahrhunderte währenden Geschichte gelernt haben, zu überleben und auch das Überleben von Wissenschaft, Forschung und Lehre zu sichern. Das berechtigt zur Hoffnung, dass sie es auch dieses Mal schaffen werden. „Ausbildung ohne Bildung führt zu Wissen ohne Gewissen“28

Literatur Baltl, H./Kocher, G.: Österreichische Rechtsgeschichte, 12. Aufl., Graz 2011. Böcking, U.: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007. Boehm, L./Müller, R. A. (Hrsg.): Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Düsseldorf 1983. Denifle, H.: Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885 (unveränderter Nachdruck Graz 1956). Ellwein, Th.: Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992. Engel-Janosi, F./Klingenstein, G./Lutz, H.: (Hrsg.) Formen der europäischen Aufklärung. Untersuchungen zur Situation von Christentum, Bildung und Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Wien 1976. Erler, A. (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. V, Berlin 1998. Ferz, S.: Ewige Universitätsreform. Das Organisationsrecht der österreichischen Universitäten von den theresianischen Reformen bis zum UOG 1993, Frankfurt a. M. 2000. Gantner, M.: Autonomie und Finanzierung der Universitäten. Erfahrungen und Anpassungserfordernisse, in: Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich (ÖHW), Heft 1–2 (2009), S. 67 ff. Goeudevert, D.: Der Horizont hat Flügel. Die Zukunft der Bildung, Berlin 2001. Hammerstein, N.: Besonderheiten der österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Joseph II., in: BMWF/Österr. Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Österreich im Europa der Aufklärung, Bd. 2, Wien 1985. 27 28

Nowotny, Unersättliche Neugier. Innovation in einer fragilen Zukunft (2005), S. 34. Goeudevert, Der Horizont hat Flügel. Die Zukunft der Bildung (2001), S. 1.

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Heinrichs, W.: Hochschulmanagement, München 2010. Keller, A.: Die Universität als Unternehmen?, in: UTOPIE kreativ, Heft 168 (2004), S. 901–909. Keupp, H.: Unternehmen Universität. Vom Elfenbeinturm zum Eventmarketing, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2007), S. 1189–1198. Kink, R.: Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Bd. I: Geschichtliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Universität bis zur Neuzeit, Teil 1: Geschichtliche Darstellung, Wien 1854 (unveränderter Nachdruck Frankfurt 1969). Klingenstein, G./Lutz, H./Stourzh, G.: Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wien 1978. Kreuzinger, V.: Gerhard van Swieten und die Reform der Wiener Universität unter Maria Theresia bis zur Errichtung der Studienhofkommission, Wien 1924. Liessmann, K. P.: Theorie der Unbildung, Wien 2006. Müller, R. A.: Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule, München 1990. Nowotny, H.: Unersättliche Neugier. Innovation in einer fragilen Zukunft, Berlin 2005. Pechar, H.: Ökonomie von Hochschulsystemen, in: Pellert, A. (Hrsg.), Einführung in das Hochschulund Wissensmanagement. Ein Leitfaden für Theorie und Praxis, Bonn 2006, S. 121–137. Pellert, A.: Die Universität als Organisation. Die Kunst, Experten zu managen, Wien/Köln/Graz 1999. Pellert, A. (Hrsg.): Einführung in das Hochschul- und Wissensmanagement. Ein Leitfaden für Theorie und Praxis, Bonn 2006. Reiter, I./Hoke, R. (Hrsg.): Quellensammlung zur österreichischen und deutschen Rechtsgeschichte, Wien/Köln/Weimar 1993. Statistik Austria: Bildung in Zahlen 2009/2010. Schlüsselindikatoren und Analysen, Wien 2011 http://www.ond.vlaanderen.be/hogeronderwijs/bologna/documents/MDC/SORBONNE_DECLARATION1. pdf [15.9.2011]. http://www.bmwf.gv.at/fileadmin/user_upload/europa/bologna/Leuven-Kommunique_2009-dt.pdf [15.9.2011]. http://www.ond.vlaanderen.be/hogeronderwijs/bologna/documents/MDC/BOLOGNA_DECLARATION1. pdf [15.9.2011].

Die konfessionellen Privatschulen in Österreich und ihre wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Markt und Gesellschaft Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

1

Geschichte und Begriff der (konfessionellen) Privatschulen

Die Geschichte des österreichischen Schulwesens ist untrennbar mit der Geschichte der Katholischen Kirche verbunden. Die ersten Schulen auf dem Boden des heutigen Österreich waren kirchliche Gründungen, durch Jahrhunderte hatte die Kirche eine monopolartige Stellung im Schulwesen inne.1 Klosterschulen, Domschulen und Pfarrschulen bildeten die Grundlage des kirchlichen Schulwesens, mit Rudolf Höslinger kann man sogar behaupten, dass die Katholische Kirche „die Rechtsordnung des Schulwesens erfunden und damit das Schulverwaltungsrecht begründet hat“2. Das an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert registrierbare Anwachsen der allgemeinen Wertschätzung von Bildung und Unterricht bewirkte eine Überlastung des bis dato rein kirchlichen Schulwesens. Gemeinde- und Stadtschulen, aber auch Winkelschulen3 entstanden und durchbrachen das kirchliche Schulmonopol. Begünstigt wurde das Entstehen von Gemeindeschulen durch die zahlreichen herumziehenden Studenten (Vaganten), die sich an Orten, wo noch keine Schule bestand, niederließen. Die „Gemeinde pactierte mit ihnen auf ein gewisses Schulgeld für jedes Kind und versprach ihnen wohl auch Sammlungen oder andere Vortheile zum Lebensunterhalt.“4 Die Stadtschulen, als verbreitetste Form der Laienschule, entwickelten sich in zwei Formen. Einerseits als Lateinschule5, die im Großen und Ganzen den kirchlichen Schulen (Dom- und 1

2 3

4 5

Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 1: Von den Anfängen bis in die Zeit des Humanismus, Bd. 1 (1982), S. 135; Rinnerthaler, Der Religionsunterricht als Relikt des Schulmonopols der Katholischen Kirche, in: Pototschnig/Rinnerthaler (Hrsg), Im Dienste von Kirche und Staat. In memoriam Carl Holböck (1985), S. 46; Engelbrecht, Kirche als gestaltende und ordnende Kraft, in: Rinnerthaler (Hrsg.): Das kirchliche Privatschulwesen – historische, pastorale, rechtliche und ökonomische Aspekte (2007), S. 22–24. Höslinger, Rechtsgeschichte (1937), S. 17. Unter einer Winkelschule versteht man eine Schule, deren Lehrer weder von der geistlichen noch von der weltlichen Obrigkeit zur Unterrichtserteilung beauftragt worden war. Das heißt, es handelte sich um eine ausschließlich private Gründung, deren Sinn und Zweck allein darin bestand, zur Sicherung des Lebensunterhalts ihres „Unternehmers“ beizutragen. Rumpler/Hochmuth, Geschichte des Salzburg’schen Schulwesens (1832), S. 39. Eine der ältesten und bedeutendsten Stadtschulen ist diejenige bei St. Stephan in Wien, – so Mayer, Die Bürgerschule zu St. Stephan in Wien, in: Blätter des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich, N.F. 14

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Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

Klosterschulen) entsprach. Das Hauptaugenmerk galt sowohl dem Lateinunterricht als auch der religiösen Unterweisung. Daneben entstand als zweiter Typ die Lese- und Schreibschule oder auch „deutsche Schule“6, die, aufgrund der überwiegenden oder ausschließlichen Verwendung der Muttersprache, von der Kirche nur ungern gesehen wurde. Die religiösen Wirren der vorreformatorischen und reformatorischen Zeit bildeten auch eine der wesentlichen Ursachen für den zunehmenden Einfluss der staatlichen Gewalt auf das Schulwesen. Insbesondere in der Regierungszeit Ferdinand I. (1522–1564) ist der praktische Ansatzpunkt für das Herauslösen der Schule aus der kirchlichen Schulhoheit und für das Entstehen eines staatlichen Mitspracherechts zu suchen.7 Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555, worin den Reichsständen und somit auch den österreichischen Landesfürsten der „Religionsbann“ zugesichert wurde. Dieser bewirkte „eine qualitative Steigerung der landesfürstlichen Macht. Nicht mehr nur Regelung und Entscheidung irdischer Sachfragen stehen dem Landesfürsten allein oder im Zusammenwirken mit den Ständen zu, nein der Religionsbann legitimiert zu allgemein verbindlichem Religionsdiktat. Mehr noch, er ermächtigt auch zur Überwachung und Korrektur der Details religiöser Untertanenpraxis“8. Eine weitere Konsequenz dieser reichsrechtlichen Regelung bestand darin, „dass der Landesfürst kirchliche Vorschriften … zu Staatsvorschriften“9 machen konnte; so transformierte er kirchliches Schulrecht in staatliche Schulordnungen. Mit dem Entstehen des landesfürstlichen Absolutismus wurde ein von der staatlichen Souveränität unabhängiger, eigenständiger oder vorrangiger Rechtsbereich der Kirche geleugnet. Ergo sollte es auch kein vom Staat unabhängiges kirchliches Schulwesen geben, die Schule war somit zu einer Aufgabe des Staates geworden. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung wurde in der Zeit der Regentschaft von Maria Theresia und ihrem Sohn Josef II. erreicht. Obwohl die Schule unter diesen Herrschern weitgehend zu einer Staatsanstalt umgewandelt wurde, schaltete man die Kirche im Bildungswesen keineswegs aus. Diese übte als Schulträger, in der Schulaufsicht, bei der Erstellung der Lehrpläne und Lehrbücher, im Religionsunterricht und durch die große Zahl geistlicher Lehrkräfte auch weiterhin großen Einfluss aus. Schulen in kirchlicher Trägerschaft galten als integrale Bestandteile des öffentlichen Schulwesens. Zu einer Veränderung dieser Situation kam es erst durch die in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts ergangenen liberalen Schulgesetze mit ihrer Trennung von Schule und Kirche. Mit dem Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung10, dem Schulgesetz vom Mai 186811

6

7 8 9 10

(1880), S. 341–382. Zum Thema Stadtschule siehe auch Ofner, Die mittelalterliche Stadtschule in Steyr, in: Oberösterreichische Heimatblätter, 6 (1952), S. 56–60. So war etwa in Oberösterreich in Braunau seit dem 15. Jahrhundert neben einer Lateinschule auch eine deutsche Schule nachweisbar, ebenso in Schärding. In Gmunden kamen erst im 16. Jahrhundert zu den schon im 14. Jahrhundert vorhandenen Lateinschulen zwei deutsche Schulen (davon eine für Katholiken) hinzu. Linz verfügte ab dem 16. Jahrhundert über drei, Wels über zwei, Steyr über vier deutsche Schulen. In Steyr spaltete sich zu Beginn der Reformation die städtische Lateinschule in eine „lateinische“ und eine „deutsche“ Schule auf. Siehe Hoffmann, Österreichisches Städtebuch, Bd. 1: Die Städte Oberösterreichs (1968), S. 105, 166, 228 f, 263 und 294. So Lentner, Katechetik und Religionsunterricht in Österreich, Bd. 2: Die religiöse Unterweisung in der Reformationszeit (1959), S. 38. Ebenda, S. 3. Gampl, Staat-Kirche-Individuum (1985), S. 2 f. Gesetz vom 21. Dezember 1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wurde, RGBl. 1867/141, S. 389–394 (§ 11 i).

Die konfessionellen Privatschulen in Österreich

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und dem Reichsvolksschulgesetz von 186912 erfolgte ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. Fast der gesamte Einfluss der Kirche auf die Schule wurde ausgeschaltet, von der ursprünglichen Einheit von Schule und Kirche blieben nur wenige Fragmente erhalten, nämlich 1. der Religionsunterricht in der Schule, 2. die konfessionellen Privatschulen, 3. ein bloßes Mitwirkungsrecht der Geistlichen an den neu organisierten, kollegialen Schulaufsichtsbehörden und 4. die Religiösen Übungen.13 Damit tauchte in dieser Zeit erstmals der Begriff der konfessionellen Privatschulen auf als eine Alternative zu Schulen in staatlicher (öffentlicher) Trägerschaft.14 Eine Privatschule ist somit eine Schule, die sich – im Gegensatz zur Schule in öffentlicher Trägerschaft – „in der Verantwortung eines freien (nichtstaatlichen) Schulträgers befindet“15. Als Träger einer Privatschule können religiöse Institutionen, aber auch Vereine und sonstige juristische Personen sowie natürliche Personen in Betracht kommen. Gründe für die Errichtung einer Privatschule sind z. B. die Vermittlung einer besonderen Weltanschauung (Schulen von Kirchen und Religionsgemeinschaften aber auch die sogenannten Waldorf- oder Rudolf Steiner-Schulen16), die Umsetzung alternativer erzieherischer Konzepte (Montessorischulen17), die Ergänzung eines als unzureichend empfundenen staatlichen Schulangebots (Journalistenschulen in Deutschland, diverse Eliteschulen) oder eine Gewinnerzielungsabsicht ihrer Unternehmer. Eine Legaldefinition des Terminus Privatschule findet man in § 2 des österreichischen Privatschulgesetzes. Dieses versteht unter Privatschulen jene Schulen, „die von anderen als den gesetzlichen Schulerhaltern errichtet und erhalten werden (Artikel 14 Abs. 6 und 7 des Bundesverfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 und in der Fassung des Bundesverfassungsgesetzes vom 18. Juli 1962, BGBl. Nr. 215)“. Schulen im Sinne dieses Bundesgesetzes sind Einrichtungen, „in denen eine Mehrzahl von Schülern gemeinsam nach einem festen Lehr-

11 12 13

14 15 16

17

Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch grundsätzliche Bestimmungen über das Verhältnis der Schule zur Kirche erlassen werden, RGBl. 1868/48, S. 97–99. Gesetz vom 14. Mai 1869, durch welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volksschulen festgestellt werden, RGBl. 1869/62, S. 277–302. Zu den Religiösen Übungen siehe Rinnerthaler, Von Glöckel bis Rintelen – Kontroversen um die Religiösen Übungen in der Ersten Republik und im Ständestaat, in: österreichisches Archiv für recht & religion, 50/2003, Heft 2–3 (2003), S. 373–404. Zum Begriff „Schule in öffentlicher Trägerschaft“ siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Schule_in_%C3%B6ffentlicher_Tr%C3%4gerschaft, Stand: 28.03.2011. Zum Terminus „Schule in freier Trägerschaft“ siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Schule_in_freier_Tr%C3%A4gerschaft, Stand: 28.03.2011. Die Waldorfpädagogik ist eine der bekanntesten Anwendungen der von Rudolf Steiner begründeten „Anthroposophie“. Nach Steiner versteht man unter Anthroposophie einen „Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zu dem Geistigen im Weltall führen möchte“. Aus der Literatur seien hier nur exemplarisch genannt: Kiersch, Die Waldorfpädagogik. Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners (Praxis Anthroposophie, 47) (1997) und Debus, Christentum, Anthroposophie, Waldorfschule. Waldorfpädagogik im Umfeld konfessioneller Kritik (1972). Zu der von Maria Montessori (sie wurde 1896 zur ersten Ärztin in Italien promoviert) begründeten Pädagogik siehe u. a.: Montessori, Grundlagen meiner Pädagogik und weitere Aufsätze zur Pädagogik und Didaktik (1926–1934) (1988); Katein (Hrsg.), Maria Montessori, die Grundlagen ihrer Pädagogik und Möglichkeiten der Übertragung in Schulen (1992); Steenberg, Handlexikon zur Montessori-Pädagogik (1997).

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Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

plan unterrichtet wird“18. Demnach entsteht durch die Erteilung von „Fernunterricht“ – durch ein „Fernlehrinstitut“ – keine Privatschule im Sinne des Privatschulgesetzes, da kein „gemeinsamer“ Unterricht bei gleichzeitiger Anwesenheit von Lehrern und Schülern erteilt wird.19 Das österreichische Recht kennt mehrere Arten von Privatschulen. Die diesbezügliche Bandbreite reicht von Privatschulen ohne gesetzlich geregelte Schulartbezeichnung und ohne Öffentlichkeitsrecht (= freie Privatschulen) über die Privatschule mit dem Recht zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung (§§ 11f. PrivSchG) bis zur Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht (§§ 13–16 PrivSchG). Letztere existiert wiederum in zwei Formen, nämlich als Privatschule mit dem Recht zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung bzw. als Privatschule ohne dieses Recht.20 Unter konfessionellen Privatschulen sind die von den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften und von ihren Einrichtungen erhaltenen Schulen sowie jene von Vereinen, Stiftungen und Fonds erhaltenen Schulen zu verstehen, die von der zuständigen kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Oberbehörde als konfessionelle Schulen anerkannt werden.21

2

Umfang und Bedeutung des konfessionellen Privatschulwesens

Die Frage nach Umfang und Bedeutung des konfessionellen Privatschulwesens in Österreich kann man am besten dadurch beantworten, dass man die Zahl der konfessionellen Privatschulen mit der Gesamtzahl der Schulen in Relation setzt. Tabelle 1 Schulstatistik

22

des Schuljahres 2009/10

Zahl der öffentlichen und privaten Schulen Zahl der Klassen an öffentlichen und privaten Schulen Zahl der Schüler an öffentlichen und privaten Schulen

18

19 20 21 22

6.223 56.159 1.182.471

Von Ländern und Gemeinden errichtete und erhaltene mittlere und höhere Schulen sind daher ex definitione Privatschulen. § 2 des Bundesgesetzes vom 25. Juli 1962, BGBl Nr. 244, über das Privatschulwesen (Privatschulgesetz – PrivSchG), i. d. F. der BG BGBl. 1972/290, 1994/448, I 2001/75 und I 2008/71. Götz/Jisa/Juranek/Schreiner, Österreichische Schulgesetze (1976 ff.), VI: Privatschulrecht, Anm. 2 zu § 2 des Privatschulgesetzes. Kalb, Arten von Privatschulen, deren Öffentlichkeitsrecht und die Rechtsstellung von Lehrern und Schülern – ein Überblick, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 323. § 17 Abs. 2 PrivSchG. Diese und die beiden folgenden Tabellen haben als Grundlage die Schulstatistik der Statistik Austria, erstellt am 29.11.2010.

Die konfessionellen Privatschulen in Österreich

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Tabelle 2 Zahl der konfessionellen Privatschulen

römisch-katholische evangelische israelitische islamische Summe

absolut 286 20 7 5 318

Zahl der Klassen

in % 89,9 6,3 2,2 1,6 100

absolut 3.005 142 35 23 3.205

Zahl der Schüler

in % 93,8 4,4 1,1 0,7 100

absolut 70.787 3.056 581 418 74.842

in % 94,6 4,1 0,75 0,55 100

Tabelle 3 23

Schultypen an den 318 konfessionellen Privatschulen a) Pflichtschulen Volksschulen Hauptschulen Sonderschulen Polytechnische Schulen b) Neue Mittelschulen c) AHS d) Sonst. allgem. bildende Schulen e) Berufsb. mittl. Schulen Techn. gewerbl. mittl. Schulen Kaufm. mittl. Schulen Wirtschaftsber. mittl. Schulen Sozialber. mittl. Schulen f) Sonst. berufsb. (Statut)Schulen g) Berufsb. höhere Schulen Techn. gewerbl. höh. Schulen Kaufm. höhere Schulen Wirtschaftsber. höh. Schulen Land- u. forstw. höh. Schulen h) Lehrerb. höhere Schulen i) Schulen im Gesundheitswesen j) Akademien im Gesundheitsw. Summe der konf. Schultypen

röm.-kath. (286)

evangel. (20)

israelitische (7)

islamische (5)

65 52 7 2 14 59 –

5 3 1 – 1 2 2

3 1 – – 1 2 1

2 1 – – – – 1

2 2 25 10 28

– – – – 8

– – – – –

– – – – 1

1 3 24 1 14 24 2

– – – – – – –

– – – – – – –

– – – – – – –

335

22

8

5

Setzt man die vorgenannten Zahlen in Beziehung zueinander, so erhält man folgendes Bild: Das konfessionelle Privatschulwesen umfasst einen Anteil von rund 5,1 Prozent an der Gesamtzahl der Schulen und von ca. 5,7 Prozent an der Gesamtzahl der Schulklassen. Von den konfessionellen Privatschulen werden zudem in etwa 6,3 Prozent aller österreichischen Schüler betreut. Damit ist das konfessionelle Privatschulwesen in Österreich deutlich schwächer 23

Da gelegentlich an einer Schule mehrere Schultypen untergebracht sind, ist die Zahl der Schultypen größer als diejenige der konfessionellen Privatschulen.

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ausgeprägt als beispielsweise in vielen anderen europäischen Ländern, so z. B. in Frankreich, mit seiner strikten Trennung von Staat und Kirche, und selbst in einigen ehemals kommunistischen Ländern.24 Eine gewisse Bedeutung haben die konfessionellen Privatschulen – wie eben aufgezeigt – nicht nur für das Schul- und Bildungswesen, sondern auch für den Bereich der Theologie. Ausschlaggebend für das Engagement etwa der Katholischen Kirche im Bereich des Bildungswesens war und ist zum einen der Wille ihres Stifters „euntes ergo docete omnes gentes“ und zum anderen die Notwendigkeit, die eigene Lehre den Menschen nahezubringen. Wie sehr im Katholizismus die Bedeutung der Schulen, insbesondere der katholischen Schulen, erkannt wird, davon zeugt der Umstand, dass im kirchlichen Gesetzbuch ein ganzes Kapitel dieser Institution gewidmet wird.25 An den öffentlichen Schulen in Österreich haben die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, im Religionsunterricht Kontakt mit den jungen Menschen aufzunehmen und sie mit ihrer Lehre vertraut zu machen; an den konfessionellen Privatschulen sind diese Kontaktmöglichkeiten naturgemäß in noch viel größerem Ausmaß gegeben. So müssen in den katholischen Schulen Unterricht und Erziehung von den Grundsätzen der katholischen Lehre geprägt sein, alle Lehrer haben sich durch Rechtgläubigkeit und rechtschaffenen Lebenswandel auszuzeichnen.26 Mit einem Grundbestand an eigenen Schulen ist es den Religionsgemeinschaften möglich, „Erfahrungen in der Lehre zu machen und Neues auszuprobieren“27, aber auch mit den Schülern und deren Eltern in eine engere Beziehung einzutreten, ihr Denken und ihre Sorgen besser zu erfahren. Nicht umsonst hat etwa die Katholische Kirche noch lange vor dem Staat sich um die „Bildungschancen der Mädchen und jungen Frauen“28 gekümmert, ebenso wie um diejenigen von behinderten Menschen (Blinde, Taube, Körperbehinderte). Die Katholische Kirche war es auch, die durch die Errichtung von Internaten den „Kindern vom Lande höhere schulische Bildung“ ermöglicht hat.29 Konfessionelle Privatschulen leisten den Eltern Hilfe bei der Erfüllung ihrer religiösen Erziehungsaufgaben, sie bieten aber auch den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine Chance, andersdenkende Menschen zu erreichen, sie mit dem eigenen Glaubensgut bekannt und vertraut zu machen und Vorurteile abzubauen. Aus dieser Motivation heraus werden z. B. in katholische Privatschulen auch nichtkatholische Schüler aufgenommen.

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Vgl. Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae (Hrsg.), Chiesa ~ Stato in Europa. Inchiesta realizzata presso le Conferenze Episcopali Europee (1998); Robbers, Staat und Kirche in Europa (2005); Schanda, Kirchliches Schulwesen in Ungarn, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 517–524, insbes. S. 522; Schinkele, Umfang und Bedeutung des kirchlichen Privatschulwesens im österreichischen Schulsystem, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 287–314, insbes. S. 289; Wieshaider, Das konfessionelle Schulwesen in der Slowakei, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 499–515, insbes. S. 514 f. Buch III, Kapitel I (cc. 796–806) CIC 1983. c. 803 § 2 CIC 1983. Dikow, Die Zukunft der Privatschule, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 473. Ebenda. Ebenda, S. 472 f.

Die konfessionellen Privatschulen in Österreich

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Finanzierung des konfessionellen Privatschulwesens

Die geltenden Regeln über die Finanzierung der konfessionellen Privatschulen durch den Staat gehen im Wesentlichen auf den „Vertrag zur Regelung der mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen“ vom 9. Juli 1962 zurück. Dieses Teilkonkordat unterzeichneten für den Heiligen Stuhl der Apostolische Nuntius in Österreich, Erzbischof Dr. Opilio Rossi, und für die Republik Österreich die Bundesminister Dr. Bruno Kreisky und Dr. Heinrich Drimmel. Gemäß Art. VI trat dieser Schulvertrag am 28. September 1962 in Kraft. Inhaltlich besteht der Schulvertrag aus vier Teilen: aus Regelungen über den Religionsunterricht (Art. I), über die kirchlichen Privatschulen (Art. II), über die Frage des katholischen Schulwesens im Burgenland (Art. III) und über die Mitwirkung von Vertretern der Kirche in den kollegialen Schulbehörden (Art. IV). Im Zentrum von Artikel II steht die Subventionierung der katholischen Privatschulen durch den Staat, der sich bereit erklärte, 60 Prozent des Personalaufwandes (ausschließlich der Lehrerdienstposten) der katholischen Privatschulen zu übernehmen. Diese Regelung war für die Katholische Kirche schon damals unbefriedigend, da man im Frühjahr 1962 zumindest mit einer etappenweisen Anhebung dieser Subventionen von 60 auf 100 Prozent gerechnet hatte. Diese staatlichen Leistungen sollten in erster Linie in Gestalt von sogenannten „lebenden Subventionen“ erfolgen, d. h. in der Form der Zuweisung von staatlich angestellten Lehrkräften. Die Zahl der zuzuweisenden Lehrkräfte machte man von den Notwendigkeiten des jeweiligen Lehrplanes und der Einschränkung abhängig, dass das „Verhältnis zwischen der Zahl der Schüler und der Zahl der Lehrer der betreffenden katholischen Schule im Wesentlichen jenem an öffentlichen Schulen gleicher oder vergleichbarer Art und vergleichbarer örtlicher Lage“ entspricht.30 Der Prozentsatz der Übernahme der Personalkosten durch den Staat wurde in einer Novelle zum Schulvertrag im Jahr 1972 auf 100 Prozent angehoben.31 Der jährliche Mehraufwand des Staates für die katholischen Privatschulen erhöhte sich damit um circa 106 Millionen Schilling.32 Der verfassungsmäßige Gleichheitsgrundsatz sicherte in der Folge auch den anderen Kirchen und Religionsgesellschaften die mit der Katholischen Kirche vereinbarten Subventionen für Privatschulen. Diese (zunächst ebenfalls 60 Prozent der Personalkosten) wurden im PrivSchG von 196233 festgeschrieben, ehe sie im Jahr 1972 auf 100 Prozent erhöht wurden.34 30

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Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen, BGBl. 1962/273, Artikel II § 2. Zum österreichischen Konkordatsrecht siehe u. a.: Paarhammer/Pototschnig/Rinnerthaler (Hrsg.): 60 Jahre österreichisches Konkordat (1994), und Rinnerthaler, „Bundespräsident u. Bundeskanzler sind an einem Konkordate sehr interessiert“. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Konkordatskirchenrechts (2006), S. 151–192. Zusatzvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zum Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen vom 9. Juli 1962, BGBl. 1972/289. Da der Schulvertrag bereits am 8. März 1971 von Nuntius Opilio Rossi (für den Heiligen Stuhl) und von den Bundesministern Leopold Gratz und Rudolf Kirchschläger (für die Republik Österreich) unterzeichnet, jedoch in Österreich erst am 28. Juli 1972 promulgiert worden war, musste der errechnete Differenzbetrag von Schilling 106.200.000,– für den Zeitraum von 1. September 1971 bis zum 31. August 1972 der Katholischen Kirche in Geld abgegolten werden. So das Protokoll zum Zusatzvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen vom 9. Juli 1962, BGBl 1972/289. Bundesgesetz vom 25. Juli 1962, BGBl. Nr. 244, über das Privatschulwesen, §§ 17–21. Bundesgesetz vom 30. Mai 1972, mit dem das Privatschulgesetz geändert wird, BGBl. 1972/290. Die Evangelische Kirche AB und HB erhielt darin als Entschädigung für das verzögerte Inkrafttreten auch dieses Bundesgesetzes ebenfalls eine einmalige Entschädigung in Höhe von Schilling 3.100.000,– (Art. II).

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Die vorgenannten Subventionsregelungen galten ausschließlich für die mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten konfessionellen Privatschulen. Für alle anderen (nichtkonfessionellen) mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Privatschulen kann der Staat unter gewissen Voraussetzungen35 nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel Subventionen gewähren. Ein Rechtsanspruch darauf besteht jedoch nicht. Diese unterschiedliche Behandlung von konfessionellen und nichtkonfessionellen Privatschulen stellt nach geltender Meinung36 keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes dar, da die „öffentlichen Schulen interkonfessionell sind und die konfessionellen Privatschulen daher eine Ergänzung des öffentlichen Schulwesens darstellen, durch die es den Eltern erleichtert wird, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder frei zu wählen“37. Neben den Personalsubventionen für die konfessionellen Privatschulen sind zudem auch noch Sachsubventionen möglich. Diesbezüglich stellte das Bundesministerium für Unterricht mit Erlass vom 28. September 1962, Zl. 95.795–10/62, fest, dass „über das aus den Bestimmungen des Privatschulgesetzes sich ergebende Ausmaß der Subventionierung zum Lehrerpersonalaufwand hinausgehende Beiträge, insbesondere zum Sachaufwand oder Bauaufwand von Privatschulen und privaten Schülerheimen, durch die Bestimmungen des Privatschulgesetzes nicht ausgeschlossen sind; sie können allerdings nur insoweit gewährt werden, als das jeweilige Budget des Bundes, der Länder oder Gemeinden entsprechende Förderungskredite vorsehen“38. Die restlichen Kosten der konfessionellen Privatschulen sind zum einen durch das von den Eltern der Schüler zu bezahlende Schulgeld und durch Zuschüsse der betreffenden Religionsgemeinschaft bzw. durch Kostenübernahmen seitens des jeweiligen Schulträgers aufzubringen. Träger der katholischen Privatschulen sind in erster Linie die Diözesen und die Ordensgemeinschaften. Vor allem bei letzteren kommt es allerdings zunehmend zu Problemen, die überwiegend aus der sinkenden Zahl von Neueintritten in die Orden resultieren, wodurch der Altersschnitt in vielen dieser Gemeinschaften immer mehr in die Nähe der Pensionsgrenze gerückt wird. D. h. die Orden sind praktisch nicht mehr in der Lage, den Unterricht an einer ordenseigenen Privatschule durch eigene Kräfte versehen zu lassen, wodurch das Interesse an einer eigenen Schule schwindet. Zugleich erfordert die Führung einer Privatschule immer mehr an Kompetenzen und Fachwissen, auch das wirtschaftliche Risiko ist mit den ständig steigenden gesellschaftlichen Ansprüchen an die Schule (z. B. Nachmittagsbetreuung der Schüler) im Wachsen begriffen. Angesichts dieses Dilemmas suchen die Orden einen Ausweg dahingehend, dass sie entweder an die Diözesen um Übernahme ihrer Schulen herantreten oder eine eigene Lösung durch Gründung von Schulvereinen suchen. So hat die Superiorenkonferenz der männlichen Ordensgemeinschaften unter Mitwirkung der Frauenorden 35

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Der § 21 PrivSchG nennt folgende Voraussetzungen: „a) die Schule einem Bedarf der Bevölkerung entspricht, b) mit der Führung der Schule nicht die Erzielung eines Gewinns bezweckt wird, c) für die Aufnahme der Schüler nur die für öffentliche Schulen geltenden Aufnahmebedingungen maßgebend sind und d) die Schülerzahl in den einzelnen Klassen nicht unter den an öffentlichen Schulen gleicher Art und gleicher örtlicher Lage üblichen Klassenschülerzahlen liegt.“ Anderer Ansicht sind Herbert Kalb, Richard Potz und Brigitte Schinkele, die eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zu erkennen glauben, da „sich das in Art. 2 1. ZP EMRK verbürgte Elternrecht einerseits auf sämtliche religiöse Überzeugungen und andererseits auch auf nicht-religiöse Weltanschauungen bezieht.“ Siehe Kalb/ Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), S. 387; Potz/Schinkele, Religionsrecht im Überblick (2005), S. 127. Götz/Jisa/Juranek/Schreiner, Österreichische Schulgesetze (1976 ff.), VI A § 19, S. 20 (Erläuternde Bemerkungen IX. GP 735) Zitiert nach Jonak, Das Verhältnis Republik Österreich – Katholische Kirche in Schulfragen, in: Kaluza et al., Pax et iustitia (1990), S. 98.

Die konfessionellen Privatschulen in Österreich

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Österreichs einen Schulverein der Ordensschulen Österreichs ins Leben gerufen. Diese „Vereinigung von Ordensschulen Österreichs“ wurde 1993 gemäß dem Vereinsgesetz errichtet und von der Österreichischen Bischofskonferenz anerkannt.39 Mitglieder des Vereines sind die Superiorenkonferenz der männlichen Ordensgemeinschaften Österreichs, die Vereinigung der Frauenorden Österreichs, die Gesellschaft Jesu, die Kongregationen der Redemtoristen, Serviten, Schwestern vom göttlichen Heiland – Salvatorianerinnen, die Congregatio Jesu (Englischen Fräulein), die Oblaten des hl. Franz von Sales, die Schulbrüder, die Schwestern vom Göttlichen Erlöser und die Marianisten. Zweck des Vereines ist es, die Orden von der Schulverwaltung und der wirtschaftlichen Führung ihrer Schulen zu entlasten bzw. die künftige Führung von katholischen Privatschulen durch Übernahme der Trägerschaft sicherzustellen, wobei das Schulgebäude und die dazu gehörigen Liegenschaften weiterhin im Eigentum des bisherigen Trägers verbleiben. Diese Konstruktion bietet auch gewisse umsatzsteuerliche Vorteile, so können die Schulgelder umsatzsteuerfrei vereinnahmt werden. Da zudem der Verein im Regelfall „nur Schulerhalter, nicht aber Eigentümer des Schulgebäudes ist, wird oftmals eine Vertragsform gewählt, die durch Abschluss von Bestandsverträgen dem Orden als Vermieter ein Recht auf Vorsteuerabzug für Gebäudeinvestitionen erschließt.“40 Die erste Schule, die der „Vereinigung von Ordensschulen Österreichs“ übertragen wurde, war das traditionsreiche „Kollegium Kalksburg“ der Jesuiten mit Volksschule, Gymnasium und Realgymnasium (im Jahr 1994). Inzwischen ist dieser neue Schulverein noch Träger folgender weiterer Schulen geworden: Salvatorschule Kaisermühlen, Klemens Maria HofbauerGymnasium Katzelsdorf, Schulen der Englischen Fräulein in St. Pölten, Schulen der Englischen Fräulein in Krems, Privates Oberstufenrealgymnasium St. Karl in Volders, Klosterschule Neusiedl am See, Albertus Magnus Schule in Wien mit Volksschule, Kooperativer Mittelschule (Hauptschule) und Gymnasium und Schulen und Hort St. Anna in Steyr mit Volksschule und Hauptschule.41 Einen völlig eigenen Weg beschritten die Ursulinen mit der Gründung des „Schulvereins St. Ursula Österreich“. Dieser Verein besteht seit dem Jahr 2000 und führt die Ursulinenschulen in Wien (Volksschule, Kooperative Mittelschule, Gymnasium und Oberstufenrealgymnasium), in Salzburg (Gymnasium und Oberstufenrealgymnasium) und in Klagenfurt (Volksschule und Kooperative Mittelschule42). Auch beim „Schulverein St. Ursula Österreich“ handelt es sich um einen Verein nach kirchlichem und staatlichen Recht, der von der Österreichischen Bischofskonferenz anerkannt wurde.43 Eine Vielfalt von Schulträgern findet sich auch im evangelischen Privatschulwesen, wo neben der Evangelischen Kirche A. B. und H. B. noch folgende fünf Schulträger in Erscheinung treten: Ev. Schulwerk Oberschützen, Ev. Schulwerk A. B. Wien, Ev. Schulwerk Diakonie Kärnten, Ev. Diakoniewerk Gallneukirchen und der Ev. Diakonieverein Salzburg.44 39 40 41 42 43 44

Göttlicher, Schulvereine als mögliche Alternativen hinsichtlich der Trägerschaft von kirchlichen Privatschulen, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 417–420. Steinbiller, Zur ökonomischen Situation kirchlicher Privatschulen, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 443 f. Siehe http://www.ordensschulen.at/ueberuns und http://www.superiorenkonferenz.at/index.php?option=com_content&task=view&id=2. Das Bischöfliche Realgymnasium und Oberstufenrealgymnasium in Klagenfurt steht nicht in der Trägerschaft des Schulvereins St. Ursula sondern in derjenigen der Diözese Gurk. Siehe http://www.st.ursula-wien.at/uns/view.php?site=wir.html und die Liste bestehender Mädchenschulen, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bestehender_M%C3%A4dchenschulen. Schwarz, Das Privatschulwesen der Evangelischen Kirche in Österreich – eine Bestandsaufnahme, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 426–427.

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Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

Die Rahmenbedingungen für konfessionelle Privatschulen und ihre künftige Rolle in Österreich

Um die zukünftige Position und Bedeutung von Privatschulen im Allgemeinen und konfessionellen Privatschulen im Besonderen einzuschätzen, muss auf verschiedene gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen näher eingegangen werden. Diese lassen sich grob unterteilen in a) demographische, b) bildungspolitische und c) wirtschaftliche Bedingungen. a) Demographische Rahmenbedingungen: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen manifestieren sich in erster Linie in der Entwicklung der Bevölkerung. Diese stellt die Basis für den Bedarf an Schul- und Ausbildungsplätzen dar. Allerdings ist die Anzahl der Bevölkerung nach Köpfen in den entsprechenden Altersgruppen alleine nicht ausreichend für die Bewertung der zukünftigen Rolle der Schulen, sondern auch die geographische und ethnische Herkunft diese Bevölkerungsteile. Obgleich die Gesamtbevölkerung Österreichs in den letzten 30 Jahren um etwa 800.000, allein in den letzten zehn Jahren bereits um über 340.000 Personen zugenommen hat, beruht diese Zunahme doch in erster Linie auf Bevölkerungsteilen in den Altersgruppen über 20 Jahre45. Tatsächlich nahm die Gruppe der 20 bis 64-jährigen, also jener Personen, die im üblicherweise berufstätigen Alter sind, von 56,2 % im Jahr 1981 auf 61,6 % im Jahre 2010 zu. Desgleichen wuchs der Anteil der Personen im Pensionsalter ab 65 Jahren von 15,1 % im Jahre 1981 auf 17,6 % im Jahre 2010. Dagegen nahm der Anteil der Altersgruppe von 0 bis 19 Jahren, aus welcher sich üblicherweise die Kinder und Jugendlichen in Schulausbildung rekrutieren, konstant von 28,7 % im Jahr 1981 auf 20,7 % im Jahr 2010 ab. In absoluten Zahlen spiegelt sich dies durch die Abnahme der Schülerzahlen um ca. 90.000 seit 1981 wider.46 Noch deutlicher wird die für die Ressourcenplanung der Schulen bedeutsame Entwicklung bei Betrachtung der Jahresdurchschnittsbevölkerung nach fünfjährigen Altersgruppen: die Gruppe der 0 bis 4-jährigen, aus welcher sich die künftigen Besucher der Volksschulen ergeben, nahm seit 2001 um etwa 15.000 ab. Viel deutlicher ist der Rückgang der Bevölkerung in der Gruppe von 5 bis 9 Jahren, die um etwa 64.000 Personen seit 2001 abnahm. Ebenfalls bedeutend ist der Rückgang in der Gruppe von 10 bis 14 Jahren, nämlich um etwa 35.000 Personen. Eine – bescheidene – Bevölkerungszunahme ist erst ab der Gruppe der 15- bis 19jährigen zu verzeichnen.47 Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass schon in der nächsten Zeit die bestehenden Schulplätze um immer weniger Schüler zu konkurrieren haben. Auf die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung wird in weiterer Folge noch näher eingegangen werden, aber schon an dieser Stelle lässt sich ablesen, dass die Aufrechterhaltung des bisherigen Schul- und Lehrpersonalangebots pro Schüler in Zukunft entsprechend teurer wird. Neben der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung ergeben sich besondere Herausforderungen an das Schulwesen durch die Migration nach Österreich und die damit verbundenen sprachlichen und kulturellen Konstellationen. Der Hauptgrund für die Bedeutung des Migrationsfaktors liegt darin, dass Kinder und Jugendliche, deren Umgangssprache nicht deutsch 45 46 47

Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes, erstellt 19.05.2011. Statistik Austria, Schulstatistik, erstellt 29.11.2010. Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes, erstellt 19.05.2011.

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ist, zumindest in der ersten Zeit in ihrem schulischen Erfolg beeinträchtigt sein können. Darüber hinaus hat die Erfahrung gezeigt, dass Eltern sehr häufig die Qualität einer Schule an dem Anteil der dort unterrichteten Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bemessen.48 Dies führt unter Umständen dazu, dass vor allem in Systemen mit freier Schulwahl Schulen mit geringerem Migrantenanteil bevorzugt werden, was letztendlich dazu führt, dass sich in den so genannten „Restschulen“ besonders hohe Anteile von Schülern mit Migrationshintergrund konzentrieren.49 Gerade in diesen treten in der Regel Schwierigkeiten auf – wegen der mangelnden Kenntnis der Unterrichtssprache vieler Schüler – den Lehrstoff plangemäß zu vermitteln. Deshalb ist der Faktor Migration für die Planung der Schulen, sowie die Rolle der Privatschulen von besonderer Bedeutung. Unterzieht man allerdings die statistischen Angaben über die österreichischen Bevölkerungsanteile mit entweder ausländischer Staatsangehörigkeit, oder mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ (dies bedeutet, dass entweder der österreichische Staatsbürger im Ausland geboren wurde oder einer bzw. beide Elternteile im Ausland gebürtig waren), erkennt man, dass diese Bevölkerungsgruppe bei österreichweiter Betrachtung zumindest für den Schulbereich (bis 15 Jahre) kaum von ausschlaggebender Bedeutung sein kann, zumal die Migrationsbewegung nach Österreich in den letzten fünf Jahren deutlich abgenommen hat.50 Anfang 2011 lebten in Österreich knapp 58.000 Personen im schulpflichtigen Alter von 6 bis 14 Jahren, die nicht in Österreich geboren waren.51 Dies entspricht einem Anteil von 7,6 %. Die für die unmittelbare Ressourcenplanung der Schulen im Hinblick auf die Migration nach Österreich wichtige Zahl der nicht in Österreich geborenen Personen im Alter von 0 bis 5 Jahren beträgt gar nur 16.500 Personen, entsprechend einem Anteil von 3,5 %. Bezeichnend ist dabei allerdings, dass etwa 210.000 in Österreich geborene Personen unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund aufweisen, also von Einwanderern abstammen. Insgesamt leben in Österreich daher etwa 285.000 Personen im Alter von 0 bis zu 15 Jahren, die entweder selbst nicht in Österreich geboren wurden oder Einwanderer zweiter Generation sind52. Deutlich mehr als die Hälfte davon, nämlich gut 166.000 Personen, welche die für das schulpflichtige Alter bedeutendsten Schultypen (Volksschulen, Hauptschulen, Sonderschulen, polytechnische Schulen, neue Mittelschulen, AHS-Unterstufe, Berufsschulen, sowie sonstige allgemein bildende Schulen, vor allem jene mit ausländischem Lehrplan) besuchen, haben allerdings nicht die deutsche Umgangssprache.53 Dieser für ganz Österreich ausgewiesene Anteil ist natürlich nicht gleichmäßig verteilt, sondern konzentriert sich in einigen spezifischen Regionen, vor allem in Wien und Vorarlberg. Das führt dazu, dass aufgrund von Siedlungskonzentrationen bestimmte Gebiete einen weit überproportionalen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit nicht-deutscher Umgangssprache aufweisen, was zu einer entsprechenden Verzögerung bei der Vermittlung des in der Unterrichtssprache Deutsch präsentierten Lehrstoffes führt. 48 49 50 51 52 53

Heinrich Böll Stiftung, Schule und Migration (2004), S. 12. Pröll: Hauptschule in Wien „Migranten-Restschule“, in: derStandard.at, 22.07.2010, http://derStandard.at/1277338678906/Proell-Hauptschule-in-Wien-Migranten-Restschule (2011). OECD, International Migration Outlook 2011, S. 262 f. Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes, erstellt 19.05.2011. Statistik Austria, Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung 2010, erstellt 20.03.2011. Statistik Austria, Schulstatistik, erstellt 29.11.2010.

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Konsequenterweise besteht die Bedeutung der Rahmenbedingung „Migration“ für das Schulwesen in sehr unterschiedlichem Ausmaß, abhängig vom regionalen Einzugsgebiet der Schüler für die jeweilige Bildungseinrichtung. Weitere deutliche Unterschiede ergeben sich bei der Berücksichtigung verschiedener Schultypen: So liegt beispielsweise der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit nicht-deutscher Umgangssprache in Volksschulen in privater Trägerschaft mit 21,8 % nicht wesentlich unter jenem in öffentlichen Volksschulen mit 23,2 %. Dagegen besteht schon ein größerer Unterschied zwischen den privaten Hauptschulen (Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Umgangssprache: 16,9 %) und öffentlichen Hauptschulen (21,1 %). Ganz deutlich ist der Unterschied zwischen den Unterstufen privater allgemein bildender höherer Schulen (8,5 %) und den öffentlichen AHS-Unterstufen (16,4 %).54 Selbst wenn der Anteil der Bevölkerung mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit in den letzten fünfundzwanzig Jahren konstant angestiegen ist, so kann daraus allein aber nicht unbedingt auf eine besondere Herausforderung für das österreichische Schulwesen in den kommenden Jahren geschlossen werden. Denn eine nach Altersgruppen differenzierende Betrachtung der Bevölkerung mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit zeigt, dass der Ausländeranteil in der Altersgruppe von 25 bis 49 Jahren mit etwa 15 % deutlich höher ist als in der Gruppe der Kinder von 6 bis 14 Jahren mit knapp 11 % und auch höher als in der Gruppe der Kinder von 0 bis 5 Jahren mit 13 %.55 Es deutet viel darauf hin, dass der Anteil an Migranten an Österreichs Schulen in der unmittelbaren Zukunft nicht mehr wesentlich steigen wird. b) Bildungspolitische Rahmenbedingungen: Mit der Einfügung von § 7a in das Schulorganisationsgesetz im Januar 2008 wurde die Möglichkeit zur Einführung des Modellversuches der so genannten „Neuen Mittelschule“ geschaffen.56 Diese zielt auf die Aufwertung der bestehenden Hauptschulen auf das Niveau der bisherigen AHS-Unterstufe ab und strebt auch die Integration der AHS-Unterstufen in dieses Modell an. Damit soll die traditionelle Zweigleisigkeit des österreichischen Schulsystems für die Altersgruppe der 10- bis 14-jährigen in einen einheitlichen Ausbildungsgang übergeführt werden. Bislang wurden 434 neue Mittelschulen eingerichtet. Die derzeitige Debatte um die Einführung des neuen Schulmodells dreht sich einerseits um die Frage der einheitlichen Lehrerausbildung, aber andererseits auch um einen möglichen Qualitätsverlust der bisherigen AHS-Unterstufe vor allem dann, wenn diese künftig ebenfalls in die Neue Mittelschule integriert wird.57 Diese Frage betrifft in gleichem Ausmaß auch die Privatschulen, insbesondere die konfessionellen Privatschulen. Insgesamt besuchen etwa 10 % aller Schülerinnen und Schüler in Österreich Privatschulen.58 Gerade in der AHSUnterstufe allerdings ist dieser Anteil mit über 17 % deutlich höher. Dies bedeutet, dass eine allfällige Integration der AHS-Unterstufe in die Neue Mittelschule die privaten Schulen mehr betrifft. Aus diesem Grund werden die Neuerungen in der Schulorganisation für Privatschulen eine besondere Herausforderung darstellen. 54 55 56 57 58

Ebenda. Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes, erstellt 19.05.2011. BGBl. I 2008, Nr. 26. Seel, Bruchlandung der „Neuen Mittelschule“, in: Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft. Aktuelles, http://www.bpag.at/archive/2011-03-28/helmut-seel-bruchlandung-der-neuen-mittelschule (2011). Statistik Austria, Schulstatistik, erstellt 29.11.2010.

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Erklärter Bestandteil der Bildungspolitik ist auch die Sicherung des allgemeinen und freien Zugangs zu den Bildungseinrichtungen, jedoch zeigt sich dieses Ziel mehr und mehr im Spannungsfeld mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten, so dass – ausgehend von Universitäten und Hochschulen – die Forderung nach erhöhten Eigenleistungen immer öfter gestellt wird. c) Wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Die österreichischen Bildungsausgaben sind in den letzten fünfzehn Jahren im Sinken begriffen. Gemäß der aktuellen OECD-Studie „Education at a Glance“ betrug der Anteil an Bildungsausgaben in Österreich im Jahre 2007 5,4 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP).59 Im Jahr 1995 waren es 6,2 %, im Jahr 2000 noch 5,5 %. Der aktuelle Wert liegt auch unter dem OECD-Schnitt von 5,5 %. Schon die jahrelange Debatte um die Finanzierung der österreichischen Hochschulen und Universitäten zeigt, dass für eine nennenswerte Steigerung der öffentlichen Bildungsausgaben auch mittelfristig keine Ressourcen zur Verfügung stehen werden. Eine bessere Finanzierung des Schulsystems von öffentlicher Hand könnte entweder nur durch Umschichtung innerhalb der verschiedenen Sektoren der öffentlichen Verwaltung oder durch erhöhte Abgaben erzielt werden. Ersteres ist unter Berücksichtigung der politischen Gegebenheiten höchst unwahrscheinlich, Letzteres ist aber angesichts der bereits überdurchschnittlich hohen Steuerquote von annähernd 43 % des BIP (2009)60 ebenfalls nur sehr schwer zu realisieren. Durch die bislang praktisch ausschließlich öffentliche Finanzierung des Schulwesens sind auf der anderen Seite die direkten Belastungen der Privathaushalte für Bildungsausgaben noch vergleichsweise gering. Betrachtet man den Bereich „Bildung“ im Rahmen der monatlichen Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte, so erkennt man, dass dieser in den letzten zehn Jahren zwar deutlich angestiegen ist, und zwar von 0,3 % im Zeitraum 1999/2000 bis auf 1,0 % 2009/2010, aber insgesamt doch auf sehr niedrigem Niveau steht;61 vor allem, wenn man ihn mit den Verbrauchsausgaben für alkoholische Getränke und Tabakwaren vergleicht, der 2009/2010 immerhin 2,4 % betrug. Hier besteht Potenzial, innerhalb der Privathaushalte Umschichtungen vorzunehmen, ohne die Gesamtbelastung zu verändern. Nicht berücksichtigt werden in dieser Darstellung die Entwicklungen im Bereich der Personalkosten für das lehrende Personal im Rahmen des öffentlichen Haushalts, welche seit langer Zeit bereits Gegenstand permanenter politischer und wirtschaftswissenschaftlicher Diskussionen sind, ohne bislang zu einer tief greifenden Reform geführt zu haben. Allerdings sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der aktuell festgestellte bzw. medial konstatierte Mangel an Lehrkräften62 und die damit verbundene Aufforderung, sich vermehrt dem Lehrberuf zuzuwenden, unweigerlich dazu führen wird, dass in etwa vier bis fünf Jahren eine gestiegene Anzahl von Lehrkräften nach Beendigung ihrer Ausbildung auf eine deutlich verringerte Anzahl von (Pflicht-)Schulbesuchern treffen wird; dieser Trend wird allerdings zunächst aufgrund einer bevorstehenden großen Pensionierungswelle unter den Lehrern nicht zum Tragen kommen.

59 60 61 62

OECD, Education at a Glance 2010: OECD Indicators Education at a Glance, http://www.oecd.org/dataoecd/45/39/45926093.pdf (2010), S. 217. OECD, Revenue Statistics 2010, http://www.oecd.org/document/6/0,3746,de_34968570_35008930_46731398_1_1_1_1,00.html (2011). Statistik Austria, Konsumerhebung 1999/2000, 2004/05, 2009/10. Pöll/Schwarz, In Österreich droht Lehrermangel, in: Die Presse 23.01.2010.

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Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

Die Zukunft des österreichischen Privatschulwesens

Will man die zukünftige Struktur und Rolle des österreichischen Schulwesens innerhalb der oben dargestellten Rahmenbedingungen vorhersagen, so begibt man sich unweigerlich in den Bereich der Spekulation. Tatsache ist, dass sich Art und Weise der Durchführung des Schulunterrichts im Pflichtschulbereich, wie auch in den Oberstufen seit vielen Jahrzehnten nicht tiefgreifend genug verändert hat, um eine vollständige Anpassung an die teilweise grundlegenden Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich zu erreichen. Die traditionelle Art des Schulunterrichts, mit konzentriertem Unterricht jeweils an den Vormittagen, orientiert sich an einem Familienmodell, das schon seit langem nicht mehr die Regel darstellt: Während der Vater ganztags arbeitsbedingt abwesend war, verblieb die Mutter zu Hause, kümmerte sich vormittags, während die Kinder in der Schule waren, um den Haushalt, um dann den Nachmittag gemeinsam mit den Kindern zu gestalten, diese beim Lernen zu unterstützen und im Wesentlichen die Erziehungsaufgaben zu übernehmen. Aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen gehen heute meist beide Partner einer Berufstätigkeit nach oder ein Elternteil ist allein erziehend, was dazu führt, dass schulpflichtige Kinder am Nachmittag unbeaufsichtigt bleiben.63 Aus diesem Grund steigt der Bedarf an einer Betreuung der Kinder außerhalb der reinen Schulzeiten stetig und zwar nicht nur an den Nachmittagen, sondern auch während der schulfreien Ferienzeiten, sofern diese nicht mit den Urlaubszeiten der Eltern zusammenfallen. Das Angebot einer Betreuung der Kinder für Zeiten außerhalb des Schulunterrichts ist deshalb zu einem entscheidenden Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Schulen, gerade im Kontext sinkender Schülerzahlen, geworden. Für konfessionelle Privatschulen ergeben sich daraus gravierende wirtschaftliche Folgen: Während das Lehrpersonal für den Schulunterricht aufgrund des schon oben erwähnten Konkordats und des so genannten Schulvertrags zwischen der Republik Österreich und dem Heiligen Stuhl in voller Höhe von der Republik bezahlt wird, ist die Aufsicht und Betreuung der Schülerinnen und Schüler an den Nachmittagen alleine vom jeweiligen Träger der Schule zu bezahlen. Selbst bei einer Einhebung eines entsprechenden Betreuungsbeitrages von den Eltern ist diese Nachmittagsbetreuung in aller Regel defizitär und kann nur von Überschüssen aus dem regulären Schulbetrieb gedeckt werden.64 Berücksichtigt man den steigenden Bedarf an Nachmittagsbetreuung, gleichzeitig die stetig anwachsenden Lehrpläne und die daraus resultierende Überlastung der Schüler, ergibt sich als logischer Schritt die Ausweitung des Schulbetriebes vom Vormittag auf den ganzen Tag. Dies erlaubt es, den zu vermittelnden Lehrstoff effizienter über den Tagesablauf zu verteilen und vor allem notwendige Phasen für Erholung oder auch Selbststudium nach modernen pädagogischen Gesichtspunkten einzubauen. Die Konsequenz ist ein Verwischen der bislang bestehenden Trennung von Vormittags- und Nachmittagsbetrieb an den Schulen. Diese Form der ganztägigen Schule wurde 1993 durch eine Änderung des Schulorganisationsgesetzes als „verschränkte Ganztagsschule“ eingeführt (§ 8 d [1] SchOG). Umgesetzt wurde dieser Typ bislang allerdings nur zögerlich. Natürlich hat das auch einschneidende Auswirkungen auf das Berufsbild und die Tätigkeit des Lehrpersonals, was natürlich nur durch eine – schon längst angekündigte – Dienstrechtsreform dauerhaft umgesetzt werden könnte. Für die kon63 64

Mayer, Ganztägige Betreuung an öffentlichen Pflichtschulen in Österreich (2007), S. 10 f. Steinbiller, Zur ökonomischen Situation kirchlicher Privatschulen, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 450 f.

Die konfessionellen Privatschulen in Österreich

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fessionellen Privatschulen hätte ein solcher Schritt den Vorteil, dass die Subventionierung des Lehrpersonals durch den Staat nunmehr grundsätzlich auch die Tätigkeiten desselben am Nachmittag miterfassen würde. Selbst wenn hinsichtlich der finanzierten Stundenzahlen keine Änderung eintritt, so ist doch anzunehmen, dass dem Träger der Schule die Finanzierung einer Nebentätigkeit der ohnehin anwesenden Lehrer günstiger kommen würde als die Anstellung von Betreuungspersonal speziell für die Nachmittage. Eine weitere Sonderstellung der Privatschulen besteht darin, dass diese nicht gezwungen sind, jede durch die Schulpolitik vorgenommene Strukturänderung umsetzen zu müssen. Konkret gilt das auch für die so genannte „Neue Mittelschule“: Selbst wenn diese Strukturänderung derzeit noch als Modellversuch provisorischen Charakter hat, so ist es doch erkennbare Zielrichtung zumindest der sozialdemokratischen Schulpolitik, sie allgemein umzusetzen und damit Hauptschulen und AHS-Unterstufen ganz durch die neuen Mittelschulen zu ersetzen. Private Schulen allerdings könnten dann nach wie vor an der Trennung festhalten. Aus diversen Gründen kann eine solche Aufrechterhaltung des bisherigen Systems für viele Eltern schulpflichtiger Kinder vorteilhaft erscheinen und sie veranlassen, ihre Kinder bevorzugt in derartige Privatschulen einschreiben zu lassen. Wie die oben erwähnten demographischen Daten zeigen, wird die Migration in nächster Zukunft – österreichweit betrachtet – keine wesentlichen Änderungen bei der Zusammensetzung von Schulklassen bringen. Von daher kann auch nicht begründet werden, dass es zu einer vermehrten „Fluchtbewegung“ von Schülern mit deutscher Umgangssprache aus Schulen mit erhöhtem Migrantenanteil kommen wird. Allerdings muss betont werden, dass regional oder auch lokal sehr große Unterschiede in dieser Hinsicht bestehen, die auch kurzfristigen Veränderungen unterliegen können. Sehr wohl zeigt sich aber wirtschaftspolitisch der Trend, die Rolle des Staates als zentralen Geldgeber und Betreiber vieler Einrichtungen neu zu definieren bzw. überhaupt zu reduzieren. Wie sich schon am Beispiel der Universitäten und Hochschulen gezeigt hat, versucht der Staat unter Hinweis auf private Initiativen seine finanzielle Unterstützung nach Möglichkeit zu minimieren. Dazu wird in der Regel das Modell privatwirtschaftlicher Autonomie gewählt. Es ist daher eine zukünftige allgemeine Privatisierung der österreichischen Schulen, insbesondere des Pflichtschulbereiches, nicht völlig auszuschließen.65 Eine solche weitgehende Privatisierung hat in Europa bereits Vorbilder, vor allem in den Niederlanden, in Belgien und Großbritannien, wo das Pflichtschulwesen zum Teil schon mehrheitlich auf privaten Einrichtungen beruht. Eine vollständige oder teilweise Ausgliederung des Bildungswesens aus der staatlichen Verwaltung würde allerdings bedeuten, dass die Finanzierung der Schulen ausschließlich oder überwiegend durch die Privathaushalte erfolgen müsste.66 Angesichts der bereits bestehenden Belastungen, vor allem mit öffentlichen Abgaben, wäre absehbar, dass ein erheblicher Teil der österreichischen Haushalte mit diesen Aufgaben überfordert wäre. Dies würde zu einem massiven Verfall des Bildungsniveaus in Österreich führen oder/und zu einem Rückzug des öffentlichen Schulwesens auf die Rolle einer „Mindestsicherung“ in einer Form, wie sie in

65 66

Hemmer/Bauer, Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU. Teil 7: Bildung (2003), S. 5 ff. Dikow, Die Zukunft der Privatschule, in: Rinnerthaler, Kirchliches Privatschulwesen (2007), S. 459 ff.

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Marcus Hanke und Alfred Rinnerthaler

anderen europäischen Ländern bereits unter dem Begriff der „Restschulen“ bekannt ist.67 In einem solchen Modell käme es zu einem Auseinanderklaffen des Bildungsangebotes zwischen teuren, aber anspruchsvollen privaten Bildungseinrichtungen auf der einen und überforderten Minimalstandard-Einrichtungen in öffentlicher Hand auf der anderen Seite. Für den Staat hätte eine Ausgliederung aber den großen Nachteil, dass eine Richtungskompetenz des Staates im Bildungswesen nur noch in geringerem Umfang gegeben wäre. Viel wahrscheinlicher ist es daher, dass eine Umstellung des Schulwesens auf private Trägerschaft nach dem Modell der bisher bestehenden konfessionellen Privatschulen vorgenommen würde, in welchem die Personalkosten für das Lehrpersonal ganz oder teilweise vom Staat getragen würden. Solche Subventionsmodelle sind auch in den genannten europäischen Staaten mit hohem Privatschulanteil die Regel und gestatten es, die Belastung der privaten Haushalte durch das zu zahlende Schulgeld einigermaßen niedrig zu halten.68 In diesem Zusammenhang ergäbe sich allerdings ein entscheidender Vorteil auf der Seite der konfessionellen Privatschulen: Die Subventionierung anderer Privatschulen durch den Staat beruht entweder auf Gesetz oder einfacher Verordnung, welche vergleichsweise leicht geändert werden können. Die Subventionierung der katholischen Privatschulen hingegen beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, von welchem die anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften im Wege des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ebenfalls ihre Subventionsansprüche ableiten. Eine Änderung wäre hier einseitig nicht möglich, sondern nur mit Zustimmung der anderen Vertragspartei, nämlich des Heiligen Stuhls. Damit wären konfessionelle Privatschulen bei einer allfälligen Reduzierung der Subventionen für Privatschulen durch den Staat in einer besseren Position. Zusammenfassend kann man feststellen, dass eine tiefgreifende Reform des Österreichischen Schulwesens, insbesondere im Bereich der Pflichtschulen, notwendig erscheint; vermutlich werden die bestehenden Ansätze (Ganztagsschule, Neue Mittelschule) in näherer Zukunft vertieft und ausgeweitet werden. Ob diese Reform zu einer allgemein verpflichtenden, verschränkten Ganztagsschule führen wird oder zu einem deutlich erhöhten Anteil von privaten Schulträgern oder gar zu einer Kombination aus beiden Ansätzen, ist jetzt noch nicht absehbar. Eine solche Reform stellt jedenfalls eine große Chance für private Schulen dar, da diese im Stande sind, auf die neuen Anforderungen flexibler zu reagieren. Für konfessionelle Privatschulen kommt zusätzlich noch die ideologische Ausrichtung zum Tragen, die angesichts massiver gesellschaftlicher Veränderungen für viele Eltern eine zusätzliche Garantie für die Vermittlung beständiger ethischer Werte an ihre Kinder darstellt und diese Bildungseinrichtungen daher besonders attraktiv erscheinen lässt.

67 68

Hemmer/Bauer, Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU. Teil 7: Bildung (2003), S. 15 f. Ebenda, S. 12 ff.

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Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010 Christian Haberfellner

1

Einleitung

Eine Studie der E²M Research Group untersuchte die Entwicklung von KMU in Südtirol über die Jahre 2006 bis 2011. Ziel war es, zu verstehen, wie KMU sich im Laufe der Zeit auf der Grundlage ihrer Stärken und Schwächen entwickeln. Besondere Bedeutung kommt der Untersuchung wegen der krisenhaften Entwicklungen 2008 zu, wobei die Frage im Vordergrund steht, wie Unternehmen auf diese Dynamiken reagiert haben, was sich indirekt in den Stärken bzw. Schwächen eines Unternehmens widerspiegeln kann. Grundsätzlich stehen KMU vor großen Herausforderungen: Die Erfahrung zeigt, dass vor allem die zunehmende Komplexität und die raschen Veränderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen dabei eine große Rolle spielen. Das generelle Problem von Unternehmen in Situationen steigender Komplexitäten scheint – so wie es auch Gomez und Probst (1999)1 formulieren –, dass man die zentralen Probleme nicht identifiziert und Ziele nicht adäquat ableitet. In der Regel beschränkt man sich auf Ausschnitte der Probleme und übersieht dabei häufig die wirklichen Faktoren. Deshalb bildet man einseitige oder falsche Schwerpunkte und vernachlässigt Nebenwirkungen. Die Stärken-Schwächen-Analyse ist ein zentrales Instrument der strategischen Unternehmensführung, welches über die analytische Unterstützung bei der Steuerung des Unternehmens helfen kann.

2

Die Stärken-Schwächen-Analyse als Instrument des systemischen Managements

Um KMU bei der Entscheidungsfindung und der strategischen Ausrichtung zu unterstützen, bedarf es Instrumente, welche der Komplexität der Entwicklungen gerecht werden, um zu starke Vereinfachungen zu vermeiden. Auf der anderen Seite spielt die einfache Anwendbarkeit eine große Rolle, da sonst die Instrumente nicht angewandt werden. Ein solch zentrales Managementinstrument stellt die Stärken-Schwächen-Analyse dar. Es handelt sich um ein 1

Siehe hierzu vertiefend Gomez/Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens, Vernetzt denken, Unternehmerisch handeln, Persönlich überzeugen (1999).

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Christian Haberfellner

gängiges Instrument der Unternehmensführung, weshalb die Methode der Durchführung einer Stärken-Schwächen-Analyse nur in aller Kürze beschrieben wird. Grundsätzlich bettet sich die Stärken-Schwächen-Analyse in den Führungs- bzw. Managementkreislauf im Bereich Planung ein und umfasst alle wesentlichen Bereiche der Unternehmensführung, weshalb nach Hammer wertvolle Hinweise auf strategische Ansätze gewonnen werden können2. Die Stärken-Schwächen-Analyse ist, vor allem wenn diese gemeinsam mit den Mitarbeitern erarbeitet wird, ein zentrales Steuerungselement und Kommunikationsmittel. Zur Erarbeitung der Stärken-Schwächen-Analyse wird gemeinsam mit der Geschäftsführung das Ziel der Stärken-Schwächen-Analyse definiert. Darauf aufbauend wird ein Workshop je nach Größe des Unternehmens mit allen Mitarbeitern oder nur dem Führungsteam durchgeführt. Der Workshop kann bei sehr kleinen Unternehmen vier Stunden in Anspruch nehmen, aber auch mehrere Wochen Arbeit für die Beteiligten bedeuten. In einem ersten Schritt werden die zentralen strategischen Erfolgsfaktoren definiert und beschrieben. Dabei werden in einem ersten Ansatz möglichst viele Faktoren erfasst, welche in einem nächsten Schritt zusammengefasst und selektiert werden. Diese Diskussion der Faktoren ist von zentraler Bedeutung, definiert man doch dabei, was für das eigene Unternehmen wichtig ist und worauf man unter Umständen weniger Rücksicht nimmt. Es gilt erst fortzufahren, wenn sichergestellt ist, dass alle Beteiligten exakt verstehen, was unter den einzelnen Erfolgsfaktoren verstanden wird. Die Bewertung erfolgt dann immer im Vergleich zu einem bzw. mehreren sehr guten Konkurrenten. Dabei diskutiert man im Team, ob man besser, gleich gut oder schlechter ist, als der Vergleichsmaßstab. Während der Beurteilungsphase stellt man laufend die Frage, was man in den einzelnen Bereichen tun müsste, um Verbesserungen herbeizuführen. Der Eigenbetrachtung kann man externe Betrachtungen gegenüberstellen. Im Anschluss an die Bewertung erstellt man ein Bild des Ergebnisses, beschreibt dieses und leitet Konsequenzen davon ab. Die Ergebnisse werden in einer Road-Map zusammengefasst, welche die Prioritäten, einen zeitlichen Horizont und Verantwortlichkeiten definiert.

3

Die Methode der Untersuchung

Im Zuge der Untersuchung wurden die Stärken und Schwächen von 70 Unternehmen in Südtirol von 2006 bis 2011 nach dem oben beschriebenen Verfahren analysiert. Es handelt sich bei den Unternehmen um KMU, wobei der Großteil zur Gruppe der Klein- und Kleinstunternehmen zählt. Die folgende Tabelle 1 stellt die Größenverteilung dar. Die Unternehmen wurden dabei zufällig ausgewählt, es kann vorkommen, dass einzelne Unternehmen in verschiedenen Jahren untersucht wurden. Im Zuge der Untersuchung wurde den Unternehmen zuerst die Methode der Stärken-Schwächen-Analyse vor dem Hintergrund des strategischen Managements erklärt. Im Anschluss daran wurde im Rahmen eines ca. drei Stunden dauernden Workshops die Analyse mit der Geschäftsführung durchgeführt. In manchen Unternehmen waren darüber hinaus noch Führungskräfte integriert. 2

Für weiterführende Erläuterungen siehe Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007).

Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010 Tabelle 1:

77 3

Untersuchte Unternehmen nach Anzahl der Mitarbeiter

Klassen

Anzahl Unternehmen

Bis fünf Mitarbeiter (Kleiner gleich 5)

21

Zwischen sechs und 10 Mitarbeiter (Größer fünf und kleiner gleich 10)

19

Zwischen zehn und 15 Mitarbeiter (Größer zehn und kleiner gleich 15)

12

Über 15 Mitarbeiter (größer 15)

15

Es ist an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Unternehmer die Beurteilung selbst durchgeführt haben. Es wurden keine Vergleichszahlen der Konkurrenz herangezogen, das heißt, die Ergebnisse spiegeln das Bild wider, welches die Unternehmer und Unternehmerinnen von sich und ihrem Unternehmen haben. Die Ergebnisse wurden mit den Unternehmern und Unternehmerinnen besprochen und strategische Ansätze diskutiert. Für die vorliegende Publikation wurden die Ergebnisse zusammengefasst. Dabei war es notwendig, Erfolgsfaktoren zusammenzufassen, was einen gewissen Definitionsspielraum zulässt.

4

Die Ergebnisse der Stärken-Schwächen-Analyse

4.1

Die strategischen Erfolgsfaktoren

Wie bereits erwähnt wurden in einem ersten Schritt der Analyse gemeinsam mit den Unternehmern und Unternehmerinnen die strategischen Erfolgsfaktoren erarbeitet. Die folgende Grafik 1 zeigt, welche strategischen Erfolgsfaktoren genannt wurden. Es lassen sich drei Bereiche erkennen: Jene Gruppe von Faktoren, die in den meisten Unternehmen genannt wurden. Darunter finden sich folgende Faktoren wie Marketing, Qualität, Preis, Mitarbeiter, Geschäfts- und Unternehmensführung, Finanzsituation und Pünktlichkeit. Der mittlere Bereich umfasst Infrastruktur, Know-How, Service und Kundenbetreuung, Kundenstock, Prozesse, Planungsprozesse und Arbeitsvorbereitung, Kundenzufriedenheit, Produkte und Produktpalette und den Verkauf. Die dritte Gruppe umfasst folgende Faktoren, welche von relativ wenigen Unternehmen genannt wurden: Führungskräfte, Familienstruktur, Markt, Projektabwicklung/Projektmanagement, Arbeitsklima, Alleinstellung, Kreativität, Ordnung im Betrieb, Konkurrenzsituation, Kommunikation, Einkauf/Lieferanten, Ruf bzw. Image des Unternehmens, Bekanntheit, Partner/Netzwerk, Baustellenmanagement, Organisation/Unternehmensstruktur, Verwaltung, Standort, Controlling, Konzept/Zukunftsorientierung, Innovation, Beratung. Es zeigt sich bereits in der Anzahl der Nennung, dass bei den meisten Unternehmen Themen des Tagesgeschäfts im Vordergrund stehen.

3

Eigene Darstellung.

78

Christian Haberfellner

Abbildung 1:

4.2

Strategische Erfolgsfaktoren nach deren Nennung durch die Unternehmen

4

Die Stärken und Schwächen der Südtiroler Handwerksunternehmen

Führt man alle 70 Stärken-Schwächen-Analysen der Unternehmen zusammen, erhält man ein Bild über die Situation der Südtiroler Wirtschaft. Nachdem es sich um ein Instrument handelt, welches strategische Ansätze aufzeigen soll, liefert die Zusammenfassung wichtige Informationen für die Politik und für unterstützende Organisationen. Die folgende Grafik 2 stellt zusammengefasst die Stärken-Schwächen-Analyse dar. Es zeigt sich grundsätzlich, dass die Unternehmen ein klares Profil aufweisen, auch wenn es durch das arithmetische Mittel abgeflacht wird. Die Unternehmen verfügen also über klare Stärken und Schwächen. Dabei bestätigt sich die Erfahrung aus der Beratung: Die Stärken der Unternehmen liegen im „Heute“. Man konzentriert sich auf das Tagesgeschäft und sieht dort seine Stärken. Man beurteilt Kundenzufriedenheit, Beratung, die Mitarbeiter, die Qualität und das eigene Wissen als hoch. Die zentralen Schwächen der Unternehmen liegen demgegenüber in all jenen Bereichen, die für die Nachhaltigkeit und die zukünftige Entwicklung der Unternehmen wichtig sind. Folgende Schwächen werden von den Unternehmen gesehen: Controlling, Marketing, Organisation, Zukunftsorientierung.

4

Eigene Darstellung.

Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010

Abbildung 2:

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert

79

5

Es stellt sich nun die Frage, wie sich die Stärken und Schwächen über die Jahre entwickelt haben, wobei die Wirtschaftskrise einen wesentlichen Einfluss gehabt haben dürfte.

4.3

Die Stärken und Schwächen von 2006 bis 2011

Im Folgenden wird auf die Entwicklung der Stärken und Schwächen der Unternehmen eingegangen. Dabei gilt es vorauszuschicken, dass sich auf Grund der hohen Entwicklungsdynamik der Wirtschaft, aber auch auf Grund der angewandten Methoden Ungenauigkeiten ergeben. Es kann nur ein generelles Bild gezeigt werden, Interpretationen sind auf Grund der Komplexität spekulativ. Trotzdem werden diese an einigen Stellen gewagt, aber immer als solche gekennzeichnet. Zunächst werden die Veränderungen von 2006 auf 2011 analysiert, im Anschluss wird auf die jährlichen Veränderungen eingegangen. Von 2006 auf 2011 scheint kein Stein auf dem anderen geblieben zu sein, wie die folgende Grafik 3 zeigt. Während sich die Bereiche Verwaltung, Service, Unternehmensführung, Beratung, KnowHow, Mitarbeiter, Baustellenmanagement und Kundenzufriedenheit signifikant verbessert haben, brechen die Bereiche Marketing, Innovation, Organisation und Controlling regelrecht ein. Wenn auch die Ergebnisse zum Teil widersprüchlich sind, hat es den Anschein, dass man schrittweise wieder zurückkehrt zu operativem Aktionismus und die Nachhaltigkeit auf der Strecke bleibt. Ob sich diese These über die Jahre im Detail halten lässt, gilt es nun im Detail zu analysieren. 5

Eigene Darstellung.

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Christian Haberfellner

Abbildung 3:

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert im Vergleich 2006 und 6 2011

Abbildung 4:

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert im Vergleich 2006 bis 7 2007

6

Eigene Darstellung.

Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010

81

Die nebenstehende Grafik 4 stellt die Veränderung von 2006 auf 2007 dar, wo sich große Veränderungen erkennen lassen. Es zeigt sich, dass sich die Finanzsituation, die Partner und Netzwerksituation, die Kalkulation und der Verkauf verschlechtert haben. Bei aller Ungenauigkeit der Methode zeigen die Veränderungen eine gewisse Unruhe in der Wirtschaft: Die Komplexität der Situation und vor allem die Veränderung des Kundenverhaltens wirken sich auf die Unternehmensführung aus. Man spürte, dass es schwieriger wurde, Kunden zu überzeugen, wobei der Preis von zentraler Bedeutung war, weshalb man erkennen musste, dass die Methode der Kalkulation nicht mehr der Zeit entspricht. Der Vergleich der Jahre 2007 und 2008 bestätigt diese Entwicklung, wie die folgende Abbildung 5 zeigt.

Abbildung 5:

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert im Vergleich 2007 bis 8 2008

Die meisten Entwicklungen werden 2008 noch verstärkt, nur die Planung und das Baustellenmanagement haben sich signifikant verschlechtert: Die Unternehmer geben hier an, dass die Kunden „schwieriger“ geworden und viel mehr Angebote zu stellen sind. Darüber hinaus versucht man, unplanmäßigen Kostensteigerungen durch Genauigkeit auf der Baustelle und professionelles Projektmanagement entgegenzuwirken, was es für die Handwerksbetriebe schwieriger macht. Man erkennt also auch Schwächen im Tagesgeschäft, welche bisher nicht aufgefallen sind oder für den Kunden kein Problem darstellten. 2008 auf 2009 setzt sich der Trend allgemein fort, wie die folgende Abbildung 6 zeigt. 7 8

Eigene Darstellung. Eigene Darstellung.

82

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Abbildung 6:

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert im Vergleich 2008 bis 9 2009

Abbildung 7:

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert im Vergleich 2009 bis 10 2010

9

Eigene Darstellung.

Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010

83

Signifikane Verbesserungen findet man in den Bereichen der Verwaltung, der Pünktlichkeit, der Mitarbeiter und der Infrastruktur und Maschinenausstattung. Verschlechterung zeigen sich hingegen im Bereich des Marketings, der Beratung und der Finanzsituation, der Kalkulation und des Controllings. Es zeigt sich, dass die Unternehmen versuchen, genauer zu arbeiten, zu investieren und die Verwaltungsabläufe zu verbessern. Das Verhältnis zu den Mitarbeitern hat sich im Zuge der Krise grundlegend verändert, da sich Mitarbeiter wieder verstärkt ans Unternehmen gebunden fühlen. Hingegen ist, wie die Erfahrung zeigt, der Preiskampf entbrannt, was dazu führt, dass sich das Controlling, die Finanzsituation allgemein und die Kalkulation aus der Sicht der Unternehmen verschlechtert haben. Dazu kommt, dass der Bereich Marketing und die Beratung sich verschlechtern. Dies könnte damit zusammenhängen, dass man nun erkennt, dass systematisches Marketing wichtig wäre. 2009 auf 2010 verändert sich die Situation weiter. Es verbessern sich die Zukunftsthemen wie Unternehmensführung, Marketing, Kundenstock, Beratung, Finanzsituation, Innovation, Prozesse, die Kalkulation und die Produkte. Verwaltung, Pünktlichkeit, Baustellenmanagement und die Kundenzufriedenheit verschlechtern sich. Man hat das Gefühl, dass sich die Situation wieder beruhigt und die Unternehmen wieder einen Überblick verspüren. Diese Entwicklung setzt sich 2011 fort, allerdings sinken die Bereiche Unternehmensentwicklung, Innovation, Controlling, Kalkulation und die Produkte, wie die folgende Abbildung 8 erneut zeigt.

Abbildung 9:

10 11

Beurteilung der Stärken und Schwächen der Unternehmen im Mittelwert im Vergleich 2010 bis 11 2011

Eigene Darstellung. Eigene Darstellung.

84

4.4

Christian Haberfellner

Einzelne Erfolgsfaktoren im Zeitverlauf

Es wird nun die Entwicklung ausgewählter Erfolgsfaktoren über die Jahre betrachtet. Dabei zeigt sich, dass es eine Gruppe stabiler Erfolgsfaktoren gibt. Dies sind die Unternehmensführung, das Marketing, der Kundenstock, die Prozesse und die Kundenzufriedenheit. Darüber hinaus gibt es eine Gruppe von Faktoren, welche sich im Laufe der Jahre verbessern. Zu dieser Gruppe zählen Beratung, Know-How, Qualität und Mitarbeiter. Das sind vermutlich jene Bereiche, die man auf Grund des steigenden unternehmerischen Drucks primär zu stärken sucht. Die folgende Abbildung 9 stellt die Entwicklung dieser Faktoren dar.

Abbildung 9:

Veränderung ausgewählter strategischer Erfolgsfaktoren im Mittelwert

12

Darüber hinaus gibt es eine Gruppe von Faktoren, die in den vergangenen Jahren insgesamt gefallen sind. Dies sind Organisation und Unternehmensstruktur, Verkauf, Controlling, Konzept und Zukunftsorientierung; Bereiche, in denen sich vermutlich die steigende Unsicherheit der Unternehmer und Unternehmerinnen zeigt. Die folgende Abbildung 10 stellt diese Gruppe der Faktoren dar.

12

Eigene Darstellung.

Die Entwicklung Südtiroler KMU 2006 bis 2010

Abbildung 10:

4.5

Veränderung ausgewählter strategischer Erfolgsfaktoren im Mittelwert

85

13

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass generell kleine und kleinste Unternehmen so sehr im Tagesgeschäft verhaftet sind, dass strategische Fragen ein Randthema sind. Es zeigt sich jedoch, dass man sich bei steigendem Druck dieser Themen bewusst wird. Allerdings ist die Bearbeitung strategischer Fragen in turbulenten Zeiten deutlich schwieriger, als würde man sich den Themen in ruhigen Zeiten widmen. Das lässt vermuten, dass die Ergebnisse von solchen Strategieprozessen, welche in schwierigen Zeiten gestartet wurden, nicht den gewünschten Erfolg bringen, weshalb man, sobald sich die Situation wieder stabilisiert, diese Themen erneut außer Acht lässt. Es ist nämlich in der Analyse deutlich zu erkennen, dass die Unternehmen sich relativ rasch nach Stabilisierung der Wirtschaftslage wiederum dem Tagesgeschäft zuwenden und sich im strategischen Bereich schlechter beurteilen. Analysiert man die strategischen Erfolgsfaktoren, welche von den Unternehmen genannt werden, muss man feststellen, dass die Komplexität der Unternehmensführung nicht im nötigen Umfang erfasst wird. Ein zentraler Motor der Veränderung ist – so die Studie – das Kundenverhalten, auf das man mit Qualitätssteigerung, Beratung, Steigerung des Know-Hows und die Integration der Mitarbeiter im Unternehmen reagiert. Die Planung und die Kalkulation – so die Unternehmen – werden wegen der geänderten Erwartungen des Kunden immer schwieriger, weshalb man sich auch schlechter beurteilt. 13

Eigene Darstellung.

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Christian Haberfellner

Ganz generell reagieren die Südtiroler Unternehmen traditionell: Man verbessert die Verwaltung, investiert in Anlagen, Maschinen und Gebäude, steigert die Qualität und versucht, Kunden über den Preis an sich zu binden. Dies ist eine kurzfristige, einseitige Orientierung, welche volkswirtschaftlich bedenklich scheint. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es ein Modell der Unternehmensentwicklung braucht, welches sich speziell auf die Herausforderungen der kleinen und kleinsten Unternehmen bezieht. Dabei ist genau zu untersuchen, inwieweit Ansätze für größere Unternehmen auf diesen Unternehmenstyp zu übertragen sind. Die Stärken-Schwächen-Analyse ist eines der Instrumente, welches die Komplexität ausreichend erfasst, ohne die Unternehmen zu überfordern. Zentral dabei sind die Ausarbeitung und die Integration möglichst großer Teile des Unternehmens.

Literatur Gomez, P./Probst, G.: Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens, Vernetzt denken, Unternehmerisch handeln, Persönlich überzeugen, Bern 1999. Hammer, R.: Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre, Wien 2007.

II

Die strategisch-systemische Dimension der Unternehmensführung

Ist Werteorientierung wertorientiert? Claudia B. Wöhle

1

Einleitung

Vor dem Hintergrund der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise gewinnt die Diskussion über Moral, Ethik und Wertekultur in der Wirtschaft wieder zunehmend an Bedeutung. Die aktuelle Vertrauenskrise, welche nicht nur den Finanzsektor, sondern die Wirtschaft insgesamt erfasst hat, ist u. a. auch das Resultat von Betrugsfällen, Skandalen, Exzessen und Übertreibungen in Unternehmen, die in der Öffentlichkeit nicht nur als Einzelfälle gesehen werden. Selbst wenn einzelne Entscheidungsträger für kriminelle Handlungen verantwortlich gemacht werden können, fallen die Vergehen auf die Unternehmen insgesamt zurück, da diese von der Öffentlichkeit wie reale Personen wahrgenommen werden. Nicht selten wird die einseitige Ausrichtung der Unternehmensziele auf die Interessen der Eigentümer zu Lasten der weiteren Stakeholder (Staat und Gesellschaft, Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter, Fremdkapitalgeber) für das rücksichtslose Verhalten von Managern verantwortlich gemacht. Verstärkend wirken hier leistungsorientierte Anreizsysteme, die sich primär – dem Shareholder Value-Paradigma folgend – an der finanziellen Performance für die Eigentümer orientieren. Die negativen Konsequenzen derartigen Fehlverhaltens und derartiger Missstände reichen vom Verlust in der Reputation über Umsatzrückgänge und erhöhter Mitarbeiterfluktuation bis hin zu Standing-Nachteilen am Kapitalmarkt, was mit höheren Kapitalkosten verbunden ist. Aber auch ohne das Fehlverhalten von Managern und ohne rücksichtloses Verhalten im Sinne des Shareholder Value-Postulats zu Lasten der weiteren Anspruchsgruppen stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang verantwortungsvolles Handeln und das Interesse der Eigentümer an finanzieller Performance stehen, wenn die Ansprüche der Unternehmenseigentümer auf den Residualgewinn bzw. das Residualvermögen stets in Konkurrenz zu den Ansprüchen der übrigen Stakeholder stehen. Der vorliegende Beitrag greift den kleinen Unterschied in den deutschen Begriffen Wertorientierung und Werteorientierung auf. Zunächst wird das Paradigma der wertorientierten Unternehmensführung erläutert. Anschließend wird darauf eingegangen, was unter Werteorientierung in der Unternehmensführung zu verstehen ist. Im dritten Punkt werden diese unternehmerischen Zielsetzungen – die Wertorientierung und die Werteorientierung – in Zusammenhang gebracht. Dabei wird zunächst auf den Konflikt zwischen Wert- und Werteorientierung aus Sicht der Unternehmenseigentümer eingegangen, bevor dann die positiven Aspekte der Werteorientierung für die finanzielle Performance der Eigentümer dargestellt

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werden. Der Beitrag schließt mit dem Fazit, dass es über die vorteilhaften Wohlfahrtseffekte durch Wertsteigerungsbeiträge hinaus in der Verantwortung der Unternehmenseigentümer für die Gesellschaft liegt, den möglichen Konflikt zwischen Wert- und Werteorientierung im Sinne einer langfristigen Existenzsicherung des Unternehmens zu lösen.

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Zum Paradigma wertorientierter Unternehmensführung

Im Rahmen der wertorientierten Unternehmensführung1 stellt der Unternehmenswert die oberste Ziel- und Steuerungsgröße dar. Da die Eigentümer das unternehmerische Risiko tragen, haben sie ein Interesse an einer maximalen Wertsteigerung des investierten Kapitals. Bei Publikumsgesellschaften kommt die Wertsteigerung unmittelbar in der Börsenkapitalisierung zum Ausdruck, die über das Zusammenspiel der Einschätzungen des Zukunftserfolgs von Anbietern und Nachfragern am Kapitalmarkt zustande kommt. Das heißt keineswegs, dass das Paradigma der Wertorientierung nicht für alle Unternehmen gilt. Grundsätzlich kann jedem Eigentümer unterstellt werden, dass er im Gegenzug für die Übernahme des unternehmerischen Risikos an der maximalen Wertsteigerung des von ihm im Unternehmen eingesetzten Kapitals interessiert ist. Seinen Durchbruch hatte die Wertorientierung in der Unternehmensführung in den 1980er Jahren mit der Publikation von Alfred Rappaport zum Shareholder Value-Konzept. Demnach bestimmt sich der Unternehmenswert als Barwert der ausstehenden Zahlungsströme, wobei im Diskontierungssatz die Renditeforderung der Kapitalgeber in Abhängigkeit vom eingegangenen Risiko formuliert wird. Mit seinem Konzept hat Rappaport die moderne Unternehmensbewertung nach den Discounted Cash Flow-(DCF-)Verfahren zu einem integrierten Ansatz der wertorientierten Unternehmensführung erweitert, in dessen Rahmen die verschiedenen Werttreiber für den Unternehmenswert transparent werden. Während sich in den ausstehenden Zahlungsströmen das zukünftige operative Geschäft mit den diesbezüglichen Investitionsaktivitäten abbildet, werden sämtliche Finanzierungsaspekte einschließlich des Risikos, das die Kapitalgeber tragen, über den risikoadjustierten Kapitalkostensatz, der zur Diskontierung der ausstehenden Zahlungsströme angesetzt wird, vereint.2 Mit seinem Shareholder Value-Konzept hat Rappaport einen für jedes Unternehmen anwendbaren konzeptionellen Rahmen für die wertorientierte Unternehmensführung geschaffen.3 Für börsennotierte Unternehmen kommt im Speziellen noch hinzu, dass die Wertsteigerungsbeiträge, die sich im DCF-Unternehmenswert zeigen, sich auch in der Börsenkapitalisierung niederschlagen sollten. Als Steuerungsparameter kommt hier also die Kapitalmarktkommunikation (Investor Relations) hinzu, deren zentrale Aufgabe es ist, den Investoren Informationen für die Einschätzung des Aktienkurses zur Verfügung zu stellen. 1 2

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Als Synonym wird hierfür auch der Begriff „Value Based Management“ verwendet. Vgl. Rappaport, Creating Shareholder Value (1998). Konkret wird der WACC-Ansatz der DCF-Verfahren im Shareholder Value Framework verwendet. Vgl. hierzu auch ausführlich Koller/Goedhart/Wessels, Valuation – Measuring and Managing the Value of Companies (2010). Die bekanntesten alternativen Konzepte der wertorientierten Unternehmensführung – das Konzept des Economic Value Added (Stewart, The Quest for Value: A Guide for Senior Managers [1991]), das Konzept des Cash Value Added (Lewis, Steigerung des Unternehmenswertes. Total Value Management [1994]) und das Konzept des Cash Flow Return on Investment (Madden, CFROI Valuation. A Total System Approach to Valuing the Firm [1999]) – seien hier ergänzend zumindest erwähnt.

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Wie mit dem Begriff Shareholder Value – der nichts anderes umschreibt als den Wert für die Eigentümer eines Unternehmens – wird der angelsächsische Ursprung der Wertorientierung in der Unternehmensführung deutlich. In einem marktorientierten Finanzsystem – beispielhaft seien hier die USA und Großbritannien genannt –, das im Schwerpunkt auf den Marktmechanismus setzt und dessen rechtliche und regulatorische Vorschriften auf die Sicherstellung der Funktionsweise der Märkte ausgerichtet sind, ist die strikte Orientierung an dem Wert eines Unternehmens (im Sinne von Marktwert) unmittelbar nachvollziehbar. Unternehmen konkurrieren an den Finanzmärkten um das Kapital der Investoren. Diese können jederzeit über die so genannte Exit-Option mit dem Verkauf von Unternehmensanteilen ihren nicht ausreichend erfüllten Erwartungen Ausdruck verleihen, was zu einem entsprechenden Druck auf die Aktienkurse führt. Der Markt für Unternehmenskontrolle übt in einem marktorientierten Finanzsystem den zentralen Corporate Governance-Mechanismus aus, um die Interessen von Eigentümern und dem Management in börsenotieren Unternehmen zu synchronisieren. Somit fokussiert sich auch der so genannte Shareholder-Ansatz der Corporate Governance4 auf die Sicherstellung der finanziellen Interessen der Eigentümer, womit sich dann auch die Forderung nach Wertorientierung in der Unternehmensführung durch das eingesetzte Management begründen lässt.5 In einem bankorientierten Finanzsystem – wie es trotz angelsächsischer Einflüsse nach wie vor in Deutschland und Österreich vorzufinden ist – dominiert traditionell der Kapitalmarkt weniger stark die Unternehmensfinanzierung. Die Finanzierung erfolgt mehrheitlich über Banken, die eine beziehungsorientierte Überwachung der Unternehmensaktivitäten ausüben. Des Weiteren kommt traditionell der Mitbestimmung und dem Konsens mit den übrigen Anspruchsgruppen im System der sozialen Marktwirtschaft eine große Bedeutung zu. Zwar hat mit der zunehmenden Kapitalmarktorientierung, getrieben durch die Maßnahmen der Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte und der zunehmenden Internationalisierung der Produkt- und Faktormärkte, die Mitte der 1990er Jahre einsetzte, auch die Shareholder Value-Orientierung bei den kontinentaleuropäischen Publikumsgesellschaften Einzug gehalten. Allerdings hat sich diese vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen der sozialen Marktwirtschaft und der Tradition des bankbasierten Finanzsystems in modifizierter Form, dem so genannten Stakeholder-Ansatz der Corporate Governance6, durchgesetzt. Demnach kommt es in der Unternehmensführung darauf an, nicht nur isoliert die finanziellen Interessen der Eigentümer in den Mittelpunkt zu stellen, sondern einen Interessensausgleich mit allen unternehmerischen Anspruchsgruppen (Fremdkapitalgeber, Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Staat und Gesellschaft) anzustreben.7

3

Zur Werteorientierung in der Unternehmensführung

Nähert man sich dem Begriff der Werteorientierung in der Unternehmensführung, so ist zunächst auf Werte bzw. Wertvorstellungen einzugehen. Hiermit werden wichtige und wün4 5 6 7

Vgl. Shleifer/Vishny, A Survey of Corporate Governance (1997). Vgl. Hackethal/Schmidt, Finanzsystem und Komplementarität, (2000). Vgl. Tirole, Corporate Governance (2001), S. 4; Freeman, Strategic Management: A Stakeholder Approach (1984). Vgl. Schmidt, Die Transformation des deutschen Finanzsystems und der Corporate Governance deutscher Unternehmen (2007).

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schenswerte Eigenschaften von Dingen, Beziehungen und Ideen bezeichnet, welche von Individuen, Gruppen von Personen oder der Gesellschaft insgesamt zugewiesen werden und zugleich identitätsstiftend sowie handlungsleitend sind. Aufgrund der Zeit- und Ortsabhängigkeit von Werten und der jeweiligen Perspektive des Betrachters sind konkrete Inhalte von Wertvorstellungen stets im jeweiligen Kontext zu sehen.8 Die deutsche Wertekommission9 – eine Initiative von Führungskräften der Wirtschaft, die sich für ein wertegeleitetes Verhalten in Wirtschaft und Gesellschaft eintreten – hat im Wege eines ausführlichen Diskussionsprozesses unter Führungskräften der Wirtschaft folgende Werte für handlungsleitend erklärt: „Nachhaltigkeit, Integrität, Vertrauen, Verantwortung, Mut, Respekt“10. Generell zeigt sich in den Befragungen nach dem Wertekanon von Führungskräften, dass diese Werte, die zum Teil lediglich unterschiedlich bezeichnet werden, die persönliche Einstellung reflektieren, welche sowohl im Privat- wie auch im Berufsleben und auch auf die Gesellschaft insgesamt bezogen gilt.11 Auf Basis dieser, für Führungskräfte als wichtig geltenden Werte soll im Rahmen dieses Beitrags der Begriff Werteorientierung als ein Sammelbegriff für eine Handlungsorientierung in der Unternehmensführung stehen, die sich durch die „Achtung der Freiheit und Würde jeder Person und der Einhaltung der Menschenrechte über die Verhinderung betrügerischen Verhaltens und die Vermeidung ökologischer Schäden bis zur Chancengleichheit, zur gerechten Verteilung der Einkommen, überhaupt zu einem fairen Umgang mit allen Stakeholdern“12 auszeichnet. Es geht damit um sämtliche Maßnahmen in der Unternehmensführung, welche der unternehmensethischen Legitimität und Verantwortbarkeit dienen. Damit zeigt sich ein enger Zusammenhang zur Corporate Social Responsibility (CSR).13 Corporate Social Responsibility, übersetzt mit Unternehmenssozialverantwortung, ist als ein freiwilliger Beitrag von Unternehmen zur nachhaltigen Entwicklung zum Wohle der Allgemeinheit über die Einhaltung von gesetzlichen Anforderungen hinaus zu verstehen.14 Themenfelder, die über die Corporate Social Responsibility-Aktivitäten abgedeckt werden, sind 8 9 10 11 12

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Vgl. Wieland, Wozu Wertemanagement? Ein Leitfaden für die Praxis (2004), S. 13 ff.; Kluckhohn, Values and value orientations in the theory of action (1951). Siehe http://www.wertekommission.de. Bucksteeg/Hattendorf, Führungskräftebefragung 2010, Studie der Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung (2010), S. 3. Vgl. Bucksteeg/Hattendorf, Führungskräftebefragung 2010, Studie der Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung (2010), S. 8 und S. 11. Thielemann, Ethik als Erfolgsfaktor? The Case against the business case und die Idee verdienter Reputation (2008), S. 233. Der Stakeholder-Begriff wird in diesem Zusammenhang weit gefasst, wie etwa bei Freeman/ Reed, Stockholders and Stakeholders. A new Perspective on Corporate Governance (1983), S. 91: „Any identifiable group or individual who can affect the achievement of an organization’s objectives or who is affected by the achievement of an organization’s objectives. (Public interest groups, protest groups, government agencies, trade associations, competitors, unions, as well as employees, customer segments, shareowners, and others are stakeholder, in this sense).“ Damit sind also nicht nur erfolgsrelevante Stakeholder-Beziehungen gemeint, auf die sich die enge Definition bezieht. Der Begriff Corporate Social Responsibility geht zurück auf Bowen, Social responsibilities of the businessman (1953). In jüngerer Zeit wird auch von Corporate Responsibility oder auch – wenn es nicht nur um privatwirtschaftliche Unternehmen geht – von Social Responsibility gesprochen. Der Begriff Corporate Sustainability, mit dem zusätzlich zur Ausrichtung nachhaltigen Handelns auf soziale und ökologische Belange die ökonomische Dimension angesprochen wird, kann hier vereinfachend mit Corporate Responsibility gleichgesetzt werden. Vgl. Europäische Kommission, Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen (2001), S. 8; Bassen/Jastram/Meyer, Corporate Social Responsibility. Eine Begriffserläuterung (2005), S. 231 ff.

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in der unternehmensinternen Dimension Humanressourcenmanagement, Arbeitsschutz, Anpassung an den Wandel sowie Umweltverträglichkeit. In Bezug auf die unternehmensexterne Perspektive sind als Betätigungsfelder sozialer Verantwortung der Unternehmung die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen, lokale Gemeinschaften, Geschäftspartner, Zulieferer und Verbraucher, Menschenrechte und der globale Umweltschutz zu nennen. In den genannten Bereichen sind jeweils auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in die Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Anspruchsgruppen der Unternehmung einzubeziehen.15 Im Sinne eines Mindeststandards werden die Prinzipien für ein werteorientiertes und damit gesellschaftlich verantwortliches Handeln von Unternehmen auch in zehn Kriterien des UN Global Compact festgehalten. Es handelt sich hierbei um Grundwerte, die sich auf die Menschenrechte, Arbeitsnormen, den Umweltschutz und die Korruptionsbekämpfung beziehen. Von Unternehmen wird danach verlangt, im Rahmen ihres Einflussbereichs diese Regeln anzuerkennen, zu unterstützen und umzusetzen. 16 In Unternehmen konkretisieren sich diese Prinzipien in Form von unternehmensindividuellen Werten, die in Leitlinien und Ethik-Kodizes festgehalten werden. Sie dienen als Instrument, um durch die Vorgabe von moralischen Grund- oder Leitsätzen bzw. Verfahrensrichtlinien verantwortungsbewusstes Handeln aller Mitarbeiter im Unternehmen sicherzustellen. Neben moralischen Werten enthalten diese in der Regel auch Leistungs-, Kommunikations- und Kooperationswerte, wie diese Wieland in seinem Werteviereck definiert.17 Insofern wirken die Leitlinien bzw. Ethik-Kodizes auch identitätsstiftend für eine gemeinsame Unternehmenskultur. Ergänzt werden die prinzipienbasierten Kodizes durch Verhaltensrichtlinien bzw. Codes of Conduct, die konkrete Handlungsanweisungen und Regeln beinhalten, wie beispielsweise Korruptionsrichtlinien oder Corporate Social Responsibility-Richtlinien.18 Die Aufstellung von Leitlinien bzw. Ethik-Kodizes und Verhaltensrichtlinien bildet die erste Prozessstufe im Aufbau eines Wertemanagementsystems. Weitere Prozessstufen sind die Einbindung der Werteorientierung in die Unternehmenskommunikation, die Implementierung von Instrumenten sowie die Integration in die Aufbau- und Ablauforganisation im Unternehmen.19

15 16

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Vgl. Europäische Kommission, Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen (2001), S. 9 ff. Vgl. United Nations Global Compact, The Ten Principles (2011), http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/index.html. Beim United Nations Global Compact, der auf Initiative der Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde, handelt es sich um ein Netzwerk von Unternehmen, Wirtschafts- und Arbeitnehmerverbänden, Forschungseinrichtungen, staatlichen Organisationen und Nicht-Regierungsorganisationen, das die Zielsetzung hat, die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen zu fördern. Vgl. Wieland, Handbuch Wertemanagement (2004), S. 23 f. Vgl. Talaulicar, Normierungsansätze unternehmensethischer Kodizes (2007); Kaptein, Effektive Business Codes: Inhalt und Bedingungen (2010). Vgl. hierzu ausführlich Wieland, Handbuch Wertemanagement (2004), S. 24 ff. Bei dem hier angesprochenen WerteManagementSystemZfW handelt es sich um einen vom Zentrum für Wirtschaftsethik (ZfW) (wissenschaftliches Institut des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik) entwickelten Standard. Siehe ausführlich http://www.dnwe.de/wertemanagement.html.

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Zum Zusammenhang von Wert- und Werteorientierung

Nachdem auf die Begriffe Wert- und Werteorientierung im Kontext der Unternehmensführung eingegangen worden ist, geht es nun um deren Zusammenhang. Wie in den Punkten zuvor schon zum Teil angedeutet, kann diesbezüglich in drei Richtungen argumentiert werden.20 Im strengen Sinne des Shareholder Value-Konzepts geht die Berücksichtigung von ethischen Belangen in der Unternehmensführung zu Lasten der finanziellen Interessen der Eigentümer. In Publikumsgesellschaften, in denen das Management die Kontrolle über die Unternehmensressourcen hat, spricht man in diesem Zusammenhang auch von dem Problem des Moral Hazard. Damit ist das Verhaltensrisiko des von den Eigentümern eingesetzten Managements gegenüber den Aktionären beschrieben, das sich darin äußert, dass Unternehmensressourcen nicht ausschließlich zur Maximierung der Rendite der Eigentümer eingesetzt werden.21 Dem steht die Sichtweise gegenüber, dass die langfristige und nachhaltige Existenzsicherung der Unternehmung nur unter Berücksichtigung der Interessen aller Anspruchsgruppen gewährleistet werden kann. Nach dem oben formulierten Werteverständnis sind nicht nur die in unmittelbarem Bezug zum Unternehmen stehenden Stakeholder – die Mitarbeiter, Fremdkapitalgeber, Lieferanten, Kunden und der Staat – angesprochen, sondern insbesondere auch die Gesellschaft mit ihren verschiedenen Interessensgruppen insgesamt, allerdings nur solange die Beziehungen erfolgsrelevant sind.22 In Bezug auf die Wirkungsweise der Werteorientierung auf den Unternehmenswert können die Antriebskräfte drei Bereichen zugeordnet werden.23 Zunächst ist das immaterielle Kapital als Komponente des Unternehmenswerts zu nennen, das aus einer guten Reputation resultiert. Eine gute Reputation strahlt Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit an sämtliche Anspruchsgruppen aus und sorgt für stabile Beziehungen zu diesen, was zu erhöhter ökonomischer Effizienz und Effektivität führt.24 Zum zweiten unterstützt die Werteorientierung im Unternehmen eine gute Corporate Governance im Sinne des Stakeholder-Ansatzes, die ebenfalls positive Effekte auf den Unternehmenswert begründet.25 Schließlich kann von der verantwortungsbewussten Unternehmensführung die Stärkung der Innovationskraft und damit der Wettbewerbsfähigkeit ausgehen, die insbesondere bei der freiwilligen Einhaltung von Umweltstandards über die gesetzlichen und regulatorischen Erfordernisse hinaus von Bedeutung ist. Zusätzlich kann argumentiert werden, dass über den Unternehmenserfolg und die damit verbundenen Wohlfahrtsgewinne die Gesellschaft wiederum profitiert.

20 21

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Zur Systematisierung von Corporate Social Responsibility-Aktivitäten, auf die in diesem Punkt zurückgegriffen wird, vgl. Kitzmueller/Shimshack, Economic Perspectives on Corporate Social Responsibility (2010), S. 4. Vgl. Jensen, Value Maximization, Stakeholder Theory, and the Corporate Objective Function (2002). Zu den aus Informationsasymmetrien zwischen Eigentümern (Prinzipale) und Management (Agenten) resultierenden Verhaltensrisiken vgl. Spremann, Asymmetrische Information (1990). Zur Definition von Stakeholder-Beziehungen im engeren Sinne vgl. Freeman/Reed, Stockholders and Stakeholders. A new Perspective on Corporate Governance (1983), S. 91. Vgl. Schäfer/Lindenmayer, Unternehmenserfolge erzielen und verantworten. Ein finanzmarktgesteuertes Beurteilungs- und Steuerungsmodell von Corporate Responsibility (2005), S. 24 ff. Vgl. hierzu auch die Governanceethik nach Wieland (Eine Theorie der Governanceethik [2001]), wonach moralisch-ethisches Handeln ökonomisch begründet wird. Vgl. Donaldson/Preston, The Stakeholder Theory of the Corporation: Concepts, Evidence, and Implications (1995).

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Nach dem „Prinzip des gemeinsamen Mehrwerts“ („Shared Value“) ist es also sinnvoll, eine Situation des langfristigen Interessensausgleichs mit allen Anspruchsgruppen herzustellen.26 Das Wertemanagementsystem mit seinen Elementen stellt nach dieser Argumentation ein strategisches Instrument der wertorientierten Unternehmensführung dar, indem es zur Steigerung des Unternehmenswerts eingesetzt wird.27 Zu einem reinen „Business Case“ wird die Werteorientierung, wenn sich entsprechende Maßnahmen in die Konzepte des Value Based Management einbinden lassen, um entsprechende Wertsteigerungspotenziale zu identifizieren. Dies bedingt jedoch eine Quantifizierung der konkreten Maßnahmen in Form von zukünftigen Zahlungsströmen und/oder über die Risikoadjustierung der Renditeforderung der Investoren, was jedoch in der Regel mit Schwierigkeiten verbunden sein dürfte. Mit dem Konzept der Balanced Scorecard liegt ein Instrument zur Integration von Werte- und Wertorientierung in die Unternehmensführung vor. Neben den vielfältigen Vorteilen dieses Konzepts28 ist insbesondere hervorzuheben, dass sich auch nicht-monetäre Ziel- und Steuerungsgrößen mit ihren Wirkungen auf die finanzielle Performance in den ganzheitlichen Ansatz der Unternehmenssteuerung einbinden lassen.29 Nicht nur im Zuge des starken Wachstums von nachhaltig ausgerichteten Anlageformen haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Finance-Studien mit der Frage beschäftigt, inwiefern sich empirisch für Publikumsgesellschaften ein Zusammenhang zwischen der finanziellen Performance für die Investoren und der Werteorientierung zeigt. Im Rahmen dieser Studien wird auf die im Vergleich zu konventionellen Anlageformen erzielte Über- bzw. Unterperformance von so genannten Responsible Investments abgestellt. Responsible Investments sind Anlageformen und -strategien, bei denen in Unternehmen investiert wird, in denen soziale, ökologische und ethische Faktoren in der Unternehmensführung Berücksichtigung finden.30 Die Kriterien, nach denen diese Anlagemöglichkeiten klassifiziert werden, werden ESG-Kriterien (Environmental, Social and Governance Issues) genannt. Ein Vergleich dieser Studien ist insbesondere deshalb mit Schwierigkeiten verbunden, als dass mit den ESG-Kriterien keine einheitlich definierten Kennzahlen zur Messung der sozialen Performance gegeben sind und zudem nicht immer alle Teilaspekte werteorientierter Unternehmensführung berücksichtigt werden.31 Ohne auf einzelne Studien an dieser Stelle im Detail eingehen zu wollen, sei festgehalten, dass sie mehrheitlich einen positiven Zu-

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Vgl. hierzu auch ausführlich Porter/Kramer, Strategy and Society: The Link Between Competitive Advantage and Corporate Social Responsibility (2006), S. 85. Zur Kategorisierung von Corporate Social Responsibility-Aktivitäten vgl. wiederum Kitzmueller/Shimshack, Economic Perspectives on Corporate Social Responsibility (2010), S. 7 ff. Vgl. ausführlich Kaplan/Norton, The Balanced Scorecard, Translating Strategy into Action (1996). Vgl. z. B. Schaltegger/Wagner, Integrative management of sustainability performance, measurement and reporting (2006). Unter dem Begriff der Responsible Investments werden ebenfalls Sustainable Investments (SI) und Socially Responsible Investments (SRI) subsumiert. In Frage kommen hier alle Anlageformen (Aktien, Anleihen, Projektfinanzierungen, Festgelder, Sparkonten), bei denen die Gelder in ökologische, soziale und ethische Projekte bzw. Unternehmen investiert werden. Die größte Bedeutung unter den Responsible Investments haben Investmentfonds, die sich je nach Schwerpunkt der Ausrichtung in Nachhaltigkeits-, Öko-, Ethik- und EthischÖkologische Fonds einteilen lassen. Vgl. Schmidt/Weistroffer, Responsible Investments. Mehr als eine Modeerscheinung (2010), S. 6. Zur Kritik an der Messung der ethisch-moralischen Unternehmensführung im Rahmen von empirischen Studien über den Zusammenhang zwischen finanzieller und sozialer Performance vgl. Thielemann, Ethik als Erfolgsfaktor? The Case against the business case und die Idee verdienter Reputation (2008), S. 236 ff.

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sammenhang zwischen der sozialen und der finanziellen Performance feststellen.32 Kritisch ist anzumerken, dass über die Kennzahlen zur sozialen Performance nur unvollständig erfasst werden kann, ob die formulierten Werte auch tatsächlich im Unternehmen gelebt werden. Zudem stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der Kausalzusammenhang nicht auch umgekehrt sein könnte, nämlich dass aufgrund einer besseren finanziellen Performance ein besonderes soziales Engagement von Unternehmen tragbar ist. Schließlich bleibt noch die dritte Überlegung zum Zusammenhang zwischen Wert- und Werteorientierung. Hierzu wird der Konflikt zwischen den Interessen der Eigentümer und denen der weiteren Anspruchsgruppen wieder aufgegriffen. Es kann auch eine bewusste Entscheidung der Eigentümer sein, zu Gunsten von ethisch-moralischen Zielen in der Unternehmensführung auf Renditevorteile zu verzichten. Demnach würden sich die Präferenzen der Eigentümer nicht ausschließlich auf eine maximale Unternehmenswertsteigerung konzentrieren, sondern es ginge um eine angemessene finanzielle Performance unter Berücksichtigung von ethisch-moralischen Prinzipien, ohne diese im Sinne des Shareholder Value zu instrumentalisieren. Eine Unternehmung mit einem wert- und werteorientierten Zielsystem wäre demnach umso erfolgreicher, je stärker die nicht-monetären Präferenzen der übrigen Anspruchsgruppen sind und diese somit nicht nur nach Marktpreisen über ihren Beitrag zum Unternehmenserfolg entscheiden. Des Weiteren hängt die nachhaltige Existenzsicherung von der Bereitschaft und den Möglichkeiten der Eigentümer ab, auf eine höhere Rendite, wie sie rein nach dem Shareholder Value-Prinzip geführte Unternehmen erzielen können, zu verzichten, ohne die Existenz der Unternehmung zu gefährden.33

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Fazit

Die empirischen Untersuchungen bestätigen zum großen Teil also, was mehrheitlich von Seiten der Unternehmen kommuniziert wird: Der allgemeine Tenor in den entsprechenden Veröffentlichungen lautet, dass ethisches Verhalten ein strategischer Wettbewerbsfaktor bzw. ein nachhaltiger Erfolgsfaktor ist. Über die Instrumentalisierung von Werteorientierung im Rahmen der wertorientierten Unternehmensführung hinaus sollte allerdings die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmenseigentümer nicht vernachlässigt werden. Werteorientierung und damit integres Handeln nach ethisch-moralischen Prinzipien geht stets von Personen aus. Was für einen Eigentümerunternehmer nach dem ursprünglichen Leitbild des „Ehrbaren Kaufmanns“34 selbstverständlich ist – Übernahme der gesellschaftlichen Verantwortung für sein unternehmerisches Handeln als Eigentümer und Manager in einer Person –, ist für Kapitalgesellschaften mit der Trennung von Eigentum und Kontrolle wesentlich schwieriger umzusetzen. Von daher ist es umso wichtiger, dass die Impulse für eine durch ethisch32

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Für einen Überblick über die Studien siehe Renneboog/Ter Horst/Zhang, Socially Responsible Investments: Methodology, Risk Exposure and Performance (2007); Renneboog/Ter Horst/Zhang, Socially Responsible Investments: Institutional Aspects, Performance, and Investor Behavior (2008); Mercer/AMWG UNEP FI, Demystifying Responsible Investment Performance. A review of key academic and broker research on ESG factors (2007); Mercer, Shedding light on responsible investment: Approaches, returns and impacts (2009). Vgl. Kitzmueller/Shimshack, Economic Perspectives on Corporate Social Responsibility (2010), S. 9 f. Vgl. hierzu ausführlich Klink, Der Ehrbare Kaufmann – Das ursprüngliche Leitbild der Betriebswirtschaftslehre und individuelle Grundlage für die CSR-Forschung (2008).

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moralisches Verhalten legitimierte Unternehmensführung, die nicht ausschließlich der Maximierung des Unternehmenswerts dient, von den Eigentümern ausgehen und über das Corporate Governance-System nach dem Stakeholder-Ansatz in der Unternehmensführung umgesetzt werden. Es liegt in der Verantwortung der Eigentümer, in welchem Ausmaß die Werteorientierung auch wertorientiert sein muss, um die nachhaltige und langfristige Existenz eines Unternehmens sicherzustellen.

Literatur Bassen, A./Jastram, S./Meyer, K.: Corporate Social Responsibility. Eine Begriffserläuterung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu), 6/2 (2005), S. 231–236. Bowen, H.: Social responsibilities of the businessman, New York 1953. Bucksteeg, M./Hattendorf, K.: Führungskräftebefragung 2010, Studie der Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung e. V. in Zusammenarbeit mit der Valoress Strategieberatungsgesellschaft, 2010, URL: http://www.wertekommission.de/content/pdf/kampagne/Fuehrungskraeftebefragung_2010.pdf [14.09.2011]. Donaldson, T./Preston, L. E.: The Stakeholder Theory of the Corporation: Concepts, Evidence, and Implications, in: The Academy of Management Review, 20/1 (1995), S. 65–91. Europäische Kommission: Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen, Grünbuch, Luxemburg 2001. Freeman, R. E.: Strategic Management: A Stakeholder Approach, Boston 1984. Freeman, R. E./Reed, D. L.: Stockholders and Stakeholders. A new Perspective on Corporate Governance, in: California Management Review, 25/3 (1983), S. 88–106. Friedman, M.: The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits, in: The New York Times Magazine vom 13. September 1970, S. 32–33, 122, 124 u. 126. Glaum, M. et al. (Hrsg.): Internationalisierung und Unternehmenserfolg: Wettbewerb, organisatorischer Wandel und Corporate Governance, Sammelband des Arbeitskreises „Unternehmenswachstum und Internationales Management“, Stuttgart 2007. Hackethal, A./Schmidt, R. H.: Finanzsystem und Komplementarität, Working Paper Series: Finance & Accounting, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Nr. 50, Frankfurt a. M. 2000. Jensen M. C.: Value Maximization, Stakeholder Theory, and the Corporate Objective Function, in: Business Ethics Quarterly, 12/2 (2002), S. 235–256. Kaplan, R. S./Norton, D. P.: The Balanced Scorecard, Translating Strategy into Action, Harvard Business School Boston 1996. Kaptein, M.: Effektive Business Codes: Inhalt und Bedingungen, in: Wieland, J./Steinmeyer, R./Grüninger, St. (Hrsg.): Handbuch Compliance-Management. Konzeptionelle Grundlagen, praktische Erfolgsfaktoren, globale Herausforderungen (2010), S. 291–313. Kitzmueller, M./Shimshack, J.: Economic Perspectives on Corporate Social Responsibility, Working Paper 2010, URL: https://greenspace.tulane.edu/jshimsha/kitzmueller_shimshack_march2010.pdf [14.09.2011]. Klages, P.: Zwischen institutioneller Innovation und Reproduktion. Zum Wandel des deutschen Corporate Governance-Systems in den 1990ern, in: Berliner Journal für Soziologie, 16/1 (2006), S. 37–54.

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Claudia B. Wöhle

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Werteorientierung und regionale Verantwortung in der Führung von KMU – eine empirische Analyse in der Region Ingolstadt Harald Pechlaner und Benedict C. Doepfer

1

Persönliches

Bedingt durch die ökonomischen Turbulenzen, die seit der Finanzkrise im Jahr 2008 das weltwirtschaftliche System herausfordern, hat die Thematik der Wertorientierung im Management in der Praxis wie auch in theoretischen Überlegungen an neuer Bedeutung gewonnen. Das Erreichen ökonomischen Erfolgs im Einklang mit der Berücksichtigung der Stakeholderbedürfnisse ist bereits intensiv in der wirtschafts- und unternehmensethischen Diskussion erörtert worden. Diese Überlegungen lassen sich allerdings um eine wertorientierte Analyse von Unternehmern im Kontext individueller Werte gegenüber dem Unternehmenserfolg erweitern. Die Auswirkung des persönlichen Wertekonstrukts des Unternehmers auf den gesellschaftlichen Beitrag der Unternehmung im Rahmen einer regionalen Verantwortung bietet noch kaum erschlossene Untersuchungspotenziale. Dieser Beitrag widmet sich dieser Thematik im Rahmen einer empirischen Untersuchung in Form von elf interviewten Unternehmern der Region Ingolstadt, Deutschland. Mit Hilfe der Methodik GABEK werden die Daten systematisch analysiert und die Kernergebnisse eingebettet in eine Diskussion um die regionale Verantwortung in der Führung von Kleinen und Mittelständischen Unternehmen (KMU) erörtert. Hierbei möchten wir im Besonderen Prof. Dr. Josef Zelger vom Philosophischen Institut der Universität Innsbruck danken, der uns als Schöpfer von GABEK im Rahmen der Studie unterstützt hat. Unser weiterer Dank gilt den Unternehmern, die sich die Zeit genommen haben, uns diese Untersuchung zu ermöglichen

2

Einleitung

Als Konsequenz der Finanzkrise im Jahr 2008 und deren sozio-ökonomischen Folgen wurde vielfach die Stimme nach einer besseren Bilanz von Gewinnorientierung und sozial verantwortlichem Verhalten in der Wirtschaft laut. Ansätze eines sozial verantwortlichen Managements werden im Rahmen wirtschafts- und unternehmensethischer Untersuchungen bereits diskutiert, worin Verhaltensweisen der Unternehmung gegenüber ihren Stakeholdern thematisiert werden. Während hierin bereits die Rolle von Werten und Persönlichkeit eines Unter-

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Harald Pechlaner und Benedict C. Doepfer

nehmers oder Managers gegenüber der Unternehmensstruktur erörtert wurde1, liegen nur wenige empirische Kenntnisse zur Relevanz des individuellen Wertesets des Unternehmers in Bezug auf den Unternehmenserfolg vor. Hammann/Habisch/Pechlaner stellen in einer quantitativen empirischen Studie mit 261 Unternehmern in Deutschland ansässiger KMU eine positive Korrelation zwischen sozial verantwortlichem Verhalten gegenüber den Mitarbeitern, Kunden und Gesellschaft und dem Unternehmenserfolg fest.2 Hieran schließt der vorliegende Beitrag, in dem analysiert wird, wie Wertestrukturen von Unternehmensführern von KMU beschaffen sind und wie sich diese Werte in Form eines gesellschaftlichen Beitrags äußern. Zur Ermittlung persönlicher Wertekonstrukte können quantitative Untersuchungsmethoden aufgrund zu hoher Biaspotenziale durch idealisierte oder gesellschaftlich erwünschte Aussagen ihre Grenze erreichen. Eine Vorgehensweise, die eine implizite Annäherung an die Bestimmung eines profunden Wertegerüsts ermöglicht, erhöht das Potenzial, dezidierte Werte von Unternehmern gegenüber Unternehmenshandlungen zu determinieren. Um dem nachzukommen, wurde als Untersuchungsraum die Region Ingolstadt bestimmt, die sich durch eine hohe Dominanz der Mobilitätswirtschaft charakterisieren lässt3 und sich durch eine hohe wirtschaftliche Wachstumsdynamik als Teil der Europäischen Metropolregion München (EMM) auszeichnet.4 Diese politisch und wirtschaftlich erwünschte Dynamik der Region als Anzeichen der Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen Wirtschaft5 geht mit einem intensiven Leistungs- und Innovationsdruck für die regionalen wissensintensiven Unternehmen einher und schafft somit ein übergeordnetes Charakteristikum der ansässigen Unternehmen. Elf Unternehmer wurden identifiziert und zu ihren Werten befragt, wobei die regionale Einbettung eine spezielle Beachtung findet. Die hieraus entstandenen Interviewergebnisse wurden mit der Methode GABEK und der zugehörigen Software WinRelan analysiert und im Rahmen dieses Beitrags in Bezug auf die Relevanz einer Werteorientierung und regionaler Verantwortung in der Unternehmensführung von KMU diskutiert.

3

Werteorientierung und regionale Verantwortung

3.1

Werteorientierte Unternehmensführung

Der Ansatz des „Value-based Managements“ wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion bislang ambivalent thematisiert. Die dominante Perspektive nehmen hierbei die Vertreter einer quantitativen kennzahlenbasierten Unternehmenssteuerung ein und diskutieren strategische Ansätze zur Wertsteigerung des Unternehmens und dessen Implikationen für

1 2 3 4 5

Vgl. Longenecker/McKinney/Moore, Ethics in small business (1989). Vgl. Hamman/Habisch/Pechlaner, Values that create value: socially responsible business practices in SMEs – empirical evidence from German companies (2009). Vgl. Thierstein/Bentlage/Pechlaner/Doepfer/Brandt/Drangmeister/Schrödl/Voßen/Floeting/Buser, Wertschöpfungskompetenz der Region Ingolstadt (2011), S. 51 sowie S. 54 ff. Vgl. Europäische Metropolregion München, Wirkungsanalyse zur Bedeutung der Wissenschaftseinrichtungen der Europäischen Metropolregion München (2010), S. 25. Vgl. Asheim/Coenen, Knowledge bases and regional innovation systems: Comparing Nordic clusters (2005), S. 1174.

Werteorientierung und regionale Verantwortung in der Führung von KMUs

103

das Management.6 Im Kern steht hierbei demzufolge die Shareholder Value Perspektive, die bedingt durch Wirtschaftsskandale wie Enron oder Parmalat und weiterer im Zuge von Blasenbildung entstandener Turbulenzen auf dem Finanzmarkt in die Kritik geraten ist. Demzufolge wurden Stimmen in der wissenschaftlichen Diskussion wie auch in der Praxis laut, Unternehmen im Kontext einer ethischen Wertediskussion zu beleuchten und sich von der „wert-orientierten“ Unternehmensführung in Richtung einer „werte-orientierten“ Unternehmensführung zu orientieren, die auf ethischen Werten und Normen aufbaut.7 In der Diskussion zur Charakterisierung einer werteorientierten Unternehmensführung stehen die Konzepte Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship im Kern der Debatte. Hierbei werden strategische Ansätze der Unternehmensführung im Kontext von gesellschaftlicher Verantwortung des Unternehmens gegenüber den Interessensgruppen und der Umwelt ausgeführt.8 Der Verantwortungsbegriff bildet demzufolge den Kernanknüpfungspunkt in der Erörterung einer werteorientierten Unternehmensführung, schlägt allerdings aufgrund der inhaltlichen Vielfalt an Handlungsbezügen einen sehr komplexen und weitgespannten Untersuchungsraum auf.9 Verantwortung „bezieht sich auf das menschliche Verhalten in sämtlichen Lebensbereichen“10, welches auf der Grundlage einer Interpretation menschlichen Handelns in den Kontext eines Ursache-Wirkungs-Prinzips zu setzen ist.11 Verantwortung und deren Zuweisung ist demzufolge in Abhängigkeit von Interaktion und Ergebnis sozialer Prozesse zu verstehen. So wird deutlich, dass die Handlungen eines Unternehmens und deren Ursprung den Kernansatzpunkt für die Diskussion einer werteorientierten Unternehmensführung darstellen. Die Ausführungen im Bereich der Unternehmensethik unterstreichen daher die tiefe Verwurzelung einer Werteorientierung in der strategischen Unternehmensausrichtung, auf deren Grundlage Entscheidungen getroffen und unternehmerische Gelegenheiten wahrgenommen werden.12 Unter einer werteorientierten Unternehmensführung ist demnach die Sicherstellung der Integration verantwortlichen Handelns in die unternehmerische Vision13 und damit

6

7

8

9

10 11 12

13

Vgl. Coenenberg/Salfeld, Wertorientierte Unternehmensführung. (2003); Becker, Wertorientierte Unternehmensführung (2000); Brandenburger/Stuart, Value-based Strategy (1996); Ashworth/Paul, Value-Based Management (2001). Vgl. Hemel, Wert und Werte: Ethik für Manager – Ein Leifaden für die Praxis (2005); Böhnisch/Reber/Leichtfried/Hechenberger, Werteorientierte Unternehmensführung in Theorie und Praxis (2006); Böhnisch/Reber/ Hechenberger, Werteorientierte Unternehmensführung in Theorie und Praxis (2007); Auinger/Böhnisch/Stummer, Unternehmensführung durch Werte: Konzepte – Methoden – Anwendungen (2005). Vgl. Spence/Habisch/Schmidtpeter, Responsibility and Social Capital: The World of Small and Medium Sized Enterprises (2004); Jonker/De Witte, The Challenge of Organizing and Implementing Corporate Social Responsibility (2006). Vgl. Koschut, Strukturen der Verantwortung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorien über den Begriff der Verantwortung unter besonderer Berücksichtigung des Spannungsfeldes zwischen der ethischpersonalen und der kollektiv-sozialen Dimension menschlichen Handelns (1989), S. 167. Bronner, Verantwortung, in: Frese, Handwörterbuch der Organisation (1992), Sp. 2503. Vgl. Lenk/Maring, Verantwortung – Normatives Interpretationskonstrukt und empirische Beschreibung, in: Eckensberger/Gähde, Ethische Norm und empirische Hypothese (1993), S. 224. Vgl. Robinson/Davidsson/Mescht/Court, How Enterprises Deal with Ethical Challenges – An Application of the Business Ethics Synergy Star Technique (2007), S. 417; Pechlaner/Doepfer, Ethical Entrepreneurship. Wahrnehmung von unternehmerischen Gelegenheiten zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft (2010), S. 111 ff. Vgl. Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung, Bd. 1 (2011), S. 83 ff.

104

Harald Pechlaner und Benedict C. Doepfer

in alle Facetten des Unternehmens zu verstehen, sodass die Handlungen des Unternehmens zu einem nachhaltigen Beitrag für die Gesellschaft führen.14 Eine solche Verankerung eines ethischen Wertesets in die Unternehmensführung wurde von Kritikern als Missverständnis der Unternehmensverantwortung angesehen15 und wurde demzufolge intensivst debattiert.16 Auf der Grundlage empirischer Studien lässt sich allerdings feststellen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen sozial verantwortlichem Verhalten gegenüber den Mitarbeitern, den Kunden, der Gesellschaft und dem Unternehmenswert, gemessen in Form von Effizienz- oder Effektivitätssteigerung,17 festzustellen ist.18 Es bedarf allerdings einer weiteren Analyse, welche Werte von Unternehmensführern von KMU sich in Form eines gesellschaftlichen Beitrags äußern und somit zu einem individuellen und gesellschaftlichen Nutzen beitragen.

3.2

Regionale Unternehmensverantwortung

Die vorangegangene Ausführung zur werteorientierten Unternehmensführung verdeutlicht, dass die Verantwortung von Unternehmen gegenüber ihrem sozialen Umfeld an die Zielsetzung der Realisierung eines nachhaltigen Beitrags für die Gesellschaft gebunden ist. Die Diskussion um Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship wird vornehmlich im Kontext internationaler, öffentlich gelisteter Unternehmen und Konzerne geführt, was durch die Veröffentlichung von Nachhaltigkeitsberichten kontinuierlich angeregt wird und sich somit im Rahmen globaler Fragestellungen zur Unternehmensverantwortung widerspiegelt.19 Für eine Diskussion der Verantwortung von Unternehmen gegenüber spezifischen regionalen Bezugsräumen lassen sich bisherige Untersuchungen zur Verantwortung von KMU heranziehen, die häufig als eigentümergeführte Unternehmen einen höheren regional verwurzelten Standortbezug aufweisen. So verdeutlichen empirische Studien, dass KMU im Verhältnis zu ihren finanziellen Möglichkeiten höhere Ausgaben im Rahmen von Corporate CitizenshipAktivitäten vorweisen können als Konzerne.20 Die Handlungsfelder regionaler Unternehmensverantwortung konzentrieren sich demnach auf Sponsoring, Infrastruktur für Kinder, Bildung, Soziales, Kultur, Gesundheit und betriebliche Freiwilligenarbeit.21 Die strategischen 14 15 16 17 18

19 20 21

Vgl. Wempe, Ethical Entrepreneurship and Fair Trade (2005), S. 218. Vgl. Friedman, The Social Responsibility of Business ist o Increase its Profits (1970). Vgl. Suchanek, Gewinnmaximierung als soziale Verantwortung von Unternehmen? Milton Friedman und die Unternehmensethik (2004). Vgl. Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung, Bd. 1 (2011), S. 69. Vgl. Hammann/Habisch/Pechlaner, Values that create value: socially responsible business practices in SMEs – empirical evidence from German companies (2009); vgl. auch Berman/Wicks/Kotha/Jones, Does stakeholder orientation matter? The relationship between stakeholder management models and firm financial performance (1999); Harrison/Freeman, Stakeholders, social responsibility and performance: empirical evidence and theoretical perspectives (1999). Vgl. Seidel, Internationale Unternehmen, Gesellschaft und Verantwortung. Eine Kritik der Managementwissenschaften als Bezugsrahmen 2011. Vgl. Maaß, Corporate Citizenship and SMEs in Germany: A New Institutional Economics Perspective (2004), S. 113. Vgl. Maaß, Corporate Citizenship and SMEs in Germany: A New Institutional Economics Perspective (2004), S. 115 ff.; hierzu auch Habisch, Corporate Citizenship: Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen in Deutschland (2003), S. 97 ff.

Werteorientierung und regionale Verantwortung in der Führung von KMUs

105

Hintergründe solchen Engagements sind multipel22, lassen sich allerdings im Kern auf die Aspekte ethische Überzeugung, Imagegewinn, Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit, Erhöhung der Verkaufszahlen und persönliche Interessen zusammenfassen.23 Der weitere Verlauf dieses Beitrags widmet sich einer empirischen Betrachtung der wertebasierten Motivation von Unternehmern, einen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu wollen. Diese Analyse wird der These unterstellt, dass die Intensität an regionaler Unternehmensverantwortung von der Bindungsintensität an den regionalen Märkten abhängt. Dies wird exemplarisch durch Abbildung 1 verdeutlicht, worin die fett gedruckte durchgängige Linie ein Abbild an regionaler Verantwortungsintensität eines Unternehmens im Kontext des Absatz-, Kapital-, und Arbeitsmarktes darstellt. Demnach hat ein Unternehmen eine hohe Verantwortung gegenüber der Region, wenn es auf den regionalen Arbeitsmarkt angewiesen ist. Der Absatzmarkt zeigt ebenfalls intensive regionale Bezüge, während der Kapitalmarkt nur unmittelbar das Ausmaß an regionaler Unternehmensverantwortung beeinflusst. Absatzmarkt

Kapitalmarkt

Arbeitsmarkt Abbildung 1:

22 23 24

Analyseraster zur regionalen Verantwortungsintensität von KMU

24

Vgl. Spence/Rutherfoord, Soziale Verantwortung, Gewinnmaximierung und Inhaber-Manager einer Kleinunternehmung (2002), S. 29. Vgl. Maaß, Corporate Citizenship and SMEs in Germany: A New Institutional Economics Perspective (2004), S. 119. Abbildung: Eigene Darstellung.

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4

Empirische Analyse

4.1

Datenerhebung

Zur empirischen Untersuchung eines Werteverständnisses von Unternehmern in Bezug auf die Ermittlung einer regionalen Verantwortung in der Führung von KMU wurde die Region Ingolstadt als Untersuchungsraum bestimmt. Diese zeichnet sich, wie anfangs erwähnt, durch eine hohe ökonomische Prosperität aus und ist bedingt durch den Automobilhersteller Audi und zahlreiche Unternehmen im Sektor der Mobilitätswirtschaft als technologieorientierter Wirtschaftsraum zu charakterisieren.25 Aus einer Datenbank der regional ansässigen Unternehmen konnten über die Selektionskriterien: „Anzahl an Mitarbeitern zwischen 50 bis 500“ und „Zuordnung zu wissensintensiven Branchen“, 179 KMU identifiziert werden.26 Aufgrund dieser Selektionskriterien zeichnen sich die identifizierten Unternehmen als forschungsbasierte innovationsorientierte Unternehmen mit einem hohen Anteil an hochqualifizierten Beschäftigten aus.27 Hiervon wurden per Zufallsauswahl elf Unternehmen für die Analyse herangezogen.

4.2

Untersuchungsmethodik

In vorangegangenen Studien zur Ermittlung von Werten wurde die Methode GABEK identifiziert28, durch deren Anwendung eine systematische Metaanalyse von qualitativen Interviewdaten durchgeführt werden kann und somit ein Gesamtbild der Meinungen der Interviewpartner zu ermitteln ist.29 GABEK ermöglicht damit als qualitative regelbasierte Methode eine transparente und systematische Analyse von impliziten Strukturen zur Interpretation von Werten. Die Datenanalyse erfolgt auf der Grundlage eines Datennetzwerks, welches gleichermaßen Syntax und Semantik berücksichtigt und somit eine systematische Wissensorganisation ermöglicht.30 Auf operationaler Ebene werden Interviews basierend auf wenigen Leitfragen durchgeführt, mit der Zielsetzung, ein offenes Gespräch zu führen. Die hieraus erhaltenen Daten werden auf der Grundlage der Interviewtranskripte in Sinneinheiten mit jeweils drei bis neun lexikalischen Elementen strukturiert.31 Aus den hieraus entstehenden Verbindungen zwischen Assoziationen innerhalb aller Sinneinheiten des Datenmaterials 25

26 27 28

29 30 31

Vgl. Europäische Metropolregion München, Wirkungsanalyse zur Bedeutung der Wissenschaftseinrichtungen der Europäischen Metropolregion München (2010); Thierstein/Bentlage/Pechlaner/Doepfer/Brandt/Drangmeister/Schrödl/Voßen/Floeting/Buser, Wertschöpfungskompetenz der Region Ingolstadt (2011). Anmerkung: Die vorliegende Datenbank beruht auf Informationen der Industrie- und Handelskammer München Oberbayern von 2009 und wurde durch Daten der D&B Datenbank und persönliche Recherchen ergänzt. Für eine Definition und Abgrenzung des wissensintensiven Sektors vgl. Legler/Frietsch, Neuabgrenzung der Wissenswirtschaft – Forschungsintensive Industrien und wissensintensive Dienstleistungen (2006), S. 5 ff. Vgl. De Wet/Pothas/De Wet, Country of Origin: Does it matter? (2001); Pothas/De Wet/De Wet, Customer satisfaction: Keeping tabs on the issue that matter (2001); Raich, Basic values and objectives regarding money. Implications for the management of customer relationships (2008). Vgl. Zelger, Serielle und Parallele Wissensverarbeitung. Die Simulation von Gesprächen durch GABEK (2000), S. 32. Vgl. Zelger, Wissensorganisation durch sprachliche Gestaltenbildung im qualitativen Verfahren GABEK (1999), S. 51. Vgl. Zelger/Oberprantacher, Processing of verbal data and knowledge representation by GABEK-WinRelan (2002).

Werteorientierung und regionale Verantwortung in der Führung von KMUs

107

resultiert ein Assoziationsnetzwerk.32 Hierbei werden alle Verbindungen deutlich, die in ähnlichem Kontext durch die Interviewpartner benannt wurden. Im Kern der durch die Systematik ermöglichten Analyse stehen Begriffskonstellationen, die in starken zirkulären bzw. aneinandergeknüpften Beziehungen stehen. Diese grafischen Darstellungen liefern eine Grundlage für die Interpretation und Diskussion der gewonnenen Interviewdaten.

4.3

Ergebnis

Ein Kerninteresse der Untersuchung ist in der Fragestellung zu sehen, welches Werteset Unternehmer gegenüber ihrem regionalen Umfeld vorweisen können. Die Methodik GABEK ermöglicht die Analyse des gesammelten Datenmaterials in Hinblick einer Darstellung der assoziierten Kernbegriffe. Abbildung 2 zeigt mittels Assoziationsnetzwerk, dass die Unternehmer ihre Verantwortung gegenüber der Region an zwei Anknüpfungspunkten fixieren. Zum einen steht das Produkt des Unternehmens im Fokus, zum anderen sind es die Menschen, die mit der Leistungserstellung in Verbindung stehen. Hierin sind die Mitarbeiter und auch die Stakeholder einzugliedern, die aufgrund ihrer lokalen Verwurzelung eine hohe Bindung zur Region aufweisen. „Als Arbeitgeber obliegt es meiner Verantwortung, mich um die Menschen aus dieser Region zu kümmern, indem ich für Arbeitsplätze sorge und ihnen die Möglichkeit biete, sich um ihre Familien kümmern zu können. Also, zu einem gewissen Grad bin ich damit auch verantwortlich, dass es der Region gut geht.“33 Region +0 -0 o3

Zufriedenheit +1 -0 o4

Mitarbeiter +1 -0 o8

Standort

Unternehmen +1 -0 o1

Entwicklung +0 -0 o3 Mensch +0 -0 o2

Produkt +0 -0 o2 Anzahl der Konnotationen: Verantwortung +0 -0 o2

positiv negativ neutral

Abbildung 2: 32 33 34

34

Assoziationsnetzwerk der Unternehmer zu Verantwortung

Vgl. Raich, Basic values and objectives regarding money. Implications for the management of customer relationships (2008), S. 28. Zitat eines interviewten Unternehmers. Abbildung: Eigene Darstellung.

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Ein elementarer Aspekt dieses zirkulären Netzwerks an Assoziationen ist die durch das Wort „Entwicklung“ verursachte Dynamik, welche mit der Entstehung neuer wirtschaftlicher Gelegenheiten durch markt- und technologiebedingte Neuproduktentwicklungsprozesse einher geht. Ebenfalls entstehen hierdurch Herausforderungen für die Mitarbeiter, die dem einhergehenden Anstieg an notwendigem Spezialwissen gerecht werden müssen. Der Bedarf an hochqualifizierten Mitarbeitern in einem dynamischen Wettbewerbsumfeld bedingt die vielfältigen reziproken Assoziationsbeziehungen der Netzwerkgrafik. „Ein erfolgreiches Unternehmen beruht auf seinen Mitarbeitern. Als Unternehmer wird man nur erfolgreich sein, wenn die Mitarbeiter qualifiziert und motiviert sind.“35 Diese Einzelaussage wird ebenfalls durch die Dreiecksbeziehung der aggregierten Assoziationen Mitarbeiter-ZufriedenheitProdukt deutlich. Um hochqualifizierte Mitarbeiter für das Unternehmen zu gewinnen, sind sich die Unternehmer des Umstandes bewusst, dass sie für ein umfangreiches Angebot an sozialen Komponenten in Form von privaten und öffentlichen Leistungen in ihrem regionalen Umfeld Sorge tragen müssen. Um demzufolge der Verantwortung gegenüber dem Produkt des Unternehmens und den Menschen im Kontakt mit dem Unternehmen nachzukommen, stehen Unternehmer in der Pflicht, sich in regionale Entwicklungsprozesse zu involvieren. Demnach stellt das Engagement zur Bedarfsdeckung aktueller aber auch potenzieller Mitarbeiter eine nachhaltige Investition in die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens in dynamischen Marktstrukturen dar.

Aufträge

Leistungsspektrum

Qualität Fleiß Kooperation

Vertrauen

Bescheidenheit Ethik Termintreue

Werte Moral

Erfolg

Kundenorientierung

Kundenzufriedenheit

Egoismus

Pioniergeist

Solidarität

Feedback

Pflichtbewußtsein Zukunftsorientierung

Umweltorientierung Direkter kausaler Effekt Gegenseitiger kausaler Effekt Inverser kausaler Effekt

36

Abbildung 3: Kausalnetz der Unternehmer zu Werten

35 36

Zitat eines interviewten Unternehmers. Quelle: Eigene Darstellung.

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Aufgrund der hohen Komplexität, die aus einem dynamischen Wettbewerbsumfeld resultiert, wächst das Interesse, notwendige Bindeglieder zu identifizieren, welche die Themen Produktentwicklung und Innovation mit Verantwortung und Interessensgruppenkoordination verknüpfen. Die Datenanalyse lässt erkennen, dass der Vertrauensaspekt eine solche Brücke schlagen kann. So sind sich die Unternehmer bewusst, dass ihr Pioniergeist nur zu erfolgreichen Innovationen führen kann, wenn eine solide Wertorientierung hiermit einhergeht. Der Vertrauensaspekt verkörpert das Kernelement des Wertegerüsts des Unternehmers, da er als Transmitter fungiert, um erfolgreich in zwischenbetrieblichen Kooperationen und mit der öffentlichen Hand zusammen zu arbeiten. Abbildung 3 verdeutlicht diesen Zusammenhang in Form eines Kausalnetzes. Im Gegensatz zum Egoismus, der als Gegenposition zu Werten genannt wird, werden Moral und ethisches Verhalten als Erfolgsfaktoren angesehen, welche in Verbindung mit Vertrauen ertragreiche Kooperationen hervorrufen können.

5

Diskussion und Fazit

Dieser Beitrag verfolgt die Fragestellung, welche Werte von Unternehmensführern von KMU zu einer hohen Intensität an regionaler Verantwortung führen. Auf der Grundlage der vorgestellten Untersuchungsergebnisse lässt sich formulieren, dass Unternehmer ihre Verantwortung gegenüber ihrem Unternehmen im Kern an die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter knüpfen und somit durch deren regionale Einbettung auch eine hohe Verantwortung gegenüber der Region aufweisen. Der regionale Arbeitsmarkt stellt demzufolge für KMU den Kernanknüpfungspunkt zu regional verantwortlichem Handeln in Form von sozialen Beiträgen zur positiven Entwicklung des Standorts dar. Diese Erkenntnis bestätigt die in Abschnitt 3.2 formulierte These zur regionalen Verantwortungsintensität von KMU. Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass computerunterstützte Analysen von qualitativen Daten die Transparenz und Nachvollziehbarkeit in deren Interpretation erhöhen.37 Dennoch obliegt die Dateninterpretation individueller Auffassung und ist an die Qualität der Interviewführung gebunden. Die Studienergebnisse lassen sich demzufolge und in der Einschränkung auf elf Interviewpartner in der Region Ingolstadt relativieren. Eine vergleichende Studie in einer weiteren Region mit einer anderen Analysemethodik kann zu einer Erweiterung der Erkenntnisse beitragen. Als Fazit zur vorliegenden Untersuchung ist festzuhalten, dass Innovationsdruck und globaler Wettbewerb, unter dem KMU wissensintensiver Branchen stehen, zu einem Werteverständnis in der Unternehmensführung beigetragen haben, welches sich in einer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern und dadurch implizit gegenüber der Attraktivität der Region ausdrückt. Zur Erzielung von Mitarbeiterzufriedenheit und zur Anwerbung hochqualifizierter Mitarbeiter als Schlüssel der zukünftigen Leistungsfähigkeit des Unternehmens bedarf es einer sozialen Wertebasis in der Unternehmensführung, deren Handlungsrahmen über die Grenzen der Unternehmung in die Region des Unternehmensstandortes hineinreichen.

37

Fielding, Automating the Ineffable: Qualitative Software and the Meaning of Qualitative Research (2002), S. 162.

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111

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Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer

1

Einleitung Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter, der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen. Albert Schweitzer

In den vergangenen Jahrzehnten war das Thema Ökologie in den strategischen Überlegungen vieler Unternehmensführungen gar nicht oder nur kaum vorhanden. Durch die stetig zunehmende mediale Diskussion rund um das Thema Klimawandel und Energieeffizienz in den letzten Jahren waren und sind viele Unternehmen mittlerweile dazu aufgefordert, neue Wege in Umweltfragen zu gehen. Welche aber sind das? Gibt es innovative und erfolgversprechende Modelle, welche die Voraussetzungen erfüllen auch in der Praxis umsetzbar zu sein? Um die Frage vorweg zu beantworten: Ja, es gibt sie! In diesem Artikel werden BestPractice-Beispiele von ökologisch-ethisch handelnden Unternehmen näher erläutert, und es werden daraus Handlungsanregungen abgeleitet, welche es jedem Unternehmen ermöglichen soll, die eigene strategische Ausrichtung in Bezug auf Ökologie zu verbessern.

2

Empirische Evidenz

Wie die Einstellung der Bürger der Europäischen Union in Bezug auf ökologische Problemstellungen aussieht, wurde von der Europäischen Kommission im Jahre 2008 in Form einer Umfrage ermittelt. Die Ergebnisse sind durchaus interessant und legen die Erkenntnis nahe, dass sich sehr viele Menschen in der Europäischen Union bereits intensiver mit dem Thema Ökologie beschäftigt haben. Auf die Frage, ob sich Umweltprobleme unmittelbar auf das tägliche Leben auswirken, konnte folgendes Resultat ermittelt werden:

114

Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer 3% 3%

Stimme voll und ganz zu

16% 37%

Stimme eher zu Stimme eher nicht zu Stimme überhaupt nicht zu

41%

Abbildung 1:

Weiß nicht/keine Angabe

Unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der EU-Bürger/innen

1

Wie oben stehende Abbildung zeigt, empfinden 78 % der Bevölkerung der Europäischen Union, dass sich Umweltprobleme bereits direkt auf ihr persönliches Leben auswirken. Im nächsten Schritt wurde dann die Frage gestellt, wer für den Umweltschutz verantwortlich gemacht werden sollte. Wie man in nachfolgender Graphik (Abbildung 2) sehen kann, stimmen 90 % der Befragten zu, dass für den Umweltschutz hauptsächlich die großen Verschmutzer (Unternehmen und Industrie) verantwortlich gemacht werden sollten.

Abbildung 2:

Wer ist für Umweltschutz verantwortlich?

2

Auf die Frage, ob die Wirtschaft/Industrie zu wenig unternimmt, um dem Problem des Klimawandels Herr zu werden, gab es auch sehr eindeutige Antworten. Die Ergebnisse können der nachfolgenden Abbildung 3 entnommen werden. All diese Zahlen führen dazu, dass die Unternehmen aufgefordert sind, etwas gegen die zunehmende Umweltverschmutzung zu unternehmen. 1 2

Europäische Kommission, Spezial Eurobarometer 295 – Einstellungen der Europäischen Bürger zur Umwelt, European Opinion Research Group (2008), S. 14. Europäische Kommission, Spezial Eurobarometer 295 – Einstellungen der Europäischen Bürger zur Umwelt, European Opinion Research Group (2008), S. 17.

Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen

115

80,00% 59,60% 60,00% 40,00%

6,20%

1,60%

2,80%

0,90%

keine Angabe

20,00%

weiß nicht

28,90%

Abbildung 3:

stimme überhaupt nicht zu

stimme eher nicht zu

stimme eher zu

stimme zu

0,00%

Unternimmt die Wirtschaft/Industrie zu wenig?

3

Best-Practice-Beispiele

3.1

Beispiel 1: Desso-Group

3

Umweltschutz bei Desso Ein Unternehmen, welches sich der Ökologie verpflichtet fühlt, ist der niederländische Teppichbodenhersteller Desso. Vor einigen Jahren implementierte das Unternehmen das „Cradleto-Cradle®“-Konzept (C2C), welches von Michael Braungart und William McDonough entwickelte wurde. „Cradle-to-Cradle®“ bedeutet übersetzt „von der Wiege in die Wiege“ und steht im Gegensatz zu der Denkweise „Cradle-to-Grave“ (C2G), was soviel bedeutet wie „von der Wiege ins Grab“. Das C2C-Konzept versucht die endgültige Vernichtung von wertvollen Ressourcen zu vermeiden. Alle Ressourcen, welche für den Produktionsprozess oder das Endprodukt verwendet werden, sollen nach deren Verwendung wieder einem Kreislauf zugeführt werden. C2C unterscheidet den biologischen Kreislauf, welcher biologisch abbaubare Ressourcen wieder aufnimmt, und den technischen Kreislauf, welcher nicht ökologisch abbaubare Ressourcen wieder aufnehmen soll. Durch gezieltes Abstimmen der Kreisläufe ist es möglich, dass ein Unternehmen so gut wie keine Abfälle mehr produziert. Als Vorbild für dieses Konzept bedienten sich Michael Braungart und William McDonough der Natur. Man könnte das C2C-Konzept auch als Weiterentwicklung des Recyclingkonzepts ansehen, also wenn man so will Recycling 2.0.4 Um diese Kreisläufe wirksam schließen zu können, muss allerdings der Kunde mit ins Boot geholt werden, da man bei diesem Konzept darauf angewiesen ist, dass der Kunde die nicht mehr verwendeten Produkte zurück zum Hersteller bringt. Um diesem Problem Herr zu werden, entwickelt Desso momentan ein effizientes Rücknahmesystem, welches dem Kunden Anreize bietet, die nicht mehr benötigte Ware an den Hersteller zu retournieren. Dass dieses Konzept erfolgversprechend ist, zeigt die Tatsache, dass Desso trotz einer Zunahme der Pro-

3 4

Eigene Darstellung, Daten entnommen aus Stickler/Prutsch/Balas, Klimawandelanpassung in Österreich (2010), o. S. Vgl. Braungart/McDonough, Einfach intelligent produzieren – Cradle to Cradle: Die Natur zeigt, wie wir die Dinge besser machen können (2010), S. 123 ff.

116

Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer

duktionsmenge in den letzten Jahren seinen Energiebedarf senken konnte.5 Um Braungarts und McDonoughs Konzept optimal nutzen zu können, müssen folgende drei Prinzipien zwingend beachtet werden:6 1. Abfall ist gleich Nahrung 2. Verwendung von Solarenergie 3. Vielfalt zelebrieren und fördern. Um alle nötigen Maßnahmen langfristig umsetzen zu können, benötigt man ein klares Commitment der Geschäftsleitung zum C2C-Konzept. Bei Desso erfolgt die Implementierung in zwei Phasen. Die erste Phase lief von 2008 bis 2010 und die zweite Phase läuft seit 2010 bis 2020. Der ganze Implementierungsprozess dauert – im Falle von Desso – also 12 Jahre. Der CEO der Desso Group, Stef Kranendijk, formuliert die Herausforderungen, der sich die Desso Group stellt, folgendermaßen: 7 „Mit Cradle to Cradle® hat sich Desso für ein langfristiges Konzept entschieden. Damit stehen wir vor einer großen Herausforderung, die uns zur Herstellung völlig neuer Produkte und Technologien zwingt. Das ist aber eine Aufgabe, die wir voller Stolz in Angriff nehmen – im Interesse unserer Produkte und unserer Marke und zum Wohl der Menschen und unseres Planeten.“ Was kann man von Desso lernen? Desso ist ein Unternehmen, das vor einiger Zeit erkannt hat, dass es in Bezug auf Umweltfragen etwas unternehmen muss. Gerade produzierende Unternehmen können mit kleinen Änderungen der Produktionsprozesse meist sehr viel bewirken. Wirklich bewundernswert ist allerdings die Entschlossenheit, mit der die Desso Group bei der Implementierung des „Cradle to Cradle®“-Konzepts vorgeht. Eine 12-jährige Implementierungsphase bedarf eines hohen Commitments zum Umweltschutz seitens der Geschäftsführung und in weiterer Folge auch der ganzen Belegschaft.

3.2

Beispiel 2: Urimat AG

Umweltschutz bei der Urimat AG Ökologisches Bewusstsein kann sich nicht nur auf das Image eines Unternehmens äußerst positiv auswirken, nein, es kann auch neue Geschäftszweige eröffnen. Dies beweist die Urimat AG. Der Diplom-Ingenieur Hans Keller hat 1997 ein Urinal entwickelt, welches kein Wasser mehr benötigt, um zu spülen. Ein Sensor am Urinal meldet, wenn jemand vor der Toilette steht, dann wird ein Elektromagnet aktiviert, der den Verschluss des Abflusses öffnet. Es wird keinerlei Wasser benötigt. Dieses Produkt der Urimat AG hat enormes Potenzial in Bezug auf die Verringerung des Wasserverbrauchs. Das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH spricht von 50.000 Litern Wasser, das jedes ersetzte Urinal im gewerblichen Betrieb pro Jahr einspart. Diese hohe Wasserersparnis bedeutet wiederum eine 5 6 7

Vgl. http://www.desso.com/Desso/home/EN/EN-Cradle_to_Cradle/ EN-Cradle_to_CradleCradle_to_Cradleampltsupam pgtampltsupampgt.html. Vgl. http://epea-hamburg.org/index.php. Vgl. http://www.desso.com/Desso/home/DE/DE-Cradle_to_Cradle/ Erklrung_DESSOampltsupampgtampltsupampgt_CEO.html.

Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen

117

hohe Energieersparnis, die für die Aufbereitung und den Transport des Wassers benötigt worden wäre. Die Urimat AG spricht auf ihrer Website sogar von ca. 100.000 Litern Wasserersparnis pro Urinal pro Jahr.8 Neben dem positiven ökologischen Effekt hat das wasserlose Urinal auch positive ökonomische Effekte für die Kunden dieses Unternehmens. Je nach Benutzerfrequenz können die Kunden durch enorme Wasserersparnis auch viel Geld sparen. Dieses Produkt ist wohl noch nicht für private Haushalte geeignet, sondern eher für den gewerblichen Gebrauch. Je höher die Benutzerfrequenz, desto weniger Kosten bedeutet das für das Unternehmen. Diese Tatsache spricht auch für die Exportfähigkeit dieser innovativen Technik. Wenn man der Website der Urimat AG Glauben schenken darf, werden schon jetzt mehr als 8 Milliarden Liter Trinkwasser pro Jahr durch das Urimat-System eingespart. Diese Zahl, so unglaublich sie auch erscheinen mag, wird allerdings durchaus tauglich, wenn man sich die Referenzkunden der Urimat AG ansieht. Ein exemplarischer Auszug: Deutsche Bahn AG, Daimler Chrysler AG, Swiss International Airlines, Flughafen Düsseldorf, Fußballstadion Genf, Universität Innsbruck, Rosenberger Raststationen etc. Man sieht, es handelt sich bei diesen Referenzkunden um Organisationen mit meist großen Vertriebsnetzen, wodurch sich auch hohe Wasserersparnis-Potenziale ergeben. Was kann man von der Urimat AG lernen? Die Urimat AG hat früh erkannt, dass positive ökologische Effekte auch positive ökonomische Effekte nach sich ziehen können. Durch die Entwicklung des wasserlosen Urinals wurde eine Win-Win-Situation zwischen ökologischen und ökonomischen Zielsetzungen geschaffen. Man kann von der Urimat AG lernen, solche Win-Win-Situationen gezielt zu suchen.

3.3

Beispiel 3: Patagonia

Das Unternehmen Patagonia mit Sitz in Ventura/Kalifornien ist ein Hersteller von OutdoorBekleidung. Patagonia existiert mittlerweile seit mehr als 40 Jahren. Der Gründer von Patagonia, Yvon Chouinard, sagte schon damals folgenden Satz: „Patagonia existiert, um die herkömmliche Meinung herauszufordern und den neuen Stil eines verantwortungsbewussten Unternehmens zu präsentieren.“9 Dieses Zitat beinhaltet alles, was der Firma bis heute zu ihrem großen Erfolg verholfen hat. Patagonia will beweisen, dass auch ohne Umweltausbeutung hohe Gewinne erzielt werden können. Patagonia macht vieles anders als vergleichbare Unternehmen. Die Vision von Patagonia lässt sich durch folgendes Zitat am besten beschreiben: „Stelle das beste Produkt her, belaste dabei die Umwelt so wenig als möglich, inspiriere andere Firmen, diesem Beispiel zu folgen und versuche, Lösungen zur aktuellen Umweltkrise zu finden.“10

8 9 10

Vgl. http://urimat.de/cms/cms/front_content.php?idcat=88; http://www.wupperinst.org/uploads/tx_wibeitrag/EcoInno_Urinals_de.pdf. Vgl. http://www.focus.de/finanzen/karriere/management/tid-16063/patagonia-gruender-chouinard-die-firmaist-ein-experiment_aid_450631.html. Vgl. http://www.patagonia.com/eu/deDE/home.

118

Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer

Das Unternehmen ist nicht in erster Linie um wirtschaftliches Wachstum bemüht, sondern vor allem darum, einen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten. Yvon Chouinard ist überzeugt, dass die Gewinne dann von selbst kommen. Die Zahlen geben ihm auch das Recht dazu, denn Patagonia hat mittlerweile über 1.400 Mitarbeiter in 29 Ländern und setzte 2008 rund US $ 315 Mio. um. Umweltschutz bei Patagonia •





• •

Gebäude: Die Firmengebäude von Patagonia sind mittlerweile alle nahezu Selbstversorger in Bezug auf ihre Versorgung mit elektrischem Strom. In Kalifornien beispielsweise wurde 2005 auf dem einstigen Firmenparkplatz in Ventura eine eigene Stromerzeugungsanlage errichtet. Sie bezieht ihren Strom aus Solarenergie, welche eine unerschöpfliche Ressource darstellt. Diese Stromerzeugungsanlage produziert momentan 12 % des gesamten Energiebedarfs von Patagonia. Aber auch Einrichtungsgegenstände wie Teppichböden bestehen bei Patagonia zu 100 % aus Recycling-Polyester.11 1 % for the Planet: Seit 1985 ist Patagonia Mitglied der „1 %-for-the-Planet-Organisation“. Die Mitglieder dieser Organisation verpflichten sich, 1 % ihres Umsatzes für den Schutz und den Erhalt der Umwelt zu spenden. Bis heute hat „1 % for-the-Planet“ 1.143 Mitglieder auf der ganzen Welt. Patagonia hat bisher ca. US $ 35 Mio. an Geld- und Sachspenden für Umweltschutzorganisationen gespendet und will das auch in Zukunft machen.12 Produktion: Das Unternehmen ist gerade in Bezug auf seine Produktion ein Vorreiter für ökologische Ethik. Vor einigen Jahren hat das Unternehmen innerhalb von nur 18 Monaten die gesamte Textilproduktion umgestellt. Die Textilprodukte wurden vorher ausschließlich aus Baumwolle hergestellt. Zu deren Herstellung wurde sehr viel Chemie verwendet. Nach der Umstellung stellte Patagonia seine Produkte nur mehr aus biologisch gewonnener Baumwolle her. Diese benötigt so gut wie keine Chemie um zu wachsen, allerdings war sie damals wie heute um einiges teurer als die herkömmliche Baumwolle. Es war also ein durchaus riskantes Unterfangen für Patagonia. Förderung von Umweltschutzgruppen: Patagonia hat auch ein eigenes Förderprogramm für Umweltschutzgruppen ins Leben gerufen. 2009 wurden rund 400 Umweltschutzgruppen von Patagonia zur Förderung ihrer Aktivitäten unterstützt. Common-Threads-Recycling-Programme: Patagonia ist der Meinung, dass viel zu viele Produkte gegen Ende ihres Lebenszyklus’ auf der Müllhalde landen. Das war Grund genug für das Unternehmen, im Jahr 2005 ein eigenes „Common-Threads-RecyclingProgramm“ zu implementieren. Alle Produkte, die mit dem „Common-ThreadsRecycling-Etikett“ ausgestattet sind, können direkt an Patagonia zurückgegeben werden. Patagonia recycelt auch Produkte anderer Hersteller (z. B. Fleece-Bekleidung). Durch das „Common-Threads-Recycling-Programm“ können diese unbrauchbar gewordenen Bekleidungsstücke zu neuen Kleidungsstücken verarbeitet werden.

Was kann man von Patagonia lernen? Patagonia ist ein Unternehmen, welches andere Unternehmen nicht immer unbedingt als Konkurrenz betrachtet, sondern Patagonia will andere Unternehmen an Board des „ökologi11 12

Vgl. http://www.patagonia.com/eu/deDE/home. Vgl. http://www.patagonia.com/eu/deDE/environmentalism.

Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen

119

schen Zugs“ bringen. Kopieren ist also erlaubt. Eine Firmenphilosophie, die in unserer heutigen Wirtschaftswelt ihresgleichen sucht.

4

Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen

Unternehmen, die sich den neuen ökologischen Herausforderungen stellen wollen, sollten sich mit den folgenden 10 Leitsätzen sehr selbstkritisch auseinandersetzen: 1. Ethik in Unternehmensverfassung integrieren: Ethische Grundwerte müssen im Unternehmensleitbild (Mission Statement) implizit oder explizit enthalten sein. Eine Ableitung dieser Ethik in Bezug auf Ökologie und soziales Engagement erfolgt dann erst im zweiten Schritt. 2. Denken in Kreisläufen: Verstärktes Kreislaufdenken sollte in Zukunft essenzieller Bestandteil des Handelns eines jeden Unternehmens sein. Beispiele für starkes Kreislaufdenken werden später in diesem Artikel erläutert. Vielen Unternehmen dient das von Michael Braungart und William McDonough entwickelte Konzept des „Cradle-toCradle“ bereits als Vorbild. 3. Verlängerung der Produktverantwortung: Die Unternehmen der Zukunft werden nicht nur für die Produktion und den Vertrieb eines Produktes verantwortlich sein, sondern sie werden auch die Entsorgung des eigenen Produktes zu bewerkstelligen haben. Dies dient hauptsächlich der Erhaltung von Rohstoffen. 4. Stetige Verbesserung des Produktdesigns: Im Produktdesign liegt sehr viel „ökologisches Potenzial“. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen, zum Wohl der Kunden, des eigenen Unternehmens und der Umwelt. Urimat hat beispielsweise ein ökologisch nahezu perfektes Produkt entwickelt. Das Produkt bietet Vorteile für den Kunden, das eigene Unternehmen und die Umwelt. Unter diesen Punkt fällt auch das Thema Precycling. Nicht nur die Produkte eines Unternehmens sollten auf Umweltverträglichkeit überprüft werden, sondern auch die verwendeten Verpackungsmaterialien. 5. Schaffung eines umweltfreundlichen Firmengeländes: Firmengelände sind meist sehr große Areale. Hier liegen viele Möglichkeiten, seine Umweltleistung mit einmaligen Investitionen zu verbessern. Viele Unternehmen haben ihr Firmengebäude bzw. ihr Firmengelände bereits ökologisch saniert. Meistens findet man auf diesen Gebäuden auch dutzende Solarpanele. 6. Ganze Wertekette berücksichtigen: Viele Unternehmen machen den Fehler, nur auf sich selbst zu schauen, allerdings wird die Umweltleistung eines Unternehmens auch durch Lieferanten und Logistik bestimmt. Wie grün produzieren meine Lieferanten? Wie grün ist meine Logistik? Zwei Fragen, die sich jede Unternehmensleitung stellen sollte. 7. Beteiligung an Projekten: Viele Unternehmen beteiligen sich bereits an gemeinnützigen Projekten. Dies ist eine sehr gute Möglichkeit, ökologisch aktiv zu werden. Man kann eigene Projekte vorantreiben oder sich fremden Projekten anschließen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, sich der Organisation „1 % for the Planet“ anzuschließen. 8. Don’t wash it green!: Einer der schlimmsten Fehler, der von Unternehmen gemacht wird, ist der des „green washing“. Ökologisches Engagement, das zwar angepriesen aber

120

Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer

nicht durchgeführt wird, kann sehr negative Folgen haben. Daher ist es wichtig, ein bestimmtes Maß an Transparenz zuzulassen. 9. Stecke andere Unternehmen an, dasselbe zu tun!: Um unseren Lebensraum noch besser und effizienter schützen zu können, empfiehlt es sich auch anderen Unternehmen zu helfen den Umweltschutzgedanken in ihrer Organisation zu verankern. Einige Firmen tun dies bereits. 10. Vertrauen auf den neuen Zeitgeist: Ökologische Ethik gewinnt zunehmend an Bedeutung. Durch die jüngsten Ereignisse in Japan wurde dieser Trend noch verstärkt. Einige Unternehmen haben dies bereits erkannt. Wie bereits erwähnt gibt es einige Unternehmen, welche schon vor den Umweltkatastrophen der letzten beiden Jahre die Notwendigkeit erkannt haben, ökologisch nachhaltig zu wirtschaften; um aber langfristig Erfolge erzielen zu können, sollte das Thema ökologische Ethik in einem breiteren Kontext gesehen werden. Wie das geschehen kann, zeigt das im Folgenden erklärte Überzeugungsebenen-Modell.

5

Überzeugungsebenen-Modell

Im Überzeugungsebenen-Modell geht es hauptsächlich darum, zu veranschaulichen, dass viele Unternehmen vor der Herausforderung stehen, ökologische Aspekte zu einem Teil der eigenen Unternehmensidentität zu machen. Dieser Prozess wird allerdings von vielen Unternehmensstrategen unterschätzt, da es eine gewisse Zeit benötigt, ein „ökologisches Gewissen“ im gesamten Unternehmen zu integrieren. Das Überzeugungsebenen-Modell beinhaltet zwei Ebenen: die interne Ebene und die externe Ebene. Die Grenze zwischen diesen beiden Ebenen ist allerdings nicht hermetisch geschlossen. Umweltorientierte Organisationen, wie beispielsweise Greenpeace, versuchen immer wieder diese Unternehmensgrenze aufzubrechen, um zu sehen, was wirklich hinter „ökologischen“ Marketinginitiativen steckt. Dieses Modell soll weiters verdeutlichen, dass hinter einer ökologischen Unternehmensführung weit mehr steht, als das, was man von außen sieht, man kann es daher durchaus mit dem berühmten „Eisberg-Modell“ vergleichen.

5.1

Interne Ebene

Ebene der inneren Überzeugung Als interne Ebene wird alles bezeichnet, was ausschließlich innerhalb des Unternehmens geschieht. Diese Ebene unterteilt sich in die Ebene der inneren Überzeugung und die Ebene der internen Überzeugung. Diese beiden Ebenen stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Die Ebene der inneren Überzeugung bezieht sich auf die intrinsischen Werte jener Menschen, die in dem Unternehmen arbeiten; man kann diese Ebene daher durchaus als das „ökologische Gewissen“ der Organisation bezeichnen. Eine direkte Einflussnahme auf diese Ebene ist sehr schwierig, da sie den Grundstein jedes ethischen Handelns darstellt, sie kann – wenn überhaupt – nur langfristig beeinflusst werden.

Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen

121

Die „Externe Überzeugung“ bezieht sich auf die Überzeugung der externen Stakeholder (hauptsächlich der Kunden) von der positiven Umweltleistung des Unternehmens. Dies ist vor allem Aufgabe einer MarketingAbteilung. Diese „Externe Überzeugung“ ist kritisch, da die Adressaten erstmals außerhalb des Unternehmens zu finden sind. Eine starke Ausprägung der Internen Ebene wirkt sich positiv auf die Externe Ebene aus (Glaubwürdigkeit). Möglichkeiten: Transparenz schaffen, Precycling betreiben, CO2-Fußabdruck bestimmen etc… Risiko: Greenwashing unbedingt vermeiden Externe Ebene

Externe Überzeugung

Unternehmensgrenze

Interne Ebene

Unter der „Internen Überzeugung“ versteht man die konkrete Umsetzung des „ökologischen Gewissens“ in Strategien und Maßnahmen. Es sollte sich auf das gesamte Unternehmen erstrecken und kann beeinflusst werden. Möglichkeiten: Risken vermindern, Projektbeteiligungen, grüne Logistik, Prävention, Ökologisches Produktdesign etc…

Interne Überzeugung

Die „Innere Überzeugung“ bezieht sich auf die intrinsischen Werte der Menschen die in dem Unternehmen arbeiten. Man kann diese Ebene auch als das „ökologische Gewissen“ einer Unternehmung bezeichnen. Möglichkeiten: Verankerung in Unternehmensleitbild, Kreislaufdenken, Umweltfreundliches Firmengelände etc…

Innere Überzeugung

Abbildung 4:

13

Überzeugungsebenen-Modell

Möglichkeiten, auf diese Ebene Einfluss zu nehmen, bieten sich durch das Setzen von hohen moralischen Standards oder durch die Entwicklung eines ethischen Unternehmensleitbildes, beispielsweise im Bereich der transformationalen Führung. Bei der transformationalen Führung wird versucht, Werte und Ziele von Mitarbeitern zu beeinflussen bzw. zu transformieren. Dabei müssen Führungskräfte oft auch selbst die Rolle des Vorbilds einnehmen.14 Ebene der internen Überzeugung Unter der Ebene der internen Überzeugung versteht man die operative Umsetzung dessen, was als „ökologisches Gewissen“ bezeichnet wird, in ganz konkrete Strategien, Maßnahmen oder Initiativen. Die interne Ebene der Überzeugung ist somit in sehr hohem Maße abhängig von der inneren Ebene und gleichzeitig Ausgangspunkt für alles, was auf der externen Ebene geschieht.

13 14

Eigene Darstellung. Vgl. Bruch/Vogel, Organisationale Energie – Wie Sie das Potenzial Ihres Unternehmens ausschöpfen (2009), S. 126 ff.

122

5.2

Hans H. Hinterhuber und Thomas Reitsammer

Externe Ebene

Aufgabe der externen Ebene ist es vor allem, die Umweltleistungen des Unternehmens an die relevanten Stakeholder zu kommunizieren. Als extern wird hierbei alles bezeichnet, was der Öffentlichkeit durch das Unternehmen selbst zugänglich gemacht wird. Hierbei gilt: Je stärker die beiden internen Ebenen ausgeprägt sind, desto glaubwürdiger werden die Maßnahmen der externen Ebene. Versprechungen, welche auf externer Ebene getätigt werden, aber intern nicht umgesetzt werden, können zu langfristigen Imageschäden des Unternehmens führen.

5.3

Gesellschaftliche Verantwortung

Jedes Unternehmen befindet sich in Wechselwirkung mit seinen Stakeholdern. Im Modell der strategischen Unternehmensführung gibt es verschiedene Anspruchsgruppen, eine davon wird als „Gesellschaftliche Verantwortung“ bezeichnet. Unter diese Kategorie fällt auch das Thema Ökologie, da die Gesellschaft ein Interesse daran hat, weiterhin eine saubere Umwelt vorzufinden. Die Unternehmen sind daher gut beraten, sich langfristig den Ansprüchen der Gesellschaft anzupassen.15

6

Fazit

Das Fazit dieses Artikels fällt sehr optimistisch aus, da es bereits sehr viele Unternehmen gibt, die mit sehr kreativen Methoden versuchen, die eigenen Umweltleistungen zu verbessern. Sehr viele Unternehmen sind sich durchaus bewusst, dass in Bezug auf die eigene Umweltleistung noch Handlungsbedarf besteht. Diesbezüglich wurde in den letzten Jahren von den diversen Medien ein hoher Grad an Awareness für das Problem der Umweltverschmutzung geschaffen. Durch die Katastrophen im Golf von Mexiko (2010) und die Ereignisse in Fukujima (2011) wurde auch das Bewusstsein der Bevölkerung, der Wirtschaftstreibenden und der Politik geschärft. Um langfristig zu einer „ökologisch-ethischen“ Unternehmensführung finden zu können, bedarf es eines gewissen Maßes an Beharrlichkeit. Änderungen in diesem Bereich können nicht von heute auf morgen geschehen. Die in diesem Artikel erwähnten Beispiele sollen Anregungen geben, wie man es schaffen kann seine Umweltleistung zu verbessern. Zunehmend mehr Unternehmen haben bereits begriffen, dass die Zeit der Ausbeutung unserer Umwelt vorbei ist, ja, vorbei sein muss. Die Hauptergebnisse der vorliegenden Ausführungen sind: 1. Unternehmen sollen länger die Verantwortung für ihr Produkt übernehmen. Um den Kreislauf sinnvoll schließen zu können, müssen die Unternehmen einen Weg finden, die von ihnen produzierten Produkte nach dem Gebrauch wieder zurückzuerhalten. 2. Sogenanntes „greenwashing“ kann jedem Unternehmen großen Schaden zufügen, daher darf es nicht mehr vorkommen. 3. Man muss nicht immer das Rad neu erfinden, wenn man als Unternehmen für den Umweltschutz aktiv werden möchte. Man kann sich durchaus prominenter Beispiele wie Patagonia oder Desso bedienen, um die eigene Umweltleistung zu verbessern. 15

Vgl. Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung 1: Strategisches Denken (2011), S. 41 ff.

Ökologische Ethik: Neue Perspektiven für die strategische Führung von Unternehmen

7

123

Nachdenke

Folgender Satz des amerikanischen Mathematikers Norbert Wiener soll nochmals zum Nachdenken anregen: Wir haben unsere Umwelt so radikal verändert, dass wir uns jetzt selber ändern müssen, um in dieser neuen Umwelt existieren zu können. Norbert Wiener

Literatur Braungart, M./McDonough W.: Einfach intelligent produzieren – Cradle to Cradle: Die Natur zeigt, wie wir die Dinge besser machen können, 5. Auflage, Berlin 2010. Bruch, H./Vogel, B.: Organisationale Energie – Wie Sie das Potenzial Ihres Unternehmens ausschöpfen, 2. Auflage, Wiesbaden 2009. Europäische Kommission: Spezial Eurobarometer 295 – Einstellungen der Europäischen Bürger zur Umwelt, European Opinion Research Group (2008), S. 1–79. Hinterhuber, H. H.: Strategische Unternehmensführung 1: Strategisches Denken, 8., grundlegend neu bearbeitete Auflage, Berlin 2011. Stickler, T./Prutsch, A./Balas, M.: Klimawandelanpassung in Österreich, Umweltbundesamt, URL: http://www.umweltbundesamt.at/fileadmin/site/publikationen/REP0266.pdf [15.06.2011]. http://www.desso.com/Desso/home/DE/DE-Cradle_to_Cradle/ Erklrung_DESSOampltsupampgtampltsupampgt_CEO.html [13.06.2011]. http://www.desso.com/Desso/home/EN/EN-Cradle_to_Cradle/ EN-Cradle_to_CradleCradle_to_Cradleampltsupam pgtampltsupampgt.html [13.06.2011]. http://www.patagonia.com/eu/deDE/patagonia.go?assetid=35790 [15.06.2011]. http://www.patagonia.com/eu/deDE/environmentalism [14.11.2011]. http://www.patagonia.com/eu/deDE/patagonia.go?assetid=35781 [13.06.2011]. http://www.focus.de/finanzen/karriere/management/tid-16063/patagonia-gruender-chouinard-diefirma-ist-ein-experiment_aid_450631.html, [14.06.2011]. http://urimat.de/cms/cms/front_content.php?idcat=88, [12.06.2011]. http://epea-hamburg.org/index.php?id =155#c1550, [12.06.2011]. http://www.wupperinst.org/uploads/tx_wibeitrag/EcoInno_Urinals_de.pdf [13.06.2011].

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung Christoph Schertler und Walter Schertler

1

Einleitung und Zielsetzung

Spätestens seit der „Telekom-Affäre“ ist die mediale Beachtung des Themas Compliance aus den Tageszeitungen und Magazinen in Österreich nicht nur einmalig präsent, sondern laufend aktuell und aus der Berichterstattung nicht mehr wegzudenken. Unternehmen kommen immer mehr unter Druck, ein Compliance System zu installieren, um dem medialen Druck standzuhalten und sich in Sachen Compliance zu professionalisieren. Ziel eines funktionierenden Compliance Systems ist es, auf die Einhaltung gesetzlicher Normen oder unternehmensdefinierter Vorgaben hinzuwirken, um dadurch Haftungsansprüche oder andere Rechtsnachteile, wie z. B. verwaltungs-, straf- und/oder zivilrechtliche Konsequenzen sowie Reputationsschäden für das Unternehmen, seine Mitarbeiter und Organe zu vermeiden.1 Dieser Zielsetzung folgend sichern funktionierende Compliance Systeme gerade durch ihre Präventionswirkung die Nachhaltigkeit des wirtschaftlichen Erfolgs eines Unternehmens durch gezieltes Risikomanagement. Dadurch gelingt es ihm, auch mit Mitbewerbern besser konkurrieren und nachhaltig nach höheren Gewinnsätzen zielen zu können. Der Erfolg eines funktionierenden Compliance Systems in der Praxis hängt aber nicht nur vom Präventionsgedanken maßgeblich ab, sondern auch von anderen Faktoren, wie z. B. durch das Compliance System vereinfachten und beschleunigten Entscheidungsprozessen, der Effizienzsteigerung durch das Standardisieren und Strukturieren von Abläufen etc. Compliance ist mehr als ein juristisches Regelwerk und muss gemanagt werden (Compliance Management). Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz zur Minimierung des Risikos doloser Handlungen und Handlungsfähigkeit zur Gestaltung unternehmensethischer Change Prozesse („Effective Ethics & Compliance Program“). Im folgenden Beitrag soll vor allem die strategisch relevante Seite von Compliance und Compliance Management beschrieben werden.

1

Vgl. Hauschka, Corporate Compliance, Handbuch der Haftungsvermeidung im Unternehmen (2010), S. 26.

126

Christoph Schertler und Walter Schertler

2

Compliance als juristisches Problem der Unternehmensführung

2.1

Begrifflichkeit

Der Begriff „Compliance“ entstammt dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch und wurde unübersetzt in den deutschen übernommen. „To comply with“ bedeutet das Handeln in Übereinstimmung mit bestimmten bestehenden Regeln. Compliance verlangt somit von der Unternehmensführung, sich im Einklang mit dem geltenden Recht und den regulatorischen Standards zu bewegen. Diese Forderung gilt in mehr oder weniger allen Rechtsstaaten als ein selbstverständliches Prinzip. Gleichzeitig besteht Compliance auch in der Haftungsvermeidung durch das Befolgen der für das Unternehmen maßgeblichen Rechtsregeln aller Art und in der Aufstellung, Kommunikation und Einhaltung spezifischer ethischer Grundsätze eines Unternehmens2. Solche, über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehenden Ergänzungen, werden auch als „soft law“ bezeichnet. Soft law ist definiert als ein von Vertragsparteien anerkanntes und kodifiziertes Regelwerk, das aber nicht durch dritte Parteien erzwungen werden kann.3 Werte wie Loyalität, Integrität und Ehrlichkeit des Vorstandes, der Vertragspartner, aber auch aller Mitarbeiter gegenüber den Interessen des Unternehmens erhalten so eine zentrale Bedeutung. „Soft law als Selbstbindungsmechanismus setzt zu seiner Wirksamkeit die moralische Selbstbindung der involvierten organisationalen und individuellen Akteure voraus.“4 Dieses Vorgehen hat unter dem Stichwort Corporate Governance dann auch Eingang in die Formulierung von unternehmenspolitischen Grundsätzen gefunden. Und nur so kann eine Compliance Kultur im Unternehmen entwickelt werden.

2.2

Rechtsrahmen der Compliance

Die Tatsache, dass immer mehr „Non-Compliance Fälle“ im Wirtschaftsleben ans Tageslicht kommen, hat Gründe, die nicht nur auf den härteren (Verdrängungs-)Wettbewerb zurückzuführen sind. Natürlich führt die zunehmende Globalisierung unserer Wirtschaftsbeziehungen dazu, immer mehr und fast schon unüberschaubar vielen neuen Rechtsnormen zu entsprechen. Die wesentlichen Treiber von Non-Compliance liegen aber im Wertesystem unserer Gesellschaft. Compliance ist daher ein vielschichtiges, normatives Problem. Das österreichische Recht kennt keine Gesetzesnorm, welche die Geschäftsleitung einer Aktiengesellschaft (AG) oder einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) zur Errichtung einer Compliance Organisation oder zur Vornahme von Compliance Maßnahmen verpflichtet. De facto ist die Geschäftsleitung allerdings aufgrund von verschiedensten Gesetzesstellen und regulatorischen Standards mehr oder weniger dazu „gezwungen“, sich „compliant“ zu verhalten. So rüstet z. B. der Staat die Justiz mit dem großteils im Jänner 2011 in Kraft getretenen strafrechtlichen Kompetenzpaket (BGBl I 2010/108) im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität und Korruption auf, damit sie der steigenden Zahl hochkom2 3 4

Vgl. Poppe, Compliance (2010), S. 1. Vgl. Wieland, Werte Management als Corporate Governance (2002), S. 4. Wieland, Werte Management als Corporate Governance (2002), S. 4.

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung

127

plexer Verfahren in diesem Bereich gewachsen ist und gleichzeitig der öffentlichen Erwartung nach rascher Aufklärung unter größtmöglicher Transparenz besser entsprechen kann.5 Auch das seit Jahresanfang 2011 gültige Betrugsbekämpfungspaket mit den beiden Schwerpunkten „Bekämpfung von schweren Finanzvergehen“ (Finanzstrafgesetz-Novelle 2010 – „FinStrG-Novelle 2010“, BGBl I 2010/104) und „Bekämpfung der Schwarzarbeit in der Baubranche“ (Betrugsbekämpfungsgesetz 2010 – „BBKG 2010“, BGBl I 2010/105) setzt ein eindeutiges Zeichen der Regierung, Non-Compliance in den Unternehmen verstärkt zu ahnden. Mit drakonischen Strafen wartet sie gegen „Finanzbetrügereien“ auf und sieht Sanktionen von bis zu €10 Mio. Strafe und 10 Jahren Haft vor.6 Nicht zuletzt drohen z. B. bei Non-Compliance neben Reputationsschäden, kostspieligen Verfahren, Geschäftsunterbrechungen und fallenden Aktienkursen, auch strafrechtliche Sanktionen für die Aufsichts- und Geschäftsleitungsorgane.

2.3

Compliance in der Wirtschaftspraxis

So vielfältig sich die Wirtschaftspraxis zeigt, so zahlreich kann sich Compliance ausdrücken. So hat die amerikanische Association of Certified Fraud Examiners ACFE unter der Leitung von Joseph T. Wells eine Systematisierung betrügerischer Mitarbeiterkriminalität, den „Fraud Tree“, erstellt, den Grüninger aufgreift und in „Fraud Against the Company“ (Vermögensschädigung und Manipulation der Rechnungslegung), die sich eindeutig gegen das Wohl des Unternehmens richten und dieses von Beginn an schädigen, und in „Corporate Misconduct“ (Korruption) unterscheidet, aus denen das Unternehmen anfangs sogar einen direkten Nutzen ziehen kann.7 „Fraud“ besteht also aus zwei Teilen: a) „Corporate Misconduct“ also der Korruption (Gewährung von Vorteilen, Bestechung, Kartellrechtsverstöße) und b) „Fraud Against the Company“ mit den beiden Ebenen „Vermögensschädigung“, die in Form „liquide Mittel“ (Entwendung, fingierte Ausgaben, überhöhte Ausgaben) oder in Form „andere Vermögenswerte“ (Missbrauch, Entwendung, Verrat von Betriebsgeheimnissen) eingeteilt werden kann, und „Manipulation der Rechnungslegung (Scheinumsätze, Periodenabgrenzung, Bewertung, Verschleierung von Kosten). Je nach Wirtschaftszweig bestehen große Unterschiede in der Relevanz und Tragweite von Compliance als Problem der Unternehmensführung. Das heißt, nicht für jedes Unternehmen ist Compliance im Vorhinein ein strategisches Problem. Compliance in Pharmaunternehmen hat sicher eine andere Risikobedeutung für den langfristigen, strategischen Erfolg eines Unternehmens als z. B. in der Sägewirtschaft. Noch viel bedeutender wird der Stellenwert von Compliance im Bankwesen. Sehr früh haben sich Financial Services Unternehmen wie Banken und Versicherungen mit Compliance beschäftigt, Compliance als feststehenden Begriff eingeführt und in die Unternehmenskultur aufgenommen. Banken haben daher von sich aus die proaktive, daher strategische Bedeutung von Compliance als Wettbewerbsfaktor erkannt. Sie erkennen die Vorteile einer gezielten Risikosteuerungsfunktion und die Schutzwirkung von Compliance, die beide bereits im Vorfeld ansetzen und, indem sie beispiels5 6 7

Vgl. Petsche/Schertler, Justiz rüstet gegen Wirtschaftskriminalität und Korruption auf (2011), S. 4. Vgl. Schertler, 10 Jahre Haft für ein „Kavaliersdelikt“ (2011), S. 7. Vgl. Grüninger, Wertorientiertes Compliance Management System (2010), S. 39 ff.

128

Christoph Schertler und Walter Schertler

weise Insidergeschäfte verhindern, dem Wertpapierunternehmen, dem Kreditinstitut im Allgemeinen und deren Mitarbeitern dienen sollen. Was die Wirtschaftswissenschaften betrifft, finden sich die theoretischen Grundlagen der Entstehung von Compliance Problemen in Unternehmen in der Neuen Institutionenökonomik, die das einseitige Paradigma des Rationalen Aktors und der Ceteris Paribus Regeln aufund abgelöst hat und das Verständnis über das Funktionieren soziotechnischer Systeme auf andere Fundamente bauen will. Im Mittelpunkt stehen Informationsasymmetrien (Informationsvorsprung, -nachteil) zwischen den Vertragsparteien (z. B. Käufer und Verkäufer) oder zwischen Auftraggeber und -nehmer (Prinzipal und Agent) sowie die Akzeptanz von Interessenkonflikten zwischen Vertragspartnern. Eigentümer und Management von Unternehmen stehen mit Kunden, Mitarbeitern und Lieferanten in einem Beziehungsnetzwerk, welches potenziell eine Fülle von Malversationen ermöglicht und nur über Vertragsvereinbarungen und vertrauensbildende Maßnahmen unter Kontrolle gehalten werden kann. Vor allem die Agency Theory liefert Erklärungsmuster für „schlechtes“ Verhalten zwischen Vertragspartnern durch Vorenthalten von Informationen (hidden characteristics, hidden actions), durch eigennützige Entscheidungen (hidden information, hidden intention).8 Es wäre also völlig falsch, (Non-)Compliance als einen in der Betriebswirtschaftslehre neuen und unerforschten Sachverhalt darzustellen. Der kleine Exkurs in die Theorien der Neuen Institutionenökonomie zeigt auch die zentralen Grundlagen, wie und warum in sozialen Systemen (Unternehmen) im Beziehungsnetzwerk des miteinander Wirtschaftens Risikopositionen entstehen können. Sie begründen Zusammenhänge der Risikoeinschätzung und der Bewertung von betrieblichem Risiko, das im Spannungsfeld von Wachstum – Rentabilität – Liquidität entsteht. Nicht umsonst zählen diese drei Kräfte in der Betriebswirtschaftslehre zu den drei wesentlichen Existenzbedingungen von Unternehmen. Weil strategische Fragen immer zukunftsgerichtet sind und nach der Sicherung der Existenz eines Unternehmens suchen, liegt es nahe, existenzgefährdende Compliance Sachverhalte in den Kontext der Strategischen Unternehmensführung zu setzen.

2.4

Compliance Management

Die Bedeutung von einem Compliance gerechten Verhalten in und von Organisationen wächst in den letzten Jahren zu einem überaus relevanten und bisher weithin unterschätzten Problem der Unternehmensführung. Folgende Entwicklungen sind die dahinter steckenden treibenden Kräfte: 1. Zunehmende Vernetzung der Unternehmen durch Integration vertikaler upstream/ downstream Wertschöpfungsstufen sowie horizontaler Allianzbildung zwischen Mitbewerbern (vgl. Outsourcing Strategien). 2. Grenzen zwischen den Unternehmen lösen sich zusehends auf und die Frage „Wo beginnt, wo hört ein Unternehmen auf?“ wird oft gestellt, vor allem dann, wenn es um die Unabhängigkeit unternehmerischer Entscheidungen geht. 3. Der Dienstleistungsanteil an der Wertschöpfung steigt und dadurch die Bedeutung complianten Verhaltens des Faktors Mensch. 8

Vgl. Schreyögg, Prinzipal-Agent-Beziehungen in Organisationen (2003), S. 445 ff.

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung

129

4.

Der Druck nach mehr Transparenz seitens Öffentlichkeit und Medien wächst und wird durch die Vernetzung unserer Gesellschaft über neue Informations- und Kommunikationstechnologien (z. B. Internet) begünstigt. Diese Entwicklungen im Umfeld des Unternehmens verlangen, die durch Corporate Governance Aspekte ausgelöste Komplexität der Unternehmensführung weit über die juristisch relevante Risikosituation hinaus zu verstehen. Wieland stellt dazu fest: „Compliance bezeichnet alle formalen und informalen Governance-Strukturen einer Organisation, mit denen sein Management effizient und effektiv die Aufdeckung, vor allem aber die Prävention doloser Handlungen durch Mitglieder und Beauftragte dieser Organisation realisieren kann. Compliance ist Bestandteil des strategischen und operativen Managements und zielt auf die nachhaltige, ökonomische und gesellschaftliche Sicherung der Existenz und der Zielerreichung einer Organisation.“9 Konsequenterweise muss Compliance also gemanagt und als Führungsaufgabe verstanden werden. Momentan geht die Literatur davon aus, dass Compliance Management sich einerseits mit den aufbau- und ablauforganisatorischen Maßnahmen der Unternehmensführung (business process compliance) abdecken lässt, andererseits aber auch in der Unternehmenskultur verankert werden muss, was einer verhaltenssteuernden Funktion des Compliance Managements entspricht (business conduct compliance).10

3

Compliance Management als strategische Herausforderung der Unternehmensführung

In der international geführten Diskussion um Standards zu Unternehmensführung und Unternehmenskontrolle haben die Themen Compliance und Corporate Governance eine so große Bedeutung erreicht, dass sie zu einem „strategischen“ Thema der Unternehmensführung mutiert sind. Mit „strategisch“ kennzeichnet man in der Managementliteratur einen Sachverhalt, der einen in der Zukunft liegenden wettbewerbsentscheidenden Charakter hat. Weiters sind strategische Entscheidungen immer Entscheidungen über die zukünftige Verteilung und Konzentration knapper Mittel und Ressourcen auf die Produkte und Märkte eines Unternehmens. Daher konstituieren große Investitionsentscheidungen immer auch eine strategische Frage- bzw. Problemstellung. Investitionen in die Zukunftssicherung eines Unternehmens beinhalten in der Regel mehr oder weniger schwer einschätzbare Risikopositionen. Eine Analyse von zukünftigen Risiken und Gefahren für eine erfolgreiche Unternehmensentwicklung muss Compliance Problemstellungen beinhalten, wenn sie den zukünftigen Erfolg des Unternehmens beeinflussen können. So schließt sich die Argumentationskette, warum Complianceprobleme als strategische Probleme der Unternehmensführung qualifiziert werden müssen. Im Kampf um Marktanteile, um erfolgreiches Wachstum oder um Ressourcen geht es darum, gegenüber den Konkurrenten Vorteile zu haben und diese laufend weiter zu entwickeln.

9 10

Wieland, Compliance Management als Corporate Governance – konzeptionelle Grundlagen und Erfolgsfaktoren (2010), S. 19. Vgl. Wieland, Compliance Management als Corporate Governance – konzeptionelle Grundlagen und Erfolgsfaktoren (2010), S. 20.

130

Christoph Schertler und Walter Schertler

Robert M. Grant definiert „Wettbewerbsvorteil“ wie folgt: „When two or more firms compete within the same market, one firm possesses a competitive advantage over its rivals when it earns a persistently higher rate of profit (or has the potential to earn a persistently higher rate of profit).“11 Demzufolge sind die drei Kernelemente von Wettbewerbsvorteilen Konkurrenz, Gewinnstreben und Nachhaltigkeit. Vorteile zu entwickeln, ist zentraler Inhalt einer strategischen Unternehmensführung. Sich vom Konkurrenten abzuheben, sich über die Produkte und Dienstleistungen vom Mitbewerber zu differenzieren, das ist die Zielsetzung der strategischen Unternehmensführung. Dies ist aber kein linearer Prozess, der fortschreitend sichert, was einmal aufgebaut wurde. Im Gegenteil, das Managementproblem von Wettbewerbsvorteilen liegt nicht nur in deren Identifikation und Entwicklung, sondern im Halten und Verteidigen von Vorteilssituationen, da nur so eine nachhaltig wirksame Vorteilssituation realisiert werden kann. Strategisches Management kann daher kurz als Vorteilsmanagement definiert werden. Dabei geht es darum, die durch den Wettbewerb laufend veränderten Wettbewerbsbedingungen so zu steuern, dass Vorteile relativ zu den gefährlichsten Konkurrenten verteidigt beziehungsweise ausgebaut werden können. Compliance soll als komparative Vorteilsquelle im Wettbewerb etabliert werden, was sowohl als offensive Vorteilssuche als auch als defensive Nachteilsvermeidung (Verteidigung) verstanden werden kann. Um die Frage, wie ein „Compliance Wettbewerbsvorteil“ gegenüber den Konkurrenten erzielt werden kann, beantworten zu können, müssen die Grundlagen bekannt sein, die einen Wettbewerbsvorteil entstehen lassen. Jeder Vorteil beruht auf sogenannten Vorteilsquellen, das sind die Erfolgsfaktoren eines Geschäftes, die für den Zuschlag eines Auftrages ausschlaggebend sind. Dass Compliance nicht nur irgendeinen Erfolgsfaktor, sondern einen strategischen Erfolgsfaktor darstellt, zeigen z. B. die in den letzten Jahren zu Tage gebrachten Korruptionstatbestände bei Siemens, die nicht nur Milliarden Euro Strafzahlungen, sondern eine historisch einmalige Schädigung des Unternehmensimages und damit des Unternehmenswertes zur Folge hatten. Unschwer lässt sich daraus schließen, dass Compliance als strategischer Erfolgsfaktor und Vorteilsquelle verstanden werden muss.

4

Grundlagen eines Compliance Management Systems

Erfolgsfaktoren finden ihre Grundlagen in der normativen, strategischen und operativen Aufgaben-, Kompetenz- und Verantwortungsebene des Managements: Die normative Ebene der Unternehmensführung schafft das Werte-System, die strategische Ebene entwickelt Erfolgsfaktoren zu strategischen Vorteilsquellen im Wettbewerb und die operative Ebene liefert die Umsetzungsmöglichkeiten in den Fähigkeiten, Strukturen und Handlungsprozessen der Organisation. Alle drei Ebenen beeinflussen die Funktionalität und Qualität einer compliance-tüchtigen Unternehmensorganisation.

11

Grant, Contemporary Strategy Analysis (2007), S. 174.

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung

4.1

131

Compliance Management beginnt auf der normativen Ebene der Unternehmensführung

Werthaltungen wie Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen usw. sind Beziehungsqualitäten zwischen Menschen wie auch zwischen Organisationseinheiten. Die zentralen Funktionen des Managements wie das Planen (Gestalten), das Lenken und Steuern (Controlling) sowie das Entwickeln (Training) von Fähigkeiten und Kompetenzen in sozialen Systemen beeinflussen unmittelbar soziale Beziehungsmuster und Netzwerke. Dazu kommt, dass in turbulenten Zeiten die Komplexität der Unternehmensführung steigt. Die Entwicklungen und Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologie tun das Übrige, um immer mehr Transparenz in Gesellschaft und Wirtschaft sowie deren Netzwerke zu bringen. Mit zunehmender Transparenz steigt die Kontrollfähigkeit der Unternehmen. Beziehungsstrukturen werden offengelegt und das Risiko nimmt zu, dass nicht die über Marketing und Öffentlichkeitsarbeit kommunizierten, sondern die „wahren“ Werthaltungen der Unternehmen aufgedeckt werden, wie Bestechungs- und Korruptions- oder Abhör- und Überwachungsskandale zeigen. Die Täteranalyse bei diesen Beispielen zeichnet immer das gleiche Verhaltensmuster: Es sind weniger die kriminellen Einzeltäter, sondern das Systemverhalten des gesamten Kollektivs wie z. B. der Beamten oder der Unternehmens- oder Vereinsmitglieder. Das Fehlen einer aufrichtigen und glaubwürdigen Vorbildfunktion des Top Managements und damit die Normen setzende Funktion der Mitarbeiterführung sind die wahren Quellen eines nichtcomplianten Verhaltens in und von Unternehmen.

4.2

Compliance Management ist strategisches Management

Entscheidend für den Erfolg des Vorteilsmanagements ist der Vergleichsmaßstab sowohl im Sinne von Vergleichsobjekt (wer ist unser gefährlichster Mitbewerber?) als auch komparative Messgrößen (an welchen Benchmarks machen wir den Vergleich fest?). Es geht also immer um das Halten und Verteidigen von relativen Vorteilssituationen. Dabei muss beachtet werden, dass der Vergleich mit dem Durchschnitt nur dazu führen kann, dass man durchschnittlich wird. Das ist gut, aber immer noch zu wenig, um sich von Mitbewerbern abheben zu können. Daher ist ein strategisch relevanter Vorteil niemals durchschnittlich, denn wer alles gleich wie der Mitbewerber macht, der schafft keine Vorteilssituation und wird austauschbar. Austauschbar zu sein, ist strategisch gesehen aber das Schlimmste. Konsequenterweise muss eine strategische Ausrichtung des Themas „Compliance als Wettbewerbsvorteil“ immer danach fragen, welches Differenzierungspotenzial die Compliance Funktion für ein Unternehmen hat, um sich im Wettbewerb auf diesem Gebiet einen Vorteil gegenüber den Mitbewerbern zu sichern. Dass damit nicht gemeint sein kann, nur die gesetzlich vorgeschriebenen (Compliance) Regeln einzuhalten, wird klar, denn das, was alle befolgen müssen, ist ein Standard des erwarteten, regelkonformen Verhaltens eines Unternehmens. Weil Standards von allen eingehalten werden müssen, kann das Einhalten von gesetzlich vorgeschriebenen Regeln niemals Unterschied machend von der Unternehmensführung eingesetzt werden. Das Einhalten des gesetzlich vorgeschriebenen (Compliance) Regelwerks ist wettbewerbsneutral und strategisch somit irrelevant. Die Nichteinhaltung führt allerdings sofort zu einem Nachteil. Ein Unternehmen, das mit Hilfe der Compliance Thematik einen Vorteil im Wettbewerb erreichen will, muss daher mehr als nur den etablierten Compliance Standard und Compli-

132

Christoph Schertler und Walter Schertler

ance Normen gerecht werden. Neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Regelwerk müssen zusätzliche Compliance Maßnahmen und Qualitäten definiert und vor allem auch umgesetzt werden. Es sind daher nur überdurchschnittliche – aber dennoch umsetz- und erfüllbare – Compliance Anstrengungen, die von der Unternehmensführung wettbewerbswirksam im Sinne einer Differenzierung gegenüber den Mitbewerbern eingesetzt werden können. Was zählt, ist das Streben nach Überdurchschnittlichkeit im Umgang mit Compliance Verhalten. Der erklärte Wille der Unternehmensführung, durch einen unternehmensspezifischen Schritt freiwillig umsetzbare Compliance Richtlinien zu erarbeiten, die über dem Niveau liegen, das im Durchschnitt vom Gesetzgeber verlangt bzw. von der Konkurrenz realisiert wird, bringt erst die Qualität eines „Strategischen“ Compliance Managements zum Ausdruck. Strategisches Compliance Management hat das Ziel, eine Compliance Kultur im Unternehmen aufzubauen.

4.3

Compliance Management verlangt gutes operatives Management

Der legendäre Managementpapst Peter Drucker hat darauf hingewiesen, dass schlechte Strukturen und Arbeitsabläufe schlechtes Verhalten in Organisationen verursachen. Wenn für nicht compliantes Verhalten Sanktionsstrukturen fehlen, wenn es keine compliancespezifischen Aufgaben- und Verantwortungsbereiche im Unternehmen gibt, wenn keine Rollenverteilung für „Kümmerer in Sachen Compliance“ stattfindet und wenn weder Informations- noch Instruktions- und Trainingsmaßnahmen existieren, um eine Vielzahl von MitarbeiterInnen mit den Spielregeln des unternehmenseigenen Compliance Systems vertraut zu machen, dann fehlen die organisatorischen „Vehikel“, um compliantes Verhalten im Unternehmen zu verankern. Für die „Abwehr“ von nicht compliantem Verhalten steht eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, wie z. B. Schulungen, Regelwerke (Code of Conduct, Zero Tolerance, Whistleblowing).12

5

Zur Methodik von Compliance Management als Wettbewerbsvorteil

Die oben angeführten Maßnahmen und Initiativen sind nur einige Möglichkeiten, womit das Top Management einen Beitrag zur Etablierung einer Compliance Kultur im Unternehmen schaffen kann. Diskussionen im Kollegenkreis zeigen immer wieder, dass das Thema Compliance in Unternehmen hauptsächlich als juristisches Thema verstanden wird, das dem Rechtsberater oder der Rechtsabteilung anzuvertrauen ist. Damit ist das Problem Compliance bestimmten Spezialisten bzw. einer klar definierten Abteilungsfunktion zugeordnet und somit „organisatorisch institutionalisiert“ und verankert. Ein solches Verständnis hat aber nicht den Stellenwert von Compliance Management als strategisches Anliegen der Unternehmensführung. Auf diese Art und Weise wird nämlich Compliance zu einem fachspezifischen Problem gemacht, 12

Vgl. Saitz, Compliance in mittelständischen Unternehmen – Theoretische Anforderungen und pragmatische Ansätze zur Umsetzung (2010), S. 147–170.

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung

133

für dessen Lösung es einen spezialisierten Fachmann braucht, der dann entweder intern oder extern zu suchen und zu konsultieren ist. Die Aufmerksamkeit der Geschäftsführung, des Vorstandes, des Aufsichtsrates oder Beirates und auch der Gesellschafter reduziert sich dann auf den Tagesordnungspunkt „Compliance – was das Gesetz unserem Unternehmen vorschreibt“. Ist dieser Punkt einmal abgearbeitet, verschwindet er von der Tagesordnung und damit auch der unternehmensexterne Compliance Anwalt oder der unternehmensinterne Compliance Officer. Strategische Relevanz bekommt Compliance Management erst, wenn es um die Beantwortung folgender Fragen geht: •

„Was passiert, wenn wir so weitermachen wie bisher und Compliance in Zukunft weiter als Fall für den Spezialisten im Notfall managen?“ • „Was wissen wir über unsere Konkurrenten im Markt, wie die mit dem Thema Compliance Management und Risikoprävention umgehen?“ • „Wollen wir den Mitbewerbern durch Unterlassen complianten Verhaltens gezielt in die Falle gehen und einen Nachteil im Wettbewerb in Kauf nehmen?“ Entscheidend ist und bleiben der Wille und die Glaubwürdigkeit des Top Managements, nachhaltig compliantes Verhalten im Unternehmen und in den Beziehungsnetzwerken zu den Anspruchsgruppen (Stakeholdern) zu fördern. Ob der Vorstand oder die Geschäftsführung eine nachhaltig wirksame Compliance Kultur anstreben will, die das Zeug hat, im Wettbewerb zu einem strategischen Erfolgsfaktor zu mutieren, korreliert unmittelbar mit dem Ressourceneinsatz für die Entwicklung eines Compliance Management Systems für das Unternehmen. Die zentrale Frage lautet: Wie viel Aufmerksamkeit schenkt das Top Management dem Thema „strategische Relevanz eines Compliance Management Systems“ und welche Investitionsmittel und Ressourcen werden dafür freigegeben, um Compliance Kompetenz als organisationale Fähigkeit im Unternehmen zu entwickeln? Damit wird ein Spannungsfeld mit der Dimension „Compliance Risikopotenzial“ (hoch vs. gering) und der Dimension „Compliance Management-Kompetenz (hoch vs. gering) aufgebaut (vgl. Abbildung 1.1).

5.1

Das Compliance Risikopotenzial

Die Notwendigkeit und Bedeutung eines Compliance Management Systems für den strategischen Erfolg eines Unternehmens kann vom Top Management entweder überhaupt nicht erkannt oder als heute noch nicht relevant oder als relevant eingeschätzt werden, das heißt das Compliance Management Spektrum beginnt bei völliger Unbedarftheit beim Top Management über die Bedeutung von Compliance Bedrohung in der Zukunft, setzt sich dann über die Kenntnis, aber ignorante Behandlung als Problembereich der Unternehmensführung fort bis hin zu einer konkreten Einschätzung als relevantes Risikopotenzial der Unternehmensführung in Zukunft und mündet schlussendlich in der Überzeugung des Top Managements, dass ein Compliance Management System so weit auszubauen ist, bis es als strategischer Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitbewerbern eingesetzt werden kann. Als Kriterienmaßstäbe zur Ermittlung des Risikopotenzials dienen folgende Beispiele: • • •

Einfluss von Non-Compliance auf das Geschäftsergebnis? Existenzbedrohende Compliance Mängel (Reputation)? Strafrechtliche Relevanz für Geschäftsführung?

134 • • • • • • • • • •

5.2

Christoph Schertler und Walter Schertler Zivilrechtliche Relevanz für Geschäftsführung? Druck seitens Nachhaltigkeitsberichts (sustainability report)? Je mehr Berichte über Compliance Vorfälle in der Branche vorhanden sind, umso höher das Risikopotenzial? Tatsache, dass ein Fehlen von Compliance Systemen ein „deal-breaker“ sein kann? Zertifizierungsagenturen vorhanden? Compliance Audit als Kundenwunsch? Vorhandensein von professionellen Forderungseintreibern? Compliance als Marketing Initiative (ist Teil der Außenkommunikation)? Wahrnehmung durch Branchenanalysten & Investoren (Einstufung/Rating der Analysten)? Krise/Anlassfall (es existieren „Cartel Damage Claims Organisationen“ siehe hierzu u. a. http://www.carteldamageclaims.com)?

Die Compliance Management Kompetenz

Wenn in einem Unternehmen eine Compliance bewusste Führung besteht, wenn Informationsveranstaltungen über Compliance durchgeführt und eine grundsätzliche Bereitschaft zu Compliance besteht, dann hat das Top Management bereits Investitionsmittel und Kapazitäten eingesetzt, um den Problembereich Compliance im Unternehmen zu behandeln. Im Unterschied zu einem Unternehmen, das den Problembereich Compliance ignoriert oder bagatellisiert, kann hier von einer bereits existierenden Compliance Management Kompetenz gesprochen werden. Das heißt, es sind in der Organisation bereits bestimmte Fähigkeiten vorhanden, mit Compliance Problemen umzugehen. Es gibt eine ganze Reihe von Indikatoren, an denen man feststellen und beobachten kann, ob im Unternehmen (und nicht nur in der Compliance Abteilung) Maßnahmen gesetzt werden, die zu einer Compliance Management Kompetenz führen. Zu denen gehören beispielsweise: • • • •

Das Vorhandensein von Policies, Handbüchern und Schulungsunterlagen; ein geplantes, wiederholendes Updating der Regelwerke; die gezielte Weiterbildung der Verantwortlichen und Mitarbeiter; Compliance Budgets für das Bereitstellen von Kapazitäten zur persönlichen Compliance Betreuung; • die Mitwirkung des Compliance Officers bei Strategieworkshops der Geschäftsbereiche sowie • das Erkennen des Compliance Sachverhaltes auf den verschiedenen Managementebenen, d. h. Werte und Compliance Awareness sind vorhanden; • Kapazitäten für persönliche Compliance Betreuung sind vorhanden; • persönliche Schulungen (E-Learning Tools) werden durchgeführt; • Zahl der im Unternehmen aufgetretenen Fälle < Branchen-Durchschnitt; • Integration zwischen den Schnittstellen funktioniert; • Reputation, wenn Unternehmen eine Vorreiterrolle übernimmt (best practice). Die Summe aller Maßnahmen versetzt ein Unternehmen erst in die Lage, eine höhere Compliance Management Kompetenz zu entwickeln. Diese nicht nur zu halten, sondern nach und nach weiter auszubauen, ist Ausdruck von strategischen Maßnahmen zur Verteidigung des Compliance Wettbewerbsvorteils gegenüber den Mitbewerbern. Compliance mutiert somit zu einem Teil der Gesamtstrategie und Gesamtvision eines Unternehmens. In weiterer Folge

Compliance Management aus Sicht der strategischen Unternehmensführung

135

kann mit Recht von einer Compliance Management Kompetenz im Unternehmen gesprochen werden. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass es nie darum gehen kann, eine möglichst hohe, sondern eine der Komplexität und dem kalkulierten Risiko des Unternehmens entsprechende Compliance Management Kompetenz aufzubauen. Fazit: Compliance Management erfordert Augenmaß.

5.3

Die Compliance Management Matrix

Die Logik des Positionierungsrasters baut auf dem Zusammenspiel von zwei unterschiedlichen Dimensionen auf: a) eine unternehmensexterne, die das Compliance Risiko- beziehungsweise das Bedrohungspotenzial heute und in der Zukunft ausdrückt und das im Prinzip auch von allen anderen Mitbewerbern einer spezifischen Wirtschaftsbranche gleich eingeschätzt wird, und b) eine unternehmensinterne Dimension, die die verschiedensten Maßnahmen und Erfahrungen im Umgang mit Compliance Management Problemen bis hin zur Fähigkeit umfasst, compliantes Verhalten im Unternehmen als Ergebnis einer Compliance Kultur zu entwickeln (Compliance Management Kompetenz). Wo positionieren Sie Ihr Unternehmen heute? Wo wird/muss es in Zukunft sein? hoch ComplianceRisikopotenzial

gering

gering hoch Compliance Management-Kompetenz

Abbildung 1:

Compliance Management Matrix

13

Mit der oben beschriebenen Compliance Management Matrix steht dem Top Management nun ein Instrumentarium zur IST-Positionierung zur Verfügung. Damit kann die Ausgangssituation bestimmt und der Handlungsbedarf in Sachen Compliance Management abgeleitet 13

Schertler, Lehrgangsunterlagen zu Lehrgang „Compliance Officer“ 2011, Business Circle in Zusammenarbeit mit der WU-Wien.

136

Christoph Schertler und Walter Schertler

werden. In einem nächsten Schritt ist es sinnvoll, auch die SOLL-Position festzulegen. Als Zielsetzung dient sie für die Festlegung des eigenen Compliance Management Anspruchs und der Maßstäbe der Unternehmensführung für die Zukunft. Die schwierigere Aufgabe besteht in der Folge dann in der Ableitung der alternativen Compliance Strategien, ob offensiv oder defensiv vorgegangen werden soll, und über welche alternativen Wege das Compliance Management seine Ziele erreichen kann. Unmittelbar damit muss das Top Management die dafür notwendigen Investitionsmittel und Kapazitäten freigeben, um eine konsequente Budgetierung der Aufwände für den Einsatz und den Rollout von Compliance Management Instrumenten und Compliance Maßnahmen zu ermöglichen. Davon hängt unmittelbar die Glaubwürdigkeit des Top Managements in Sachen Compliance Management gegenüber der Belegschaft und den Stakeholdern ab. Schlussendlich sind es nach den angekündigten Vorsätzen immer die konkreten Ergebnisse und Taten, an denen der Erfolg des Top Managements gemessen wird; auch bei der Entwicklung einer erfolgreichen Compliance Kultur. Was deren Kosten betrifft, gilt die oft gehörte Devise: „If you think compliance is expensive – try non-compliance.“

Literatur Grant, R. M.: Contemporary Strategy Analysis, London 2007. Grüninger, S.: Wertorientiertes Compliance Management System, in: Wieland, J./Steinmeyer, R./Grüninger, S. (Hrsg.): Handbuch Compliance-Management: Konzeptionelle Grundlagen, praktische Erfolgsfaktoren, globale Herausforderungen, Berlin 2010, S. 39–69. Hauschka, C. E.: Corporate Compliance, Handbuch der Haftungsvermeidung im Unternehmen, München 2010. Petsche A./Schertler, C.: Justiz rüstet gegen Wirtschaftskriminalität und Korruption auf, in: Compliance Praxis, (2011) 1, S. 4. Poppe, S.: Compliance, in: Görling, H./Inderst, C./Bannenberg, B. (Hrsg.): Compliance Aufbau – Management – Risikobereiche, XLV (2010), S. 1–12. Schertler, W: Lehrgangsunterlagen zu Lehrgang „Compliance Officer“, Business Circle in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsuniversität Wien (2011). Schertler, C: 10 Jahre Haft für ein „Kavaliersdelikt“?, in: Compliance Praxis, (2011) 1, S. 7. Schreyögg, G.: Prinzipal-Agent-Beziehungen in Organisationen, in: Schreyögg, G. (Hrsg.): Organisation, 4. Aufl., Wiesbaden 2003, S. 445– 448. Saitz, B.: Compliance in mittelständischen Unternehmen – Theoretische Anforderungen und pragmatische Ansätze zur Umsetzung, in: Wieland, J./Steinmeyer, R./Grüninger, S. (Hrsg.): Handbuch ComplianceManagement: Konzeptionelle Grundlagen, praktische Erfolgsfaktoren, globale Herausforderungen, Berlin 2010, S. 147–170. Wieland, J.: Werte Management und Corporate Governance, Working Paper Nr. 03/2002, Konstanz 2002. Wieland, J.: Compliance Management als Corporate Governance – konzeptionelle Grundlagen und Erfolgsfaktoren, in: Wieland, J./Steinmeyer, R./Grüninger, S. (Hrsg.): Handbuch ComplianceManagement: Konzeptionelle Grundlagen, praktische Erfolgsfaktoren, globale Herausforderungen, Berlin 2010, S. 15–69.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen der operativen Planung Sabine Urnik und Michaela Fellinger

1

Zugang und Abgrenzung

Trotz der zunehmenden wissenschaftlichen Befassung1 lässt sich der Themenbereich „SteuerControlling“ nach wie vor als Desiderat in der Controlling- als auch Steuerforschung bezeichnen. Die mangelhafte Beachtung mag damit zusammenhängen, dass das Untersuchungsfeld im Schnittstellenbereich (zumindest) des Controllings und der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre als die zwei unmittelbar betroffenen Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre angesiedelt ist. Zumal das Controlling in Betrachtung eines koordinationsorientierten Konzeptes2 funktional gesehen als ein Subsystem der Führung gesehen werden kann, „das Planung, Steuerung und Kontrolle mit der Informationsversorgung zielorientiert koordiniert“3, wird eine weitere Schnittstelle offensichtlich: jene zur Betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung. Richard Hammer erweist sich mit zahlreichen Monographien4 als ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Unternehmensführung, der die besondere Funktion des Controllings 1

2

3 4

Vgl. bspw. Herzig/Zimmermann, Steuercontrolling – Überflüssige Begriffsverbindung oder sinnvolle Innovation? (1998), S. 1141–1150; Horváth, Controlling (2008), S. 245–255; Risse, Steuercontrolling- und Reporting. Konzernsteuerquote und deren Bedeutung für das Steuermanagement (2010); Schlager, Aspekte des Steuercontrolling, in: Feldbauer-Durstmüller/Schwarz/Wimmer (Hrsg.), Handbuch Controlling und Consulting (2005), S. 613–659; Zimmermann, Steuercontrolling. Beziehungen zwischen Steuern und Controlling (1997); Haeseler, Steuer-Management und Steuer-Controlling, in: Haeseler/Hörmann, Controlling & Tax Management. Kritische Überlegungen zu Unternehmenssteuerung, Bankmanagement und Finanzmarktaufsicht, Rechnungslegung, Abschlussprüfung und Corporate Governance (2010), S. 381–402; Helml, Steuerplanung und Steuercontrolling bei Risikofinanzierung unter besonderer Berücksichtigung von Haftungsaspekten für Wirtschaftstreuhänder, in: Kofler/Polster-Grüll (Hrsg.), Private Equity und Venture Capital (2003), S. 631–683. Zur steigenden Bedeutung der Koordinationsfunktion des Controllings in der jüngeren Vergangenheit vgl. Haeseler, Steuer-Management und Steuer-Controlling, in: Haeseler/Hörmann, Controlling & Tax Management. Kritische Überlegungen zu Unternehmenssteuerung, Bankmanagement und Finanzmarktaufsicht, Rechnungslegung, Abschlussprüfung und Corporate Governance (2010), S. 383. Zur Übersicht der wesentlichen Vertreter des koordinationsorientierten Controllingansatzes siehe Barth/Barth, Controlling (2008), S. 36. Horvath, Controlling, in: Kosiol/Chiemlewicz/Schweitzer (Hrsg.), Handwörterbuch des Rechnungswesens (1993), Sp. 322. Hammer, Planung und Führung (2011); Hammer/Kaltenbrunner, Organisation – Personal & Führung – Management (2009); Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007); Hammer/Kindmann-Knapp, Grundlagen der Unternehmensführung (2000); Hammer, Strategische Planung und Frühaufklärung (1998); Hammer, Unternehmensplanung: Lehrbuch der Planung und strategischen Unternehmensführung (1998).

138

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

innerhalb des Planungsprozesses des Unternehmens auf den drei Ebenen der normativen, strategischen und operativen Führung hervorhebt. Auf Basis der Teilkomplexe Zielplanung, Potenzialplanung und Aktionsplanung wird ein „integriertes Planungssystem“ geschaffen, das als „ ,Kernstück‘ eines visionsorientierten, vernetzten, dialogischen Führungsinformationssystems“5 gesehen werden kann. Während sich die Teilkomplexe „Zielplanung“ und „Potenzialplanung“ auf normative und strategische Planungsaspekte beziehen6, beinhaltet die in diesem Beitrag fokussierte operative Planung „sämtliche planerische Überlegungen, die für die Umsetzung der Geschäftsfeld- und Businessplanungen erforderlich sind. Dazu zählen vor allem mittel- und kurzfristige Maßnahmen- und Aktionsprogramme in den funktionalen Bereichen, von deren Realisierung der Erfolg der strategischen Planung abhängt. Es ist dies eine Planung, die zum ,Handeln‘ befähigt und die gemeinsam mit den Budgets die Basis für die operative Kontrolle und damit für das Controlling – die Steuerung – des sogenannten ,Tagesgeschäftes‘ schafft.“7 Dabei ist die „Unternehmensplanung als Instrument der Unternehmensführung […] nicht frei von Grenzen.“8 Planung ist als eine Prognoseerstellung keine exakte Wissenschaft, da sich Umweltentwicklungen nicht (immer) vorhersehen lassen.9 Aus der Sicht der Funktion des Controllings wird es der Unternehmensführung nun ermöglicht, „die Unternehmung zielorientiert an Umweltveränderungen anzupassen und die dazu erforderlichen Steuerungsaufgaben wahrzunehmen“10. In Hinblick auf die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre wird ein weiterer Schnittpunkt ersichtlich: Da die meisten in einem Betrieb getroffenen Entscheidungen mit zum Teil erheblichen steuerlichen Konsequenzen verbunden sind, wird der Teildisziplin11 der „Steuerwirkungslehre“ erhebliche Bedeutung zugemessen. Dabei wird die Wirkung von Steuernormen einerseits im Kontext der konstitutiven Unternehmensentscheidungen (insbesondere Standort- und Rechtsformentscheidungen; Entscheidungen hinsichtlich möglicher Unternehmenskonzentrationen bzw. -aufspaltungen), andererseits in Bezug auf weitere bedeutsame nichtkonstitutive Entscheidungen, die sich in Bezug auf die Systematisierung der Detailpläne der operativen Planung12 bestimmen lassen (insbesondere Investitions- und Finanzierungsentscheidungen), untersucht.13 Die Berücksichtigung der Besteuerung führt in der Folge häufig zu einer Änderung in der Rangfolge von Handlungsalternativen. Werden Steuern bei

5 6 7 8 9 10 11

12 13

Hammer, Planung und Führung (2011), S. 67. Siehe hierzu ausführlich Hammer, Planung und Führung (2011), S. 67 ff. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 68. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 83. Ausführlich zu den Mängeln der Planung siehe Hammer, Planung und Führung (2011), S. 84. Horvath, Controlling, in: Kosiol/Chiemlewicz/Schweitzer (Hrsg.), Handwörterbuch des Rechnungswesens (1993), Sp. 322. Neben der Steuerwirkungslehre gelten die Steuerrechtsnormendarstellung, die Steuerplanungslehre und die normative Steuerlehre als Teilbereiche der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. Ausführlich zu den Teilbereichen und Methoden der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre siehe Djanani/Pummerer, Methodologische Grundlagen, in: Bertl/Djanani/Eberhartinger/Hirschler/Kofler/Tumpel/Urnik (Hrsg.), Handbuch der österreichischen Steuerlehre Band I, Teil 1 (2010), S. 8 ff. Siehe hierzu unten Punkt 2.1. Vgl. Haeseler, Steuer-Management und Steuer-Controlling, in: Haeseler/Hörmann, Controlling & Tax Management Kritische Überlegungen zu Unternehmenssteuerung, Bankmanagement und Finanzmarktaufsicht, Rechnungslegung, Abschlussprüfung und Corporate Governance (2010), S. 383.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

139

der Formulierung von Entscheidungsmodellen daher (völlig) ausgeklammert, führt dies zum Vorwurf der fehlenden Praxisrelevanz und der Realitätsferne der Betriebswirtschaftslehre.14 Weiters ist die Besteuerung in Bezug auf die „Betriebswirtschaftliche Steuergestaltungslehre“ – ebenfalls eine Teildisziplin der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre – gestaltungsabhängig zu sehen, was bedeutet, dass die die Steuerpflicht auslösenden Sachverhalte (innerhalb des rechtlich zulässigen Rahmens) gestaltbar sind. Der diesbezügliche laufende Prozess, bei dem die jeweiligen – insbesondere konstitutiven – Aspekte revolvierend in Bezug auf ihre steueroptimale Ausgestaltung überprüft werden, ist nicht nur wegen der Gewichtigkeit der steuerlichen Belastung der Unternehmensgewinne unerlässlich, vielmehr macht die mit der Besteuerung verbundene Ungewissheit aufgrund der Komplexität, Unbestimmtheit und Unbeständigkeit der steuerlichen Vorschriften eine entsprechende laufende Planung notwendig.15 Das Steuer-Controlling erfüllt nun das in diesem Prozess entstehende Aufgabenbündel insbesondere der Steuerplanung, der Steuerkontrolle und -verwaltung.16 In einer Organisationseinheit betrachtet17, stellt das Steuer-Controlling eine zentralisierte Koordinationsstelle dar, die für die Berücksichtigung von Steuerwirkungen in der Unternehmensplanung sorgt und eine Abstimmung dergestalt vornimmt, dass die Erreichung der Ziele des Unternehmens sichergestellt werden kann.18 Ziel dieses Beitrages ist nun, auf Grundlage einer detaillierteren Systematisierung der im Zuge der operativen Planung erstellten Detailpläne sowie einer tiefergehenden Beschäftigung mit möglichen Steuerwirkungen in einem Unternehmen die hohe Bedeutung des SteuerControllings in Bezug auf das in Österreich mit dem Budgetbegleitgesetz 201119 eingeführte (und mit dem Abgabenänderungsgesetz 201120 und dem Budgetbegleitgesetz 201221 angepasste) neue Besteuerungsregime von Kapitaleinkünften zu belegen.

2

Operative Planung im Zusammenhang mit der Besteuerung

2.1

Die Funktion des operativen Controllings

„Unternehmensführung bedeutet das Treffen von Entscheidungen unter Unsicherheit.“22 Die Qualität dieser Entscheidungen hängt wesentlich von den zur Verfügung stehenden Informationen ab. Aufgabe der Unternehmensplanung ist daher die Gewinnung, Aufbereitung und Verarbeitung aller Informationen zur bestmöglichen Realisierung der Unternehmensziele. 14 15 16 17

18 19 20 21 22

Vgl. Herzig/Zimmermann, Steuercontrolling – Überflüssige Begriffsverbindung oder sinnvolle Innovation? (1998), S. 1141–1150 unter Hinweis auf Fischer, in: Jacob, Besteuerung und Unternehmensführung (1974), S. 5. Vgl. Horváth, Controlling (2009), S. 246 f. m. w. N. Vgl. Horváth, Controlling (2009), S. 246 m. w. N. Vgl. Haeseler, Steuer-Management und Steuer-Controlling, in: Haeseler/Hörmann, Controlling & Tax Management. Kritische Überlegungen zu Unternehmenssteuerung, Bankmanagement und Finanzmarktaufsicht, Rechnungslegung, Abschlussprüfung und Corporate Governance (2010), S. 395. Vgl. Horváth, Controlling (2009), S. 254. BBG 2011, BGBl. I Nr. 111/2010. AbgÄG 2011, BGBl. I Nr. 76/2011. BBG 2012, BGBl. I Nr. 112/2011. Lechner/Egger/Schauer, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (2010), S. 88.

140

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

Dabei sollen die zur Zielerreichung möglichen Alternativen gefunden werden, aus denen der Entscheidungsträger jene Alternative auswählen wird, die ihm die bestmögliche Zielerreichung garantiert.23 Diese Entscheidungen der Unternehmensführung sind aufgrund der Vielzahl von zu berücksichtigenden Einflussfaktoren mit Unsicherheit behaftet, weshalb die Planung zwingend eine eingehende Auseinandersetzung mit zukünftigen Chancen und Risiken erfordert. Planung erhöht auch die Flexibilität des Unternehmens, indem bei Abweichungen vom durch die Planung vorgegebenen Soll frühzeitig entsprechende Anpassungsmaßnahmen gesetzt werden können.24 Der Planungsprozess beginnt mit den normativen Planungen (Entwicklung der Vision, der Mission und des Leitbildes des Unternehmens), die die Voraussetzung für die Ausarbeitung der strategischen Pläne (Business- bzw. Geschäftspläne des Gesamtunternehmens bzw. einzelner strategischer Geschäftseinheiten) bilden. Diese strategischen Pläne geben wiederum die Leitlinien für die operative Planung vor. Dafür wird die Verbindung zwischen der längerfristig angelegten Strategie und den täglich durchzuführenden Aufgaben hergestellt, indem die operativen Pläne und Budgets an die Strategie „gekoppelt“ werden.25 „Mit den operativen Planungen für die funktionalen Bereiche eines Unternehmens erfolgt dann die unmittelbare Vorbereitung für die Umsetzungs- und in der Folge auch der Kontroll- und Controllingprozesse“26, d. h. die Umsetzung und Einhaltung der Pläne wird beobachtet, die erreichten Ergebnisse analysiert und gegebenenfalls – bspw. aufgrund zu berücksichtigender neuer Entwicklungen – erforderliche Korrektur- und Steuerungsmaßnahmen eingeleitet.27 Hauptanliegen der i. d. R. kurzfristig angelegten operativen Planung ist Effizienz, wobei der Fokus abteilungs- oder tätigkeitsbezogen zu legen ist und die eher quantitativen Planungsinhalte einen hohen Detaillierungsgrad aufweisen.28 Notwendigerweise wird zur Erreichung eines entsprechenden Detaillierungsgrades der Unternehmensgesamtplan in Teil- bzw. Bereichspläne geteilt, wodurch auf Ebene der operativen Planung ein System von Teilplänen entsteht. Dabei kann grundsätzlich zwischen faktorbezogenen Plänen, die auf funktionsübergreifende Erfordernisse wie bspw. Personal- und Investitionspläne Bezug nehmen und funktionsbezogenen Plänen, die funktionsspezifische Faktoraufwendungen und -leistungen wie bspw. Absatz- und Produktionspläne berücksichtigen, unterschieden werden.29 Im Ablauf der operativen Planung liefern die funktionsbezogenen Pläne die Voraussetzung für die faktorbezogenen Pläne. Die Gliederung der funktionsbezogenen Teilpläne richtet sich 23 24 25

26

27

28 29

Vgl. Lechner/Egger/Schauer, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (2010), S. 88; Mussnig/Bleyer/Giermaier, Controlling für Führungskräfte. Analysieren, bewerten, entscheiden. (2006), S. 39. Vgl. Lechner/Egger/Schauer, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (2010), S. 89. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 75 f.; Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung Band II: Strategisches Handeln. Ziele und Rahmenbedingungen für die Funktionsbereiche, Organisation, Umsetzung, Unternehmenskultur, strategisches Controlling, Leadership (2004), S. 207 f.; Steinmann/Schreyögg, Management. Grundlagen der Unternehmensführung (2005), S. 299 ff. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 75. Siehe auch die grafische Übersicht bei Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung Band II: Strategisches Handeln. Ziele und Rahmenbedingungen für die Funktionsbereiche, Organisation, Umsetzung, Unternehmenskultur, strategisches Controlling, Leadership (2004), S. 212. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 75 f. Siehe ausführlich Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung Band II: Strategisches Handeln. Ziele und Rahmenbedingungen für die Funktionsbereiche, Organisation, Umsetzung, Unternehmenskultur, strategisches Controlling, Leadership (2004), S. 221 ff. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 185. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2011), S 188 f.; Steinmann/Schreyögg, Management. Grundlagen der Unternehmensführung (2005), S. 306 ff.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

141

nach der unternehmensspezifischen Differenzierung und spiegelt grundsätzlich den betrieblichen Leistungsprozess wider. Dadurch lassen sich aus gewissen Grundfunktionen jedenfalls operative Teilpläne i. S. d. Beschaffungs-, Produktions- und Absatzplans anführen; diese sind (u. U.) um einen (dem Leistungsprozess zeitlich vorgelagerten) Innovationsplan, der auch die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten umfasst und das gesamte Unternehmen betreffen kann30, zu ergänzen.31 Die faktorbezogene operative Planung als bereichsübergreifende Planung nimmt jedenfalls Bezug auf die Erfordernisse hinsichtlich Personal, Investition und Finanzierung bei der Umsetzung der funktionalen Pläne.32 Grafisch lassen sich diese Zusammenhänge folgend aufbereiten:

Innovationsplan

Beschaffungsplan

Produktionsplan

Absatzplan

Personalplan Investitionsplan Finanzierungsplan Abbildung 1:

2.2

Funktions- und faktorbezogene Pläne der operativen Planung

33

Der Einfluss von Steuern auf die Planung

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht stellen Steuern negative Zielbeiträge dar, die die Vorteilhaftigkeit unternehmerischer Entscheidungen beeinflussen können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Steuern in die betriebliche Planung einzubeziehen, da die Höhe der Steuerbelastung von der jeweiligen Sachverhaltsgestaltung abhängt. Zwar verursacht die Berechnung von Steuern Informationskosten, doch kann die Vernachlässigung der Steuerwirkungen im betrieblichen Entscheidungsprozess zu weitaus höhere Kosten verursachende Fehlentscheidungen führen.34 Diese Fehlentscheidungen können sich auf konstitutive Unternehmensentscheidungen, auf die Teilpläne der operativen Planung und ergänzend auf damit verbundene andere Entscheidungsebenen beziehen: 30 31 32 33 34

Vgl. Bea/Friedl/Schweitzer (Hrsg.), Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Band 3: Leistungsprozess (2006), S. 5. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 188 f.; Steinmann/Schreyögg, Management. Grundlagen der Unternehmensführung (2005), S. 307 ff. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2011), S. 204 f. Ähnlich bspw. Bea/Friedl/Schweitzer (Hrsg.), Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Band 3: Leistungsprozess (2006), S. 5. Vgl. hierzu und zur Übersicht Kraft/Kraft, Grundlagen der Unternehmensbesteuerung. Die wichtigsten Steuerarten und ihr Zusammenwirken (2009), S. 5 f.

142

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

Bedeutung der Steuern in den unternehmerischen Teilfunktionen 1.

In Bezug auf konstitutive Unternehmensentscheidungen:

2.

• Standortentscheidungen (aufgrund des internationalen Steuergefälles) • Rechtsformentscheidungen • Unternehmensnachfolge/-übernahmeentscheidungen In Bezug auf die Teilpläne der operativen Planung:

3.

• Beschaffungsentscheidungen • Produktionsentscheidungen • Absatzentscheidungen • Investitionsentscheidungen • Finanzierungsentscheidungen Weitere verbundene Entscheidungsebenen wie bspw.: • •

Ausschüttungspolitik Organisation und Ausgestaltung des betrieblichen Rechnungswesens

Abbildung 2:

35

Bedeutung der Steuern in den unternehmerischen Teilfunktionen

Unternehmen werden in Anbetracht der negativen Wirkung von Steuerzahlungen bestrebt sein, diese so weit wie möglich zu vermeiden bzw. zu minimieren. Betriebswirtschaftliche Steuerplanung ergänzt daher die betriebswirtschaftliche Planung, die durch auf die Zukunft gerichtete Entscheidungen hinsichtlich der Handlungsalternativen den betrieblichen Prozessablauf als Ganzes und in seinen Teilbereichen festlegt. Zumal die steuergesetzlichen Materien regelmäßig durch zum Teil umfangreiche Reformen verändert werden, bedarf es einer kontinuierlichen Befassung mit den steuerlichen Vorschriften und einer ständigen Rückkoppelung zur Abstimmung der Erreichung der Unternehmensziele. Überblick über die wichtigsten Steuerarten Steuern lassen sich nach verschiedensten Kriterien einordnen.36 Ausgehend vom betrieblichen Leistungsprozess erscheint eine Einteilung nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten dienlich. Neben vielen in der Literatur bereits vorgenommenen Systematisierungsansätzen37 soll hier die Aufarbeitung möglicher Steuerarten nach den Gliederungsansätzen des Bilanzbildes bzw. der Gewinn- und Verlustrechnung vorgenommen werden: 35 36

37

Abbildung in Anlehnung an Kraft/Kraft, Grundlagen der Unternehmensbesteuerung. Die wichtigsten Steuerarten und ihr Zusammenwirken (2009), S. 6. Zur Einordnung einerseits nach dem Zweck der Steuern siehe bspw. Urnik/Payerer, Grundlagen des österreichischen Steuersystems, in: Bertl/Djanani/Eberhartinger/Hirschler/Kofler/Tumpel/Urnik (Hrsg.), Handbuch der österreichischen Steuerlehre Band I Teil 1 (2010), S. 32 ff.; anderseits nach materiellrechtlichen bzw. formalrechtlichen Gesichtspunkten siehe bspw. Urnik/Payerer, Grundlagen des österreichischen Steuersystems, in: Bertl/Djanani/Eberhartinger/Hirschler/Kofler/Tumpel/Urnik (Hrsg.), Handbuch der österreichischen Steuerlehre Band I Teil 1 (2010), S. 37 ff. Vgl. bspw. Lechner/Egger/Schauer, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (2010), S. 186; Horváth, Controlling (2009), S. 249 m. w. N.; Urnik/Payerer, Grundlagen des österreichischen Steuersystems, in: Bertl/Djanani/Eberhartinger/Hirschler/Kofler/Tumpel/Urnik (Hrsg.), Handbuch der österreichischen Steuerlehre Band I Teil 1 (2010), S. 42 f.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

143



Die Besteuerung auf der Aktivseite der Bilanz ergibt sich zunächst einmalig anlässlich der Beschaffung betrieblicher Produktionsfaktoren (bspw. Grunderwerbsteuer und Normverbrauchsabgabe). Der Aktivseite sind passivseitig die Finanzierungsquellen über die Beschaffung von Eigen- und Fremdkapital zugewiesen. Die bei Aufnahme von Eigenkapital bei Kapitalgesellschaften zu entrichtende Gesellschaftsteuer wird als einmaliger Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung erfasst. • In der Gewinn- und Verlustrechnung finden sich hingegen steuerliche Aufwandspositionen im Zusammenhang mit dem laufenden Einsatz der in der Bilanz aktivierten Produktionsfaktoren (bspw. Grundsteuer, Bodenwertabgabe, KFZ-Steuer, Zölle), des Produktionsfaktors Arbeit (Lohnsteuer und Lohnnebenkosten wie insbesondere DB, DZ, Kommunalsteuer) sowie weitere mit der zur Leistungserstellung in Zusammenhang stehende erforderliche Produkte (bspw. Mineralölsteuer, Versicherungssteuer, andere Verbrauchsteuern). Zudem werden die auf der Aktivseite als Anlagevermögen ausgewiesenen Produktionsfaktoren – sofern sie als abnutzbare Wirtschaftsgüter gelten38 – entsprechend ihrem jeweiligen Nutzungsverzehr abgeschrieben, wodurch auch die damit zusammenhängenden Steuerarten (Grunderwerbsteuer hinsichtlich des Gebäudes; Normverbrauchsabgabe bei KFZ) sukzessive über den Zeitraum der Nutzung zu Aufwand werden. Darüber hinaus wird der (steuerliche) Gewinn aus der Gegenüberstellung von Aufwendungen und Erträgen der Gewinn- und Verlustrechnung der Besteuerung unterworfen (Einkommensteuer bei natürlichen Personen und Körperschaftsteuer bei juristischen Personen – dabei jeweils Kapitalertragsteuer für betriebliche Kapitalerträge; bei Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften an natürliche Personen fällt Kapitalertragsteuer an). Eine Sonderstellung nimmt die allgemeine Besteuerung der Betriebsleistung in Form der Umsatzsteuer ein, die als reiner Durchlaufposten für das Unternehmen i. d. R. keinen Kostenfaktor darstellt. Darüber hinaus sind je nach unternehmerischer Leistungserbringung weitere Steuerarten denkmöglich (bspw. Werbeabgabe). Während auf dieser ersten Ebene der Systematisierung also der Frage nachzugehen war, welche Steuerarten innerhalb der Einzelpläne dem Grunde nach eine Rolle spielen können, greift eine logisch nachfolgende Betrachtung der Höhe einzelner Steuerarten jedenfalls für den steuerrechtlichen Fokus (noch) zu kurz: Hat die gestaltende Einflussnahme auf steuerlich relevante Parameter dort anzusetzen, wo zusätzlichen Steuerbelastungen ausgewichen und damit Zahlungsüberschüsse nach Steuern maximiert werden können, muss jedenfalls auch der Fokus auf die mögliche Ausnutzung von Steuerbegünstigungen gelegt werden. Überblick über die wichtigsten Steuerbegünstigungen Einen umfangreichen Begünstigungskatalog über Steuerbefreiungen hält das Neugründungsförderungsgesetz (NeuFöG) bereit: Weil diese Begünstigungen nur bei der Gründung von neuen betrieblichen Strukturen bzw. (im Umfang eingeschränkt) auch bei Betriebsübernahmen in Anwendung gebracht werden können, sind sie zunächst für den laufenden operativen Planungsprozess ohne Relevanz. Lediglich bei konstitutiven Unternehmensentscheidungen (etwa bei Überlegungen hinsichtlich möglicher Wachstumsstrategien durch Unternehmenskäufe) können die im NeuFöG verankerten gänzlichen Befreiungen (bspw. Gesellschaft-

38

Als nicht abnutzbare Wirtschaftsgüter gelten etwa der Grund und Boden und Beteiligungen: Mögliche Wertminderungen können dabei jedoch bspw. über die Teilwertabschreibung gem. § 6 Z. 2 EStG geltend gemacht werden.

144

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

steuer) oder etwa der Freibetrag i. H. v. € 75.000,– bei der Berechnung der Grunderwerbsteuerbelastung ihre Wirkungen entfalten. Ferner ist hinsichtlich des Funktionsbereiches „Innovation“, der auch die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten umfasst, auf die im EStG verankerten Begünstigungen für bestimmte Forschungsaktivitäten hinzuweisen: Dabei kann für eigenbetriebliche Forschung und Auftragsforschung eine „Forschungsprämie“, die gleichermaßen für natürlichen Personen und Kapitalgesellschaften zusteht, in Anspruch genommen werden. Sie beträgt 10 % der prämienbegünstigten Forschungsaufwendungen (-ausgaben) und ist zu Lasten des Aufkommens der veranlagten Einkommen- oder Körperschaftsteuer zu berücksichtigen bzw. gegebenenfalls auf dem Abgabenkonto gutzuschreiben.39 Bei natürlichen Personen wird als Instrument der Investitionsförderung seit dem Veranlagungsjahr 2010 ein sog. „investitionsbedingter Gewinnfreibetrag“ gewährt. Dabei werden Investitionen in bestimmte Wirtschaftsgüter (für die nicht bereits eine Forschungsprämie in Anspruch genommen wurde) dadurch begünstigt, dass der Steuerpflichtige einen Gewinnfreibetrag geltend machen kann, wodurch sich die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer reduziert. Der investitionsbedingte Gewinnfreibetrag beträgt 13 % des € 30.000,– übersteigenden Gewinns (maximal jedoch € 100.000,–), sofern dieser Betrag durch die Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten begünstigter Wirtschaftsgüter gedeckt ist. Als begünstigt gelten Investitionen in bestimmte Wertpapiere und abnutzbare körperliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens mit einer betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer von mindestens vier Jahren, mit Ausnahme der in § 10 Abs. 4 EStG genannten (nicht begünstigten) Wirtschaftsgüter.40 Eine exakte Steuerplanung muss daher jedenfalls oben angeführte Begünstigungsmöglichkeiten in ihre betriebswirtschaftlichen Vorteilhaftigkeitsanalysen einfließen lassen. Gerade unter dem Aspekt von Steuerbegünstigungen sind Steuersysteme bewusst nicht entscheidungsneutral konzipiert, wodurch ohne Berücksichtigung ihrer Steuerwirkungen ökonomische Entscheidungen verzerrt sein könnten. Weil die steuerrechtlichen Bemessungsgrundlagen nicht unmittelbar an wirtschaftlich relevante Zielgrößen anknüpfen, wird die optimale Handlungsalternative durch die Besteuerung verstärkt beeinflusst. Ersichtlich wird dies insbesondere im Bereich der Investitionsplanung, bei der Investitionsentscheidungen auf Basis der Ermittlung eines Kapitalwerts getroffen werden, der sich bereits in seiner konzeptionellen Herleitung erheblich vom steuerrechtlichen Gewinn unterscheidet. Dies soll im nächsten Punkt genauer betrachtet werden.

39

40

Ausführlich zur steuerlichen Forschungsprämie siehe bspw. Fellinger, Steuerliche Förderung von Forschung und Bildung (2009), S. 76 ff.; Fellinger, Die Änderung der steuerlichen Forschungsbegünstigungen als Vorbild für eine Änderung in der steuerlichen Bildungsförderung? (2011), S. 213 ff.; Wala/Knoll, Neuordnung der steuerlichen Forschungsförderung ab 2011 (2011), S 293 ff. Ausführlich zum Gewinnfreibetrag gem. § 10 EStG siehe bspw. Fellinger, Steuerreform und Konjunkturpaket 2009 unter besonderer Berücksichtigung der §§ 11a und 10 EStG, in: Urnik/Fritz-Schmied (Hrsg.), Jahrbuch Bilanzsteuerrecht 09 (2009), S. 38 ff.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

2.3

145

Investitionsplanung unter Berücksichtigung von Steuern

In grundsätzlicher Betrachtung kann der Bezug zur Besteuerung auf zwei verschiedene Arten in den Unternehmensplänen Berücksichtigung finden:41 •

Steuern als Prämissen in Teilplänen: Die Wirkung der Steuern wird bei bzw. vor der Sachverhaltsgestaltung untersucht (bspw. durch die Berücksichtigung der Steuerwirkungen in Investitionsplänen). Die steuerlich orientierte Sachverhaltsgestaltung findet sowohl in ihrer Rechtmäßigkeit (unter Berücksichtigung der Gesetzesinterpretation) als auch durch unternehmenspolitische Vorgaben ihre Grenzen. • Steuern als Gegenstand eines speziellen Teilplanes: Bei der Steuerplanung im engeren Sinn wird von gegebenen Sachverhalten ausgegangen und deren optimale steuerliche Behandlung gesucht – hier spielen vor allem steuerlich eingeräumte Wahlrechte als wählbare Alternativen eine Rolle. Als wichtiges Teilgebiet der Steuerplanung im engeren Sinn ist die Steuerbilanzplanung anzusehen, deren Gegenstand die optimale Gestaltung der Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechte ist. Informationen über die Auswirkungen der (Ertrag)Steuern auf die betrieblichen Teilpläne (wie bspw. Investitionsplan, Finanzierungsplan, Produktions- und Absatzplanung) sind bei den zu treffenden Entscheidungen bspw. hinsichtlich Produktionsprogramm, Kapazität und Aktionen42 miteinzubeziehen und in den jeweiligen Planungsrechnungen zu berücksichtigen. Dabei muss die Planung der Steuerbelastung mit den anderen betrieblichen Teilplänen der verschiedenen funktionalen Planungsbereiche im Sinne einer „Querschnittsplanung“ in Zusammenhang gebracht werden. Während etwa im Zuge der Finanzplanung durch unterschiedliche steuerliche Vorschriften der Kapitalbeschaffungsvorgang gehemmt bzw. gefördert werden kann, können Steuern in Bezug auf die Produktions- und Absatzplanung in Abhängigkeit vom Kostencharakter der verschiedenen Steuerarten das Kostenniveau des Betriebes beeinflussen.43 Im Bereich der Investitionsplanung und der Beurteilung anhand von (dynamischen) Investitionsrechenverfahren im Rahmen des Kapitalwertmodells ist zunächst auszuführen, dass entscheidungsorientiert aufgezeigt werden soll, ob und in welchem Ausmaß wirtschaftlich vergleichbare Sachverhalte unter Berücksichtigung von Steuern unterschiedlich behandelt werden. Dabei ist das Ziel „maximiere das Nettoergebnis nach Steuern“ jedenfalls dann sinnvoll, wenn sich bei Einzelentscheidungen mehrere Alternativen lediglich durch ihre Steuerwirkungen unterscheiden.44 Inhaltlich sind in der Modellrechnung zwei steuerlich relevante Determinanten zu berücksichtigen:45 41 42

43 44

45

Vgl. Horváth, Controlling (2009), S. 249 ff. m. w. N. Horváth spricht in diesem Zusammenhang von der taktischen Planung: vgl. Horváth, Controlling (2009), S. 252. Die taktische Planung soll für die weiteren Betrachtungen hier auch wegen der eher kurzfristigen Ausrichtung unter die operative Planung subsumiert werden. Vgl. zu diesen beiden Punkten bspw. Horváth, Controlling (2009), S. 252 f. Vgl. Helml, Steuerplanung und Steuercontrolling bei Risikofinanzierung unter besonderer Berücksichtigung von Haftungsaspekten für Wirtschaftstreuhänder, in: Kofler/Polster-Grüll (Hrsg.), Private Equity und Venture Capital (2003), S. 641 m. w. N. Da Steuerplanung in der Zukunft liegende – oft ungewisse – Steuerwirkungen sowohl auf die Höhe der Steuerbelastung bezogen als auch den Zeitpunkt der Steuerzahlung betreffend analysiert, sind in der Steuerplanung als auch in der Steuerwirkungsanalyse vereinfachende Annahmen notwendig. Dennoch kann auch unter ver-

146

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

1.

Zum einen fallen für die (geplanten) Investitionsgewinne Steuern an: Die Gewinnbesteuerung unter Berücksichtigung von Begünstigungen knüpft dabei an die Überschüsse abzüglich der Abschreibungen an, d. h. die Höhe der Steuerlast hängt wesentlich von der Höhe der steuerlich zulässigen (planmäßigen oder außerplanmäßigen) Abschreibung ab, wobei der Investitionsbetrag eben nicht als (erste) Auszahlung in t0 zu berücksichtigen ist, sondern für Zwecke der Steuerberechnung ratierlich im Zuge der Abschreibung. 2. Zum anderen stellen Steuern (unter Berücksichtigung von Begünstigungen) im Kapitalwertmodell eine zusätzliche Auszahlung dar, die den Kapitalwert der Investition vermindert.46 In Falle von eintretenden Investitionsverlusten wird bei Verlustverrechnungsmöglichkeit mit anderen positiven Erträgen des Unternehmens eine dadurch entstehende „Steuerersparnis“ berechnet. Der Kapitalwert einer Investition ergibt sich als Summe der auf einen Zeitpunkt t0 abgezinsten Ein- und Auszahlungen, wobei bei Fremdfinanzierung bezogen auf das eingesetzte Kapital und Abzugsfähigkeit der Fremdkapitalzinsen zudem der Kapitalisierungszinssatz um den dabei auftretenden Steuerentlastungseffekt zu adaptieren ist.47 Da diese steuerlichen Modellrechnungen unter „Unsicherheit“ zu erstellen sind, ist über das Steuer-Controlling ein revolvierender Bezugsrahmen herzustellen, der Planvollziehung, Plandurchsetzung sowie Kontrolle gewährleistet: Die oben angesprochenen Unsicherheiten beziehen sich auf Steuerrechtsänderungen im Planungszeitraum, ferner auf Unsicherheiten über die wirtschaftlichen Folgen einer angekündigten Steuerrechtsänderung im Planungszeitraum sowie auf die Umwelt bei unverändertem Steuerrecht im Planungszeitraum.48 Wie im nächsten Punkt gezeigt wird, lässt sich die Notwendigkeit einer entsprechenden Überwachung der steuerrechtlichen Entwicklung von künftigen und bereits realisierten Steuergestaltungen insbesondere auf Grundlage des mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 eingeführten neuen System der Kapitalbesteuerung unter Beweis stellen.

3

Zum Beleg der Notwendigkeit des „Steuer-Controllings“ auf Ebene der operativen Planung

Die nachstehenden Überlegungen sollen nun die Notwendigkeit eines revolvierenden SteuerControllingprozesses auf Ebene der operativen Planungsentscheidungen verdeutlichen: Dabei wird das Unternehmen in der Rolle eines „Investors“ gesehen, das vor der Alternativenwahl steht (gestanden ist), einen bestimmten Geldbetrag in (längerfristiges) Finanzanlagevermögen zu investieren. Ohne umfassende Kenntnis der komplexen steuerlichen Normen, die sich mit der Behandlung von Kapitalvermögen befassen, ist es insbesondere in diesem Kontext nicht möglich, diejenige Alternative auswählen zu können, die nach Steuern für den Unternehmer als Investor den höchsten finanziellen Beitrag zu leisten im Stande ist. Für die

46 47 48

einfachenden Annahmen bspw. durch Anwendung des investitionsrechnerischen Vorteilhaftigkeitsmodells „Kapitalwert unter Berücksichtigung von Steuern“ eine realitätsnahe Ermittlung von Steuerwirkungen ermöglicht werden: vgl. auch Kraft/Kraft, Grundlagen der Unternehmensbesteuerung. Die wichtigsten Steuerarten und ihr Zusammenwirken (2009), S. 6 ff. Vgl. Horváth, Controlling (2009), S. 252. Vertiefend siehe bspw. Urnik/Schuschnig, Investitionsmanagement – Finanzmanagement – Bilanzanalyse (2007), S. 54 ff. Schneider, Grundzüge der Unternehmensbesteuerung (1996), S. 47.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

147

Beurteilung der Steuerwirkungen muss auf die Erfassung laufender Einkünfte aus diesem Investment sowie auf eine mögliche Abzugsfähigkeit laufender Betriebsausgaben fokussiert werden. Ferner müssen laufende negative Wertänderungen des Stammvermögens über eine mögliche Teilwertabschreibung berücksichtigt sowie die Besteuerung positiver Wertänderungen im Exitfall überlegt werden. Darüber hinaus könnte das Investment nach einer bestimmten Zeit auch mit einem Verlust verkauft werden, wodurch die Frage nach einer möglichen Verrechnung dieses Verlustes mit anderen positiven Einkünften erhoben werden muss. Im Exitfall spielen darüber hinaus jedenfalls Überlegungen zur konkreten Ermittlung des Veräußerungsergebnisses (Berücksichtigung von Anschaffungsnebenkosten bzw. Abzugsfähigkeit von Veräußerungskosten) eine Rolle. Mit dem Budgetbegleitgesetz 201149 wurde die Besteuerung von Kapitalvermögen mit Wirkung auch auf die von natürlichen Personen im Rahmen der betrieblichen Einkunftsarten realisierten Kapitaleinkünfte50 mit dem Ziel der Vereinfachung und Vereinheitlichung neu geregelt. Für Kapitalgesellschaften haben sich diesbezüglich jedoch keine Änderungen ergeben51, wodurch sich nachfolgende Überlegungen nur auf Einzelunternehmen bzw. Personengesellschaften als Investoren beziehen. Die Neuerungen sollen ihre Wirkungen erst ab 01.04.2012 entfalten: Es stellt sich aus der Sicht des Investors nunmehr die Frage, ob es sinnvoll ist, unter Berücksichtigung der Änderungen der Besteuerung nach dem 01.04.2012 sein Investment zu halten und sich automatisch dem neuen Besteuerungsregime zu unterwerfen oder aber die Vorteile des alten Systems über eine Veräußerung (und zeitgleiche Neuanschaffung des identen Investments) zu lukrieren. Ähnliche Überlegungen sollten auch bei einer erwarteten negativen Wertentwicklung des Investments angestellt werden. Weil der Gesetzgeber das Besteuerungsregime für Kapitalvermögen (weiterhin) nicht entscheidungsneutral ausgestaltet hat, könnte auch der Frage, ob das Unternehmen nicht innerhalb verschiedener Arten von Beteiligungen wechseln sollte, nachgegangen werden: Relevant ist diese Überlegung bspw. bei der Wahl zwischen „Beteiligungen“ des Anlagevermögens und der Hingabe von Kapital durch Begründung einer echten stillen Gesellschaft. Vor einer konkreten Hinwendung auf die Darstellung der Rechtslagenänderung im Rahmen der modellhaften Investitionsrechnung erweist es sich zunächst als zweckmäßig, die Steuerwirkungen nach dem alten und neuen Besteuerungsregime für Kapitalvermögen im Wesentlichen aufzuarbeiten.

49 50 51

BBG 2011, BGBl. I Nr. 111/2010. Vgl. Rohn, Das Besteuerungssystem der realisierten Wertänderungen von Kapitalvermögen nach dem Budgetbegleitgesetz 2011, in: Urnik/Fritz-Schmied (Hrsg.), Jahrbuch Bilanzsteuerrecht 11 (2011), S. 12. Als eine im Rahmen des Budgetbegleitgesetzes 2011 erfolgte wesentliche Änderung für Kapitalgesellschaften ist allerdings der in § 11 KStG verankerte Ausschluss der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen im Konzernverbund zu nennen, wodurch sich (neue) Vorteilhaftigkeitsberechnungen auch dort als sinnvoll herausstellen könnten.

148

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

3.1

Zum Beleg der Notwendigkeit des „Steuer-Controllings“ auf Ebene der operativen Planung auf Grund des BBG 2011

Wesentliche zu betrachtende Eckpunkte der Neuregelung52 sind der Umfang der steuerpflichtigen Einkünfte (zu unterscheiden sind hier laufende Einkünfte und Einkünfte aus realisierten Wertänderungen) und deren Ermittlung, der anzuwendende Steuersatz und die mit dem Steuerabzug unter Umständen verbundene Abgeltungswirkung sowie die Möglichkeit der Berücksichtigung von Verlusten aus Kapitalvermögen. Neuregelung auf Ebene des Steuersatzes Bisher unterlagen die aus dem im Betriebsvermögen gehaltenen Kapitalvermögen bezogenen laufenden Erträge grundsätzlich der 25 %igen Kapitalertragsteuer, womit mit deren Abzug in der Regel eine Abgeltungswirkung (Endbesteuerung) verbunden war.53 Wertänderungen des Kapitalvermögens (Stamm) waren – insbesondere hinsichtlich des anzuwendenden Steuersatzes – differenziert zu behandeln: Erfolgte die Veräußerung der betrieblichen Kapitalanlage innerhalb eines Jahres nach Anschaffung, unterlagen die realisierten Gewinne aus Spekulationsgeschäften gem. § 30 EStG dem normalen (progressiven) Einkommensteuertarif. Außerhalb dieser sogenannten Spekulationsfrist wurden Gewinne aus der Veräußerung betrieblicher Kapitalanlagen gem. § 37 Abs. 4 Z. 2 lit. a EStG stets mit dem halben Durchschnittssteuersatz besteuert.54 Zu den wichtigsten Änderungen zählt die Ausdehnung der generellen Steuerpflicht auf alle laufenden Einkünfte und auch realisierten Wertänderungen des Stammvermögens, wodurch in Zukunft folgende drei Arten von Kapitaleinkünften (die in § 27 EStG konkretisiert werden) steuerliche Relevanz besitzen: • Einkünfte aus der Überlassung von Kapital • Einkünfte aus realisierten Wertsteigerungen von Kapitalvermögen • Einkünfte aus Derivaten Mit der Neuregelung werden die Steuersatzunterschiede aufgegeben. Hinkünftig unterliegen sowohl die laufenden Kapitaleinkünfte als auch Wertänderungen des Stammes grundsätzlich55 dem besonderen Steuersatz gem. § 27a Abs. 1 EStG in Höhe von 25 %.56 Eine Abgeltungswirkung ist mit dem Steuerabzug aber nur für laufende betriebliche Kapitaleinkünfte vorgesehen; Wertänderungen des Stammes sind zwingend gem. § 97 Abs. 1 EStG in die 52

53 54

55

56

Das BBG 2011 wurde mit dem Abgabenänderungsgesetz 2011 (AbgÄG 2011, BGBl. I Nr. 76/2011) und dem Budgetbegleitgesetz 2012 (BBG 2012, BGBl. I Nr. 122/2011) zwischenzeitlich bereits in wesentlichen Punkten abgeändert. Der Steuerpflichtige konnte jedoch auf Antrag zur Veranlagung und damit zur Anwendung des progressiven Einkommensteuertarifs optieren. Ausführlich zur alten Rechtslage siehe bspw. Kofler/Kanduth-Kristen/Kofler/Aigner, Die Kapitalertragsteuer als besondere Erhebungsform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, in: Bertl/Djanani/Eberhartinger/ Hirschler/Kofler/Tumpel/Urnik (Hrsg.), Handbuch der österreichischen Steuerlehre Band I Teil 1 (2010), S. 491 ff. Siehe auch die Darstellung der bisherigen Rechtslage bei Wertpapieren des Betriebsvermögens bei Marschner, Vermögenszuwachssteuer – Neuerungen bei Wertpapieren des Betriebsvermögens (2011), S 79 f. Der echte stille Gesellschafter nimmt (weiterhin) in allen Besteuerungsfacetten eine Sonderstellung innerhalb der Kapitalvermögenseinkünfte ein: vgl. hierzu bspw. Kirchmayr/Wild, Stille Gesellschaft, in: Kirchmayr/ Mayr/Schlager (Hrsg.), Besteuerung von Kapitalvermögen (2011), S. 147 ff. Bestimmte in § 27a Abs. 2 EStG angeführte Kapitaleinkünfte unterliegen hingegen nicht dem besonderen Steuersatz in Höhe von 25 %.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

149

Veranlagung aufzunehmen, wobei die Anwendung des besonderen Steuersatzes weiterhin erhalten bleibt. Auch nach dem neuen Besteuerungsregime besteht jedoch für die Steuerpflichtigen die Möglichkeit, auf Antrag gem. § 27a Abs. 5 EStG zur Regelbesteuerung mit dem progressiven Einkommensteuertarif zu optieren. Neuregelung der Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen Neben dem oben bereits angesprochenen besonderen Steuersatz in Höhe von 25 % enthält der neu eingefügte § 27a EStG zudem Vorschriften für die Ermittlung der Einkünfte, also der Bemessungsgrundlage für die Anwendung des besonderen Steuersatzes: Diese Regelungen sind gem. § 27a Abs. 6 EStG auch auf Einkünfte aus betrieblichem Kapitalvermögen anzuwenden. Hinsichtlich der für die Ermittlung der Einkünfte aus realisierten Wertänderungen relevanten Anschaffungskosten besteht gem. § 27a Abs. 4 EStG für betriebliche Kapitalanlagen (im Unterschied zur Ermittlung privater Kapitaleinkünfte) die Möglichkeit, Anschaffungsnebenkosten zu berücksichtigen. Im betrieblichen Bereich sind ferner auch Abschreibungen des Stammvermögens auf den niedrigeren Teilwert möglich. Wie bereits nach alter Rechtslage ist gem. § 20 Abs. 2 EStG bei der Ermittlung der sonderbesteuerten Einkünfte der Abzug von laufenden Betriebsausgaben (wie bspw. Depotgebühren) oder (nur nach neuer Rechtslage) von solchen, die anlässlich der Übertragung anfallen, ausgeschlossen.57 Neuregelung zur Verrechnung von Verlusten Waren bisher Teilwertabschreibungen auf Beteiligungen und Verluste aus der Veräußerung von Beteiligungen im Betriebsvermögen voll steuerwirksam und daher uneingeschränkt ausgleichs- und vortragsfähig, ist nunmehr über § 6 Z. 2 lit. c EStG eine für den betrieblichen Bereich eigenständige und neu konzipierte Verlustverrechnungseinschränkung vorgesehen: Teilwertabschreibungen und Veräußerungsverluste im Zusammenhang mit Finanzvermögen gem. § 27 Abs. 3 und 4 EStG, die dem besonderen Steuersatz gem. § 27a Abs. 1 EStG unterliegen, sind vorrangig mit positiven Einkünften aus realisierten Wertsteigerungen von solchen Wirtschaftsgütern und Derivaten sowie mit Zuschreibungen (§ 6 Z. 13 EStG) derartiger Wirtschaftsgüter zu verrechnen. Ein verbleibender negativer Überhang darf nur zur Hälfte mit den anderen Einkünften ausgeglichen werden. Die Neuregelungen des § 6 Z. 2 lit. c EStG geben also eine bestimmte Reihenfolge für die Verrechnung von Verlusten und Teilwertabschreibungen i. Z. m. betrieblichen Kapitalanlagen vor. Dadurch soll sichergestellt werden, dass (durch die Halbierung der mit anderen Einkünften verrechenbaren Verluste) Vorteile aus einer steuersatzübergreifenden Verrechnung von Verlusten aus mit 25 % sonderbesteuerten Kapitalanlagen mit anderen, dem vollen progressiven Einkommensteuertarif unterliegenden Einkünften, unterbunden werden.58 Weil diese 57

58

Vgl. bspw. Rohn, Das Besteuerungssystem der realisierten Wertänderungen von Kapitalvermögen nach dem Budgetbegleitgesetz 2011, in: Urnik/Fritz-Schmied (Hrsg.), Jahrbuch Bilanzsteuerrecht 11 (2011), S. 28 ff.; Bergmann/Staringer, Die neue Besteuerung von Kapitaleinkünften (2011), S. 608. Urnik/Fellinger, Budgetbegleitgesetz 2011 – Auswirkungen der Neuregelung auf die Verlustverrechnung, in: Urnik/Fritz-Schmied (Hrsg.), Jahrbuch Bilanzsteuerrecht 11 (2011), S. 58; vgl. auch Jann/Koppensteiner, Vermögenszuwachssteuer – Verlustverrechnung bei betrieblich gehaltenen Kapitalanlagen (2011), S 478 f.; Mayr/ Schlager, Kapitalbesteuerung im betrieblichen Bereich, in: Kirchmayr/Mayr/Schlager (Hrsg.), Besteuerung von Kapitalvermögen (2011), S. 386 f.; Marschner, Vermögenszuwachssteuer – Neuerungen bei Wertpapieren des Betriebsvermögens (2011), S 81; Schlager, KESt neu: Ein Überblick in sieben Sätzen (2010), S. 802.

150

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

Begründung für andere Einkünfte aus Kapitalvermögen, die nicht dem besonderen Steuersatz sondern dem progressiven Tarif unterliegen, nicht gilt, sind solche voll ausgleichsfähig. Dies betrifft daher insbesondere auch Einkünfte aus einer echten stillen Beteiligung, für die die Einschränkung der Verlustverrechnung nicht anzuwenden ist: Teilwertabschreibungen und Verluste aus einer Beteiligung als stiller Gesellschafter sind daher voll mit anderen positiven Einkünften zu verrechnen. Weil im betrieblichen Bereich Verluste aus der Veräußerung oder aus Teilwertabschreibungen von „sonderbesteuerten“ Kapitalanlagen gem. § 27 Abs. 3 und 4 EStG vorrangig mit anderen betrieblich realisierten Wertsteigerungen und Zuschreibungen (§ 6 Z. 13 EStG) derartiger Kapitalanlagen zu verrechnen sind, normiert § 6 Z. 2 lit. c EStG somit einen „vorrangigen einkünftekategoriebezogenen innerbetrieblichen Verlustausgleich“59 für Verluste aus „sonderbesteuerten“ betrieblichen Kapitalanlagen gem. § 27 Abs. 3 und 4 EStG. Ein nach diesem vorrangigen innerbetrieblichen Verlustausgleich verbleibender positiver Saldo unterliegt dem besonderen Steuersatz gem. § 27a Abs. 1 EStG in Höhe von 25 %; ein verbleibender Verlustüberhang darf nur zur Hälfte mit „anderen Einkünften ausgeglichen werden.“ Daraus ergibt sich, dass der nach Halbierung verbleibende negative Überhang im Rahmen der allgemeinen Verlustverrechnungssystematik zunächst innerbetrieblich mit den anderen betrieblichen Einkünften und in weiterer Folge im Rahmen des horizontalen Verlustausgleichs (innerhalb derselben Einkunftsart) und vertikalen Verlustausgleichs (zwischen den verschiedenen Einkunftsarten) zu verrechnen ist.60 Die andere Hälfte des negativen Überhangs ist weder ausgleichs- noch vortragsfähig, kann also steuerlich nicht verwertet werden und geht somit verloren.61

3.2

Darstellung der Rechtslagenänderung im Rahmen der modellhaften Investitionsrechnung

Zunächst soll gezeigt werden, dass aus der Sicht eines Investors bei einer auf Grund eines positiven Kapitalwerts bereits durchgeführten Investition unter Berücksichtigung der Rechtslagenänderung eine Verschlechterung oder Verbesserung eintreten kann (siehe unten Tabelle 1 und 3 im Vergleich zu Tabelle 2 und 4). Maßgeblich in der Bestimmung dieser Änderung ist die Höhe der Abzugsfähigkeit der Veräußerungskosten. Ferner wird die Vorteilhaftigkeit durch die Höhe der Investition sowie des sonstigen Einkommens beeinflusst.

59

60

61

Urnik/Fellinger, Budgetbegleitgesetz 2011 – Auswirkungen der Neuregelung auf die Verlustverrechnung, in: Urnik/Fritz-Schmied (Hrsg.), Jahrbuch Bilanzsteuerrecht 11 (2011), S. 58; Grangl/Rohner (BBG 2011 – Kapitaleinkünfte im betrieblichen Bereich (2011), S. 73) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „produktbezogenen Verlustausgleich“. Vgl. Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage 1212 BlgNR. 24. GP., S. 15; Mayr/Schlager, Kapitalbesteuerung im betrieblichen Bereich, in: Kirchmayr/Mayr/Schlager (Hrsg.), Besteuerung von Kapitalvermögen (2011), S. 388; Moshammer, Zweifelsfragen zu § 6 Z 2 lit. c EStG (2011), S 716. Vgl. bspw. Dorda/Jann, Verlustverwertung und Teilwertabschreibung, in: Jann/Habersack/Rasner/ Steinbauer/Strobach (Hrsg.), Die neue Besteuerung von Kapitalvermögen, SWK-Spezial (2011), S. 58; Grangl/Rohner, BBG 2011 – Kapitaleinkünfte im betrieblichen Bereich (2011), S. 74.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

151

In einer grundsätzlichen Gegenüberstellung sind zunächst folgende Besteuerungskomponenten der alten und neuen Rechtslage zu berücksichtigen: BESTEUERUNGSKOMPONENTEN laufende Erträge

ALT 25 % KESt i. d. R. Abgeltung

laufender Betriebsausgabenabzug Wertänderungen

NEIN Veräußerung innerhalb 1 Jahres Æ volle Progression Veräußerung außerhalb 1 Jahres Æ stets ½ Durchschnittssteuersatz Veräußerungserlös abzüglich Anschaffungskosten (+ ANK) JA Verluste sind voll ausgleichsfähig (innerbetrieblicher, horizontaler und vertikaler Verlustausgleich)

Ermittlung der Einkünfte Abzug von Veräußerungskosten Verlustverrechnung

Abbildung 3:

Gegenüberstellung der Besteuerungskomponenten

NEU 25 % Sondersteuersatz gem. § 27a Abs. 1 EStG i. d. R. Abgeltung NEIN stets 25 % Sondersteuersatz gem. § 27a EStG zwingend Veranlagung Veräußerungserlös abzüglich Anschaffungskosten (+ ANK) NEIN Verluste aus Teilwertabschreibungen und der Veräußerung von Wirtschaftsgütern und Derivaten i. S. d. § 27 Abs. 3 und 4 EStG sind vorrangig mit realisierten Wertsteigerungen und Zuschreibungen zu verrechnen; ein verbleibender negativer Überhang darf nur zur Hälfte ausgeglichen werden

62

Die Abbildung zeigt, dass im Modell der Investitionsrechnung auf die Unterschiede zu fokussieren ist: diese liegen einerseits in der Abzugsfähigkeit von Veräußerungskosten sowie der Anwendung des halben Durchschnittssteuersatzes bei Veräußerung (alte Regelung); andererseits in der Nichtabzugsfähigkeit von Veräußerungskosten und der Anwendung des besonderen 25%igen Steuersatzes (neue Regelung). Vorangestellte Prämissen: • • • • • • • •

62

Betrachtungszeitraum: 5 Jahre Laufender Gewinn konstant über alle Perioden: € 100.000,– Investitionshöhe: € 100.000,– laufende Kapitaleinkünfte: konstant 6 % der Investitionshöhe Wertsteigerung der Investition: jährlich 10 % Veräußerungserlös in Höhe der wertgesteigerten Investition Veräußerungskosten: 10 % (Tabelle 1 und 2) bzw. 4 % (Tabelle 3 und 4) des jeweiligen Veräußerungserlöses Kalkulationszins nach Steuern: 4,5 %

Eigene Darstellung.

152

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

Tabelle 1:

Kapitalwert Investment alte Rechtslage bei positiver Wertentwicklung; Veräußerungskosten 10 %

Jahre

0

1

2

3

4

63

5 64

6.000

6.000

6.000

6.000

167.051

abzügl. Betriebsausgaben









– 16.105

steuerpflichtige Einkünfte

6.000

6.000

6.000

6.000

50.946

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

EZÜ vor Steuern

– 100.000

KESt

65

68

– 100.000

abzügl. KESt + ESt EZÜ nach Steuern

67

– 12.750

ESt (½ Durchschnittssteuersatz) EZÜ gesamt

66

– 100.000

69

6.000

6.000

6.000

6.000

150.946

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 14.250

4.500

4.500

4.500

4.500

136.695

Kapitalwert =

25.835,25

Nach dem alten Besteuerungsregime würde diese Investition einen Kapitalwert i. H. v. € 25.835,– erbringen. Nachdem Veräußerungen nach dem 31.03.2012 zwingend nach den neuen Regeln der Kapitalbesteuerung zu erfassen sind, würde sich in einer adaptierten Modellrechnung für die bereits getätigte Investition folgender (geringerer) Kapitalwert berechnen lassen: Tabelle 2:

Kapitalwert Investment neue Rechtslage bei positiver Wertentwicklung; Veräußerungskosten 10 %

Jahre EZÜ vor Steuern

0 – 100.000

abzügl. Betriebsausgaben steuerpflichtige Einkünfte KESt EZÜ gesamt

– 100.000

abzügl. KESt EZÜ nach Steuern Kapitalwert = 63 64

65 66

67 68 69 70

– 100.000

1 6.000 –

2

3

6.000 –

6.000 –

4 6.000 –

70

5 167.051 –

6.000

6.000

6.000

6.000

67.051

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 16.763

6.000

6.000

6.000

6.000

150.946

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 16.763

4.500

4.500

4.500

4.500

134.183

23.819,27

Eigene Darstellung. Die EZÜ vor Steuern ergeben sich als Summe aus den laufenden Kapitaleinkünften i. H. v. € 6.000,– und dem Veräußerungserlös in Höhe des jährlich um 10 % hochgerechneten Wertes der Investition am Ende des fünften Jahres (€ 161.051,–). Als Betriebsausgaben abzugsfähig sind die Veräußerungskosten i. H. v. 10 % des Veräußerungserlöses (€ 161.051,–). Die steuerpflichtigen Einkünfte setzen sich zusammen aus den laufenden Kapitaleinkünften (€ 6.000,–) und dem Veräußerungsgewinn (d. h.: Veräußerungserlös [€ 161.051,–] abzüglich Anschaffungskosten [€ 100.000,–] und Veräußerungskosten [€ 16.105,–]) i. H. v. € 44.946,–. Die laufenden Kapitaleinkünfte (€ 6.000,–) unterliegen der 25 %igen KESt. Der Veräußerungsgewinn unterliegt dem halben Durchschnittssteuersatz. Der Betrag i. H. v. € 12.750,– zeigt die durch die Besteuerung des Veräußerungsgewinnes verursachte Mehrbelastung. Die gesamten EZÜ ergeben sich aus den EZÜ vor Steuern (€ 161.051,–) unter Abzug der als Auszahlung anzusetzenden Veräußerungskosten (€ 16.105,–). Eigene Darstellung.

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

153

Durch Tabelle 3 und 4 wird nun der Einfluss der zu schätzenden Höhe möglicher Veräußerungskosten und der damit verbundenen Änderung des Kapitalwerts verdeutlicht: Tabelle 3:

Kapitalwert Investment alte Rechtslage bei positiver Wertentwicklung; Veräußerungskosten 4 %

Jahre

0

EZÜ vor Steuern

1

– 100.000

2

3

4

71

5

abzügl. Betriebsausgaben

6.000 –

6.000 –

6.000 –

6.000 –

167.051 – 6.442

steuerpflichtige Einkünfte

6.000

6.000

6.000

6.000

60.609

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500 – 15.377

KESt ESt (½ Durchschnittssteuersatz) EZÜ gesamt

– 100.000

6.000

6.000

6.000

6.000

160.609



– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 16.877

– 100.000

4.500

4.500

4.500

4.500

143.732

abzügl. KESt + ESt EZÜ nach Steuern Kapitalwert = Tabelle 4:

31.481,91

Kapitalwert Investment neue Rechtslage bei positiver Wertentwicklung; Veräußerungskosten 4 %

Jahre EZÜ vor Steuern

0 – 100.000

1

2

3

4

72

5

6.000

6.000

6.000

6.000

abzügl. Betriebsausgaben









steuerpflichtige Einkünfte

6.000

6.000

6.000

6.000

67.051

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 16.763

KESt EZÜ gesamt

– 100.000

abzügl. KESt EZÜ nach Steuern Kapitalwert =

– 100.000

167.051 –

6.000

6.000

6.000

6.000

160.609

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 16.763

4.500

4.500

4.500

4.500

143.846

31.573,41

Bei Verringerung der Veräußerungskosten von 10 % auf 4 % des Veräußerungserlöses und sonst gleichbleibenden Prämissen würde die Besteuerung nach neuer Rechtslage einen höheren Kapitalwert ausweisen (Kapitalwert aus Tabelle 4 i. H. v. € 31.573,41 vs. Kapitalwert aus Tabelle 3 i. H. v. € 31.481,91). Im Ergebnis ist im Vergleich der Kapitalwerte aus Tabelle 1 zu 2 und aus Tabelle 3 zu 4 ersichtlich, dass unter den angenommenen Prämissen die Höhe der Veräußerungskosten maßgeblichen Einfluss auf die relative Vorteilhaftigkeit der Investition von alter zu neuer Rechtslage aufweisen. Ferner könnte daraus abgeleitet auf unternehmerischer Ebene überlegt werden, ob eine Kombination zwischen alter Rechtslage und neuer Rechtslage dienlich sein könnte, um die bei entsprechend hohen Veräußerungskosten zu erwartenden Nachteile der zwingend anzuwendenden neuen Rechtslage zu mindern. Dies wäre u. U. durch eine Besteuerung der Veräußerung nach alten Regeln und einer zeitgleichen Neuanschaffung des identen Investments zu erreichen. 71 72

Eigene Darstellung. Eigene Darstellung.

154

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

Ähnliche Überlegungen gelten für negative Wertentwicklungen eines Investments: Diesfalls stellt sich die Frage, ob es aufgrund der geänderten Verlustverrechnungsmöglichkeiten für den Investor sinnvoll ist, zu erwartende Veräußerungsverluste noch nach den alten Verlustverrechnungsregeln (uneingeschränkt) zu verwerten. Gegenübergestellt ergeben sich die differenten Effekte der Steuerwirkungen auf den Kapitalwert in Tabelle 5 und 6. Abänderung der vorangestellten Prämissen: Keine laufende Wertsteigerung der Investition sondern Wertverringerung am Ende der Laufzeit auf € 70.000,–; Veräußerungskosten i. H. v. 10 % des Veräußerungserlöses. Tabelle 5:

73

Kapitalwert Investment alte Rechtslage bei negativer Wertentwicklung; Veräußerungskosten 10 %

Jahre EZÜ vor Steuern

0

1

2

3

4

– 100.000

6.000

6.000

6.000

6.000

abzügl. Betriebsausgaben



steuerpflichtige Einkünfte KESt







abzügl. KESt + Steuerersparnis EZÜ nach Steuern Kapitalwert =

73 74 75 76

77

78

74

76.000

75

– 7.000

76

6.000

6.000

6.000

6.000

6.000

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500 77

18.500

Steuerersparnis (Verlustverrechnung)

EZÜ gesamt

5

– 100.000 – – 100.000

78

6.000

6.000

6.000

6.000

69.000

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

17.000

4.500

4.500

4.500

4.500

86.000

– 14.845,34

Eigene Darstellung. Die EZÜ vor Steuern ergeben sich als Summe aus den laufenden Kapitaleinkünften i. H. v. € 6.000,– und dem Veräußerungserlös in Höhe des Wertes der Investition am Ende des fünften Jahres (€ 70.000,–). Als Betriebsausgaben abzugsfähig sind die Veräußerungskosten i. H. v. 10 % des Veräußerungserlöses. Die steuerpflichtigen Einkünfte entsprechen den der KESt unterliegenden laufenden Kapitaleinkünften (€ 6.000,–). Für den Verlust aus der Veräußerung ist in Abhängigkeit von der Verrechnungsmöglichkeit in weiterer Folge die Einkommensteuerersparnis zu berechnen (siehe nächste Fußnote). Unter der Prämisse der Verrechenbarkeit von Verlusten lässt sich für den Veräußerungsverlust (Veräußerungserlös [€ 70.000,–] abzüglich Anschaffungskosten [€ 100.000,–] und Veräußerungskosten [€ 7.000,–]) i. H. v. € 37.000,– unter Anwendung des Grenzsteuersatz von 50 % die daraus resultierende Steuerersparnis errechnen. Die gesamten EZÜ ergeben sich aus den EZÜ vor Steuern (€ 76.000,–) unter den Abzug der als Auszahlung anzusetzenden Veräußerungskosten (€ 7.000,–).

Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen Tabelle 6:

155 79

Kapitalwert Investment neue Rechtslage bei negativer Wertentwicklung; Veräußerungskosten 10 %

Jahre EZÜ vor Steuern

0

1

2

3

4

5

– 100.000

6.000

6.000

6.000

6.000

76.000









abzügl. Betriebsausgaben steuerpflichtige Einkünfte KESt Steuerersparnis (Verlustverrechnung) EZÜ gesamt

6.000

6.000

6.000

6.000

6.000

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500 7.500

– 100.000

abzügl. KESt + Steuerersparnis EZÜ nach Steuern



– 100.000

6.000

6.000

6.000

6.000

– 1.500

– 1.500

– 1.500

– 1.500

6.000

4.500

4.500

4.500

4.500

75.000

Kapitalwert =

69.000

– 23.672,31

Ähnliche Modelle würden sich auch für laufende negative Wertentwicklungen, die über Teilwertabschreibungen abzubilden wären, aufstellen lassen.

4

Zusammenfassung der Ergebnisse

„Angesichts der quantitativen Bedeutung von Steuerzahlungen handelt es sich bei der Ergänzung der betriebswirtschaftlichen Planung um die Steuerbelastung keineswegs um ein Randproblem.“80 Trotzdem fehlt in vielen Unternehmen eine längerfristige Planung der Steuerbelastung – meist erfolgt lediglich eine kurzfristige Optimierung i. S. einer kurzfristig größtmöglichen Steuerersparnis. Gründe für die kurzfristige Ausrichtung der Steuerplanung in der Praxis liegen einerseits in der Komplexität des Steuersystems und dem damit verbundenen Zeitaufwand für die Beschaffung der relevanten Informationen und andererseits in der im steuerlichen Bereich besonders großen Unsicherheit der Erwartungen, durch die sich eine Planung schwieriger gestaltet.81 Mit einer seriösen Steuerplanung ist regelmäßig auch eine Kontrollnotwendigkeit hinsichtlich Sachverhaltsgestaltung, Änderungen der relevanten Steuernormen und Auslegung der steuerlichen Vorschriften verbunden und macht eine laufende Überprüfung der getroffenen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Gültigkeit notwendig. Das Steuer-Controlling erfüllt nun das in einem ständigen Prozess entstehende Aufgabenbündel insbesondere der Steuerplanung, der Steuerkontrolle und -verwaltung, sodass eine Abstimmung dergestalt vorgenommen werden kann, dass die Erreichung der Ziele des Unternehmens sichergestellt werden. Der Beitrag belegt die Notwendigkeit des Steuer-Controllings in Bezug auf die operativen Detailpläne eines Unternehmens, indem die bestehenden und ab 01.04.2012 neu geltenden Regelungen der Besteuerung für Einkünfte aus Kapitalvermögen modellhaft erfasst und gegenübergestellt werden. 79 80 81

Eigene Darstellung. Kraft/Kraft, Grundlagen der Unternehmensbesteuerung. Die wichtigsten Steuerarten und ihr Zusammenwirken (2009), S. 5. Horváth, Controlling (2009), S. 249 f.

156

Sabine Urnik und Michaela Fellinger

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Die Rolle des Steuer-Controllings in ausgewählten Funktionsbereichen

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Die neue Dimension strategischen Denkens Christoph Schließmann

1

Einführung: Thesen und strategische Ausgangsfragen

Wir dürfen das Weltall nicht einengen, um es den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens anzupassen, wie der Mensch es bisher zu tun pflegte. Wir müssen vielmehr unser Wissen ausdehnen, so dass es das Bild des Weltalls zu fassen vermag. Francis Bacon, engl. Philosoph Immer wieder ist in der Praxis die Versuchung von Unternehmern und Managern zu beobachten, das Universum, in dem sie sich mit ihrem Unternehmen positionieren, möglichst eng zu definieren, weil dann die eigene Größe und Bedeutung eine größere zu sein scheint. Genau damit wird aber der ungeschminkte Blick auf die relevanten Chancen und Risiken versperrt, denn diese werden damit nicht anders, nur weil der Focus verstellt wird. In Henry Mintzbergs „Strategy Safari“ begegnet der Leser gleich im ersten Kapitel dem Gedicht von John Godfrey Saxe „The Blind Men And The Elefant“. Darin beschreibt der Autor, wie sich sechs Blinde einem Elefanten nähern und durch Ertasten versuchen, sich ein Bild, eine Vorstellung von dem Objekt zu verschaffen. Da jeder aber nur einen Teil des Ganzen ertastet, schafft es niemand, das gesamte Erscheinungsbild – eben den Elefanten in seiner Gesamtheit – zu erkennen.1 Ich gehe sogar weiter und behaupte, dass es für eine solche Fehldiagnose nicht mal eines Blinden bedarf, sondern es genügt, wenn jemand mit zu geringem Abstand und/oder falschem Blickwinkel auf etwas schaut und damit nicht in der Lage ist, das Ganze über die Summe seiner Einzelteile hinaus zu erfassen und so es auch nicht im relevanten Kontext zu definieren versteht. Es gibt viele Instrumente und Modelle, mit denen die strategische (Erfolgs-)Position von Unternehmen analysiert und bestimmt werden kann. Das Modell, das in den letzten 30 Jahren Literatur, Ausbildung und unternehmerische Führungspraxis am intensivsten durchzogen hat, ist das der „Competitive Strategy“ und der „Competitive Advantage“ von Michael Porter. Porter hat damals als Positionierungspionier das strategische Denken revolutioniert und den formalen Prozessen der Planungsschule mit konkreten und pragmatischen Analysen von 1

Vgl. Mintzberg, Strategy Safari (2004), S.14 ff.

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Christoph Schließmann

Branchen und Konkurrenten greifbare Resultate beschert.2 Porters Wettbewerbsanalyse baut auf fünf Kräften auf, deren grundsätzliche Bedeutung heute ebenso lebendig ist wie seine daraus abgeleiteten generischen Strategien oder seine Wertkette. Seine klar strukturierten Instrumente liefern bei richtiger Anwendung sofort nachvollziehbare Ergebnisse und überschaubare strategische Optionen. Solche fast plug-and-play-artigen Tools bergen aber – wie bei vielen anderen Instrumenten dieser Zeit so auch z. B. der BCG Matrix – die Gefahr, die notwendigen Prämissen und Annahmen hinter den Modellen zu wenig zu hinterfragen oder gar auszublenden. Schnell macht sich beim Anwender das Gefühl vermeintlicher Struktur und linearer Planbarkeit breit, auch wenn die Umgebung heutzutage immer komplexer und damit schlicht unplanbarer wird. Gerade in einer Festschrift für einen Wissenschaftler, der Zeitzeuge der Porter’schen Lehren war und sie selbst lebte und umsetzte, ist es spannend, die kritische Frage zu stellen, inwieweit die Modelle Porters noch aktuell sind bzw. wo sie Ergänzung oder Veränderung benötigen. Ist Porter bzw. insbesondere sein Positionierungs-U-Modell – wie in Abbildung 1 dargestellt – heute noch anwendbar?

Abbildung 1:

3

Porter-Kurve

Die fünf von Porter angesprochenen Marktkräfte sowie seine U-Kurven-Positionen sind nicht mehr ausreichend, um die Lebensfähigkeit von Unternehmen in der Zukunft beurteilen zu können. Diese wird durch eine Fülle weiterer bzw. anderer Parameter in einem erweiterten bzw. anderen Kontext bestimmt und erfordert eine grundlegende Revision des Porter’schen Ansatzes. 2

3

Vgl. Mintzberg, Strategy Safari (2004), S. 68 ff. u.121 ff.; siehe hierzu auch Porter, Wettbewerbsstrategie: Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten (1999); Porter, Wettbewerbsvorteile: Spitzenleistungen erreichen und behaupten (1999). In Anlehnung an Porter Wettbewerbsstrategie: Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten (1999), S. 80 ff.

Die neue Dimension strategischen Denkens

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Folgende Thesen und strategische Ausgangsfragen sind dementsprechend zu reflektieren: 1. Der Kontext des Branchenmarktes, vor dessen Hintergrund die Porter-Kurve in den 1980er Jahren plausible Erkenntnisse lieferte, ist eine heute nicht mehr ausreichende Perspektive und liefert vielfach falsche Ergebnisse. Branchen wie Porter sie definiert, gibt es heute nicht mehr. Sie lassen sich weder scharf bestimmen noch abgrenzen. Es ist wie bei dem Gedicht von Saxe, bei dem der Blinde, der lediglich das Elefantenbein ertastete und es dann vermeintlich als „Baum“ identifizierte, einfach unfähig war, das ganze Universum zu erfassen, weil sein Bezugs- und damit Bewertungskontext zu begrenzt war. Was ist der relevante Kontext, in dessen Betrachtungsrahmen Strategien für die Zukunft entwickelt werden können? 2. Zur Analyse der jeweiligen Branchenmärkte wendet Porter seine fünf Wettbewerbskräfte an. Dies half in strukturierter und verständlicher Weise die Situation in einer klar definierbaren Branche zu erfassen, reicht aber heute nicht mehr aus, um viele neue Varietäten und Strukturen – vor allem in ihrer Dynamik, Vernetzung, Komplexität und Veränderung – einzubeziehen. Wie kann das Modell Porters um heute entscheidende Parameter weiter entwickelt werden, die genau diese Herausforderungen abbilden können? 3. Porters Modell unterstellt eine relativ statische und stabile Branchen- und Marktstruktur, was seine Anwendung in dynamischen, sich laufend (durchaus volatil und nicht linear) verändernden Systemen äußerst schwierig macht. Wie kann das Modell sowohl dynamische als auch nichtlineare Entwicklungen berücksichtigen? 4. Der Gedanke, dass Unternehmen vorrangig nach Wettbewerbsvorteilen gegenüber anderen Marktteilnehmern, aber auch gegenüber Lieferanten und Kunden streben, steht im Mittelpunkt des Porter-Modells und berücksichtigt nicht spätere Erkenntnisse, wie z. B. jene der Blue Ocean Strategy4, dass in gesättigten Märkten eine Strategie gerade abseits der Wettbewerbskonfrontation vorteilhaft ist. Dazu kommt die Erkenntnis, dass Märkte nicht – wie nach Porter – endlich sind, sondern ständigen Evolutionen unterliegen und sich neu formieren, bzw. latent vorhandene, neue Segmente gebären. Aktuelle Entwicklungen der letzten ein bis zwei Jahrzehnte – insbesondere virtuelle Vernetzungen und neue Wertschöpfungsprozesse – können nicht ausreichend berücksichtigt werden. Wie können modellhaft evolutionäre Entwicklungen berücksichtigt werden? 5. Porters Modell stammt aus einer analogen Welt. Vor diesem Hintergrund definierte er Wettbewerb und Branche. In der globalen Welt des Web 2.0 geht es aber vorrangig um den Kampf der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Wettbewerber kann jeder sein, der die Aufmerksamkeit potentieller Kunden in alternativer Weise auf sich zieht und deren originäre Bedürfnisse ebenso, vielleicht völlig anders und außerhalb bestimmter traditioneller Lösungslogiken, befriedigen kann. Damit bekommt die Frage des Marktes und Wettbewerbs eine völlig andere und neue Dimension. Vor allem wird sie amöbenartig dynamisch, unpräziser, diffuser, überlappender und breiter – also komplexer – als in den vergangenen Dekaden. Wie kann die Media- und Internetwelt des Web 2.0 gedanklich zur Positionierung von Unternehmen berücksichtigt werden? All diese Überlegungen und Fragen gilt es – gegebenenfalls aufbauend auf dem Modell Porters – in den Blickwinkel einer modernen Analyse und Steuerung der Lebensfähigkeit von 4

Vgl. Kim/Mauborgne, Blue Ocean Strategy (2004), S. 173 ff.; Kim/Mauborgne, Der blaue Ozean als Strategie: Wie man neue Märkte schafft, wo es keine Konkurrenz gibt (2005), o. S.

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Christoph Schließmann

Unternehmen zu bringen. Das Denken in strategisch relevanten Märkten (SRM) anstelle von Branchenmärkten ist der zentrale Einstieg.

2

Denken in strategisch relevanten Märkten

Ein SRM geht je nach Geschäft weit über Branchengrenzen hinaus und bezieht inhaltlich wie geografisch all die Faktoren in den Betrachtungsraum ein, die im Sinne einer conditio sine qua non nicht weggedacht werden können, ohne dass entscheidende strategische Aspekte in einem toten Winkel untergingen. Dazu ein Beispiel: Ein führender Hersteller von Knochenersatzimplantaten aus Edelstahl vertreibt seine Produkte über Krankenhäuser und Fachärzte. Sie kommen vor allem bei unfallbedingten Zertrümmerungen als auch Arthrose zum Einsatz und ersetzen den natürlichen Knochen. Das Unternehmen definiert seinen Branchenmarkt als „Markt der Knochenersatzimplantate aus Edelstahl weltweit“ und behauptet, aus diesem Betrachtungskontext heraus 70 % Weltmarktanteil zu haben. Diese Betrachtungsweise mag so lange richtig sein, soweit Innovationen und Substitutionen aus dem direkten Branchenkontext erwachsen. Kommen aber hochinnovative Lösungen – wie z. B. eine disruptive Innovation5– aus einem anderen Kontext wie z. B. der Biotechnologie, der Werkstofftechnologie, der Pharmazie oder der Gentechnologie, dann kann das Unternehmen aus seiner Sicht der Welt leicht gravierende Umfeldveränderungen übersehen, weil diese nicht auf seinem Denkradar sind. Bedenkt man, dass z. B. Keramikstoffe in der Entwicklung sind, die der spezifischen Struktur eines menschlichen Knochens sehr ähneln und sogar Knochenhauttransplantate anwachsen lassen oder gen-/biotechnologische Entwicklungen bei Arthrose Gelenkprothetik überflüssig machen können, erkennt man, dass die Gefahr aus ganz anderen Bereichen als dem traditionellen Branchenumfeld kommt und der SRM eine andere Definitionsdimension braucht: Hier ist es der „Internationale Markt der Biomotorik“. Der originäre Wunsch des Patienten ist nämlich nicht die Prothetik, vielmehr möchte er schmerz- und behinderungsfrei mobil sein. Dadurch sind zur Befriedigung seines originären Bedürfnisses nur die Lösungen relevant, die diesen originären Wunsch möglichst optimal bzw. besser als die traditionelle Prothetik erfüllen können. Durch die SRM-Betrachtung wird der Kontext quantitativ und qualitativ erweitert bzw. verändert, und es entsteht ein ganz anderes Wettbewerbsfeld über bisherige Branchengrenzen hinaus. Dies betrifft auch neue Risikodimensionen. Es werden auch große Chancen dadurch eröffnet, weil nunmehr der traditionelle Branchenmarkt nicht mehr ausgeschöpft an seinem Lebenszyklusende steht, sondern sich ein weitgehend ungesättigtes Spielfeld für innovative Lösungen bietet. Dies allerdings unter ganz neuen Vorzeichen und Kernkompetenzanforderungen. Eine lediglich höchst präzise Edelstahlbearbeitung für medizinische Zwecke ist jetzt nicht mehr ausreichend, um den Wettlauf um die Zukunft zu gewinnen. Um Dynamik und Vernetzung zu berücksichtigen, muss das Ausgangsmodell Porters evolutive Entwicklungen zulassen. Solche könnten u. a. im Bereich der drei Basis-Extrempositionen A, B und C als auch beim SRM ansetzen, der sich als der individuell relevante, strategische Raum basierend auf Rentabilität (Y-Achse) und relativem Marktanteil (X-Achse) ergibt.

5

Siehe hierzu vertiefend Christensen, The Innovator’s Dilemma (2003); Govindarajan/Kopalle, Disruptiveness of Innovations, measurement and an assessment of reliability and validity (2006).

Die neue Dimension strategischen Denkens

Abbildung 2:

163

6

Evolutive Entwicklungen

Veränderungen des SRM (gepunktete Linie) führen zu einer relativ anderen Position innerhalb des SRM-Kontexts. Gesättigte „Rote Ozeane“ in den Positionen A oder B zwingen zur Differenzierung, Weiterentwicklung oder Veränderung. Dies führt zur Dynamisierung der UKurve. Der Ausweg aus einem Roten Ozean ist die Schaffung ganz neuer SRMs oder der Eintritt in andere, aber auch kreative Differenzierungen wie z. B. eine High-End-NischenSpezialisierung bei Aa oder eine Kostenführerschaft in der Nische, eventuell gestützt durch Kostenführerschaften bei B. In der Masse sind Positionen im Bereich des Spezialisten im Massengeschäft (z. B. Mass-Customization) Ba ebenso denkbar wie Globalisierungen Bb. Der entscheidende Schritt in der Weiterentwicklung des Porter-Modells liegt neben dem SRM-Blickwinkel unter Einbeziehung der Einflüsse des digitalen Marktes und seiner neuen Spielregeln in der Berücksichtigung des relevanten systemischen Umfelds (Entwicklung, Einflüsse etc.). Bei der systemischen Betrachtung wird über die Blickebene des SRM nochmals deutlich hinausgegangen. Die dabei wichtigste Ziel-Kenngröße ist die Lebensfähigkeit eines Unternehmens in seinem relevanten System jenseits seines Marktes.

3

Die Lebensfähigkeit eines Unternehmens als Ziel-Größe in Theorie und Praxis

Lebensfähigkeit ist dabei die Relation von Komplexität zum Produkt aus Agilität und Robustheit! Je höher die Komplexität und je geringer Agilität x Robustheit eines Systems, desto größer werden die Risiken für die Steuerbarkeit und Lebensfähigkeit eines Unternehmens. Betrachten wir die Begriffe näher. „Ein System ist zunächst per se immer ein System, eine Einheit vernetzter Teile. Es ist weder komplex noch nicht-komplex, sondern eben nur ein System […]. Alleine die Qualität der in einem System enthaltenen Informationen ist entscheidend: Je mehr zum Chaos neigende Informationsvielfalt die Faktoren und deren Interdependenzen eines Systems enthalten, die nicht mehr klar strukturiert werden können, je mehr neigt der Charakter eines Systems zu Komplexität.“7 Ein System ist dann komplex, 6 7

In Anlehnung an Schließmann, Strategisches Marketing (1995), S. 113. Schließmann, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010), S. 90.

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Christoph Schließmann

wenn die Informationsqualität der Interdependenzen zwischen seinen Systemparametern die Fähigkeit zu Überraschungen und zu unerwartetem Verhalten beinhalten und nicht linear logisch planbar sind. „Komplexität birgt immer Unsicherheit und schwierige Prognostizierbarkeit, die mit der Vielzahl der die Beziehung bzw. der das System beeinflussenden Variablen und deren Wirkungsvielfalt bis hin zum Chaos zunimmt. Die Vorhersehbarkeit der Verhaltensweisen von Systemfaktoren und deren Beziehungen werden mit wachsender Komplexität immer geringer. Je geringer die Möglichkeit einer klaren Bestimmung von Verhaltens-Szenarien und deren möglichen Auswirkungen ist, desto größer werden die Risiken einer Beziehung oder eines Systems. Damit stehen auch Komplexität und Risiko in engem Zusammenhang.“8 Dennoch bedeutet Komplexität nicht per se Risiko, denn auch und gerade die Komplexität bietet aufgrund der Vielfalt der Varietäten und der hohen Entropie große Chancen der Entfaltung, Neukombination und -organisation. Ohne Komplexität gäbe es keine Innovation und Evolution, denn gerade die nichtlinearen Informationen eines Systems können sich neu kombinieren und auf anderem Niveau neue Strukturen und Botschaften schaffen. Agilität ist die Fähigkeit eines Systems, flexibel, anpassungsfähig und initiativ mit Veränderungen und Unsicherheiten umzugehen. Das Konzept der Agilität stammt ursprünglich aus dem Bereich der Produktion und wird heute oft als Quelle für Wettbewerbsvorteile genannt.9 Der Ökonom Richard Pascale hat die Idee der Agilität genauer untersucht. Seiner Meinung nach liegt der Schlüssel für Agilität im Wesen der Organisation und nicht so sehr in dem, was sie tut.10 Laut Pascale gilt es, ein Unternehmen wie einen lebenden Organismus zu führen, wenn man es am Leben erhalten will. Agilität ist jedoch nicht mit Aktionismus zu verwechseln. Keineswegs sind – wie oft missverstanden – Systeme ständig im Wandel, sondern sie suchen vielmehr immer wieder einen stabilen Systemzustand gegebenenfalls auf einem anderen bzw. höheren Niveau. Speziell in einem turbulenten Umfeld erwachsen für ein Unternehmen Risiken aber auch Chancen, die es zu vermeiden bzw. zu nutzen gilt. Donald Sull hebt vor allem die Agilität als eine der wichtigsten und zentralsten Eigenschaften der Strategieentwicklung bzw. Strategieanwendung in derart volatilem Umfeld hervor.11 Donald Sull unterscheidet drei Arten von Agilität: Die strategische Agilität trifft eine Aussage darüber, inwieweit ein Projekt in der Lage ist, bedeutende, übergeordnete Chancen rasch zu identifizieren und zu realisieren. Die Portfolioagilität misst, wie schnell und effektiv zum Beispiel ein Projektprogramm Ressourcen von wenig versprechenden Projekten in Erfolg versprechende Projekte verlagern kann. Die operative Agilität ist die Fähigkeit, innerhalb eines bestehenden Projekts Chancen zur operativen Verbesserung permanent und schnell zu identifizieren und umzusetzen.12 Robustheit ist als Counterpart zur Agilität die Fähigkeit eines Systems, seine Funktion auch bei Schwankungen der Umgebungsbedingungen aufrecht zu erhalten, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Robustheit ist eine spezifische Unempfindlichkeit, Absorptionsfähigkeit oder auch Regenerationsfähigkeit gegenüber bestimmten Einflüssen, Entwicklungen und Störungen. Praktisch an einer „denkenden“ Fahrzeugstoßstange vorstellbar, die z. B. bis 8 9 10 11

12

Schließmann, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010), S. 39. Vgl. Sull, The Upside Of Turbulance (2009), S. 133 ff.; http://www.onpulson.de/lexikon/107/agilitaet. Vgl. http://www.onpulson.de/lexikon/107/agilitaet. Vgl. http://www.donsull.com. Vgl. Sull, The Upside Of Turbulance (2009), S. 137 ff.

Die neue Dimension strategischen Denkens

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5 km/h-Stöße nicht nur klaglos absorbiert, sondern sich durch intelligente Kunststoffe sogar ohne Beschädigungsspuren regeneriert. Darüber hinaus bildet sie zusammen mit der Sicherheitskarosserie ein hochgradig energieabsorbierendes System. Damit stellt die Robustheit im Sinne der Absorptionsfähigkeit eine vor allem strukturelle Kompetenz eines Systems dar, Umfeldveränderungen zu trotzen bzw. sich ihnen intelligent anzupassen. So kann hohe Liquidität Robustheit oder ein diversifiziertes Portfolio eine gegenseitige Absicherung der Geschäfte bedingen oder – wie die Krise zeigte – eine bestimmte kritische Unternehmensgröße dazu führen, dass Rettungsschirme aufgebaut werden, weil es politisch unvertretbar wäre, das Unternehmen scheitern zu lassen.13 Agilität und Robustheit stellen keine Alternativen dar, vielmehr gilt es, das „Oder“ zu einem intelligenten „Und“ zu verbinden. IBM, z. B. gelang es in den 1990ern nur durch strukturelle Reserven und Robustheit eine große Krise zu überwinden und über parallele, agile Innovationsstrategien zu gewinnen. IBM prägte ein Jahrzehnt lang den PC-Markt, nachdem es 1981 dann den ersten IBM-PC auf den Markt brachte und Standards setzte. Der Rechner war aus am Markt frei erhältlichen Standardkomponenten zusammengebaut worden und teuer, so dass IBM schnell Mitbewerber bekam. Vielfach waren die Me-Too-Produkte nicht nur besser und leistungsfähiger, sondern deutlich günstiger. Mit Arroganz und wenig Weiterentwicklung verließ sich IBM fatalerweise auf seine Marken-Pionier-Preis-Strategie und verlor in den 1990er Jahren seine Marktführerschaft an seine Mitbewerber. Als Reaktion wurde das Unternehmen seit den 1990er Jahren deutlich umstrukturiert: Der Anteil an Beratungen und Dienstleistungen wurde stark erhöht, organisatorisch zusammengefasst und zuletzt durch Zukäufe verstärkt. IBM entwickelte sich zum global integrierten Geschäfts- und Technologiepartner. Neben Hard- und Softwarelösungen wird ein breites Spektrum von Beratungsund Implementierungs- sowie Finanzierungsmöglichkeiten angeboten. 2004 entschied sich IBM mit dem Verkauf an Lenovo zum Ausstieg aus dem Geschäft mit PCs, um sich mehr auf mobilere Endgeräte zu konzentrieren. Toyota ist ein aktuelles sowie interessantes Beispiel für ein Unternehmen, dessen systemische Lebensfähigkeit 2010 ins Wanken geraten ist, weil seine Balance aus systemischer Komplexität, Agilität und Robustheit nicht mehr stimmte: Toyota lief in eine Komplexitätsfalle. Die imageschädigenden Qualitätsprobleme und Rückrufaktionen waren nur die Symptome einer Fülle von Management- und Strukturfehlern. Globalisierung, rasantes Wachstum, die Vision der Marktführerschaft im Bereich Hybrid, die Vielzahl an Produktionslinien und Fabriken, die Spannbreite der Modelle in fast allen Segmenten, sozialer Druck und Stakeholdererwartungen führten zu einer immensen Erhöhung der Komplexität. Toyota verstieß unter diesem Druck gegen den eigens auferlegten, hehren Grundsatz, niemals neue Auto-Modelle in neuen Fabriken mit neuem Personal zu bauen. Genau das taten sie aber.14 Gepaart mit einer aus der früher gewohnten Fehlerfreiheit der Produkte resultierenden Arroganz verdrängte das Management wachsende Risiken und reagierte auch bei offensichtlichen Qualitätsproblemen wenig problemlösend. Schauen wir auf das Toyota System, fokussiert auf 21 ausgewählte Steuerungsparameter. Die nachstehende System-Grafik ist das Ergebnis einer vereinfachten Basisuntersuchung im Herbst 2010 unter Anwendung ausgewählter Teile der von mir entwickelten 6-Stufen-

13 14

Vgl. Sull, The Upside Of Turbulance (2009), S. 218 ff. Vgl. http://knowledge.wharton.upenn.edu.

166

Christoph Schließmann

Methode zur Komplexitätsanalyse.15 Die Grafik zeigt in der Diagonale 21 identifizierte Systemsteuerungsparameter und deren signifikante Vernetzung, visualisiert über Verbindungslinien. Dabei ist nicht die Zahl der Vernetzungen entscheidend, sondern die Qualität der Informationen, die über die Interdependenzen ausgetauscht werden. Die in runder Form dargestellten Parameter sind „Hubs“, d. h. sie weisen den höchsten Grad an Vernetzung im System auf und sind damit sensible und schwierig zu steuernde Hebel.

Abbildung 3:

16

Vereinfachte Systemmatrix von Toyota 2010

Die meisten Interdependenzen in der Systemanalyse Toyotas weisen – so unsere Untersuchung – nichtlineare, komplexe Informationen und Verhaltensweisen auf, was das System insgesamt hochgradig komplex und linear-logische Führungsmethoden wenig effektiv macht. Mithilfe der Interdependenzanalyse17 kann die Qualität der Interaktionen zwischen bestimmten Parametern untersucht werden. Führt eine Beziehung unter simulierten Situationsalternativen immer wieder zu einem eindeutigen Informationsresultat, dann ist die Beziehung sehr 15

16 17

Vgl. Schließmann, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010), S. 97 ff. Eigene Darstellung. Vgl. Schließmann, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010), S. 88 ff. mit den Analyseinstrumenten im Detail.

Die neue Dimension strategischen Denkens

167

strukturiert und die Interdependenz weitgehend linear. Führt die Beziehung dagegen eher zu diffusen Ergebnissen mit hoch differierender Informationsvielfalt, dann dominiert Entropie. Solche Interdependenzinformationen eines Systems verursachen durch die Fähigkeit zu Überraschungen und zu unerwartetem Verhalten Komplexität. Je mehr entropielastige Beziehungen ein System aufweist, desto komplexer wird das System als Ganzes; vor allem dann, wenn Hubs betroffen sind. Je größer die Komplexität, desto sensibler und anfälliger wird grundsätzlich die Lebensfähigkeit des Systems. Je geringer die Möglichkeit einer klaren Bestimmung von Verhaltensszenarien und deren möglichen Auswirkungen ist, desto größer werden die Risiken.18

Abbildung 4:

Grafisches Auswertungsbeispiel einer simulierten Beziehung zwischen zwei Systemparametern

19

Komplexität weist ein interessantes Phänomen auf: Jedes System hat ein tolerierbares und kritisches Maximum an Komplexität. Dies ist am besten mit einem Motor zu vergleichen, der eine Dauer- und eine Maximaldrehzahl aufweist. Die Dauerdrehzahl hält er theoretisch unbegrenzt problemlos aus, die Maximaldrehzahl nur in Leistungsspitzen. Jedes Unternehmen hat – abhängig von Geschäft, Führung, Systemkompetenz, Struktur und Umfeldsituation – hier ganz spezifische Grenzbereiche, in denen es steuerbar ist. Werden diese überschritten, passiert das, was wir in der Krise in vielen Unternehmen erlebt haben. Interessant ist vor allem, dass Systeme bei Überschreiten der Grenzen wie Glas brechen, also keine Ankündigungszone mehr haben. Daher ist es wichtig, weit vor den Grenzbereichen kritische Lebensfähigkeitszonen zu definieren und zu überwachen.

18 19

Vgl. http://www.die-bank.de/service/buecher/interdependency-systeme-verstehen-dominoeffekte-vermeiden/ ?searchterm=Schließmann. Eigene Darstellung.

168

Christoph Schließmann

Abbildung 5:

Komplexitätsentwicklung eines Systems

Abbildung 6:

Komplexitätsrating eines Systems

20 21

20

21

Schließmann, Christoph, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010), S. 44. Eigene Darstellung.

Die neue Dimension strategischen Denkens

169

Das Toyota-System weist nach unseren Untersuchungen 2010 in einer Vielzahl von Beziehungen ein wenig strukturiertes Bild auf und ist mit seinem aktuellen Komplexitätsgrad von 12,67 sehr nahe an der Maximalbelastbarkeit von 14,99. Die Robustheit bzw. Adaptionsfähigkeit lag dabei noch bei 66,6 %, was erklärt, dass Toyota durchaus robust genug ist, derartige Systemkrisen abzufedern. Dennoch beeinflusst die Situation die Lebensfähigkeit in kritischer Weise. Lebensfähigkeit im System bedeutet, mit der gegebenen Situation aus Komplexität, Agilität und Robustheit vor dem Hintergrund der relevanten Entwicklungen im Umfeld SRM so umzugehen, dass die Organisation lebensfähig bleibt. Dies erfordert, insbesondere in Bezug auf die Komplexität neue strategische und strukturelle Konzepte sowie Führungskompetenzen. Hierzu einige Erkenntnisse und Thesen22: 1.

2.

3.

4.

22

Strategie ist immer eine Näherungslösung, die mit fortschreitender Zeit ohne Anpassung immer ungenauer bis falsch wird. Vermeintliche Perfektion führt in einem komplexen und lebendigen System zu keinen perfekten Ergebnissen, weil sie, wie dargelegt, nicht erreichbar ist. Unternehmen können aber lernen, mit strategischer Unsicherheit und Ungenauigkeit umzugehen und intuitiv immer besser werden. Wir müssen Abschied nehmen von einer vorwiegend rückwärtsorientierten Planung, die für Strategie gehalten wird. Viele Unternehmen sehen ihre Strategie in ihren Planungsforecasts. Das Problem hinter dieser Denkweise ist, dass wir Linearität dort sehen und annehmen, wo in Wahrheit Regelkreise existieren. Wir sehen nur das, was wir aufgrund der antrainierten Logik erwarten zu sehen. Dies begrenzt oder verhindert die Fähigkeit zum System-Denken. Wir müssen lernen, dass zur Bewältigung komplexer Interdependenzen nur eine Form der Organisation hilfreich ist und als strategische Herausforderung gilt: Netzwerke. In Business Schools wird die Standard-Norm „Structure follows Strategy“ gelehrt. In der Realität folgen Unternehmen jedoch nicht (ausschließlich) dieser Reihenfolge im Denken, Handeln und Organisieren. Überdies ist eine aktive Netzwerkorientierung innerhalb des Unternehmens und seiner Umwelt eher selten. Stattdessen bestimmen Hierarchien, starre Matrixorganisationen oder Austauschbeziehungen entlang der Beschaffungs- oder Absatzkette mit dem Markt das Standardrepertoire der Unternehmensführung und -organisation. Im Denkmodell und in der Logik einer komplexitätsorientierten Führung und Strategie sind strukturelle Bestandteile und Funktionen mit dynamischen Interaktionen zu verbinden. Die Kunst der Differenzierung und Innovation besteht hierbei darin, konkrete und komplexe Ressourcen und Beziehungen so für sich zu nutzen bzw. wenn möglich mitzugestalten, dass daraus eine einzigartige Fähigkeit im Wettbewerb entsteht, sich ein System zunutze zu machen. In einem komplexen Systemumfeld muss in Bezug auf die Geschäftsidee und deren strategischen und organisatorischen Umsetzung die Frage nach dem relevanten System ganz am Anfang stehen. Je nach Systemumfeld ergeben sich Vorgaben für die notwendigen Geschäftsmodelle, Strategien, Strukturen und Kompetenzen etc. zur lebensfähigen Ausrichtung und Steuerung eines Unternehmens. Dies bedeutet in der Abfolge: System before Business Model before Core Competence before Strategy (including Corporate Policy) before Structure & Architecture. Siehe hierzu Schließmann, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010) S. 214 ff. u. 234 ff.

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Christoph Schließmann

Abbildung 7:

Wandel der Führungsmodelle

23

5.

An der Intuition als Disziplin des Leadership in Zeiten wachsend komplexer Systeme führt kein Weg vorbei. „Intuition“ könnte, um es an dieser Stelle nur kurz zu umreißen, auch als „Siegen, ohne zu denken“ bezeichnet werden. Intuition beruht auf einem adaptiven Werkzeugkasten von Instinkten. Gerd Gigerenzer, der auf diesem Gebiet viel geforscht hat, hat sie als „Heuristiken“ oder „Faustregeln“ bezeichnet.24 In dieser Unbewusstheit des inneren Erfahrungswissens liegt die Kraft der Intuition, die auf erstaunlich wenigen Informationen beruht. Führung wird mehr und mehr eine improvisierende und experimentelle Kunst über rein analytische, entscheidende und richtunggebende Aufgaben hinaus.25 Sie muss in die künftige Weiterentwicklung der systemischen Managementlehre einfließen. Leadership muss dafür Sorge tragen, dass lernende Organisationen entstehen, die Intuition anerkennen und unbewusste Lernprozesse berücksichtigen. Dieses „Lernen zu lernen“ hängt davon ab, inwieweit Kulturen und Prozesse entwickelt werden können, die eine bewusste Reflexion unbewusster Erkenntnisse der evolvierten Intuition zulassen, und inwieweit die Ergebnisse dieser Reflexion auch anderen im Sinne einer lernenden Organisation zur Verfügung stehen. Die Integration von Vernunft und Intuition ist für mich der zentrale Schlüssel für erfolgreiches Leadership, also angemessenes Denken und Handeln in komplexen Systemen.

23

Schließmann, Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden (2010), S. 222. Gigerenzer, Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition (2008), S. 49. Siehe auch Heifetz/Grashow/Linsky, Führen in der Dauerkrise (2009), S. 69.

24 25

Die neue Dimension strategischen Denkens

4

171

Ergebnis und neues Denkmodell

Die diskutierten Aspekte und Erkenntnisse erfordern zur Positionierung und Steuerung des Erfolgs eines Unternehmens auf aktuellem Stand folgende Parameter: 1. Die Bestimmung der relevanten SRM und die relative Bedeutung bzw. Marktstellung des Unternehmens darin. Hierbei reicht auch nicht nur die quantitative Bestimmung des Marktanteils aus, sondern je nach Unternehmen und Umfeld misst sich die Bedeutung eines Unternehmens im SRM aus einem Mix aus qualitativen und quantitativen Parametern. Auch aus der Perspektive des SRM gibt es „Nischer“, Spezialisten und Global Player, die je nach Aufstellung unterschiedliche Größen und relative Bedeutung haben und unabhängig davon mehr oder wenig erfolgreich sind, je nachdem, wie es ihnen gelingt, eine starke Position zu finden und diese in Resultate umzusetzen. Gerade die Web2.0-Welt kann hier neue Spielregeln schaffen und kleinen Unternehmen in einer virtuellen Welt zu ungleich großer Präsenz verhelfen. Aus den traditionellen Wettbewerbsregeln „groß gegen klein“ und „schnell gegen langsam“ wird immer stärker Wahrnehmenspräsenz bzw. Aufmerksamkeitsstärke gegen Nichtpräsenz und Übersehenwerden. 2. Die Rentabilität kann sich nicht mehr an einem Branchen- oder Absatzmarkt orientieren, sondern am relevanten Umfeld im neuen Aufmerksamkeitswettbewerb. Möglicherweise sind hier Fachbereiche und Unternehmen der Maßstab, die gar nicht die gleichen Leistungen anbieten, aber alternativ um die Aufmerksamkeit von Kunden kämpfen und das originäre Kundenbedürfnis auf andere Weise gleich oder sogar besser befriedigen können. 3. Letztlich wichtigster Parameter für die Zukunftsfähigkeit ist die Lebensfähigkeit des Unternehmens im relevanten Systemumfeld, die sich aus der spezifischen Qualität von Agilität und Robustheit unter Einbezug des Komplexitätsgrads eines Systems bestimmt. Um diese drei Parameter-Cluster in einem Modell zu berücksichtigen, welches das Porter-UKurven-Modell evolutionär weiterentwickelt, ist eine dreidimensionale Betrachtung in einem Strategie-Würfel sinnvoll.

Abbildung 8: 26

26

Schließmann-Strategie-Würfel aufbauend auf Porter

Eigene Darstellung.

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Christoph Schließmann

Im Gegensatz zum klassischen Porter-Modell bauen X- und Y-Achse auf der Betrachtung des jeweils relevanten Bezugmarktes auf, was in der Web-2.0-Welt die Bedeutung und Wahrnehmungsqualität in relevanten Netzwerken miteinschließt. Damit haben die aus den 1980er und 1990er Jahren stammenden Markt-Branchen-Definitionen ausgedient. Als Z-Achse findet die wichtige Eigenschaft der Lebensfähigkeit, resultierend aus einem spezifischen bzw. optimalen Mix aus Agilität und Robustheit, Einzug in die Positionierungsbetrachtungen. Die bewusst in den Ampelfarben gestalteten Positionierungsextreme zeigen die unterschiedliche Risiko- bzw. Erfolgssituation eines Unternehmens und bieten eine gute Diskussions- und Simulationsgrundlage für die künftige Ausrichtung, für Wachstum, Rückzug, Sanierung oder Ausbau. Die einzelnen Positionen können grundsätzlich – wie folgt – charakterisiert werden: •









CC ist die ungünstigste Position mit schwacher SRM-Bedeutung, unterdurchschnittlicher Rentabilität sowie geringer Lebensfähigkeit. Unternehmen, die dort positioniert sind, haben meist lange einer negativen Entwicklung untätig zugesehen bzw. diese einfach nicht wahrnehmen wollen oder können. Nur selten kann aus einer solchen Position noch eine erfolgreiche Zukunft in dem relevanten Umfeld gestaltet werden, denn es fehlen die Ressourcen für eine grundlegend notwendige Veränderung. Meist ist auch die Entwicklung im SRM regelrecht verschlafen worden. Soweit es noch möglich ist, ist ein geordneter Rückzug aus dem Markt bzw. gegebenenfalls ein Neuanfang in einem anderen SRM-System-Umfeld über noch passende und nutzbare Ressourcen sinnvoll. Für CB gelten vorstehende Einschätzungen analog, wobei bei solchen Unternehmen die bessere Z-Achsen-Position meist auf einer besseren Robustheit basiert. Patente, eine größere Kriegskasse oder (vorübergehend) monopolistisch geschützte Marktbeziehungen sind Beispielscharakteristika, die einen relativ langen Atem bescheren, obwohl das Unternehmen strategisch bereits komatös ist und sich „zwischen den Stühlen“ nur auf vergangenen Resultaten ausruht. Auch hier sind meist ein Rückzug und eine Neuorientierung ratsam. CA deutet auf eine eher kurzfristige strategische Veränderung hin, die das Unternehmen in ein „Tal der Tränen“ gebracht hat. Die Fusion großer Wettbewerber zu einer neuen Marktmacht, eine neue Technologie, die andere schneller und besser darstellen konnten, sind beispielhafte Ursachen. Das Unternehmen hat aber das Potenzial, robust die Krise durchzustehen und sich agil neu zu formieren (vgl. mit dem IBM-Beispiel oben). AC und BC sind Positionen, die darauf hindeuten, dass das Unternehmen in der Vergangenheit etwas richtig gemacht hat und aktuell rentabel und umfeldrelevant stark aufgestellt ist. Latent oder bereits über erste Symptome (Eisbergprinzip) ist allerdings sichtbar, dass das Unternehmen wenig robust für Krisen und Rückschläge ist, also sich gegebenenfalls auf reine Vorwärtsstrategien konzentriert hat, und auch wenig innovative Antworten für die Zukunft hat. So positionierte Unternehmen sind je nach Verhalten und Innovations-Substitutionsangriff aus dem relevanten Umfeld rasch ein Fall für einen Absturz zu CC. Meist brauchen diese Unternehmen eine neue Antwort für die Zukunft, müssen sich regelrecht selbst neu erfinden und aufstellen, was oft nur durch Austausch eines Großteils der „verbrauchten“ Führung geht. Für AB und BB gilt Ähnliches wie bei AC/BC, jedoch sind die latenten Risiken geringer und die Chance eines Turns in Richtung Zukunftsfähigkeit auch mit der bestehenden Mannschaft durch Blickveränderung und Neuerfindung höher.

Die neue Dimension strategischen Denkens

173



Die Positionen AA und BA stellen letztlich in der Zusammenfassung aller Parameter des Modells ein Optimum an strategischer Ausgangssituation und Zukunftschance für ein Unternehmen dar. Dies sind die Ziel-Positionen nachhaltig lebensfähiger Unternehmen im Wettlauf um die Zukunft. Dennoch, hier ist kein Ausruhen angesagt, denn diese Unternehmen sind nicht nur Benchmarks, sondern vor allem die Gejagten.

Literatur Christensen, C.: The Innovator’s Dilemma, New York 2003. Gigerenzer, G.: Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, 3. Aufl., München 2008. Govindarajan, V./Kopalle, P. K.: Disruptiveness of Innovations, measurement and an assessment of reliability and validity, in: Strategic Management Journal, 27 (2006), S. 189–199. Heifetz, R./Grashow, A./Linsky, M.: Führen in der Dauerkrise, in: Harvard Business Manager, 10 (2009), S. 62–69. Kim, W. Ch./Mauborgne, R.: Der Blaue Ozean als Strategie: Wie man neue Märkte schafft, wo es keine Konkurrenz gibt, München/Wien 2005. Kim, W. Ch./Mauborgne, R.: Blue Ocean Strategy, in: Harvard Business Review, 10 (2004), S. 173–181. Mintzberg, H.: Strategy Safari, 4. Aufl., Frankfurt/Wien 2004. Porter, M.: Wettbewerbsstrategie: Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten, 10. Aufl., Frankfurt am Main/New York 1999. Porter, M.: Wettbewerbsvorteile: Spitzenleistungen erreichen und behaupten, 5. Aufl., Frankfurt am Main/New York 1999. Schließmann, Ch.: Interdependency, Systeme verstehen – Dominoeffekte vermeiden, Köln 2010. Schließmann, Ch.: Strategisches Marketing, Wiesbaden 1995. Sull, D.: The Upside Of Turbulance, New York 2009. http://www.die-bank.de/service/buecher/interdependency-systeme-verstehen-dominoeffektevermeiden/?searchterm=Schließmann [17.08.11]. http://www.onpulson.de/lexikon/107/agilitaet [14.04.11]. http://www.donsull.com [20.04.2011]. http://knowledge.wharton.upenn.edu [17.08.11].

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger1

Mein lieber Richard, über 15 Jahre hast du bereits das Oberösterreichische Rote Kreuz strategisch unter deine Fittiche genommen. Eine Zeit, in der wir mit deiner Unterstützung vieles besser strukturiert und umgesetzt haben. Wir danken dir für die tolle Kooperation und gratulieren alle herzlichst zum 65er! Erich Haneschläger im Namen des Roten Kreuz, Landesverband Oberösterreich

1

Ausgangssituation

Zahlreiche Nonprofit-Organisationen (NPO), sowohl große NPOs wie z. B. Feuerwehren, kirchliche Organisationen oder auch karitative Organisationen wie die Caritas oder das Rote Kreuz, als auch semiprofessionelle NPOs wie z. B. (mittelgroße) Sportvereine bis hin zu zivilgesellschaftlichen Basisorganisationen wie z. B. lokale und regionale Musikkapellen, betreiben eine bewusste und systematische Jugend- bzw. Nachwuchsarbeit. Mit der Jugend- bzw. Nachwuchsarbeit (JuNa-A.) werden unterschiedlichste Ziele verfolgt und somit unterschiedliche Funktionen erfüllt. Diese können beispielsweise die Verbesserung des Gemeinwesenszugangs, die Erzielung einer biografisch nachhaltigen Jugendarbeit, die Herausbildung eines Lebensweltbezugs der JuNa-A. zum sozialen Nahraum oder auch die Entwicklung von Sinnentwürfen für Jugendliche sein2. Das Vorhandensein unterschiedlicher Konzepte3 für die Jugend- und Nachwuchsarbeit in der Praxis stellt nun allein aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen sowie der jedenfalls zu 1 2

3

Unter Mitarbeit von Mag. Markus Brenner und Mag. (FH) Christine Widmann. Vgl. Brandl/Langlechner/Tänzler, Wo Jugendliche sich wirkungsvoll engagieren (2007), S. 97 ff.; Wendt, Übergang ins Gemeinwesen als Prozesswirkung selbstorganisationsfördernder Jugendarbeit (2009), S. 228 ff.; Kreher, Jugendverbände, Kompetenzentwicklung und biografische Nachhaltigkeit (2009), S. 108 ff. Unter einem Konzept werden in der vorliegenden Arbeit Handlungsanleitungen bzw. Ordnungsmuster verstanden, die sich durch einen „umsetzungsrelevanten Konkretisierungsgrad“ auszeichnen, indem diese präzisierte Angaben zu Zielen, zur strategischen Ausrichtung, zu Richtlinien und Grundsätzen – jedoch ohne Zeitangaben – enthalten (vgl. Schwarz/Purtschert/Giroud/Schauer, Das Freiburger Management-Modell für Nonprofit-Organisationen (NPO) (2005), S. 125). Primär werden Konzepte in Form von Modellen oder Bezugsrahmen etc. bewusst

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Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger

berücksichtigenden situativen Faktoren4 ein empirisches Faktum dar. Aber auch die „Theorie“ i. S. d. fachspezifischen Literatur bietet ein breites Spektrum an idealtypischen Konzepten – sei es die inhaltliche Ausrichtung oder sei es die methodische Vorgehensweise betreffend. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht nun die Analyse von Konzepten in der JuNa-A. von Nonprofit-Organisationen, wobei folgende Aspekte interessieren: •

welche materiellen (inhaltlichen) Konzeptionselemente gilt es zu berücksichtigen, insbesondere: – welche spezifischen Zielsetzungen und somit wahrzunehmenden Funktionen ergeben sich aus einer organisationsexternen Perspektive in Hinblick auf den Jugendund Nachwuchsbereich bzw. – welche zu berücksichtigenden generellen Gestaltungsempfehlungen ergeben sich daraus für die Erstellung eines Konzepts und • welche formalen Konzeptionselemente sind zu beachten, insbesondere – welche allgemeinen Grundsätze hinsichtlich des Konzeptionierungsprozesses sind zu bedenken bzw. – welche methodischen Designs können für die Konzeptentwicklung in der JuNa-A. verwendet werden. Zur Erreichung der angeführten Zielsetzungen werden zunächst ausgewählte Entwicklungstendenzen, mit denen die JuNa-A. konfrontiert ist, erläutert und somit von der JuNa-A. zu bewältigende Aufgaben skizziert. Aufbauend auf den externen Herausforderungen werden Orientierungsgrößen und Funktionen der JuNa-A. abgeleitet und somit grundlegende materielle Konzeptionsinhalte dargestellt. Schließlich findet eine Abbildung möglicher formaler Konzeptionsinhalte Eingang in die Abhandlung. Die Darstellung der angeführten Inhalte erfolgt hierbei immer sowohl aus theoretischer als auch praxisorientierter Perspektive5, nämlich der des Roten Kreuz (RK), Landesverband Oberösterreich6, wobei hinzuzufügen ist,

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5

6

geschaffen. Aber auch (tägliche) Interaktionen und Erfahrungswissen stellen bedeutende Konzeptgrundlagen dar. (Vgl. Ulrich/Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln (1995), S. 260) Dazu zählen insbesondere organisationsinterne Faktoren wie Größe, Strategie, Rechtsform, Produktprogramm etc. sowie organisationsexterne Größen wie Politik, Wirtschaftsentwicklung, Branche etc. Vergleiche hierzu: Hammer/Kaltenbrunner, Organisation, Personal & Führung, Management (2009), S. 82 ff.; Bea/Göbel, Organisation (2006), S. 104 ff; Kieser/Walgenbach, Organisation (2007), S. 408 ff. Methodisch findet im Rahmen dieser Abhandlung die Technik der Fallstudie Anwendung. Fallstudien können generell als Entscheidungsübung bzw. mit Bezug auf die Wissenschaft als Forschungsmethode mit dem Ziel der Entwicklung als auch eingeschränkt der Falsifizierung von Hypothesen umschrieben werden. Untersuchungsobjekt von Fallstudien stellen ausschnittsweise Ereignisse bzw. Gegebenheiten aus der Praxis oder Lebensumwelt dar. Als zentraler Vorzug dieser Methode kann der dadurch mögliche induktiv geprägte Entdeckungszusammenhang angeführt werden. Des Weiteren stellen die Überschaubarkeit des Untersuchungsfeldes – es findet eine Fokussierung auf eine bestimmte Entscheidungssituation statt –, der Realitätsbezug und die Wirklichkeitstreue sowie damit verbunden die Option einer realitätsnahen Problemlösung weitere Vorteile dar. Ein unklarer Gültigkeitsbereich ist hingegen als der große Nachteil der Fallstudienmethodik anzuführen. Fallstudien sind meist hinsichtlich der „Güte“ von Objektivität, Validität und Reliabilität quantitativen Untersuchungsmethoden nachzureihen. (Vgl. Heimerl, Fallstudien als forschungsstrategische Entscheidung (2009), S. 390 ff.; Heimerl/ Loisel, Lernen mit Fallstudien aus der Organisations- und Personalentwicklung: Anwendungen, Fälle und Lösungshinweise (2005), S. 38 ff.; Kosiol, Behandlung praktischer Fälle im betriebswirtschaftlichen Hochschulunterricht – Ein Berliner Versuch (1957), S. 36; Bortz/Döring, Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (2006), S. 580 ff.; Kaiser/Kaminski, Methodik des Ökonomie-Unterrichts – Grundlagen eines handlungsorientierten Lernkonzepts mit Beispielen (1999), S. 150 ff.) Das Österreichische Rote Kreuz, Landesverband Oberösterreich umfasst organisatorisch neben dem Landesverband 19 Bezirksstellen sowie 87 Dienststellen. Das Jahr 2010 kann durch folgende Daten bzw. Zahlen charakterisiert werden: Freiwillige Mitarbeiter: 17.443; Einsätze im Rettungs- und Krankentransport: 515.501;

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 177 dass die JuNa-A. sowohl in den Kompetenzbereich des Landesverbands als auch des Österreichischen Jugendrotkreuz (JRK) fällt7.

2

Entwicklungstendenzen und Spannungsfelder in der Jugendund Nachwuchsarbeit

Aufgrund soziostruktureller Veränderungsprozesse (gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer Veränderungsprozesse etc.) sind Jugendliche hinsichtlich ihrer Lebensbewältigung vor zahlreiche neue Anforderungen gestellt. Insbesondere mit der Erodisierung regulierender Bedingungen sozialer Vorgänge im Bereich Jugend und Arbeit geht ein erhöhter Orientierungsbedarf der Jugendlichen einher. So hat beispielsweise die Gewissheit über Bildungswege aufgrund der Pluralisierung der Ausbildungsformen sowie der -institutionen und der veränderten Lernformen (informelle und freizeitbezogene Konstellationen nehmen an Bedeutung zu) in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Zudem verursacht die Entgrenzung der Bildungswege und Übergänge in die Arbeitswelt u. a. aufgrund des Strukturwandels und der Pluralisierung der Arbeits(zeit-)formen Verunsicherung bei den Jugendlichen.8 Mit den Modifikationen im soziostrukturellen Bereich geht nun eine Auflösung des gesellschaftlichen Kernverständnisses der JuNa-A. einher bzw. ist ein Bedeutungsrückgang der JuNa-A. als soziales, kulturelles und demokratisches außerschulisches Lern- und Erfahrungsfeld für Heranwachsende zu konstatieren. Die JuNa-A. stellt gegenwärtig oftmals nur mehr eine Nische im Freizeitsystem dar bzw. wird diese teilweise als „Ort“ für soziale Rand- bzw. Problemgruppen instrumentalisiert und füllt somit im Gesellschaftssystem keinen „eigenen Platz“ mehr aus.9 Zudem lässt die allgemein immer restriktiver werdende (öffentliche) Finanz- bzw. Ressourcensituation die JuNa-A. nicht unberührt; eine generelle Ökonomisierung der Denk- und Handlungsmuster in bzw. betreffend der JuNa-A, welche sich insbesondere in einem verstärkten Nachweisdruck hinsichtlich der Leistungen bzw. Wirkungen der Organisation gegenüber den (öffentlichen) Ressourcengeber manifestiert, ist die Folge. Damit einhergehend, dass oftmals Aufgaben bzw. zu bewältigende Probleme in erster Linie aus Effizienzgesichtspunkten (Output) und nicht aus Effektivitätsüberlegungen (Outcome) betrachtet werden.10 Hinzuzufügen ist, dass die verstärkt vorgenommenen Mess-Intentionen – unabhängig davon, ob nun der Output i. S. v. Leistungen oder der Outcome i. S. v. Wirkungen bzw. Zielerreichungsgraden gemessen wird – zur Folge haben, dass die JuNa-A. per se nicht mehr als

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8 9 10

Betreute Klienten im Gesundheits- und Sozialdienst: 19.697 und Anzahl der Teilnehmer an Erste Hilfe-Kursen: 28.443 (vgl. http://www.roteskreuz.at/nocache/ooe/news/aktuelles/news/datum/2011/06/08/bilanz-dermenschlichkeit-2010-jahresbericht-des/; http://www.roteskreuz.at/ooe/organisation/bezirksstellen/). Vgl. http://www.roteskreuz.at/ooe/organisation/; http://www.roteskreuz.at/jugend/oesterrichisches-jugendrotkreuz/. Weiterführende Erläuterungen zur Konstitution der Jugendarbeit auf Ebene des Roten Kreuz, Landesverband Oberösterreich finden sich in den Richtlinien für Aufbau, Struktur und Arbeit der Rotkreuz-Jugendgruppen an den Bezirks und Ortstellen: unter: http://www.jugendrotkreuz.at/fileadmin/ls-hamn/JugendgruppenRichtlinien.pdf. Vgl. Kreher, Jugendverbände, Kompetenzentwicklung und biografische Nachhaltigkeit (2009), S. 108 ff. Vgl. Hafeneger, Zur gegenwärtigen Situation der Kinder- und Jugendarbeit – ein Kommentar zur aktuellen Datenlage (2009), S. 42. Vgl. Lindner, Kinder- und Jugendarbeit. Aber: wie und wo und warum genau? (2009), S. 9. ff.

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Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger

demokratiepolitisch bzw. biografisch essentiell und somit als förderungswürdig betrachtet wird, sondern einem spezifischen Erwartungskalkül Rechnung zu tragen hat11. Neben den generellen die Gesellschaft bzw. die wirtschaftliche Situation betreffenden Entwicklungstendenzen können überdies folgende organisationsinterne Spannungsfelder angeführt werden. So kann die JuNa-A. grundsätzlich als zu wenig subjektorientiert charakterisiert werden. Sie ist tendenziell zu stark an den Interessen der Träger als an denen der Jugendlichen ausgerichtet. Auch kann eine zu geringe Selbstbeobachtungsfähigkeit, welche jedoch die Basis für Wandlungs- bzw. Veränderungsprozesse darstellt, als zu bewältigendes Problemfeld angeführt werden. Zudem stehen NPOs vor der Herausforderung einer adäquaten Zielgruppendefinition. Das Spektrum erstreckt sich hierbei von einer beinahe „grenzenlosen“ Offenheit – die NPO ist für alle Zielgruppen offen – bis hin zu einem (zu) begrenzten Zielgruppenumfang – die NPO spricht nur bestimmte Gruppen von Jugendlichen an. Damit verbunden ist auch die Notwendigkeit einer Balance zwischen einem offenen bzw. breiten Angebot und einem auf Partikularinteressen basierenden Angebotsspektrum. Mit der Zielgruppendefinition in Zusammenhang steht auch die Entscheidung, ob schwerpunktmäßig eher intensive Einzelarbeit oder eine auf einer breiten Basis angelegte, offene Arbeit gewählt wird bzw. die Entscheidung, ob der Bildungsanspruch der JuNa-A. mehr auf bereits im Voraus definierte, geplante Lernfelder oder einem zwanglosen bzw. unverbindlichen Zusammenkommen basiert. Weiters gilt es auch, zeitgemäße Partizipationsmöglichkeiten (Mitgestalten, Mitsprechen, Mitbestimmen etc.) der Kinder bzw. Jugendlichen zu bestimmen. Schließlich findet im Vergleich zu den anderen NPO-Leistungsbereichen „branchenweit“ generell eine nur marginale Darstellung des spezifischen Potenzials der JuNa-A. in der jeweiligen NPO statt.12 Dies wiederum erschwert für die Kinder- und Jugendlichen ihre Beitrittsentscheidung zur Organisation. Oftmals führt diese unklare Positionierung schließlich dazu, dass sie sich keiner Organisation anschließen. Aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades sowie der hohen Imagewerte des Roten Kreuz ist aus akquisitorischer Sicht in Relation zu vielen anderen NPOs eine Ansprache von Kindern und Jugendlichen nur mit überschaubaren Schwierigkeiten verbunden. Eine deutlichere Positionierung des außerschulischen JRK-Bereiches erscheint nichtsdestotrotz als sehr erstrebenswert. Vor große Herausforderungen stellt das Rote Kreuz hierbei aber genau die angesprochene zeitgemäße sowie zielgruppenspezifische Gestaltung des Leistungsangebots, welche die Basis für eine längerfristige Bindung der Kinder und Jugendlichen darstellt. Hierbei gilt es, zukünftig insbesondere projektbezogene Angebote zu schaffen und darauf zu achten, im Rahmen der Leistungen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Spaß, Unterhaltung und der Erfüllung von Werten und Zielen der Organisation zu erreichen. Um diese „Entwicklung“ zu fördern, müssten auch entsprechende Fortbildungsmöglichkeiten nur für Jugendliche geschaffen werden, die zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht im gewünschten Ausmaß existieren.

11 12

Vgl. Hafeneger, Zur gegenwärtigen Situation der Kinder- und Jugendarbeit – ein Kommentar zur aktuellen Datenlage (2009), S. 48. Vgl. Klöver/Moser/Straus, Was bewirken (Jugend-)Freizeitstätten? – ein empirisches Praxisprojekt (2009), S. 145 ff.; Nörber, Praxisentwicklung und Konzeptarbeit in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit (2007), S. 172 u. 174 ff.

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 179 Zusammenfassend kann nun ein Paradigmenwechsel in der JuNa-A. konstatiert werden, der sich mit einem aus gesellschaftlicher bzw. öffentlicher Perspektive gesunkenen Bedeutungsgehalt der JuNa-A. umschreiben lässt. Dieser manifestiert sich wiederum in einem Rückzug der öffentlichen Verantwortung bzw. in dem damit verbundenen kontinuierlichem Abbau finanzieller Förderung und einem zeitgleichen ökonomischen Legitimationsdruck der JuNaA. hinsichtlich deren Nutzen. Zudem ist das Leistungsspektrum der JuNa-A. gegenwärtig von einer tendenziell schwachen Anerkennung der Gesellschaft geprägt.13 Zweifelsohne gilt es, folglich die bestehenden Ausrichtungen (Ziele) der JuNa-A. zu überdenken, gegebenenfalls zu verändern und auch dementsprechend der Öffentlichkeit zu kommunizieren, um sich somit (wieder) eine breite Legitimationsbasis zu schaffen. Folgende Optionen scheinen hierzu zur Verfügung zu stehen: Die JuNa-A. könnte sich verstärkt als Medium für Integrations- und Vergemeinschaftungsprozesse, die nicht von anderen Gesellungsorten durchgeführt bzw. übernommen werden können, positionieren. Auch bestünde die Möglichkeit, dass sich die JuNa-A. aufgrund ihrer Angebotsstruktur, welche vielfältige informelle und halbformelle Bildungspotenziale (Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten) umfasst, über das Feld der Bildung definiert. Schließlich könnte die JuNa-A. auch verstärkt ihr Potenzial in der Vermittlung bzw. Unterstützung der Jugendlichen in der Lebensbewältigung bzw. ganz generell in der (Lebens-)orientierung fokussieren.14 Die gegenwärtige Konzeption der JuNa-A. im Roten Kreuz trägt diesen Umständen grundsätzlich Rechnung. Im Zentrum der JuNa-A. steht die Philosophie der Wertevermittlung, darauf basierend unternimmt das Jugendrotkreuz den Versuch, die Jugendlichen bei der Lebensbewältigung zu unterstützen. Der Umgang mit Gewalt, Stress, Leistungsdruck, Sucht, Integration und Fragen der Sozialisation stehen neben der Vermittlung von Basisqualifikationen wie z. B. der Leseerziehung im Mittelpunkt der Bemühungen. Dies soll letztlich auch die Basis für ein aus innerem Antrieb resultierendes freiwilliges bzw. ehrenamtliches Engagement im Erwachsenenalter darstellen. Gemäß den erfolgten Ausführungen stehen „theoretisch“ für die JuNa-A. folgende Herausforderungen bzw. Funktionen zur Bewältigung an: • • •

Bildungsfunktion Orientierungsfunktion Integrationsfunktion.

Welche inhaltliche Füllung i. S. v. zu berücksichtigenden Aspekten die jeweiligen Funktionsbereiche potenziell aufweisen, wird nun im Rahmen der nachfolgenden Kapitel diskutiert. Zudem werden allgemeine Grundsätze hinsichtlich des Konzeptionierungsprozesses umrissen als auch auf unterschiedliche Konzeptionsdesigns sowohl aus theoretischer als auch praktischer Hinsicht eingegangen.

13 14

Vgl. Hafeneger, Zur gegenwärtigen Situation der Kinder- und Jugendarbeit – ein Kommentar zur aktuellen Datenlage (2009), S. 44. Vgl. Hafeneger, Zur gegenwärtigen Situation der Kinder- und Jugendarbeit – ein Kommentar zur aktuellen Datenlage (2009), S. 41 f.; Thole, Verkannt und unterschätzt – aber dringend gebraucht. Zur Perspektive der Kinder- und Jugendarbeit als pädagogischem Handlungsfeld (2009), S. 325 zit. n. Liebel, M.: Überlegungen zum Praxisverständnis antikapitalistischer Jugendarbeit, in: Deutsche Jugend, 19 (1971) 1, S. 13–16, o. S.

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Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger

Materielle Konzeptionsinhalte in der JuNa-A.

In der nachfolgenden Abbildung sind nun überblicksmäßig die zu erfüllenden Orientierungsgrößen der JuNa-A. sowie die dafür erforderlichen Gestaltungsprinzipien visualisiert.

Biografisch nachhaltige Kompetenzentwicklung ORIENTIERUNGSPRINZIPIEN

(Lebens-)orientierung

Gemeinwesenszugang/-integration

GESTALTUNGS-

GESTALTUNGS-

GESTALTUNGS-

PRINZIP 1

PRINZIP 2

PRINZIP 3

Subjekt- und Lebensweltorientierung

Gemeinschaftserleben

Selbstbestimmungs- und -organisationsprozesse

Abbildung 1

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Organisationsexterne Orientierungsgrößen und Gestaltungsempfehlungen

Wie den vorausgegangenen Schilderungen implizit zu entnehmen war, wird im vorliegenden Beitrag die Ansicht vertreten, dass die zentralen von der JuNa-A. zu erfüllenden Funktionen, die Bildungs-, die Orientierungs- und die Integrationsfunktion, darstellen. Als Orientierungsgrößen liegen diesen Funktionen (in derselben Reihenfolge) eine biografisch nachhaltige Kompetenzentwicklung, die Vermittlung von (Lebens-)orientierung und die Gestaltung des Gemeinwesenszugangs wie -integration zugrunde16. •

„Bildungsfunktion“ bedeutet, dass eine biografisch nachhaltige Kompetenzentwicklung, wobei unter Kompetenzen eine „Kombination aus Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen“17 zu verstehen sind, als zentraler Orientierungsgrundsatz in den Mittelpunkt der konzeptionellen Überlegungen der JuNa-A. gerückt wird. Hierbei gilt es, die Betrachtungsweise der JuNa-A. als Lebens- und Bildungsorte zu intensivieren und vor allem ihren Vorzug als Setting zur Persönlichkeits- und Selbstbewusstseinsbildung auf-

15

Eigene Darstellung. Vgl. Wendt, Übergang ins Gemeinwesen als Prozesswirkung selbstorganisationsfördernder Jugendarbeit (2009), S. 228 f.; Kreher, Jugendverbände, Kompetenzentwicklung und biografische Nachhaltigkeit (2009), S. 108 ff. Vgl. http://www.jugendpolitikineuropa.de/downloads/4-20-2205/schluesselkomlebensllernen.pdf. Im Gegensatz zur Begrifflichkeit „Qualifikation“, unter der sämtliche Fähigkeiten subsumiert werden, die zur Bewältigung spezifischer Anforderungen insbesondere beruflicher Natur erforderlich sind, stellt der Kompetenzbegriff vielmehr auf das gesamte Handlungsvermögen der Person ab und ist somit viel umfassender bzw. ganzheitlicher. Neben inhaltlichem bzw. fachlichem Wissen und Können werden davon auch überfachliche Fähigkeiten, sogenannte Methodenkompetenzen und Sozialkompetenzen, erfasst. (Vgl. Arnold/Nolda/Nuissl, Wörterbuch der Erwachsenenpädagogik (2001), S. 176.)

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Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 181





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grund des ihnen immanenten breiten Spektrums an formellen und informellen Lernarrangements zu betonen. Wie Raschke es formuliert, geht es hierbei für die JuNa-A. um das Entdecken bzw. die Identifikation des eigenen Kompetenz- bzw. Bildungsprofils im „Horizont der Bildungsbiographie junger Menschen“18. Praktisch bedeutet dies, dass sich NPOs weg von Qualifikationserwerb und -verbesserung hin zur Kompetenzentwicklung ausrichten sollen, wobei die Entwicklung von Kompetenzen zu fokussieren ist, die für die Bewältigung von An- und Herausforderungen des Lebens wie der Arbeitswelt von zentraler Bedeutung sind. Zu nennen sind in diesem Konnex insbesondere Übergangsphasen im Leben wie z. B. die nachschulische Phase und der Eintritt in das Erwerbsleben19 oder kritische Lebenssituationen (z. B. häusliche Widrigkeiten). Kurzum, es gilt, die bis dato eher als Nebenprodukt positionierte „Bildungsarbeit“ der JuNa-A. zu einem Hauptprodukt i. S. e. Unique Selling Proposition zu erheben.20 In den Statuten bzw. Richtlinien des JRK ist klar und eindeutig auch ein Bildungsauftrag erkennbar, den es allerdings in konkretere bzw. zeitgemäßere Angebote bzw. Leistungen zu operationalisieren bedarf. Orientierungsfunktion zielt auf den Beitrag der JuNa-A. ab, Kindern und Jugendlichen Hilfestellung in der (Lebens-)Orientierung zu bieten bzw. diese in der Konfrontation mit den bestehenden Orientierungssystemen zu unterstützen, welche als „nach innen (auf Bewusstsein, Einstellungen, kognitive Fähigkeiten etc.) und nach außen (gesellschaftliche bzw. soziale Lebenszusammenhänge in Familie, Schule, Freizeit etc.) gerichtete Konglomerate von Werten und Einstellungen“21 definiert werden können. Hinzuweisen ist, dass es sich hierbei gegenwärtig allerdings weniger um die Entwicklung von Sinnentwürfen handelt, sondern vielmehr das Verständnis sowie das Gestalten des sozialen Nahraumes im Mittelpunkt stehen22. Dementsprechend von Bedeutung ist, den Blick auf das übergeordnete große Ganze nicht vernachlässigend, eine Verbindung zwischen den Jugendlichen und dem lokalen Setting zu generieren. bzw. darauf zu achten, dass das lokale Setting überschaubar bleibt, weil nur so dessen Anerkennung von den Jugendlichen wahrgenommen werden kann.23 Die Verbindung zum sozialen bzw. geografischen Nahraum erweist sich in der JuNa-A. des Roten Kreuz aufgrund der Organisationsstruktur – insbesondere der Existenz von Bezirks- bzw. Ortstellen – als gegeben. Integrationsfunktion hat die Ermöglichung, Entwicklung sowie ständige Verbesserung von Optionen des Gemeinwesenszugangs und -integration zum Inhalt. Der Gemeinwesenszugang bzw. die Gemeinwesensintegration, die als kollektive Mitwirkung an politi-

Vgl. Raschke, (Keine) Eindeutigkeit jugendpastoraler Zeitansagen? Aktueller Bewährungshorizont für den Grundsatz kirchlicher Jugendarbeit (2007), S. 12. Hinzuzufügen ist, dass Hilfestellungen hinsichtlich des Übergangs in Arbeit insbesondere von zentraler Bedeutung sind, als die soziale Integration sowie die biografische Integrität wesentlich von der erwerbswirtschaftlichen Integration beeinflusst bzw. determiniert werden (vgl. Kreher, Jugendverbände, Kompetenzentwicklung und biografische Nachhaltigkeit (2009), S. 110). Vgl. Kreher, Jugendverbände, Kompetenzentwicklung und biografische Nachhaltigkeit (2009), S. 119. Nörber, Praxisentwicklung und Konzeptarbeit in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit (2007), S. 170. Vgl. Nörber, Praxisentwicklung und Konzeptarbeit in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit (2007), S. 170. Nörber (2007, S.170 f.) weist in diesem Konnex ergänzend hin, dass das Vorhandensein einer gewissen (Lebens-) Orientierung insofern von zentraler Bedeutung ist, als diese wiederum die Grundlage für die partizipative Teilhabe sowohl in NPOs als auch in der Gesellschaft darstellt. Vgl. Wendt, Übergang ins Gemeinwesen als Prozesswirkung selbstorganisationsfördernder Jugendarbeit (2009), S. 228 f.

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schen bzw. gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen umschrieben werden kann, bieten dem Individuum wiederum die Möglichkeit, seine Konflikt-, Aushandlungs- und Mobilisierungsfähigkeiten und Kommunikationskompetenzen zu erweitern.24 Als Fundament bzw. Schlüsseltechnik für die Integration in das Gemeinwesen sind v. a. Selbstorganisationsprozesse in der JuNa-A. anzuführen. Um diese Funktionen zur Realisation zu führen, erscheint jedenfalls die Berücksichtigung folgender Gestaltungsprinzipien essentiell: •



24 25

26

27

28

Gestaltungsprinzip 1 – Subjekt- und Lebensweltbezug:25 Wie bereits implizit erwähnt worden ist, stellt eine Subjektorientierung – also eine Orientierung des Konzepts an den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen und weniger an denen der Träger, die Basis für eine nachhaltige Kompetenzentwicklung dar. Die Erzielung einer umfassenden und nachhaltigen Entwicklung des Subjekts, welche die Aneignung von Wissen, die Entfaltung von individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten (u. a. Reflexionsvermögen) sowie die Stärkung des Selbstgefühls bzw. des Selbstbewusstseins umfassen, setzt wiederum Offenheit gegenüber den subjektiven Lebenserfahrungen, der biografischen Verläufe bzw. der Lebenszusammenhänge i. S. v. selbstgewählten Themen des individuellen Sozialraums bzw. der subjektiven Lebenswelt der Jugendlichen voraus. Dementsprechend heißt Subjektorientierung auch Lebensweltbezug (Unterstützung in Lebensfragen und -themen). Um subjektorientierte Themen identifizieren und im Rahmen der JuNa-A. bearbeiten zu können, muss eine gewisse Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Jugendlichen gewährleistet sein, i. d. S. als Möglichkeiten einer selbsttätigen Aneignung und Entwicklung zu schaffen sind. Zudem sollen die von der JuNa-A. angebotenen Leistungen Anregendes, Kreatives, Spontanes und Soziales beinhalten, was wiederum zum Experimentieren und Ausprobieren anregt, genauso aber auch zum Austragen von Konflikten verwendet werden kann.26 So stellen Jugendliche nicht länger „nur“ Adressaten der angebotenen Leistungen, sondern auch gleichzeitig Produzenten bzw. Hauptakteure der JuNa.-A. dar. Sie lernen, sich selbst als Akteure des Geschehens wahrzunehmen und können so ihr (altersgemäßes) Potenzial, selbstbestimmt und couragiert zu handeln, entdecken bzw. erleben.27 Gestaltungsprinzip 2 – Gemeinschaftserleben:28 Die Wahrnehmung bzw. das Erleben von Gemeinschaft und viel weniger das thematische Programm der JuNa-A. stellen eine zentrale Voraussetzung für Gruppenbildung dar. Gemeinschaft dient der VertrauensbilWendt, Übergang ins Gemeinwesen als Prozesswirkung selbstorganisationsfördernder Jugendarbeit (2009), S. 228 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Corsa, Sichtweisen junger Menschen zur Kinder- und Jugendarbeit (2009), S. 99 ff.; Brede, Realität von Konzeptionen der Jugendarbeit in Schleswig-Holstein: Eine Studie zur Umsetzung fachlicher Ansprüche der Konzeptentwicklung (2007), S. 16 ff. Vgl. Brede, Realität von Konzeptionen der Jugendarbeit in Schleswig-Holstein: Eine Studie zur Umsetzung fachlicher Ansprüche der Konzeptentwicklung (2007), S. 16 ff. Siehe hierzu ausführlich: Bimschas, B./ Schröder, A.: Beziehungen in der Jugendarbeit, Untersuchungen zum reflektierten Handeln in Profession und Ehrenamt, Opladen (2003); Deinet, U./Kirsch, U.: Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit. Methoden und Bausteine der Konzeptentwicklung und Qualifizierung, Opladen (2002). Vgl. Cloos/Köngeter, „… uns war mal langweilig, da ham wir das JUZ entdeckt.“ Empirische Befunde zum Zugang von Jugendlichen zur Jugendarbeit … (2009), S. 93 ff.; Corsa, Sichtweisen junger Menschen zur Kinder- und Jugendarbeit (2009), S. 99 ff.; Müller/Schulz, Von der Beobachtung zur Handlung – und umgekehrt: „Wahrnehmen können“ als konzeptioneller Sockel im Alltag der Kinder- und Jugendarbeit (2007), S. 101. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Corsa, Sichtweisen junger Menschen zur Kinder- und Jugendarbeit (2009), S. 101 ff.

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 183 dung, dem Erleben von Verlässlichkeit wie Zusammengehörigkeit und dem Finden bzw. Schließen von Freundschaften. An den Beginn von Gruppenbildungsprozessen soll dementsprechend die Identifikation von (gemeinsamen) jugendlichen Wirklichkeiten und Interessen stehen und die Gestaltung der Inhalte, Aktivitäten, der Gruppenkultur und -kommunikation so weit wie möglich der Gruppe von Jugendlichen selbst und nicht dem Gruppenleiter übertragen werden, da ansonsten Aneignungs- und Lernprozesse eingeschränkt werden und somit die Gruppenentwicklung beschnitten wird. Die Funktion des Gruppenleiters ist allerdings von zentraler Bedeutung, als er in einer moderierenden Art und Weise diese Fähigkeiten zum „Anleiten“ mitbringen soll. Gegenwärtig erscheinen insbesondere unverbindliche bzw. diskontinuierliche Formen der Gruppenarbeit (Eventund Kurzzeitprojekte) mit tendenziell offenem Teilnehmerkreis und weniger die „klassischen“, konventionellen Formen der Gruppenarbeit mit regelmäßigen, zeitlich und inhaltlich determinierten Treffen und festem Teilnehmerkreis den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen zu entsprechen. • Gestaltungsprinzip 3 – Selbstbestimmung und -organisation:29 Um Selbstorganisationsprozesse zu etablieren, gilt es, wiederum folgende Bedingungen bzw. Voraussetzungen sicherzustellen:30 – Keine rein fremdbestimmten Zielsetzungen, sondern Integration der Interessen bzw. der Betroffenheit der Jugendlichen; – Balance zwischen Herausforderung und Erreichbarkeit in der Zielsetzung; – Betrachtung der Zielfindung als Prozess zur Entwicklung einer Kollektividentität; – Einsatz von Jugendleitern als Selbstorganisationsprozesse unterstützende Navigatoren, die Möglichkeiten für Selbstlern- und Fremdlernprozesse schaffen; – performativ hergestellte und sensorisch erfahrbare Orte, die unterschiedliche Formen des „Sich-in-Szene-Setzens“ sowie passive Beobachtung erlauben bzw. ermöglichen; – Orte, die die Koexistenz bzw. den Wechsel von dezentrierter und zentrierter Interaktion, von Mitmachen und Rückzug, Aktion und Ruhe zu schaffen vermögen; – Orte, die eine doppelte Bühne sind, wo die Jugendlichen selbst das Publikum darstellen, aber auch von der Öffentlichkeit beobachtet bzw. beeinflusst werden. In diesem Zusammenhang sei auf das mit der Erfüllung dieser Gestaltungsprinzipien verbundene hohe Anforderungs- bzw. Kompetenzniveau (fachlich, methodisch, sozial-emotional) des Gruppenleiters hingewiesen, v. a. insofern als Gruppenleiter überwiegend ehrenamtliche Mitarbeiter darstellen (zeitliche Restriktionen) und als Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Gruppenleiter mangels fehlender Ressourcen nur limitiert vorhanden sind. Für den Erfolg einer entsprechenden Gestaltung der JuNa-A. ist aus Praxissicht in erster Linie eine rechtzeitige und v. a. auch demokratische Einbindung aller vom Gestaltungsprozess betroffener Personen unabdingbar, da dadurch eine Basis für ein dementsprechendes Commitment geschaffen werden kann. Denn nur so kann gewährleistet werden, dass die 29

30

Vgl. hierzu und zum Folgenden: Wendt, Übergang ins Gemeinwesen als Prozesswirkung selbstorganisationsfördernder Jugendarbeit (2009), S. 228 f. Für Ausführungen hinsichtlich selbststeuernder Beziehungen siehe Kaltenbrunner, Integriertes Freiwilligenmanagement in großen, fremdleistungsorientierten Nonprofit-Organisationen (2010), S. 156 ff. Vgl. Thole, Verkannt und unterschätzt – aber dringend gebraucht. Zur Perspektive der Kinder- und Jugendarbeit als pädagogischem Handlungsfeld (2009), S. 327.

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Ziele bzw. Bestrebungen von allen mitgetragen bzw. gelebt werden. Dies ist in traditionell gewachsenen Verbänden mit großen Herausforderungen verbunden, weil damit ein Kulturwandel einhergeht.

4

Formale Konzeptionsinhalte

4.1

Allgemeine Grundsätze hinsichtlich des Konzeptionsprozesses

Als allgemeine im Rahmen des Konzeptionierungsprozesses zu berücksichtigende Aspekte können folgende angeführt werden:31 1. Rechtliche Grundlagen 2. Zielformulierung und -operationalisierung: – Zur Qualitätssicherung sind neben der Deskription der Ziele eine sprachliche Begründung sowie eine Reflexion der Ziele unbedingt erforderlich. – Die Reflexion sowie die Erfolgsmessung setzen wiederum eine Operationalisierung der Ziele voraus. 3. Die Partizipation der Beteiligten ist im Konzeptionierungsprozess sicherzustellen. Folglich sind eine geeignete Methodik (methodische Zugänge) für Kinder und Jugendliche zu entwickeln bzw. die Beziehungsarbeit i. S. v. interpersonalen Prozessen in der Konzeption zu berücksichtigen. 4. Optionen zur Reflexion der Konzeption sind zu schaffen. Konventionelle Handlungsmuster, Erfahrungswissen und wissenschaftliche Theorien sollen verknüpft, gegebenenfalls auch situativ modifiziert werden können. Ad 1) Aus Praxissicht des Roten Kreuz sind diesbezüglich folgende Anmerkungen zu treffen: Das rechtliche Korsett, in welchem sich das Rote Kreuz bewegt, kann als relativ komplex beurteilt werden. Dies lässt sich insbesondere sowohl auf die Breite als auch Tiefe der vom Roten Kreuz angebotenen Dienstleistungen zurückführen. Neben den generell gültigen Rechtsnormen (ABGB, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Strafrecht, kollektivvertragliche Bestimmungen etc.), die einzelne Unternehmensfunktionen betreffen, gibt es noch eine Vielzahl an rechtlichen Normen (Rettungsgesetz, Krankenpflegegesetz, Blutsicherheitsgesetz etc.), die die Dienstleistungssparten im Speziellen betreffen. Dieser rechtliche Rahmen wird durch verbandsinterne Richtlinien „ergänzt“. Hierzu zählen Satzung, Geschäftsordnung, Dienstbetriebsordnungen und auch Durchführungsvorschriften für die einzelnen Dienstleistungsbereiche. Unter all diesen findet sich auch eine Geschäftsordnung für den Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, wobei hinzuzufügen ist, dass die aktuellen internen Richtlinien nicht unbedingt als entwicklungs- bzw. innovationsfördernd bewertet werden können. Ad 3) Die Konzeptziele bzw. -inhalte in der JuNa-A. werden im RK demokratisch bzw. partizipativ erarbeitet, wobei Unparteilichkeit und Menschlichkeit wesentliche Grundsätze darstellen. 31

Vgl. Brede, Realität von Konzeptionen der Jugendarbeit in Schleswig-Holstein: Eine Studie zur Umsetzung fachlicher Ansprüche der Konzeptentwicklung (2007), S. 13 ff. Siehe hierzu ausführlich: Bimschas, B./ Schröder, A.: Beziehungen in der Jugendarbeit, Untersuchungen zum reflektierten Handeln in Profession und Ehrenamt, Opladen (2003) sowie Deinet, U./Kirsch, U.: Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit. Methoden und Bausteine zur Konzeptentwicklung und Qualifizierung, Opladen (2002).

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 185 Ad 4) Die Reflexionssicherstellung in der JuNa-A. weist im Gegensatz zu den anderen Bereichen sicherlich noch die größten Lücken auf. Unter Reflexion wird im RK im besten Fall Dokumentation verstanden. Wissensmanagement findet nicht statt. Für einen systematischen wie kontinuierlichen Gedanken- bzw. Erfahrungsaustausch, Mediation, Selbstreflexion, Wissensverknüpfung oder Supervision fehlen Ressourcen (zeitlich, räumlich). Auch mangelt es an Ausbildungsmöglichkeiten, der Bereitschaft bzw. dem Bewusstsein über die Bedeutung der Reflexion. Erste Ansätze, dem Reflexionsbedarf zu entsprechen, sind die Installierung von Ansprechpersonen an Schulen und Ortsstellen, Peers, angeleitete Facebookgruppen oder Reflexionstreffen zum Erfahrungs- und Gedankenaustausch. Nach der Abbildung potenzieller materieller Konzeptionsinhalte und einer überblicksmäßigen Darstellung allgemeiner formaler Grundsätze wird nun im nachstehenden Abschnitt auf den Konzeptionsprozess bzw. insbesondere die diesbezüglichen Techniken näher eingegangen.

4.2

Konzeptionsdesigns

Zunächst ist von den verantwortlichen Führungskräften festzulegen, ob im Rahmen der Entwicklung eines Konzepts zur JuNa-A. ein deduktives oder ein induktives Design gewählt werden soll. Formal-deduktives Konzeptionsdesign Bei formal-deduktiven Konzeptionen bildet die Bedürfnisanalyse von internen und externen Anspruchsgruppen die Grundlage für die Zielformulierung. Ausgehend vom Oberziel der Organisation z. B. der Sicherstellung der Unternehmensexistenz werden aus der Vielzahl der teilweise divergierenden Präferenzen der Anspruchsgruppen unter Anwendung von organisationsspezifischen Priorisierungsregeln Ziele abgeleitet (vom „Abstrakten“ zum „Konkreten“), wobei die untergeordneten Ziele in Mittel-Zweck-Beziehungen zu den übergeordneten Zielen stehen.32 Als Voraussetzungen für deduktiv-orientierte Zielsysteme nennt Hammer:33 •

Eine klare Verteilung der Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen auf jeder Zielebene; • Konsens hinsichtlich der Zielsetzungen seitens der Betroffenen als Basis für eine spätere Identifikation bzw. ein späteres Commitment; • das Vorhandensein von entsprechenden personellen, organisatorischen bzw. ressourcenmäßigen Rahmenbedingungen. Beispielhaft sei das von Von Spiegel für die JuNa-A entwickelte deduktive Design vorgestellt:34 1. Analyse: – Analyse der Ausgangssituation/Bestandserhebung betreffend die Institution (Träger, Jugendamt), das Umfeld (soziales Umfeld der Einrichtung, andere soziale Einrich32

33 34

Vgl. Heinen, Grundlagen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen – Das Zielsystem Unternehmen (1976), S. 103 ff.; Marchazina, Unternehmensführung: Das internationale Managementwissen – Konzepte, Methoden (2010), S. 216. Vgl. Hammer, Planung und Führung (2007), S. 151 f. Vgl. Von Spiegel, So macht man Konzeptentwicklung – eine praktische Anleitung (2007), S. 54 ff.

186

2.

3.

4.

5. 6.

Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger tungen etc.), die Zielgruppen, die Ziele (Institution, Teams) sowie die Leistungen, Ressourcen und das Personal; – Analyse der Erwartungen der Beteiligten (Institution, Umfeld, Zielgruppen, Ziele der Mitarbeiter etc.); Zielbildung: Konsensziele zwischen Institution, Umfeld, Zielgruppen, Mitarbeitern sind mittels dialogischer Verständigungsprozesse zu bilden. Sowohl explizite Aussagen, Erwartungen und Vorschriften als auch implizite Erwartungen wie Erfahrungen sollen Bestandteil dessen sein. Überprüfung der Zielformulierung: Folgende Zielarten gilt es zu berücksichtigen: – Wirkungsziele (Wünschenswerte Zustände die Leistungsadressaten betreffend oder erweiterte Handlungskompetenzen); – Handlungsziele (Ideen über förderliche Bedingungen, Arrangements (Raumgestaltung, Entwicklung von Methoden, zielführende Interventionen) zur Unterstützung der Wirkungsziele); Zieloperationalisierung (prozess- oder ergebnisbezogene Operationalisierung): – Von Bedeutung ist, dass nicht nur Handlungsschritte, sondern auch Handlungsregeln für die Fachkräfte formuliert werden; – Ressourcenüberlegungen (infrastrukturelle, personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen) sind zu treffen. – Die Operationalisierungen sind anschließend durch Integration von Mitarbeitern auf Ausführungsebene wie unter Bezugnahme auf die Fachliteratur auf ein praktikables Niveau zu bringen. Abgleich der derzeitigen Arbeit mit den operationalisierten Zielen, um Weiterführung, Ausbau oder Abbau von (Leistungs-)Angeboten identifizieren zu können. Dokumentation bzw. Verschriftlichung der Überlegungen.

Formal-induktives Konzeptionsdesign Während bei deduktiven Zielsystemen aus übergeordneten, allgemeinen Zielen Teil- oder Unterziele abgeleitet werden, werden bei formal-induktiven Zielsystemen Ziele definiert, von denen ausgegangen werden kann, dass sich diese förderlich auf das Oberziel auswirken, ohne dass diesbezüglich eine exakte funktionale Beziehung zwischen eben diesem Ziel und dem Oberziel konstatiert werden kann. Das Hinzufügen von Zielen, die in einer sogenannten Mittel-Zweck-Vermutung zum Oberziel stehen, stellt das zentrale Charakteristikum von induktiven Zielsystemen dar.35 Für die Konzeption im Rahmen der JuNa-A. bedeutet dies, dass tendenziell kurzfristig angelegte Teilpläne bzw. -ziele z. B. die Kompetenzentwicklung betreffend die Basis für längerfristige Ziele z. B. einen Bildungsauftrag oder die bildungsbezogene Positionierung der JuNa-A. darstellen. Bezogen auf die vorangegangene Modellkonzeption von Von Spiegel setzt die induktivorientierte Variante bei der Formulierung von Konsenszielen ein.

35

Vgl. Heinen, Grundlagen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen – Das Zielsystem Unternehmen (1976), S. 128 ff.; Friedl, Controlling (2003), S. 231.

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 187 Als generelle Vorteile zielorientierter Konzeptionsentwicklungen – sowohl des formaldeduktiven als auch des formal-induktiven Designs – können folgende angeführt werden:36 •

Teammitglieder stellen sich im Rahmen dessen immer wieder „neu“ auf die theoretische Arbeit ein. • Plausibilitätsüberlegungen als Resultat einer relativierten Form der Planung können generiert werden. • Die dadurch erzielten hypothetischen Zusammenhänge schaffen Transparenz und Optionen für methodische wie berufsethische Reflexionen. Als Nachteile lassen sich folgende Aspekte nennen: • •

Konzeptionelle Ziele sind grundsätzlich vergänglich bzw. endlich. Faktisch lassen sich aufgrund der Komplexität und Unvorhersehbarkeit sozialer Prozesse nur sehr schwer kausale Zusammenhänge bilden. • Die Vorhersehbarkeit, Steuerbarkeit bzw. Messbarkeit37 von pädagogischen Prozessen ist limitiert. • Sowohl der Zeitaufwand als auch die Komplexität sind beträchtlich. • U. U. können solche Konzepte unübersichtlich sein. Neben den angeführten zielbezogenen, einen formalen Prozess durchlaufenden Konzeptionen kann die pragmatisch-induktive Methode der Schlüsselsituationen als weiteres mögliches Konzeptionsdesign herangezogen werden. Pragmatisch-induktives Konzeptionsdesign: Zielbezogene Definition von Schlüsselsituationen Die Critical-Incident-Technique bzw. die Definition von Schlüsselsituationen wurde ursprünglich von Flanagan38 entwickelt worden, um kritisch wahrgenommene Ereignisse positiver oder negativer Natur zu erfassen bzw. zu bewerten. Ziel ist es, insbesondere effektives Verhalten in vorab definierten Situationen zu operationalisieren. Maßnahmen zur Optimierung bzw. Verbesserung können folglich daraus abgeleitet werden. Wesentliche aus dem Alltag der JuNa-A. stammende Ziele für Schlüsselsituationen werden hierbei ohne Bezug auf übergeordnete Ziele, vornehmlich bottom-up, aus Perspektive der Ausführungsebene, definiert. Die Konzeptionsentwicklung stellt hierbei ein abgestimmtes Set von Wirkungs- und Handlungszielen dar.39

36 37

38 39

Vgl. Von Spiegel, So macht man Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit – eine praktische Anleitung (2007), S. 88 f. Nach Lindner wird die Messung von bildungsbezogenen Prozessen insbesondere durch die der Bildung immanenten Charakteristika, nämlich dem Faktum der Nichtplanbarkeit von Bildungsprozessen, dem Faktum des lebenslangen Lernens und dem Faktum der Subjektorientierung stark limitiert (vgl. Lindner, „Ich lerne zu leben.“ – Bildungswirkungen in der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit (2009), S. 168). Siehe hierzu vertiefend: Flanagan, J. C.: The Critical Incident Technique, in: Psychological Bulletin 51 (1953), S. 327–358. Vgl. Bruhn, Wirtschaftlichkeit des Qualitätsmanagements: Qualitätscontrolling für Dienstleistungen (1998), S. 28; Kaiser, Erfolgsfaktor Kundenzufriedenheit (2005), S. 156 ff.; Matzler/Bailom, Messung von Kundenzufriedenheit (2009), S. 281; Von Spiegel, So macht man Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit – eine praktische Anleitung (2007), S. 82 ff.

188

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Als Minimalanforderungen zur Anwendung dieser Methode lassen sich folgende Aspekte anführen:40 •

Die Schlüsselsituationen müssen einen Bezug zum erlebten bzw. erlebbaren Verhalten aufweisen. • Eine Begründung, warum eine Schlüsselsituation eine solche ist, hat zu erfolgen. • Die zentralen Bestimmungsgrößen der Schlüsselsituationen sind zwingend in die Schilderung des Erlebnisprozesses zu integrieren. Für die Anwendung einer zielbezogenen Definition von Schlüsselsituationen empfiehlt sich folgende Vorgehensweise:41 1. Identifikation von Schlüsselsituationen, welche ihrerseits deutlich und klar genug zur Erfassung der Situation sein müssen. Hier gilt es zwischen primären (pädagogischen) und sekundären Schlüsselsituationen (organisatorische bzw. managementbezogene Prozesse) zu differenzieren. 2. Beschreibung und Bildung von möglichen Situationstypen bzw. -kategorien (Zuordnung von Schlüsselsituationen zu verschiedenen Situationstypen). Mögliche Situationstypen wären z. B. die Gestaltung von Beratungssituationen oder der Umgang mit Grenzen und Regeln, Umgang mit Konflikten etc. 3. Zuordnung von bestehenden Handlungs- bzw. Wirkungszielen sowie Handlungsregeln zu den Situationstypen. Gegebenenfalls sind Handlungsziele hinzuzufügen. 4. Konkretisierung der Ziele durch Definition von Handlungsschritten bzw. Indikatorenbildung. Stellt man eine Bewertung der Schlüsselsituations-Methode an, so können folgende positive Aspekte angeführt werden:42 •

Eine starke Ereignisorientierung bzw. ein bedürfnisorientiertes Vorgehen besteht (Fachkräfte können die Prozesse definieren, die ihnen wichtig sind). • Eine konzentrierte, aber auch gleichzeitig relative umfassende Wahrnehmung der Situation ist möglich. • Der prozessuale Aspekt der Leistungserstellung wird berücksichtigt. • Handlungsrelevante Informationen können identifiziert werden. • Die Methode eignet sich insbesondere für kleine Teams oder Fachkräfte ohne Team bei akutem Reflexions- sowie Regelungsbedarf bzw. für sekundäre Schlüsselsituationen, die planbar sind. Als nachteilig erweisen sich hingegen folgende Aspekte: • •

40 41 42

Aufgrund der fehlenden Berücksichtigung übergeordneter Zielsetzungen ist das Ergebnis der Schlüsselsituations-Methode als „Werkstück mit weißen Flecken“ zu betrachten. Die induktive Zielformulierung kann u. U. zur Folge haben, dass anstatt von „idealen“ Wirkungen die Überschaubarkeit bzw. die Störungsfreiheit des „Betriebs“ in den Vordergrund tritt. Vgl. Kaiser, Erfolgsfaktor Kundenzufriedenheit (2005), S. 158. Vgl. Von Spiegel, So macht man Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit – eine praktische Anleitung (2007), S. 85 ff. Vgl. Kaiser, Erfolgsfaktor Kundenzufriedenheit (2005), S. 158; Von Spiegel, So macht man Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit – eine praktische Anleitung (2007), S. 91 ff.

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 189 •

Bei der Definition der Schlüsselsituationen erfolgt mit unter eine zu starke Konzentration auf Problemfälle denn auf „best cases“. • Es besteht überdies potenziell die Gefahr, dass pädagogische primäre Abläufe starr festgeschrieben werden. • Pädagogische Situationen lassen sich überdies selten einem einzigen Situationstyp zuordnen. Aus Praxissicht erscheint grundsätzlich eine Kombination aus der formal-deduktiven sowie -induktiven Vorgehensweise zielführend. Ein rein formal-deduktives Konzeptionsdesign ist aufgrund der oftmals lückenhaften Daten- bzw. Zahlenlage nicht durchführbar. Außerdem können – wie in der erfolgten Beurteilung der Konzeption angeführt – in der JuNa-A. weder sämtliche Folgen antizipiert noch gesteuert werden. Die den Kern der Jugendarbeit bildenden Beobachtungen und Reflexionen können insbesondere durch ein induktives Vorgehen in das Konzeptionsdesign einfließen. Für die JuNa-A. im RK ist zukünftig geplant, einen über fünf Jahre laufenden Masterplan zu entwickeln. Diesem sollen jährliche Detailplanungen mit operationalisierten Zielen, Maßnahmen, die zu dieser Zielerreichung beitragen, einem Zeitraster und eine Zuteilung von Verantwortlichkeiten folgen. Bestimmend für die inhaltliche Zielformulierung in der JuNa-A. des RK sind neben den rechtlichen Grundlagen, Mission, organisationspolitischen Grundsätzen die Strategiekonzepte des International Red Cross, Österreichischen Roten Kreuz, Roten Kreuz, Landesverband Oberösterreich und des Jugendrotkreuz. Die Inhalte in der Jugendarbeit sind dementsprechend z. T. vorgegeben (v. a. im schulischen Bereich) und z. T. innerhalb eines gegebenen Rahmens (Mission, Grundsätze sowie interne Strategiekonzepte des IRC, ÖRK, RK OÖ, Jugendrotkreuzes) gestaltbar. Wenn auch bisher noch nicht explizit angedacht, erscheint auch die Formulierung von Schlüsselsituationen eine durchaus praktikable Methode zu sein, die JuNa-A. in der Organisation voranzutreiben. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass dieses Instrument lediglich für überschaubare Projekte Einsatz finden kann. In der nachstehenden Tabelle seien beispielhaft Schlüsselsituationen in der JuNa-A. des RK darstellt:

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Tabelle 1:

Schlüsselprozesse in der Jugend- und Nachwuchsarbeit des Roten Kreuz

43

SITUATIONSTYP zugeordnete SCHLÜSSELSITUATION

Ziele und Handlungsregeln

Handlungsschritte

Indikatoren der Zielerreichung

Organisationale Mitbestimmung: Jugendliche wollen in Entscheidungsprozesse eingebunden sein

Förderung des Demokratiever- Prozesse auf nationaler ständnisses und des Selbstwer- Ebene analysieren; tes der Jugendlichen; Workshop-Gruppe für Schaffung einer erweiterten Oberösterreich installieVertrauensbasis sowie einer ren; erhöhten Gleichberechtigung zwischen jüngeren und älteren Nationale Vorgaben regional adaptieren; Organisationsmitgliedern;

Anzahl der Jugendlichen in Entscheidungsgremien;

Peers’ Education: Jugendliche wollen Gleichaltrigen in Notsituation helfen

Flächendeckende Verfügbarkeit von Peers;

Ausreichende Anzahl an für verschiedenartige Notsituationen ausgebildeten Peers;

Freiwilligenkarrieren: Jugendliche brauchen Perspektiven

Freiwilligenkarrieren bzw. Entwicklungspotenziale als Bindungsanreiz verwenden;

Peers beherrschen und leben die Spielregeln einer Peersbetreuung;

Festlegung der Ausbildungsbereiche und -inhalte;

Ressourcenabsicherung Zertifikate, die die Kompetenzen der Peers abbilden; für eine lückenlose Implementierung des Einsatzhäufigkeit und Peerssystems; Anzahl der gelösten ProSchaffung von Struktu- blemstellungen; ren zur (Selbst-)Reflexion bzw. für den Erfahrungsaustausch; Schaffen eines adäquaten Angebots für die persönliche Weiterentwicklung; Entwicklung von Freiwilligenkarrieren; Kommunikation der Freiwilligenkarrieren; Ausbau und Weiterentwicklung der Freiwilligenkarrieren;

Neupositionierung der JuNa-A. im RK

43

Eigene Darstellung.

Ausprägungsformen bzw. Einsatzmöglichkeiten der zugeordneten Mitbestimmungs- bzw. Entscheidungskompetenzen;

Teilnahme bzw. Absolvierung der alters- bzw. zielgruppenspezifischen Ausund Weiterentwicklungsangebote; Absolvierung der vorab definierten „Karrierestufen“; Verbleibdauer in der Organisation;

Zusammenführung des schuli- Analyse des schulischen Anzahl und Art der gemeinsamen, vernetzten und außerschulischen schen und außerschulischen Leistungsangebote der Bereiches der JuNa-A. im RK; JRK-Angebots; schulischen und außerschuAktualisierung bzw. Abbau von Vorurteilen und lischen Jugendarbeit; Eitelkeiten sowie Aufbau einer Neustrukturierung des Institutionalisierung der Leistungsangebots; Vertrauensbasis; Zusammenarbeit z. B. Kommunikation der durch regelmäßige Treffen; Positionierung;

Konzeptentwicklung im Jugend- und Nachwuchsbereich von Nonprofit-Organisationen 191

5

Resümee

Abschließend ist festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit den materiellen Anforderungen an eine Konzeption für die Jugend- und Nachwuchsarbeit sichtbar gemacht hat, dass zur Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen potenziell folgende Ausrichtungen zur Verfügung stehen: Die JuNa-A. kann sich verstärkt als Medium für Integrations- und Vergemeinschaftungsprozesse oder auch für Bildungsprozesse positionieren. Auch die Vermittlung bzw. Unterstützung der Jugendlichen in der Lebensbewältigung stellt eine mögliche Ausrichtung dar. Im Rahmen der Entwicklung von Konzeptionen für die JuNa-A. erweist es sich überdies als erfolgsweisend, zu klären, 1. welches die aus Subjekt- und Lebensbezug abgeleiteten, biografisch nachhaltigen Kompetenzen sind, die in der JuNa-A. wie entwickelt werden sollen und 2. welches die wie zu gestaltenden Bedingungen für Gemeinschaftserleben, Selbstbestimmungs- und -organisationsprozesse sind. Die Analyse der formalen Konzeptionselemente führte zu dem Ergebnis, dass für die Entwicklung von Konzeptionen in der JuNa-A. sowohl deduktiv- wie induktiv-orientierte Designs Einsatz finden können. Aufgrund der Charakteristika der Jugendarbeit – insbesondere der Subjektorientierung sowie der Unvorhersehbarkeit bzw. Komplexität von sozialen Prozessen – erweist sich eine Kombination von beiden Designs als zweckmäßig. Augenmerk ist neben der Entwicklung von (Wirkungs-)Indikatoren zur Kontrolle der Zielerreichung v. a. auf das Schaffen von Reflexionsoptionen zu legen, da nicht sämtliche Ziele durch Operationalisierungen messbar gemacht, aber Schlüsselsituationen durch Gedanken- und Erfahrungsaustausch sowie Reflexionen verbessert werden können.

Literatur Arnold, R./Nolda, S./Nuissl, E.: Wörterbuch der Erwachsenenpädagogik, Bad Heilbrunn 2001. Bea, F. X./Göbel, E.: Organisation, 3. Aufl., Stuttgart 2002. Bortz, J./Döring, N.: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, 4. Aufl., Berlin 2006. Brede, Ch.: Realität von Konzeptionen der Jugendarbeit in Schleswig-Holstein: Eine Studie zur Umsetzung fachlicher Ansprüche der Konzeptentwicklung, in: Sturzenhecker, B./Deinet, U. (Hrsg.): Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit: Reflexionen und Arbeitshilfen für die Praxis, München 2007, S. 12–33. Brandl, M./Langlechner, M./Tänzler, D.: Wo Jugendliche sich wirkungsvoll engagieren, in: Brandl, M./Hobelsberger, H./Sellmann, M./Tänzler, D. (Hrsg.): Engagement und Performance. Kirchliche Jugend(verbands)arbeit heute, Düsseldorf 2007, S. 96–124. Bruhn, M.: Wirtschaftlichkeit des Qualitätsmanagements: Qualitätscontrolling für Dienstleistungen, Berlin et al. 1998. Cloos, P./Köngeter, St.: „… uns war mal langweilig, da ham wir das JUZ entdeckt.“ Empirische Befunde zum Zugang von Jugendlichen zur Jugendarbeit …, in: Lindner, W. (Hrsg.): Kinder- und Jugendarbeit wirkt: Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit, 2. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 81–94.

192

Katharina Anna Kaltenbrunner und Erich Haneschläger

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Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung im deutschsprachigen Raum Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

1

Business Format Franchising

Business Format Franchising hat sich in den unterschiedlichsten Bereichen der Privatwirtschaft als leistungsorientierte und Know-how-basierte Organisationsform etabliert. Im Gegensatz zum traditionellen Marken- oder Produktfranchising konnte das aus betriebswirtschaftlicher Sicht ganzheitlichere Business Format Franchising (in weiterer Folge kurz Franchising genannt) in den letzten Jahrzehnten auf verschiedene Branchen ausgeweitet werden und verzeichnet nach wie vor national und international verhältnismäßig hohe Wachstumsraten.1 Franchising stellt als hybride Organisationsform zwischen Markt und Hierarchie2 sowie durch seine mehrstufigen Kundenbeziehungen, zwischen Franchisegeber und Franchisenehmer sowie zwischen Franchisesystem und Endkunden, hohe Anforderungen an die operative und strategische Führung. Ein wesentlicher Anteil der publizierten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Business Format Franchising beschäftigt sich mit der institutionenökonomischen Analyse und Bewertung der vertikalen Organisationsform, den Franchisegebühren und der Frage nach dem optimalen Verhältnis zwischen unternehmenseigenen Filialen und von Franchisenehmern betriebenen Standorten.3 Inwieweit Franchisesysteme Anforderungen der Strategischen Unternehmensführung erfüllen bzw. strategisch geführt werden, blieb weitgehend unerforscht und fand in der Literatur bisher kaum Beachtung.4 1 2 3

4

Vgl. Lafontaine, The Role of Franchising in the U.S. Economy – Now and Beyond (1995), S. 1 f.; Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung (2011), S. 57. Vgl. Sydow, Strategische Netzwerke – Evolution und Organisation (1992), S. 102 f.; Preissner, Franchisegebühren – Ziele, Aktionsparameter, Bestimmungsfaktoren (2005), S. 7 f. Beispielsweise: Sorenson/Sorensen, Finding the right mix: Franchising, organizational learning and chain performance (2001); Shane/Shankar/Aravindakshan, The Effects of New Franchisor Partnering Strategies on Franchise System Size (2006); Scott, Franchising vs. company ownership as a decision variable of the firm (1995); Thompson, Company Ownership vs. Franchising: Issues and Evidence (1992); Dant, Ownership structure in franchising: the effects of transactional costs, production costs and strategic considerations (1996); Windsperger/Dant, Contractibility and ownership redirection in franchising: A property rights view (2006). Vgl. Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung (2011), o. S.

196

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

Ziel dieses Beitrages ist die empirische Untersuchung, inwieweit Franchisesysteme strategisch ausgerichtet sind und wie die Franchisegeber die Relevanz der einzelnen Elemente der Strategischen Führung beurteilen. Die Studie ist derart aufgebaut, dass branchenabhängige Auffälligkeiten in der Strategischen Führung identifiziert werden können. Franchising eignet sich als Untersuchungsgegenstand besonders gut: •

Franchisegeber sind zu einem hohen Anteil in den nationalen Franchiseverbänden organisiert. Dies unterstützt eine zügige Kontaktdatenaufnahme. • Franchisesysteme sind auch außerhalb von Franchiseverbänden relativ leicht zu identifizieren und kontaktieren, da es im Interesse der Franchisegeber ist, potentielle Franchisenehmer zu mobilisieren. • Franchisegeber sind als Systemköpfe verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und durch die auf zwei Ebenen stattfindenden Kundenbeziehungen empfänglich für Anfragen potentieller Kunden. In weiterer Folge wird kurz auf die Bezugspunkte zwischen Franchising und der Strategischen Unternehmensführung eingegangen. Im Anschluss wird die empirische Studie als zentraler Bestandteil dieser Arbeit präsentiert. Eine kurze Zusammenfassung mit den zentralen Ergebnissen der Studie schließt diesen Beitrag ab.

2

Strategische Unternehmensführung und Business Format Franchising

Franchising ist in seiner Reinform eine vertikale Netzwerkorganisation rechtlich und finanziell selbständiger Unternehmen. Die gleichförmige Bereitstellung eines Leistungsbündels, unabhängig vom zuständigen Leistungshersteller, Erfüllungsort und Erfüllungszeitpunkt, zeichnet Franchisesysteme aus und sichert dem Leistungsempfänger eine stetig gleichbleibende Leistungsqualität. Dies geschieht im Wesentlichen durch einen hohen Standardisierungsgrad der Geschäftsprozesse und des erbrachten Outputs. Vertraglich fixierte Bestimmungen, in Form von Rechten und Pflichten, zwischen dem Franchisegeber und den einzelnen Franchisenehmern stellen die geforderte Standardisierung gegenüber den Endkunden sicher.5 Das Mengenverhältnis zwischen Filialen des Systemkopfs und Standorten selbständiger Franchisenehmer ist je nach betrachtetem System stark unterschiedlich. Ein generell optimales Verhältnis ist nicht eindeutig feststellbar, da externe Faktoren, wie beispielsweise geografische, soziale, kulturelle oder politische Elemente, und interne Faktoren, wie die Branche oder die Unternehmensstrategie, eine Rolle spielen.6

5 6

Vgl. Promberger/Piazolo, Franchising zur Sicherstellung effektiver Leistungserbringung im Gesundheitswesen (2009), S. 298. Vgl. Yin/Zajac, The strategy/governance structure fit relationship: Theory and evidence in franchising arrangements (2004), S. 365 ff.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

197

Franchisesystem Franchisegeber Benefit

1. Kundenverhältnis Leistung

Franchisenehmer

Benefit

2. Kundenverhältnis

Leistung

Endkunde

Abbildung 1:

7

Kundenbeziehungen im Franchising

Durch Franchising lassen sich Größenvorteile generieren, opportunistische Verhaltensspielräume einengen und Systemadaptionen, beispielsweise im Rahmen eines Business Process Engineerings oder Standardisierungsmaßnahmen, verhältnismäßig leicht umsetzen.8 Netzwerkorganisationen erweisen sich insbesondere bei Umweltunsicherheiten als sinnvoll, da diese im Vergleich zu hierarchischen Organisationsmodellen eine höhere Flexibilität aufweisen und reaktionsfähiger sind.9 Gegenüber innerbetrieblichen Vertriebsstrukturen lassen sich folgende Vorteile erkennen:10 • • • •

7

8 9 10

Einfachere Markterschließung und Expansion bei vergleichsweise geringem Kapitaleinsatz, leichtere Akquisition von unternehmerisch agierenden und fähigen Managern, bessere Nutzung der Wissensvorsprünge der Franchisenehmer bezüglich der regionalen Marktgegebenheiten, Wettbewerbsvorteile durch Skalen- und Verbundvorteile sowie positive externe Effekte.

Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung, S.70; Promberger/Piazolo, Franchising zur Sicherstellung effektiver Leistungserbringung im Gesundheitswesen (2004), S. 19. Vgl. Picot/Dietl/Franck, Organisation – eine ökonomische Perspektive (2002), S. 202. Vgl. Hammer/Kaltenbrunner, Organisation Personal & Führung, Management (2009), S. 153. Vgl. Hempelmann, Optimales Franchising (2000), S. 5 und die dort angegebene weiterführende Literatur.

198

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

Einen wesentlichen Bestandteil des Franchisings stellt die dauerhafte und nachhaltige systemseitig betriebene Know-how-Weiterentwicklung dar.11 Die Effizienz und der Erfolg eines Franchisesystems steigen im Allgemeinen mit der Größe des Netzwerks.12 Die Strukturvorteile der Organisationsform Franchising, welche auch positive institutionenökonomische Merkmale aufweist,13 gegenüber anderen Vertriebsformen sind insbesondere die Auslöser für die positiven Wachstumsprognosen der Franchisewirtschaft.14 Franchisesysteme sind komplexe Gebilde und erfordern eine tiefgreifende und bedachte Orchestrierung der Managementprozesse. Durch das spezielle Wesen von Franchisesystemen, in welchem rechtlich und finanziell selbständige Unternehmen dem Markt gegenüber gebündelt agieren, ergeben sich zwei Kundenverhältnisse: Einerseits zwischen Franchisegeber und Franchisenehmer, andererseits zwischen Franchisesystem und Endkunden. Die Erwartungshaltung gegenüber der Operationalisierung der Strategischen Unternehmensführung in Franchisesystemen ist insbesondere aufgrund der komplexen Netzwerkstrukturen hoch. Je größer und je komplexer eine Unternehmung wird, desto wichtiger ist die Sicherstellung des unternehmerischen Geistes und der Handlungsfähigkeit innerhalb der einzelnen beteiligten Unternehmenseinheiten bzw. Organisationen. Nach Gluck/Kaufmann/Walleck scheint die Strategische Unternehmensführung darauf eine adäquate Antwort zu sein.15 Die Strategische Unternehmensführung beschäftigt sich grundsätzlich mit allen Belangen und Aktivitäten einer leistungserbringenden Organisation. Klassische Managementmodelle berücksichtigen externe Einflüsse gleichermaßen wie interne Faktoren und ermöglichen dadurch einen ganzheitlichen Managementansatz. Als konzeptioneller Rahmen wird das in der Unternehmenspraxis weithin bekannte Innsbrucker Modell der Strategischen Unternehmensführung nach Hinterhuber herangezogen.16 Das Aufgabengebiet der Strategischen Unternehmensführung lässt sich wie folgt darstellen (Abbildung 2): Die innerhalb des Kreises dargestellten Komponenten sowie deren Abhängigkeiten spiegeln das Wertsteigerungspotential einer Unternehmung wider. Sie stehen unter Beeinflussung des Kreises, der „Brücken“ Mentale Modelle und Leadership, und des außerhalb stehenden Bereichs, das heißt den externen Einflüssen und Gegebenheiten. Zu den außerhalb des Kreises existierenden Komponenten bestehen wechselseitige Beziehungen und Steuerungsfähigkeiten. Dies gewährt der Unternehmung Chancen, birgt aber auch Risiken. Es liegt an den „Brücken“ und internen Komponenten, diese Chancen zu nutzen und die Risiken zu minimieren bzw. die mögliche Steuerung der externen Komponenten sicherzustellen. Strategische Unternehmensführung ist ein anhaltender Prozess, der der Unternehmung einerseits Identität sowie Stabilität verleiht, andererseits zugleich die Unternehmung an die Veränderungen der Umwelt anpasst.17

11 12 13 14 15 16 17

Vgl. Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung (2011), S. 55. Vgl. Barros/Perrigot, Franchised Network Efficiency: A DEA Application to US Networks (2007), S. 208. Vgl. Picot/Wolff, Franchising als effiziente Vertriebsform (1995), S. 223 ff.; Promberger/Piazolo, Franchising zur Sicherstellung effektiver Leistungserbringung im Gesundheitswesen (2009), S. 299 ff. Vgl. Meier, Erfolg im Einzelhandel durch Franchising (2005), S. 19. Vgl. Gluck/Kaufmann/Walleck, Strategic management for competitive advantage (1980), S. 16. Vgl. Hinterhuber/Friedrich/Matzler/Stahl, Die Rolle der Kundenzufriedenheit in der Strategischen Unternehmensführung (2000), S. 9. Vgl. Lombriser/Abplanalp, Strategisches Management (2004), S. 17.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

199

Kunden: Weiterempfehlung

Anteilseigner: Nachhaltige Wertsteigerung

Mitarbeiter: Engagement Unternehmerische Vision

Strategien

Unternehmenskultur und –identität/Marke

Strategisches Controlling

Unternehmenspolitik/Ziele

Aktionspläne

Organisation

Umsetzung Neue strategische Stakeholder: Gesellschaftliche Verantwortung

Lieferanten: Engagement

Partner in strategischen Netzwerken: Engagement

Abbildung 2:

18

Modell der Strategischen Unternehmensführung

Strategische Unternehmensführung ist als eine Art geplante Evolution, wobei deduktiv abgeleitete Ideen und induktiv gewonnene Erfahrungen in einem anhaltenden Prozess ihren Einfluss finden, zu sehen.19 Die Erreichung des Ziels, einen nachhaltigen, langfristigen Erfolg sicherzustellen, liegt primär an der Fähigkeit, die Unternehmung auf eine ungewisse Zukunft unter Berücksichtigung aller internen und externen Faktoren vorzubereiten und adäquat zu 18 19

In Anlehnung an Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung 1: Strategisches Denken (2011), S. 81. Vgl. Kirsch, Wegweiser zur Konstruktion einer evolutionären Theorie der strategischen Führung (1997), S. 290; Müller-Stewens/Lechner, Strategisches Management (2003), S. 20 f.

200

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

steuern. Verschiedenste Untersuchungen haben die positive Korrelation zwischen dem Einsatz von Strategischer Unternehmensführung und wirtschaftlichem Erfolg bestätigt.20 Innerhalb der Strategischen Unternehmensführung ist ein iterativer Lernprozess notwendig, um die sich ändernden Einflüsse und aufbauenden Kenntnisse für die Weiterentwicklung der Unternehmung zu nutzen. Demnach ist das Strategische Management kein ausschließliches Planungskonzept, sondern ein ganzheitliches Managementkonzept, das durch eine ausgeprägte Managementphilosophie gekennzeichnet ist.21 Das Strategische Management unterstützt als dauerhafter integrativer Planungsprozess bzw. als Planungs- und Analysewerkzeug die langfristige Erfolgsorientierung. „Strategic management has become an essential tool for organizations to learn and develop if they wish to forge a state of excellence and respond constructively to a rapidly changing world“.22 Hitt/Ireland/Hoskisson sowie Hinterhuber betonen die Notwendigkeit eines nachhaltigen Strategieprozesses.23 Inwieweit dies und die einzelnen Komponenten der Strategischen Unternehmensführung von Franchisesystemen berücksichtigt werden, ist Bestandteil der vorliegenden Untersuchung. Dabei wird unterschieden zwischen dem Operationalisierungsgrad und der erkannten Relevanz der einzelnen Elemente der Strategischen Unternehmensführung in Franchisesystemen.

3

Empirische Studie zur Strategischen Führung in Franchisesystemen

Anhand einer quantitativen empirischen Studie wird untersucht, inwieweit die Elemente des Innsbrucker Modells der Strategischen Unternehmensführung24 in Franchisesystemen operationalisiert und als relevant erachtet werden. Franchising wird daraufhin überprüft, inwieweit es einer erfolgskonformen Organisations- bzw. Netzwerkstruktur aus Sicht des Strategischen Managements entspricht. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Operationalisierung und Relevanz der klassischen internen erfolgsrelevanten Komponenten. Die auf das Individuum fokussierten Elemente, die mentalen Modelle und die Leadershipfähigkeiten werden aufgrund ihrer personenbezogenen Ausrichtung in dieser Studie ausgeklammert.

20

21

22 23 24

Siehe im Detail: Michel, Know-how der Unternehmensplanung (1986); Rhyne, The Relationship of Strategic Planning to Financial Performance (1986); Covin/Slevi, Strategic Management of Small Firms in Hostile and Benign Environments (1989). Vgl. Welge/Al-Laham, Strategisches Management– Grundlagen, Prozesse, Implementierung (2008), S. 13 ff.; Eine 2008 publizierte Inhaltsanalyse der von 1980 bis 2005 in führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften (Academy of Management Journal, Academy of Management Review, Administrative Science Quarterly, Strategic Management Journal) erschienenen Beiträge zur Strategischen Unternehmensführung bestätigt den Wandel vom primären Planungskonzept zum ganzheitlichen Managementkonzept. Beständige bzw. aufkommende Schwerpunkte der Forschung liegen laut der Studie bei Themen wie Performance, Environment, Capabilities, Organization, International, Alliances, Innovation und Entrepreneurship. Siehe im Detail: Furrer/Thomas/ Goussevskaia, A content analysis of strategic management research (2008), S. 6 f. Vgl. Koteen, Strategic Management in Public and Nonprofit Organizations (1991), S. 17. Vgl. Hitt/Ireland/Hoskisson, Strategic Management – Competitiveness and Globalization: Concept and Cases (2001), S. 6 f.; Hinterhuber, Strategisches Unternehmensführung 1: Strategisches Denken (2011), S. 40 ff. Siehe insbesondere Hinterhuber, Strategisches Unternehmensführung 1: Strategisches Denken (2011) und Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung 2: Strategisches Handeln (2004).

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

Franchisesystem

201

Unternehmerische Vision

Franchisegeber

Unternehmenspolitik 1. Kundenverhältnis Leistung

Strategien

Franchisenehmer

Ziele / Rahmenbed. Benefit

2. Kundenverhältnis

Leistung

Organisation

Endkunde

Unternehmenskultur und –identität

Benefit

Umsetzung Abbildung 3:

Zu untersuchende strategische Komponenten bei Franchisesystemen

25

Es wurden 929 Franchisesystemzentralen in Deutschland, Österreich und der Schweiz erfolgreich angeschrieben und gebeten, einen Fragebogen mit 99 Fragen bzw. Statements zu beantworten.26 Der verwendete Fragebogen ist in einen Teil A, „Allgemeine Angaben“, und einen Teil B, „Untersuchungsbereiche“, unterteilt. Zur Klassifizierung der Franchisesysteme wird die angegebene Branche aus Teil A herangezogen. Aus Teil B fließen die Ergebnisse von 56 Statements der acht Untersuchungsbereiche (Dimensionen), „Unternehmerische Vision“ (6 Statements), „Unternehmenspolitik“ (7 Statements), „Strategien“ (9 Statements), „Ziele“ (6 Statements), „Organisation“ (5 Statements), „Umsetzung“ (6 Statements), „Unternehmenskultur“ (8 Statements) und „Prozesse“ (9 Statements), ein. Diese Statements werden für die Bewertung des Operationalisierungsgrades und der Relevanz herangezogen. Jedes Statement wird über zwei fünfstufige Likert-Skalen abgefragt, um einerseits den Zustimmungsgrad (1 = „Stimme voll und ganz zu“ bzw. 5 = „Stimme überhaupt nicht zu“), andererseits die Relevanz (1 = „Sehr wichtig“ bzw. 5 = „Absolut unwichtig“) des Statements zu bestimmen. Es wurde die Annahme getroffen, das jeweilige Merkmal wäre auf einer Intervallskala gemessen worden.27 Es wird davon ausgegangen, dass die Beurteiler die Abstände auf der Skala als gleichgroße Intervalle wahrnehmen.28 Insgesamt wurden 89 Fragebögen ausgefüllt zurückgesendet. Das entspricht einer Rücklaufquote von 9,58 %. Jedes für diese Untersuchung relevante Statement wurde von mindestens 25

26

27 28

In Anlehnung an Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung (2011); Promberger/Piazolo, Franchising zur Sicherstellung effektiver Leistungserbringung im Gesundheitswesen (2004), S. 19; Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung 1: Strategisches Denken (2011), S. 81. Die empirische Studie basiert auf der Datengrundlage einer in 2011 abgeschlossenen Dissertation [Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung (2011)]. Die in der vorliegenden Arbeit präsentierten branchenbezogenen Ergebnisse wurden im Rahmen der Dissertation nicht veröffentlicht. Vgl. Bortz/Döring, Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (2003), S. 74. Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein, Konsumentenverhalten (2009), S. 241 ff.

202

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

87 Franchisesystemzentralen beantwortet. Bei einem Konfidenzlevel von 95 % und einer realisierten Stichprobe von n = 89 bzw. n = 87 sowie einer Grundgesamtheit von N = 929 ergibt sich somit ein Konfidenzintervall von +/– 9,88 % bzw. 10,01 %. Das bedeutet, dass mit einer 95 %-igen Wahrscheinlichkeit der Mittelwert der quantitativen Untersuchung mit einer Abweichung von +/– 9,98 % bzw. 10,01 % der kumulierten Intervalllänge (1 bis 5) den wahren Wert der Population wiedergibt.29 Jeder der Untersuchungsteilnehmer gab mindestens eine zu ihm passende Branche an. Elf Franchisesysteme gaben zwei Branchen und drei Systeme gaben drei Branchen an. Durch die Mehrfachnennungen steigt der kumulierte Prozentanteil auf 117,98 %. Bei weniger als drei Nennungen einer Branche wurden die betroffenen Systeme der Kategorie „sonstige Dienstleistungen“ zugeordnet.

Abbildung 4:

3.1

Branchenaktivität der Franchisesysteme bzw. Untersuchungsteilnehmer

30

Operationalisierungsgrad der Strategischen Führung

Der Operationalisierungsgrad der einzelnen Dimensionen der Strategischen Führung ergibt sich aus dem Durchschnitt der Bewertungen der zugeordneten Statements. Für die Gesamtbewertung der Strategischen Führung werden die Dimensionen gleichwertig gewichtet. Je kleiner die angegebenen Werte sind, desto höher ist der Operationalisierungsgrad der Strategischen Führung bzw. der einzelnen Dimensionen. Es zeigt sich, dass Franchisesysteme grundsätzlich die Elemente der Strategischen Führung in einem hohen Maße einsetzen. Zwischen den einzelnen Branchen gibt es jedoch erkennbare Unterschiede. Während die Branchen „Hotellerie & Gastronomie“, „Vermittlung & Vermietung“, „Reparatur & Renovierung“ sowie „Beratung & Schulung“ überdurchschnittlich gut abschneiden, fällt insbesondere die Branche „Personenbetreuung & Pflege“ deutlich ab. Der Wert dieser Branche zeigt auf, dass der Einsatz der einzelnen Elemente der Strategischen 29 30

Vgl. Bortz, Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler (2005), S. 101 ff. In Anlehnung an Piazolo, Public Format Franchising – Potentialanalyse des Franchising in der öffentlichen Verwaltung (2011), S. 209.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

203

Führung eher mittelmäßig umgesetzt wurde. Welche Bereiche im Detail verhältnismäßig gut bzw. schlecht bewertet wurden, erfordert eine tiefergehende Analyse. Es stellt sich somit insbesondere die Frage, ob es innerhalb der einzelnen Elementen der Strategischen Führung deutliche Unterschiede gibt und inwieweit die jeweiligen Branchen die einzelnen Bereiche beherrschen.

Abbildung 5:

Operationalisierungsgrad der Strategischen Führung in Franchisesystemen

31

Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der einzelnen Dimensionen über alle Branchen hinweg auf. Dabei werden deutliche Unterschiede bzw. Trends erkennbar. Bei der Gesamtbeurteilung des Franchisings weisen insbesondere die Bereiche „Ziele“, „Umsetzung“ und „Prozesse“ verhältnismäßig schlechte Werte auf. Es sind Schwachstellen bei der Definition eindeutiger Ziele und Kennzahlen auf Basis der Unternehmensstrategie und der Wettbewerbssituation sichtbar. Im Bereich „Umsetzung“ gilt es, die Aktualität und Zugänglichkeit des Franchisehandbuchs zu erhöhen und ein adäquates Krisenmanagement und Ausbildungsprogramm zu erstellen. Die wesentlichsten Verbesserungen sind in der Dimension „Prozesse“ notwendig. Grundsätzlich sollte ein durchgängiges Geschäftsprozessmanagement inklusive der Identifikation, Validierung, Dokumentation und Verantwortungszuweisung der Kernprozesse sowie Monitoringfunktionen flächendeckender eingesetzt werden. Zudem mangelt es teilweise an der Einbindung vor- und nachgelagerter Prozesse sowie der adäquaten Einbindung der Franchisenehmer. Auf Ebene der Branchen werden die Schwachstellen bzw. negativen Trends deutlicher und detaillierter. Bis auf die Branche „Personenbetreuung & Pflege“ erfüllen alle Branchen die Dimensionen „Unternehmerische Vision“, „Strategien“ und „Kultur“ in einem hohen Maße positiv. Die meisten Franchisesysteme verfolgen bewusst eine Vision, welche klar und verständlich schriftlich festgehalten wurde, den Führungskräften durchgängig bekannt ist, die Bedürfnisse des sozialen Umfelds berücksichtigt und herausragende Ziele verfolgt. Auch die 31

Eigene Darstellung.

204

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

Strategien sind meist anhand der internen Ressourcen und Fähigkeiten sowie unter Berücksichtigung externer Einflüsse exakt definiert, festgelegt, umgesetzt und dokumentiert worden. Es ist dabei gerade für Franchisesysteme wichtig, dass das spezifische Know-how erkennbar, identifizierbar und geheim ist sowie durch die eingesetzten Strategien gewährleistet werden kann, dass eine reibungslose Übertragung der Erfolgsformel und langfristige finanzielle Tragfähigkeit für die Franchisenehmer gegeben ist. Die Unternehmenskultur ist meist zukunftsorientiert und drückt sich gemeinsam mit der Vision und der Unternehmenspolitik in den Leitbildern der Unternehmung aus. Zudem werden Rituale und Traditionen gepflegt und weiterentwickelt. Führungskräfte leben die Werte und Normen sowie definierten Strategien vor und sind sich, wie alle Akteure des Unternehmens, ihrer tragenden Rolle im Unternehmen bewusst. Zudem wurden das Unternehmenserscheinungsbild (Corporate Design), die Unternehmenskommunikation (Corporate Communication) und die Verhaltensregeln (Corporate Behavior) klar definiert und werden aktiv „gelebt“. Tabelle 1:

32

Operationalisierungsgrad der einzelnen Elemente der Strategischen Führung

Operationalisierung Führung

Vision

Politik

Strategie

Ziele

Organisation

Umsetzung

Kultur

Prozesse

Franchising gesamt

2,218

1,977

2,172

2,039

2,370

2,099

2,379

2,096

2,614

Beratung & Schulung

2,164

1,632

1,978

2,022

2,711

1,989

2,413

2,023

2,544

Fach- & Einzelhandel

2,380

2,128

2,242

2,254

2,244

2,385

2,679

2,155

2,949

Herstellung & Recycling

2,316

2,113

2,520

2,073

2,500

1,933

2,667

2,127

2,593

Hotellerie & Gastronomie

2,024

1,817

1,805

1,877

2,091

2,164

2,152

1,912

2,374

Personenbetreuung & Pflege

2,540

2,833

2,620

2,667

2,557

2,067

2,280

2,337

2,963

Reparatur & Renovierung

2,088

1,605

2,019

1,790

2,188

2,000

2,418

2,034

2,653

sonstige Dienstleistungen

2,221

2,033

2,295

2,021

2,372

2,011

2,290

2,149

2,594

sonstiger Vertrieb

2,221

2,064

2,359

2,029

2,230

1,800

2,520

2,236

2,528

Vermittlung & Vermietung

2,079

1,700

1,602

2,064

2,434

1,960

2,134

2,202

2,532

Die Branchen „Herstellung & Recycling“, „Personenbetreuung & Pflege“ und „sonstiger Vertrieb“ haben gegenüber den anderen Branchen Aufholbedarf bei der Dimension „Unternehmenspolitik“. Sie erfüllen weniger gut die Anforderung, dass die Unternehmenspolitik die internen Akteure und Franchisenehmer unterstützt, um gemeinsam erfolgreich am Markt aufzutreten. Die Vision wird in den genannten Branchen weniger stark in Leitbildern und Leitsätzen ausgedrückt, welche dem eigenen Personal zudem auch seltener bekannt sind. Die Unternehmensgrundsätze sowie die primären Werte und Normen sind weniger eindeutig definiert und für Mitarbeiter und Franchisenehmer nicht klar identifizierbar. Der Operationalisierungsgrad bzgl. des Bereiches „Organisation“ ist grundsätzlich hoch. Einzig die Branche „Fach- & Einzelhandel“ fällt im Verhältnis zu den anderen Branchen etwas ab. Franchisesysteme dieser Branche greifen weniger stark auf das Know-how32

Eigene Darstellung.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

205

Generierungspotential der Franchisenehmer zurück und setzen weniger nachhaltig Erfahrungstagungen, interne Schulungen, Jahrestreffen und Kommunikationsplattformen zur Erkenntnisgewinnung und zum Know-how-Transfer ein. Franchisenehmer werden zu einem etwas geringeren Ausmaß in strategische Entscheidungen eingebunden. Anhand von Mittelwerttests (t-Tests) und dem Korrelationstest nach Kendall (Kendalls Tau-b) und Spearman (Spearmans Rho) wurden die erfassten Daten auf signifikante Zusammenhänge und klare Trends zwischen der Branche und der Dimensionsbewertung hin untersucht. Dabei wurden die Mittelwerte bzw. Angaben einer Branche mit den Mittelwerten bzw. Angaben aller Branchen exklusive der betrachteten Branche herangezogen und verglichen. Folgende signifikante Zusammenhänge lassen sich identifizieren: •

Franchisesysteme der Branche „Beratung & Schulung“ haben einen signifikant höheren Operationalisierungsgrad im Bereich „Unternehmerische Vision“. • Die Branche „Vermittlung & Vermietung“ schneidet im Bereich „Unternehmenspolitik“ signifikant besser ab als andere Branchen. Im gleichen Bereich lässt sich zudem ein positiver Trend bei der Branche „Hotellerie & Gastronomie“ erkennen (Sig. < 0,1). • In der Dimension „Ziele“ schneidet die Branche „Beratung & Schulung“ hochsignifikant schlechter ab als andere Branchen. • Ein negativer Trend besteht zwischen der Branche „Fach- & Einzelhandel“ und der Dimension „Organisation“ (Sig. < 0,1). Auf Basis der Datengrundlage lässt sich allgemein feststellen, dass Franchisesysteme einen erkennbar positiven Operationalisierungsgrad der einzelnen Elemente der Strategischen Unternehmensführung erreichen. Es konnten jedoch auch Schwachstellen identifiziert werden, die es anhand einer Gegenüberstellung zur artikulierten Relevanz weiter zu bewerten gilt.

3.2

Relevanz der Strategischen Führung

Im Rahmen der Studie wurde neben dem Operationalisierungsgrad der Strategischen Führung auch die subjektive Wichtigkeit bzw. Relevanz der Strategischen Führung bzw. seiner einzelnen Elemente erfasst. Dies dient dazu, aufzuzeigen, inwieweit sich Franchisesysteme im Allgemeinen und innerhalb der jeweiligen Branche des Nutzens der strategischen Komponenten der Unternehmensführung bewusst sind. In der folgenden Abbildung 6 wurde die Branchenreihenfolge entsprechend der Höhe des Operationalisierungsgrades beibehalten. Die Ergebnisse zeigen über alle Branchen hinweg, dass die Strategische Führung in Franchisesystemen als durchweg hochrelevant betrachtet wird. Bei einer detaillierteren Betrachtung auf der Ebene der einzelnen Elemente der Strategischen Führung wird dies weitgehend bestätigt. Einzelne Auffälligkeiten sind dennoch bei der Einschätzung der Relevanz der Dimensionen erkennbar. Die Branche „Herstellung & Recycling“ schätzt in den Untersuchungsbereichen „Unternehmenspolitik“, „Ziele“ und „Prozesse“ die Relevanz verhältnismäßig niedrig ein. Stark abfallend ist zudem die Beurteilung der subjektiven Wichtigkeit durch Franchisesysteme der Branche „Personenbetreuung & Pflege“ bzgl. der Dimension „Prozesse“. Ebenfalls erkennbar ist die geringe Relevanz des Bereiches „Ziele“ aus Sicht der Branche „Beratung & Schulung“.

206

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

33

Abbildung 6:

Tabelle 2:

Relevanz der Strategischen Führung in Franchisesystemen

Relevanz der einzelnen Elemente der Strategischen Führung Führung

Vision

Politik

Strategie

Ziele

Organisation

Umsetzung

Kultur

Prozesse

Franchising gesamt

1,873

1,765

1,737

1,753

2,053

1,954

1,919

1,738

2,068

Beratung & Schulung

1,965

1,719

1,782

1,905

2,518

1,947

2,053

1,745

2,047

Fach- & Einzelhandel

1,970

1,602

1,736

1,983

2,052

2,215

2,205

1,799

2,162

Herstellung & Recycling

2,170

2,280

2,333

1,703

2,387

2,000

2,280

2,003

2,370

Hotellerie & Gastronomie

1,734

1,682

1,597

1,768

1,833

2,036

1,546

1,582

1,828

Personenbetreuung & Pflege

2,068

2,003

1,810

2,073

1,943

2,133

2,223

1,837

2,520

Reparatur & Renovierung

1,890

1,604

1,749

1,639

1,999

1,925

2,021

1,894

2,293

sonstige Dienstleistungen

1,762

1,784

1,633

1,633

1,920

1,729

1,731

1,677

1,988

sonstiger Vertrieb

1,805

1,811

1,696

1,485

1,709

1,775

2,118

1,721

2,124

Vermittlung & Vermietung

1,740

1,634

1,600

1,734

2,100

1,840

1,666

1,702

1,646

Relevanz

Um signifikante Zusammenhänge und klare Trends zu identifizieren, wurden auch für die Bewertung der Relevanz Mittelwerttests und Signifikanztests durchgeführt. Diese führen zu folgenden Erkenntnissen: •

Die Branche „Herstellung & Recycling“ schätzt die Relevanz des Bereiches „Unternehmenspolitik“ signifikant niedriger ein als andere Branchen. Im gleichen Bereich bewertet dagegen die Branche „sonstige Dienstleistungen“ die Relevanz signifikant höher.

33

Eigene Darstellung.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

207



Franchisesysteme der Branche „sonstige Dienstleistungen“ schätzt die Dimension „Strategie“ signifikant wichtiger ein als andere Branchen. Dagegen gibt es in der gleichen Dimension einen signifikant negativen Zusammenhang mit der Branche „Fach- & Einzelhandel“. • Den Bereich „Ziele“ bewertet die Branche „Beratung & Schulung“ hochsignifikant unwichtiger als andere Branchen. • Die Branche „sonstige Dienstleistungen“ schätzt die Wichtigkeit der Dimension „Organisation“ hochsignifikant höher ein als andere Branchen. In der gleichen Dimension bewerten Franchisesysteme der Branche „Fach- & Einzelhandel“ die Relevanz signifikant niedriger. • Während die Branchen „Hotellerie & Gastronomie“ und „sonstige Dienstleistungen“ die Relevanz der Dimension „Umsetzung“ signifikant höher bewerten als andere Branchen, bewertet dies die Branche „Fach- & Einzelhandel“ signifikant niedriger. • Positive Trends in Bezug auf die Relevanz bestehen zwischen der Branche „Vermittlung & Vermietung“ und der Dimension „Prozesse“ (Sig. < 0,1) sowie zwischen der Branche „sonstige Dienstleistungen“ und der Dimension „Ziele“ (Sig. < 0,1). Die Ergebnisse zeigen, dass sich Franchisesysteme grundsätzlich der Relevanz der einzelnen Elemente der Strategischen Führung sowie der Strategischen Führung an sich durchaus bewusst sind und diese ausgesprochen hoch bewerten. Auffallend sind dennoch die signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Branchen, welche, im Gegensatz zu den Ergebnissen zum Operationalisierungsgrad, gehäuft auftreten. Erwähnenswert sind insbesondere die Bewertungen zur Relevanz der Branchen „Fach- & Einzelhandel“ und „sonstige Dienstleistungen“. Erstere bewertet die Relevanz in den Dimensionen „Strategie“, „Organisation“ und „Umsetzung“ signifikant niedriger während Franchisesysteme der zweitgenannten Branche die Relevanz in den Bereichen „Unternehmenspolitik“, „Strategie“, „Organisation“ und „Umsetzung“ signifikant bzw. hochsignifikant höher einschätzen. Für die Branchen „sonstiger Vertrieb“, „Personalbetreuung & Pflege“ und „Reparatur & Renovierung“ lassen sich über die eingesetzten statistischen Verfahren keine signifikanten Zusammenhänge identifizieren.

3.3

Schlussfolgerungen der empirischen Studie

Die Schlussfolgerungen aus der Empirie ergeben sich, neben den bereits dargestellten Ergebnissen aus Punkt 3.1 und Punkt 3.2, insbesondere durch die Zusammenführung der Resultate zum Operationalisierungsgrad der Strategischen Führung und seiner einzelnen Dimensionen mit den Ergebnissen zur jeweiligen Bewertung der Relevanz. Inwieweit Franchising den eigenen strategischen Ansprüchen genügt, lässt sich aus der Gegenüberstellung der bisherigen Ergebnisse deutlich erkennen.

208

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

Abbildung 7:

Subjektiver Handlungsbedarf in Bezug auf die Strategische Führung in Franchisesystemen

34

Grundsätzlich sehen alle Branchen einen mehr oder weniger hohen subjektiven Handlungsbedarf. Dieser subjektive Handlungsbedarf ist im Allgemeinen erwartungsgemäß bei denjenigen Branchen höher, die die Strategische Führung bzw. die einzelnen Elemente der Strategischen Führung weniger gut operationalisiert haben. Lediglich in der Branche „Herstellung & Recycling“ ist ein ausgesprochen geringer Handlungsbedarf zur besseren Erfüllung der Operationalisierung der Strategischen Führung erkennbar, obwohl die zugeordneten Franchisesysteme dazu unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt haben. Den größten Handlungsbedarf sehen Franchisesysteme der Branche „Personenbetreuung & Pflege“ und „sonstige Dienstleistungen“. Bei der Branche „sonstige Dienstleistungen“ ergibt sich dies insbesondere aus der hohen Bewertung der subjektiv erkannten Relevanz und weniger aus dem geringeren Operationalisierungsgrad. Die Branchen „Reparatur & Renovierung“ und „Beratung & Schulung“ sehen, wie die Franchisesysteme aus der Branche „Herstellung & Recycling“, einen relativ geringen Handlungsbedarf. Inwieweit die einzelnen Elemente der Strategischen Führung vom artikulierten Handlungsbedarf insgesamt bzw. pro Branche betroffen sind, zeigt Tabelle 3. Dabei zeigt sich, dass einzelne Bereiche von Branchen identifiziert wurden, bei denen kein direkter subjektiver Handlungsbedarf besteht. Dadurch erklärt sich beispielsweise der insgesamt relativ niedrigartikulierte Handlungsbedarf der Branche „Herstellung & Renovierung“. Mitglieder dieser Branche lassen erkennen, dass im Rahmen der Dimensionen „Unternehmerische Vision“ und „Organisation“ zwischen dem Operationalisierungsgrad und der Relevanz keine Diskrepanz besteht und somit davon ausgegangen werden kann, dass kein direkter subjektiver Handlungsbedarf besteht. Gleiches gilt für die Branche „Beratung & Schulung“ im Bereich „Unternehmerische Vision“ und für die Branche „Personenbetreuung & Pflege“ im Bereich „Organisation“.

34

Eigene Darstellung.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung Tabelle 3:

209

Subjektiver Handlungsbedarf in Bezug auf die einzelnen Elemente der Strategischen Führung

35

Führung

Vision

Politik

Strategie

Ziele

Organisation

Umsetzung

Kultur

Prozesse

Franchising gesamt

0,345

0,212

0,435

0,285

0,317

0,145

0,460

0,358

0,546

Beratung & Schulung

0,199

–0,087

0,196

0,117

0,193

0,042

0,360

0,277

0,496

Fach- & Einzelhandel

0,410

0,526

0,505

0,271

0,192

0,169

0,474

0,356

0,787

Herstellung & Recycling

0,146

-0,167

0,187

0,370

0,113

–0,067

0,387

0,123

0,223

Hotellerie & Gastronomie

0,290

0,135

0,208

0,109

0,258

0,127

0,605

0,330

0,545

Personenbetreuung & Pflege

0,473

0,830

0,810

0,593

0,613

–0,067

0,057

0,500

0,443

Reparatur & Renovierung

0,198

0,001

0,270

0,151

0,189

0,075

0,396

0,140

0,360

sonstige Dienstleistungen

0,459

0,248

0,662

0,387

0,452

0,283

0,559

0,471

0,606

sonstiger Vertrieb

0,416

0,253

0,663

0,544

0,521

0,025

0,403

0,515

0,404

Vermittlung & Vermietung

0,338

0,066

0,002

0,330

0,334

0,120

0,468

0,500

0,886

Handlungsbedarf

Deutliche Umsetzungsdiskrepanzen tauchen im Rahmen aller Elemente der Strategischen Führung und Branchen auf. Am deutlichsten und über alle Branchen ersichtlich, bestehen diese im Rahmen der Dimension „Prozesse“. Dies entspricht der Erkenntnis aus Punkt 3.1, da dieses Element der Strategischen Führung im geringsten Maße adäquat operationalisiert ist. Das gleiche gilt für die Dimension „Umsetzung“, wobei ausschließlich die Branche „Personenbetreuung & Pflege“ an dieser Stelle keinen hohen Handlungsbedarf erkennen lässt. Eine überdurchschnittliche Diskrepanz ist auch in den Bereichen „Unternehmenspolitik“ und „Unternehmenskultur“ zu erkennen, wobei dabei deutlich zwischen den einzelnen Branchen unterschieden werden muss. Bezüglich einer ausgereiften Unternehmenspolitik besteht in den Branchen „Fach- & Einzelhandel“, „Personenbetreuung & Pflege“, „sonstige Dienstleistungen“ und „sonstiger Vertrieb“ ein beachtlicher Bedarf, diesen Bereich besser abzudecken. Zur adäquaten Erfüllung der strategischen Ansprüche an die Unternehmenskultur sind zusätzlich auch die Franchisesysteme der Branche „Vermittlung & Vermietung“ aufgerufen. Nahezu durchgängig erfüllen die Untersuchungsteilnehmer die Anforderungen des Bereichs „Organisation“. Auch die Themen rund um die klare Gestaltung der unternehmerischen Vision werden bereits verhältnismäßig gut abgedeckt. Lediglich die Branchen „Fach- & Einzelhandel“ und „Personenbetreuung & Pflege“ weisen an dieser Stelle erkannte Schwachstellen auf. Es ist generell festzuhalten, dass in den meisten Bereichen ein subjektiver Handlungsbedarf erkannt wird und sich dementsprechend die Franchisesysteme dessen bewusst sind.

35

Eigene Darstellung.

210

4

Felix Piazolo, Hans H. Hinterhuber und Kurt Promberger

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit zeigt deutlich auf, in welchem Ausmaß Franchisesysteme die einzelnen Elemente der Strategischen Führung operationalisiert haben und deren Relevanz erkennen bzw. anerkennen. Die Ergebnisse der Studie lassen den Schluss zu, dass Franchisesysteme grundsätzlich die allgemeinen Anforderungen der Strategischen Unternehmensführung erfüllen und somit zu einem hohen Grad einer erfolgskonformen Organisations- bzw. Netzwerkstruktur im Sinne des Strategischen Managements entsprechen. Die Studie lässt zudem erkennen, dass es deutliche Ergebnisunterschiede im Zusammenhang mit der jeweils betrachteten Branche gibt. Während einige Branchen wie beispielsweise „Hotellerie & Gastronomie“ oder „Vermittlung & Vermietung“, bereits zu einem relativ hohen Maße die Anforderungen der Strategischen Führung erfüllen, fallen andere Branchen, wie „Fach- & Einzelhandel“ oder „Personenbetreuung & Pflege“ dagegen deutlich ab. Bei der Betrachtung der Ergebnisse zur erkannten Relevanz der einzelnen Elemente der Strategischen Führung zeigt sich, dass die Franchisesysteme über alle Branchen hinweg der Überzeugung sind, dass die einzelnen Bestandteile des Innsbrucker Modells der Strategischen Unternehmensführung von hoher Wichtigkeit sind und dementsprechend adäquat umbzw. eingesetzt werden sollten. 1. Implikationen für das Management Aus der fast durchgängigen Diskrepanz zwischen dem realisierten Operationalisierungsgrad und der erkannten Relevanz ergeben sich deutliche Handlungsbedarfe und in Folge dessen Handlungsempfehlungen (Punkt 3.3) für das jeweilige Top-Management der Franchisesysteme. Dabei ist insbesondere auf die identifizierten branchenspezifischen Unterschiede zu achten. Franchiseunternehmen sollten sich im Speziellen dem Element „Prozesse“ widmen, da dort ein durchgängiger und hoher Handlungsbedarf besteht, ein funktionierendes Geschäftsprozessmanagement aufzubauen, welches sowohl interne als auch vor- und nachgelagerte Prozesse berücksichtigt sowie Franchisenehmer adäquat einbindet. Dieser Bereich ist das schwächste Glied der Elemente der Strategischen Führung in Franchisesystemen. 2. Implikationen für die Forschung Die Studie zeigt, dass die Vorgehensweise zur Evaluierung des Einsatzes der einzelnen Elemente der Strategischen Unternehmensführung geeignet ist. Es konnte sowohl der Operationalisierungsgrad als auch die erkannte Relevanz der Elemente erfasst werden. Erwartungsgemäß bestehen Diskrepanzen zwischen der aktuellen Realisierung und den subjektiven Anforderungen. Die eingesetzten Statements scheinen die einzelnen Elemente der Strategischen Unternehmensführung adäquat abzudecken, wobei es dies in einer Vergleichsstudie zu bestätigen gilt. Generell ist es zu empfehlen, eine breit angelegte Studie außerhalb von Franchisesystemen durchzuführen, um dadurch Erkenntnisse über verschiedene Organisationsformen hinweg gewinnen zu können. Es stellt sich die Frage, ob sich Franchisesysteme generell positiv von anderen Organisationsformen im Bereich der Strategischen Unternehmensführung abheben.

Strategische Führung in Franchisesystemen – eine empirische Untersuchung

211

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Geschäftsmodellinnovation Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

1

Einleitung

Strategie bedeutet – so M. E. Porter – anders zu sein, und: Ein Unternehmen kann auf Dauer nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil aufzubauen.1 Dazu muss es seine Wertschöpfungsaktivitäten anders – effektiver und effizienter – gestalten als seine Konkurrenten. Nachhaltig „anders zu sein“ erfordert also ein einzigartiges Geschäftsmodell zu erfinden. Vermehrt setzt sich die Überzeugung durch, dass Produktinnovation in der Zukunft kein ausreichendes Differenzierungspotenzial bietet.2 Zu schnell sind Konkurrenten in der Lage Innovationen zu kopieren, Lebenszyklen werden kürzer und Wettbewerber aus Niedriglohnländern verfügen über unschlagbare Kosten- und Preisvorteile. Gleichzeitig bieten die IK-Technologien neue Möglichkeiten, die Wertschöpfungsaktivitäten neu und anders zu konfigurieren. Vermehrt sehen Unternehmen in der Geschäftsmodellinnovation eine Möglichkeit nachhaltige Wettbewerbsvorteile aufzubauen.3 Die IBM CEO-Studie aus dem Jahre 2009 zeigte, dass 70 % der befragten CEOs in der Geschäftsmodellinnovation eine strategische Priorität sehen, 98 % arbeiten daran, ihr bestehendes Geschäftsmodell zu verändern. Eine Studie der Business Week gemeinsam mit der BCG belegt, dass Geschäftsmodellinnovatoren eine langfristig höhere Rendite aufweisen, als Produktinnovatoren.4 Amazon, Southwest Airlines, Apple, Nespresso, die Direktbanken, Software-as-a-Service, usw. sind Beispiele für Unternehmen, die den Kundennutzen neu definierten und gleichzeitig neue Wege in der Wertschöpfungsarchitektur fanden, um einen großen Teil dieses Mehrwerts in Ertrag zu verwandeln. In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, was eine Geschäftsmodellinnovation ist, welche Komponenten zu gestalten sind und zeigen anhand von einer Fallstudie, wie Geschäftsmodellinnovationen erfolgreich zu implementieren sind. Ausgehend von einer einzigartigen Positionierung entwickelten diese Unternehmen eine darauf abgestimmte Angebotslogik, eine stimmige Wertschöpfungsarchitektur, eine funktionierende Marketing- und Vertriebslogik und eine funktionierende Ertragslogik. Das Geheimnis eines nachhaltig erfolgreichen Geschäftsmodells liegt in seiner Stimmigkeit, in seiner Einzigartigkeit und darin, dass es nur sehr schwer kopierbar ist.

1 2 3 4

Porter, What is strategy? (1996). McGrath, When your business model is in trouble (2011). Teece, Business models, business strategy and innovation (2010). Lindgardt/Reeves/Stalk/Deimler, Business model innovation. When the game gets tough, change the game (2009).

214

2

Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

Geschäftsmodellinnovation: Value Creation und Value Capture

Ein Geschäftsmodell beschreibt die Art und Weise, wie ein Unternehmen Wert generiert (Value Creation) und diesen Wert monetarisiert (Value Capture), d. h. in Gewinn umwandelt.5 In diesem Sinne stellt ein Geschäftsmodell die „Unternehmenslogik“6 oder die „Theorie des Unternehmens“7 dar – wie es Peter Drucker einmal formulierte. Value Creation drückt den Nutzen aus, den das Unternehmen für seine Kunden schafft. Der Kundennutzen entspricht der grundsätzlichen Zahlungsbereitschaft für ein Produkt oder eine Dienstleistung (Willingness to Pay). Liegt der Nutzen über dem Preis, entsteht Mehrwert für den Kunden (Customer Value Added). Liegen die Kosten unter dem Preis, entsteht Gewinn für das Unternehmen – Value Capture. Abbildung 1 verdeutlicht diese Zusammenhänge.8

Abbildung 1:

Value Creation und Value Capture: Der Zusammenhang zwischen Willingness to Pay (Kunden9 nutzen), Customer Value Added, Gewinn und Kosten

Von Geschäftsmodellinnovation sprechen wird dann, wenn ein Unternehmen gleichzeitig den Kundennutzen steigert und ein neues Wertschöpfungs- und Ertragsmodell erfindet, mit dem es möglich ist, diesen Kundennutzen zu monetarisieren.

5 6 7 8 9

Teece, Business models, business strategy and innovation (2010). Casadesus-Masanell/Ricart, From strategy to business models and onto tactics (2010). Drucker, The theory of the business (1994). Bowman/Ambrosini, Value creation versus value capture: Towards a coherent definition of value in strategy (2000). Quelle: Eigene Darstellung.

Geschäftsmodellinnovation

215

Abbildung 1 stellt in abstrahierter Form drei Möglichkeiten einer Geschäftsmodellinnovation dar. Im ersten Fall (A) verändert das Unternehmen zwar nicht den Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung, es gelingt aber den „Customer Value Added“ zu steigern und durch eine neue Wertschöpfungsarchitektur die Kosten und den Preis zu senken. Es wird Mehrwert für den Kunden und für das Unternehmen geschaffen. Im zweiten Fall (B) führt eine Innovation zu höherer Zahlungsbereitschaft, d. h. höheren Nutzen für den Kunden. Ein höherer Preis und eine neue Wertschöpfungsarchitektur erlauben eine höhere Monetarisierung. Im dritten Fall (C) wird der Kundennutzen gesenkt – ein vereinfachtes, „abgespecktes“ Produkt wird angeboten. Die Preissenkung dafür ist überproportional, der Mehrwert für den Kunden steigt. Gleichzeitig erlaubt eine neue Wertschöpfungsarchitektur eine Kostensenkung – der Gewinn für das Unternehmen steigt. Value Creation und Value Capture sind also die zwei zentralen Aufgaben eines Geschäftsmodells.10 Die Unternehmenspraxis zeigt allerdings, dass die Entwicklung eines nachhaltig profitablen Geschäftsmodells äußerst schwierig ist. Die Problematik ist in Abbildung 2 veranschaulicht.

Abbildung 2:

11

Value Creation und Value Capture: Funktionierende und nicht funktionierende Geschäftsmodelle

Unternehmen im linken, oberen Quadranten schaffen Mehrwert für den Kunden, sind aber nicht in der Lage, einen Teil davon in Gewinn umzuwandeln. Der gesamte geschaffene Mehrwert fällt dem Kunden zu. Das liegt in der Regel an einer mangelnden Ertragslogik oder einer nicht stimmigen Wertschöpfungsarchitektur. Ersteres ist bei Skype der Fall. Der Mehrwert für den Kunden ist enorm. Mit mehr als 660 Millionen Kunden weltweit aber nur ca. 8 Millionen zahlenden Premiumkunden ist es bisher nicht gelungen, ein nachhaltiges Ertragsmodell zu finden, um vom geschaffenen Kundennutzen finanziell zu profitieren. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist Air Berlin. Die Fluglinie wies in den letzten Jahren hohe Wachstumsraten auf, für den Kunden wird offensichtlich ein überragender Mehrwert geschaffen: Der 10 11

Pitelis, The co-evolution of organizational value capture, value creation and sustainable advantage (2009). Quelle: Eigene Darstellung.

216

Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

Nutzen ist hoch, die Preise sind niedrig. Seit Jahren ist die Fluglinie allerdings in der Verlustzone. Die Wertschöpfungsarchitektur erlaubt es kaum, bei diesen Preisen Gewinne zu machen. Dem hybriden Geschäftsmodell – zwischen einer Full-Service-Fluglinie und einer Lowcost-Airline – fehlt die Stimmigkeit. Unternehmen im rechten, oberen Quadranten verfügen über ein nachhaltig ertragreiches Geschäftsmodell. Apple und Nespresso sind überzeugende Beispiele. Das Geschäftsmodell von Apple ist von Bailom, Friedrich von den Eichen und Anschober im Detail beschrieben.12 Nespresso werden wir in diesem Beitrag genauer betrachten. Unternehmen mit niedrigem oder keinem Mehrwert für den Kunden aber hohen Profit verfügen über keine nachhaltige Ertragsposition. Sie sind für Attacken der Konkurrenz durch neue Geschäftsmodelle sehr anfällig. Keine vernünftigen Erfolgsaussichten haben schließlich Unternehmen, denen es nicht gelingt, ausreichend Mehrwert für den Kunden zu schaffen und auch kein funktionierendes Wertschöpfungs- und Ertragsmodell haben.

3

Komponenten eines Geschäftsmodells

Apple mit dem iPod, iPhone und iPad, Southwest Airlines und Ryan Air, Nespresso, Zotter, Facebook und Google, Starbucks, Zara, Enterprise Car Rental, Direktbanken wie ING-DiBa oder Easybank sind Beispiele erfolgreicher Geschäftsmodellinnovationen in den letzten Jahren.13 Sie alle revolutionierten oder revolutionieren gerade ihre Branche. Was macht diese Geschäftsmodellinnovationen so einzigartig und so nachhaltig erfolgreich? Im Grunde gaben sie Antworten auf folgende zwei Fragen:14 1. Wie schaffen wir Mehrwert für den Kunden? (Value Creation) 2. Wie können wir diesen Mehrwert monetarisieren – oder anders ausgedrückt: wie können wir den Mehrwert, den wir schaffen, in Gewinn umwandeln? (Ertragslogik) Die Beantwortung dieser zwei Fragen bildet das Wesen eines Geschäftsmodells. Es ist die Theorie des Unternehmens, es beschreibt seine innere Logik und ist das Abbild der Strategie. Eine Geschäftsmodellinnovation umfasst immer diese zwei Aspekte. Um aus dieser „Theorie des Unternehmens“ ein erfolgreiches Wertschöpfungssystem zu gestalten, sind diese zwei Kernfragen des Geschäftsmodells um zwei weitere zu ergänzen. Wie funktioniert unser Wertschöpfungssystem: 1. Wie organisieren wir die Leistungserstellung und wie bauen wir nachhaltige Kostenvorteile auf? 2. Wie funktioniert unsere Vermarktungslogik: Wie gewinnen wir Kunden, wie können wir sie binden und mit welcher Vertriebslogik erreichen wir sie? 12 13

14

Bailom/Friedrich von den Eichen/Anschober, Die Dimensionen der Geschäftslogik sind systematisch zu betrachten! Komplex? (2010). Vgl. Bailom/ Friedrich von den Eichen/Anschober, Die Dimensionen der Geschäftslogik sind systematisch zu betrachten! Komplex? (2010); Johnson, Seizing the white space. Business model innovation for growth and renewal (2010); Markides, Game changing strategies. How to create new market space in established industries by breaking the rules (2008); Markides, Creativity is not enough (2010). Siehe in ähnlicher Form auch Christensen/Kagermann, Reinventing your business model (2008).

Geschäftsmodellinnovation

217

Ausgangspunkt für die Gestaltung dieser vier Komponenten des Geschäftsmodells ist die Positionierung des Unternehmens am Markt mit dem Ziel der nachhaltigen Differenzierung. Diese Frage betrifft das Kundenbedürfnis und das Ziel eine Monopolstellung in der Psyche der Kunden aufzubauen und abzusichern. Marktprämissen und Kernkompetenzen bilden den Rahmen. Daraus ergibt sich das in Abbildung 3 dargestellte Geschäftsmodell.15

Abbildung 3:

Komponenten eines Geschäftsmodells

16

Ausgangspunkt einer Geschäftsmodellinnovation ist eine einzigartige, innovative Positionierung am Markt. Was unter Positionierung zu verstehen ist, formulierte Hans Domizlaff bereits in den 1930er Jahren: „(…) es geht um den Aufbau und um die Sicherung einer Monopolstellung in der Psyche der Verbraucher.“17 Die enorme Produktvielfalt verdeutlicht die Notwendigkeit einer einzigartigen und unverwechselbaren Position am Markt: In einem durchschnittlichen Supermarkt findet man heute zwischen 20.000 und 40.000 Produkte. Jedes Jahr werden zigtausend neue Produkte eingeführt. Eine durchschnittliche Familie deckt ihren Bedarf mit nur 150 Produkten.18 Den wenigsten Unternehmen gelingt es aber, sich nachhaltig zu positionieren und zu differenzieren. Jack Trout et al. bringen es auf den Punkt: „Wo die Differenzierung fehlt, werden Unternehmen austauschbar und letztlich zu bloßen Platzhaltern. Platzhalter sind nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, Massenware zu sein, was sie unwiderruflich einem ruinösen Preiswettbewerb aussetzt.“19 Wir können die Rolle der Positionierung für ein Geschäftsmodell wie folgt zusammenfassen: Ohne Differenzierung keine wirksame Positionierung. Ohne Positionierung keine Einzigartigkeit. Und Einzigartigkeit treibt letztendlich die Chancen einer Geschäftsmodellinnovation. Die Angebotslogik bildet die zweite Komponente der Geschäftsmodellinnovation. Produktund Dienstleistungsinnovationen müssen auf die Positionierung abgestimmt sein. Sie sind 15 16 17 18 19

Bailom/ Friedrich von den Eichen/Anschober, Die Dimensionen der Geschäftslogik sind systematisch zu betrachten! Komplex? (2010). Quelle: Eigene Darstellung. Domizlaff, Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik (2006). Trout/Rivkin/Wied, Differenzierung im Hyperwettbewerb. Der Schlüssel für das Überleben von Marken (2009). Trout/Rivkin/Wied, Differenzierung im Hyperwettbewerb. Der Schlüssel für das Überleben von Marken (2009).

218

Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

letztendlich nur „Technologien“ um die Positionierung des Unternehmens am Markt zu verwirklichen. Produkte und Dienstleistungen haben für den Kunden nur dann einen Mehrwert, wenn sie einen einzigartigen Nutzen schaffen und wenn der Preis der Produkte unter dem Nutzen liegt – Ökonomen nennen dies Konsumentenrente. Die Wertschöpfungslogik betrifft die Frage, wie das Unternehmen seine Aktivitäten und Prozesse gestaltet, um das Produkt bzw. die Dienstleistung auf den Markt zu bringen. Dabei ist zu entscheiden, welche Wertschöpfungsstufen selbst durchgeführt werden, welche ausgelagert werden. Entscheidend ist die Frage nach Kernkompetenzen und der Wertschöpfung, die in den einzelnen Prozessen zu erzielen ist. Die Wertschöpfungslogik muss abgestimmt sein auf die Positionierung, auf die Produktlogik und auf die Ertragslogik. Apple beispielsweise lagert die Produktion nach China aus. Die Softwarekompetenz bleibt im Haus: „… one of our biggest insights (years ago) was that we didn’t want to get into any business where we didn’t own or control the primary technology because you’ll get your head handed to you.“ (Steve Jobbs). Im Geschäftsmodell müssen sich Unternehmen entscheiden, welche Rolle sie in der Wertschöpfung spielen wollen. Nach Heuskel verschiebt sich bereits seit Jahren der Wettbewerb innerhalb von Branchengrenzen hin zu einem Wettbewerb zwischen Wertschöpfungsarchitekturen über Branchengrenzen hinweg. Der Wettbewerb der Zukunft wird weniger ein Wettbewerb zwischen Unternehmen sein, sondern vielmehr ein Wettbewerb zwischen Netzwerken von Unternehmen.20 ROI =

Gewinn Umsatz

X

Umsatzrentabilität (ROS)

Umsatz

=

Investment

Gewinn Investment

Kapitalumschlag

Kapitalumschlag

4.0

Zwei Möglichkeiten, den ROI zu steigern:

3.0

• ROI = 5%

Gewinnmarge steigern (ROS)

oder

2.0

• 1.0

Invest. Kapital für ein bestimmtes Umsatzvolumen zu senken

.5 2.5%

Abbildung 4:

20 21

5.0%

7.5%

ROS

Ein betriebswirtschaftliches Grundprinzip eines Geschäftsmodells: Die Iso-ROI-Kurve

21

Heuskel, Wettbewerb jenseits der Industriegrenzen. Aufbruch zu neuen Wachstumsstrategien (1999). Quelle: Eigene Darstellung.

Geschäftsmodellinnovation

219

Die Marketing- und Vertriebslogik – ebenfalls abgestimmt auf die anderen Komponenten des Geschäftsmodells – beantwortet die Frage, wie Kunden akquiriert und wie sie gehalten werden können. Die Marketing- und Vertriebslogik ist insbesondere mit der Positionierung und der Ertragslogik abzustimmen. Die Ertragslogik schließlich bildet das Kernstück des Geschäftsmodells, sie besteht aus dem Erlös- und Kostenmodell und beantwortet die Frage, wie das Unternehmen sein Geld verdient. Dazu sind zunächst ein paar einfache betriebswirtschaftliche Grundüberlegungen anzustellen: Verdienen wir unser Geld durch Preisprämien oder durch hohe Volumina? (siehe Abbildung 4) Nach diesem Grundprinzip funktioniert beispielsweise das Geschäftsmodell des Diskonthandels. Lesen Sie dazu einen Bericht im Spiegel aus dem Jahre 1963 über die Revolution des Diskonthandels: „Landauf, landab eröffneten nun Diskonter ihre Selbstbedienungsscheunen, die durch simpelste Ausstattung und durch Billigstangebote auffielen. Auf absichtlich grob zurecht gehauenen Regalen stapelte sich wirr und verwirrend eine scheinbar unerschöpfliche Warenfülle, die zur demonstrativen Armut des sonstigen Interieurs krass kontrastierte. Das Publikum strömte staunend zuhauf. Es genoss in den seltsamen Etablissements das prickelnde Gefühl, auch einmal von den Früchten des Beziehungshandels naschen zu dürfen, die vorher nur den Lieblingskindern des Wohlstands vorbehalten waren: den BeziehungsReichen. … Danach verdiente der Diskonthändler mit einer durchschnittlichen Handelsspanne von 23 % bei gleichem Umsatz mehr als der Fachhändler mit 35 % Verdienstspanne, weil sein Sortiment nur 40 Artikel enthielt gegenüber 300 Artikeln im Fachgeschäft, sein Lager nur einen Wert von 25.000 Mark hatte gegenüber 70.000 Mark beim Fachhändler, sein Lager jährlich achtmal umgeschlagen wurde gegenüber dreimal beim Fachhändler und der Diskonter bei gleichem Umsatz weniger Personal und eine erheblich kleinere Ladenfläche benötigte“.22 Tabelle 1 stellt die Ertragslogik unterschiedlicher Geschäftsmodelle im Handel dar. Tabelle 1:

23

Ertragslogik unterschiedlicher Geschäftsmodelle im Handel

Geschäftsmodell

Typische Marge

Typischer Lagerumschlag

Return on Inventory Investment*

Kaufhaus Kataloghandel Diskonthandel Internethandel

40 % 30 % 23 % 5%

3× 4× 5× 25 ×

120 % 120 % 115 % 125 %

* Berechnet aus: Marge × Lagerumschlag Wesentliche Treiber des Ertragsmodells sind auch Economies of Scale oder Economies of Scope, Customer Lifetime Value-Konzepte, Cross-Selling, Cross-Subsidization-Modelle (Premium-Kunden „subventionieren“ Nicht-Zahler, z. B. XING), Umwegrentabilitäten (z. B. Google’s pay-per-click ads), oder Razor-Blade-Modelle. Vor allem Letztere erlangen enorme Beliebtheit, benannt nach seinem Erfinder King Gillette.24 Nach seiner Erfindung der Weg22 23 24

Zit. n. Christensen/Matzler/ Friedrich von den Eichen, Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren (2011). Christensen/Tedlow, Patterns of disruptiom in retailing (2000). Anderson, Why $ 0.00 is the future of Business (2008).

220

Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

werfklinge verkaufte King Gillette im Jahre 1903 gerade einmal 51 Rasierer und 168 Klingen. Bitter enttäuscht veränderte er daraufhin seine Ertragslogik: Er verkaufte Rasierer zu Spottpreisen an die Army, verschenkte die Rasierer als Zugaben mit Wrigley’s Kaugummi, Kaffee, Tee, Gewürzen und Marshmallows. Sein Geld verdiente er mit den Klingen. Daraus entstand eines der erfolgreichsten Geschäftsmodelle. Ein paar Milliarden verkaufter Rasierklingen später wurde diese Ertragslogik die Grundlage vieler Branchen: Mobiltelefonie, Tintenstrahldrucker, Kaffeemaschinen und sogar Apple verwenden die Logik. Apple drehte sie allerdings um: Teure IPhones und Ipads, sie ermöglichen den Zugang zu günstiger Musik und Gratis-Apps. Tabelle 2:

Kernfragen zum Geschäftsmodell

Komponente

Fragen

Positionierung

1. 2.

Angebotslogik

3. 4. 5.

Wertschöpfungslogik

6. Marketing- und Vertriebslogik Ertragslogik

7. 8. 9.

25

Auf welches Grundbedürfnis zielt das Unternehmen? Wie gelingt es, eine Monopolstellung in der Psyche der Verbraucher aufzubauen und abzusichern? Mit welchen Produkten erreichen wir unsere Positionierung? Welchen Mehrwert bieten wir unseren Kunden? Wie gestalten wir unsere Wertschöpfungsprozesse, um diese Angebote effizient und effektiv auf den Markt zu bringen? Was sind unsere Kernkompetenzen und Kernprozesse, auf die wir uns konzentrieren und die uns Wertschöpfung ermöglichen? Wie akquirieren wir Kunden? Wie halten wir Kunden? Nach welcher ökonomischen Formel machen wir unseren Gewinn?

Im folgenden Abschnitt stellen wir eine der erfolgreichsten Geschäftsmodellinnovationen der letzten Jahre dar. Wir verwenden das in diesem Beitrag dargestellte Konzept des Geschäftsmodells um die Erfolgsgeschichte von Nespresso nachzuzeichnen. In allen fünf Komponenten des Geschäftsmodells ging Nespresso neue Wege. Ein einzigartiges, innovatives und in sich stimmiges Geschäftsmodell bildet die Grundlage für diesen außergewöhnlichen Erfolg.

4

Das Geschäftsmodell von Nespresso

Nespresso ist eine der erfolgreichsten Geschäftsmodellinnovationen der letzten Jahre. Seit 2000 wuchs Nespresso mit 30 % pro Jahr und ist damit innerhalb von Nestlé der am schnellsten wachsende Geschäftsbereich, im Jahre 2009 betrug der Umsatz 2,77 Mrd CHF, in jeder Minute werden weltweit 10.000 Tassen Nespresso getrunken.26

4.1

Die Positionierung

Die Grundidee hinter dem Nespresso-Konzept lag in der Individualisierung, so der CEO der Nestlé Coffee Specialties Willem Pronk vor mehr als einem Jahrzehnt: “„Individualization is 25 26

Quelle: Eigene Darstellung. Nestlé-Nespresso, Leidenschaftliches Streben nach Höchstleistungen (2010).

Geschäftsmodellinnovation

221

a driving force in today’s markets – in everything form the telephone to beer to tea to personal computers. The Nespresso System is an innovative concept that offers consumers individual portions of freshly-ground coffee in a range of tastes that result in an exceptional cup of espresso every time. We’re convinced of the power of the idea and the technology behind it, and we’re aiming to grow this business eightfold to SFr 1 billion in the next decade“.27 Mit dieser Idee gelang eine nachhaltige Differenzierung am Markt: Man wollte den Konsumenten die Möglichkeit geben, Espresso nach ihren individuellen Wünschen mit exquisiter Crema, Aroma und vollmundigem Geschmack selbst zuzubereiten. Vielfalt im Angebot, individuellen Kaffeegenuss, verbunden mit Convenience erlaubte eine einzigartige Positionierung.

4.2

Die Angebotslogik

Geleitet von dieser Positionierung wurde das Kapselsystem entwickelt. Einzelne vakuumverpackte Kapseln, die Aroma und Frische behalten, sind in 16 Grand Cru-Geschmacksrichtungen verfügbar. Während Konsumenten bis dahin meist nur eine Kaffeesorte in einer 250g oder 500g-Packung zuhause hatten, erlaubt es Nespresso jetzt, Vielfalt mit individuellem Kaffeegenuss zu verbinden. Die hermetisch versiegelten Kapseln schützen vor Luft, Licht und Feuchtigkeit. Dadurch werden Aroma, Frische und Geschmack vollständig erhalten. Die Qualität eines Espressos hängt aber nicht nur von der Qualität des Kaffees, sondern auch maßgeblich von der Espressomaschine ab. Wassertemperatur – sie muss idealerweise zwischen 86 und 91°C konstant gehalten werden – und Wasserdruck sind für den Geschmack ausschlaggebend. Daher entwickelte Nespresso eine eigene Kaffeemaschine mit elektronischer Wassertemperaturreglung und einem patentierten Extraktions- und Brühsystem inklusive einer 19-Bar-Hochdruckpumpe.28 Exklusiver und persönlicher Kundendienst rund um die Uhr stellen individuellen Service sicher. Damit ist die Angebotslogik perfekt auf die Positionierung abgestimmt.

4.3

Die Wertschöpfungslogik

Nestlés Kernkompetenzen liegen in der Lebensmittelproduktion und -vermarktung – nicht in der Herstellung von Haushaltsgeräten. Daher entschied man sich, das Nespresso-System in Kooperation mit einem externen Designpartner und mehreren Maschinenspezialisten zu entwickeln.29 Insgesamt wurden über 1.700 Patente angemeldet. Die Produktion und der Vertrieb der Kaffeemaschinen erfolgt von Lizenzpartnern, anerkannten Herstellern von Haushaltsgeräten; damit verdient Nespresso auch kein Geld.30 Nespressos Wertschöpfungsarchitektur konzentriert sich auf die Weiterentwicklung des Nespresso-Systems, auf die Kaffeeproduktion und auf dessen Vermarktung. Vor allem in der Kaffeeproduktion, die nach der Idee des Shared-Value-Konzeptes31 funktioniert, baute Nespresso zentrale Kernkompetenzen auf. Im Jahre 2003 führte Nespresso das AAA Sustainable Quality Programm ein, mit dem 27 28 29 30 31

Kashani, Innovation and renovation: The Nespresso story (2000). Nestlé-Nespresso, Leidenschaftliches Streben nach Höchstleistungen (2010). Nestlé-Nespresso, Leidenschaftliches Streben nach Höchstleistungen (2010). Kashani, Innovation and renovation: The Nespresso story (2000). Porter/Kramer, Creating Shared Value (2011).

222

Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

Qualität und Nachhaltigkeit in der Wertschöpfungskette durch „gemeinsame Wertschöpfung“ erzielt wird. Bis 2013 will man 80 % des gesamten Kaffees von Kaffeebauern beziehen, die das Rainforest Alliance-Certified-Gütesiegel führen.32

4.4

Die Marketing- und Vertriebslogik

Auch im Marketing und Vertrieb ging Nespresso vollkommen neue Wege. Während früher der Lebensmitteleinzelhandel praktisch der einzige Vertriebsweg war, setzte Nespresso auf ein vollkommen neues Konzept: Internet-Vertrieb (Nespresso Club), exklusive RetailBoutiquen und Flagship-Stores. Dadurch erreicht man direkten Kundenkontakt (etwa 70 % der weltweit 4.500 Mitarbeiter stehen in direktem Kundenkontakt), direkten Service, ein exklusives Markenimage und natürlich höhere Margen. Die Kundenakquisition erfolgt über mehrere Wege: 1) über den Handel, der die Kaffeemaschinen vertreibt, 2) über exklusive Werbung („Nespresso, what else?“ – seit 2006 mit George Clooney) und über 3) den Nespresso Club, der mittlerweile über 7 Millionen Mitglieder hat – über 50 % der neuen Nespresso Mitglieder lernen den Club über bestehende Mitglieder kennen.

Abbildung 5:

32 33

33

Das Geschäftsmodell von Nespresso

Nestlé-Nespresso, Leidenschaftliches Streben nach Höchstleistungen (2010). Quelle: Eigene Darstellung.

Geschäftsmodellinnovation

4.5

223

Die Ertragslogik

Die Ertragslogik bei Nespresso funktioniert nach dem Razor-Blade-Modell. Qualitativ hochwertige Kaffeemaschinen mit attraktivem Design werden zu einem sehr günstigen Preis über Lizenzpartner vertrieben. Nespresso verdient mit den Kaffeemaschinen kein Geld.34 Sein Geld verdient Nespresso vorwiegend mit den Kapseln – nach Analysen-Schätzungen beträgt die Marge etwa 50 %.35 Die zweite Komponente der Ertragslogik bildet das CrossSelling von Kaffeeaccessoires. Abbildung 5 zeigt das Geschäftsmodell von Nespresso. Die einzigartige Positionierung und das innovative Produkt waren wichtig für den Erfolg. Sie reichten aber nicht aus. Die Idee, Kaffee in Kapseln zu verkaufen, haben mittlerweile viele kopiert. Was aber kaum kopierbar ist, ist das gesamte System – das Geschäftsmodell. Und dieses nicht-kopierbare Geschäftsmodell ist die Grundlage für den nachhaltigen Erfolg.

5

Fazit

Produktinnovationen weisen kaum noch ausreichendes Differenzierungspotenzial auf. Kürzer werdende Lebenszyklen, kürzere Imitationszeiträume und zunehmende Konkurrenz aus Niedriglohnländern erfordern neue, nachhaltig absicherbare Wettbewerbsvorteile. Einzigartige, nicht kopierbare Geschäftsmodelle bieten hierzu die Möglichkeit. Ihre Aufgabe ist es, neue Möglichkeiten zu finden, Mehrwert für den Kunden zu generieren und einen Teil dieses Mehrwertes zu monetarisieren. Eine Geschäftsmodellinnovation erstreckt sich auf vier Komponenten: 1) innovative, einzigartige Positionierung, 2) eine stimmige Angebotslogik, 3) eine darauf abgestimmte Wertschöpfungsarchitektur, 4) eine effektive Marketing- und Vertriebslogik und 5) eine funktionierende Ertragslogik. Am Beispiel einer der erfolgreichsten Geschäftsmodellinnovation der letzten Jahre – dem Nespresso-System – haben wir in diesem Beitrag das Konzept einer Geschäftsmodellinnovation nachgezeichnet. Einzigartigkeit, Nicht-Kopierbarkeit und vor allem Stimmigkeit der einzelnen Komponenten sind die Zutaten für den Erfolg.

Literatur Anderson, C.: Why $ 0.00 is the future of business, in: Wired Magazine, March (2008), S. 140–194. Bailom, F./ Friedrich von den Eichen, St./Anschober, M.: Die Dimensionen der Geschäftslogik sind systematisch zu betrachten! Komplex?, in: IMP Perspectives, 2 (2010), S. 35–51. Bowman, C./Amrosini, V.: Value creation verses value capture: Towards a coherent definition of value strategy, in: British Journal of Management, 11 (2000), S. 1–15. Casadesus-Masanell, R./Ricart, J. E.: From strategy to business models and onto tactics, in: Long Range Planning, 43 (2010), S. 195–215. Christensen, C. M./Kagermann, H.: Reinventing your business model, in: Harvard Business Review, December (2008), S. 2–10. 34 35

Kashani, Innovation and renovation: The Nespresso story (2000). Kashani, Innovation and renovation: The Nespresso story (2000).

224

Kurt Matzler, Franz Bailom und Stephan Friedrich von den Eichen

Christensen, C. M./Matzler, K./ Friedrich von den Eichen, St.: Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, München 2011. Christensen, C. M./Tedlow, R.: Patterns of disruption in retailing, in: Harvard Business Review, January/February (2000), S. 42–45. Domizlaff, H.: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik, Hamburg 2005. Drucker, P.: The theory of the business, in: Harvard Business Review, September-October (1994), S. 95–104. Heuskel, D.: Wettbewerb jenseits der Industriegrenzen. Aufbruch zu neuen Wachstumsstrategien, Frankfurt/New York 1999. Johnson, M. W.: Seizing the white space. Business model innovation for growth and renewal, Boston/Mass 2010. Kashani, K.: Innovation and renovation: The Nespresso story, IMD Case study (2000). Lindgardt, Z./Reeves, M./Stalk, G./Deimler, M.: Business model innovation. When the game gets tough, change the game, The Boston Consulting Group (2009). Markides, C. C.: Game-changing strategies. How to create new market space in established industries by breaking the rules, San Francisco 2008. Markides, C. C.: Creativity is not enough, in: IMP Perspectives, 2 (2010), S. 73–81. McGrath, R. G.: When your business model is in trouble, in: Harvard Business Review, January/February 2011, S. 96–98. Nestlé-Nespresso, S. A.: Leidenschaftliches Streben nach Höchstleistungen, März (2010). Pitelis, C. N.: The co-evolution of organizational value capture, value creation and sustainable advantage, in: Organization Studies, 30 (10) (2009), S. 1115–1139. Porter, M.: What is strategy?, in: Harvard Business Review, November/December (1996), S. 61–78. Porter, M. E./Kramer, M. R.: Creating Shared Value, in: Harvard Business Review, January/February (2011), S. 62–77. Teece, D. J.: Business models, business strategy and innovation, in: Long Range Planning, 43 (2–3) (2010), S. 172–194. Trout, J./Rivkin, S./Wied, L.: Differenzierung im Hyperwettbewerb. Der Schlüssel für das Überleben von Marken, München 2009.

Sanierungsmanagement – Herausforderungen im Rahmen von Restrukturierungs- und TurnaroundProjekten Christoph Strobl

1

Persönliches

Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre führte den westlichen Industriestaaten und den Unternehmern als Player auf dem globalisierten Spielfeld ihre Vernetztheit und die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten von auf den ersten Blick irrelevanten Entwicklungen vor Augen. Ein immer komplexeres allgemeines Umfeld mit mehr Marktteilnehmern und vielfältigen Einflussgruppen, ein in Echtzeit stattfindender weltweiter Wettbewerb, nahezu unbeschränkte Informationsmöglichkeiten und die daraus resultierende Informationsflut sowie immer kürzer werdende Produkt-Lebenszyklen führen häufiger zu diskontinuierlichen Veränderungen, zu einem steigenden Überraschungsfaktor im Management und zu enormen Chancen und Risiken der unternehmerischen Entwicklung. Dazu kommen die Bestrebungen, die weltweiten Finanzmärkte stärker als bisher zu reglementieren. Diese Maßnahmen werden insbesondere für klein- und mittelständische Unternehmen einen beschränkteren Zugang zu Fremdmitteln bzw. eine Verteuerung der Finanzierung mit sich bringen. Für die Unternehmen ergaben sich aus all diesen Trends bisher nicht bekannte Ursachen für krisenhafte Entwicklungen. In diesen Situationen steht das Management von Unternehmen vor Herausforderungen, die mit den bisherigen Management-Praktiken nicht mehr bewältigt werden können.

2

Krise – Definition und Entwicklung

Unter einer Unternehmenskrise versteht man eine außerordentliche Situation, die einerseits die Existenz des Unternehmens nachhaltig stören oder gefährden kann, und das Management des Unternehmens unter einen erheblichen Entscheidungs- und Handlungsdruck setzt.1 1

Vgl. Kropfberger/Mödritscher Psychologie in der Krise (2002), S. 136.

226

Christoph Strobl

Dabei kann zwischen Krisen im engeren und im weiteren Sinne unterschieden werden, wobei erstere nach gängiger Ansicht bereits zu bedrohlichen Einbrüchen des Unternehmenserfolgs oder zu Liquiditätsengpässen geführt haben. Demgegenüber werden unter Unternehmenskrisen im weiteren Sinn auch latente Bedrohungen des Unternehmens, seiner Erfolgspotenziale und strategischen Positionen gesehen. Diese latenten Bedrohungen sind ex definitionem nicht offensichtlich, daher schwerer erkennbar und können deshalb vom Management häufig nur mit außerordentlichen Maßnahmen beherrscht werden.2 Das IDW – Institut der deutschen Wirtschaftsprüfer definiert in seinem Standard S 6 „Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten“ einen modellhaften Verlauf von Unternehmenskrisen.

Stakeholderkrise Konflikte zwischen einzelnen Gruppen und/oder ihren Mitgliedern

Strategiekrise Zerstörung langfristiger Erfolgsfaktoren

Produkt- und Absatzkrise

Handlungsspielraum

Starker Nachfragerückgang bei Hauptumsatzträgern

Erfolgskrise Aufzehren des Eigenkapitals durch Verluste

Liquiditätskrise Gefahr der Zahlungsunfähigkeit und/oder Umschuldung

Insolvenz Zahlungsunfähigkeit und/oder Umschuldung

Zeitliche Abfolge und Handlungsdruck

Abbildung 1:

Verlauf von Unternehmenskrisen

3

1.

Dieses Modell verknüpft die Inhalte der Krise mit dem jeweils verbleibenden Handlungsspielraum und einer idealtypischen zeitlichen Abfolge und dem sich daraus ergebenden Handlungsdruck. Vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen allgemeinen Situation ist jedoch festzustellen, dass die Entwicklung in der Realität meist nicht linear, sondern vielmehr sprunghaft, einzelne Stadien auslassend und parallel verläuft. Im Folgenden werden die wesentlichsten Stufen einer Krise dargestellt: Eine Stakeholderkrise entsteht durch Konflikte zwischen oder innerhalb von Stakeholdergruppen. Sie kann z. B. zur Blockade notwendiger Entscheidungen, zu mangelnder Leistungsbereitschaft innerhalb der Belegschaft, zur Behinderung des Controlling und der internen Revision oder zur Kompensation von Qualitätsverlusten durch ein verstärktes Marketing führen. Einen besonderen Aspekt stellt der Vertrauensverlust zu den finanzierenden Banken durch mangelhafte Kommunikation und Offenheit dar, da ein solcher Vertrauensbruch geeignet ist, unmittelbar zu einer Liquiditätskrise zu führen (siehe dazu auch die Ausfüh-

2

Vgl. Kropfberger/Mödritscher Psychologie in der Krise (2002), S. 163; Gälweiler, Determinanten des Zeithorizontes in der Unternehmensplanung (1997), S. 369. In Anlehnung an: Schimpf, Handlungsoptionen in der Unternehmenskrise, Vortrag in der BDO-Veranstaltungsreihe „Chancen in der Krise nutzen“ (2009), S. 5; Institut der deutschen Wirtschaftsprüfer: Standard S 6, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (2009), S. 578 ff.

3

Sanierungsmanagement –Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten

2.

3.

4.

5.

6.

227

rungen zur Bankenkommunikation). Ziel muss es an dieser Stelle sein, das Vertrauen zu den betroffenen Stakeholdergruppen durch Einbindung, vertrauensvolle Zusammenarbeit, Einfordern von Beiträgen, Überzeugungsarbeit und ggf. Einschaltung externer Berater wieder aufzubauen. Eine Strategiekrise ergibt sich aus falsch eingeschätzten Wettbewerbs- und Marktentwicklungen, aus einer unklaren Kundenorientierung und -positionierung, falschen Schwerpunktsetzungen oder strukturellen Defiziten, wie z. B. einer unangemessenen Fertigungstiefe. Sie führt häufig zu Störungen und Verzögerungen im Produktionsprozess, zu zunehmendem Marktwiderstand, verlangsamten Lagerumschlag oder auch zum Abgang von Schlüsselmitarbeitern. An dieser Stelle ist eine strategische Neuausrichtung unabdingbar, womit einerseits neu gestaltete Produkt-/Markt-Kombinationen und eine entsprechende Ressourcenallokation sowie die Nutzung von bestehenden Potenzialen zum Aufbau einer gestärkten Wettbewerbsposition angesprochen werden. Eine Produkt- und Absatzkrise resultiert aus Sortimentsschwächen, einem unzureichenden Marketing- und Vertriebskonzept sowie aus Qualitätsmängeln. Sie führt zu Brüchen im Leistungserstellungsprozess, einbrechenden Umsätzen von Kernprodukten und Erfolgsträgern, steigenden Fertigwarenlagern und einer zunehmenden Kapitalbindung. Die Wiedererlangung einer verlorenen Marktposition kann beispielsweise durch eine Verbesserung des Preis-/Leistungsverhältnisses, durch marketingpolitische Entscheidungen, ein Vorziehen geplanter Produktinnovationen und -verbesserungen oder ein Umstellen des Produktportfolios bewältigt werden. Eine Erfolgskrise entsteht durch eine ungünstige Kostenstruktur, kurzfristig entstandene Markteinbrüche oder unzureichendes Gegensteuern in den vorangegangenen Krisenstadien. Sie lässt sich aus sinkenden Ergebniszahlen, reduzierten Deckungsbeiträgen bei umsatzstarken Produkten, anhaltend negativen Betriebsergebnissen und einer Verschlechterung der Bilanzrelationen (z. B. des Eigenkapitalanteils) ableiten. Ist diese Situation eingetreten, so werden tiefgreifende Sofortmaßnahmen im Sinne der Straffung des Leistungsspektrums und einer entsprechenden Anpassung der Fertigungstiefe notwendig. Darüber hinaus sind Anstrengungen zu einer Steigerung der Umsätze und zur Verbesserung der Kostenstruktur notwendig, um eine nachhaltige und branchenübliche Rendite sicher zu stellen. Die Liquiditätskrise entsteht durch fehlendes oder unzureichendes Working-CapitalManagement, eine unzureichende Eigenkapitalausstattung und daraus resultierenden Finanzierungsschwierigkeiten, eine Fristeninkonsistenz bei der Finanzierung und eine Ballung von Fälligkeiten in der Finanzierung. Häufig sind an dieser Stelle der Liquiditätsschwierigkeiten (z. B. Verzicht auf Skontozahlung, Zahlung erst nach letzter Mahnung oder gerichtlichen Maßnahmen) und ein chronisch unterdeckter Liquiditätsplan zu beobachten. Neben Sofortmaßnahmen wie neue Zahlungsvereinbarungen mit den Lieferanten, dem Eintreiben fälliger Forderungen, dem Verkauf nicht betriebsnotwendigen Vermögens oder der Senkung der Personalkosten sind an dieser Stelle Neufinanzierungen und die Zufuhr frischen Eigen- und Fremdkapitals erforderlich. Schließlich stellt die Insolvenz als letztes Stadium den teilweisen oder gänzlichen Verlust der Selbstbestimmung im Unternehmen dar. Sie ist einerseits bedingt durch eine (drohende) Zahlungsunfähigkeit und andererseits durch eine Überschuldung, wobei an dieser Stelle nicht auf die juristischen Erfordernisse der Beantragung eingegangen werden soll.

228

Christoph Strobl

Der abnehmende Handlungsspielraum und der im Zeitablauf immer größer werdende Handlungsdruck unterstreicht die Bedeutung der möglichst frühen Erkennung einer Krise. Damit ist an dieser Stelle nicht nur die faktenbasierte Erkennung gemeint, sondern vielmehr auch die Bewusstseinsbildung beim Management oder den Eigentümern des Unternehmens, dass eine Krise vorliegt. Häufig ist zu beobachten, dass in der Praxis zwar die Fakten gesehen werden, diese jedoch im Sinne einer „Vogel-Strauß-Haltung“ nicht wahrgenommen werden wollen.

3

Strategische Frühaufklärung

Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung einer möglichst frühen Erkennung und bewussten Befassung mit der Krise offensichtlich. Als Benchmark für Bemühungen zu einer frühen Erkennung und Bewusstmachung von Krisen können militärische Frühaufklärungssysteme herangezogen werden. Ansoff unterscheidet in diesem Zusammenhang unterschiedliche Stadien der Wahrnehmung von Krisen durch das Management und gründet darauf sein Konzept der „schwachen Signale“.

Gefühl der Chance/Bedrohung ist gegeben



Quelle der Chance/Bedrohung ist bekannt

• •

Bereich oder Institution als Ursache der Diskontinuität ist bekannt Ursache der Bedrohung oder Chance

Chance/Bedrohung wird konkret

• • •

Merkmale der Bedrohung Art der Wirkung und allgemeiner Wirkungsgrad Zeitpunkt der Wirkung ist bekannt

Reaktion wird konkret planbar

• •

Zeitpunkt und Handlung Programme und Budgets

Ergebnis der Reaktion wird konkret

• •

Wirkung auf den Gewinn Folgen der Reaktion errechenbar

Abbildung 2:



Überzeugung, dass eine Diskontinuität bevorsteht Anzeichen der Bedrohung oder Chance

Grad bzw. Intensität der Unsicherheit

4

Aus der damit beschriebenen Abnahme der Unsicherheit ergibt sich damit auch der (zeitliche) Spielraum für eine entsprechende Reaktion, der von Stadium zu Stadium geringer wird bis schließlich ein Verlust oder sogar eine Insolvenz eintritt.5 4 5

In Anlehnung an: Ansoff, Strategic Management (1984), S. 335. Vgl. Strobl, Strategische Frühaufklärung– Wettbewerberbeobachtung bei internationalen Konzernen (1991), S. 57 ff.; Ansoff, Implanting Strategic Management (1984), S. 359 ff.

Sanierungsmanagement –Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten

229

Zeit bis zum Abschluss der Reaktion

Darüber hinaus kann zwischen „starken“ Reaktionen, die ein direktes externes oder internes Handeln beinhalten, und „schwachen“ Reaktionen, die vorwiegend auf die Erhöhung der Flexibilität und die Schaffung eines Problembewusstseins gerichtet sind, unterschieden werden. Zunächst gilt es, mittels „schwächerer“ Reaktionen die Wahrnehmung gegenüber Entwicklungen in der Umwelt sowie jenen eigener Stärken und Schwächen laufend zu schärfen. Danach reichen die Maßnahmen von der Bewahrung einer extern ausgerichteten Flexibilität (z. B. die Balance der Produkt-Lebenszyklen) über eine interne Ausrichtung der Organisation im Hinblick auf flexible Reaktionen auf schwache bzw. stärker werdende Krisensignale bis hin zu Maßnahmen in Bezug auf die Planung und Implementierung strategischer Programme sowie entsprechenden Eventualplanungen.6 Die folgende Darstellung der internen Dynamik der Reaktion veranschaulicht die Bedeutung einer frühzeitigen Erkennung von Brüchen im Umfeld oder innerhalb des Unternehmens. Ziel muss es daher sein, von einer „Ad-hoc-Crash-Reaktion“ hin zu einer „geplanten CrashReaktion“ zu kommen, um damit als Unternehmen möglichst gut auf krisenhafte Entwicklungen vorbereitet zu sein.7

Normalreaktion

Ad-hoc-Crash-Reaktion

Geplante Crash-Reaktion

unvorbereitet

Selbstwahrnehmung

Umweltwahrnehmung

Intern flexibel

extern flexibel

unternehmensintern bereit

Reaktion abgeschlossen

Ausgangszustände Abbildung 3:

6 7

8

8

Interne Dynamik der Reaktion

Vgl. Ansoff, Managing Surprise and Discontinuity – Strategic Response to Weak Signals (1976), S. 137 ff. Vgl. Ansoff, Managing Surprise and Discontinuity – Strategic Response to Weak Signals (1976), S. 136 ff.; Ansoff, Implanting Strategic Management (1984), S. 360 ff.; Hammer, Strategische Planung und Frühaufklärung (1988), S. 223 f. In Anlehnung an: Ansoff, Implanting Strategic Management (1984), S. 361.

230

Christoph Strobl

Bei der Implementierung eines Frühaufklärungssystems, das eine geplante Crash-Reaktion unterstützen soll, steht die optimierte Erfassung, Verarbeitung und Weiterleitung von schwachen Signalen aus für die Unternehmung relevanten externen und internen Beobachtungsbereichen im Mittelpunkt. Dementsprechend kommt der Festlegung der Beobachtungsbereiche im Sinne der Reduktion der Komplexität durch Selektion und der Bewältigung der Informationsflut moderner Systeme besondere Bedeutung zu. Darüber hinaus gilt es, die im Rahmen der Frühaufklärung zu bewältigenden Aufgaben der Erfassung, Verarbeitung und Weiterleitung von Daten und Informationen zu definieren. Schließlich müssen diese Aufgaben konkreten Verantwortungsträgern zugeordnet werden, um zu gewährleisten, dass die schwachen Signale auch tatsächlich bei den Entscheidungsträgern ankommen.9 Mit diesen organisatorischen Voraussetzungen können in der Folge die Schritte im Prozess der strategischen Frühaufklärung in Angriff genommen werden. Die folgende Abbildung zeigt beispielhaft einzelne Aktivitäten und angewandte Methoden entlang eines Frühaufklärungsprozesses.10

Identifikation

Methode (Bsp.)

Aktivität/Leistung









  

Scanning (ungerichtete Beobachtung) relevanter Umfelder Monitoring (gerichtete Beobachtung) relevanter Umfelder Informationssammlung (laufend) in verschiedensten Quellen Erstellen eines „Gesamtbildes“ (Datenbank)



Scouting von Märkten und Technologien Markt-/Medien-/Umfeldrecherchen Befragung von Informationssenken im Unternehmen



Abbildung 4:

9 10

Diagnose/ Evaluation





  

Interpretation

Untersuchung von „Trendbrüchen“ und Änderungen im Verhalten von Umfeldfaktoren Evaluation von Ursachen und Zusammenhängen Beurteilung von Sensitivitäten unterschiedlicher Entwicklungen



Informationsvernetzende Methoden Ursachen- und Interdependenzanalysen Sensitivitätsanalysen Analyse-Workshops



 





  

Reaktion

Entwicklung von Trendprognosen Entwicklung von Strategieempfindungen Darstellung und Prognose von Ursachen und Zusammenhängen Prognose des Wirkungsausmaßes von Umfeldentwicklungen Ausarbeitung von Handlungsalternativen



Systemische Darstellungen, Mindmaps Szenariontechnik für Entwicklungspfade Interpretations-Workshops Entscheidungsbäume









  

Entscheidungsvorbereitung und -unterstützung Planung von Strategien, Maßnahmen und Milestones Controlling der Umsetzung und Wirkung der Reaktion Nachjustieren (bei Bedarf)

Planungs- und Controlling-Instrumente Entscheidungstechniken Coaching-Begleitung Personalentwicklungsmaßnahmen

Aufgaben, Aktivitäten und Methoden der Frühaufklärung

Vgl. Hammer, Strategische Planung und Frühaufklärung (1988), S. 243 ff. Vgl. Hammer, Strategische Planung und Frühaufklärung (1988), S. 254 ff.; Rieser, Konkurrenzanalyse (1989), S. 39 f.; Strobl, Strategische Frühaufklärung – Wettbewerberbeobachtung bei internationalen Konzernen (1991), S. 72 ff.

Sanierungsmanagement –Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten

4

231

Sanierungsmanagement

Während es beim „Business as usual“ für das Management darum geht, aktiv Veränderungen im und um das Unternehmen anzustoßen, geht es bei Sanierung, Restrukturierung und Turnaround darum, Störungen zu bewältigen, die dem Unternehmen häufig von außen aufgezwungen werden. Dabei zeigt sich, dass nicht nur Unternehmen erfolgreich sind, denen es gelingt, Störungen zu vermeiden, sondern auch solche, die mit unerwarteten Ereignissen, Krisen und Brüchen besser umzugehen wissen.11 Sanierung kommt vom Lateinischen „sanare“ und bedeutet „heilen“. Damit drängt sich der Vergleich mit unterschiedlichen Intensitäten der medizinischen Behandlung auf. Ein Unternehmen in einer akuten Krise und Insolvenznähe kann mit einem Patienten verglichen werden, der sich in einer intensivmedizinischen Betreuung befindet. Nach Abschluss von entsprechenden Notmaßnahmen, seien es nun ein gerichtliches Sanierungsverfahren oder eine Überbrückungsfinanzierung in einem Liquiditätsengpass, gilt es meist, das Unternehmen für das laufende Geschäft zu „rehabilitieren“ und in der Folge für Spitzenleistungen „fit“ zu machen. Zunächst steht im Sanierungsmanagement eine Diagnose bezüglich der Sanierungsfähigkeit und -würdigkeit im Sinne einer Erstdiagnose im Krisenfall im Mittelpunkt. Danach geht es darum, Prioritäten zu setzen und möglichst rasch konkrete Sofortmaßnahmen in Angriff zu nehmen. In der Folge müssen ohne Zeitverlust eine detaillierte Analyse und häufig weiterführende Sanierungsmaßnahmen umgesetzt werden. Schließlich gilt es, das Unternehmen neu auszurichten und für künftige (Spitzen-)Leistungen vorzubereiten. Detailanalyse kritischer Erfolgsfaktoren 

Aktivität



  

Ergebnis

 

Einleitung/Begleitung Sofortmaßnahmen

Produkt-/MarktAnalyse Ableitung der kritischen Erfolgsfaktoren am Markt Stärken-/SchwächenAnalyse Chancen-/RisikenAnalyse Prozess- und Potenzialanalyse

 

Prognose zur Unternehmensentwicklung Ansatzpunkte zu strategischen Veränderungen







Liquiditätsanalyse Analyse der Finanzstruktur und Erstellung eines Finanzierungskonzeptes Führung von Verhandlungen mit finanzierenden Banken und Kapitalgebern Verhandlungen mit Stakeholdergruppen

Strategische Neuausrichtung 







 

Priorisierte und abgearbeitete Sanierungsfelder Gesicherter operativer Betrieb Restrukturierungskonzept grob

 

 

Abbildung 5:

11

Reporting durch Implementierung einer Balanced Scorecard (BSC) Strategieentwicklung und Maßnahmenplanung im Team Sicherstellen der Finanzierung, ggf durch Einbringung frischen Kapitals Prozessredesign und Organisationsentwicklung



Restrukturierungskonzept im Detail Gesicherte Finanzierung der Unternehmensentwicklung Neue strategische Möglichkeiten Monitoringbasis



Schritte, Aktivitäten und Ergebnisse im Sanierungsmanagement

Vgl. Mintzberg, Managen (2010), S. 114 f.

Reporting/ Monitoring

 







Analyse der Reportingnotwendigkeiten je Stakeholder entlang der BSC Strategiekommunikation Entwicklung eines Reporting- und Monitoringsystems Implementierung von Monitoringstrukturen

Zielgruppenspezifische Kommunikation Effektive und effiziente Information der Stakeholder Erfolgssicherung

232

5

Christoph Strobl

Bankenkommunikation

Eine besondere Bedeutung nehmen in der Sanierung Fragen der Liquidität und der Finanzierung ein. „Cash is king“ ist dabei der Leitsatz unabhängig davon, ob eine Krise extern, z. B. durch eine globale Finanzkrise, oder intern, z. B. durch eine suboptimale Struktur des Working Capitals, verursacht wird. Dementsprechend stehen am Beginn einer Sanierung eine Prüfung und kritische Betrachtung der Liquidität und deren Bestimmungsgrößen sowie der bestehenden Finanzierungsstruktur im Vordergrund. Zunächst sind hier die wesentlichsten Prämissen der bisherigen Liquiditätsplanung im Hinblick auf ihre Plausibilität zu überprüfen und danach eine adaptierte Planung auf Basis entsprechend gesicherter Grundlagen zu entwickeln. Hier zeigt sich häufig, dass bisherige Planungen zu optimistisch bzw. auf Basis von „Hoffnungswerten“ erstellt wurden. An dieser Stelle gilt es, dass etwaige Liquiditätsreserven rasch erhöht werden müssen wie z. B. durch den Verkauf nicht betriebsnotwendigen Vermögens. Häufig geht es in diesem Stadium auch darum, eine Überbrückungsfinanzierung von der Hausbank oder neuen finanzierenden Institutionen zu bekommen. Banken sind eher bereit, Kredite und Überbrückungsfinanzierungen zu vergeben, wenn sie ein tiefgehendes Verständnis vom Unternehmen, seinem Geschäftsmodell, seinen Märkten und seiner Strategie haben. Vor dem Hintergrund von Ratingbestimmungen sind an diesem Punkt neben harten Zahlen die „Soft Facts“ der Finanzierungsentscheidung und eine vertrauensvolle Beziehung zu den Finanzinstitutionen von besonderer Bedeutung. Dabei spielen wiederum eine hohe Transparenz und eine von Offenheit getragene Informations- und Kommunikationspolitik gegenüber den Geldgebern im Sinne eines aktiv gestalteten Beziehungsmanagements eine große Rolle. So zeigt sich, dass Unternehmen bereits in halbwegs ruhigen Zeiten die grundlegenden Anforderungen von Banken nicht ausreichend erfüllen – eine Situation, die sich in Krisen häufig zu einer Negativspirale auswächst: ein verunsicherter Unternehmer hält Informationen zurück, die Bank drängt immer nachdrücklicher nach detaillierteren Daten, was beim Unternehmer wiederum zu Ängsten und noch größeren Informationsbarrieren führt. Dies wird auch durch eine Studie des IKF – Institut für Kredit- und Finanzwirtschaft der Universität Bochum bestätigt. Darin ist eine strukturelle Kommunikationsklemme im mittelständischen Finanzierungsgeschäft empirisch nachgewiesen.12 So • • • • •

12

klafft zwischen der von den Unternehmen vermuteten Zufriedenheit und der von den Geldgebern wahrgenommenen Zufriedenheit mit der Kommunikation eine Lücke von 42 %, geben 15 % der Unternehmer an, keine Zeit für die Information der Kapitalgeber aufzuwenden, während 42 % der Financiers diese Wahrnehmung haben, finden Kapitalgeber die Zeitnähe und Geschwindigkeit der Information keineswegs ausreichend (53 % der Financiers und 75 % der Unternehmer), können die relevanten Informationen im persönlichen Kontakt keineswegs so professionell, wie die Unternehmer dies glauben, an den Financier gebracht werden (59 zu 86 %), ist die Nachvollziehbarkeit der Informationspolitik der Unternehmen nur unzureichend gegeben (58 zu 82 %) und Vgl. Stein/Paul, Gute Finanzkommunikation zahlt sich aus, in: Die Bank, www.die-bank.de/banking/gute-finanzkommunikation-zahlt-sich-aus (2008).

Sanierungsmanagement –Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten

233



lässt die Präzision der dem Finanzierungsanliegen zugrunde liegenden Plandaten zu wünschen übrig (63 zu 83 %).13 Auch und besonders für Unternehmen in schwierigen Situationen zeigt die Studie signifikante Unterschiede in der Wahrnehmung der Proaktivität von Information – 65 % sehen sich als proaktiv informierend, während dies nur von 45 % der Financiers bestätigt wird.14 Aus diesem Befund lässt sich die Bedeutung einer professionellen bzw. professionell begleiteten Beziehung und Kommunikation zu Banken und Kapitalgebern im Allgemeinen und im Speziellen in der Krisensituation ableiten. Besonders in schwierigen Situationen braucht es meist nicht mehr Information derselben Inhalte und Qualität, sondern eine auf die besondere Herausforderung der Krise zugeschnittene, zielgruppenorientierte Kommunikation der Inhalte. Und genau an dieser Stelle versagen viele Unternehmen, wenn sie zusätzliche und ggf. neu aufbereitete Informationen geben sollen, wenn sie der Meinung sind: „Schließlich haben wir das ja immer schon so gemacht bzw. hat es so immer schon gereicht“. Offenheit und Transparenz sind an dieser Stelle die kritischen Erfolgsfaktoren schlechthin. Das Meiden klarer Worte, das Nichtaussprechen von Ideen und das Horten von Information ist, besonders in der Bankenkommunikation in Krisensituationen, absolut schädlich. Im Gegensatz dazu wird die Bank durch offene Kommunikation in die verschiedenen Entscheidungen mit einbezogen, kann diese besser nachvollziehen und damit ggf. leichter alternative Finanzierungsmöglichkeiten ins Spiel bringen. Darüber hinaus wirkt die Offenheit häufig entscheidungsfördernd, womit insbesondere schnelle Gremialentscheidungen in zeitkritischen Krisensituationen unterstützt werden. Schließlich senkt die Offenheit auch Kosten, wenn nicht „um den heißen Brei herum geredet oder präsentiert“ wird.15

6

Rolle des Managers – Interimsmanagement

„Viele Manager vergeuden zu Beginn einer Krise viel Zeit darauf, zu leugnen, dass etwas nicht stimmt. Lassen Sie das.“16 Diese Aussage von Jack Welch, einem der wohl bekanntesten Manager, zeigt die Zwickmühle auf, in der sich Manager in Krisensituationen häufig befinden. Einerseits ist ihr Handeln durch die Krise häufig in Frage gestellt und es müssen konzentriert Entscheidungen getroffen werden, die häufig gegen die bisher geübte Praxis sind, und andererseits gilt es, dies mit der Weiterentwicklung bzw. Neuausrichtung des Unternehmens zu verknüpfen. Welch nennt fünf Thesen, die Manager in Krisenfällen berücksichtigen sollten: 1. „Gehen Sie grundsätzlich davon aus, dass es schlimmer ist, als es zunächst wirkt. 2. Gehen Sie davon aus, dass nichts lange ein Geheimnis bleibt und letztlich alles herauskommt.

13 14 15 16

Vgl. Stein/Paul, Gute Finanzkommunikation zahlt sich aus, in: Die Bank, www.die-bank.de/banking/gute-finanzkommunikation-zahlt-sich-aus (2008). Vgl. Stein/Paul, Gute Finanzkommunikation zahlt sich aus, in: Die Bank, www.die-bank.de/banking/gute-finanzkommunikation-zahlt-sich-aus (2008). Vgl. Welch/Welch, Winning – Das ist Management (2005), S. 37 f. Welch/Welch, Winning – Das ist Management (2005), S. 162.

234

Christoph Strobl

3.

Gehen Sie davon aus, dass die Art, wie Ihr Unternehmen die Krise angeht, im denkbar schlechtesten Licht dargestellt werden wird. 4. Gehen Sie davon aus, dass Veränderungen bei den Abläufen und beim Personal unvermeidlich sein werden. Kaum eine Krise endet ohne Blutvergießen. 5. Gehen Sie davon aus, dass Ihr Unternehmen überleben und letztlich gestärkt aus dem Geschehen hervorgehen wird.“17 Das ist ein kolossal schwieriger Balanceakt, dem das alteingesessene und „Schönwetter gewohnte“ Management häufig nicht gewachsen ist. In dieser speziellen Situation agiert die bestehende Mannschaft häufig wie eine freiwillige Feuerwehr bei einem Spezialeinsatz – hektisch und überfordert. Ein einfacher, lokaler Brandherd ist relativ einfach zu bekämpfen. Problematisch wird es jedoch, wenn sich die Krise in einem Unternehmen zu einem Flächenbrand auswächst – eine verkorkste Angelegenheit, die ein Unternehmen und seine Potenziale richtig gehend verzehren kann. An dieser Stelle wird spezielles Know-how im Sinne von Spezial-Löschtrupps notwendig – der Manager als freiwillige Feuerwehr wird durch Interimsmanager ersetzt. Ein Interimsmanager – er kann entweder Generalist oder Spezialist sein – ist in aller Regel beruflich selbständig, besitzt mehrjährige Erfahrung in leitenden Positionen und übernimmt Managementaufgaben in zeitlich befristeten Führungsfunktionen in verschiedenen Unternehmen, insbesondere in Unternehmen mit Sanierungs- bzw. Restrukturierungsbedarf.18 Die Tätigkeit von Interimsmanagern ist zeitlich begrenzt, auf eine bestimmte Aufgabe bzw. ein Projekt begrenzt, beinhaltet die interne Einbindung in die interne Organisation, erfolgt meist auf Werkvertragsbasis und auf Basis von Tageshonoraren. Diese Arbeitsform eignet sich ideal für Sanierungsaufgaben, da das Unternehmen • •

auf kurzfristig und bedarfsgerecht verfügbare Managementkapazitäten zurück greifen kann, die vertragliche Gestaltung hinsichtlich Vertragsdauer, Kosten und Beendigungsbestimmungen flexibel erfolgen kann, • keine oder minimale (arbeits-)rechtliche Risiken für das Unternehmen bestehen, • die Kosten flexibilisiert und exakt kalkulierbar sind, • keine Investition in die Ausbildung des Interimsmanagers erfolgen muss, • eine Führungskraft einbaut, die nicht durch das bisherige Alltagsgeschäft eingeschränkt ist, • mit dem Interimsmanager einen „Blick von außen“ auf das Unternehmen in die Entscheidungsfindung einbauen kann und • eine von den üblichen „Seilschaften“ im Unternehmen unabhängige Führungskraft erhält, die härter durchgreifen kann – auch, weil sie das Unternehmen nach Abschluss des Projekts wieder verlässt.19 Dieses Leistungsspektrum ist in Mitteleuropa, wie verschiedene Marktstudien belegen, noch nicht ausreichend bekannt. Dieses Manko besteht wohl auch aufgrund der häufig eigentümergeführten mittelständischen Betriebsstruktur und der in diesem Umfeld noch größeren Barrieren in Bezug auf externe Manager und Berater. 17 18 19

Welch/Welch, Winning – Das ist Management (2005), S. 163. Vgl. Ruppert/Staubmann, Interimsmanagement in Österreich – Marktvergleich mit Deutschland, AWS Austria Wirtschaftsservice (2009), S. 8. Vgl. Ruppert/Staubmann, Interimsmanagement in Österreich – Marktvergleich mit Deutschland, AWS Austria Wirtschaftsservice (2009), S. 9.

Sanierungsmanagement –Restrukturierungs- und Turnaround-Projekten

235

Abschließend lässt sich feststellen, dass neben einer ausreichenden Vorbereitung auf Krisen im Sinne einer frühaufklärenden Beobachtung des Unternehmensumfeldes und daraus abgeleiteten Reaktionsstrategien gerade in schwierigen Managementsituationen aufgrund der signifikant unterschiedlichen Herausforderungen im Vergleich zum „Business as usual“ externe Hilfe und eine „unbelastete Herangehensweise“ von besonderer Bedeutung sind.

Literatur Ansoff, H. I.: Managing Surprise and Discontinuity – Strategic Response to Weak Signals, in: ZfbF, Sondernummer 5 (1976), S. 129–152. Ansoff, H. I.: Implanting Strategic Management, Englewood Cliffs 1984. Gälweiler, A.: Determinanten des Zeithorizontes in der Unternehmensplanung, in: Hahn, D./Taylor, B.: Strategische Unternehmensplanung – Strategische Unternehmensführung, Heidelberg 1997, S. 369. Hammer, R.: Strategische Planung und Frühaufklärung, München/Wien 1988. Institut der deutschen Wirtschaftsprüfer: Standard S 6, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten, in: FN-IDW, 12 (2009), S. 578 ff. Kropfberger, D./Mödritscher, G.: Psychologie in der Krise, in: Feldbauer/Durstmüller, B./Schlager, J. (Hrsg.): Krisenmanagement – Sanierung – Insolvenz, Wien 2002, S. 133–158. Mintzberg, H.: Managen, San Francisco/Offenbach 2010. Rieser, I.: Konkurrenzanalyse, in: Die Unternehmung (1989), S. 293–309. Ruppert, G.,/Staubmann, G.: Interimsmanagement in Österreich – Marktvergleich mit Deutschland, AWS Austria Wirtschaftsservice, Wien 2009. Schimpf, H.: Handlungsoptionen in der Unternehmenskrise, Vortrag in der BDO-Veranstaltungsreihe „Chancen in der Krise nutzen“, Frankfurt 2009. Stein, S./Paul, S.: Gute Finanzkommunikation zahlt sich aus, in: Die Bank, www.diebank.de/banking/gute-finanzkommunikation-zahlt-sich-aus, 2008. Strobl, C.: Strategische Frühaufklärung – Wettbewerberbeobachtung bei internationalen Konzernen, Innsbruck 1991. Welch, J./Welch, S.: Winning – Das ist Management, Frankfurt/New York 2005.

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft Minas Dimitriou und Erich Müller

1

Einleitung

Zu Beginn des neuen Jahrtausends sind wir Zeugen einer Sportlandschaft geworden, die zunehmend von einer fortschreitenden Kommerzialisierung und Mediatisierung gekennzeichnet ist. Der Sport fungierte in den letzten Dekaden nicht nur als übergeordnetes, boomendes wirtschaftliches Feld mit globaler Relevanz, sondern auch als herausragendes Kommunikationsinstrument im Bereich Marketing. So stiegen zum Beispiel die weltweiten Ausgaben für Sponsoring im Jahr 2010 um 5,2 %, wobei Sportsponsoring nach wie vor das dominante Sponsoring-Feld blieb.1 Auch österreichische Unternehmen setzten vermehrt auf Sponsoring, zumal das Sponsoring-Volumen in den letzten zwei Jahren um € 60 Mio. auf € 300 Mio. stieg. Das Werbevolumen blieb mit € 3,3 Mrd. auf dem Niveau der letzten Jahre.2 Dabei spielte insbesondere Sportsponsoring eine immer wichtigere Rolle und nahm ca. 50 % des Marketingbudgets der Unternehmen ein. Zweifelsohne bietet kein anderer Sponsoring-Bereich derart vielseitige, kreativ gestaltbare kommunikative Möglichkeiten für Sponsoring-Partnerschaften. Sport wird als Erlebnis wahrgenommen, das sowohl für die aktiven Sportler als auch für Besucher sportlicher Veranstaltungen mit vielen Emotionen verbunden ist. Dieses emotionale Umfeld versuchen Unternehmen zu nutzen, um über einen Auftritt als Sponsor kommunikationspolitische Zielsetzungen zu erreichen und die Imagekomponenten des Sports auf das Unternehmen oder seine Produkte zu übertragen.3 In diesem Zusammenhang ist von „emotionaler Konditionierung“ die Rede, in der die Zuschauer eine emotionale Bindung mit dem Sponsoring-Unternehmen eingehen.4 Gesponserte aus dem Sportbereich verfügen über attraktive und vielseitige Imageattribute, wie etwa Leistungsfähigkeit, Erfolg, Kampfgeist, Ästhetik und vieles mehr, die einen positiven Imagetransfer herbeiführen können.5

1 2 3 4 5

Vgl. http://www.faspo.de/international/411-weltweite-sponsoringausgaben-2011.html. Vgl. Sport und Markt, Sponsoring-Barometer: Das Meinungsbild der werbetreibenden Unternehmen in Österreich (2010), S. 10. Vgl. Bruhn, Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz (2010), S. 77. Vgl. Damm-Volk, Sportsponsoring als Kommunikationsinstrument im Marketing (2002), S. 117 ff. Vgl. Freyer, Sport-Marketing: Modernes Marketing-Management für die Sportwirtschaft (2011), S. 584.

238

Minas Dimitriou und Erich Müller

Diese Situation bezieht sich vor allem auf den professionellen Leistungssport, der vorwiegend von wirtschaftlichen und medialen Interessen geprägt ist. In diesem Zusammenhang werden nicht nur von Seiten des Sports profitorientierte Ziele formuliert, sondern von Wirtschaft und Medien gleichermaßen. Zur Beschreibung dieses Prozesses findet der von Hagenah eingeführten Topos „Magisches Viereck“6 – als Zusammenführung der Systeme Sport, Wirtschaft, Medien und Publikum – Anwendung. Obwohl Sponsoring in den letzten Jahrzehnten häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen war, ist es erstaunlich, dass Sponsoring als Interaktionspol diverser Teilsysteme nicht ausreichend reflektiert und analysiert wurde. Ziel dieses Beitrages ist es, den komplexen Bereich des Sportsponsorings im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft aufzuzeigen. Am Beispiel einer Fallstudie sollen anschließend der Aktivierungsgrad und die Wechselbeziehung zwischen den Systemen im Rahmen von Sponsoring-Aktivitäten im Internet dargestellt werden.

2

Sponsoring: Begriffe, Merkmale und Wirkungen

Unter Sponsoring versteht Bruhn: „(…) die Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle sämtlicher Aktivitäten, die mit der Bereitstellung von Geld, Sachmitteln oder Dienstleistungen durch Unternehmen zur Förderung von Personen und/oder Organisationen im sportlichen, kulturellen und/oder sozialen Bereich verbunden sind, um damit gleichzeitig Ziele der Unternehmenskommunikation zu erreichen.“7 Mit seiner Definition gibt Bruhn zwar aus Sicht der Unternehmen einen systematischen Überblick über die Wesensmerkmale des Sponsorings, dennoch rückt bei diesem Ansatz insbesondere die Förderabsicht des Sponsors in den Vordergrund. Im Gegensatz dazu plädiert Hermanns für eine Definition des Sponsorings, in der die Unternehmen nicht nur die Förderung von Spitzenathleten anstreben, sondern vielmehr die Absicht haben, selber von einem gewissen Image – sei es durch sportliche Leistungen der Athleten oder durch die Popularität der Sportart selbst – zu profitieren. So formuliert Hermanns: „(…) die Zuwendung von Finanz-, Sach- und/oder Dienstleistungen von einem Unternehmen, dem Sponsor, an eine Einzelperson, eine Gruppe von Personen oder eine Organisation bzw. Institution aus dem gesellschaftlichen Umfeld des Unternehmens, dem Gesponserten, gegen die Gewährung von Rechten zur kommunikativen Nutzung von Personen bzw. Organisation und/oder Aktivitäten des Gesponserten auf der Basis einer vertraglichen Vereinbarung.“8 Als Merkmale des Sportsponsorings sind nach Bruhn folgende Punkte anzuführen:9 •

Prinzip von Leistung und Gegenleistung: Im Gegensatz zu anderen Formen des Sponsorings, wo die dominanten Fördermotive zum Beispiel Spenden sind, stellt beim Sport-

6

Vgl. Hagenah, Sportrezeption und Medienwirkung: Eine dynamisch-transaktionale Analyse der Beziehungen zwischen Sportkommunikatoren und -rezipienten im Feld des Mediensports (2004), S. 17. Bruhn, Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz (2010), S. 6 f. Hermanns/Marwitz, Sponsoring: Grundlagen, Wirkungen, Management, Markenführung (2008), S. 44. Vgl. Bruhn, Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz (2003), 7 f.

7 8 9

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft

239

sponsoring der Sponsor seine Fördermittel zur Verfügung und erwartet vom Gesponserten eine Gegenleistung. Zum Beispiel eben die werbewirksame Verwendung des Marken- oder Firmennamens des Sponsors. • Fördergedanke: Da sich der Sponsor auch inhaltlich mit dem Gesponserten identifiziert, kommt hier viel mehr der „Fördergedanke“ zum Ausdruck, da Sportsponsoring Verkauf von Werbeflächen gegen Entgelt entspricht. • Kommunikative Funktionen: Das Sportsponsoring erfüllt kommunikative Funktionen, welche durch den Gesponserten entweder direkt erbracht, durch die Medien transportiert oder vom Sponsor selbst geschaffen werden können. • Systematischer Planungs- und Entscheidungsprozess: Es sollte vor dem Eintritt in ein Vertragsverhältnis zwischen dem Sponsor und Gesponserten zu einer Situationsanalyse und Zielformulierung kommen. Diese gilt es, zu planen, organisieren, durchzuführen und zu kontrollieren. Das heißt, nicht einfach die Wirkung abzuwarten und dem Gesponserten spontan in einer bestimmten Höhe Zuwendungen zukommen zu lassen. • Baustein der integrierten Unternehmenskommunikation: Sportsponsoring ist vom Unternehmen aus immer in Verbindung mit anderen Marketing- und Kommunikationsinstrumenten einzusetzen und nie eigenständig. Unter Sportsponsoring versteht Kruse „Kommunikationsmaßnahmen, bei denen Sport als ‚Medium‘ für eine bestimmte Botschaft an ein Zielpublikum dient.“10 Außerdem wird die besondere Stellung des Sportsponsorings durch folgende Aspekte geprägt.11 •

Sportsponsoring wird von den Massenmedien beeinflusst, wobei von einem starken Zusammenhang zwischen Publikumsinteresse und Medieninteresse an einer Sportart ausgegangen werden kann. Vom Sponsoring profitieren daher vor allem die Sportarten, die über eine entsprechend hohe Medienpräsenz, vor allem im Fernsehen, verfügen. • Aus dem Spitzen- und Leistungssport kommen die beliebtesten Sponsoring-Partner, sowohl Einzelsportler als auch Mannschaftssport. • Einen besonderen Stellenwert haben für das Sportsponsoring die internationalen Topveranstaltungen und Topevents. • Die Gesponserten aus dem Sport haben ein relativ hohes Professionalisierungsniveau entwickelt (hoher Organisationsgrad, betriebswirtschaftliches Denken). • Für die Beteiligten ist im Sponsoring ein relativ hoher Informationsstand gegeben; Images und weitgehende Wirkungsbedingungen sind bekannt. • Eine professionelle Infrastruktur (Agenturen, Rechteverwerter, Berater, Marktforschungsinstitute, Informationsdienste, Fachzeitschriften und Medien) hat sich für das Kommunikationsinstrument Sportsponsoring gebildet. Trosien nennt beim Sportsponsoring fünf Qualitäten, die das Umfeld noch genauer beschreiben.12 • • •

Sportqualität: Es muss sich um „Sport“ handeln. Vertragsqualität: Es muss über „Sportleistungen“ ein Vertrag geschlossen werden. Förderqualität: Wirtschaftsunternehmen nutzen attraktive Sportleistungen.

10

Kruse, Wirtschaftliche Wirkungen einer unentgeltlichen Sport-Kurzberichterstattung im Fernsehen (1991), S. 101. Vgl. Hermanns/Marwitz, Sponsoring: Grundlagen, Wirkungen, Management, Markenführung (2008), S. 75 ff. Vgl. Trosien, Sichert Sponsoring Breite und Vielfalt im Sport? (2001), S. 65 ff.

11 12

240

Minas Dimitriou und Erich Müller



Branchendifferenz: Die Vertragspartner müssen der Sport- und einer anderen Branche angehören. • Öffentlichkeitsorientierung: Ziele werden bewusst an Öffentlichkeit getragen. Bruhn unterscheidet in Abhängigkeit von der Art der Nutzung des Sponsorings grundsätzlich zwei Formen:13 •

Isoliertes Sponsoring bedeutet, dass Sponsoring-Maßnahmen eines Unternehmens weder inhaltlich, noch formal oder zeitlich mit anderen Kommunikationsinstrumenten vernetzt werden. • Integriertes Sponsoring kennzeichnet jene Sponsoring-Form bei der es zur inhaltlichen, formalen beziehungsweise zeitlichen Integration im Verbund mit anderen Kommunikationsinstrumenten kommt, um dadurch ein konsistentes Erscheinungsbild des Unternehmens abzuliefern. Im Hinblick auf die Effekte des Sponsorings ortet Meenaghan drei verschiedene Ebenen: generic level, category level, individual activity level.14 Auf der ersten Ebene wird dabei das Sponsoring als ein Phänomen dargestellt, das aufgrund vom Prinzip der Uneigennützigkeit einen Beitrag für die Gesellschaft abliefert. Die zweite Ebene umfasst die Differenzierung der unterschiedlichen Sponsoring-Felder (Sport, Kunst etc.) und die dritte Ebene das individuelle Involvement des Rezipienten. Die Wirkungen des Sponsorings unterliegen in erster Instanz diesem Kategoriensystem, auf dessen Grundlage die Einstellung des Rezipienten gegenüber dem Sponsor basiert. Damit die kommunikative Wirkung beim Sponsoring zum Tragen kommt und nach Möglichkeit ein Kaufverhalten induziert wird, gilt es auf der Wahrnehmungsebene zusätzliche Reize zu setzen, die beispielsweise die Offenlegung der Motive und Ziele einer Partnerschaft oder ein verstärktes mediales Marketing beinhalten können.15

3

Sport, Medien, Wirtschaft und Publikum: Reziprozität und Interdependenz

Die Wechselbeziehungen zwischen Sport, Medien und Wirtschaft waren erst in den letzten 30 Jahren Gegenstand sowohl fachlicher Diskussionen, als auch wissenschaftlicher Studien und Systematisierungsversuche. Im Rahmen einer ersten Annährung an die Thematik Sport und Medien befasste sich Becker mit den Forschungsgegenständen des Sportjournalismus, der Inhaltsforschung der Sportberichterstattung und der Wirkungsforschung.16 Während Blödorn auf den Zusammenhang und die Abhängigkeiten von Sport – Fernsehen – Kommerz hinwies17 und Weischenberg die Wechselbeziehung zwischen Sportsystem, Mediensystem sowie ökonomischen System hervorhob18, konkretisierte Jhally im Rahmen eines Sport-Medien-Komplexes die gegenseitige Einflussnahme zwischen Sport und Medien mit dem Hinweis, dass zahlreiche Sportveranstaltungen ohne die finanzielle Unterstützung von 13 14 15 16 17 18

Vgl. Bruhn, Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz (2003), S. 19. Vgl. Meenaghan, Understanding sponsorship effects (2001), S. 102. Vgl. Hermanns/Marwitz, Sponsoring: Grundlagen, Wirkungen, Management, Markenführung (2008), S. 137 ff. Vgl. Becker, Sport in den Massenmedien – Zur Herstellung und Wirkung einer eigenen Welt (1983), S. 29 ff. Vgl. Blödorn, Das Magische Dreieck: Sport – Fernsehen – Kommerz (1988), S. 100 ff. Vgl. Weischenberg, Sportjournalismus zwischen Mode und Methode (1988), S. 72.

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft

241

Medien nicht ausgetragen werden könnten.19 Auf der anderen Seite sind Sportinhalte quotenreiche Bestandteile vieler Fernsehsender. Unter Berücksichtigung der sozialen Rahmenbedingungen entwarf Wenner folgendes Model20:

Society Mediated Sports Production Complex Sports Journalist

Society

Society

Audience Experience

Mediated Sport Content

Media Organizations

Sports Organizations

Society Abbildung 1:

Transactional Model of Media, Sports and Society21

Beim Transactional Model of Media, Sports and Society stehen die Interaktionen zwischen Gesellschaft, Produktion (z. B. Sportjournalismus, Organisationen), Inhalte des Mediensports und Erfahrungen der Rezipienten im Vordergrund. Einige Jahre später formulierte Görner das „magische Dreieck“ Sport – Medien – Wirtschaft als „circulus vitiousus“, um den gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den erwähnten Aspekten Nachdruck zu verleihen.22 Somit kann der Sport ohne materielle Zuwendungen und Geld nicht existieren und muss aus diesem Grund den Forderungen der Wirtschaft nachgeben. Die Medien – vor allem das Fernsehen – rücken in den Vordergrund, um erwünschte Werbeeffekte zu erzielen. Im Rahmen dieses Prozesses suchen die Medien das für die Massen attraktivste Angebot heraus, um Programmqualität und Einschaltquote zu erhöhen. Dieses Beziehungsgeflecht entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem höchst kommerziellen und komplexen System.23 Ausgehend von Görners These verwendete Bruhn das magische Dreieck, um die Bedeutung 19 20 21 22 23

Vgl. Jhally, Cultural studies and the sports/media complex (1989), S. 70 ff. Vgl. Wenner, Media, Sports and Society: The Research Agenda (1989), S. 26. In Anlehnung an Wenner, Sports and Society: The Research Agenda (1989), S. 26. Vgl. Görner, Vom Außenseiter zum Aufsteiger: Ergebnisse der ersten repräsentativen Befragung von Sportjournalisten in Deutschland (1995), S. 34. Vgl. Dimitriou/Sattlecker, Sportjournalismus in Österreich: Empirische Fakten und Positionierung im deutschsprachigen Raum (2011), S. 53 ff.

242

Minas Dimitriou und Erich Müller

des Sponsorings zu verdeutlichen.24 Hagenah ergänzte das erwähnte Dreieck zu einem Viereck, welches dann aus den Teilsystemen Sport, Medien, Wirtschaft und Publikum besteht (siehe hierzu Abbildung 2).25 Konsument (Mediensport)

Produktion / Inhalt

Publikum

Sport

Medien

Sponsoring Werbung

Wirtschaft Unternehmen

Sportarten / Events Abbildung 2:

26

Magisches Viereck: Sport, Medien, Wirtschaft und Publikum

Unter Berücksichtigung des systemtheoretischen Ansatzes geht Hagenah auf die spezifischen Ziele und Funktionen der gesellschaftlichen Teilbereiche am Beispiel des Mediensports näher ein:27 Neben den in Vereinen organisierten Sportaktivitäten beinhaltet das Teilsystem Sport auch ein kommerzielles Sportangebot (z. B. Fitnessstudios) und weniger organisierte Aktivitäten (wie Trendsportarten oder individuelle körperliche Betätigung). Im Mediensport kann nur über Sportarten berichtet werden, die nach bestimmten, jedoch gestaltbaren Regeln funktionieren und in ausgesuchten Wettkampfformen ausgetragen werden.28 Die Basis dazu bilden attraktive Sportarten29und Sportlerpersönlichkeiten bzw. Stars.30 24 25 26 27 28 29

Vgl. Bruhn, Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz (2003), S. 13 f. Vgl. Hagenah, Sportrezeption und Medienwirkung: Eine dynamisch-transaktionale Analyse der Beziehungen zwischen Sportkommunikatoren und -rezipienten im Feld des Mediensports (2004), S. 17. In Anlehnung an Hagenah, Magisches Viereck: Sport, Medien, Wirtschaft und Publikum (2004), S. 15 ff. Vgl. Hagenah, Sportrezeption und Medienwirkung: Eine dynamisch-transaktionale Analyse der Beziehungen zwischen Sportkommunikatoren und -rezipienten im Feld des Mediensports (2004), S. 16 ff. Vgl. Penz, Hyperrealität des Sports (2009), S. 103 f. Vgl. Horky, Was macht den Sport zum Mediensport? Ein Modell zur Definition und Analyse von Mediensportarten (2009), S. 306.

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft

243

Auch im Bereich der (Sport)-Wirtschaft werden marktwirtschaftliche Ziele verfolgt. Das Feld des Mediensports wird ebenfalls als nutzbarer Sektor betrachtet und kann als mögliches Investitions- und Konsumfeld (Investitionen in Sportunternehmen, Werbung und Sponsoring) mit einbezogen werden. Durch diese Entwicklung kann der eigene Bekanntheitsgrad gesteigert oder Imagetransfers erzielt werden, die wiederum eine Änderung im Konsumverhalten bewirken sollen.31 Einnahmequellen für Medien- und Sportorganisationen sind Sponsoring- und Werbeaktivitäten. Die mediale Berichterstattung über bestimmte sportliche Ereignisse soll den Sport allgemein zugänglich machen. Ausgenommen von öffentlich-rechtlichen Anbietern beziehen Medien ihre Einnahmen von Werbung und Sponsoring. Für diese soll die Zielgruppe möglichst interessant sein, was bei der Programmauswahl berücksichtigt wird. Medien selektieren die Berichterstattung und beleuchten spezifische Bereiche des Sports, die somit öffentlich zugänglich gemacht werden.32 Damit werden diese Bereiche für Sponsoring- und Werbeaktivitäten attraktiv. In diesem Zusammenhang bemerkte Schaffrath: „Was nicht in den Medien ist, existiert nicht, oder anders formuliert, wer keine Medienpräsenz nachweisen kann, bekommt auch keine Sponsoren.“33 Das Teilsystem Publikum zu erfassen, gestaltet sich aufgrund fehlender organisatorischer Dichte als schwierig. In einer pluralistischen Demokratie obliegt es dem Rechtstaat, die Interessen seiner Bürger, im System (Medien-)Sport demnach das Publikum zu vertreten. Rechtliche Regelungen und Entscheidungen machen dies deutlich. Das Publikum entscheidet, was die Medien produzieren und wirkt so wiederum auf den Mediensport. Einschaltquoten und Reichweitemessungen dienen als Rückschluss auf den Konsum der Rezipienten.34 Medieninhalte, die von vielen Personen wahrgenommen werden, werden folglich auch in Zukunft einen Platz im Medium finden. Damit kann „der Zuschauer als Sportkonsument als ein wesentlicher und nicht zu vernachlässigender Bestandteil des Gesamtphänomens Sport gekennzeichnet werden. Er definiert sich durch sein Interesse an der passiven Partizipation an sportlichen Inhalten.“35

4

Fallstudie: Sportsponsoring – Internet

4.1

Entwicklungszusammenhang/Relevanz

Das facettenreiche Phänomen Sport kann sowohl als soziales System als auch als soziale Situation interpretiert werden, deren Ausprägungen, Differenzierungen und Wandlungen letztlich auf den Bedürfnissen und Zielen des Menschen beruhen. Durch diese Entwicklung werden der Charakter des Sports, seine Organisationsform und die Art seiner Ausübung, der Grad der Professionalisierung und Kommerzialisierung, seine Vielfalt und Gegensätzlichkeit, 30 31 32 33 34 35

Vgl. Schwier/Schauerte, Soziologie des Mediensports (2008), S. 212 ff. Vgl. Penz, Produktion und Kodes des Mediensports (2010), S. 38. Vgl. Beck, Der Sportteil im Wandel: Die Entwicklung der Sportberichterstattung (2006), S. 45. Schaffrath, Sportjournalismus in Deutschland (2002), S. 23. Vgl. Schauerte, Was ist Sport in den Medien? Theorien – Befunde – Desiderate (2007), S. 21 ff. Beyer, Determinanten der Sportrezeption. Erklärungsmodell und kausalanalytische Validierung am Beispiel der Fußballbundesliga (2006), S. 1.

244

Minas Dimitriou und Erich Müller

aber auch seine medialen Präsentationsformen und die Art ihrer Aneignung und Rezeption bestimmt.36 Der Skirennsport erfreut sich in Österreich seit jeher ungebrochener Popularität und nicht selten werden die Akteure als „Nationalhelden“ gefeiert. Sportliche Wettkämpfe, die auf heimischen Boden ausgeführt werden, sind dabei wahre Publikumsmagnete und sprechen für den Stellenwert des Skisports in Österreich, womit auch eine langjährige Tradition des Sponsorings in dieser Sportart einhergeht. Österreichische Skirennläufer37 gelten in ihrer Heimat als die bekanntesten Wintersportler und genießen durchwegs hohe Sympathiewerte. Das Publikumsinteresse am Skisport ist somit nicht nur Garant für hohe Einschaltquoten bei Fernsehübertragungen von Ski-Weltcuprennen oder Rennen bei sportlichen Großereignissen, sondern spiegelt vor allem ein enormes wirtschaftliches Potential wider, welches von allen Beteiligten zu nutzen versucht wird. Da Sponsoring-Maßnahmen immer als Bestandteil der gesamten Unternehmenskommunikation zu sehen sind, gilt es diese auch in einem ganzheitlichen Konzept zu integrieren. In diesem Zusammenhang dürfte das Internet zweifelsohne jenes Kommunikationsmedium sein, das in den letzten Jahren die dynamischste Entwicklung vollzogen hat. Das Internet nimmt im heutigen Sportgeschehen einen nicht mehr wegzudenkenden Stellenwert ein und ist eine wichtige Informationsquelle für Journalisten, Fans und Sportbegeisterte aller Art. Durch die Übertragung von Informationen und multimedialen Inhalten in nahezu Echtzeit, schafft das Internet Möglichkeiten, die sich auch im Sport durch beinahe unermessliches Potential charakterisieren lassen. Die Verbreitung und Nutzung des Internets hat in den vergangenen Jahren überdies rasant zugenommen und somit ist anzunehmen, dass auch dessen Bedeutung für das Sportsponsoring steigt. Das World Wide Web (WWW) ist deshalb nicht nur ein wichtiger „Ort der Informationsbeschaffung“, sondern auch eine wesentliche Plattform für den Sport und dessen Umfeld, um sich dort zu präsentieren. Im Gegensatz zu anderen Medienformen, haben Unternehmen wie auch Athleten direkten Einfluss auf die Gestaltung und Funktion ihres Internet-Auftritts, und dieser kann somit auch gezielt für Aktivitäten des Sponsorings genutzt werden. Die Einbindung des Internets in die Kommunikation mit den Zielgruppen des Sportlers und des Sponsors scheint deshalb eine Chance darzustellen, um Sponsoring-Effekte weiter auszubauen. Die effiziente Nutzung des Internets im Allgemeinen und der eigenen Webseite im Speziellen sollte daher nicht zuletzt als möglicher Erfolgsfaktor eines Sponsor-Engagements betrachtet werden.

4.2

Fragestellung

In der vorliegenden Arbeit wird der zentralen Frage nachgegangen, welchen Stellenwert das Internet für das Sportsponsoring im Skirennsport hat. Dementsprechend folgt die wissenschaftliche Annäherung dem aktuellen Forschungsstand aus den Bereichen des Mediensports und des Sponsorings unter Berücksichtigung der Rezipienten. Es soll einerseits aufgezeigt werden, wie Sportsponsoring im Internet Anwendung findet und andererseits welche Mög36 37

Vgl. hierzu und zum Folgenden: Golger, Internet Uses and Gratifications im Sportsponsoring-Kontext am Beispiel ausgewählter Internetseiten österreichischer Skirennläufer (2010). Der Verzicht auf das Binnen-I eines geschlechtergerechten Sprachgebrauchs in diesem Beitrag liegt in der besseren Lesbarkeit allein begründet. Dennoch sind trotz maskuliner Endung immer beide Geschlechter angesprochen, es ist damit keinerlei Diskriminierung impliziert.

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft

245

lichkeiten der Implementierung sich darüber hinaus ergeben. Durch eine genauere Betrachtung der jeweiligen Internet-Auftritte können etwaige Defizite bei der Einbindung von Sponsoring-Botschaften lokalisiert werden und so wertvolle Informationen für Sponsoren und Gesponserte gleichermaßen liefern. Weitere Erkenntnisse im Zuge der wissenschaftlichen Untersuchung sollen überdies Aufschluss darüber geben, inwiefern das Internet für kommunikative Zwecke genutzt werden kann, um so beispielsweise die Zielgruppe des Sportlers an die Webseite zu binden. Aus der Sicht der Medienrezipienten könnten somit neue Nutzungsmöglichkeiten entstehen, die unter anderem an deren Bedürfnissen orientiert sind. Folgende Forschungsfragen stehen im Vordergrund: • • • • • •

4.3

Frage 1: Wie gestaltet sich das inhaltliche Angebot von Athleten-Webseiten österreichischer Skirennläufer? Frage 2: Wie erfolgt die Einbindung von Sponsoring-Botschaften auf Athleten-Webseiten österreichischer Skirennläufer? Frage 3: Wie nutzen Unternehmen im Rahmen der Multimedia-Kommunikation das Internet zur Aktivierung eines Sponsor-Engagements? Frage 4: Welche inhaltlichen Angebote von Athleten-Webseiten österreichischer Skirennläufer werden primär vom Rezipienten genutzt? Frage 5: Welchen Motiven und Bedürfnissen des Rezipienten unterliegt die Nutzung des inhaltlichen Angebots von Athleten-Webseiten österreichischer Skirennläufer? Frage 6: Wie wird die Einbindung von Sponsoring-Botschaften auf Athleten-Webseiten österreichischer Skirennläufer vom Rezipienten empfunden?

Methodisches Design

Ausgehend von einer komplexen Verbindung zwischen den Akteuren, die das sportmediale System prägen, gestaltet sich die vorliegende Studie unter dem Gesichtspunkt einer möglichst ganzheitlichen Vorgehensweise. Demnach werden die Internet-Auftritte österreichischer Skirennläufer nach inhaltlichen Kriterien quantitativ analysiert, um einerseits das bestehende Angebot abbilden zu können und um andererseits zu prüfen, in welcher Form die Implementierung von Sponsoring-Botschaften geschieht. Außerdem werden die Webseiten von jenen Unternehmen, die als (Haupt-)Sponsor der Sportlerin/des Sportlers auftreten, nach ähnlichem Schema quantifiziert, wobei der Einbindung von Sponsoring relevanten Informationen (Hinweise auf das Sponsor-Engagement durch bspw. Bilder, Texte, Links etc.) besonderes Interesse gilt. Durch eine Online-Umfrage werden in weiterer Folge Daten bezüglich der Nutzung der jeweiligen internetspezifischen Sportangebote erhoben, die auf Basis des „Uses and Gratifications-Ansatzes“ mögliche Motive beziehungsweise Bedürfnisse der Rezipienten beinhalten und dabei die Relevanz des Mediums „Internet“ für Sportler, Sponsor und Mediennutzer gleichermaßen zu klären versucht. Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes folgt einem klaren Selektionskriterium, das neben den individuellen Internet-Auftritten der Sportler auch die Webseiten der sponsernden Unternehmen definiert. Für die Analyse der Webseiten werden ausschließlich österreichische Skirennläuferinnen und Skirennläufer des ÖSV (Österreichischer Skiverband) mit Nationalmannschaft- beziehungsweise A-Kaderzugehörigkeit der Saison 2008/2009 in Betracht gezogen, respektive deren Hauptsponsoren („Kopfsponsoren“) während der abgelaufenen Wettkampfzeit. Außerdem umfasst der Forschungsbereich die aktive Rezipientenseite –

246

Minas Dimitriou und Erich Müller

sprich, die Nutzer des jeweiligen Online-Angebots und somit potentielle Zielgruppen des Sportlers beziehungsweise jene von Sponsoren. Dabei dient eine exemplarische Stichprobe (N = 263) der Ski-Fangemeinschaft als Grundlage, um etwaige Rezeptionsmechanismen bei sportartspezifischen Webseiten zu eruieren.

4.4

Ergebnisse/Diskussion

Unter Berücksichtigung der zentralen Forschungsfragen lassen die gewonnen Ergebnisse darauf schließen, dass sowohl von Athleten wie auch von Sponsoren, das Internet hinsichtlich der Einbindung und Aktivierung eines Sponsorings wenig zielgerichtet eingesetzt wird. Wenngleich sich das inhaltliche Angebot von Athleten-Webseiten österreichischer Skirennläufer sehr diversifiziert darstellt und weitgehend den Bedürfnissen der Internetnutzer entspricht, lässt das Rezeptionsverhalten einen breiten Spielraum für gestalterische Maßnahmen offen. Aufgrund von vorwiegend informationsorientierten Bedürfnissen der WebseitenBesucher, sollten die persönlichen Internet-Auftritte der Athleten auch vermehrt dahingehend konzipiert werden. Das heißt, dass einerseits stets aktuelle Informationen zum laufenden Renngeschehen angeboten werden sollten und darüber hinaus mittels Hintergrundberichten (z. B. in Tagebuchform) die sportinteressierten Rezipienten an die Webseite gebunden werden sollten. In Kombination mit einem weiteren Ausbau des multimedialen Angebots, könnte somit eine „Informations- und Unterhaltungsplattform“ geschaffen werden, die nicht nur zielgruppenspezifisch ausgerichtet ist, sondern mitunter auch ein breiteres Publikum anspricht. Außerdem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Anwendungen, die eine soziale Interaktion ermöglichen, nur bis zu einem gewissen Grad erforderlich sind. Nicht nur ein geringes Interaktionsbedürfnis spricht für diese Vorgabe, sondern ebenso die geringe Motivation mit anderen Personen in Kontakt treten zu wollen und/oder seine eigene Meinung zu äußern. Dies steht nicht zwangsläufig im Widerspruch zu den vorherigen Ausführungen. Vielmehr dürfte die Anschlusskommunikation weniger im Internet stattfinden, als in direkten, unmittelbaren Gesprächssituationen. Die Athleten-Webseite als Plattform für (interpersonelle) computervermittelte Kommunikationshandlungen zu nutzen, scheint daher eher unbedeutend zu sein, wenngleich Seitenelemente der Interaktion durchaus aufgesucht werden. Diese Tatsache spricht allerdings eher für ein spontanes Interaktionsverhalten und weniger für bedürfnisorientierte Handlungen. Das Rezeptionsverhalten der Internetnutzer lässt außerdem darauf schließen, dass nicht nur die Webseiten bewusst aufgerufen werden, sondern dass ein hohes Maß an Motivation und Fähigkeit der „Informationsverarbeitung“ vorhanden zu sein scheint. Vor dem Hintergrund des ELM38, ergeben sich dadurch gute Voraussetzungen für die Darstellung von SponsoringBotschaften auf den Webseiten der Athleten, die durchwegs zu positiven Einstellungsänderungen beziehungsweise gesteigertem Imagetransfer führen können. Wenn man davon ausgeht, dass aufgrund eines erhöhten Involvements, ein Großteil der dargebotenen Informationen über die zentrale Route verarbeitet wird, weisen diese Botschaften 38

Das Elaboration Likelihood Model of Persuasion (kurz: ELM) gilt als ein vielbeachtetes Modell auf dem Gebiet der Medienwirkungsforschung. Dabei wird beschrieben, wie sich persuasive Botschaften – in Abhängigkeit der persönlichen Bereitschaft, diese aufzunehmen und weiterzuverarbeiten – auf den Einstellungsgegenstand auswirken.

Sportsponsoring im Beziehungsgeflecht von Medien, Sport, Publikum und Wirtschaft

247

mitunter auch eine größere zeitliche Persistenz auf. Die verhältnismäßig positive Bewertung der Sponsoren-Einbindung erhärtet diese Annahme und führt aus praktischer Sicht dazu, dass Sponsoren den Internet-Auftritt der Athleten intensiver für ihre Zwecke nützen könnten. Wie die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, sollte man dabei beispielsweise Intro-Seiten zur Implementierung der Sponsoring-Botschaft nutzen, auf den Startseiten Bilder des Athleten einbinden, auf denen der Sponsor eindeutig erkennbar ist, verlinkte und auffälligere Banner auf der Startseite schalten und vor allem weiterführende Informationen über das Sponsoring bereitstellen, damit Internetnutzer einen zusätzlichen Anreiz erhalten, auch die Unternehmens-Webseite zu besuchen. Die Einbindung von Sponsoring-Botschaften sollte nach Möglichkeit direkt auf der Startseite und nicht auf den Unterseiten des Web-Auftritts stattfinden, da hierbei die Gefahr besteht, dass ein Sponsoring nicht wahrgenommen wird. Auch im Hinblick einer Einbindung des Sponsoring-Engagements auf den unternehmenseigenen InternetAuftritt konnte im Zuge dieser Arbeit ein weithin großes Potential ausgemacht werden. Vor allem Pull-Informationen (z. B. Informationen zu Veranstaltungen, Sportlern etc.), die zur Aktivierung des Sponsorings beitragen, dürften hierbei besonders effektiv sein, um dieses mit positiven Attributen zu belegen. Für die Internetnutzer werden dadurch die Verbindungen zwischen Sportler und Sponsor durchsichtiger, das wiederum für die Erzeugung von Goodwill für ein Unternehmen spricht. Die Rückschlüsse die aufgrund der gewonnen Daten gezogen wurden, sind allerdings immer unter Vorbehalt zu betrachten, da „genau genommen Rezeption im aktuellen Vollzug untersucht werden müsste.“39 Die Ergebnisse dieser Arbeit dienen vielmehr als Überblick über das derzeitige Angebot von skispezifischen Internet-Auftritten österreichischer Skirennläufer/innen und wie dieses von den Rezipienten genutzt werden kann. Anhand der Nutzer-Bedürfnisse und möglichen Motive des Webseiten-Besuchers sollte sich in Zukunft die Gestaltung der Internet-Auftritte orientieren und nicht zuletzt auch die Einbindungsform der Sponsoring-Botschaften abhängig gemacht werden.

Literatur Beck, D.: Der Sportteil im Wandel: Die Entwicklung der Sportberichterstattung, in Schweizer Zeitungen seit 1945, Bern (2006). Becker, P.: Sport in den Massenmedien – Zur Herstellung und Wirkung einer eigenen Welt, in: Sportwissenschaft, 13 (1983), S. 24–45. Beyer, T.: Determinanten der Sportrezeption. Erklärungsmodell und kausalanalytische Validierung am Beispiel der Fußballbundesliga, Wiesbaden 2006. Blödorn, M.: Das magische Dreieck: Sport – Fernsehen – Kommerz, in: Hoffmann-Riem, W. (Hrsg.): Neue Medienstrukturen – neue Sportberichterstattung?, Baden-Baden 1988, S. 100–129. Bruhn, M.: Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz, 5. Aufl., Wiesbaden 2010. Bruhn, M.: Sponsoring: Systematische Planung und integrativer Einsatz, 4. Aufl., Wiesbaden 2003. Damm-Volk, K.: Sportsponsoring als Kommunikationsinstrument im Marketing, Regensburg 2002. Dimitriou, M./Sattlecker, G.: Sportjournalismus in Österreich: Empirische Fakten und Positionierung im deutschsprachigen Raum, Aachen 2011. 39

Stiehler, Sportrezeption zwischen Unterhaltung und Information (2007), S. 196.

248

Minas Dimitriou und Erich Müller

Freyer, W: Sport-Marketing: Modernes Marketing-Management für die Sportwirtschaft, 4., neubearb. Aufl., Berlin 2011. Golger, S.: Internet Uses and Gratifications im Sportsponsoring-Kontext am Beispiel ausgewählter Internetseiten österreichischer Skirennläufer, unveröffentlichte Diplomarbeit am Interfakultären Fachbereich Sport- & Bewegungswissenschaft/USI der Universität Salzburg 2010. Görner, F.: Vom Außenseiter zum Aufsteiger: Ergebnisse der ersten repräsentativen Befragung von Sportjournalisten in Deutschland, Berlin 1995. Hagenah, J.: Sportrezeption und Medienwirkung: Eine dynamisch-transaktionale Analyse der Beziehungen zwischen Sportkommunikatoren und -rezipienten im Feld des Mediensports, München 2004. Hermanns, A./Marwitz, C.: Sponsoring: Grundlagen, Wirkungen, Management, Markenführung, 3., völlig überarb. Aufl., München 2008. Horky, T.: Was macht den Sport zum Mediensport? Ein Modell zur Definition und Analyse von Mediensportarten, in: Sportwissenschaft, 39 (2009) 4, S. 298–308. Jhally, S.: Cultural studies and the sports/media complex, in: Wenner, L. A. (Hrsg.): Media, Sports & Society, Newbury Park et al. 1989, S. 70–93. Kruse, J.: Wirtschaftliche Wirkungen einer unentgeltlichen Sport-Kurzberichterstattung im Fernsehen, Baden-Baden 1991. Meenaghan, T.: Understanding sponsorship effects, in: Psychology & Marketing, 18 (2001) 2, S. 95–122. Penz, O.: Hyperrealität des Sports, in: Marschik, M/Müllner, R./Penz. O./Spitaler. G. (Hrsg.): Sport Studies, Wien 2009, S. 99–111. Penz, O.: Produktion und Kodes des Mediensports, in: Marschik, M/Müllner, R. (Hrsg.): „Sind`s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind.“ Mediatisierung des Sports in Österreich, Göttingen 2010, S. 38–50. Schaffrath, M: Sportjournalismus in Deutschland, in: Schwier, J. (Hrsg): Mediensport: Ein einführendes Handbuch, Hohengehren 2002, S. 7–26. Schauerte, T.: Was ist Sport in den Medien? Theorien – Befunde – Desiderate. Köln 2007. Sport und Markt, Sponsoring-Barometer Österreich 2010/2011: Das Meinungsbild der werbetreibenden Unternehmen in Österreich, Köln 2010. Stiehler, H. J.: Sportrezeption zwischen Unterhaltung und Information, in: Schierl, T. (Hrsg.): Handbuch Medien, Kommunikation und Sport, Schorndorf 2007, S. 182–199. Schwier, J./Schauerte, T.: Soziologie des Mediensports, Köln 2008. Trosien, G.: Sichert Sponsoring Breite und Vielfalt im Sport? in: Trosien, G./Haase, H./Mussler, D. (Hrsg.): Huckepackfinanzierung des Sports: Sportsponsoring unter der Lupe, Schorndorf 2001, S. 63–78. Weischenberg, S.: Sportjournalismus zwischen Mode und Methode, in: Hoffmann-Riem, W. (Hrsg.): Neue Medienstrukturen – neue Sportberichterstattung?, Baden-Baden et al. 1988, S. 66–89. Wenner, L. A.: Media, Sports and Society: The Research Agenda, in: Wenner, L. A. (Hrsg.): Media, Sports & Society, Newbury Park et al. 1989, S. 13–48. www.faspo.de/international/411-weltweite-sponsoringausgaben-2011.html [28.08.2011].

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren Ernst Bleier

1

Einleitung

Unabhängig und ohne voneinander zu wissen entwickelten Richard Hammer und Georg Lechleitner1 an der Universität Innsbruck einerseits und Ernst Bleier2 an der Hochschule für Welthandel, Wien andererseits, Insolvenzprognosemodelle auf der Basis von Kennzahlen aus Jahresabschlüssen kleiner und mittlerer Unternehmen. Anlässlich des Geburtstagsjubiläums von Richard Hammer sei ein kurzer Rückblick auf die damalige Forschungsarbeit gestattet. Die damals vorliegenden Analysesysteme hatten überwiegend amerikanische3, deutsche4, holländische5 und andere publizitätspflichtige Unternehmen zum Gegenstand. Hammer/ Lechleitner entwickelten ein auf die österreichische Unternehmensstruktur zugeschnittenes Analysesystem unter Anwendung der multivariaten Diskriminanzanalyse. Die dabei verwendete Bezeichnung „Insolvenzprognosemodell“ ist insofern irreführend, als es nicht darum ging, die Unternehmensinsolvenz – im Sinne der sich selbst erfüllenden Prophezeiung – vorherzusagen, sondern die Unternehmen vor drohender Insolvenz möglichst frühzeitig zu warnen. Dies mit dem Ziel, Maßnahmen zu ergreifen, um das Unternehmen zu retten. Das Hammer/Lechleitner System klassifizierte mit 7 gewichteten Kennzahlen in der ex post Betrachtung 94 % der Unternehmen richtig, was in der Praxis eine große Hilfestellung bei Bonitätsbeurteilungen von KMU bedeutete. Dies war lange vor der Zeit der „Basel – Vorschriften“ und internen Ratings durch die Kreditinstitute. Man konnte noch nicht ahnen, welche Bedeutung der Einsatz von Verfahren der mathematischen Statistik bei der Bonitätsbeurteilung erlangen würde. Richard Hammer war damit Wegbereiter für viele nachfolgend entwickelte Systeme.6 1 2 3 4 5 6

Vgl. Hammer/Lechleitner, Entwicklung eines Insolvenzprognosemodells auf der Basis von Finanzkennzahlen unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Unternehmensstruktur (1982). Vgl. Bleier, Insolvenzprognose aus den Jahresabschlüssen nicht publizitätspflichtiger Unternehmen (1981). Vgl. Altman, Financial Ratios, Discriminant Analysis and the Prediction of Corporate Bankruptcy (1968). Vgl. Beermann, Prognosemöglichkeiten von Kapitalverlusten mit Hilfe von Jahresabschlüssen (1976). Vgl. Bilderbeek, An Empirical Study of the Predictive Ability of Financial Ratios in the Netherlands (1979). Vgl. Mayrl, Insolvenzfrüherkennung durch die Jahresabschlussanalyse (2005).

250

Ernst Bleier

2

Finanzierungsverhalten

2.1

Fragestellung dieses Beitrages

Gegenstand dieses Beitrages ist die Klärung der Frage, ob und wenn ja, welche Veränderungen des Finanzierungsverhaltens von Unternehmen vor und in den Krisenjahren aus den öffentlich zugänglichen Jahresabschlüssen erkennbar sind. Insbesondere werden dabei Veränderungen in folgenden Bereichen zu betrachten sein: • • • • • •

2.2

Finanzielles Engagement der Eigentümer Finanzielles Engagement von Kreditinstituten Kreditgewährung von Lieferanten Selbstfinanzierungsmöglichkeiten aus dem betrieblichen Ertrag Allfällige Liquiditätsschöpfung aus Forderungs- und Lagerabbau Entwicklung der Bonitätswerte aus Diskriminanzanalysen

Absteckung der Zeiträume

Zunächst gilt es zu entscheiden mit welchem Bilanzstichtag man die Trennung zwischen Vorkrisenzeitraum und Krisenzeitraum zieht. Für den Zweck dieser Arbeit wird die Grenze mit dem Bilanzstichtag 2007 gezogen. Der Zusammenbruch einer Bank in Deutschland Mitte 2007 wurde zunächst noch für ein Einzelphänomen gehalten, weshalb man daraus noch kein Durchschlagen auf das Finanzierungsverhalten von Unternehmen in Österreich ableiten musste.7 Die große Vertrauenskrise trat 2008 ein. Die Kennzahlen 2005 bis 2007 werden als Vorkrisenstadium, jene der Jahre 2008 und 2009 als Krisenstadium bezeichnet.

2.3

Quellen der Kennzahlen und Repräsentationsgrad

Die Kennzahlen der beispielhaft analysierten Wirtschaftsbereiche „Beherbergung und Gastronomie“, „Einzelhandel“ und „Metallwarenerzeugung und -bearbeitung“ entstammen dem Statistikmodul „Realwirtschaftliche Indikatoren/Jahresabschlusskennzahlen österreichischer Unternehmen“8 zum 21.09.2011. Aus den dort angeführten 39 Kennzahlen werden jene ausgewählt, welche die Beantwortung der oben angeführten Fragestellungen erwarten lassen. Es sind dies:

7 8

Vgl. Stadler, Der Markt hat nicht immer recht – über die wirklichen Ursachen der Finanzmarktkrise und wie wir die nächste vermeiden können (2011), S. 23. Vgl. Österreichische Nationalbank, Realwirtschaftliche Indikatoren, http://www.oenb.at/de/stat_melders/datenangebot/realwirtschaft/jahresabschlusskennzahlen/ jahresabschlusskennzahlen.jsp.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren

251

Finanzstrukturkennzahlen: Eigenkapital × 100 Eigenkapitalquote = Bilanzsumme Bankverschuldungsquote =

Bankverbindlichkeiten × 100 Bilanzsumme

Lieferantenverschuldungsquote =

Lieferantenlieferverbindlichkeiten × 100 Bilanzsumme

Vermögensstrukturkennzahlen: Sachanlagevermögen × 100 Anlagenintensität = Bilanzsumme Lagerintensität =

Vorräte × 100 Bilanzsumme Forderungen aus Lieferungen u. Leistungen × 100

Forderungsintensität =

Bilanzsumme

Ertragskennzahlen: Betriebsergebnis in % des Umsatzes = Umsatzrentabilität =

Betriebsergebnis × 100 Umsatz

Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit × 100 Umsatz

Selbstfinanzierungskennzahl: Cash flow in % des Fremdkapitals =

Cash flow × 100 Umsatz

Repräsentationsgrad: Der Kennzahlenberechnung der Österreichischen Nationalbank liegt folgende Anzahl an Jahresabschlüssen zugrunde: Tabelle 1:

Beherbergung u. Gastronomie Metallwaren-erzeugung u. -bearbeitung Einzelhandel

9

9

Repräsentationsgrad

2005

2006

2007

2008

2009

11.003 218

12.018 248

12.276 263

11.280 277

5.164 197

11.694

12.700

12.880

12.012

6.038

In Anlehnung an http://www.oenb.at/de/stat_melders/datenangebot/realwirtschaft/ jahresabschlusskennzahlen/repraesentationsgrad.jsp.

252

Ernst Bleier

Diskriminanzanalyse10: Bonitätswerte für Dienstleistungs-, Handels- und Erzeugungsunternehmen

3

Interpretation der Kennzahlen

3.1

Möglichkeiten und Grenzen der Kennzahlenanalyse

Die Analyse von vergangenheitsorientieren Daten mittels Kennzahlen ist für unternehmensexterne Interessenten oftmals die wichtigste Maßnahme, um sich ein Bild von der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens zu machen. Alle Bonitätsbeurteilungssysteme professioneller Kreditgeber haben diese zur Grundlage. Die Interpretation hat, im Wissen um die Vergangenheitsorientierung, die Stichtagsbezogenheit und die Ausnutzung bilanzpolitischer Spielräume11 seitens der Unternehmen zu erfolgen. Die Aussagekraft wird durch die Analyse mehrerer aufeinander folgender Jahresabschlüsse verbessert. Der zwischenbetriebliche Kennzahlenvergleich (Branchenvergleich) dient zur Orientierung der Lage innerhalb der jeweiligen Branche. Der wünschenswerte Einblick in zukunftsorientierte Daten wie Zielsysteme12, Plan – Erfolgsrechnung, Planbilanz, Finanzplan etc. ist dem externen Analysten meist nicht möglich. Dennoch wird in dieser Arbeit der Versuch unternommen, aus den vorliegenden Kennzahlen Schlüsse auf das Finanzierungsverhalten von Eigentümern, Kreditinstituten und Lieferanten zu ziehen.

3.2

Aussagen aus der Kennzahlentabelle „Beherbergung und Gastronomie“

Interpretation aus Anhang – Tabelle 5: • • • •

10 11 12

Finanzielles Engagement der Eigentümer: Die kontinuierliche Verbesserung der bilanzmäßigen Eigenkapitalausstattung bzw. der Abbau der bilanzmäßigen Überschuldung erfolgte schon vor der Krise und wurde in den Krisenjahren verstärkt fortgesetzt. Finanzielles Engagement von Kreditinstituten: Die Bankverschuldungsquote wurde 2009, dem Kernjahr der Krise, merklich reduziert. Kreditgewährung von Lieferanten: Die Lieferantenverschuldungsquote war 2009 merklich rückläufig, was auf Zurückhaltung der Lieferanten bei der Kreditgewährung an ihre Kunden hindeutet. Selbstfinanzierungsmöglichkeiten aus dem betrieblichen Ertrag: Die Betriebsergebnisquote war über 4 Jahre des Erhebungszeitraumes konstant positiv. Im Jahre 2009 ist ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Die auch in den Krisenjahren hohe Nachfrage wurde mit niedrigen Preisen unterstützt. Verglichen mit den anderen Branchen war der Cash flow in % des Fremdkapitals relativ gering.

Vgl. Schweighofer Manager-Software GmbH, Win Analyse-Rating: Version 11.00 (2011). Vgl. Urnik/Schuschnig, Investitionsmanagement – Finanzmanagement – Bilanzanalyse (2007), S. 207 ff. Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 251 ff.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren

253

Die steigende Eigenkapitalausstattung bei rückläufiger Bank- und Lieferantenverschuldung lässt den Schluss zu, dass die erwirtschafteten Mittel weitgehend in den Unternehmen verblieben. •

Liquiditätsschöpfung aus Forderungs- und Lagerabbau: In diesen Branchen gibt es kein Potenzial. Bonitätswerte aus Diskriminanzanalyse für Dienstleistungsunternehmen (Anhang – Tabelle 6)



Tabelle 2:

Bonitätswerte Dienstleistungsunternehmen

Bonitätswert (Score)

13

2007

2008

2009

0,14

0,16

0,03

Diese Werte bringen die unterdurchschnittliche finanzielle Stabilität, die sich im Krisenjahr 2009 verschlechtert hat, zum Ausdruck. Interpretation des Bonitätswertes: Score > 0,3 keine Insolvenzgefährdung –0,3 < Score > 0,3 unterdurchschnittliche finanzielle Stabilität Score < –0,3 starke Insolvenzgefährdung Die Anzahl der Insolvenzen14 in „Beherbergung und Gastronomie“ stieg 2009 deutlich auf 1.074 (2008: 979) Unternehmen an. Je 1.000 Unternehmen in diesen Branchen sank die Quote jedoch von 22,1 (2008) auf 19,5 (2009). Damit lag diese Quote geringfügig über jener aller insolventen Unternehmen von 18,8 je 1.000 Unternehmen. Zusammenfassung „Beherbergung und Gastronomie“ Der diesen Branchen eigene hohe Familienbezug hat offensichtlich das reduzierte finanzielle Engagement der Kreditinstitute und Lieferanten aus dem laufenden Geschäftserfolg kompensieren können. Dennoch sind diese Branchen nach wie vor in hohem Maße von Fremdkapital abhängig. Der Fremdmittelhebel (Leverage Effekt) ist ausgereizt. Eigenmittelaufbringung von außen, etwa durch Mezzaninfinanzierung ist praktisch nicht vorhanden. Die Ablehnung seitens der Eigentümer ist einerseits durch das nachhaltig niedrige Zinsniveau begründet (Eigenmittel würden auf Grund der Risikotangente teurer sein), andererseits werden Mitspracherechte Dritter bei wesentlichen Entscheidungen abgelehnt. Das gerade in diesen Branchen stark argumentierte Thema „Stille Reserven“ (Saldo zwischen Marktwert und bilanzmäßigem Buchwert) im Anlagevermögen hat insofern eine negative Wendung genommen, als es für Hotel- und Gastronomieimmobilien – abgesehen von Toplagen – keine Nachfrage gibt. Der vermeintliche Eigenmittelpolster in den „Stillen Reserven“ hat sich auf wenige Top-Betriebe reduziert. Die „wirkliche Eigenkapitalausstattung“ hat sich damit der niedrigen bilanzmäßigen Eigenkapitalausstattung (nach unten) oder der Überschuldung angenähert. 13 14

Eigene Berechnung mit Diskriminanzfunktion Bleier. Kubicki KG, Creditreform Wirtschaftsauskunftei, o. S. wie oben http://www.creditreform.at/.

254

Ernst Bleier

Die im Erhebungszeitraum leicht gestiegene Anlagenintensität lässt darauf schließen, dass qualitätserhaltende Investitionen durchgeführt wurden. Abschließend ist angesichts der hohen Fremdkapitalabhängigkeit noch auf die Zinsproblematik einzugehen. Der Cash flow von Tourismusbetrieben ist unmittelbar vom jeweils geltenden Zinsniveau abhängig.15 Laut ÖNB-Statistik16 beläuft sich der Finanzierungsaufwand in Prozent des Umsatzes 2009 auf bis zu 7,23 % (2008: 9,09 %) im Mittel (Median) auf 3,59 % (2008: 4,42 %). Der Kostenfaktor Finanzierungsaufwand ist somit schon in der seit Jahren anhaltenden Niedrigzinsphase beträchtlich. In Zeiten steigender Zinsen wird diese Belastung dadurch verschärft, dass viele Unternehmen erst mit (großen) zeitlichen Verzögerungen ihre Preise um diese Kostensteigerung anpassen können. Dies etwa, weil ihr Geschäftsmodell Reservierungs- und Verkaufsabschlüsse mit einer Vorlaufzeit von bis zu einem Jahr notwendig macht.

3.3

Aussagen zur Kennzahlentabelle „Einzelhandel“

Interpretation aus Anhang – Tabelle 7. •

Finanzielles Engagement der Eigentümer: Die Einzelhandelsbetriebe (ohne Kraftfahrzeughandel) haben ihre Eigenkapitalquote schon vor der Krise kontinuierlich erhöht. In den als Krisenjahre definierten Bilanzzeiträume 2008 und 2009 sogar sprunghaft erhöht bzw. eine Überschuldung abgebaut. Finanzielles Engagement von Kreditinstituten: Das finanzielle Engagement der Kreditinstitute war kontinuierlich mit verstärkter Tendenz 2009 rückläufig. Kreditgewährung von Lieferanten: Die Lieferantenverschuldungsquote zeigt 2009 einen merklichen Rückgang. Selbstfinanzierungsmöglichkeiten aus dem betrieblichen Ertrag: Die Ertragskraft ist bis einschließlich 2008 auf gleichem positivem Niveau, 2009 ist ein sichtlicher Rückgang zu verzeichnen. Liquiditätsschöpfung aus Forderungs- und Lagerabbau: Die Lagerintensität weist erst 2009 einen geringfügigen Rückgang auf. Die Forderungsintensität schwankt ebenfalls geringfügig. Eine nennenswerte Liquiditätsschöpfung aus diesen Positionen ist nicht erkennbar. Bonitätswerte aus Diskriminanzanalyse für Handelsunternehmen (Anhang – Tabelle 8):

• • • •



Tabelle 3:

Bonitätswerte Handelsunternehmen

Bonitätswert (Score)

17

2007

2008

2009

1,03

1,07

1,22

Diese Werte bringen ausreichende finanzielle Stabilität zum Ausdruck, wobei sich die Steigerung der Eigenkapitalausstattung positiv auswirkt. 15 16

17

Vgl. Kleemann, Zinsproblematik (2011), http://www.oeht.at/blog/2011/08/24/die-zinsproblematik-in-dertourismuswirtschaft/. Vgl. Österreichische Nationalbank, Realwirtschaftliche Indikatoren, http://www.oenb.at/de/stat_melders/datenangebot/realwirtschaft/jahresabschlusskennzahlen/ jahresabschlusskennzahlen.jsp. Eigene Berechnung mit Diskriminanzfunktion Bleier.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren

255

Zusammenfassung „Einzelhandel“ Die Branchen des Einzelhandels sind durch eine geringe Anlagenintensität gekennzeichnet, weshalb mit der gegebenen Eigenkapitalausstattung und der teilweise langfristigen Fremdfinanzierung leichter dem Grundsatz der fristenkongruenten Finanzierung entsprochen wird als in anlageintensiven Wirtschaftszweigen. Wenn man bedenkt, dass das Warenlager fast doppelt so hoch ist wie die Betriebsanlagen, so sind Erfolg oder Misserfolg eher im Bereich der kurzfristigen Sortiments- und Serviceentscheidungen zu sehen. Indikatoren für längerfristiges Überleben sind daher neben der Ertragskraft vorwiegend im Bereich des Warenlagers gelegen. Die Lagerumschlagshäufigkeit 2009 beläuft sich auf 4,9mal im Jahr.18 Das entspricht einer durchschnittlichen Lagerdauer von 74 Tagen. Jede Entscheidung in diesem Bereich wirkt sich sowohl im positiven, wie auch im negativen Fall sehr weitreichend aus. Andererseits gibt es diesbezüglich auch kurzfristige Korrekturmöglichkeiten. Das „Geschäftsmodell“ Einzelhandel ist im Ergebnis strukturell gegensätzlich zu dem vorhin dargestellten Modell der Hotellerie und Gastronomie zu beurteilen.

3.4

Aussagen zur Kennzahlentabelle „Metallwarenerzeugung und -bearbeitung“

Interpretation aus Anhang – Tabelle 9. • • • • • •

18

Finanzielles Engagement der Eigentümer: Die Eigentümer haben sich sowohl vor der Krise als auch in den Krisenjahren laufend verstärkt engagiert. Überschuldung kommt in den Kennzahlen dieser Branchen praktisch nicht vor. Kreditgewährung von Kreditinstituten: Die Kreditinstitute haben ihr Engagement in diesem Wirtschaftszweig flächendeckend zurückgefahren. Kreditgewährung von Lieferanten: Die Lieferanten haben ihr Kreditengagement ebenfalls laufend abgebaut. 2009 betrug die Lieferantenkreditdauer im Mittel (Median) rund 40 Tage. Selbstfinanzierungsmöglichkeiten aus dem betrieblichen Ertrag: Die Ertragskraft dieser Branche war bis 2007 konstant. 2008 traten eine Verringerung und 2009 fast eine Halbierung ein. Liquiditätsschöpfung aus Forderungs- und Lagerabbau: Während die Lagerintensität konstant blieb, sanken die Kundenforderungen deutlich, wodurch einige Liquidität freigesetzt wurde. Bonitätswerte aus Diskriminanzanalyse für Erzeugungsunternehmen (Anhang – Tabelle 10):

Vgl. KMU-Forschung Austria, Untersuchung der Kosten-, Ertrags- und Finanzlage im österreichischen Handel (2008/09), S. 50.

256

Ernst Bleier

Tabelle 4:

19

Bonitätswerte Erzeugungsunternehmen

Bonitätswert (Score)

2007

2008

2009

1,43

1,45

1,23

Dieser Werte weisen auf ausreichende finanzielle Stabilität hin. Zusammenfassung „Metallwarenerzeugung und -bearbeitung“ Die ausreichende finanzielle Stabilität beruht im Besonderen auf kontinuierlich gesteigerter Eigenkapitalausstattung und ebenso konstanter Ertragskraft, bis sich letztere im Jahre 2009 halbierte. Die vergleichsweise niedrigen Transportkosten für Halb- und Fertigerzeugnisse vergrößerten den geografischen Radius für Wettbewerber wesentlich. Als Beispiel ist auszuführen, dass die historische Stahlkonstruktion des Salzburger Bahnhofes nach Polen zur Restaurierung gebracht wurde. Die analysierten Kennzahlen dieser Branche gelten, sowie für die beiden vorangestellten Beispiele, als empirischer Beleg für die Krisenresistenz der Unternehmen.

4

Schlussfolgerungen aus den Analysen für zukunftsorientierte Entscheidungen im Rahmen der finanziellen Unternehmensführung

Aus vielen Vorträgen und Gesprächen ist mir ein Leitsatz von Richard Hammer in Erinnerung: „Die Betriebswirtschaftslehre sollte Problemlösungen in den Vordergrund vor Beschreibungen stellen.“ In diesem Sinne werden zum Abschluss dieser Arbeit aus den vergangenheitsorientierten Analysen Vorschläge für zukunftsorientierte Entscheidungen angeführt. Finanzielle Unternehmensführung verlangt Weitblick und Zielorientierung. Die Realisierung von Maßnahmen zur Zielerreichung bedarf jedoch oft längerer Vorlaufzeiten, manchmal auch großes Durchhaltevermögen.

4.1

Maßnahmen

Eigenkapital weiter stärken ist das zentrale Thema bei der Festigung der finanziellen Stabilität von Unternehmen. Die (teilweise) Einbehaltung von Gewinnen (offene Selbstfinanzierung) ist die wichtigste Maßnahme dabei. Zumindest in Erwägung gezogen werden sollte aber auch die Aufbringung von Eigenkapital von außen. Sei es durch die bisherigen Eigentümer, neue Gesellschafter oder durch Mezzaninkapitalgeber20 auf Zeit. Die Finanzierung von Seiten der Kreditinstitute wird künftig wohl weitere administrative und materielle Erschwernisse erfahren, jedoch für die allermeisten Unternehmen unentbehrlich sein. Insbesondere die zeitnahe Beibringung von Informationen über die wirtschaftliche 19 20

Eigene Berechnung mit Diskriminanzfunktion Bleier. Schuhmacher/Wiesinger, Finanzmanagement im Tourismus (2009), S. 55 ff.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren

257

Entwicklung ist unerlässlich. Das hat auch eine finanzielle Tangente darin, dass verspätete Bilanzvorlagen zur Ratingverschlechterung und damit zur Zinserhöhung bei Krediten führen. Das derzeit noch immer niedrige Zinsniveau gilt es entweder durch die vertragliche Vereinbarung von Fixzinsperioden oder durch den Kauf von Cap-Optionen (Zinssatzobergrenzen) nachhaltig abzusichern. Im Falle von Investitionen oder Restrukturierungsmaßnahmen ist das Thema Förderungen und Haftungen frühzeitig zu bearbeiten. Die Förderinstitute21 verlangen in ihren Richtlinien die Antragsstellung vor Beginn mit der jeweiligen Maßnahme. Für die investierenden Unternehmen hat dies den großen Vorteil, dass Expertenknowhow von den Förderstellen in das jeweilige Projekt einfließen kann. Lieferantenkredite sind im Allgemeinen wesentlich teurer als Bankkredite. Im Falle von Finanzierungen durch Lieferanten sind sowohl Kosten (entgangene Skonti) als auch Abhängigkeiten zu bedenken. Selbstfinanzierungsmöglichkeiten aus dem betrieblichen Erfolg sind für nachhaltiges Überleben unerlässlich. Es genügt aber nicht, Gewinne zu erzielen, sondern sie müssen auch zumindest teilweise im Unternehmen einbehalten werden. Dies nach Bezahlung der jeweils zutreffenden Steuer. Hervorzuhebende Effekte der Selbstfinanzierung sind Zinsersparnis, Unabhängigkeit von Kapitalgebern, keine Liquiditätsbelastung durch Kapitaltilgungen etc.; insbesondere aber die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Professionelles Forderungsmanagement ist wohl eine Kernaufgabe der finanziellen Unternehmensführung. Rasche Fakturierung nach Lieferung oder Leistungserstellung und straffes Mahnwesen sind der Liquidität förderlich und reduzieren das Ausfallsrisiko. Der Verkauf der Kundenforderungen an eine Factoringbank ist jedenfalls zu prüfen. Forderungsbearbeitung, Mahnwesen und Ausfallsrisiko können gegen entsprechende Gebühren ausgelagert werden. Die Kapitalbindung im Warenlager ist branchenbedingt unterschiedlich hoch. Entsprechende Einkaufsrichtlinien sollen helfen, Kapitalbindung und Entwertungsrisiko gering zu halten. Neben den Zieldefinitionen für einzelne Kennzahlen (Ziele im Sinne „geplanter Erfolg“) ist es zweckmäßig, deren Auswirkung auf die Bonitätswerte einer Diskriminanzanalyse zu prüfen. Das Ergebnis derartiger Analysen zeigt die Zuordnung zu einer Bonitätsklasse in der jeweiligen Branche oder bei Unternehmen mit mehreren Tätigkeitsbereichen innerhalb der Gesamtheit der Unternehmen (ohne Branchengliederung). Das ist eine bonitätsmäßige Standortbestimmung.

21

Austria Wirtschaftsservice GmbH/Österreichische Hotel- und Tourismusbank GmbH.: www.awsg.at; www.oeht.at.

258

Ernst Bleier

Anhang Tabelle 5:

22

Kennzahlen Beherbergung und Gastronomie

Eigenkapitalquote

Bankverschuldungsquote

2005

2006

2007

2008

M

–8,88

–6,80

–5,86

–2,74 –

UQ

–62,94

–63,96

–63,55

–56,52 –

OQ

21,79

22,86

23,50

24,43 –

M

75,88

75,86

75,00

74,65

71,02

UQ

41,61

40,15

38,96

38,14

38,24

OQ

117,51

117,18

115,79

114,63

106,10

M

2009

4,92

5,13

5,00

4,93

4,00

Lieferantenverschuldungsquote UQ

1,76

1,75

1,71

1,66

1,36

OQ

12,44

12,72

12,68

12,65

10,47

M

80,86

80,00

79,57

79,47

81,16

UQ

56,62

54,65

53,61

53,33

56,80

Anlagenintensität

Lagerintensität

Forderungsintensität

Betriebsergebnis in % des Umsatzes

Umsatzrentabilität

CF in % d. Fremdkapitals

22

OQ

90,61

90,35

90,42

90,67

91,48

M

2,65

2,62

2,54

2,57

2,13

UQ

1,10

1,04

1,00

0,99

0,90

OQ

6,15

6,27

6,30

6,45

5,41

M

0,47

0,58

0,65

0,60

0,60

UQ

0,00

0,00

0,00

0,00

0,00

OQ

2,54

2,95

3,12

2,97

2,80

M

8,26

8,27

8,14

8,58

7,95

UQ

1,93

2,17

2,03

2,28

1,95

OQ

15,29

14,89

14,85

15,31

14,37

M

4,28

4,00

3,27

3,11

3,55

UQ

–1,78

–2,02

–2,88

–2,94

–2,08

OQ

10,71

10,17

9,44

9,20

9,64

M

11,72

11,54

10,97

10,92

11,49

UQ

5,14

4,97

4,36

4,21

5,04

OQ

26,09

26,53

25,79

25,82

25,23

Vgl. http://www.oenb.at/ebusinessjahresabschluss/ratioaut.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren Tabelle 6:

Diskriminanzfunktion Dienstleistungsunternehmen

Kennzahl

Periode

259

23

Wert

Gewichtung

Ergebnis

BAFK

3

70,5584

-0,036077

–2,5455345

WEAV

3

102,7248

-0,000851

–0,0874188

CFUM

3

13,2

0,036864

0,4866048

ERNA

4

0

0,000603

0,0000000

FKBE

5

728,777

-0,001295

–0,9437662

BEGE

5

8

0,026399

0,2111920

WOGK

5

–10,0564

0,024794

–0,2493382

Konstante

3,1561180

Diskriminanzwert (Score SCL)

0,0278571

BAFK = Bankverbindlichkeiten × 100/Fremdkapital WEAV = Wertschöpfung × 100/Anlagevermögen CFUM = Cash flow × 100/Umsatz ERNA = Erhaltene Anzahlungen × 100/nicht abgerechnete Leistungen FKBE = (Fremdkapital – bald verfügbare Geldmittel) × 100/betriebliche Nettoeinnahmen BEGE = Betriebserfolg × 100/Gesamtleistung WOGK = Working capital × 100/Gesamtkapital EKGK = Eigenkapital × 100/Gesamtkapital VOVL = Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen × 100/Vorleistungen VEUM = Veränderung des Nettogeldvermögens × 100/Umsatz

23

Eigene Berechnung mit Diskriminanzfunktion Bleier.

260

Ernst Bleier

Tabelle 7:

Kennzahlen Einzelhandel (ohne Kraftahrzeuge)

2005

2006

2007

2008

2009

2,98

4,60

5,53

8,51

13,49

UQ

–35,86

–33,62

–31,51

–28,70

–17,71

OQ

29,75

31,16

32,12

34,63

38,89

M

46,11

43,31

41,51

40,29

37,14

UQ

16,34

13,59

11,15

10,61

7,53

OQ

81,00

77,83

75,97

75,26

70,20

M

16,44

17,28

16,95

16,15

14,84

M Eigenkapitalquote

Bankverschuldungsquote

Lieferantenverschuldungsquote

Anlagenintensität

Lagerintensität

Forderungsintensität

Betriebsergebnis in % des Umsatzes

Umsatzrentabilität

CF in % d. Fremdkapitals

24

24

UQ

7,21

7,80

7,20

6,90

6,37

OQ

32,17

33,50

33,33

31,58

29,17

M

18,43

17,25

16,61

16,55

17,39

UQ

6,70

5,91

5,38

5,30

5,83

OQ

40,73

39,22

39,15

38,89

38,94

M

33,82

33,33

33,33

33,33

31,84

UQ

16,91

16,48

16,42

16,18

15,38

OQ

56,55

55,92

55,91

56,02

54,41

M

4,85

5,51

5,49

5,11

5,48

UQ

9,39

0,47

0,44

0,38

0,48

OQ

18,75

19,69

19,55

18,53

18,16

M

5,04

5,30

5,34

5,53

4,85

UQ

1,44

1,62

1,86

1,91

1,67

OQ

9,57

9,71

9,87

10,15

9,29

M

3,52

3,74

3,68

3,74

3,49

UQ

0,16

0,34

0,47

0,54

0,56

OQ

7,83

8,08

8,10

8,20

7,91

M

15,38

16,25

16,57

17,12

17,71

UQ

4,96

5,30

5,84

5,92

6,30

OQ

35,94

37,50

39,20

41,29

40,99

Vgl. http://www.oenb.at/ebusinessjahresabschluss/ratioaut.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren Tabelle 8: Diskriminanzfunktion Handelsunternehmen Kennzahl

261

25

Periode

Wert

Gewichtung

Ergebnis

WEAV

3

572,3077

-0,000331

–0,1894338

BEGE

4

5,5000

0,081629

0,4489595

EKGK

5

13,5000

0,023051

0,3111885

VOVL

5

8,9888

-0,025108

–0,2256899

FKBE

5

531,1475

-0,000479

–0,2544197

Konstante

1,1306340

Diskriminanzwert (Score SCL)

1,2212386

25

Eigene Berechnung mit Diskriminanzfunktion Bleier.

262

Ernst Bleier

Tabelle 9:

Eigenkapitalquote

Bankverschuldungsquote

Lieferantenverschuldungsquote

Anlagenintensität

Lagerintensität

Forderungsintensität

Betriebsergebnis in % des Umsatzes

Umsatzrentabilität

CF in % d. Fremdkapitals

26

26

Kennzahlen Metallwarenerzeugung und -bearbeitung 2005

2006

2007

2008

2009

M

17,28

19,35

23,25

23,61

25,43

UQ

–2,62

0,74

4,93

5,73

9,00

OQ

36,64

39,08

42,48

44,34

46,44

M

34,41

31,30

27,86

26,94

28,32

UQ

13,43

10,13

6,26

5,19

5,45

OQ

60,94

57,98

54,59

54,90

54,92

M

8,33

9,36

8,24

7,37

6,65

UQ

3,81

4,34

3,68

3,35

3,25

OQ

17,05

18,32

17,23

15,35

13,16

M

32,34

32,06

30,68

31,73

34,29

UQ

14,89

13,62

12,62

12,62

13,83

OQ

53,18

53,34

53,20

53,56

55,54

M

13,73

14,62

14,75

15,23

15,89

UQ

5,70

5,89

5,99

5,79

6,88

OQ

26,61

27,56

27,96

29,67

29,63

M

18,67

19,37

19,17

17,75

14,07

UQ

10,29

11,08

10,37

8,76

7,63

OQ

31,06

31,22

31,21

30,11

24,27

M

5,91

6,53

6,98

6,48

3,88

UQ

1,57

2,83

3,05

2,63

-0,28

OQ

11,95

12,75

13,00

12,08

9,01

M

4,50

5,25

5,66

4,92

2,58

UQ

0,59

1,31

1,66

1,26

-1,56

OQ

10,64

11,40

11,90

10,78

8,34

M

19,95

22,43

24,29

21,93

16,52

UQ

8,58

10,22

10,77

9,88

4,80

OQ

42,86

46,25

52,61

48,71

37,23

Vgl. http://www.oenb.at/ebusinessjahresabschluss/ratioaut.

Finanzierungsverhalten von Unternehmen vor und in den Krisenjahren Tabelle 10: Diskriminanzfunktion Erzeugungsunternehmen

263

27

CFUM

Periode

Wert

Gewichtung

Ergebnis

ERNA

3

0,0000

0,004063

0,0000000

VEUM

4

54,2448

0,000404

0,0219149

EKGK

4

23,6486

0,044342

1,0486284

FKCF

5

709,4595

-0,000098

–0,0695270

WOGK

5

19,4602

0,013097

0,2548706

CFUM

5

7,4000

0,114937

0,8505338

Konstante Diskriminanzwert (Score SCL)

–0,8760030 1,2304176

Literatur Altman, E.: Financial Ratios, Discriminant Analysis and the Prediction of Corporate Bankruptcy, in: The Journal of Finance, September (1968), S. 589–609. Austria Wirtschaftsservice GmbH/Österreichische Hotel- und Tourismusbank GmbH.: www.awsg.at; www.oeht.at [21.09.2011]. Beermann, K.: Prognosemöglichkeiten von Kapitalverlusten mit Hilfe von Jahresabschlüssen, Düsseldorf 1976. Bilderbeek, I.: An Empirical Study of the Predictive Ability of Financial Ratios in the Netherlands, in: ZfB, 5 (1979), S. 388–407. Bleier, E.: Insolvenzprognose aus den Jahresabschlüssen nicht publizitätspflichtiger Unternehmen, Dissertation, Wien 1981. Hammer, R.: Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre, Wien 2007. Hammer, R./Lechleitner, G.: Entwicklung eines Insolvenzprognosemodells auf der Basis von Finanzkennzahlen unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Unternehmensstruktur, Innsbruck 1982. Kleemann, W.: http://www.oeht.at/blog/2011/08/24/die-zinsproblematik-in-der-tourismuswirtschaft/ [21.09.2011]. KMU-Forschung Austria: Untersuchung der Kosten-, Ertrags- und Finanzlage im österreichischen Handel 2008/09. Kubicki KG: Creditreform Wirtschaftsauskunftei: www.creditreform.at, Wien [21.09.2011]. Mayrl, C.: Insolvenzfrüherkennung durch die Jahresabschlussanalyse, Wien 2005. Österreichische Nationalbank: http://www.oenb.at/de/stat_melders/datenangebot/realwirtschaft/jahresabschlusskennzahlen/jahresabsc hlusskennzahlen.jsp [21.09.2011]. Schuhmacher, M./Wiesinger, E.: Finanzmanagement im Tourismus, Wien 2009. Schweighofer Manager-Software GmbH: Win Analyse-Rating: Version 11.00, Tumeltsham 2011. 27

Eigene Berechnung mit Diskriminanzfunktion Bleier.

264

Ernst Bleier

Stadler, W.: Der Markt hat nicht immer recht – über die wirklichen Ursachen der Finanzmarktkrise und wie wir die nächste vermeiden können, Wien 2011. Urnik, S./Schuschnig, T.: Investitionsmanagement – Finanzmanagement – Bilanzanalyse, Wien 2007. http://www.oenb.at/de/stat_melders/datenangebot/realwirtschaft/jahresabschlusskennzahlen/ repraesentationsgrad.jsp [21.09.2011] http://www.oenb.at/ebusinessjahresabschluss/ratioaut [21.09.2011].

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem? Alois Pircher und Florian Silvestri

1

Vorwort

Ich habe Richard Hammer in den 70er Jahren im Rahmen unserer gemeinsamen Ausbildung an der Universität kennengelernt. Seit dieser Zeit verbindet uns ein wissenschaftliches (Universität Innsbruck und Universität Salzburg) als auch freundschaftliches Band. Ich lernte ihn durch zahlreiche Diskussionen während meiner Promotionszeit schätzen, in welcher ich mich thematisch mit der quantitativen Kontrollkarte beschäftigte. Vom wissenschaftlichen Ansatz her könnte man die Fragestellung mit der in den 90er Jahren aufgekommenen Theorie der Balanced Scorecard durch Robert S. Kaplan und David P. Norton vergleichen. Richard Hammer war damals einer der wenigen, welche mich in der Notwendigkeit meiner Arbeit bestärkten und von dem ich hilfreiches Feedback bzw. Bestätigung über das Problembewusstsein in der Praxis erhielt. Es ist für mich im Rahmen seiner Festschrift eine Ehre, mit dem Autorenteam auch meinen Beitrag für die Würdigung seiner wissenschaftlichen Forschung beizutragen. Doch mein Beitrag soll auch Dank zum Ausdruck bringen, Dank für den langen gemeinsamen Weg unserer Freundschaft. Dank für die Möglichkeit, ihn mit all seinen Stärken und Schwächen erleben zu dürfen. Im Zeichen der Verbundenheit sei ihm dieser Beitrag gewidmet. Ad multos annos

2

Einleitung

In modernen Organisationen, welche in vielen Fällen durch ein großes Wettbewerbsumfeld beschrieben werden können, ist es für die Unternehmensführung von zentraler Bedeutung, ein Instrument zur Verfügung zu haben, welches eine Steuerung des Unternehmens ermöglicht. Dieses Instrument sollte gewährleisten, dass die Steuerung des Unternehmens zeit- und kosteneffizient gestaltet wird. Eine Fokussierung auf einige Steuerungselemente sollte es ermöglichen, einen Überblick über die täglichen Vorgänge im Betrieb zu haben und das Engpassproblem der Geschäftsführung zu bewältigen. Die Konkurrenz in einem komplexen Unternehmensumfeld verlangt nach einem Verständnis von Zielen und Vorstellungen und wie diese erreicht werden können. Die Balanced Score-

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card (BSC) übersetzt die Unternehmensmission und -strategie in ein System der Leistungsmessung, welches Bestandteil für ein strategisches Leistungsmessungs- und Managementsystem darstellt. Dieses Messinstrument fokussiert nicht auf traditionelle PerformanceMeasurement-Ansätze, sondern fordert bzw. fördert eine Integration zwischen kurzfristigen und langfristigen, monetären und nicht monetären Kennzahlen und zwischen Spätindikatoren und Frühindikatoren. Eine Berücksichtigung zwischen externen und internen PerformancePerspektiven soll die laufende Rückmeldung gewährleisten und einen strategischen Lernprozess ermöglichen.1 Die Ansatzpunkte der BSC, welche als Theorie erstmals Anfang der 90er Jahre vergangenen Jahrhunderts in der Öffentlichkeit vorgestellt wurde2, wird stets durch neue Erkenntnisse bei der praktischen Umsetzung erweitert. Die zentrale Aussage dieser Theorie besteht darin, dass ein Unternehmen nicht nur anhand finanzieller Kennzahlen betrachtet werden sollte, sondern viele Faktoren für den Erfolg oder Misserfolg ausschlaggebend sind. Diese Integration von monetären und nicht monetären Zielen soll immer mit der entsprechenden Unternehmensstrategie verknüpft sein, um einen Beitrag zur Zielfindung zu erbringen.3 Diese neue Leistungsmessung wird wesentlich und durch den Wettbewerb im Informationszeitalter notwendig. Die wie früher vorherrschende „Massenproduktion“ von Dienstleistungen war lange Zeit erfolgsversprechend. Erfolg stellte sich ein, sofern es gelang, die vorhandenen Technologien und Sachanlagegüter in effiziente Produktion von Standarddienstleistungen umzulegen.4 Der Schwerpunkt der Steuerungssysteme lag auf der finanziellen Seite und wurde sehr häufig mit Finanzkennzahlen begleitet. Durch das Informationszeitalter wurden die Auswirkungen für die Dienstleister dahingehend geändert, dass die plötzliche Konkurrenz, die nicht unmittelbar vor Ort registriert wurde, plötzlich allgegenwärtig ist. Der Spielraum für eine Preispolitik und das Leistungsangebot konnte auf einfache Art und Weise verglichen werden. Diese Transparenz verlangt nach neuen Ideen, um im Wettbewerb langfristig erfolgreich zu sein. Das Herstellen von Kundenbeziehungen, die Einführung von innovativen Produkten und Dienstleistungen und das Anbieten von hochwertigen Produkten zu günstigen Kosten und geringen Durchlaufzeiten, das langfristige Halten von Schlüsselarbeitskräften mit der entsprechenden Motivation, um schnell auf Kundenbedürfnisse reagieren zu können und die Einführung eines entsprechenden Informationssystems, welches dem Management Rückmeldungen über die erreichten Ist-Daten und mögliche Abweichung zu den Soll-Zielen ermöglicht, sind heute überlebensnotwendig. Funktionsübergreifendes Arbeiten stellt eine wesentliche Änderung zur bisherigen Arbeitsweise dar. Viele Betriebe denken noch in starren Strukturen und Stellenbeschreibungen. Diese Denkweise der vereinfachten Organisationsstruktur sollte in diesen Zeiten überdacht werden. Konnte die Spezialisierung in der Vergangenheit beträchtliche Vorteile bringen, so birgt eine Überspezialisierung das Risiko der Ineffizienz und Trägheit, bei sich verändernden Kundenansprüchen, in sich. Das Ziel der Organisation besteht darin, die herkömmlichen Geschäftsfunktionen miteinander zu integrieren, um somit die Schnittstellenprobleme der einzelnen Abteilungen zu reduzieren und die Spezialisierung durch Expertenwissen mit der 1 2 3 4

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 2. Vgl. Kaplan, In Search of Excellence – der Maßstab muss neu definiert werden (1992). Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 144. Vgl. Schaetzing, Management in Hotellerie und Gastronomie (2010), S. 368 ff.

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Effizienz und Qualität der integrierten Geschäftsprozesse zu verbinden. Auch im Bereich des finanziellen Controllings wurden insb. durch das „Acitvity-based-costing“ Instrumente geschaffen, um die Kostenentstehung und Verursachung kostenstellenübergreifend anhand konkreter Prozessorientierung greifbar zu machen. Während das Angebot früher eher von den vorhandenen Ressourcen vergleichbar eines Produktionsplanes erstellt wurde, müssen Unternehmer im Dienstleistungs- als auch im Industriebereich zukünftige Kundenwünsche vorwegnehmen bzw. neue Bedürfnisse in effiziente Betriebs- und Dienstleistungsprozesse integrieren.5 Die Verbindung zum Kunden ist heute der Schlüssel zum Erfolg. Der Hotelier muss kundengerechte Produkte und Dienstleistungen in seinem Marktsegment anbieten, ohne die Gefahr, dass durch die Produktvielfalt der angebotenen Leistungen die finanzielle Ausgewogenheit gefährdet ist. Diese Flexibilität benötigt Personal mit den entsprechenden Qualifikationen. Der Erfolg eines Unternehmens ist zu einem wesentlichen Teil von Mitarbeitern abhängig, welche als Problemlöser und Garant für die Erfüllung der Mission angesehen werden können. Die Führung eines Unternehmens ist primär in die Zukunft gerichtet und eine Analyse und Überwachung von deren finanziellen Kennzahlen aus der Vergangenheit ist notwendige Voraussetzung, allerdings muss der Zukunftsbezug, in Verbindung mit der strategischen Planung, immer gewährleistet sein. Wenn ich nicht weiß, wohin die Strategie mich treiben soll, so kann ich auch das Schiff nicht lenken. Obwohl die BSC und deren Umsetzung nicht für alle Unternehmen geeignet ist, kann unabhängig von der Unternehmensstruktur, Größe und Organisation der Geschäftsführung eine erste Umsetzung der BSC mit ziemlich eng gefassten Zielen entwickelt werden. Die Klärung der Vision, des Konsens und der Fokus ihrer Strategie sowie die Kommunikation dieser Strategie in der Organisation und die Festlegung dieser anhand von finanziellen Kennzahlen kann als Beginn eines Umsetzungsprozesses gesehen werden. Die wirkliche Nutzung der BSC entfaltet dieses Steuerungstool aber erst dann, wenn es von einem Messsystem (Kennzahlen) zu einem Managementsystem ausgebaut wird. Ab diesem Zeitpunkt kann die BSC die Lücke zwischen dem traditionellen Reporting und dem Managementsystem überwinden, indem durch die Ausrichtung an Prozessen und durch die Rückkopplung der Unternehmensstrategie die Organisation befähigt wird, sich immer wieder an die Strategie anzupassen und diese auch kontinuierlich zu hinterfragen.6 Die kontinuierliche Rückmeldung und die Kontrolle der kurzfristigen Operationen setzen voraus, dass diese finanziellen und nichtfinanziellen Kennzahlen in der Organisation bei den leitenden Mitarbeitern als auch bei der Geschäftsleitung bekannt sein sollten. Die Mitarbeiter müssen die finanziellen Konsequenzen Ihrer Handlungen und die Geschäftsführung die treibenden Kräfte für den langfristigen Erfolg kennen. Jedoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass das Instrument auch als strategisches Managementsystem Verwendung finden kann, um kritische Managementprozesse zu meistern.7

5 6 7

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 5. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 19. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 10.

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3

Wie man eine Geschäftsidee misst

3.1

Notwendigkeit eines Managementtools

Die BSC ist ein Instrument der Strategieumsetzung, nicht zur Strategieformulierung! Sollte im Unternehmen kein Konsens über die Unternehmensstrategie vorherrschen, so kann der Versuch der Implementierung der Balanced Scorecard-Ziele und -Kennzahlen jedoch die Funktion eines Katalysators im Prozess späterer Präzisierung der Strategieformulierungen bei den Führungskräften einnehmen. Die Strategiediskussion ist von großer Bedeutung, um ihre Rolle im Feld der Mitbewerber und im Bereich der Kundengunst zu erarbeiten. Der Begriff der „Wettbewerbsstrategie“ ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung.8 In der Strategiediskussion werden insbesondere die Bedürfnisse der Kunden und die Kernkompetenzen des Unternehmens in den Fokus der Untersuchungen gestellt. Die Strategie beschreibt den Weg von der Kernkompetenz zum Kernauftrag und löst sich demgemäß von der ressourcenbasierenden Betrachtungsweise hin zu einer Marktbetrachtung, welche eine genaue Analyse des Wettbewerbsumfeldes notwendig macht. Eine Strategie trifft eine klare Aussage hinsichtlich der Positionierung im Wettbewerb und dem Versuch, sich von den Mitbewerbern zu unterscheiden. Dazu ist es auch notwendig, Aussagen über die Verwendung der Ressourcen (materieller als auch immaterieller Art) zu tätigen, um dem Wirtschaftlichkeitsprinzip Genüge zu tun. Die Balanced Scorecard ist zwar nicht unmittelbar ein Instrument der strategischen Planung, jedoch nimmt sie eine bedeutende Rolle bei der Zielerreichung der strategischen Ziele wahr. Sie unterstützt bei der Implementierung von Strategien und kann als Managementtool betrachtet werden, welches nicht nur zur Realisierung von operativen (kurzfristigen) finanzwirtschaftlichen Zielsetzungen beiträgt, sondern die Umsetzung der Unternehmensvision (Mission) unterstützend begleitet.9 Die Balanced Scorecard kann als Managementinformationssystem angesehen werden, sofern das Instrument dergestalt umgesetzt wird, dass periodische, standardisierte Berichte bereitgestellt, die Berücksichtigung von qualitativen und quantitativen Faktoren und verdichtete, zentralisierte Informationen über alle Geschäftsaktivitäten gewährleistet sind. Insofern kann die Balanced Scorecard bei der strategischen Kontrolle verwendet werden.10 „Viele Führungskräfte haben persönliche Visionen, die nie zur gemeinsamen, anspornenden Vision eines ganzen Unternehmens werden. Wir brauchen eine Kraft, die die verschiedenen Visionen einzelner in eine gemeinsame Vision übersetzt.“11 Die Methode der BSC holt die Unternehmensvision (Mission) am Grundgerüst ab und versucht durch die Einteilung der abgeleiteten Ziele in vier Teilbereiche, eine Auflösung der einseitigen eindimensionalen Kennzahlensysteme zu verfolgen, um die Umsetzung der Strategien zu begleiten.

8 9 10 11

Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 119 ff. Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 162. Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme – Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 24. Senge, Die fünfte Disziplin, Kunst und Praxis der lernenden Organisation (2003).

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Die Gliederung der Kennzahlen ist dabei in vier verschiedene Perspektiven unterteilt, welche auch beliebig erweitert werden kann: Die finanzwirtschaftliche Perspektive, die Kundenperspektive, die interne Prozessperspektive und die Lern- und Entwicklungsperspektive. Bei dieser Einteilung werden die Messgrößen der Kundenperspektive, der Prozessperspektive und der Lern- und Entwicklungsperspektive als sogenannte „Leistungstreiber“ oder auch als „Vorsteuergrößen“ für die Erreichung der Messgröße der finanzwirtschaftlichen Perspektive bzw. des finanzwirtschaftlichen Erfolges angesehen.12 Durch die Vermittlung dieser Kennzahlen sollen Mitarbeiter über Erfolgsfaktoren für gegenwärtige und zukünftige Erfolge informiert werden und durch diese Transparenz sollen die Visionen der Unternehmensleitung zu den Mitarbeitern getragen werden, um die Energien und Potenziale der Mitarbeiter auf die Erreichung der langfristigen Ziele hin auszurichten. Die BSC ist dabei kein Mittel, um vorformulierte Ziele zu kontrollieren, sondern versteht sich als Kommunikations-, Informations- und Lernsystem, welches jene gemeinsamen Kennzahlen vorgibt, die auf die Umsetzung der allgemeinen Vision gerichtet sind.13

3.2

Die finanzwirtschaftliche Seite

Jede Organisation unterliegt den Grundsätzen des Wirtschaftlichkeitsprinzips (Rationalprinzip, ökonomisches Prinzip). Dieses Grundprinzip des betriebswirtschaftlichen Handels darf aber nicht insoweit interpretiert werden, dass die Einhaltung dieser Grundsätze die Stellung des Unternehmens in seiner Umwelt (Markt) garantiert. Es drückt somit nur den Ressourcenverbrauch aus, ohne Aussagen darüber zu treffen, ob hierfür am Markt ausreichende Einnahmen erzielt werden können. Um ein langfristiges Überleben der Organisation zu ermöglichen, sollte die Erzielung einer ausreichenden Rentabilität existenzentscheidend sein.14 Aus diesem Blickwinkel ist es daher unumgänglich, den Fokus der Ziele und der Kennzahlen aus allen BSC-Perspektiven an den finanzwirtschaftlichen Kennzahlen zu orientieren. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass diese finanzwirtschaftlichen Zielvorgaben aus der strategischen Planung abgeleitet sind und die Ursache-Wirkungsbeziehungen der Handlungen im Unternehmen entsprechend berücksichtigen. Daher sind finanzwirtschaftliche Ziele wie wachsende Umsätze, Kostensenkungen und Produktivitätsverbesserungen, Erhöhung der Auslastung und der Risikoreduktion auch wesentliche Determinanten für die anderen Bereiche der BSC, welche als „Leistungstreiber“ den finanziellen Erfolg darstellen und somit die Lebensfähigkeit und die Stratgieverfolgung begleiten.15 Bei der Finanzperspektive wird die Frage aufgestellt, welche Zielsetzungen sich von den finanziellen Erwartungen der Eigenkapitalgeber aus der Strategie ableiten lassen. Es muss insbesondere bestimmt werden, welche finanziellen Ziele/Messgrößen für die Umsetzung der Strategie angemessen sind. Eine pauschale Vorgabe von Zielen für alle Geschäftseinheiten negiert die Prozessabhängigkeit einzelner Geschäftsfelder und vernachlässigt, dass verschie-

12 13 14 15

Vgl. Hammer, Performance Measurement, in: Seicht (Hrsg.), Jahrbuch für Controlling und Rechnungswesen (2003). Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 24. Vgl. Lechner/Egger/Schauer, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (2010), S. 73 f. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorcard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 46.

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dene Geschäftseinheiten auch verschiedene Strategien verfolgen können (z. B. Restaurant, Beherbergung in der Gastronomie). Die Finanzperspektive dient nicht nur der Erfolgsmessung, sondern sie bündelt die verschiedenen Perspektiven mit dem Ziel, die strategischen Aktionen umsetzen zu können. Durch diese Ausrichtung stellt die Betrachtungsweise einen Unterschied zur traditionellen Fokussierung auf kurzfristige finanzwirtschaftliche Ziele dar, dessen Kritik aber u. E. übersieht, dass eine Verbesserung im Qualitätsniveau und der Kundenzufriedenheit nicht automatisch bessere finanzwirtschaftliche Ergebnisse widerspiegelt. Durch die Kontrolle des laufenden finanziellen Potenzials wird garantiert, dass die Aufrechterhaltung der Umsetzung der BSC nicht gefährdet wird und die Strategiekonformität aufgrund vorhandener finanzieller Ressourcen gewahrt bleiben sollte.16 Bei der Kritik an dem derzeitigen Reportingsystem wird u. a. oft angeführt, dass die Finanzkennzahlen meistens nur Spätindikatoren sind, welche aus vergangenen Daten abgeleitet werden. Wird jedoch die Betrachtung mit den anderen Perspektiven verbunden, so kann auch der zukünftige Lerneffekt zum Tragen kommen, was den Realisierungsgrad und den Stand der Möglichkeiten aufzeigt und entsprechende Abweichungsanalysen rechtzeitig ermöglicht.17 Die Finanzperspektive erfüllt somit eine Doppelfunktion. Bei der Beurteilung der finanzwirtschaftlichen Ziele der strategischen Geschäftseinheit ist analog zum Produktlebenszyklus eines Produktes von unterschiedlichen Phasen auszugehen, welche ihrerseits auch passende Strategieumsetzungen erfordern. Analog zu den in der strategischen Planung empirisch fundierten Gesetzmäßigkeiten der Lebenszyklusmodelle bzw. der Lebenszyklustheorie kann eine sinngemäße Anwendung auch auf strategische Geschäftseinheiten übertragen werden. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Biologie wird ein Bezug zu den unterscheidbaren Lebensabschnitten der eines biologischen Organismus typischen Entwicklungsphasen auf wirtschaftliche Betrachtungsobjekte übertragen. Traditionell wird dieser Lebenszyklus i. d. R. in die Phasen Einführung, Wachstum, Reife und Sättigung gegliedert, welche typische Umsatz- und Gewinnverläufe aufweisen. Die Kenntnis dieser einzelnen Phasen bei der Beurteilung des Unternehmens liefert wertvolle Beiträge im Bereich der strategischen Planung und hilft bei der Bestimmung von finanziellen Zielen.18 Der Lebenszyklus der Organisation wird in vier Phasen eingeteilt, in die Einführungs-, Wachstums-, Reife- und Erntephase. Strategische Aktionen müssen in jeder Phase durchgeführt werden, um einen angemessenen Produktertrag zu erhalten.19 Diese vereinfachte typisierende Phasenbetrachtung stellt einen sehr langfristigen Prozess der Gewinn- und Umsatzentwicklung dar, der insb. von Veränderungen der Lebenszyklen im Bereich des Marktes, der Technologien, der einzelnen Branchen und auch der volkswirtschaftlichen Zyklen zusammenhängt und entsprechend von diesen beeinflusst wird. Liberalisierung der Märkte, Markttransparenz der Angebote und die Dynamisierung des Wettbewer16 17 18 19

Vgl. Friedag/Schmidt, My Balanced Scorecard. Das Praxishandbuch für Ihre individuelle Lösung: Fallstudien, Checklisten, Präsentationsvorlagen (2004), S. 260 f. Vgl. Friedag/Schmidt, My Balanced Scorecard. Das Praxishandbuch für Ihre individuelle Lösung: Fallstudien, Checklisten, Präsentationsvorlage (2004), S. 264. Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaft, S. 129. Vgl. Friedag/Schmidt, My Balanced Scorecard. Das Praxishandbuch für Ihre individuelle Lösung: Fallstudien, Checklisten, Präsentationsvorlage (2004), S. 266.

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bes erhöhen den Konkurrenzdruck und verlangen nach einer stärkeren inneren und externen Vernetzung der Unternehmen.20 Der Lebenszyklus des Marktes ist diesbezüglich für die strategische Planung das wichtigste Betrachtungsobjekt. Determinanten für allfällige Anpassungen begründen sich in Änderungen im gesellschaftlichen Bereich, der sozialen Umwelt (z. B. Modeänderungen, Änderungen von Werthaltungen [Umweltbewusstsein], Einkommensänderungen u. ä. m.). In KMU wird die Rolle des Geschäftsführers und die des Leiters des Finanz- und Rechnungswesens i. d. R. in einer Personalunion durchgeführt. Diese Personalunion erleichtert die Setzung einer klaren finanzwirtschaftlichen Strategie für jeden Geschäftsbereich. Aufgrund der Schnelllebigkeit des Marktumfeldes sind diese Ziele der Geschäftsbereiche periodisch, mindestens einmal jährlich, zu hinterfragen, um rechtzeitig notwendige Anpassungen vorzunehmen.21 Diese Veränderung unterliegt auch Schwankungen. Effektives Finanzmanagement sollte dieses Risiko der veränderten Ansprüche des Marktes und der systeminhärenten Streuung der Umsätze und Cash-Flows bedingt durch die saisonalen Ausrichtungen berücksichtigen. Die Berücksichtigung dieser Unsicherheit muss auch im Spannungsfeld des wichtigsten Stakeholders beurteilt werden: Bei der Festlegung der finanziellen Kennzahlen können in jeder Phase des Lebenszyklus folgende Schwerpunkte gesetzt werden: • • •

Ertragswachstum und -mix Kostensenkung/Produktivitätsverbesserungen Nutzung von Vermögenswerten/Investitionsstrategie22

Die differenzierte Ausrichtung der Strategien in Abhängigkeit der entsprechenden Produktlebenszyklen, Branchenlebenszyklen, Technologie-Lebenszyklen zeigt deutlich, dass die Anwendung der Balanced Scorecard sich an anderen strategischen Managementsystemen orientiert. Die Orientierung an immer höheren Erträgen für die Geschäftseinheit ist eine notwendige Interpretation der langfristigen Zielvereinbarung. Diese Zielausrichtung ist Voraussetzung für ein langfristiges Bestehen des Unternehmens und steht nicht im Widerspruch mit den allgemeinen Vorgaben der Balanced Scorecard. Die Aufgabe einer weiteren Betrachtung der finanziellen Seite in Bezug auf Rentabilität, Vermögenserträge und Ergebnisverbesserung ist, den Lebenszyklus zu hinterfragen und in den unterschiedlichen Stufen entsprechend anzupassen. Eine Spezifizierung an den wichtigsten Variablen für das Zustandekommen von langfristigen Unternehmenszielen benötigt auch eine Identifizierung mit den Treibern der finanzwirtschaftlichen Perspektive. Diese Auseinandersetzung mit Branchen, Wettbewerbsumfeld und Geschäftseinheitsstrategie sind notwendig, um den langfristigen Erfolg zu garantieren. Die Betrachtung bleibt aber nicht nur in der Fokussierung auf finanzwirtschaftliche Bezüge stecken, sondern sucht eine bewusste Integration mit der Unternehmensstrategie. Ausgehend von der Unternehmensstrategie sollte der notwendige Handlungsbedarf für fi-

20 21 22

Vgl. Waniczek/Werderits, Sustainability Balanced Scorecard. Nachhaltigkeit in der Praxis erfolgreich managen – mit umfangreichem Fallbeispiel (2006), S. 15. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 49. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 49.

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nanzwirtschaftliche Prozesse, Kunden, interne Prozesse und schließlich für Mitarbeiter und Systeme zur Erreichung der langfristigen ökonomischen Leistung ermittelt werden. Sollte eine Integration mit der Strategie realisiert werden, so sind unterschiedliche Prozesse zu identifizieren und im Sinne einer Ursache-Wirkungsbeziehung in einer finanzwirtschaftlichen Kennzahl zu aggregieren, welche auch die Kundenperspektive, die innerbetriebliche Prozessperspektive und die mögliche (Weiter-)Entwicklungsperspektive miteinbezieht. Sollte diesem Grundsatz entsprochen werden, so ist die Balanced Scorecard nicht nur eine Sammlung von isolierten, zusammenhangslosen oder sogar gegensätzlichen Zielen, sondern sie stellt eine direkte Verknüpfung mit der Strategie dar.

3.3

Die Kundenperspektive

Im Bereich der Kundenperspektive geht es darum, die Kunden und Marktsegmente zu identifizieren, in denen das Unternehmen erfolgreich sein sollte. Dieses Feld ist die Quelle der Erfüllung der finanzwirtschaftlichen Zielsetzungen. Kundenzufriedenheit, -treue, -erhaltung, -akquisition und -rentabilität in den Zielmärkten und in den Marktsegmenten sollen überprüft und die Wertangebote (Leistungsangebote) des Unternehmens für die Zielkunden und Marktsegmente klar identifiziert werden. Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, verlagert sich der Hauptschwerpunkt der Unternehmen von internen Potenzialen nach außen. Anfänglich wurde Produktleistung und technologische Innovation in den Schwerpunkt der Betrachtung gezogen (Resource-based View). Durch das Informationszeitalter wurde es für Betriebe notwendig, die Betrachtung zu ändern, und Schwerpunkte des Augenmerkes mehr nach außen zu verlagern. Diese marktbasierende Betrachtung macht eine Auswahl von profitablen Marktsegmenten, in denen das Unternehmen tätig sein möchte, notwendig. Eine Analyse der wesentlichen Branchenkräfte und entsprechende Positionierungen sowie Abschirmen von Branchenkräften und die Planung der dafür notwendigen erforderlichen Ressourcen sind Voraussetzung für die Umsetzung dieser Strategie. Ein Paradigmawechsel der Betrachtung von einer Inside-Out-Logik zu einer Outside-In-Logik war bzw. ist notwendig. Die Umsetzung einer BSC korrespondiert eindeutig mit der Wertschaffungslogik einer Market-based Betrachtung und verwirklicht bei der internen Konstruktion der Organisation, deren notwendig bedingte Struktur durch Erkennen essentieller Kausalketten, die als Voraussetzung zur Zielerreichung einer Perspektive für das Erreichen einer nächsthöheren Perspektive angesehen wird.23 Diese Änderung der Schwerpunktlegung verlangt Unternehmensvisionen und -missionen. Die Bedeutung der Auseinandersetzung der grundlegenden strategischen Ausrichtung sollte nicht vernachlässigt werden. Sofern eine Ausrichtung undifferenziert erfolgt, ist es in weiterer Folge unmöglich, diese unklare Vision in Ziele herunter zu brechen, um im Aufbau einer Inside-Out-Logik bei der Formulierung von Zielen, diese motivierend für die Mitarbeiter zu formulieren. Ein Bewusstsein über jene Geschäftseinheiten, die langfristig gute finanzwirtschaftliche Leistungen erbringen sollen, müssen erhoben und auch laufend hinterfragt werden. Eine spezifische markt- und kundenbezogene Zielsetzung muss gewährleisten, dass der Schwerpunkt des unternehmerischen Handelns sich nicht an alle richten kann, sondern ge23

Vgl. Waniczek/Werderits, Sustainability Balanced Scorecard. Nachhaltigkeit in der Praxis erfolgreich managen – mit umfangreichem Fallbeispiel (2006), S. 25 f.

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mäß dem Motto, dass man es nicht jedem recht machen kann und will, eine Verfolgung dieses Vorhabens schlussendlich für keinen Betroffenen zufriedenstellend ist. Eine Auswahl von Segmenten, in denen man mit anderen Anbietern in Konkurrenz treten möchte, in denen Wertangebote für die Zielgruppe angeboten werden sollen, in denen die Zielerreichung durch spezifische Kennzahlen selbstreferentiell hinterfragt und deren Kommunikation im ganzen Unternehmen im Einklang mit der eigenen Vision und strategischen Ausrichtung vermittelt werden soll, stellt die Hauptaufgabe der Kundenperspektive dar. Die Aufgabe der Marktsegmentierung ist dadurch gekennzeichnet, dass potenzielle und existierende Kundengruppen nicht homogen sind und in ihren Wünschen und Eigenschaften der Wertschöpfung des Unternehmens unterschiedliches Gewicht beimessen. Als Kernkompetenz der Führung – und als wesentliche Voraussetzung der erfolgreichen Umsetzung der BSC – ist das Erkennen einer Wettbewerbsstrategie zu nennen.24 Wie im Bereich der Unternehmensstrategie weiter ausgeführt, ist das Festlegen von Aktivitätsfeldern, der wettbewerbsorientierten Strategien im Vergleich zur Konkurrenz, Strategien in Bezug auf die Umweltsituation und -entwicklungen, das Erkennen von Stärken-Schwächen und der verfügbaren Kernkompetenzen im Unternehmen Grundlage für die Entwicklung einer Vision und auf dieser aufbauend einer strategischen Unternehmensführung.25 Auf diesem Grundgerüst soll die Kundenperspektive mit den Grundkennzahlen beleuchtet und laufend reflektiert werden. In der Praxis haben sich zwei Gruppen von Kennzahlen herausgebildet. Die eine Gruppe kann als Kernkennzahlengruppe (z. B. Kundenzufriedenheit, Marktanteil, Kundentreue, Kundenakquisition und Kundenrentabilität) betrachtet werden. Die zweite Gruppe kann als Leistungstreiber der Kundenergebnisse bezeichnet werden. Sie liefern als Frühindikatoren Anhaltspunkte für die künftige Unternehmensentwicklung. Diese Leistungstreiber beschäftigen sich mit der Frage, was ein Unternehmer seinen Kunden bieten muss, um einen möglichst hohen Grad an Zufriedenheit, Treue, Akquisition und schließlich Marktanteil zu erreichen. Diese Ausprägungsformen und Eigenschaften sind segmentspezifisch zu beurteilen und lassen sich auf drei wesentliche Eigenschaften zusammenkürzen. Produkt-/Serviceeigenschaft, Kundenbeziehungen und Image und Reputation sollten im Schwerpunkt des Managements bei der Konzentration des Leistungsangebotes sein, um Ziele innerhalb der Kundenperspektive und in weiterer Folge auch in der Finanzperspektive zu erfüllen.26 Speziell bei Dienstleistungsunternehmen, die durch einen Dienstleistungscharakter beschrieben werden können, sollte die Mission darin bestehen, die Talente, Kenntnisse und Fertigkeiten der Mitarbeiter zum Wohle des Kunden zu nutzen. Ein höchstmögliches Qualitätsservice und die Gastorientierung sollten die Maxime des Dienstleistungsangebotes sein. Diese Corporate Identity wird meist nach außen getragen, man findet sie auf Homepages und in diversen Schriftstücken, doch sollte dieses Bekenntnis sich nicht nur auf die Erwartungen an die Mitarbeiter konzentrieren, sondern auch insbesondere für das Management gelten. Die gelebte Unternehmenskultur seitens des Managements sollte nicht nur als Lippenbekenntnis nach außen getragen werden, sondern von den Mitarbeitern als Qualitätsgeist wahrnehmbar werden. Nur so können allgemeine Voraussetzungen geschaffen werden, um die Begeisterungsfähigkeit des Gastes beim Gast „abzuholen“ und ihn dadurch zu begeistern. 24 25 26

Vgl. Porter, Competitive Advantage creating and sustaining superior performance (1998), S. 15 f. Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 119 ff. Vgl. Eschenbach/Haddad, Balanced Scorecard: Führungsinstrument im Handel – Ein Handbuch für den Praxiseinsatz (1999), S. 68.

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Bei der Feststellung des Kundenanteiles bzw. Marktanteiles geht es darum, nach Kenntnisstand der Zielgruppen oder Zielsegmente die Ausrichtung darauf zu fokussieren. Eine Beachtung rein finanzwirtschaftlicher, unreflektierter Kennzahlen (ex post) kann sich meist nur noch auf eine Reaktion auf bereits schon verlorene Kunden konzentrieren, da der Kenntnisstand zeitverzögert hervortritt. Sollte der Marktanteil am Marktvolumen festgestellt worden sein, so kann mithilfe einer zweiten Kennzahl versucht werden, den Anteil am Zielmarkt laufend zu beobachten, um Veränderungen durch gesunkene Anteile zu hinterfragen und noch rechtzeitig Gegenmaßnahmen (z. B. Qualität, Zusatznutzen usw.) zu starten. Mit Kennzahlen wie Umsatz je Zielsegment, absolut oder relativ zum Gesamtumsatz, Umsatz pro Kunde bzw. Deckungsbeitrag pro Kunde im Zielsegment kann die strategische Zielausrichtung beobachtet werden.27

3.4

Die interne Prozessperspektive

Nachdem die finanzwirtschaftlichen und kundenspezifischen Ziele definiert wurden und anhand der Strategie überprüft wurden, stellt sich nun die Frage, wie die Prozesse im Unternehmen gestaltet sein müssen, um diese Zielsetzungen zu erreichen. Diese dritte Perspektive wird direkt auf den Leistungstreibern der Kundenperspektive aufbauen, um einerseits die Gäste als auch die Anteilseigner im Bereich der finanzwirtschaftlichen Aspekte befriedigen zu können. Durch diesen top-down Prozess können völlig neue verbesserungsbedürftige Geschäftsprozesse offengelegt werden.28 Herkömmliche Performance Measurement-Systeme konzentrieren sich auf die Verbesserung existierender Betriebsprozesse. Eine kritische Erweiterung erfährt diese Betrachtung dahingehend, dass bei der BSC dem Betriebsprozess (Produktion/Serviceeinstellung, „Lieferung“ – existierenden Kunden werden existierende Leistungen angeboten) und dem Kundendienst (Serviceleistung an Kunden; Angebot von zusätzlichen Dienstleistungen) ein Innovationsprozess vorgelagert wird. Nicht nur die Fokussierung und die Steuerung und Verbesserung existierender Verantwortungsbereiche und Abteilungen mit finanziellen Kennzahlen, sondern die Identifizierung von aktuellen und zukünftigen Kundenwünschen und Entwicklungen neuer Lösungsangebote sollen im Zentrum dieser Perspektive stehen. Die Bezugnahme auf die Kundenperspektive und die ständige Reflexion des täglichen Handelns macht den Innovationsprozess zu einem wesentlichen Bestandteil der Prozess-Wertekette. Effektivität, Effizienz und Termintreue im Innovationsprozess sind von wesentlicher Bedeutung.29 Die Kernaufgabe dieses, dem Betriebsprozess und Serviceprozess vorgelagerten, Prozesses liegt in der Identifizierung und Befriedigung von neuen Märkten, neuen Kunden/Gästen und der Befriedigung aufkommender sowie latenter Wünsche. Diesbezüglich sind Kenntnisse über Marktgröße und Kundenwünsche unerlässlich. Im Rahmen der strategischen Angebotspolitik, der Konkurrenzanalyse und einem systematischen KundenrückgewinnungsManagement darf darauf aufbauend ein strategisches Qualitätsmanagement geschaffen werden. 27 28 29

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 67. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 90. Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 41.

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Ein erkennbarer Fehler in der Organisation von Innovationsmanagement besteht darin, dass die Verwendung von Abweichungsanalysen von finanziellen Ergebnisgrößen im Mittelpunkt steht. Eine Ergänzung der finanziellen Kennzahlen um Qualitäts-, Ausbeute-, Durchlauf- und Zykluszeiten wird vereinzelt eingesetzt, doch wird das Augenmerk leider immer noch auf die Leistung der einzelnen Abteilungen gerichtet, ohne den Bezug auf den gesamten Leistungsprozess im Unternehmen zu beobachten. Der Versuch, seine eigenen Leistungen in diesem Bereich zu optimieren ist notwendig und kann ein Überleben auf dem Markt erleichtern, führt aber nicht zu herausragenden Kompetenzen, da neue Wettbewerbsvorteile im Zielsegment nicht beachtet werden. Das Ausstechen der Konkurrenz in Bezug auf Kosten, Qualität und Funktionalität kann nur kurz- bis mittelfristig zum Erfolg führen. Diese gewonnenen Daten sollten im Rahmen eines Total Quality Services erfasst werden. Das Ziel des Prozesses des Innovationsmanagements liegt darin, jene Qualität zu behalten, welche vom Kunden auch als Qualität erkannt wird und welche er auch bereit ist, zu honorieren. Diese Qualität stellt die Wertschöpfung der Dienstleistung dar.30 Der interne Betriebsprozess ist und bleibt wichtig. Unternehmen sollten Kosten-, Qualitäts-, Zeit- und Leistungseigenschaften identifizieren, die es ihnen ermöglichen, den Verkauf von hochwertigen Leistungen an seine Zielkunden zu gewährleisten. Eine Beschränkung auf den Verkaufsprozess ohne Berücksichtigung des Kundendienstes kann zur Beantwortung der Frage nach der Kundenwunschbefriedigung nicht beitragen.31

3.5

Die Lern- und Entwicklungsperspektive

Meist wird diese Perspektive als die vierte und letzte Perspektive der Balanced Scorecard bezeichnet. Ihre Aufgabe besteht darin, Kennzahlen für die Organisation zu entwickeln und die notwendige Infrastruktur zu schaffen, um die Ziele der anderen drei Perspektiven und ein langfristiges Wachstum und Verbesserung zu erreichen. „In der vierten Perspektive müssen die Ziele hinsichtlich Mitarbeitern und Potenzialen aufgebrochen werden, um dadurch die Ziele der oberen Perspektiven verwirklichen zu können.“32 Eine Betrachtung von Personal, Systemen und Prozessen ist notwendig, um langfristige finanzielle Wachstumsziele zu erreichen. Die zentrale Rolle in dieser Perspektive liegt in der Qualifikation und Motivation der Mitarbeiter. Durch den vermehrten Einsatz von Informations- und Kommunikationssystemen und die Möglichkeit der Kunden, direkten Zugriff auf den Transaktionsprozess zu nehmen, ist es für den Unternehmer nicht mehr ausreichend, dieselbe Arbeit mit derselben Effizienz und Produktivität zu reproduzieren: Das Augenmerk liegt vielmehr in der Verbesserung von Prozessen und Leistungen an Kunden. Vorschläge und Ideen zur Verbesserung dieser Prozesse und Leistungen müssen von Mitarbeitern an der Basis kommen, die im direkten Kontakt mit den Kunden stehen oder viel direkter mit internen Prozessen konfrontiert sind.33 Die in den Handbüchern und Leitfäden festgelegten Standards bilden die Grundlage für deren zukünftige Entwicklungsperspektive. 30 31 32 33

Vgl. Schaetzing, Management in Hotellerie und Gastronomie (2010), S. 288. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 111. Gerberich/Schäfer/Teuber, Integrierte Lean Balanced Scorecard. Methoden, Instrumente, Fallbeispiele (2006), S. 41. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 122.

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Diese Investitionen in die Prozesse verbessern das operative Ergebnis nicht direkt, weil die direkte Auswirkung nicht ersichtlich ist, was auch meist ein Grund für ein Unterlassen dieser Investitionsvorhaben darstellt. Langfristig stellen diese Investitionen aber einen wesentlichen Teil für das Erreichen der strategischen Ziele dar.34 Die Steigerung von Produktivität, der Einsatz von arbeitssparenden Produkten und Geräten und vor allem der sorgfältige Umgang mit jeder bezahlten Arbeitsstunde in Planung, Durchführung und Kontrolle sind notwendig. Die hier erwähnte Produktivität darf nicht alleine in quantitativer Hinsicht betrachtet werden. Ein niedriger Personaleinsatz-Prozentsatz im Verhältnis zum Umsatz sagt nichts darüber aus, ob individuelle Dienstleistungen den Wünschen der Kunden entsprechen bzw. eine langfristige Produktivität in Form von möglichen Stammkundengeschäften und eventuellen Zusatzumsätzen möglich ist. Das Idealbild eines Mitarbeiters sollte sich von einem Routine-Mitarbeiter zu einem proaktiven, zuverlässigen und geschätzten Dienstleister entwickeln.35 Voraussetzung dafür ist die Mitarbeiterzufriedenheit. Zufriedene Mitarbeiter sind die Basis für Produktivitätssteigerungen, Reaktionsfähigkeit, Qualität und Kundenservice. Die Mitarbeiterzufriedenheit sollte i. d. R. durch regelmäßige Umfragen erhoben werden. Vor allem die Mitbestimmung bei Entscheidungen und Leistungsanerkennung könnten Elemente einer solchen Umfrage darstellen. Sollte sich die Mitarbeiterzufriedenheit verbessern, so sollte es dem Betrieb auch möglich sein, Schlüsselarbeitskräfte längerfristig ans Unternehmen zu binden. Die auf diesem Punkt aufbauenden Kennzahlen gehen davon aus, dass intellektuelles Kapital, durch erfahrene Mitarbeiter durch den Verlust von Wissen und Sensibilität für die Wünsche der Kunden, verloren geht. Die Messung erfolgt allgemein an der Fluktuationsquote der Stammmitarbeiter.36 Mitarbeiterproduktivität wird als Kennzahl interpretiert, die sich auf den Einfluss bezieht, den eine Steigerung der Mitarbeiterfähigkeiten auf Innovationen, die Verbesserung interner Prozesse und die Zufriedenstellung von Kunden ausübt. Output und Input werden dabei in Verbindung gesetzt. Kennzahlen wie Umsatz pro Mitarbeiter wird als einfache und leicht verständliche Kennzahl verwendet. Problematisch wird die Verwendung aber dann, wenn die entsprechende Berücksichtigung von Deckungsbeiträgen beim Verkauf durch die Mitarbeiter nicht erkannt wird und zusätzliche Mühen für allfällige Umsatzsteigerungen ohne entsprechende Berücksichtigung der Kosten sich negativ auf den gesamtwirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens auswirken.37 Eine entsprechende Aufklärung und Einbindung der entsprechenden Mitarbeiter bei der Festlegung von Zielen kann verhindern, dass zwar die Umsätze ansteigen, aber der Deckungsbeitrag bzw. der Gewinn stagniert bzw. zurückgeht. Kenntnis über ganzheitliche Arbeitsabläufe, welche in der Prozessperspektive bereits beurteilt wurden und die Beurteilung anhand einer „Acitivity-based Kostenrechnung“ können als Entscheidungshilfe herangezogen werden. Werden im Unternehmen anspruchsvolle Wachstumsziele angestrebt, so könnten Voraussetzungen erkannt werden, welche als Antriebskräfte für Lernen und Wachstum festgestellt 34 35 36 37

Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 42. Vgl. Schaetzing, Management in Hotellerie und Gastronomie (2010), S. 173. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 125. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 125.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

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wurden. Die Notwendigkeit der Schulung und Weiterbildung der Mitarbeiter ist dem Versuch, mangelnde Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt abzuwerben, vorzuziehen. Doch Ausbildung und zufriedene Mitarbeiter können nicht garantieren, dem Betrieb jenen Innovationsschub zu geben, der aufgrund der Potenziale vorhanden wäre, wenn umfassende Informationen über Kunden, interne Prozesse und die Einsicht der finanziellen Konsequenzen ihrer Entscheidungen fehlen. Nur durch Kommunikation der Geschäftsführung mit den Mitarbeitern, die im direkten Kontakt mit dem Kunden stehen, kann z. B. gewährleistet werden, dass der Arbeitseinsatz sich entsprechend der Wertschätzung und Honorierung des Kunden in Form von Deckungsbeiträgen einstellt und somit im Einklang mit der strategischen Ausrichtung zu sehen ist. Eine in der Industrie verwendete Kennzahl der Informationsdeckungsziffer drückt das Verhältnis des beim Mitarbeiter vorhandenen Informationsstatus und dem angenommenen Informationsbedarf aus. Das Ziel dieser Kennzahl liegt darin, dass Mitarbeiter im direkten Kontakt zu den Kunden Zugang zu den notwendigen Informationen der Kundenfragebögen oder zumindest der laufend gewarteten Stammkundenkartei haben, um pro-aktiv Dienstleistungen zu erbringen, welche nicht nur die Zufriedenheit des Kunden, sondern als Überraschung zur Begeisterung wahrgenommen wird.38 Hochqualifizierte und gut informierte Mitarbeiter werden nur dann zum Unternehmenserfolg beitragen, wenn sie motiviert sind und die Freiheit und die Möglichkeit eingeräumt bekommen, bei der Wahl von Entscheidungen als direkt Betroffene diese zu treffen und selbständig zu handeln.39 Dieser Umstand ist insbesondere bei der Wahl der entsprechenden Zielsetzung zu beachten, welche auch auf untere Ebenen heruntergebrochen werden sollten. Gerade im Bereich der Wachstums- und Lernperspektive werden notwendige Kennzahlen meist nicht verwendet. Dieses Fehlen vorhandener Kennzahlen lässt darauf schließen, dass noch keine Verknüpfung zwischen der Unternehmensstrategie mit den langfristigen Zielen besteht. Es sollte den Führungskräften klar sein, dass strategische Ziele quantifiziert und ein Kennzahlensystem entwickelt werden sollte, dass diese Lern- und Wachstumsperspektive entsprechend berücksichtigt. Dieses Fehlen und das Plädoyer für die Wichtigkeit derartiger Strategien vermeinen in diesen Maßnahmen das Ziel selbst zu erkennen, während sie nicht als Mittel zur Erreichung langfristiger wirtschaftlicher und kundenrelevanter Ziele betrachtet werden. Dieser Zustand führt zur Frustration und Unzufriedenheit auf Seiten der betroffenen Mitarbeiter und der Geschäftsführung, welche keine direkt messbaren Ergebnisse ihrer Investitionen erkennen können.40

4

Die Verknüpfung der BSC-Kennzahlen mit der Unternehmensstrategie

Ein Problem in vielen Unternehmen besteht darin, dass zwar eine Strategie zumindest in den groben Zügen vorhanden ist, aber die Umsetzung in der Praxis Probleme verursacht. Die Strategieumsetzung kann nicht operationalisiert werden. Gerade die Einteilung in finanzielle und nicht finanzielle Kennzahlen sollte es ermöglichen, dass die Geschäftsführung motivierend auf die Mitarbeiter einwirkt, die Strategie erfolgreich umzusetzen. Wenn es gelingt, die 38 39 40

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 130. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S 131. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S 139.

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Alois Pircher und Florian Silvestri

Strategie in einem Kennzahlensystem auszudrücken, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Strategieausführung eher erreicht wird, weil vorab Gedanken über Zielsetzungen getroffen werden müssen, welche als Vorgaben an die Mitarbeiter vermittelt werden können. Die Konzentration auf die wichtigsten Leistungstreiber ermöglicht eine Abstimmung mit Initiativen und Aktionen zur Erreichung strategischer Unternehmensziele. Durch die entsprechende Auswahl der Ziele und der Messgrößen verdeutlicht die BSC die strategische Stoßrichtung der Organisation und macht diese zugleich einer Messung zugänglich.41 In einem kontinuierlichen Prozess werden Ziele und Zielerreichung überprüft und durch weitere Maßnahmen und Aktionen gesteuert. Die BSC kann als ganzheitliches Modell der Strategie verstanden werden, die es den Mitarbeitern ermöglicht, zu beobachten, wie sie zum Erfolg der Organisation beitragen können. Die Konzeption der BSC ist nicht als Kontrollsystem, sondern als Kombination aus Informations-, Lern- und Kommunikationssystem zu verstehen, das Informationen aus den verschiedenen Bereichen des Unternehmens zusammenfasst und zur Steuerung des Unternehmenserfolges bereitstellt.42 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, intensiviert die Balanced Scorcard die Interaktivität im Unternehmen. Diese offene Kommunikationskultur ist wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Strategieumsetzung. Die Strategie darf dabei nicht als „Geheimprojekt“ auf Ebene der Unternehmensleitung verstanden und gelebt werden.43 Wie bereits vorab erwähnt, kann die BSC und die Formulierung von Zielen keine Unternehmensstrategie ersetzen, sie kann aber als Motivator für eine entsprechende Umsetzung interpretiert werden. Sollte dies der Fall sein, so sollte am Beginn versucht werden, UrsacheWirkungsbeziehungen zu identifizieren. Diese Ursache-Wirkungsketten zeigen die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen strategischen Zielen und verdeutlichen die gegenseitigen Effekte bei der Zielerreichung. Die Bewusstseinsschaffung und die Verknüpfung der einzelnen Ziele, vergleichbar einem Kennzahlensystem, kann die Zusammenarbeit zwischen Management und Mitarbeitern und das gemeinsame Verständnis der Strategie fördern. Diese Wirkungsketten liefern ein Erklärungsmodell für den strategischen Erfolg und machen die Logik der strategischen Ziele nachvollziehbar, transparent und kommunzierbar.44 Eine gut konzipierte BSC artikuliert die Grundannahmen des Geschäfts. Die Scorecard sollte auf einer Reihe von Beziehungen von Ursache und Wirkung einschließlich Informationen über die Reaktionszeiten und Beziehungen zwischen Scorcard-Kennzahlen basieren.45 Um die komplexen verschiedenen Wechselwirkungen abbilden zu können, müssen Methoden der Komplexitätsreduktion eingesetzt werden. In der Praxis hat sich die Anwendung von Netzplantechnik oder Bubble Charts als übersichtlich herausgebildet. Durch die Darlegung der wesentlichen Ursache-Wirkungsbeziehung soll nicht nur die Strategie umgesetzt, sondern es müssen auch Steuergrößen definiert werden, mit denen das Finanzergebnis indirekt gesteuert

41 42 43 44 45

Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 29. Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 30. Vgl. Waniczek, Unternehmensplanung neu. Vom teuren Managementprozess zum wirkungsvollen Steuerungsinstrument (2007), S. 19. Vgl. Gerberich/Schäfer/Teuber, Integrierte Lean Balanced Scorecard. Methoden, Instrumente, Fallbeispiele (2006), S. 43. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 17.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

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werden kann.46 In der Praxis stellt sich die Erstellung dieser Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge als die wohl schwierigste, aber wichtigste Aufgabe der Implementierung dar.47 Bei der Auswahl der Messgrößen muss berücksichtigt werden, dass durch die zu definierenden Zielgrößen das zu beschreibende strategische Ziel beschrieben und die Entwicklung zur Zielerreichung verfolgt werden, damit im Bedarfsfall schon steuernd eingegriffen werden kann. Traditionelle Kennzahlen sind meist Ergebniszahlen, die die gemeinsamen Ziele mehrerer Strategien widerspiegeln, als auch ähnliche Strukturen in verschiedenen Branchen und Unternehmen zum Ausdruck bringen. Diese Ergebniskennzahlen, wie z. B. Rentabilität, Marktanteil, Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität und Mitarbeiterqualifikation sind häufig Spätindikatoren, die i. d. R. keine frühe Rückmeldung über die erfolgreiche Umsetzung der Strategie vermitteln. Diese Ergebniskennzahlen können den Mitarbeitern nur schwer bei der Umsetzung der gewählten Unternehmensstrategie behilflich sein. Daher ist es notwendig, diese Ergebniskennzahlen mit Leistungstreibern zu verbinden, welche kurzfristiger für die operative Umsetzung der Strategie herangezogen und den Mitarbeitern kommuniziert werden können. Als Frühindikatoren kommen insb. Kundentreue, Fehlerquoten, Mitarbeiterschulungen, Gästeanfragen, Senkung von Personalkosten oder Wareneinsatz, Steigerung von Deckungsbeiträgen usw. in Betracht. Eine BSC sollte aus einer Mischung von Ergebniskennzahlen und Leistungstreibern bestehen.48 Sind die Ergebniszahlen nicht mit entsprechenden Leistungstreibern verbunden, so können Uneinigkeiten über die Art und Weise der zu erreichenden Ziele bestehen. Durch diese Unklarheit besteht die Gefahr, dass zwar die entsprechenden Leistungstreiber kurzfristig aus Sicht der Betroffenen optimiert werden, sich aber durch dieses Suboptima keine spürbare Verbesserung für die strategische Zielerreichung einstellt.49 Diese Mühen der Erhebung der Ursache-Wirkungsbeziehungen verkommen zum Selbstzweck, sofern dessen Erhebung nicht im Rahmen der jeweiligen Zielerreichung Ausdruck findet. Die Erhaltung von Qualitätssicherungen, Erhöhung von Mitarbeiterqualifikationen, das Anbieten von Zusatznutzen und die entsprechende Abbildung in Form von Kennzahlen müssen mit Ergebnissen verknüpft werden, die zum zukünftigen Unternehmensergebnis beitragen. Die Kausalkette aller Kennzahlen der Scorecard sollte mit den finanziellen Zielen verknüpft werden.50 Diese Kennzahlen können aber nicht ein Ersatz für die alltäglichen Messsysteme einer Organisation sein. Es sind dies vielmehr nur jene Spätindikatoren und Frühindikatoren, die als Schlüssel zur Umsetzung der strategischen Ziele dienen. Daneben wird es noch andere Kennzahlen geben, die gewährleisten, dass alles nach Plan läuft; diese stellen jedoch keine treibende Kraft für den Erfolg im Wettbewerb dar. Bei der Festlegung der Ursache-Wirkungsbeziehungen sind entsprechende Interdependenzen zwischen den Zielen zu eruieren. Die Notwendigkeit, das Unternehmen in seiner Umwelt nicht isoliert zu betrachten, ist wichtig. Ein Verständnis dieser Zusammenhänge ermöglicht eine erfolgreiche unternehmerische Führung. In der Praxis hat sich aber die Anwendung als 46 47 48 49 50

Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 45. Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 46. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 144. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 160. Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 48.

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Alois Pircher und Florian Silvestri

sehr aufwändig gezeigt, und die Handhabung im Bereich des Managements ist aufgrund der Komplexität nur bedingt zugänglich. Das in der Balanced Scorecard verwendete Verständnis weicht von dieser Ansicht dahingehend ab, dass die externen Ursache-WirkungsZusammenhänge nicht eigens beachtet werden. Diese fließen indirekt in die Überlegungen über die Definition von Strategien und deren Änderungen in die Betrachtung ein. Weiters sind in der BSC nur jene ausgewählten Erfolgsfaktoren abgebildet, welche eine bestimmte Positionierung auf dem Markt ermöglichen. Die BSC ist daher nur ein fragmentarischer Einblick in die Funktionskomponenten des Unternehmens. Es ist im Prinzip der BSC gelegen, dass es nicht notwendig ist, alle denkbaren Wirkungen zwischen den Perspektiven und Leistungstreibern abzubilden, sondern Klarheit über die zu erreichenden Ziele zu erlangen. Die Gesamtheit der Ursache-Wirkungskette stellt die Strategie selbst dar. Durch die vermuteten Zusammenhänge zwischen den einzelnen strategischen Zielen soll das gemeinsame Verständnis der Strategie verbessert und die Zusammenarbeit zwischen Management und Mitarbeiter verstärkt werden.51

5

Das Umsetzen der Unternehmensstrategie

Zentraler Bestandteil der Umsetzung der Balanced Scorecard ist die Implementierung. Als Managementsystem bedarf es mehr, als bloß der Darstellung der drei bis vier klassischen Perspektiven und der darin fixierten strategischen Ziele, Messgrößen, Zielwerte und strategischen Aktionen auf die entsprechenden Geschäftseinheiten zu übertragen. Die dauerhafte Verankerung der strategieorientierten Organisation und die laufende Anpassung an geänderte Strategieanpassungen kann als übergeordnetes Ziel der Balanced Scorecard bezeichnet werden. Dazu ist es notwendig, das Instrument in das Management- und Steuerungssystem einzubinden. Dieses Vorhaben ist nicht immer ohne Hindernisse zu erfüllen, da es gilt, eine Kompatibilität mit dem bestehenden Managementsystem herzustellen, welches meist an der hierarchischen und funktionalen Struktur der Organisation ausgelegt ist, und entgegen der Balanced Scorecard nicht mehrere Organisationseinheiten zugleich anspricht.52 Um die Diskrepanz zwischen der Formulierung und deren Umsetzung zu meistern, sind Voraussetzungen notwendig, um das bisherige Managementsystem umzubauen. Aufgrund der Einbindung von unterschiedlichen Hierarchieebenen kommt dem Projektmanagement zentrale Bedeutung zu. Folgende Darstellung sollte die wesentlichen Bereiche der Umsetzung der Balanced Scorecard darlegen und allfällige Hindernisse bei der Umsetzung thematisieren:

51 52

Vgl. Horváth & Partner (Hrsg.), Balanced Scorecard umsetzen (2007), S. 54 f. Vgl. Horváth & Partner (Hrsg.), Balanced Scorecard umsetzen (2007), S. 84.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

281

Klärung und Vermittlung von Vision und Strategie

Kommunikation und Verknüpfung der Strategie

Balanced Scorecard

Strategisches Feedback und Lernprozess

Planung und Zielvorgaben

Abbildung 1:

5.1

53

Ein anderes Managementsystem für die Strategieumsetzung

Kommunikation und Verknüpfung der Strategie

Das Problem in diesem Bereich liegt darin, dass es nicht gelingt, eine Verknüpfung der Strategie mit den Zielvorgaben des einzelnen bzw. des Teams/Abteilung herzustellen. Die Umsetzung der strategischen Planung wird weiterhin mit Hilfe von Budgets fixiert, welche auch schon bisher im Rahmen des traditionellen Steuerungsprozesses verwendet wurden.54 Die Situation lässt sich auch dadurch charakterisieren, dass kein konsolidiertes Strategiedokument vorliegt, sondern die „Strategie“ nur fragmentarisch in Form von Unterlagen und Dokumenten vorliegt, deren Interpretation von einzelnen Personen unterschiedlich vorgenommen wird. In diesem Zusammenhang ist der Umstand zu beachten, dass Strategien grundsätzlich einen dynamischen Charakter aufweisen und einem kontinuierlichen Anpassungs- und Weiterentwicklungsprozess unterliegen. Eine einmal eingeschlagene Strategie ist nicht statisch, sondern besteht meist aus einer Ansammlung von einzelnen Meinungen, isolierten Kennzahlen und umfassenden Analysen und wohlklingenden Visionen, welche stets angepasst werden sollten. Die Balanced Scorecard bildet das strategische Zielsystem als Kernbestandteil der Strategie ab. Das wichtigste Anliegen liegt darin, ein gemeinsames, homogenes Strategieverständnis zu erhalten, auf dessen Grundlage die strategischen Ziele der Balanced Scorecard abgeleitet werden.55 Aus dieser primären Intention der Balanced Scorecard ist es notwendig, die Mitarbeiter über die Strategieüberlegungen aufzuklären und die Strategievorstellung mit den Mitarbeitern zu teilen. Die Strategie ist nicht Geheimsache des oberen Managements, sondern sollte in den Köpfen der Mitarbeiter verankert werden, welche die Umsetzung der Strategie in erster Linie 53 54 55

Entnommen aus Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 191. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 187. Vgl. Horváth & Partner (Hrsg.), Balanced Scorecard umsetzen (2007), S. 113.

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Alois Pircher und Florian Silvestri

verantworten. Nur wer die langfristigen Ziele des Unternehmens und die Strategie zu ihrer Erreichung kennt, kann seine Anstrengungen und Initiativen an den Vorgaben orientieren.56 Kommunikations- und Weiterbildungsprogramme sind Voraussetzung für die Umsetzung dieser Strategie. Die Einführung der Balanced Scorecard kann und wird eine tiefgreifende Veränderung im Unternehmen bewirken, sofern nicht nur das Ergebnis, sondern auch der Prozess der Umsetzung das gleiche Gewicht der Aufmerksamkeit erhält. Nicht nur das Ergebnis der Umsetzung, sondern auch die Philosophie sollte den Mitarbeitern bewusst sein. Eine Verankerung des unternehmerischen Denkens und Handelns und die Notwendigkeit der interaktiven und interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedener Verantwortlicher bei der Implementierung sollte erreicht werden. Mit Hilfe systematischer Kommunikation, welche nicht nur umfassend, sondern auch fortlaufend sein sollte, und kontinuierlicher Weiterbildung im Rahmen der Personalentwicklung soll ein laufender Meinungsaustausch über die Strategie initiiert werden.57 Die Verknüpfung der Balanced Scorecard mit den Zielvorgaben für Teams und Einzelpersonen ist notwendig, um sicherzustellen, dass die übergeordneten strategischen Zielsetzungen und Kriterien der Organisation in Maßnahmen umgewandelt werden. Nur auf diese Weise wird entsprechendes Verhalten mit den umfassenden Erfolgsfaktoren für die Organisation in Einklang gebracht. Das Problem besteht aber bei der Umsetzung meist darin, dass besonders nicht finanzielle Strategien (z. B. Kundenzufriedenheit) durch die fehlende Aufsplittung in operative Maßnahmen nicht auf einzelne Ebenen heruntergebrochen werden können. Im Rahmen der Ursache-Wirkungs-Beziehungen sollte versucht werden, diese Zielsetzungen und Maßnahmen auf die gesamte Organisation auszudehnen.58 Diese Planung kann im Rahmen einer Top-down-Planung, einer Bottom-up-Planung als auch im Gegenstromverfahren durchgeführt werden. Der Vorteil der Bottom-up-Planung, dass durch die starke Einbindung der betroffenen Ebenen eine hohe Motivation erzeugt wird, wird durch den großen Abstimmungs- und Koordinierungsaufwand divergierender Eigeninteressen begleitet. Im Gegensatz dazu werden im Top-down-Ansatz Missions- und Strategiestatements für Abteilungen anhand der Mission und Strategie festgelegt und die Verantwortlichen der einzelnen Bereiche können ihrerseits eigene Scorecards entwickeln, die mit Mission und Strategie im Einklang stehen und unterstützend wirken. Auf diese Weise wird die Balanced Scorecard stufenweise heruntergebrochen.59 Bei der Einhaltung der Akkordanz der persönlichen Ziele mit den Vorgaben des übergeordneten Geschäftsbereiches kann man sich bei der Planung der Balanced Scorecard auch MBO (Management by Objectives) zunutze machen, was meist jetzt schon Bestandteil traditioneller Steuerungssysteme ist. Bestehende Zielsetzungen für den einzelnen, das Team oder für eine Organisationseinheit müssen dann nur mit den heruntergebrochenen Vorgaben verknüpft werden.60 Die Erhöhung der Zielentsprechung kann auch mit monetären Anreizen verknüpft werden, sofern die intrinsische Motivation der Notwendigkeit der gelebten Mission und Strategie von 56 57 58 59 60

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 192. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 195. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 204. Vgl. Schermann, Managementinformationssysteme. Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard (2007), S. 50. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 209.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

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den Organisationsmitgliedern nicht erkannt werden. Das Problem dieser finanziellen Instrumente liegt darin, dass derartige Boni meist mit den Jahreszielen der Unternehmen verknüpft sind und nicht von der Erreichung von langfristigen Zielen abhängen. Ein Umdenken bei der Formulierung derartiger Prämienzahlungen sei zu überdenken. Zu bedenken ist jedoch ferner der Umstand, dass die Motivation von außen nicht ausreichend sein wird, um kreative Problemlösungen und innovative Entscheidungen anzuregen. Eine Internalisierung der Ziele der Organisation ist besser geeignet, Zielerreichung anzustreben, auch wenn diese nicht explizit mit Leistungszulagen verbunden ist.61

5.2

Planung und Zielvorgaben

Das größte Problem bei der Umsetzung der Balanced Scorecard in diesem Bereich ist die mangelnde Verknüpfung von notwendigen Ressourcen mit dem langfristigen Bedarf. Dieses Problem stellt sich meist dergestalt dar, dass zwar strategische Planung sowie die laufende operative Planung anhand jährlicher Budgets gelebt wird, in diesen jedoch die Notwendigkeit langfristiger Ressourcenverbräuche nicht entsprechend abgebildet wird. Meist wird bei der Umsetzung der Scorecard zwar versucht, die Vision und Strategie in Ziele und Kennzahlen herunter zu brechen, aber die für die Erreichung der Ziele notwendigen Ressourcen bleiben unberücksichtigt. Es ist notwendig, sowohl die materiellen als auch die finanziellen Ressourcen im Sinne der Strategie einzusetzen. Eine verbindliche Berücksichtigung der notwendigen Ressourcenbereitstellung, auch durch die Verknüpfung von operativer und strategischer Planung, kann die Weiterentwicklung der Scorecard garantieren. So könnte auch die Einführung von langfristigen Kapitalbudgets, strategischen Initiativen in Humankapital als auch in Sachkapital und ferner auch Aussagen über die Verwendung jährlich frei verfügbarer Mittel im Sinne einer Strategieerfüllung sinnvoll sein.62 Durch diese budgetübergreifende Betrachtung kann ein Strategieplan festgelegt werden, welcher beschreibt, wo das Unternehmen in drei, fünf oder zehn Jahren stehen möchte. Dieser Strategieplan sollte jährlicher Bestandteil der Budgetierung sein und ähnlich wie die traditionellen Budgetierungsprozesse die Erkennung einer Abweichung von den Sollvorgaben im Bereich der Leistungstreiber gewährleisten. Das herkömmliche Budget wird um die vier Perspektiven erweitert und trifft unterjährig bereits Aussagen über den Zielerreichungsgrad.63 Bei der Festlegung der Ziele sollte bedacht werden, dass diese Vorgaben herausfordernd auf die Betroffenen wirken und von den Mitarbeitern akzeptiert werden sollten. Die Bezugnahme auf die Ursache-Wirkungskette ermöglicht eine Identifikation mit den wichtigen Leistungstreibern. Gerade im Bereich der finanziellen und der Kundenkennzahlen erlauben diese Kennzahlen eine Zielvereinbarung, welche hochgesteckt sind und deren Realisierung durchaus von den Mitarbeitern vorerst angezweifelt werden darf. Es ist die Kunst der Führungskräfte, diese Hemmung insoweit abzubauen, als dass auch das Wissen und das Werkzeug und die Mittel zur Erreichung dieser Ziele zur Verfügung gestellt werden.64

61 62 63 64

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 213. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 186. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 239. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 216.

284

Alois Pircher und Florian Silvestri

Die bestehende Lücke zwischen den ehrgeizigen Zielen und den aktuellen Leistungen sollen dem Management vor Augen führen, dass notwendige Kapitalinvestitionen und Aktionen erforderlich sind, um die Lücke zu schließen. Bei der Erstellung der Scorecard wird meist offenkundig, dass für die Beurteilung der heruntergebrochenen Ziele keine Daten bisher erhoben wurden. Es handelt sich hierbei nicht um ein Datenerfassungsproblem, sondern um ein Managementproblem. Sofern keine Daten existieren, welche eine Kennzahl ergeben, ist dieser Managementprozess voraussichtlich nicht für die strategische Zielsetzung geeignet.65 Die meisten Ziele lassen sich messen. Sollte dies nicht offensichtlich sein, so sollte bedacht werden, dass die Konsequenz der Zielerreichung sich immer durch einer Veränderung des heutigen Status ausdrücken lässt. Diese Veränderung sollte sich in irgendeiner Form äußern. Eine vermutliche Nichtmessbarkeit von Zielen liegt meist nicht am Problem der theoretischen Messbarkeit, sondern an Problemen der praktischen Umsetzung. Eine interdisziplinäre Hilfestellung bei der Definition allfälliger messbarer Veränderungen kann zur Lösung beitragen. Dieses Problem stellt sich insbesondere im Bereich der nichtfinanziellen Ziele. Sollte ein Defizit oder eine Nichtexistenz von Daten bestehen, so könnte man durch einen semantischen Trick eine mögliche Methode erkennen, um notwendige Messgrößen zu erhalten. Es stellt sich hierbei nicht die Frage, wie sich ein Ziel messen lässt, sondern die Frage, woran man erkennt, dass das Ziel erreicht wurde. Durch die Umformulierung der Fragenstellung können meist Indizien festgestellt werden, welche erhoben und für die Formulierung von Zielvorgaben verwendet werden können.66 Dieses Kriterium kristallisiert sich meist aus der Idee heraus, sofern die Frage der Operationalisierbarkeit des Zieles diskutiert wird. So kann auch auf traditionelle Methoden zurückgegriffen werden, wenn es insb. um Bewertungen von Leistungsprozessen in der Wertschöpfungskette geht, und diese mit einem „Acitivity-based-costing-Modell“ berechnet werden sollten. Sollten die Maßnahmen für die Erreichung von strategischen Zielen nicht erfolgsversprechend sein und stellt sich trotz kontinuierlicher Bestrebungen der Schließung von erkannten Lücken keine Verbesserung ein, so sollte auch das Reengineering bzw. das Umstrukturieren einer Organisation in Betracht gezogen werden. Anders als bei traditionellen Reengineeringprozessen sollte nicht die Kosteneinsparung im Blickfeld der Betrachtung stehen, sondern die Anstrengungen dahingehend unternommen werden, die vorher identifizierten strategischen Maßnahmen in der Ursache-Wirkungskette zu fördern, um langfristiges Wachstum zu generieren. Das Ergebnis der laufenden Berichterstattung sollte sich nicht auf Abweichungen zu budgetieren Ist-Werten konzentrieren, sondern untersuchen, ob im Bereich der strategischen Zielsetzungen Fortschritte feststellbar sind. So sollten auch im Bereich der Investitionsentscheidungen diese zwar aus der strategischen Planung heraus getroffen werden, aber eine Entscheidung über eine entsprechende Vorteilhaftigkeit wird meist anhand der klassischen Investitionstheorie getroffen und nicht mit den langfristigen strategischen Prioritäten wie Qualität, Kundenzufriedenheit und Qualifikation der Organisation verbunden.67 Die verantwortlichen Geschäftsführer und nicht nur die Mitarbeiter sollen sich für die Vision der Organisation verpflichtet und verantwortlich fühlen. 65 66 67

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 223. Vgl. Horváth & Partner (Hrsg.), Balanced Scorecard umsetzen (2007), S. 204. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 230.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

5.3

285

Strategisches Feedback und Lernprozess

Das größte Problem bei der Beurteilung der Zielvorgaben und bei der Beantwortung der Fragen der Strategieumsetzung liegt im Mangel der Rückmeldungen. Viele Managementsysteme bieten nur Rückmeldungen über kurzfristige, operative Leistungen, wobei diese meist aus finanziellen Daten aus dem externen und internen Rechnungswesen stammen. Meist wird zwar die Notwendigkeit der strategischen Leistungstreiber erkannt; dies findet aber weder in der Budgetierung noch in der Rückmeldung ihren Ausdruck. Für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Scorecard, welcher als Prozess verstanden werden soll, ist der Prozess des Feedbacks, der Analyse und der eigenen Rückmeldung über die eigene bisherige Umsetzung notwendig, um die Verwirklichung der Strategie laufend zu überprüfen und an veränderte Bedingungen rechtzeitig anzupassen.68 In der hierarchischen Anordnung von Stellen und Managementebenen ist es üblich, dass die Strategie von der Unternehmensspitze in einem Top-down-Ansatz auf die unteren Ebenen und Mitarbeiter weitergegeben wird. Diese Formulierung von langfristigen Zielsetzungen und Taktiken und Ressourcenentwicklungen werden von der Unternehmensspitze getroffen und die Einhaltung durch operative Steuerungsmaßnahmen kontrolliert. Es handelt sich hierbei um einen einfachen Feedbackprozess, bei dem einmal festgelegte Zielsetzungen nicht mehr verändert werden und nur die Abweichung zu der Sollvorgabe Gegenstand einer Abweichungsanalyse ist und als Fehler betrachtet wird. In Zeiten der vermehrten Konkurrenz und des Informationszeitalters benötigt die Unternehmensleitung regelmäßiges Feedback über getroffene Strategieentscheidungen. Das Hinterfragen der strategischen Annahmen, der identifizierten Leistungstreiber und der strategischen Ziele gehört zu den Schlüsselfaktoren der heutigen Zeit. Strategieentwicklung wird als Prozess angesehen, dessen Wahrnehmung von Störfaktoren meist durch die untere Managementebenen zuerst erkannt wird, und dessen Anpassung als Lernprozess im Rahmen eines Doubleloop-Lernens erfolgt. Diese Rückkopplung und die Lernfähigkeit der gesamten Organisation manifestieren sich aus der Philosophie der Balanced-Scorecard.69 Als Kernkompetenz der Führung wird die Ausgestaltung einer sachlogischen und zeitlichen Festlegung der für die Zielerreichung des Unternehmens notwendigen durchzuführenden Arbeiten verstanden. Diese Fokussierung inkludiert auch mögliche „after sales“. Das dazu notwendige Prozessmanagement hat diesbezüglich räumliche, personelle als auch logistische Erfordernisse zu berücksichtigen. In der herkömmlichen Organisationsbetrachtung war dieser Prozess der Aufbauorganisation nachgelagert, doch durch neuere Ansätze wird der Prozess im Rahmen eines „Business Process Reengineering“ in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Die Identifizierung des Kernprozesses als funktionsübergreifender, strategisch relevanter Wertschöpfungsprozess soll eine verstärkte Kunden- und Marktorientierung erreichen. Die Minimierung von Bearbeitungs- und Durchlaufzeiten, die laufende Verbesserung der Qualität der Prozesse wie auch eine damit zusammenhängende Optimierung der Prozesskosten sind dafür notwendige Voraussetzungen.70

68 69 70

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 230. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 242. Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 212.

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Alois Pircher und Florian Silvestri

Eine Betrachtung der bestehenden Prozesse und die Anstrengungen, diese im Hinblick auf eine Strategieausrichtung zu gestalten, zeigt die klassische Ausprägung des single-loopLernprozesses. Wenn es gelingt, durch den Einsatz der Balanced Scorecard operative Kontrollen und Managementreviewprozesse als institutionelle, prozessuale und instrumentale Aspekte bei der Umsetzung der Führung zu verankern, kann ein Double-loop-Lernprozess in der Organisation gelebt werden. Der institutionelle Aspekt bezieht sich auf den Personenkreis, welcher an der Aufgabenübertragung beteiligt ist. Der prozessuale Aspekt nimmt Bezug auf die Art der Übermittlung und Weitergabe der Aufgabe und der instrumentale Aspekt definiert die Hilfsmittel (z. B. Funktionsbeschreibungen, Stellenbeschreibungen, Arbeitspapiere usw.), welche die Umsetzung der strategischen Zielerreichung begleiten.71 Damit ein Lernprozess als strategischer Lernprozess angesehen werden kann, sollte ein gemeinsamer Rahmen vorliegen, der jedem Mitarbeiter die Strategie vermittelt und verdeutlicht, welchen Anteil er mit seinen Handlungen zur Erreichung der Gesamtstrategie leistet. Da die gemeinsame Vision Ausgangspunkt für die Ableitung von strategischen Zielen und Werttreibern der Balanced Scorecard darstellt, kann die Struktur der Implementierung von diesem gemeinsamen Rahmen ausgehen. Dieses selbststeuernde System gibt den Akteuren ein unmittelbares (reflexartiges) Feedback über die Ergebnisse ihres Handelns, stellt einen Bezug zwischen dem gewünschten und erzielten Ergebnis her und eröffnet den Akteuren dadurch die Möglichkeit, das eigene Verhalten zu verändern und die Auswirkungen auf die Ergebnisse zu überprüfen. Die Akteure erhalten dadurch die erforderliche Flexibilität im Tagesgeschäft, da sie eigenverantwortlich hinsichtlich Kundenerwartungen und veränderten Rahmenbedingungen agieren können. Diese Flexibilität ermöglicht ein hohes Maß von Wandlungsfähigkeit. Die Ziele werden gemeinsam erarbeitet und sind den Beteiligten bekannt. Der Weg der Zielerreichung obliegt der Selbständigkeit des Organisationsmitgliedes. Es bedarf grundsätzlich an keinen weiteren Informationen über den Wertschöpfungsprozess, sondern die Mitarbeiter sind befähigt, ihr Handeln und die Effekte ihres Tuns selbst zu beobachten. Komplexe Aufgaben werden durch eine Ursache-Wirkungs-Analyse festgestellt und können auf eine Vielzahl von Mitarbeitern verteilt werden, die sich im Sinne des gemeinsamen Zieles selbst steuern.72 Das Problem des herkömmlichen Berichtswesens und der Mangel des effektiven strategischen Lernprozesses ist der Umstand, dass Führungskräfte teilweise zu viel und auf der anderen Seite gar keine bzw. zu wenig Informationen erhalten. Die bereitgestellten Berichte und Informationen beinhalten eine große Dichte und einen hohen Detaillierungsgrad, andererseits fehlen jene Informationen, die zur Steuerung des Verantwortungsbereiches notwendig sind. Ein geeignetes Maß an finanziellen Kennzahlensollen Planungsgrundlagen für zukunftsgerichtete Potenziale für den Erfolg der Umsetzung der Strategie ermöglichen. Die in der Strategie selbst definierten Ziele werden im Berichtswesen nur selten abgebildet bzw. in einer nicht steuerungsrelevanten Form. Durch das Fehlen dieser Information haben die Verantwortlichen keine Möglichkeit, Informationen über die Umsetzung der Strategie zu

71 72

Vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre (2007), S. 216. Vgl. Horváth & Partner (Hrsg.), Balanced Scorecard umsetzen (2007), S. 204.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

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erhalten und ohne dieses Feedback können sie die Umsetzung der Strategie nicht überprüfen bzw. notwendige Lerneffekte nicht aus der Analyse der Daten ziehen.73 Ein strategisches Feedbacksystem sollte zur Überprüfung, Bestätigung und Modifizierung der Hypothesen der Ursache-Wirkungs-Ketten beitragen. Eine Veränderung der Leistungstreiber und die damit verbundene Veränderung bei einer oder mehreren Ergebniskennzahlen stellen wesentliche Informationen dar. Doch mit der Erhebung der Leistungstreiber können zwar die vorher geglaubten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge dokumentiert werden; gefordert wird aber eine Überprüfung und Spezifizierung der Leistungstreiber auf ihr Ziel, nämlich der Beitrag zur Zielerreichung.74 Diese Überprüfung der Eignung der Leistungstreiber für die Beurteilung der Anwendbarkeit als Messgröße für die heruntergebrochenen Ziele ist derzeit Schwerpunkt diverser Untersuchungen. So werden mit Hilfe von Korrelationsanalysen – vorbehaltlich deren wissenschaftlicher Gültigkeit – vermutete Zusammenhänge u. a. zwischen Mitarbeitermoral und Kundenzufriedenheit untersucht. Da die Grunddaten erst in einer ausreichenden Menge vorhanden sein sollten, um vermutete Signifikanzen zu überprüfen, kann durch bewusste Informationspolitik und Berichte von den Erfolgsstories, die Berücksichtigung derartiger Zusammenhänge der Belegschaft suggeriert werden, um diese Vermutung ex post statistisch zu hinterfragen. Auch durch Unternehmensplanspiele wird durch die Vorgabe von diversen Szenarien versucht, durch Diskussion vermeintliche Zusammenhänge zu beschreiben. Im Rahmen eines Peer-Review-Prozesses könnte eine subjektive Betriebsblindheit insoweit ausgeschaltet werden, als dass die bisherigen betriebsinternen internalisierten Routinen als Hemmschwelle für die strategischen Aspekte der Arbeit ausgeblendet werden. Durch das laufende Hinterfragen und Beobachten der Werttreiber sollte die Organisation die Möglichkeit der Überprüfung und allfälligen Neuorientierung erhalten. Abweichungen werden in Managementreviews diskutiert und sollen nicht als Schuldzuweisungen verstanden werden, sondern als Chance betrachtet werden, für die Zukunft zu lernen.75 Das dritte Element des strategischen Lernprozesses ist ein effektiver teamorientierter Problemlösungsansatz. Wie bereits bei der Formulierung von Zielvorgaben, so ist auch bei dieser laufenden Beurteilung das Team im Zentrum des Interesses. Bei der Teamzusammenstellung sollte bedacht sein, dass durch funktionsübergreifende Experten eine einseitige Betrachtung des Problems verhindert werden sollte. Durch den unterschiedlichen Zugang zu unternehmensübergreifenden Strategien sollen unterschiedliche Blickwickel zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung führen. Regelmäßige Strategiereviewsitzungen nehmen eine entscheidende Rolle im strategischen Lernprozess ein. Leider werden derartige Sitzungen meist in Form von Quartalssitzungen im Rahmen der laufenden Besprechungen von Soll- und Istabweichungen der einzelnen Funktionsbereiche geführt. Der Bericht über monologische Zahlen sollte von einer vierteljährlichen strategischen Sitzung getrennt werden, in der die Strategie und ihre Umsetzung im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Diese Treffen ermöglichen Aussagen über die Gültigkeit der Strategie und über deren Ausführung. Durch die Kombination mit einem funktionsübergreifenden Team wird das Problem analysiert und ein Lösungsvorschlag erarbeitet. Dieser kontinuierliche Prozess induziert ein double-loop73 74 75

Vgl. Horváth & Partner (Hrsg.), Balanced Scorecard umsetzen (2007), S. 323. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 245. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 252.

288

Alois Pircher und Florian Silvestri

Lernen und die strategische Anpassung, welche Garant für die erfolgreiche Umsetzung der Unternehmensstrategie ist.76 Die Überarbeitung der Strategie durch das strategische Feedback und den strategischen Lernprozess i. S. eines Double-loop-Lernens schließt den Kreislauf der Umsetzung der Unternehmensstrategie und mobilisiert die Organisation erneut, sich mit Fragen der Unternehmensvision und -strategie, Sicherstellung der Kommunikation der Unternehmensstrategie und Start von geschäftsübergreifenden strategischen Initiativen zu beschäftigen.77

5.4

Klärung und Vermittlung von Vision und Strategie

Meist steht am Beginn Unklarheit darüber, wie das Instrument der Balanced Scorecard einzustufen ist. Die Balanced Scorecard ist nicht Teil des Performance Measurement-Systems, sondern kann als neue Form der Unternehmenssteuerung betrachtet werden. Ziel der Scorecard ist nicht, einen neuen Kennzahlenkatalog zu entwickeln. Das Measurement-System ist zwar ein wirksames Instrument zur Motivation wie auch der Bewertung, ist aber nur Bestandteil eines neuen Managementsystems. Ein Performance-Measurement-System sollte nur als Mittel zur Erreichung des viel wichtigeren Zieles des strategischen Managementsystems beitragen, es unterstützt, die Strategie umzusetzen und Feedback darüber zu erhalten. Traditionelle Managementsysteme orientieren sich an einem finanziellen Rahmenwerk und funktionieren gut, sofern diese Kennzahlen den Großteil der wertschöpfenden Handlungen widerspiegeln. In Zeiten der Informationsgesellschaft, des technologischen Wandels können diese traditionellen Kennzahlen die Wertschöpfung nicht mehr zeitgemäß abschätzen. Die Übernahme der Balanced Scorecard soll nicht die kurzfristige Orientierung an den Finanzergebnissen verneinen, sondern erweitert diese Ausrichtung um weitere strategische Aspekte. Die Scorecard ist ein Instrument, die Organisation und ihre Strategien für einen langfristigen Erfolg auszurichten. Durch die Identifizierung der wichtigsten Zielsetzungen kann sich die Organisation auf ihre wichtigen Ressourcen konzentrieren. Durch diese Aufmerksamkeit bietet die Scorecard einen Rahmen für ein strategisches Managementsystem, welche für jedes Element dieses strategischen Managementsystems strategische Ziele formuliert und diese untereinander mit dem langfristigen Finanzziel verknüpft.78

76 77 78

Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 256. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 190. Vgl. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen (1997), S. 262 f.

Die Balanced Scorecard als Kennzahlensystem oder doch Führungssystem?

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Literatur Eschenbach, R./Haddad, T. (Hrsg.): Balanced Scorecard: Führungsinstrument im Handel – Ein Handbuch für den Praxiseinsatz, Wien 1999. Friedag, H. R./Schmidt, W.: My Balanced Scorecard. Das Praxishandbuch für Ihre individuelle Lösung: Fallstudien, Checklisten, Präsentationsvorlagen, 3. vollst. überarbeitete und erw. Aufl., Freiburg i. Br. 2004. Gerberich, C. W./Schäfer, T./Teuber, J.: Integrierte Lean Balanced Scorecard Methoden, Instrumente, Fallbeispiele, 1. Aufl., Wiesbaden 2006. Hammer, R: Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre, Wien 2007. Hammer, R: Performance Measurement, Balanced Scorecard und das Problem der Strategieimplementierung, in: Seicht, G. (Hrsg.): Jahrbuch für Controlling und Rechnungswesen 2003, Wien 2003, S. 261–285. Horváth & Partner (Hrsg.): Balanced Scorecard umsetzen, 4. überarbeitete Aufl., Stuttgart 2007. Kaplan, R. S./Norton, D. P.: Balanced Scorecard – Strategien erfolgreich umsetzen, Stuttgart 1997. Kaplan, R. S.: In Search of Excellence – der Maßstab muß neu definiert werden, in: Harvard Business Manager, 14 (1992). Lechner, K./Egger, A./Schauer, R.: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 25. überarbeitete Aufl., Wien 2010. Porter, M. E.: Competitive Advantage creating and sustaining superior performance, New York 1998. Schaetzing, E.: Management in Hotellerie und Gastronomie, 9. Aufl., Stuttgart 2010. Schermann, M. P.: Managementinformationssysteme – Praxisgerechte Steuerungstools auf Basis der Balanced Scorecard, Wien 2007. Senge, P. M.: Die fünfte Disziplin, Kunst und Praxis der lernenden Organisation, 11. völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2011. Waniczek, M./Werderits, E.: Sustainability Balanced Scorecard. Nachhaltigkeit in der Praxis erfolgreich managen – mit umfangreichem Fallbeispiel, Wien 2006. Waniczek, M.: Unternehmensplanung neu. Vom teuren Managementprozess zum wirkungsvollen Steuerungsinstrument, Wien 2008.

III

Die personal-interaktive Dimension der Unternehmensführung

Talente führen! Talent zum Führen? Überlegungen zu einem „Elchtest für Führungskräfte“ Stephan Laske und Gerhard Graf

1

Das Talent im Sparstrumpf: Aus dem wirklichen Leben einer Organisation

Georg F. ist ein fachlich hoch qualifizierter junger Mann Ende 20. Er hat sein Studium in der Regelstudienzeit abgeschlossen, obwohl er daneben regelmäßig in sozialen Einrichtungen gejobbt und seine Hobbys Sprachen, Musik und Photographie nicht vernachlässigt hat. Seine weit gefächerten Begabungen kamen auch in seiner Dissertation zum Ausdruck. Er gilt als sozial kompetent, äußerst hilfsbereit und breit gebildet. Seine Arbeitskollegen schätzen seine Zuverlässigkeit, seinen Humor und seine Bescheidenheit. Wie viele seiner Altersgenossen vertritt Georg die Überzeugung, dass er sich für eine interessante Aufgabe zwar gerne wirklich engagiert, dass ihm der Beruf aber dennoch genug Raum für sein Privatleben lassen sollte. Nach etwa vier Jahren Berufserfahrung und mit sehr guten Arbeitszeugnissen übernimmt Georg die Funktion eines Assistenten des Geschäftsführers eines größeren mittelständischen Unternehmens mit etwa 1.250 Beschäftigten. Der Geschäftsführer hatte seine Aufgabe ein halbes Jahr davor angetreten. Der Assistent soll sich insbesondere um die Aufgabenkoordination und die Vorbereitung strategischer Entwicklungspläne kümmern – so stand es auf dem Papier. De facto entwickelt sich die Stelle zu einer Protokollantentätigkeit ohne inhaltliche Herausforderung. Zugleich wird die vereinbarte Arbeitszeit immer häufiger erheblich überschritten. Es gibt kaum Situationen, in denen Georg seine Kompetenzen wirklich einbringen kann. Entsprechend wächst seine Unzufriedenheit, die er mehrfach thematisiert. Der Geschäftsführer zeigt zwar verbal Verständnis, de facto ändert er sein Verhalten aber nicht. Obwohl es auch von anderer Seite Klagen über die ungenügende Selbstorganisation des Chefs gibt, nutzt dieser die verfügbaren Personal-Ressourcen nicht zu seiner Unterstützung aus. Nach neun Monaten und ersten gesundheitlichen Problemen wirft Georg frustriert „das Handtuch“ – er kündigt, auch ohne passende Alternative. Kommentar des Geschäftsführers: „Herr F. – ich bin von Ihnen enttäuscht.“

294

Stephan Laske und Gerhard Graf

„People join companies, but they leave managers“.1 Diese These gilt insbesondere für Talente und charakterisiert den gelebten Führungsalltag in vielen Organisationen. Obwohl die Qualifikationsstandards in den Führungsetagen heute als durchaus hoch eingestuft und der Erfahrungshintergrund bei den meisten Managern als sehr fundiert bezeichnet werden kann, findet sich häufig der gleiche Fehler: Die Potenziale, die Mitarbeiter darstellen, bleiben oft ungenutzt. Die Ursachenanalyse ist nicht ganz einfach: Liegt es an der strategischen Grundausrichtung von Organisationen, in der die Entwicklung guter Mitarbeiter bestenfalls als Nebenthema erscheint? Oder liegt es an den Personen: sind die Verantwortlichen zwar kognitiv anschlussfähig, aber sozial nicht hinreichend kompetent? Entwickeln sie im Rahmen ihrer Karrierewege zwar die Fähigkeit zum schnellen, analytischen Durchdringen komplexer Sachverhalte, lassen aber gleichzeitig die emotionale Seite der Persönlichkeitsreifung verkümmern? Selbstverständlich gibt es auch Führungskräfte mit einer ausgesprochenen Begabung, Mitarbeiter für sich zu gewinnen, ihre Kompetenzen nachhaltig zu fördern, sie wirksam an die Organisation zu binden und sie zu einem engagierten persönlichen Einsatz zu veranlassen – sie also jenseits kostspieliger und langfristig letztlich unwirksamer „Bestechungsversuche“ zu motivieren. Führungskräfte spielen also eine Schlüsselrolle im Talent Management: im Guten wie im Schlechten. Sie können – jenseits einer guten Talent Management-Systematik seitens des Personalbereichs – durch Ignoranz, Unsicherheit, Arroganz oder schlichtweg durch Unfähigkeit hervorragende Leute letztendlich vergraulen. Sind sie jedoch zur Übernahme einer aktiven und reflektierten Rolle als Talent-Förderer in der Lage, kann eine Win-Win-WinSituation entstehen: Die Talente gewinnen an Reife, Kompetenz und Perspektive, die Führungskräfte gewinnen an Anerkennung, Ergebnisqualität und neuen Erfahrungen, und die Organisation gewinnt schon allein durch entgangene Verluste an kompetentem, leistungswilligem Personal. Unser eigenes Forschungsinteresse und das Wissen um den fachlichen Schwerpunkt von Richard Hammer haben uns dazu veranlasst, der Fragestellung genauer nachzugehen, unter welchen Bedingungen eine Führungssituation entsteht, in der alle Akteure im Talent Management gewinnen können. Unser Ziel ist es, konkrete Lösungsansätze zur Entwicklung von Mitarbeitern, Führungskräften und der Gesamtorganisation in diesem Kontext anzubieten. Das Ergebnis dieser Überlegungen wollen wir gerne dem Jubilar auf den Geburtstagstisch legen. Ausgangsbasis des vorliegenden Beitrags bilden die Ergebnisse unserer internationalen empirischen Untersuchung zum Thema Talent Management in deutschen, österreichischen und schweizer Großunternehmen,2 die wir gemeinsam mit einem Kollegen-Team in den vergangenen zwei Jahren durchgeführt haben.3 Dabei ging es in erster Linie darum, die Praktiken des Talent Managements zu erfassen. Inzwischen haben sich mehr als 140 Unternehmen an der Studie beteiligt (Stand 01.01.2012). Im Zuge dieser Untersuchung wurde von zahlreichen 1 2

3

Lorenzo, Career Intensity: Business Strategy for Workplace Warriors and Entrepreneurs (2006). Vgl. etwa Graf/Laske/Tschofen, Konzeptionelle Grundüberlegungen zum strategischen Talentmanagement, in: Laske/Orthey/Schmid (Hrsg.), Handbuch PersonalEntwickeln (2010); Graf/Laske, Nichts für Kurzsichtige (2010); Graf/Laske, Noch viel Brachland (2011). An dieser Stelle sei den beteiligten Kolleginnen und Kollegen gedankt, allen voran Gabriela Bodner, Martin Kupiek und Martin Sonnert.

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

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Gesprächspartnern auf ein Problem hingewiesen, das für eine nachhaltige und effiziente Talentpolitik erfolgskritisch ist: Das Verhalten von Führungskräften gegenüber „ihren“ Talenten. „The top 10 % of the managers in a company will have half the turnover rate of the middle 80 % and two and a half times less turnover than the bottom 10 %. Good leadership makes a huge difference in not only retention but overall company performance“4.

2

Was macht die Führung von Talenten spannend und fordernd?

Das Führen von exzellenten Mitarbeitern, die ein hohes Potenzial zur Bewältigung komplexer Aufgaben und Herausforderungen mitbringen, ist alles andere als einfach; im Gegenteil, es kann extrem anstrengend sein. Vermutlich erklärt sich dadurch ein zentrales Ergebnis unserer Studie: In über 80 % der Organisationen wird der Bereich „die Führungskraft als Talententwickler“ als Schwachpunkt gesehen. Bei unserer Ursachenanalyse wollen wir vereinfachend vier Argumentationsstränge verfolgen: 1. Ursachen, die auf der grundlegenden strukturellen Einbettung in Organisationen beruhen und damit langfristig aus der Führungskultur der Organisation resultieren; 2. Ursachen, die in der Person der Führungskraft selbst liegen; 3. Ursachen, die mit der Person des Talents verknüpft sind; 4. Ursachen, die sich aus der Beziehung zwischen Führungskraft und Talent ergeben.

2.1

Organisatorische Einbettung von Führung – Führungskultur und die Selbstverständlichkeit der Macht des Stärkeren

Zunächst stellt sich die Frage, in welche strukturellen Rahmenbedingungen das Führungsverständnis und die Führungsbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Talenten eingebettet sind. Nach der Strukturationstheorie von Giddens5 und der gängigen Führungspraxis des „Management by Objectives“ ist anzunehmen, dass eine Unternehmenssteuerung mit Zielvereinbarungen die Qualität der Identifikation und Entwicklung von Talenten maßgeblich beeinflusst und so ein bestimmtes Führungsverständnis prägt. Auf die Frage: „Welche Anreize haben Führungspersonen, Talente zu nominieren und zu fördern?“, fanden kaum 2 % der Interviewpartner in unserer Studie konkrete Antworten. In über 90 % der Fälle wurde darauf hingewiesen, dass dies eine selbstverständliche Aufgabe von Führungskräften sei, für die sie keine gesonderten finanziellen Gratifikationen erhalten sollten. Hieraus ergeben sich – wenig überraschend – eindeutige Implikationen für den heutigen Status quo im Talent Management. Wir mussten im Rahmen unserer Studie aber auch den Eindruck gewinnen, dass es nur in Ausnahmefällen irgendwelche nicht-ökonomischen Formen der Wertschätzung oder Anerkennung der Organisation für jene gibt, die sich in besonderer Weise um die Talentförderung bemühen. In der Regel scheinen die von Führungskräften im Bereich der Talentförde4 5

Mathison, Great Companies, http://dbm.com/sg/en/doc/GreatCompaniesBadManagers.pdf?obj_id=1944. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (1995).

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Stephan Laske und Gerhard Graf

rung erbrachten Leistungen von der Organisation überhaupt nicht differenzierend zur Kenntnis genommen zu werden; häufig scheint es sogar völlig an symbolischer Unterstützung für entsprechende Programme seitens der Hierarchie zu fehlen. Wenn es im Unternehmensalltag aber gleich gültig ist, ob diese Aufgabe effizient und effektiv übernommen oder weitgehend ignoriert wird, darf man sich nicht wundern, dass das Thema die Führungskräfte selbst im Prinzip gleichgültig lässt. Es reicht eben nicht, wenn (wie es einer der Gesprächspartner treffend formulierte) die qualifizierte Förderung von Talenten durch ihre Vorgesetzten zwar auf der Homepage, in Führungsleitbildern und -grundsätzen, nicht aber wirklich auf der Agenda steht. Konsequenz dieser weit verbreiteten strukturimmanenten Schwäche im Talent Management ist eine entsprechende „Reproduktion“ von Führungskräften und Karrieremustern.

2.2

Die Qualitäten der Führungskraft als Talententwickler

Für diejenigen, die die Diskussion um Führungsqualitäten im Management über einen längeren Zeitraum verfolgt haben, ist es überraschend, wie wenig sich in den letzten Jahrzehnten – trotz hinreichend vorhandenem Wissen und erheblicher Investitionen in entsprechende Qualifizierungsprozesse – die wahrgenommene Führungskompetenz des Managements im Zeitablauf verändert hat. Noch immer legen Auswahlprozesse zu wenig Gewicht auf soziale, emotionale und Selbst-Kompetenzen, obwohl die verbalen Beteuerungen anders lauten. Noch immer werden gute Fachkräfte in Führungsrollen befördert und dort einem „survival training on the job“ unterzogen – wobei sich die „Überlebensfrage“ meist eher deren Mitarbeitern als den Führungskräften selbst stellt. Noch immer werden Mitarbeiter nach „Gutsherrenart“ befördert, d. h. kaum nachvollziehbar, willkürlich und mit einem Beigeschmack von „Freunderlwirtschaft“, häufig ungeachtet von Professionalität, Kompetenz und Leistungsfähigkeit der beförderten Person. Damit eng verbunden finden sich die impliziten Erwartungen, dass sich mit dem Aufstieg in der Hierarchie die erforderlichen Kompetenzen quasi automatisch einstellen. Sollte dieses Führungs-Pfingstwunder nicht geschehen, werden die daraus resultierenden „Störungen“ vom System eher bagatellisiert und von den Betroffenen mit Resignation oder Zynismus beantwortet. Und das vermutlich meist nur deshalb, weil sich die dafür Verantwortlichen nicht eingestehen wollen oder können, dass sie mit dieser Beförderung einen Fehler gemacht haben. Diese generelle Einschätzung gilt offenbar ebenso für das Führen von Talenten – die Befunde unserer Studie stützen diese Annahme jedenfalls nachhaltig. Worauf das vielfach beobachtbare eher passive Verhalten von Vorgesetzten gegenüber Talenten zurückzuführen ist, lässt sich von Außen schwer beurteilen. Vermutlich ist es ein Konglomerat aus Leistungsvorgaben und den damit verbundenen Prioritätensetzungen („Ich habe im Tagesgeschäft einfach nicht die Zeit.“), aus uneingestandener Unsicherheit, die der Flucht in den operativen Alltag erst recht Nachdruck verleiht, oder aus Ignoranz („Weshalb soll man so viel Aufhebens um die jungen Leute machen? Wenn sie gut sind, werden sie sich ohnehin durchsetzen.“). Diese Unsicherheit entspringt nicht zuletzt der häufig fehlenden Kompetenz der Führungskräfte zur Beurteilung ihrer Talente. In diesen Zusammenhang sind auch jene Extremfälle einzuordnen, bei denen Führungskräfte völlig ignorieren, dass sie ein berufliches Ablaufdatum besitzen. So stießen wir im Rahmen unserer Studie auf das Beispiel des Geschäftsführers Alfred S., der ein halbes Jahr vor seiner Pensionierung noch keinerlei Vorkehrungen für seine Nachfolge getroffen hatte – gerade so, als könnte diese Form der Verdrängung sein Ausscheiden aus dem Berufsleben hinauszögern. „Leaders who fail to train

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

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successors risk not only doing too much themselves but also losing these valuable employees, who can become frustrated that they aren’t being challenged to build their skills and careers at the company“6. Als Folge der Unzulänglichkeiten von Führungskräften bei der Identifikation und Förderung von Talenten lassen sich eine deutliche Aufgabenverschiebung zu HR und eine grundsätzliche Schwächung der Talentpolitik der Organisation insgesamt beobachten. Exkurs: Führungsverhalten und Mitarbeiterqualität – die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit Wenn wir den Aufgabenkomplex „Führungskraft als Talententwickler“ genauer analysieren, stoßen wir unmittelbar auf das Themenfeld „Selbstverständnis von Führungskräften“. Dieses vertiefend abzuhandeln, würde den Umfang dieses Beitrages bei weitem sprengen; aufgrund ihrer Bedeutung soll es jedoch zumindest kurz angerissen werden. Zwei Beispiele veranschaulichen den verbreiteten „Mythos Führungskraft“: Vor einigen Wochen legten zwei Großkonzerne aus unterschiedlichen Kulturkreisen ihre Einkaufsbereiche zusammen. Die neue, rechtlich selbstständige Organisationseinheit soll diese Serviceleistung für beide Mutterkonzerne in Zukunft gebündelt erbringen. Der Einkaufsleiter des einen Konzerns wird das neue Unternehmen als Geschäftsführer leiten. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Entscheidung wurde darüber diskutiert, dass Herr X einen mächtigen Karrieresprung gemacht habe, da er jetzt ein Einkaufsvolumen von einem höheren zweistelligen Milliardenbetrag verantworte und damit ein „echtes Gewicht“ in der deutschen Procurement-Landschaft darstellt. Dies entspricht ganz der gängigen Nomenklatur und Machtzuschreibung; doch was verantwortet Herr X wirklich und worin drückt sich seine Verantwortung aus? Ein zweites aktuelles Beispiel: Mitte September wurde bekannt, dass ein Mitarbeiter der UBS ca. SFr. 2 Mrd. durch Fehlspekulation „vernichtet“ hat. Der CEO der UBS bringt die zentrale Diskrepanz im Grundverständnis heutiger Führungsarbeit auf den Punkt: „Ich habe die Verantwortung für alles, was in der Bank passiert – ich fühle mich aber nicht schuldig“, sagte er gegenüber der Zeitung „Der Sonntag“ (18.09.2011).7 Dieses Zitat wirft die Frage auf, was „Verantwortung tragen“ eigentlich bedeutet und was dies letztendlich beinhaltet. Führungskapitäne, auf deren Schultern die Verantwortung für tausende Mitarbeiter und -zig Milliarden Umsatz lastet, erliegen schnell der Gefahr der Selbstüberschätzung, zumal sie nur mehr selten offene und kritische Rückmeldungen erhalten und gegenüber schwachen Signalen eine gewisse Schwerhörigkeit entwickeln: „The results of recent experimental research suggest that the powerful are hard of hearing when it comes to taking advice, which they routinely discount.“8 Andererseits sind sie speziell in der heutigen sehr dynamischen und komplexen Wirtschaftswelt extrem abhängig von der Qualität, dem Engagement und der Loyalität ihrer Kollegen und Mitarbeiter und von deren Bereitschaft, echte Herausforderungen gemeinsam anzunehmen. Ein solches Miteinander kann – die Geschichte vieler großer Unternehmen beweist dies nachdrücklich – nicht durch eine sprachlose Dominanz des Ver6 7 8

Kaplan, What to Ask the Person in the Mirror (2011), S. 27. Eine knappe Woche später zieht der Vorstandsvorsitzende dann doch die Konsequenz und legt seine Funktion nieder. Tost, Power, Competitiveness and Advice Taking: Why the Powerful Don’t Listen (2011), S. 146.

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Stephan Laske und Gerhard Graf

antwortlichen, bloße Regeln oder Verträge erreicht werden, sondern bedarf eines stetigen persönlichen und authentischen Bemühens und Ringens um die bestmögliche Lösung auch der TOP-Führungsverantwortlichen. Hochqualifizierte Mitarbeiter erkennen über kurz oder lang Doppelbödigkeiten in der Persönlichkeit einer Führungskraft. Das spüren auch die Führungskräfte selbst und gehen deshalb diesen Herausforderungen gerne aus dem Weg. Talente sind jene Mitarbeiter, die den Führungspersonen den Spiegel vorhalten und sie damit bewusst oder unbewusst (heraus)fordern. Daneben ist es die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit, mit der Führungskräfte immer wieder konfrontiert werden. Ganz nach dem Bild: Eine hohle Birne kann nie von innen heraus leuchten, sie kann nur durch ein Anmalen der Fassade versuchen, Licht zu reflektieren, und hoffen, dass keiner diesen Trick bemerkt. Gute Mitarbeiter durchschauen dies aber sehr schnell und reagieren dementsprechend. Lediglich Führungskräfte, die wirklich wissen was sie tun, warum sie es so und nicht anders tun, sich eigene Fehler eingestehen können, sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst sind und konstruktiv damit umgehen, erfahren auf lange Sicht die notwendige Akzeptanz und den Respekt bei exzellenten Mitarbeitern. Für eine nachhaltige und produktive gemeinsame Entwicklung wären eine gewisse Demut und Bescheidenheit gute Vorbedingungen.

2.3

Talente – Goldfische als fliegende Fische?

Kommen wir nun zum anderen Teil der „Führungspartnerschaft im Talent Management“, zu den Talenten selbst. Sie tragen wesentlich zu einem gelingenden Führungsprozess bei. Dieser kann von Wertschätzung, vom Geist des „wirklichen Lernen Wollens“, von engagierter Persönlichkeitsentwicklung oder aber von Passivität, Hochnäsigkeit oder unzureichender Selbstverantwortung getragen sein, ganz nach dem Motto: „jetzt bin ich ein Talent, macht was aus mir“. Doch wer die Nase zu hoch trägt, übersieht nur allzu leicht die bodennahen Hindernisse. Talent ist kein Ehrentitel, sondern – wenn es gut geht – eine Chance, die einen entsprechenden Einsatz erfordert. Die Personalleiterin eines österreichischen Industrieunternehmens, bringt es auf den Punkt: „Es sind häufig die jungen männlichen Talente, die sich auf die Rollbahn begeben und glauben, dass es jetzt im Steilflug nach oben ginge!“ Sofern sich diese Erwartungen nicht gleich erfüllen, führen solche ungebremsten Karriereambitionen rasch zu Demotivation und verstärken mögliche Abwanderungstendenzen. Über 50 % der Unternehmen beklagen in diesem Zusammenhang die oft eingeschränkte fachliche und geographische Mobilität der Talente.

2.4

Führungskräfte als Talententwickler – eine ungewohnte Rolle?

Damit kommen wir zum vierten Argumentationsstrang. Die Führung von Talenten ist nicht nur eine Frage von jeweils zwei getrennten Personen, sondern in hohem Maße Ausdruck der Einstellungen und der Beziehungen zwischen den Beteiligten. So ist es durchaus nachvollziehbar, dass Vorgesetzte ihre besten Mitarbeiter nur ungern an „das System“ abgeben; schließlich haben sie – im besten Fall – Zeit und Energie in deren Entwicklung investiert und deren Weggang würde eine Schwächung des eigenen Bereichs bedeuten. Skepsis entsteht auch, wenn zu fürchten ist, dass die Talentförderung zu einem Heranwachsen interner Kon-

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

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kurrenz führt. Schließlich mag die Steuerung von Menschen, die sich ihres Stellenwerts für die Organisation bewusst sind, manchmal durchaus mühsam sein. Als Führungskraft muss man sich mit deren Ecken und Kanten, deren Kritik- und Widerspruchspotenzial, mit deren Entwicklung und Ansprüchen, deren Beurteilung und deren möglichen Entwicklungsperspektiven aktiv und sichtbar auseinandersetzen. Wenn es nämlich nicht gelingt, diesen Schlüsselpersonen für die nahe Zukunft eine attraktive und herausfordernde Aufgabe realistisch in Aussicht zu stellen, werden dies möglicherweise externe Personen tun. Eine in der Fachdiskussion bisher vernachlässigte Problematik sehen wir in der stillschweigenden Annahme, dass Vorgesetzte und Talente weitgehend ähnliche Wertvorstellungen besitzen. Im Gegenteil zeigt es sich immer deutlicher, dass sich die Grundwerte der verschiedenen Generationen auch in Unternehmen stark unterscheiden.9 Während etwa die Generation der zwischen 1950 und 1965 geborenen „Baby-Boomer“ eine tendenziell starke Karriereorientierung und Loyalität zu ihrem Unternehmen aufweist (und dies auch von den Jüngeren erwartet), will sich die Generation Y (die ca. 1970–1985 Geborenen) nicht mehr bedingungslos am Tanz um das goldene Kalb beteiligen, sondern strebt eine stärker ausgeglichene Bilanz zwischen Arbeits- und Privatleben an. Sie hat offenbar nicht nur die Defizite einer (berufsbedingt) „vaterlosen Familie“ gespürt, sondern auch erlebt, dass sich die umgekehrte Loyalität vorwiegend großer Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern dann verflüchtigt, wenn es gilt, die Lohnkosten zu reduzieren.10 Man konnte in den vergangenen Jahren durchaus den Eindruck gewinnen, dass der mentale „contrat social“ zwischen Unternehmen und Mitarbeitern stark an Wirkung verloren hat.11 Der organisationale Klebstoff „Vertrauen“ ist offenbar immer „dünnflüssiger“ geworden und reicht heute nicht mehr aus, jüngere Talente an die Organisation zu binden – dazu bedarf es eines weitaus phantasievolleren sachlichen und emotionalen Vertrags.

3

Das Führen von Talenten – grundsätzliche Vorbedingungen

In unserem Beitrag sollen einige Ansätze herausgearbeitet werden, mit deren Hilfe die Führung von Talenten stärker professionalisiert werden kann. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass Führungskräfte kontinuierlich einen schwierigen Balanceakt zwischen der institutionellen Sicherung von Freiräumen und der gleichzeitigen Einbindung der Talente in ein organisationales Ordnungssystem zu bewerkstelligen haben.12 In Übereinstimmung mit der modernen Führungstheorie unterstellen wir, dass sich Menschen in Organisationen nicht einfach wie Aufziehpuppen durch den Einsatz der passenden Führungsinstrumente motivations-technisch dressieren lassen, sondern dass es darauf ankommt, überzeugende Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Talenten ermöglichen, ihre Aufgaben selbstständig und effizi9 10

11 12

Rühl, Die Nexters kommen. Personalentwicklung und Generationenvielfalt im Unternehmen, in: Laske/ Orthey/Schmid (Hrsg.), PersonalEntwickeln (2010); Meister/Willyerd, Mentoring für Millenials (2010). Dies ist beispielsweise in den „Entsorgungsstrategien“ gegenüber älteren Mitarbeitern wie sie vor allem von Großunternehmen in den letzten Jahren praktiziert wurden, sehr deutlich geworden. Die möglicherweise unbeabsichtigten Nebenwirkungen drücken sich nicht zuletzt in der Skepsis jüngerer Mitarbeiter gegenüber wohl klingenden „Integrationsfloskeln“ aus. Exemplarisch und entlarvend zugleich ist hier die aktuelle Rede von „Vertrauensmanagement“. Vermutlich haben KMU in dieser Beziehung einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Vgl. Laske/Kappler, Führung und Entwicklung in Bildungsorganisationen, in: Gütl/Orthey/Laske (Hrsg.), Bildungsmanagement. Differenzen bilden zwischen System und Umwelt (2006).

300

Stephan Laske und Gerhard Graf

ent zu erfüllen und außerdem so einladend und attraktiv sind, dass dies mit einer gewissen Begeisterung verbunden ist.13

3.1

Systematische Rollen- und Erwartungsklärung der Beteiligten

In einem kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel14 wird der Vorstandsvorsitzende von Henkel, K. Rorsted, mit der Überzeugung zitiert, die Betreuung der besten Nachwuchskräfte sei Chefsache. Der Vorstand müsse die 200, 300 talentiertesten Kräfte persönlich kennen, sie regelmäßig treffen, mit ihnen zum Essen gehen, sich austauschen: „Ich habe in jedem Jahr mehr als 50 Meetings mit High Potentials.“ Wir können nicht beurteilen, inwieweit ein derartiges Commitment in vergleichbaren Unternehmen und auf derselben Hierarchieebene in ähnlicher Form zu finden ist, wollen aber unsere Skepsis nicht ganz verhehlen. Die Äußerung Rorsteds bringt allerdings eine Haltung zum Ausdruck, die nicht nur einen starken symbolischen Stellenwert besitzt, sondern auch ein klares Zeichen dahingehend setzt, dass die Nachwuchskräfte als zentrale Vermögenswerte des Unternehmens angesehen werden. Darüber hinaus stellt sie klar, welche Erwartungen im Rahmen des Talent Managements gegenüber dem Vorstand formuliert werden können. Zu wünschen ist allerdings, dass diese Selbstverpflichtung auch problemlos und ohne negative Konsequenzen von Dritten eingefordert werden kann – dann erst wird sie wirklich glaubwürdig und kann ihre positive Wirkung entfalten. Nun wäre es vermutlich naiv zu glauben, ein CEO könne sich – bei allem Engagement – intensiver um die Talententwicklung kümmern; seine Funktion ist es, die symbolischen, ökonomischen und „innenpolitischen“ Rahmenbedingungen zu setzen, innerhalb derer andere Akteure Verantwortung übernehmen. Auf der operativen Ebene ist es ähnlich wichtig, dass diese (HR, Talente und Führungskräfte) Klarheit darüber besitzen, was sie wechselseitig voneinander erwarten können. Im Alltag scheint dieses Beziehungsdreieck von eher impliziten Erwartungen gekennzeichnet zu sein, d. h. man glaubt oder unterstellt, der/die jeweils andere wisse aufgrund seiner Funktion/Position ohnehin, was ein angemessenes, effizientes oder zielgerichtetes Verhalten in der jeweiligen Situation wäre. Damit aber ist der Keim für Unklarheit, Konflikte, Unzufriedenheit und wechselseitige Abwertungen gelegt, wird das Beziehungsdreieck zum Bermudadreieck, innerhalb dessen viele gute Absichten, womöglich aber auch gute Talente spurlos verschwinden … Führungskräfte müssen beispielsweise wissen, inwieweit sie in die Nominierung, Auswahl, Beurteilung, Begleitung usw. von potenziellen Talenten mit eingebunden sind und wie sich ihre Aufgaben von jenen des HR-Bereichs oder spezifischer Gremien abgrenzen lassen. Sie brauchen auch Informationen darüber, welche Konsequenzen die Nominierung von Mitgliedern des eigenen Verantwortungsbereichs als Talente für dessen Personalkapazitäten hat. Müssen sie nämlich befürchten, dass der Weggang qualifizierter Mitarbeiter zu Nachbesetzungsproblemen führt und sich diese Nachteile nicht in anderer Weise ausgleichen lassen,

13 14

Zur Zwiespältigkeit der Leidenschaft als führungstheoretisches Konzept vgl. etwa Krell/Weiskopf, Die Anordnung der Leidenschaften (2006). Weber, Chefsache (2011).

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

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werden sie sich vermutlich eher mikropolitisch verhalten.15 Die Rollenklarheit für Führungskräfte setzt jenseits bloßer Aufgabenbeschreibungen voraus, dass möglichst eindeutige Ziele vereinbart werden und deren Erreichung systematisch und ernsthaft überprüft wird.16 Ist diese Verbindlichkeit nicht sichergestellt, ist es gut nachvollziehbar, wenn Manager unter dem Druck des Alltagsgeschäfts diese zentrale Führungsaufgabe entweder unter der Hand zu HR zu verschieben versuchen oder prinzipiell vernachlässigen. Der Grundsatz der Erwartungsklarheit gilt in gleicher Weise für die einmal nominierten Talente. Die sichtbare Unterscheidung von „Nicht-Nominierten“ lässt verständlicherweise die Erwartung entstehen, dass sich dieser Unterschied auch in der konkreten Arbeitspraxis niederschlägt. Dies kann von finanziellen Gratifikationen über neue und interessantere Aufgabenstellungen, die Mitwirkung in besonderen Projekten, spezifische Förder- und Entwicklungsmaßnahmen, verstärkte Kontaktmöglichkeiten mit Leitungspersönlichkeiten bis hin zu bevorstehenden attraktiven Karriereschritten reichen. Es wäre nicht überraschend, wenn in dieser Situation die positiven Anreize die eher problematischen überlagern: Wer den „Karrierestab im Tornister“ haben möchte, sollte sich der Tatsache bewusst sein, dass er/sie dafür einen Preis zu zahlen hat – etwa in Form verstärkten Leistungsdrucks, psychischer und physischer Belastung, von Mobilitätsforderungen seitens der Organisation oder durch weniger Zeit für den Privatbereich usw. Je klarer diese Bedingungen von Beginn an formuliert sind, desto weniger kann man später den Vorwurf erheben, die Organisation habe ex post die „Geschäftsbedingungen“ verändert. Es gibt allerdings noch eine andere Form der Erwartungsenttäuschung: Sie fanden wir in einem österreichischen Unternehmen, in dem auf Wunsch der Geschäftsleitung eine Gruppe von etwa 50 „Potentials“ definiert wurde.17 Die Betroffenen wussten von ihrem Status. Allerdings hatte diese „Auszeichnung“ keinerlei Konsequenz, außer dass die Talente einmal im Jahr zu einem Treffen aller Führungskräfte eingeladen wurden. Es bedarf sicher keiner großen Phantasie um sich vorzustellen, wie diese Praxis unter den „Potentials“ selbst kommentiert wurde. Berücksichtigt man schließlich darüber hinaus, dass in diesem Unternehmen während der letzten Jahre ca. 90 % der interessanten Führungspositionen mit Externen besetzt wurden, wird die Kontraproduktivität dieser Form des Talent Managements evident. Schließlich müssen sich auch die Mitarbeiter von HR darüber im Klaren sein, wie ihre Rolle im Talent Management ausgestaltet sein soll; ob sie sich als Prozesstreiber, als strategischer Partner oder als Dienstleister gegenüber den Linienmanagern verstehen. Schon allein diese Bedingung scheint nicht immer gegeben: Unsere Studie hat ergeben, dass vor allem in international agierenden Großunternehmen HR selbst keine konsistente Vorstellung davon hatte, welche konzeptionell-strategische Position jeweils am effizientesten ist. Außerdem scheint es HR nur selten zu gelingen, den eigenen Anspruch gegenüber den internen Kunden hinreichend transparent zu machen, damit hierdurch eine wirkungsvolle Abgrenzung der Aufgaben möglich wird.

15

16 17

Erst kürzlich hat dies der Regionalleiter in einem internationalen Konzern mit verblüffender Offenheit in einem Gespräch beschrieben: „Natürlich werden wir alles daran setzen, unsere guten Leute vor dem scharfen Blick der Zentrale zu verstecken!“. Nur zu oft werden personalpolitische Führungsdefizite als „Kavaliersdelikte“ angesehen und nicht wirklich ernst genommen. Das Verfahren war allerdings von Intransparenz und schlechtem „Handwerk“ gekennzeichnet und bereits von daher problematisch.

302

3.2

Stephan Laske und Gerhard Graf

Qualifizierungsarbeit auf der Ebene der Führungskräfte

Es ist eine verbreitete Erfahrung, dass Manager auf die mit ihrer Funktion verbundenen Personalführungsaufgaben häufig mangelhaft vorbereitet sind. In der Regel wird ihrer Fachkompetenz und ihrem Eingebundensein in die „richtigen“ Netzwerke ein höherer Stellenwert beigemessen, als ihrer Fähigkeit, Mitarbeiter wirksam und nachhaltig zu leiten. Dies führt – wie oben schon erwähnt – zu den verschiedensten Ausweich- und Fluchtstrategien: zum Ignorieren der Aufgabe (Laissez-Faire-Verhalten), zum Berufen auf die Hierarchie („Ober sticht Unter“) oder etwa zur Konfliktvermeidung („Ich habe nur sehr gute Mitarbeiter.“). Diese Erfahrung kontrastiert eigentümlich mit dem regelmäßig zu hörenden Hinweis auf die Vorbildfunktion von Führungskräften. Qualifizierte Mitarbeiter werden von führungsschwachen Vorgesetzten eher demotiviert, ihre Bindung an die Organisation wird geschwächt. Von daher muss die Qualifikation der Führungskräfte im Talent Management den gleichen Stellenwert erhalten, wie jene der Talente selbst. Welche Themen sollten in möglichen Qualifizierungsprozessen für Führungskräfte im Vordergrund stehen? Wir sehen zumindest fünf Schwerpunkte, mit denen sich Führungsverantwortliche bewusst auseinandersetzen sollten bzw. in denen sie kompetent handeln müssen. Einige dieser Themen beziehen sich nicht spezifisch auf das Führen von Talenten, sondern zielen eher grundsätzlich auf den Aufbau von Führungskompetenz ab. (a) Führungsbewusstsein und -haltung Hierbei geht es um die bewusste Übernahme der Führungsrolle und der damit untrennbar verbundenen Widersprüche, Spannungen und Konflikte. Führung ist keine „SchönwetterFunktion“, bei der in erster Linie angenehme Gratifikationen zu verteilen sind. Vielmehr erfordert sie das sichtbare Beziehen von Standpunkten und damit ein Sich-AngreifbarMachen, das Aushalten von Ambiguitäten und die konstruktive Auseinandersetzung mit den Geführten.18 Eine derartige Aufgabe kann gegenüber Dritten umso überzeugender und für sich selbst umso befriedigender wahrgenommen werden, je intensiver sich die Führungskraft mit der Stimmigkeit von strukturellen Anforderungen und persönlichen Neigungen auseinandersetzt und dann bewusst für die Übernahme einer Führungsrolle entscheidet. Damit wäre zumindest eine gute Voraussetzung gegeben, dass die vielfach geforderte Vorbildwirkung des Vorgesetzten nicht zur Karikatur verkommt: „Leaders don’t always realize that their actions set an example for the people who work for them, especially if they have risen through the ranks of a company so quickly that they fail to realize their influence as role models“19. Das individuelle Führungsverhalten kann von der Führungskultur der Organisation nicht losgelöst gesehen werden. Jede Organisation hat ihre spezifische Kultur, d. h. implizite und explizite Werte und Regeln, an denen die Organisationsmitglieder ihr Verhalten ausrichten (sollen), wenn sie in diesem System über längere Zeit erfolgreich sein wollen. In der Führung von Talenten wird es zunehmend wichtiger, die Debatte um zentrale Unternehmenswerte und das Rollenverständnis der Führungspersonen offensiv zu führen: Wofür steht die Organisation, welche möglichen anderen Wertvorstellungen verfolgen die jüngeren 18

19

Sehr plastisch bringt dies Ruth Seliger zum Ausdruck: „Führung braucht Abstand, um Entscheidungen zu treffen, und Nähe, um Bindung zu halten.“ Seliger, Das Dschungelbuch der Führung: Ein Navigationssystem für Führungskräfte (2010), S. 35. Nobel, Looking in the Mirror: Questions Every Leader Must Ask (2011), S. 1.

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

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Mitarbeiter, wie kann mit möglichen Diskrepanzen konstruktiv und sensibel umgegangen werden? Führungskräfte werden sich vermutlich nur dann auf eine solche Diskussion einlassen, wenn sie sich ihrer eigenen Wertebasis bewusst sind.20 (b) Kompetenz im Umgang mit Führungsinstrumenten Eine zweite unverzichtbare Grundlage qualifizierter Führung ist der kompetente Umgang mit jenen Führungsinstrumenten, die zum Handwerkszeug von Vorgesetzten zählen. Die Gestaltung von Personalauswahlprozessen, das Führen von Mitarbeiter-, Zielvereinbarungs- oder Kritikgesprächen, die sachgerechte und angemessene Formulierung von Personalbeurteilungen oder Arbeitszeugnissen können hierbei als Mindestanforderungen gelten. Darüber hinaus müssen Vorgesetzte wissen, wie sie rechtskonform und mit sozialer Sensibilität in Problemsituationen vorgehen sollen bzw. wer in die Problembearbeitung mit einzubeziehen ist (z. B. in Krankheitsfällen, bei bevorstehenden Abmahnungen oder Trennungen). (c) Kompetenz zur sachgerechten Bewertung/Beurteilung von Personen Zu den zentralen Aufgaben von Führungskräften im Talent Management zählt deren Mitwirkung bei der Identifikation potenzieller Talente. In der Praxis werden hierfür überwiegend Schemata herangezogen, die sich auf die Beurteilung vergangener Leistungen und zukünftiger Entwicklungspotenziale konzentrieren.21 Beide Aspekte sind gleichermaßen schwierig zu erfassen. Die Vielfalt möglicher Leistungsdimensionen, die Differenzierung von kurz- und langfristigen Wirkungen einzelner Maßnahmen, die Problematik der trennscharfen Erfassung qualitativer Leistungsaspekte oder die Zuschreibung von Leistungen, die meist nur durch die Zusammenarbeit mehrerer Personen erbracht werden konnten, zu einzelnen Mitarbeitern, sind nur wenige Beispiele dafür, dass eine faire Bewertung äußerst voraussetzungsvoll, eine objektive Beurteilung völlig ausgeschlossen ist. Verstärkt wird dieses Argument durch den Beurteilenden selbst, dessen individuelle Wahrnehmungsfilter unweigerlich zu subjektiven Ausformungen der Realität führen.22 Als noch komplexer stellt sich die Bewertung von Potenzialen dar, geht es hier doch um die Einschätzung, besser: um die Zuschreibung zukünftiger Entwicklungen. Es ist schließlich hinreichend bekannt, dass die Entfaltung von Potenzialen und deren Umsetzung in produktives Handeln in hohem Maße von personellen, strukturellen und sozialen Rahmenbedingungen abhängig ist, die sich einer einigermaßen treffsicheren Prognose entziehen. Aus diesen Überlegungen sind vier Schlussfolgerungen zu ziehen: Erstens benötigen Führungskräfte stabiles Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen der Beurteilung von Talenten (der Einsatz entsprechender Tools dient dabei der Unterstützung). Zweitens müssen sie sich darauf einlassen, ihre Mitarbeiter im Arbeitsalltag tatsächlich direkter zu begleiten und damit sich selbst urteilsfähig zu machen. Dies schafft auch Gelegenheit zu spontanem sowie zeitund situationsnahem Feedback – etwas, was vor allem jüngere Talente zunehmend erwarten.23 Drittens sollten sich Vorgesetzte grundsätzlich selbst beurteilen, ehe sie ihre Mitarbeiter einschätzen. Hilfreich ist es dabei, das gleiche Kategorienschema einzusetzen und zu der 20 21 22 23

Glasl, Management von Wertespannungen (2011), S. 9. Laske/Sonnert, Die richtigen Talente finden. Wo Vielfalt fehlt, herrscht Einfalt (2011). Am Beispiel der Personalauswahl wurde dies exemplarisch etwa von Laske/Weiskopf, Personalauswahl – ... was wird denn da gespielt? Ein Plädoyer für einen Perspektivenwechsel (1996) vertiefend dargestellt. Meister/Willyerd, Mentoring für Millenials (2010), S. 39.

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Stephan Laske und Gerhard Graf

Selbstbewertung ein kritisches professionelles Feedback einzuholen. Viertens schließlich muss die Organisation durch ein System von „checks & balances“ sicherstellen, dass die Führungsschwächen Einzelner weder auf Kosten möglicher Talente, noch auf Kosten des Unternehmens gehen. Dies kann z. B. dadurch erreicht werden, dass die Nominierung als Talent nicht nur durch das „Nadelöhr“ der Vorgesetzten erfolgen kann, sondern durch Mitarbeiter selbst, durch interne Talent Scouts oder durch Teams auf einer nächst höheren Ebene. Auch der Einsatz von unternehmensspezifisch konzipierten Development Centers hilft, die Potenzialanalyse auf eine stabilere Grundlage zu stellen.24 (d) Kompetenz zur respektvollen, angemessenen Kommunikation Von der Beurteilung der Leistungen und der persönlichen Potenziale geht in der Regel ein starker Einfluss auf die weitere berufliche Karriere aus – dies ist schließlich der Zweck derartiger Verfahren, macht aber zugleich einen sorgfältigen Umgang mit den eingesetzten Instrumenten erforderlich. Darüber hinaus dürfen sich die verantwortlichen Führungskräfte gegenüber den Beurteilten nicht hinter irgendwelchen Verschwiegenheitsregeln verstecken, sondern müssen ihnen selbstverständlich ein offenes Feedback geben, und ihre Urteilsfindung argumentativ nachvollziehbar und transparent vermitteln. Dies mag eine persönliche Herausforderung darstellen – insbesondere gegenüber selbstbewussten Talenten – und setzt voraus, dass man Spannungssituationen aushalten muss, ohne die Contenance zu verlieren. Wer derartige Stresssituationen nicht aushält oder sich bei seiner Beurteilung als „everybody’s darling“ zu erweisen versucht, sollte von dem nächst höheren Vorgesetzten umgehend aus dem „Beurteilungsverkehr“ gezogen werden. (e) Klärung und Aufbau von Entwicklungsperspektiven für Talente Zu den zentralen Aufgaben von Vorgesetzten gehört es, Mitarbeiter allgemein und Talente im Besonderen bei ihrer fachlichen, persönlichen und beruflichen Entwicklung zu unterstützen, ihnen zu helfen, erfolgreich zu werden25: „Fordern und fördern“ lautet das inzwischen viel strapazierte Motto. Um eine längerfristige Bindung an das Unternehmen ins Auge zu fassen, müssen Talente erstens überzeugt sein, dass ihnen die Organisation beste Bedingungen zur persönlichen Entfaltung bietet, sie müssen zweitens durch ihre Aufgabenstellung den Eindruck haben, einen wichtigen Beitrag für die mittel- und langfristige Geschäftsentwicklung leisten zu können und es muss ihnen drittens glaubhaft vermittelt werden, dass dieser Beitrag von der Unternehmensleitung bzw. ihren Vorgesetzten entsprechend wertgeschätzt wird. Von daher reicht es nicht aus, wenn Führungskräfte zwar relativ großzügige Weiterbildungsprogramme unterstützen (das führt bestenfalls zu Mitnahmeeffekten), sich aber ansonsten wenig um die Talente kümmern. Wertschätzende Förderung braucht nicht nur ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, sondern auch stark individuelle Lösungen jenseits gängiger Standardprogramme der Personalentwicklung.

24

25

Ein praktisches Beispiel hierzu findet sich bei Graf/Laske, Führungskompetenzen auf dem Prüfstand – ein Fallbeispiel zur strategischen Führungskräfteentwicklung, in: Laske/Orthey/Schmid (Hrsg.), Handbuch Personal Entwickeln (2011). Vgl. u. a. Amabile/Kramer, Motivation – Was Mitarbeitern wirklich hilft (2010).

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

3.3

305

Führungskräfte brauchen selbst Führung

Um die Vorbedingungen einer wirksamen Führung von Talenten abzurunden, sei noch darauf hingewiesen, dass bloße Appelle an die Einsicht von Führungskräften noch kein hinreichendes Mittel darstellen, damit diese ihre Verantwortung gegenüber dem Führungsnachwuchs aktiv wahrnehmen. Die Zahl gescheiterter Projekte zur Einführung von Mitarbeitergesprächen werten wir als Symptom für die mangelnde Verhaltenswirksamkeit guter Argumente. Neben dem symbolischen Einsatz der Unternehmensleitung bedarf es außerdem eines gewissen instrumentellen Nachdrucks durch klare Zielvereinbarungen oder eine Führungsbilanz. In dieser wird festgehalten, welche Beiträge die einzelne Führungskraft sowohl quantitativ als auch qualitativ in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich zur Talententwicklung der gesamten Organisation leistet.

4

Talente führen – einige ausgewählte Ansatzpunkte

4.1

Ein Rahmenkonzept als Orientierungshilfe

Das folgende Modell26 zielt darauf ab, Faktoren zu identifizieren, die in Unternehmen als „Stellschrauben“ eingesetzt werden und direkt oder indirekt die Motivation von Talenten beeinflussen können. Es unterscheidet zwei zentrale Kategorien: Die erste Gruppe, die „harten“ Steuerungsmedien oder Limitatoren, umfasst die Faktoren Macht/Delegation und Ressourcen; zur zweiten Gruppe, den „weichen Medien“ oder Attraktoren, zählen die Faktoren Wissen und Anerkennung. Durch den Grad ihrer Machtorientierung bzw. die Delegation von Aufgaben und Verantwortung an die Talente können Führungskräfte deren Handlungsspielräume bestimmen. Dasselbe gilt für das Maß an Ressourcen, die für die Aufgabenerledigung zur Verfügung gestellt werden (Ressource meint dabei sowohl finanzielle Mittel als auch zeitliche Spielräume und personelle Kapazitäten; eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch das Know How, die mentale Unterstützung durch die Vorgesetzten sowie deren Erfahrung, die im Bedarfsfall abgefragt werden können). Autonomes Handeln der Akteure ist verbunden mit entsprechender (Selbst-)Verantwortung, beides wiederum ist positiv korreliert mit Motivation – so die indirekte Unterstellung Zauners. Dies gilt speziell für jene Mitarbeiter, die als besonders qualifiziert und engagiert für anspruchsvollere Funktionen vorgesehen sind. Motivationsorientierte Führung sichert konsequenterweise derartige Handlungsspielräume, klärt deren Grenzen und stellt hinreichend Ressourcen zur Verfügung, um die vereinbarten Zielsetzungen auch effektiv verfolgen zu können. Für die Führungskraft kann man dies in der Empfehlung zusammenfassen: Formuliere anspruchsvolle, fordernde Aufgaben, sichere hierfür die notwendigen Freiräume und gib den Talenten die Chance, in eigener Verantwortung erfolgreich werden zu können.

26

Das im Folgenden beschriebene Modell geht auf Zauner, Steuerungsmedien (2004) zurück. Es wurde von uns für den hier diskutierten Kontext leicht adaptiert. Vgl. auch Laske/Meister-Scheytt, Führungs- und Leitungskompetenz in Hochschulen, in: Pellert (Hrsg.), Einführung in das Hochschul- und Wissenschaftsmanagement (2006).

306

Stephan Laske und Gerhard Graf

Abbildung 1:

27

Steuerungsmedien in Organisationen

Die weichen Medien im Zauner’schen Modell haben in erster Linie die Funktion, Aufmerksamkeit hervorzurufen und Energie zu bündeln, also gewissermaßen die Attraktivität der Handlungssituation zu bestimmen. Einen ersten zentralen Stellenwert nimmt dabei die Kategorie „Wissen“ ein. Grundsätzlich gilt auch hier die Regel: „Wer nicht weiß, wo die Reise hingehen soll, kann nicht in den richtigen Zug einsteigen!“ Dies heißt nichts anderes, als dass die Akteure eine Vorstellung über die langfristigen Perspektiven haben müssen, auf die das Unternehmen im Allgemeinen und seine Handlungen im Besonderen ausgerichtet sind. Die Forderung nach Klarheit über die Organisationsziele und -strategien, über den Sinnzusammenhang von Aufgaben und über den Zugang zu den erforderlichen Informationen als Voraussetzung von Motivation klingt zwar banal, dennoch scheinen sich Unternehmen in der Praxis selbst mit diesen Banalitäten schwer zu tun – oft haben die zuständigen Leitungsorgane selbst noch keine langfristigen Entwicklungsziele, hüten sie funktional wichtige Informationen vor ihren Mitarbeitern, lassen sie diese über ihre eigenen Absichten im Dunkeln. Als zweites weiches Medium sieht Zauner die Kategorie „Anerkennung“. Dabei unterstellt er, dass Menschen erst dann mit dem Aufbau von Energie (und damit von positiver Motivation) beginnen, wenn sie sich überhaupt als Person oder als Gruppe wahrgenommen fühlen: Vorgesetzte, die ihren Mitarbeitern wenig bis keine Aufmerksamkeit zuwenden, dürfen sich über deren Passivität nicht wundern. Deshalb findet sich regelmäßig die Empfehlung, dass die Unternehmensleitung die Talente wirklich in ihr Blickfeld nimmt. Eine Steigerung im Grad der Anerkennung stellt die Wertschätzung dar – aber auch hier kommt es wesentlich darauf an, dass diese von den Mitarbeitern registriert werden kann. Das bei nicht wenigen Vorgesetzten beobachtbare Verhalten, bei welchem „Schweigen als Ausdruck von Wertschätzung“ verstanden wird, ist zu interpretationsoffen, um irgendeine positive Wirkung zu entfalten. Allerdings muss eine derartige Wertschätzung nicht immer explizit formuliert sein – sie 27

Nach Zauner, Steuerungsmedien (2004).

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

307

kann sich auch in entsprechenden symbolischen Handlungen des Vorgesetzten ausdrücken, sofern sichergestellt ist, dass die positive Botschaft bei dem oder den Adressaten auch tatsächlich in der beabsichtigten Form ankommt. Schließlich gelten der Aufbau und die Artikulation von Vertrauen als sehr gute Basis einer erfolgreichen und motivierenden Kooperation. Das Zauner’sche Modell liefert keine Handlungsrezepte, schafft aber als eine Art Landkarte Orientierung darüber, wo sensible Handlungsbereiche liegen, die für den Umgang von Führungskräften mit Talenten bedeutsam sind bzw. sein können.

4.2

Die Gestaltung von Führungspassagen für Talente

Die Identifikation leistungsfähiger und leistungswilliger Mitarbeiter mit Entwicklungspotenzial macht ohne entsprechende Nachfolge- und Karriereplanung keinen Sinn. Ein Modell zur Stärkung der Unternehmensführung durch lückenlose und stufenweise Planung der Erwartungen auf allen Hierarchieebenen wurde von Charan/Drotter/Noel entwickelt. Es zielt auf die systematische Steuerung der vertikalen Entwicklungswege von Führungskräften durch die Organisation ab.28 Das Konzept verknüpft die Führungsebenen mit der Geschäftsstrategie, den aktuellen Erwartungen an die Führungskraft, zukünftigen Anforderungen und Kriterien für den Aufstieg in die nächsthöhere Position. Von daher halten wir es für gut geeignet, den Weg von Talenten auf ihrer weiteren Karriere zu durchleuchten. Das Modell betrachtet die Führungsebenen der Organisation als Managementstufen (siehe Abbildung 2). Diese sind in der Regel nach Komplexitätsebenen der Führung aufgebaut und folgen einer einheitlichen Logik.29 Das Besondere am Passagenmodell von Charan/Drotter/ Noel besteht darin, dass darin nicht nur die Fähigkeiten beschrieben werden, welche mit den typischen Aufgaben pro Führungsebene verbunden sind, sondern auch berufliche Werte und persönliche Haltungen. Damit findet ein handlungsleitendes Wertemodell Einzug in die Betrachtung (Charan/Drotter/Noel sprechen von Basisaussagen wie z. B. „Ich muss inhaltlich und technisch ein Vorbild sein.“). Die verschiedenen Glaubenssätze sollen – in Anlehnung an Senge – Bestandteil der mentalen Modelle der Akteure werden.30 Diese wiederum umfassen verallgemeinernde Annahmen über Zusammenhänge in der Welt, die so tief verwurzelt sind, dass sie für selbstverständlich gehalten werden; als solche sind sie maßgebliche Treiber unseres täglichen Handelns und Entscheidens. Die Definition der Anforderungen an die Positionsinhaber auf den unterschiedlichen Führungsebenen orientiert sich an drei Kriterien: der Komplexität der Aufgabe, den für die Aufgabenerfüllung notwendigen Fähigkeiten und den mentalen Modellen, die der jeweiligen Führungsrolle und deren strategischer Positionierung angemessen sind. Konzentriert man den Blick auf die Talent-Entwicklung, so wird deutlich, dass mit jeder neuen Passage, d. h. vor und mit jedem Übergang von einer Hierarchieebene auf die nächste, Lernprozesse der Talente anzustoßen sind. Dabei geht es jedoch nicht nur darum festzulegen, was neu zu ler28 29

30

Vgl. Charan/Drotter/Noel, Leadership Pipeline (2001), zit. nach: Steinweg, Systematisches Talent Management (2009). Eine derartige Vergleichbarkeit zwischen Hierarchiestufen findet sich zum Beispiel auch in der Hay-Punktesystematik. Dabei werden vergleichbare Positionen nach einer spezifischen Systematik beurteilt – mit entsprechenden Konsequenzen für die Gehaltseinstufung und die Karriereentwicklung. Mentale Modelle umfassen individuelle Vorstellungen, Wirklichkeitskonstruktionen und Regeln, die sich in Bildern und Geschichten manifestieren (vgl. hierzu Senge, Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation [1996]).

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Stephan Laske und Gerhard Graf

nen ist – ebenso wichtig ist es, dass die Talente im Zuge des Übergangs auf die nächste Karrierestufe lernen, was sie verlernen müssen. Dies wird beispielsweise nachvollziehbar, wenn wir den Schritt vom Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung für Dritte zum Teamleiter betrachten (Passage I in Abbildung 2). Waren bisher meist die eigene fachliche Expertise und die operative Aufgabenerledigung der Schlüssel zum Erfolg und zur persönlichen Sicherheit, verschieben sich die Leistungskriterien zunehmend in Richtung Leitungskompetenz. Es heißt nun, den Mitarbeitern Freiräume geben, Abschiednehmen von den bisherigen Routinen und der Vorstellung, das Ergebnis des Teams sei in erster Linie von der eigenen Leistung abhängig. In der Praxis ist dies offenbar ganz schwer. Talente stehen also vor der Aufgabe, das, was sie bisher erfolgreich gemacht hat, zu einem Teil wieder zu verlernen. Sie müssen durch sorgfältig modulierte Lernprozesse mit ihrem Standbein Trittsicherheit finden und mit ihrem Spielbein neue Formen der Vorwärtsbewegung ausprobieren können. Hier kommt den Führungskräften eine zentrale Aufgabe zu. Die Talente nämlich bloß „ins kalte Wasser des Neuen“ zu werfen und zu hoffen, dass sie dabei schon nicht untergehen, erscheint verantwortungslos – den Talenten und dem Unternehmen gegenüber. FK VI

Konzernmanager

FK V

Globaler Manager

FK III

FK III

AL

FK II FK II AL

AL

BL

GL

FK III

FK III BL

BL

Bereichsleiter (BL)

AL

FK I

FK I

TL

TL

TL

AL

AL

AL

FK I

FK II

FK II

FK II

MitarbeiterIn

4.3

FK III

FK III

FK II

MA MA MA MA MA MA MA MA MA

Abbildung 2:

FK III BL

BL

AL

Abteilungsleiter (AL)

TL

BL

BL

FK II

FK I

FK III

FK III

FK II FK II

AL

FK III

FK IV

GL

GL

BL

BL

FK II

FK IV

FK IV

FK IV

Geschäftsleiter (GL)

FK I TL

FK I TL

FK I TL

FK I TL

FK I TL

FK I

Teamleiter (TL) MA I

MA I

MA ..

Leadership Pipeline im Grundaufbau31

Kreative Milieus schaffen und innovative Lernansätze einführen

Von Talenten wird angenommen, dass sie sich durch ausgeprägte Lernfähigkeit auszeichnen. Deshalb können sie rasch jene Kompetenzen erwerben, die sie für die erfolgreiche und kreative Bewältigung neuer und zunehmend komplexer werdender Aufgaben benötigen. Nicht jedes Lernsetting ist allerdings geeignet, den Lernenden jede beliebige Kompetenz zu vermitteln: So bleiben Fallstudien kasuistisch; ist e-Learning kaum geeignet, soziale Kompetenzen zu trainieren; kann man sich praktische Handlungskompetenz im Seminarraum nur schwer aneignen. Das ist für Erwachsenenbildner zwar eine triviale Erkenntnis, doch scheint 31

In Anlehnung an Steinweg, Systematisches Talent Management (2009), S. 52.

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

309

sich diese in der Praxis noch nicht hinreichend durchgesetzt zu haben. Eine Rückfrage bei den „alten Griechen“ könnte da helfen: „Was man lernen muss, bevor man es tun kann, lernt man, indem man es tut!“ (Aristoteles). Oder – etwas aktueller: „It is what s/he does that s/he learns, not what the teacher does!“ (Tyler 1949 – gendergerecht adaptiert von StL/GG). Ähnlich einem Nichtschwimmer, der sich nur mit voll aufgeblasenen Schwimmflügeln über Wasser halten kann, dem man mit zunehmender Schwimmfähigkeit langsam die Luft aus den Schwimmflügeln entweichen lässt, bis er sich wirklich sicher im Wasser bewegt, sollten Talente angemessen auf die Übernahme von Positionen mit höherer Komplexität und Verantwortung vorbereitet werden. Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Vorgesetzten und HR, entsprechende kreative Lernmilieus bereitzustellen. Nur wer weiß, wohin die Lern-Reise gehen soll, kann in den richtigen Lern-Zug einsteigen: Wenn es um Haltungen gegenüber sich selbst, gegenüber dem Unternehmen oder gegenüber Dritten geht oder wenn soziale Kompetenzen weiterentwickelt werden sollen, benötigen Qualifizierungsprozesse einen passenden sozialen, reflektierenden und handlungsförderlichen Kontext. Ähnliches gilt, wenn der Übergang in eine neue Funktion vorzubereiten ist; besonders dann, wenn diese Funktion auf einer hierarchisch höheren Stufe angesiedelt sein sollte.32 Hier ist Erfahrungslernen zur Entwicklung von Kompetenzen gefragt, hingegen weniger Reproduktionslernen zum Trainieren von Qualifikationen. Konsequenterweise ist dem Lernen on-the-job oder near-the-job gegenüber dem klassischen kognitiven Lernen Priorität einzuräumen. Es gibt viele praktische Zugänge, wie Talententwicklung arbeitsplatznah und in „kreativen Milieus“ gestaltet werden kann. Sinnvoll erscheint dabei ein Mix aus internen strategischen Projekten, Blended Learning-Sequenzen, kollegialer Beratung, Mentoring, Einzel- und Gruppen-Coaching, Lernpartnerschaften, Supervision etc. Dabei ist es vor allem wichtig, jene Interaktionen und Beziehungsstrukturen thematisieren zu können, die für die erfolgreiche Tätigkeit von Führungskräften oft ausschlaggebender sind als das spezifische Fachwissen. „One approach involves creating a task force of younger emerging company leaders. Emerging leaders, organized and mandated properly, can give you fabulous strategic recommendations. Looking to up-and-comers is not only quite effective in getting great strategic advice but also in motivating these future leaders.“33

4.4

Talente als Individuen behandeln

Wie bereits skizziert, kommt der Klärung der Perspektiven für Talente ein zentraler Stellenwert zu. Nur jene Personen, denen interessante Wege zur persönlichen Weiterentwicklung geboten und die in ihren Vorstellungen ernst genommen werden, entfalten die notwendige Energie, um die Erwartungen der Organisation erfüllen zu wollen (siehe Abbildung 1). Was aber als interessant angesehen wird, bestimmen schon lange nicht mehr die Organisation oder die Organisationsverantwortlichen allein, sondern zumindest im gleichen Ausmaß auch die Talente. Hier öffnet sich ein Spannungsfeld, das den heutigen Führungsverantwortlichen in der Regel nicht bewusst ist.

32 33

Wir sind in Abschnitt 4.1 im Rahmen der Passagengestaltung schon ausführlicher auf diese Aufgabe eingegangen. Kaplan, What to Ask the Person in the Mirror (2011), S. 126.

310

Stephan Laske und Gerhard Graf

Das Generationen-Barometer von 200934 vergleicht die Werte älterer Generationen mit jenen der heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Selbstvertrauen, Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten, Durchsetzungsstärke, Wissensdurst, Emotionalität und Mut sind bei den Jüngeren deutlich stärker ausgeprägt. Etwa gleich stark sind die Ausprägungen bei den so genannten Sekundärtugenden Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Ordnung und Fleiß. Toll aussehen (97 %), Karriere machen (83 %), Technik (78 %), Markenklamotten (77 %), Treue (77 %), Studieren (68 %) und Verantwortung übernehmen (66 %) sind nach der aktuellen Shell-Jugendstudie die Werte der 12 bis 25-jährigen. Diese Werte beeinflussen auch ihre Erwartungen gegenüber Dritten. „Diese Generation ist – intensiver als jede zuvor – außerdem noch stärker auf die Parallelexistenz eines Privatlebens fokussiert, konsumverwöhnt, selbstbewusst, technologieorientiert, multitaskingfähig und meist mobil. Sie ist digital sozialisiert, leicht ungeduldig und ,zappt‘ ihr Unangenehmes oder Langweiliges einfach weg. Diese Generation bringt zudem eine andere Ökologie- und Ethikerwartung mit ins Arbeitsleben, weshalb sich Unternehmen darauf einstellen müssen…“35 Bei der Beurteilung der Attraktivität des Arbeitgebers und der in Aussicht gestellten Position werden die Unterschiede zwischen den Generationen signifikant und wirksam: Talenten geht es zunehmend mehr um Abwechslung, herausfordernde Aufgaben, lebenslanges Lernen und Spaß und weniger um Status, Karriere und Benefits. Führungskräfte haben sich noch zu wenig auf diese Entwicklungen und „Megatrends“ eingestellt, nehmen sich und ihre Werte als primären Maßstab.36 Sie sollten lernen, auch die „Wertesprache“ der nächsten Generation zu verstehen – erst dadurch kann kommunikative Verständigung gelingen. Talente brauchen nämlich das Gefühl, dass sie nicht einfach schematisch in Programme eingefügt, über ein und dieselben Leisten geschlagen, sondern in ihren Bedürfnissen und Zielvorstellungen ernst genommen werden. Diesen Anspruch stellt die Dialektik der Führung (Klaus Doppler) in den Mittelpunkt37: In einem Klima der gegenseitigen Wertschätzung mit unterschiedlichem Erfahrungs- und Wertehintergrund können beide Partner gewinnbringend für sich und die Organisation Entwicklungswege beschreiten. Voraussetzung bildet dabei die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit von Führungskraft und Mitarbeiter als gleichberechtigte Partner und nicht die Weiterführung des klassischen Meister-LehrlingRollenspiels.

4.5

Mentoring und Coaching: Lass die Jungen die Alten coachen

Im Talent Management wird häufig ein Mentoring von Talenten durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen der nächst höheren Hierarchieebene empfohlen. Ein bislang ungewohnter aber spannender Ansatz wurde kürzlich von Robert Kaplan, Professor an der Harvard University, vorgelegt: das Coaching von Führungskräften durch Talente. Das mag den Führungsverantwortlichen zwar anfangs sonderbar vorkommen; es setzt auch voraus, dass man Feedback nicht bloß als oberflächliches Ritual versteht, sondern der oben erwähnten „hierarchischen 34 35 36 37

Vgl. http://www.familie-stark-machen.de. Rühl, Die Nexters kommen. Personalentwicklung und Generationenvielfalt im Unternehmen, in: Laske/Orthey/ Schmid (Hrsg.), PersonalEntwickeln (2010), S. 4. Auch ein rein marketingtechnisches Employer Branding greift da im Angesicht der heutigen schnelllebigen Facebook-Social-Network-Generation eindeutig zu kurz. Vgl. Doppler, Dialektik der Führung. Opfer und Täter (1999).

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

311

Schwerhörigkeit“ aktiv entgegen arbeiten will. Wer sich darauf einlässt und den Coaches die Sorge nimmt, dass ihnen ein offenes Wort „auf den Kopf fällt“, erhält wertvolles Feedback, wirkt vorbildhaft und motiviert die künftigen Führungskräfte. „When senior leaders ultimately do cultivate junior coaches, they find that the criticism can feel devastating at first because you realize it is accurate and that it is probably a widespread view within the organization. You have to thank the junior coach, and then go out and work on what they’ve told you. […] Not sure the assessment is accurate? Call a few close friends or loved ones and see what they think. Most likely, they’ll agree with your subordinates.“38 Unter dieser Perspektive erscheint das Vice-Versa-Coaching von Talenten und Führungskräften eine besondere Herausforderung und ein experimenteller Ansatz zur Entwicklung einer anderen Führungskultur im Rahmen des Talent Managements.

4.6

Führungskräfte bewerben sich um Talente

Bei den Verkehrsbetrieben Zürich wird derzeit ein interessanter Ansatz zur Gewinnung neuer Mitarbeiter am Arbeitsmarkt praktiziert. Dabei werden nicht „leere“ Positionen angeboten, vielmehr werden Vorgesetzte und deren Arbeitsumfeld am Markt angeboten – wird gewissermaßen die Auswahllogik umgedreht, der oder die neue MitarbeiterIn damit nicht mehr als „Bittsteller“, sondern als EntscheiderIn behandelt. Analog zu dieser Vorgehensweise könnte auch im Talent Management vorgegangen werden: Es stünden dann nicht mehr nur Positionen zur Besetzung an, vielmehr hätten sich Führungskräfte bei den intern vorhandenen Talenten zu bewerben. Dies würde bedeuten, dass sie sich vermehrt Gedanken darüber machen müssten, wie sie die angebotenen Positionen auch wirklich attraktiv und marktgerecht gestalten und anbieten müssten. Eine derartige „Umkehrung der Argumentationslast“ bringt mehrere Vorteile mit sich: •

Gute Führungskräfte finden leichter gute Mitarbeiter im Sinne eines sich selbst verstärkenden Prozesses. • Es gibt mehr Transparenz in den „unternehmensinternen Wanderungsbilanzen“ im Talent Management. • Talente können von Führungskräften nicht „gebunkert“ werden, sondern nehmen ihren Entwicklungsweg eigenverantwortlich in die Hand. • Durch die Organisation des Bewerbungsprozesses müssen sich die Führungskräfte konkretere Gedanken über die Attraktivität ihres Bereiches, ihre persönliche Führungsqualität oder das Arbeitsklima machen und entsprechend darstellen. • Die Führungskultur der Organisation erfährt durch eine derartige Initiative eine anspruchsvolle, aber im Sinne des gesellschaftlichen Wertewandels anschlussfähige Entwicklung. Vor dem Hintergrund eines tradierten Führungsverständnisses lassen sich sicher zahlreiche Gegenargumente finden. Dem kann man das Motto entgegen halten: „Wer nicht will, findet Gründe. Wer will, findet Wege!“ Ist man aber bestrebt, eine Zusammenarbeit von Führungskraft und Talent auf Augenhöhe zu fördern, sehen wir darin einen durchaus interessanten und nachvollziehbaren Zugang.

38

Nobel, Looking in the Mirror: Questions Every Leader Must Ask (2011).

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5

Stephan Laske und Gerhard Graf

Talent Management – die Brücke zur Führungskraft der nächsten Generation

“Successful leaders know that leadership is less often about having all the answers – and more often about asking the right questions. The challenge lies in being able to step back, reflect, and ask the key questions that are critical to your performance and your organization’s effectiveness“. In seinem Buch „What to Ask the Person in the Mirror“ beschreibt Robert Kaplan einen (Selbst-)Führungsprozess, der über die richtige Gestaltung von Fragen die Führungsverantwortlichen, aber auch die Talente zum Nachdenken anregt – getreu der „alten“ Führungsregel: „Wer fragt, führt!“. Über die richtige Fragetechnik werden die betreffenden Personen selbst zu Problemlösern, gewinnen sie Einsicht in notwendige Veränderungen und leiten diese auch selbstverantwortlich ein.39 Zu den interessantesten deutschsprachigen Lehrbüchern über Führung zählt jenes von Oswald Neuberger: „Führen und führen lassen“. Darin beschreibt dieser nicht nur den verbreiteten „Heldenmythos“, den viele Führungskräfte offenbar nach wie vor für sich als Handlungsmaxime wählen. Er macht darüber hinaus deutlich, dass auch die leitenden Personen in Unternehmen Teile eines Systems sind, innerhalb dessen sich die Richtung von Führungsprozessen nicht mehr einfach von „oben“ nach „unten“ definieren lässt. Dieses Bild erscheint uns passend, um unsere Conclusio für das Führen von Talenten zu formulieren. Talente in einer respektvollen und offenen Weise bei deren Entwicklung zu begleiten und sie dabei zu unterstützen, persönlich und beruflich erfolgreich zu werden, ist nicht nur eine Herausforderung für die eigene Führungskompetenz – gewissermaßen der im Titel unseres Beitrags angesprochene „Elchtest“. Es ist – im gelingenden Fall – gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag für die Entwicklung der eigenen Führungskompetenzen.

Literatur Amabile, T. M./Kramer, S. J.: Motivation – Was Mitarbeitern wirklich hilft, in: Harvard Business Manager, 5 (2010), S. 36–38. Doppler, K.: Dialektik der Führung. Opfer und Täter, München 1999. Giddens, A.: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (Theorie und Gesellschaft), 2. Aufl., Frankfurt/New York 1995. Glasl, F./Laske, St./Tschofen, D.: Management von Wertespannungen, in: Trigon-Themen, 2 (2011), S. 9–11. Graf, G.: Konzeptionelle Grundüberlegungen zum strategischen Talentmanagement, in: Laske, St./ Orthey, A./Schmid, M. J. (Hrsg.): Handbuch Personal Entwickeln, 144. Ergänzungslieferung, November 2010, Nr. 7.49, S. 1–28. Graf, G./Laske, St.: Nichts für Kurzsichtige, in: Personalwirtschaft, 12 (2010), S. 18–22. Graf, G./Laske, St.: Führungskompetenzen auf dem Prüfstand – ein Fallbeispiel zur strategischen Führungskräfteentwicklung, in: Laske, St./Orthey, A./Schmid, M. J. (Hrsg.): Handbuch Personal Entwickeln, 122. Ergänzungslieferung, April 2011, Nr. 6.95, S. 1–32. Graf, G./Laske, St.: Noch viel Brachland, in: Personalwirtschaft, 7 (2011), S. 32–34. 39

Kaplan, What to Ask the Person in the Mirror (2011).

Talente führen! Talent zum Führen? „Elchtest für Führungskräfte“

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Hengl, M.: Die Angst der Manager vor Social Media, www.harvardbusinessmanager.de/blogs/artikel/a-738905-2.html [18.08.2011]. Kaplan, R. S.: What to Ask the Person in the Mirror, Boston 2011. Krell, G./Weiskopf, R.: Die Anordnung der Leidenschaften, Wien 2006. Laske, St./Kappler, E.: Führung und Entwicklung in Bildungsorganisationen, in: Gütl, B./Orthey, F. M./ Laske, St. (Hrsg.): Bildungsmanagement. Differenzen bilden zwischen System und Umwelt, München/ Mering 2006, S. 75–104. Laske, St./Meister-Scheytt, C.: Führungs- und Leitungskompetenz in Hochschulen, in: Pellert, A. (Hrsg.): Einführung in das Hochschul- und Wissenschaftsmanagement, Bonn 2006, S. 102–118. Laske, St./Sonnert, M.: Die richtigen Talente finden. Wo Vielfalt fehlt, herrscht Einfalt, in: HR-Today, 10 (2011). Laske, St./Weiskopf, R.: Personalauswahl – …was wird denn da gespielt? Ein Plädoyer für einen Perspektivenwechsel, in: Zeitschrift für Personalforschung, 10. Jahrgang, 4 (1996), S. 295–330. Lorenzo, D. V.: Career Intensity: Business Strategy for Workplace Warriors and Entrepreneurs, New York 2006. Mathison, D.: Great Companies, http://dbm.com/sg/en/doc/GreatCompaniesBadManagers.pdf?obj_id=1944 [27.09.2011]. Meister, J. C./Willyerd, K.: Mentoring für Millenials, in: Harvard Business Manager, 7 (2010), S. 39–43. Neuberger, O.: Führen und führen lassen, 6., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 2002. Nobel, C.: Looking in the Mirror: Questions Every Leader Must Ask. in: Harvard Business School Working Knowledge, http://hbswk.hbs.edu/item/6706.html [18.7.2011]. Rühl, M.: Die Nexters kommen. Personalentwicklung und Generationenvielfalt im Unternehmen, in: Laske, St./Orthey, A./Schmid, M. J. (Hrsg.): Handbuch PersonalEntwickeln, 136. Ergänzungslieferung, Februar 2010, S. 1–18. Seliger, R.: Das Dschungelbuch der Führung. Ein Navigationssystem für Führungskräfte, 2. Aufl., Heidelberg 2010. Senge, P. M.: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Stuttgart 1996. Steinweg, S.: Systematisches Talent Management, Stuttgart 2009. Tost, L. P.: Power, Competitiveness and Advice Taking: Why the Powerful Don’t Listen, in: Organizational Behavior and Human Decision Processes, 2 (2011), S. 145–156. Tyler, R. W.: Basic Principles of Curriculum and Instruction, Chicago 1949. Zauner, A.: Steuerungsmedien (unveröffentlichtes Manuskript), Wien 2004. http://www.familie-stark-machen.de [27.09.2011]

Personalmanagement und Nachhaltigkeit: Psychosoziologische Überlegungen zu Fragen der Arbeitszufriedenheit Raimund Jakob

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Überlegungen zur „Nachhaltigkeit“

Versucht man auf der Grundlage der Begriffe Arbeitszufriedenheit und Nachhaltigkeit eine Aussage zu treffen, stößt man bald auf Probleme, wenn man jeden der beiden für sich alleine nimmt. Bei der Arbeitszufriedenheit, einem zentralen Thema der Lehre von der Personalführung, ist es die Subjektivität, die diesem Gefühl, dieser Einstellung innewohnt; wann und unter welchen Umständen und Bedingungen ist ein Beschäftigter, ein Lohnabhängiger mit seiner Arbeit zufrieden, welchen Stellenwert hat Arbeit überhaupt für ihn, welche Motive und Motivationen kommen da zum Tragen, ja und welchen Wert ist der Vorgesetzte, die jeweilige Organisation bereit, einer bestimmten Arbeit beizumessen. Übrigens, die hier und in der Folge verwendeten Bezeichnungen von Personen sind geschlechtsneutral zu verstehen und meinen Frauen und Männer. Und was die Nachhaltigkeit anlangt, so wird mit ihr zunächst nur ein Zeitverlauf zum Ausdruck gebracht. Auch wenn der Begriff Nachhaltigkeit als positiv besetzt erscheint – in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform kommt er aus einer an der Erhaltung des Bestands orientierten Forstwirtschaft – so ist es zum Beispiel auch möglich, Umwelt nachhaltig zu ruinieren. In den folgenden Überlegungen geht es aber um eine Verbindung der beiden Begriffe, und auf einer solchen Grundlage scheinen schließlich brauchbare Ergebnisse dort denk- und erzielbar, wo es in der wirtschaftenden Gesellschaft, aber auch im staatlichen Bereich um den Einsatz der „Ressource“ Mensch geht. Gegenwärtige und fortwährende Arbeitszufriedenheit hat mit der Lebensqualität der arbeitenden Menschen zu tun und ist damit ein erstrebenswertes Ziel, sie ist aber – nicht zu vergessen, wir denken hier an Menschen, die unselbstständig arbeiten, um damit ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften – außerhalb geschützter Werkstätten, politischer Vorgaben und dort, wo es an entsprechenden Märkten fehlt, kein Selbstzweck, d. h. ohne Dienstgeber, ohne eine Wirtschaft, die durch sie einen Nutzen hat, fehlt es an einer Grundlage für diese. Nachhaltige Arbeitszufriedenheit ist demnach schon angesichts der Zukunftsdimension in gewisser Weise vernetzt mit ökonomischer Nachhaltigkeit, wobei letztendlich auch der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit in zunehmendem Maß Bedeutung zukommt. Das

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Raimund Jakob

klassische Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit1 wird so im speziellen Blick auf das Empfinden von Arbeitszufriedenheit zum Vier-Säulen-Modell. Internationale Unternehmen argumentieren bereits mit einem solchen Modell, wenn sie Inserate wie „Gemeinsam an Morgen denken“ in den Medien schalten.2 Für unsere Überlegungen ist zunächst all das respektive jener Zustand, jene Empfindung von Bedeutung, welche von arbeitenden Menschen als Zufriedenheit mit ihrer Arbeit verstanden wird, weiters die soziale Fähigkeit von Managern, eine Balance von den zu erreichenden Zielen der jeweiligen Organisation, wie das des wirtschaftlichen Erfolgs und von Arbeitszufriedenheit herzustellen und schließlich die Voraussetzungen und einzelne Mittel, mit denen derartiges realisiert werden soll und kann.

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Überlegungen zur „Arbeitszufriedenheit“

Zufriedenheit ist die kleinere, die mindere Erscheinungsform von Glück, letzteres ist eine Empfindung vorrangig affektiver Art (Freude, Glückseligkeit). Für Freud (1930) handelt es sich dabei eher um die plötzliche Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse3; seiner Natur nach ist das Glück nur als episodisches Phänomen möglich. Die Besonderheit des Glücksgefühls liegt nun darin, dass wir nur den Kontrast zur sonstigen Lebenssituation so intensiv genießen können (die Realität übersteigt hier den inneren Anspruch). Unter dem Gefühl der Zufriedenheit wird üblicherweise ein langfristiges, stabiles Wohlgefühl, das Ergebnis eines Prozesses verstanden, welches weniger affektiv, sondern mehr kognitiv geprägt ist. Das kann beispielsweise die Gesamtbewertung eines Menschenlebens durch einen alten Menschen sein, aber auch die erfahrene „Genugtuung“ für erlittenes Unrecht. In der alltäglichen Praxis aber ist eher an viele geringfügige, in einer regelmäßigen Abfolge ganz bewusst erlebte Zustände des Glücks zu denken (Dominanz kognitiver Elemente) nach der Art, wie sie vom ungarisch-amerikanischen Sozialpsychologen Mihály Ciskzentmihályi (2001) in seiner das glückliche Leben betreffenden Lehre vom Glücks-Fluss dargestellt werden.4 Dieses Gefühl des Fließens entsteht vor allem dann, wenn eine Balance zwischen Fähigkeiten und Anforderungen besteht. Und hier schließt sich dann auch der Kreis zur Nachhaltigkeit. Allen genannten Fällen gemeinsam ist der Faktor Zeit, der in der einen oder anderen Weise dabei in Erscheinung tritt. Das Gebiet der Arbeitszufriedenheit ist seit mehr als hundert Jahren Gegenstand wissenschaftlicher, insbesondere psychologischer Untersuchungen.5 Unter Arbeitszufriedenheit versteht man zunächst und ganz allgemein die Einstellung einer Person gegenüber (ihrer) Arbeit; sie äußert sich als emotionale Reaktion auf eine Situation. Soweit scheint alles klar zu sein. Je mehr man sich aber dem Begriff inhaltlich nähert, desto unschärfer und bedeutungsloser wird er. Bei den dann verwendeten Begriffen und Definitionen von Arbeitszufriedenheit handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um eine Hypothese, ein erklärendes Konzept, das es ermöglichen soll, etwas nur schwer Fassbares empirisch in den Griff zu 1 2 3 4 5

Vgl. Eintrag „Nachhaltigkeit“ bei Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Nachhaltigkeit. Siehe beispielsweise Salzburger Nachrichten (10.09.2011), S. 21 f. (Inserat der REWE Group). Freud, GW XIV (1930), S. 434 f. Ciskzentmihályi, Flow: Das Geheimnis des Glücks (2001). Bereits Ende des 19. Jhdt. beschäftigte sich der US-Amerikaner Frederick Taylor vermittels einer genauen Beobachtung industrieller Arbeitsvorgänge mit Fragen der Betriebsführung; Arbeiter in den Fabriken hielt er generell für faul, als zentraler Motivator galt für ihn der Lohn.

Personalmanagement und Nachhaltigkeit: Psychosoziologische Überlegungen

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bekommen. Auf die einzelnen Versuche einer solchen Definition soll hier nicht eingegangen werden.6 Zwei Faktoren, die das Erstellen derartiger Konzepte erschweren, sollen aber beispielhaft aufgezeigt werden: Einmal die Gefahr, dass jene akademisch gebildeten Personen, die ein solches Konzept erstellen, ihre eigenen Vorstellungen von zufriedenstellender Arbeit diesen Konzepten zugrunde legen, wo es vielleicht um die Tätigkeiten weniger gebildeter Menschen geht. Hofstätter (1986) bringt hier das Bild vom Fliesenleger7, dessen Tätigkeit gemeinhin als öde und uninteressant aufgefasst wird, wobei diese Einschätzung von Fliesenlegern ganz und gar nicht geteilt wird. Aber auch begriffliche Abgrenzungen und der Sprachgebrauch können Probleme schaffen, wie im Fall der sogenannten resignativen Arbeitszufriedenheit, etwa wenn ein Mensch nicht seinen Fähigkeiten entsprechend eingesetzt wird, er daraufhin die Ansprüche an seine Arbeit reduziert und sich schließlich vielleicht über das „Schieben einer ruhigen Kugel“ freut. Arbeitszufriedenheit und Arbeitsfreude sind eben nicht immer ident. In Österreich unternehmen es seit 1997 Länderkammern und Bundesarbeiterkammer in Zusammenarbeit mit Interessensvertretungen von Arbeitnehmern und privaten Sozialforschungsinstituten, mit einem „Arbeitsklima Index“ den sozialen und wirtschaftlichen Wandel aus der Sicht der Arbeitnehmer empirisch zu erheben. Nach der Klassifikation von Gawellek (1987) entspricht dieser Index eher den theoriefreien Methoden der Arbeitszufriedenheitsforschung8, ergänzt wird dieser ständig adaptierte Ansatz durch einen Resignations-Index. Das Fehlen inhaltlicher Annahmen betreffend den Gegenstand Arbeitszufriedenheit bringt einen gewissen Mangel bei der Erklärung scheinbar paradoxer Phänomene mit sich, die gewählte Vorgangsweise ist aber pragmatisch und führt letztlich zu aussagekräftigen Ergebnissen. Der jeweilige Index wird in Punkten ausgedrückt. Ein Ansteigen der Punkte bedeutet eine Verbesserung der abgefragten Situation. Der Arbeitsklima Index ist mittlerweile ein wesentlicher Indikator für Arbeits- und Einkommenszufriedenheit. Der gesamtösterreichische Index beruht auf Befragungen von Stichproben unselbständig erwerbstätiger Personen in ganz Österreich.9 Zur Erhebung der Daten werden 900 Arbeitnehmer befragt. Der Fragebogen umfasst 25 Themengebiete inklusive Arbeitszeitregelungen, Betriebsgröße, Zufriedenheit mit betrieblichen Sozialleistungen u. a. m. Jeweils zwei Erhebungswellen, also insgesamt 1800 Interviews, werden zur Neuberechnung des Index herangezogen, die halbjährlich (Mai und November) stattfinden. Dazwischen (Februar und September) gibt es Sonderauswertungen zu besonderen Aspekten des Index. Möglich gemacht werden solche Auswertungen durch eine umfangreiche Erfassung betreffend die soziodemographischen Merkmale der Befragten. Die Ergebnisse werden vierteljährlich bei Pressekonferenzen in Wien präsentiert und in Form des Arbeitsklima Index-Newsletters publiziert. Neben dem gesamtösterreichischen Index lassen Arbeiterkammern der einzelnen Bundesländer für diese eigene, branchenspezifisch aufgegliederte Regionalindizes erarbeiten und berechnen. Für den Bereich der Arbeiterkammer Salzburg ist der im Februar 2011 bekannt gegebene Index im Hinblick auf eine gewisse Stabilisierung nach der Wirtschaftskrise von 2008 insgesamt leicht angestiegen. Jobs und wirtschaftliche Zukunft gelten wieder als sicherer, wobei 6 7 8 9

Siehe dazu Waschulewski, Arbeitszufriedenheit als psychologisches Konstrukt (2005), S. 69 ff. Hofstätter, Bedingungen der Zufriedenheit (1986), S. 90. Gawelleck, Erkenntnisstand, Probleme und politischer Nutzen der Arbeitszufriedenheitsforschung (1987), S. 26. Siehe „Arbeitsklima Index“ bei Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsklima_Index.

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aber nicht jede Branche ein Stimmungsplus für sich verbuchen kann. Was die Arbeiter anlangt, erreicht im Gegensatz zu Angestellten und Beamten, die Zufriedenheit bei diesen einen historischen Tiefpunkt. Arbeiter fühlen sich in allen Bereichen stärker belastet und waren am stärksten von der Krise betroffen, während der sie auch das größte Kontingent der Entlassenen darstellen. Tragisch ist die Situation der Unzufriedenen am Arbeitsmarkt auch deshalb, weil Arbeits- und Lebenszufriedenheit eng zusammenhängen, auch das belegt der Index. Neben der besonders ausgeprägten Trennlinie zwischen Arbeitern und Angestellten gibt es auch relativ starke Unterschiede zwischen Alt und Jung. Junge sind meistens zufriedener, weil ältere Arbeitnehmer bei Jobverlust weniger Chancen für sich sehen, eine neue Arbeit zu finden. Auch eine höhere Bildung sorgt für mehr Zufriedenheit. Gerade der letztgenannte Punkt ist signifikant, diese Aussage begegnet uns in einschlägigen Untersuchungen immer wieder, irgendein Zusammenhang mit dem ausgeübten Beruf lässt sich dabei schwer in Abrede stellen, und nicht zuletzt scheint – im Gegensatz zum oben Gesagten – hier doch ein soziales Klischee bestätigt, oder ist es doch vor allem Bildung, die das emotionale Verhältnis zur Arbeit bestimmt? Oder verbirgt sich die Lösung des Problems vielleicht hinter der Begrifflichkeit von Bildung, zumal Schulbildung neben Ausbildung, Herzensbildung und noch anderen Erscheinungsformen nur ein Teilaspekt von dieser ist? Noch ein Anlauf für eine Begriffsbestimmung: Es scheint, dass – will man Arbeitszufriedenheit explizit als etwas Positives und nicht bloß als Abwesenheit von Arbeitsleid sehen – Ciskzentmihályi10 uns einen brauchbaren Weg in diese Richtung zeigt. Ein Bild dafür könnte dann so aussehen: Ein (gebildeter und gut ausgebildeter) Finanzbeamter, auch der Vater war schon im Finanzamt tätig, der sich mit der ihm übertragenen Funktion gut identifizieren kann, zumal er diese für bedeutsam und notwendig hält (ein motivierter Mensch also), erledigt die ihm für einen bestimmten Zeitraum zur Bearbeitung zugewiesene Quote der mit Bescheid abzuarbeitenden Steuererklärungen zeitgerecht und regelmäßig ohne erfolgreiche Rechtsmittel ihrer Adressaten (ein klares Ziel und leistbare Arbeitsbedingungen, keine Überforderung, aber auch keine Unterforderung). Für sein Tun hat er bereits mehrere Belobigungen erhalten, als besondere Gratifikation soll er nun mit erstem Januar befördert werden (das alles verstärkt seine Motivation). Es darf davon ausgegangen werden, dass dieser Mann mit seiner Arbeit zufrieden ist. Mit anderen Worten, die richtige Person am rechten Ort, der kontinuierlich wiederkehrende Erfolg bei der Arbeit sowie die Anerkennung der Leistung durch den Arbeitgeber, das sind wesentliche Voraussetzungen und Faktoren, um Arbeitszufriedenheit beim Arbeitnehmer zu bewirken.

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Zur Rolle der „Führungspersönlichkeit“ und deren Merkmale

Führungsqualität und Führungspersönlichkeit. Diese Frage hat mehrere Aspekte, einmal geht es um die Wahl entsprechender Instrumente, dann geht es noch um den Einsatz dieser Instrumente, also um Personalpolitik und Führungsstil. Nicht zuletzt existiert eine umfangreiche Literatur zum Themenkreis, grundlegende Aussagen in diesem Zusammenhang können bei Beardwell & Holden (Hrsg. 2004)11 gefunden werden. Sieht man von all dem ab, dann bleibt schließlich die Führungspersönlichkeit als solche zu betrachten übrig, also die Metaebene, 10 11

Ciskzentmihályi, Flow: Das Geheimnis des Glücks (2001). Beardwell/Holden, Human Resource Management. A Contemporary Approach (2004).

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denn diese ist die Grundlage jeder Führung. Das gilt für die Wirtschaft und das gilt in ähnlicher Weise auch für den öffentlichen Dienst und die öffentlichen Anstalten, das ist mittlerweile erkannt worden und auch die Instrumente sind ähnliche bzw. werden ähnlich eingesetzt. Eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit der Qualität von Führung spielen die Personalauswahl bei der Einstellung, die Personalauslese im Hinblick auf den richtigen Einsatz des Arbeitnehmers, seine Einbindung in das Betriebsgeschehen und nicht zuletzt der Führungsstil der Vorgesetzten. Hier stellt sich auch die Frage, unter welchen Bedingungen Mitarbeiter bereit sind, sich für die Ziele der Organisation einzusetzen, wobei Arbeitszufriedenheit, beruflichen Perspektiven und Weiterentwicklungsmöglichkeiten aus der Sicht der Mitarbeiter ein besonderer Stellenwert zukommt. In manchen Organisationen ist die Führungsqualität unterentwickelt, viele Führungskräfte fühlen sich nicht eigentlich für ihre Beschäftigten verantwortlich. Es fehlt ihnen an einer fürsorglichen Grundhaltung, sie mögen ganz einfach ihre Mitarbeiter zu wenig, sie anerkennen ihre Leistungen nicht und sie unterstützen sie nicht in Problemsituationen. Unzufriedene und frustrierte Mitarbeiter haben aber viele Möglichkeiten Schaden anzurichten, sie können auch innerlich kündigen und Leistung zurückhalten. Die Person des Managers, seine Persönlichkeit also, bestimmt vorrangig die Qualität der Führung des Personals und damit letztlich auch die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, zumal das Personal die wertvollste Ressource eines Unternehmens darstellt – jedenfalls in entwickelten Gesellschaften und auf lange Sicht. Demzufolge hat das Motto zu lauten: „Wertschöpfung beginnt mit Wertschätzung“.12 In der Folge soll ein Spektrum von Merkmalen und Fähigkeiten angedacht werden, die in der Welt des globalisierten wirtschaftlichen Wettbewerbs einen quasi idealen, „reifen" Manager – also eine gereifte Führungspersönlichkeit, – ausmachen13 und so die zerstörerischen Potenzen eines zunehmend unerbittlichen Wettbewerbs innerhalb der Wirtschaft in nutzbringende Bahnen lenken können. Was sind die Kriterien dafür? Da ist vor allem einmal die soziale Kompetenz zu nennen. Darunter verstehen wir Personen, die zunächst einmal Gefühle und eigene Bedürfnisse sowie eigene Ängste zulassen können. Denn die Selbstentfremdung verhindert die Kommunikation, den Kontakt zu anderen Menschen wie Mitarbeitern, aber auch den Respekt vor dem Gegenüber. Dazu ist noch Dialog- und Teamfähigkeit notwendig, wozu nur entsprechend entwickelte Persönlichkeiten imstande sind. Denn diese Fähigkeiten haben ihre Grundlage im Einfühlungsvermögen in den Anderen, wodurch dessen Bedürfnisse wahrgenommen und respektiert werden können ebenso wie sein Anderssein. Verantwortungsvolles soziales Denken und Handeln setzt die Kenntnis der eigenen Bedürfnisse und den liebevollen Umgang mit diesen voraus, aber auch die Annahme der ungeliebten Seiten der eigenen Person. Darauf gründen die Bereitschaft zu Integration und die Vermeidung von Ausgrenzung. Die reife Führungskraft kann sich ohne Neid oder Misstrauen der Förderung der Mitarbeiter widmen, da sie diese und auch das Unternehmen nicht zur Inszenierung ihrer neurotischen Konflikte bzw. zur Selbstdarstellung missbraucht. Mut zu Eigenständigkeit und unkonventionellen Meinungsäußerungen ist gefragt. Weiters zeichnet die reife Managerpersönlichkeit fehlende Egozentrik aus, das heißt, diese muss nicht die eigene Person in den Mittelpunkt stellen, sondern sie kann sich innerlich auf Distanz begeben und (Selbst)Reflexion üben, um so auch der inneren Spaltung in Beruf und Privates zu begegnen. 12 13

Kobi, Die Macht der weichen Faktoren (2005), S. 165 ff. Zur Führungspersönlichkeit. Pichler, Fokus 10, Hinter den Kulissen ökonomischer Realität: Sehnsüchte, Leidenschaften und Wahnvorstellungen im Unternehmen 2005 (2001), S. 315 ff.

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Das sind in etwa die Vorstellungen und Anforderungen wie sie von Seiten der Tiefenpsychologie seit jeher an eine reife Persönlichkeit gestellt werden, insbesondere an Persönlichkeiten, die mit Führungsaufgaben betraut sind. Mittlerweile haben aber auch andere – wie es scheint – diese Fähigkeiten für sich entdeckt.14 Mit seinem Buch „Emotionale Intelligenz“ trat der amerikanische Wissenschaftsjournalist Daniel Golemann eine Lawine los.15 Diese Intelligenz sei nämlich für die Qualität der Soft Skills verantwortlich, das sind jene Fähigkeiten, die den Umgang mit Menschen und Entscheidungen betreffen. Im Gegensatz dazu seien die Hard Skills, das Fachwissen, bisher überbewertet worden. Die Begeisterung hat sich mittlerweile etwas gelegt, nachdem sich herausgestellt hat, dass es sich bei den gemachten Aussagen vielfach um Altbekanntes handelt und andere in ihrer Verschwommenheit sich wissenschaftlich nicht haben validieren lassen. Zudem hat erst in jüngerer Zeit die Hirnforschung klargestellt, dass Emotion und Intellekt, Gefühl und Verstand nicht isoliert betrachtet werden können. Besonders schlimm wird es aber, wenn einzelne Vertreter dieser Geisteshaltung behaupten, dass sich (zuvor nicht vorhandene) emotionale Intelligenz auch im späteren Leben noch vermitteln lasse. Im Gegensatz dazu haben Neurobiologen anhand der Stabilität des limbischen Systems (dort sind die Emotionen letztlich verankert) nachgewiesen, dass dies nicht möglich ist; ihre Erkenntnisse decken sich damit mit jenen der tiefenpsychologischen Entwicklungspsychologie. Emotionale Intelligenz, soweit sie überhaupt isoliert betrachtet werden kann, ist somit im späteren Leben nicht erlernbar, hingegen können Soft Skills bis zu einem gewissen Grad trainiert werden. Das gilt insbesondere dort, wo es sich um Fertigkeiten handelt, wie etwa Höflichkeit, Redegewandtheit, Zeitmanagement oder andere Fertigkeiten, wie sie das NeuroLinguistische-Programmieren (NLP) vermittelt.16 Was das Managern nicht selten angediente Laufen auf glühenden Kohlen angeht, so soll dieses, für den Fall, dass es unbeschadet überstanden wird, ein gewaltiges Glücksgefühl bewirken. Das kann man auch gut nachvollziehen; aus diesem Glücksgefühl resultiert die Überzeugung, unbesiegbar zu sein und diese Überzeugung erstreckt sich dann auch auf jene Personen, die sich ebenfalls diesem Gruppenritual unterworfen haben. Gefühlskälte gegenüber Untergebenen mag möglicherweise ein anderes Ergebnis sein. Aktuelle Emotionen werden hier für ein bestimmtes Ziel instrumentalisiert; mit einer Persönlichkeitsentwicklung – wie gerne behauptet wird – hat das nichts zu tun, schon eher mit Manipulation. Das lässt sich selbst für Laien erkennen, zumal alle diese Trainingsformen eines gemeinsam haben: Negative Gefühle werden nicht zugelassen.

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Instrumente und Rahmenbedingungen

Bevor wir uns einzelnen organisatorischen Voraussetzungen und Instrumenten zuwenden, mit denen in einer Organisation das Erzielen von Arbeitszufriedenheit möglich werden soll und kann, ein kurzer Blick auf die Bereitschaft von Menschen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Zweck produktiven und zielorientierten Handelns einzusetzen, konkret zu den Motiven dafür.17 Motive rufen Handlungen hervor und geben ihnen Energie und Richtung. Vorausset14 15 16 17

Jakob, Der praktische Nutzen von Psychologie für Manager (2005), S. 183 ff. Golemann, Emotionale Intelligenz (1996). Siehe dazu Braun, NLP – Eine Einführung. Kommunikation als Führungsinstrument (2004). Kühne, Motivation zu Arbeit und Leistung – psychologische Aspekte sozialen Handelns (2005), 47 ff.

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zungen für motivierte, zielgerichtete Handlungen sind die einer Person innewohnenden Fähigkeiten und Fertigkeiten ebenso wie die passende Situation oder Gelegenheit, um sie anwenden zu können. Außerdem muss die Person bereit sein, ihre Fähigkeiten einzusetzen, um ein Ziel zu erreichen. Menschen fühlen sich emotional angeregt von ihren Neigungen und Abneigungen und von bestimmten Reizen, und Aktivitäten stärker angezogen als von anderen. In der Regel gibt es in einer Person mehrere parallel wirksame Motivationstendenzen, von denen zumeist aber nur eine zielführend wirksam wird. Motive sind nicht zwingend bewusst. Eine Voraussetzung, die falls sie im positiven Sinn gegeben ist, viel beitragen kann zur Arbeitszufriedenheit, ist das Selbstverständnis einer Organisation, wir sprechen hier auch von Unternehmenskultur.18 Diese ist etwas Individuelles, Lebendiges und hat mit Augenmaß und in gewisser Weise mit Tradition zu tun. Es handelt sich dabei nicht um das Produkt eines einzelnen Managers, ein einzelner ist aber in der Lage sie zu ruinieren. Sie ist immer gegeben, von ihrer Berücksichtigung und Pflege hängt es ab, wie sie ausfällt. Im positiven Fall wirkt sie motivierend, orientierend und integrierend. Im negativen Fall kann sie Entwicklungen hemmen. Positive Kultur hilft, Komplexität zu reduzieren und erlaubt es den Mitgliedern, gegebene Ziele besser verwirklichen zu können. Vor ihrem Hintergrund wird klar, was wichtig ist und was nicht. Jede Aktivität in einer Organisation ist durch deren Kultur gefärbt und beeinflusst. Sie schafft durch gemeinsame Werte Ordnung und Orientierung und erlaubt damit Handlungen und Ereignisse zu deuten. Sie ist eine Führungshilfe für das Management und eine Orientierungshilfe für jeden Einzelnen. Auch Außenstehenden wird derart der Zugang erleichtert. Ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn es um das Sich-Einbringen in den Arbeitsprozess und um Arbeitszufriedenheit geht, sind der Inhalt und die Verbindlichkeit des sogenannten „psychologischen Arbeitsvertrags“.19 Der Arbeitsvertrag im klassischen Sinn umfasst eine vermögensrechtliche Austauschbeziehung, nämlich Leistung von Arbeit gegen Lohn. Die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geht aber weit über diese rechtliche Beziehung hinaus, sie beinhaltet auch einen psychologischen Vertrag, der mit gegenseitigen Erwartungen und Annahmen verbunden ist. Psychologische Verträge existieren meist nur im Kopf der einen oder anderen Partei. Die darin enthaltenen Erwartungen werden selten explizit ausgesprochen. Der Inhalt eines solchen Vertrags lässt sich auch nicht einklagen. Grundlage des psychologischen Vertrags ist ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Für bestimmte Leistungen werden meist implizit Gegenleistungen versprochen, die als adäquat empfunden werden. Das „gerechte“ Austauschverhältnis oder das in der frühen Sozialisierung erlernte Prinzip der Reziprozität ist die Voraussetzung zufriedenstellender Arbeitsbeziehungen. Nicht selten bricht heutzutage aber die Basis des psychologischen Arbeitsvertrags weg, er verändert sich grundlegend, wenn aufgrund ständiger Umstrukturierungen, Verschlankungsbemühungen und Entlassungen Kontinuität und Erwartungssicherheit nicht mehr gegeben sind. Die Auswirkungen dieser Entwicklung werden gerne ignoriert. Wenn das Unternehmen die Beschäftigungssicherheit nicht mehr zusichert, fühlt sich auch der Arbeitnehmer nicht mehr gebunden. Die Spielregeln müssen neu definiert werden. Es braucht dringend ein neues Gleichgewicht. Unternehmen und Mitarbeiter müssen ihre „geheimen“ Erwartungen und Interessen offen legen und einen neuen Vertrag aushandeln. Ein möglicher Ansatz ist es, dem 18 19

Vgl. dazu „Organisationskultur“ bei Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Organisationskultur. Siehe Kobi, a. a. O.

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allgemeinen Orientierungs- und Identifikationsverlust wieder klare Werte entgegenzusetzen. Auch ein differenziertes Eingehen auf verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern, auf Ältere und auf Jüngere etwa, ist hier zu nennen. Neben besonderen Maßnahmen der Personalentwicklung könnten vermehrte Wertschätzung und Solidarität wichtigere und geschätzte Attribute werden und auch eine Profilierungsmöglichkeit für das Unternehmen darstellen. Ein bedeutsames, psychologisch begründbares und fundiertes Instrument, das – bei entsprechenden Voraussetzungen und richtig angewandt – sich in einem besonderen Maß eignet, Arbeitszufriedenheit nachhaltig zu ermöglichen, stellt das Führen von Mitarbeitern einer Organisation durch Zielvereinbarung (Management by Objectives) dar.20 Zweck dieses Verfahrens ist es, die strategischen Ziele des Gesamtunternehmens und der Mitarbeiter umzusetzen, indem Ziele für jede Organisationseinheit und auch für die Mitarbeiter gemeinsam festgelegt werden. Diese Ziele sollen spezifisch (der richtige Mann am rechten Ort), messbar, erreichbar und realistisch (keine Unter- und keine Überforderung) sowie terminiert sein. Aus der Summe der Einzelziele sollen sich dann die Unternehmensziele zusammensetzen. Die Mitarbeiter sollen ihre tägliche operative Arbeit an ihren Zielen ausrichten und so im Sinne der Strategie der Gesamtorganisation arbeiten. Wenn die Vorgesetzten die Leistung ihrer Mitarbeiter beurteilen, prüfen sie, inwieweit die Mitarbeiter ihre vereinbarten Ziele erreicht haben. Der tiefere Sinn dieser Vorgangsweise besteht nun darin, Mitarbeiter zu motivieren und ihre Kreativität freizusetzen, um auf diese Weise Unternehmensziele effektiver zu erreichen. Nach dem Ende der vereinbarten Laufzeit für die Zielerreichung kommen Mitarbeiter und Führungskraft erneut zusammen, besprechen den Grad der Umsetzung der Ziele, zwischenzeitig eingetretene Entwicklungen und meist auch die Ziele für die kommende Periode. So schön sich das Ganze anhört, der Teufel steckt im Detail. Dass derartige Unternehmungen scheitern, kann insbesondere seinen Grund in dem Umstand haben, dass es enorm aufwändig und zeitintensiv ist, Ziele soweit zu durchdenken, zu planen, auszuarbeiten, zu diskutieren und zu präzisieren, bis sie wirklich realistisch und umsetzbar sind. Aber auch der Umstand, dass aus einem an sich einfachen Prinzip ein komplexes bürokratisches System entsteht. Die Vereinbarung zu vieler Ziele stellt hier ebenfalls ein Problem dar. Ein Problem, das insbesondere die Arbeitszufriedenheit betrifft, finden wir in der oft fehlenden materiellen Gratifikation der Mitarbeiter. So positiv gemeinsame Entscheidungsfindung, gute zwischenmenschliche Beziehungen am Arbeitsplatz und Belobigungen wahrgenommen werden, materielle Zuwendungen sind zwar nicht alles, sie werden aber erwartet. In unserem Kulturkreis gehört es zur frühen Sozialisierung, dass Leistung materiell belohnt wird; das beginnt schon in der Elementarschule, wenn das brave Kind ein gutes Zeugnis nach Hause bringt. Geld motiviert, erfahrungsgemäß gilt dies besonders für die niedrig und die sehr gut Verdienenden. Übrigens, bei allen Gratifikationen, seien es materielle oder soziale, sollte immer „etwas Luft nach oben oder auf die Seite“ bleiben, denn bei aller gewünschter Kontinuität darf Zufriedenheit nicht eintönig werden. Sind die Probleme weitgehend ausgeräumt, wird das „Führen mit Zielen" zu einem wirksamen und effizienten Führungsinstrument, dessen Vorteile auf der Hand liegen: Durch die gemeinsame Entscheidungsfindung sind die Ziele von allen gewollt. Ziele werden von allen gemeinsam und sich gegenseitig unterstützend umgesetzt. Dadurch vergrößert sich der Erfolg. Eine Zielvereinbarung erhöht dann trotz eines hohen persönlichen und organisatorischen Aufwands deutlich die Mitarbeiterzufriedenheit. 20

Vgl. „Management by Objectives“ bei Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Management_by_Objectives.

Personalmanagement und Nachhaltigkeit: Psychosoziologische Überlegungen

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Zusammenfassung

Fassen wir zusammen: Die Idee von nachhaltiger Arbeitszufriedenheit lässt sich realisieren, wie so etwas im Einzelnen aussehen kann, zeigt uns Ciskzentmihályi, einen Weg dahin kann uns, neben anderen Voraussetzungen, Management by Objectives eröffnen. Dass dieses Instrument nicht einfach zu handhaben ist, ist bekannt. Neben sozialer Anerkennung sollte auch der Stellenwert materieller Gratifikation nicht unbeachtet bleiben. Im Problemfall neue Maschinen anzuschaffen ist zwar eine beliebte, nicht immer aber die richtige Lösung. Ein durch seine Mitarbeiter prosperierender Betrieb bringt die Mittel für Gratifikationen allemal herein. Auch der Staat sollte hier nicht zurück stehen. Wie man hört, sollen in Griechenland frustrierte Beamte gelegentlich „vergessen“ staatliche Gebühren bei den Bürgern einzuheben. Ein grundsätzlicher Gedanke noch zu den angestellten Überlegungen: Fällt der Tischler an der Ecke mit zwei Gesellen und einem Lehrling auch unter diese, oder nur Betriebe mit eigenem Betriebsrat, oder solche mit eigener Personalabteilung oder betreffen sie nur börsennotierte Unternehmen? Prinzipiell können sie angewendet werden im Hinblick auf alle Organisationen und Betriebe, unabhängig von deren Betriebsgröße, schließlich handelt es sich bei der Arbeitszufriedenheit, im Besonderen um nachhaltige Arbeitszufriedenheit, um einen elementaren Wert für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Das Motto „Wertschöpfung beginnt mit Wertschätzung“ gilt durchgängig, auch wenn beim Tischler um die Ecke die Vereinbarung von Betriebszielen etwas weniger aufwändig ausfallen wird. Ab einer Betriebsgröße von etwa 20 Mitarbeitern sollten die Überlegungen aber voll greifen können.

Literatur Beardwell, I./Holden, L.: Human Resource Management. A Contemporary Approach, 4. Aufl., London 2004. Braun, R.: NLP – Eine Einführung. Kommunikation als Führungsinstrument, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. Ciskzentmihályi, M.: Flow: Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 2001. Freud, S.: GW XIV, 1930. Gawelleck, U.: Erkenntnisstand, Probleme und politischer Nutzen der Arbeitszufriedenheitsforschung, Frankfurt a. M. 1987. Golemann, D.: Emotionale Intelligenz, deutsch erstmalig, München 1996. Hofstätter, P. R.: Bedingungen der Zufriedenheit, Zürich 1986. Jakob, R.: Der praktische Nutzen von Psychologie für Manager, in: Rehbinder, M. (Hrsg.): Psychologische Aspekte im Recht der Personalführung, Bern 2005. Kobi, J.-M.: Die Macht der weichen Faktoren, in: Rehbinder, M. (Hrsg.): Psychologische Aspekte im Recht der Personalführung, Bern 2005. Kühne, A.: Motivation zu Arbeit und Leistung – psychologische Aspekte sozialen Handelns, In: Rehbinder, M. (Hrsg.): Psychologische Aspekte im Recht der Personalführung, Bern 2005. Pichler, W.: Fokus 10, Hinter den Kulissen ökonomischer Realität: Sehnsüchte, Leidenschaften und Wahnvorstellungen im Unternehmen 2005, in: Kyrer, A. (Hrsg.): Neue Politische Ökonomie 2005, München 2001.

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Raimund Jakob

Salzburger Nachrichten (täglich) vom 10.09.2011, S. 21 f. (Inserat der REWE Group). Waschulewski, U.: Arbeitszufriedenheit als psychologisches Konstrukt, in: Rehbinder, M. (Hrsg.): Psychologische Aspekte im Recht der Personalführung, Bern 2005. Arbeitsklima Index, in Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsklima_Index [25.09.20011]. Management by Objectives, in Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Management_by_Objectives [25.09.2011]. Nachhaltigkeit, in Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Nachhaltigkeit [25.09.2011]. Organisationskultur, in Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Organisationskultur [25.09.2001].

Verantwortungsreduzierung durch Institutionalisierung? Silvia Augeneder

1

Einleitung

Entsprechend Kants abgewandelter Goldener Regel als Handlungsmaxime „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ könnte die Diskussion rund um Führung und Ethik rasch beendet sein, hielte man sich daran. Doch die Realität belehrt uns eines besseren!1 Steigende Arbeitslosenzahlen, Finanzkrisen, ein größerer Konkurrenzdruck aufgrund von Fusionen, Globalisierung u. v. a. m. bewirken, dass der Mitarbeiter immer mehr Mittel zum Zweck wird. Ziel dieser Arbeit ist ein kurzer Aufriss der wichtigsten Führungsmerkmale Macht und Verantwortung in einem von Asymmetrie gekennzeichneten Verhältnis, ein kurzer Einblick zur Führungsethik nach Ulrich, der Ausbau institutioneller Rahmenbedingungen in Unternehmen (neben Gesetzen in Form von Leitbildern, Verhaltenskodizes, Nachhaltigkeitsberichterstattung, CSR Reporting, Whistleblowing-Richtlinien) bzw. das Aufzeigen einer Verlagerung der Verantwortung vom Unternehmen wie auch den Führungskräften hin zu den Mitarbeitern durch Institutionalisierungsbestrebungen.

2

Merkmale der Führung

Ausgangsbasis des zumindest zweipersonalen Verhältnisses im Rahmen der Führung ist eine asymmetrische Rollen- und Machtverteilung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Trotz eventuell flacher Strukturen in Unternehmen sind aufgrund komplexer, arbeitsteiliger Vorgänge hierarchisch bedingte Weisungsbefugnisse charakteristisch im Rahmen der Führung. Eben das Vorliegen dieser hierarchischen, asymmetrischen Relation erhebt die Führungsethik zum Gegenstand der (ethischen) Betrachtungen.2

1

2

Nienhaus, Wirtschaftskrise (2009), http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/wirtschaftskrise-dieangst-um-den-arbeitsplatz-waechst-1926021.html; siehe auch Chen, The Role of Ethical Leadership (2010), S. 33. Vgl. Ulrich, Führungsethik, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 4.1 (2009), S. 230; Saam, Prinzipale, Agenten und Macht (2002), S. 139 ff.

326

2.1

Silvia Augeneder

Macht

Untrennbar mit Führung verbunden ist das Vorhandensein von Macht, ein alltägliches Phänomen3, das im unternehmerischen Alltag als Instrumentarium zur Durchsetzung von Zielen angewandt und eingesetzt wird. Die geläufigste Definition nach Weber umschreibt Macht als „…jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“4 Relevant ist im Unternehmen, in einer Behörde oder auch NGO die zwischen dem Machthaber (Führungskraft) und dem Machtuntergebenden vorliegende Relation im Sinne einer sozialen Beziehung. Gleichzeitig ist sie als potentielle5 Macht einzustufen, insofern die Möglichkeit besteht, Macht auszuüben, unabhängig davon, ob diese Chance auch tatsächlich genutzt wird. Die Durchsetzung des eigenen Willens des Machthabers umfasst jedoch nicht nur bewusste, sondern auch nicht abschätzbare, ungewollte Folgen der Machtausübung. Dass Macht auch gegen das Widerstreben des Einzelnen eingesetzt werden kann, verdeutlicht im Umkehrschluss, dass Konflikte und Widerstreben keine notwendige, jedoch mögliche Voraussetzung des Machtbegriffs darstellen.6 Relationale Macht – unter Einbeziehung des Machtadressaten – kann entsprechend der Typologien nach French/Raven folgende Ressourcen aufweisen: Belohnung, Bestrafung, Legitimation, Identifikation und Wissen.7 Macht durch Belohnung wird vom Machtuntergebenen als positiv empfunden und die Führungskraft verfügt über Ressourcen, um beispielsweise Lohnerhöhungen, Prämien, Gewinnbeteiligungen, Lob, Auszeichnungen u. v. a. umzusetzen. Hingegen wird Macht durch Bestrafung vom Mitarbeiter als negativ wahrgenommen und kann in unterschiedlichster Form wie beispielsweise Versetzung, Entlassung, Zuteilung unangenehmer Arbeiten, Lohnkürzung, Urlaub zu ungünstigen Zeiten verfügt werden. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Grenze zwischen Belohnungs- und Bestrafungsmacht nicht eindeutig gezogen werden kann, nach French/Raven ist der Fokus auf das subjektive Bewusstsein des Machtunterlegenen auszurichten.8 Macht durch Legitimation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Innehabung einer gewissen Position (formale Legitimationsmacht), allgemein anerkannte Normen (normbasierte Legitimationsmacht) oder internalisierte Werte Grundlagen der Machtausübung sein können. Die Führungskraft besitzt aufgrund der internalisierten Werte des Mitarbeiters das legitime Recht, ihn zu beeinflussen bzw. der Machtunterworfene anerkennt und akzeptiert die Einflussnahme. Normen, wie etwa explizite Handlungsanweisungen in Verhaltenskodizes, können

3 4 5 6 7

8

Strecker, Macht, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie (2008), S. 751. Weber, Soziologische Grundbegriffe (1984), S. 89. Saam, Prinzipale, Agenten und Macht (2002), S. 147. Vgl. Martin, Organizational Behaviour – Verhalten in Organisationen (2003), S. 143. French/Raven, Social Power (1959), zit. n. Sandner, Prozesse der Macht: zur Entstehung, Stabilisierung und Veränderung der Macht von Akteuren in Unternehmen (1992), S. 16 ff.; Martin, Organizational Behaviour – Verhalten in Organisationen (2003), S. 155 ff. French/Raven, Social Power (1959), zit. n. Sandner, Prozesse der Macht: zur Entstehung, Stabilisierung und Veränderung der Macht von Akteuren in Unternehmen (1992), S. 18.

Verantwortungsreduzierung durch Institutionalisierung?

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eine weitere nicht unwesentliche Machtgrundlage in diesem Zusammenhang darstellen und zur Machtausübung legitimieren.9 Macht durch Identifikation fokussiert am Vorbild der Führungskraft (Gefühl des Einsseins), an einer positiven Bezugsperson als Orientierungsgröße (der Wunsch und das Streben nach einer solchen Identität), was sich anhand der Übernahme von Vorlieben, Handlungsweisen oder Wertmustern des Machthabers durch den Mitarbeiter bemerkbar macht. Im Rahmen der Experten- und Informationsmacht wird dem Machthaber Expertenwissen aufgrund seiner Position oder anhand konkreter Erfahrungen im ersteren Fall zugeschrieben (Macht durch Sachkenntnis), hingegen ist Informationsmacht unabhängig von der Person des Machthabers auf den Inhalt und die Weitergabe der Information ausgerichtet. Als weitere Form von Wissensmacht gilt das zufällig erlangte, negativ einsetzbare Wissen, das eine Machtausübung insofern ermöglicht, als Druck ausgeübt werden kann, die negativen Informationen nur unter bestimmten Bedingungen nicht weiter zu geben.10 Wie Popitz treffend anführt, verhelfen Institutionalisierungen (wie z. B. auch Verhaltenskodizes) der Macht zu einer quasi-objektiven Bedeutung, indem Machtpositionen entstehen, die unabhängig vom Machtinhaber Bestand haben (Entpersonalisierung des Machtverhältnisses). Verfahrensregeln können dazu verwendet werden, die Ausübung von Macht in einen Erwartungsrahmen zu fügen (Formalisierung), Verknüpfungen mit sozialen Gefügen herzustellen und das Machtzentrum in eine umfassende Ordnung einzufügen (Integrierung des Machtverhältnisses in eine übergreifende Ordnung).11 Diese Art von institutionalisierter Macht bewirkt im Zusammenhang mit der Entpersonalisierung, der Formalisierung und der Integrierung eine Stabilität und Konstanz von Macht.12 Ein weiteres Kennzeichen neben der Macht im Führungsprozess stellt das Element der Verantwortung dar, die im Weiteren abgehandelt wird.

2.2

Verantwortung

„Die Verantwortung ist die Pflicht zur Antwort auf die Frage, ob die gestellte Aufgabe auch zielentsprechend erfüllt wurde.“13 Dieser organisationstheoretische Verantwortungsbegriff kann allgemein und weiter betrachtet bedeuten, dass man bereit oder genötigt ist, sich zu verantworten – jemandem auf etwas zu antworten.14 Verantwortung kann jedoch nur dann vorliegen, wenn ein Entscheidungsspielraum und ein Verantwortungsbereich gegeben sind. Unter dem Begriff der Entscheidung wird dabei die bewusste Wahl zwischen Alternativen verstanden und bedeutet, dass der Entscheidungsträger mindestens zwei Handlungsmöglichkeiten besitzt. Ausgeschlossen ist dabei intuitives wie auch instinktives Verhalten, da die Auswahl bewusst vorgenommen wird. Dieser Entscheidungsfindungsprozess beinhaltet nach 9

10 11 12 13 14

French/Raven, Social Power (1959), zit. n. Sandner, Prozesse der Macht: zur Entstehung, Stabilisierung und Veränderung der Macht von Akteuren in Unternehmen (1992), S. 18 f.; Martin, Organizational Behaviour – Verhalten in Organisationen (2003), S. 157 f. Martin, Organizational Behaviour – Verhalten in Organisationen (2003), S. 159 f.; Saam, Prinzipale, Agenten und Macht (2002), S. 155 f. Popitz, Phänomene der Macht (2004), S. 4 u. S. 233 f. Popitz, Phänomene der Macht (2004), S. 234. Hauschildt, Verantwortung, in: Kieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Führung (1995), S. 2096. Lenk, Verantwortung und Gewissen des Forschers, in: Neumaier (Hrsg.), Wissen und Gewissen (1986), S. 38.

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Küpper Phasen der Zielbildung, Problemfeststellung, Alternativensuche, Prognose der Entscheidungskonsequenzen, Alternativenbewertung und den Entscheidungsakt.15 Gleichzeitig steigt mit den Handlungsmöglichkeiten die Macht, wie auch das Maß an Verantwortung.16 Verantwortung bezieht sich auf eine Handlung oder die Wirkung eines Handelns, bedarf eines handelnden Subjektes und wird von einer Instanz eingefordert.17 Verantwortung besteht somit nicht nur für etwas (Handlung bzw. deren Folgen), sondern auch gegenüber einem Adressaten und vor einer Instanz.18 Verantwortung kann für sich selbst, das Handeln anderer Personen (wie beispielsweise als Führungskraft für seine Mitarbeiter) und für Sachverhalte (Umwelt, gesellschaftliche Strukturen) jedweder Art übernommen werden.19 Die vier Dimensionen des Verantwortungsbegriffs differenzieren eine Handlungs(ergebnis)verantwortung, eine Aufgaben- und Rollenverantwortung, eine universalmoralische Verantwortung und eine rechtliche Verantwortlichkeit. Diese existieren nicht gesondert voneinander, sondern überschneiden sich bzw. sind überlappend. Es kann eine Führungskraft aufgrund ihrer Position verantwortlich sein für die getätigte Entscheidung, die gleichzeitig rechtlich und moralisch gerechtfertigt erscheint, so z. B. die Entlassung eines Mitarbeiters, der beharrlich seine Arbeitsleistung verweigert. Konflikte entstehen vorwiegend bei mehr oder weniger Vorliegen dieser Überschneidungen der vier Dimensionen.20 Die Handlungs(ergebnis)verantwortung, oder auch Kausalhandlungsverantwortung genannt, umfasst eine Verantwortlichkeit der eigenen Handlung inklusive deren Folgen, indem die kausalen Konsequenzen des eigenen Handelns dem verantwortlich Handelnden retrospektiv zugerechnet werden. Mitumfasst ist jedoch auch die Verantwortungsübernahme für das Handeln anderer (Fremdverantwortung im Sinne einer Führungs-, Veranlassungs- und Befehlsverantwortung21), wie eben im Verhältnis der Führungskraft zu seinen Mitarbeitern.22 Die Handlungsverantwortung erfährt eine Konkretisierung durch die Aufgaben- und Rollenverantwortung bzw. durch deren rechtlicher und moralischer Ausgestaltung. Unter der Rollenverantwortung wird nicht nur die formelle Verantwortung im Rahmen einer Institution, sondern auch die vertragliche Rolle im Sinne eines rechtlichen bzw. vertraglich-beruflichen Verantwortlichseins verstanden.23 In diesem Zusammenhang ist die von Ulrich konzipierte Verantwortungslücke anzuführen, die durch ein Dilemma der betriebswirtschaftlich-organisatorischen, und damit begrenzten Rollenverantwortung einer Führungskraft im Verhältnis zur ethisch-unbegrenzten Bürgerver15

16 17 18 19 20 21 22 23

Küpper, Entscheidung und Verantwortung, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 3 (2009), S. 40; siehe auch Küpper, Unternehmensführung und Ethik, in: Wagner (Hrsg.), Private und öffentliche Rechnungslegung, (2009), S. 227. Küpper, Entscheidung und Verantwortung, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 3 (2009), S. 46. Mittelstraß, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4 (1996), S. 499. Verantwortung als Relationsbegriff, siehe Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11 (2001), S. 569 f. Küpper, Entscheidung und Verantwortung, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 3 (2009), S. 39 ff. Lenk, Wissenschaftsethik, in: Pieper/Turnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (1998), S. 299. Küpper, Entscheidung und Verantwortung, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 3 (2009), S. 44. Lenk, Wissenschaftsethik, in: Pieper/Turnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (1998), S. 299 f. Lenk, Wissenschaftsethik, in: Pieper/Turnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (1998), S. 300 f. Hinsichtlich der vertraglichen Verantwortung siehe auch Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1992), S. 178 ff. Umfassende Ausführungen zur Aufgaben- und Rollenverantwortung siehe Lenk, Über Verantwortungsbegriffe, in: Lenk/ Ropohl (Hrsg.), Technik und Ethik (1993), S. 118 ff.

Verantwortungsreduzierung durch Institutionalisierung?

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antwortung gekennzeichnet ist. Die Teilverantwortung im Rahmen organisatorisch eingegrenzter Aufgaben und Rollen (Kompetenzen, arbeitsvertragliche Verpflichtungen, Zielvorgaben), primär ergebnisorientiert, kann in Konflikt geraten mit der moralischen Integrität bzw. der ethischen Verantwortung, die sich prinzipiell unbegrenzt auf alle Folgen eigenen Handelns samt deren Nebenwirkungen auf andere bezieht.24 Verantwortung als das Einstehenmüssen für vorhersehbare Folgen25 kann – für wirtschaftliche Entscheidungen typisch sind nicht vorhersehbare Folgen – nicht mit dem Argument unvollkommener Informationen ausgeschlossen werden. Verantwortliche Entscheidungsfindung bedeutet auch, sich Informationen und Erkenntnisse zu beschaffen, diese zu analysieren, Grenzen der Informationen zu eruieren und Alternativen miteinzubeziehen. Die Frage der Risikoübernahme im Zusammenhang mit unvollkommenen Informationen spielt im Entscheidungsprozess eine wichtige Rolle. Die Frage, wer das Risiko bei unvollkommenen Entscheidungen trägt, bedeutet, eine akzeptable und von Entscheidungsträgern zu rechtfertigende Risikoverteilung zu schaffen, die im Entscheidungsprozess integriert sein sollte und durch institutionelle Rahmenbedingungen unterstützt werden kann.26 Derartige institutionelle Rahmenbedingungen mit expliziten Regelungen hinsichtlich des Verantwortungs- und Aufgabenbereichs, Zuständigkeiten und Kompetenzen bzw. diversen Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis können neben Arbeitsverträgen vor allem auch in Verhaltenskodizes beinhaltet sein, die in der wirtschaftlichen Praxis immer öfter herangezogen werden. Implizit können sich weitere Verantwortungsbereiche auch aus Versprechen in Form von psychologischen Verträgen zwischen Mitarbeitern und Führungskraft ergeben, die gewisse Unbestimmtheiten und Unsicherheiten aus den zuvor genannten formalen Verträgen reduzieren helfen können. Eine Verletzung derartiger Versprechen, die in der Arbeitswelt eher den Normalfall darstellen, können laut Brink jedoch moralphilosophische wie ökonomische Implikationen aufweisen. Resultate einer derartigen Vertragsverletzung könnten auf Seiten des Mitarbeiters Arbeitsunzufriedenheit, bewusste Arbeitsvernachlässigung oder Schädigung des Unternehmens, höhere Korruptionsanfälligkeit, geringeres Job Commitment, höhere Wahrscheinlichkeit eines Arbeitsplatzwechsels, stärkere Arbeitsbelastung, Anreiz für Whistleblowing, Resignation, innere Kündigung und beispielsweise stärkere Müdigkeitserscheinung sein.27

3

Führungsethik

Ulrich bezeichnet die Führungsethik als kritisch-normative Reflexion, wie die Beziehungen zwischen den Vorgesetzten als Führungskräfte im Verhältnis zu den Untergebenen (Mitarbeitern) in hierarchischen Strukturen menschenwürdig und fair gestaltet werden sollen. Von Relevanz sind Fragen der Legitimation, der Begrenzung und der verantwortungsvollen Ausübung der Weisungsbefugnisse von Führungskräften, die der unantastbaren personalen Wür24 25 26 27

Ulrich, Führungsethik: ein grundrechteorientierter Ansatz (1995), S. 15 ff. Rohpol, Technikethik, in: Pieper/Turnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (1998), S. 272. Küpper, Entscheidung und Verantwortung, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 3 (2009), S. 48 f. Brink, Führung und die implizite Moral des Versprechens, in: Meier/Sill (Hrsg.), Führung. Macht. Sinn. (2010), S. 229 ff.

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den der Geführten entsprechen sollen.28 Diese grundrechteorientierte Betrachtungsweise soll die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte in der Arbeitswelt integrieren und verankern. Das Dilemma der Führungsethik manifestiert sich – bedingt durch das asymmetrische Verhältnis in hierarchischen Organisationen – in der Differenzierung des Mitarbeiters als Objekt und Rollenträger (der Mensch als Mittel zum Zweck) und andererseits als Subjekt (der Menschen als Zweck an sich). Zur Verwirklichung von Unternehmenszielen29 bedient sich die Organisation der Mitarbeiter, die mit ihren Arbeitsleistungen als Humanressource bzw. Produktionsfaktor zum Objektcharakter werden. Nichts desto trotz soll der Mensch in der Arbeitswelt nach Ulrich nicht zum bloßen Objekt totaler Fremdbestimmung degradiert werden, da immer auch dessen Subjektcharakter und Menschenwürde zu wahren ist.30 Um Mitarbeiter nicht zum Objekt zu degradieren bzw. menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen, beruht die Legitimation von Führung im Verhältnis des Mitarbeiters zur Führungskraft auf dem Einverständnis bzw. dem Konsens des Mitarbeiter zu derartigen Führungsmaßnahmen und bedingt einerseits eine vertragliche Festlegung der Weisungsbefugnisse mit einer gleichzeitigen Limitation. Die Verfügungsmöglichkeiten sind auf jene Pflichten und Funktionen des Mitarbeiters beschränkt, die unter anderem im Arbeitsvertrag oder beispielsweise in Verhaltenskodizes näher erläutert bzw. schriftlich fixiert wurden.31 Weitere Ausführungen hinsichtlich der Legitimation von Unternehmen selber wie auch von Führungskräften im Verhältnis zu Mitarbeitern siehe im nachfolgenden Kapitel.

4

Institutionelle Rahmenbedingungen der Führung

4.1

Institutionalisierung – Legitimierung

Auf Unternehmensebene kommen neben gesetzlichen Vorschriften als externe Rahmenbedingungen intern erstellte Unternehmensleitbilder, Verhaltenskodizes, Nachhaltigkeitsberichte oder beispielsweise CSR-Reportings (auch Social Reporting, Sustainability Reporting genannt) als Institutionalisierungs- und Legitimierungsmöglichkeiten in Frage. Im Zuge dieser Arbeit ist der Fokus des Ausbaus institutioneller Rahmenbedingungen in Unternehmen auf den „Verhaltenskodex im engeren Sinn“32 (Unternehmenskodex) gerichtet, der sich lediglich auf unternehmensinterne Personen (Mitarbeiter, Manager oder andere Berufsgruppen innerhalb eines Unternehmens) bezieht, vom Unternehmen selbst generiert wird und die ethischen Standards einer Organisation widerspiegelt.33

28 29

30 31 32 33

Ulrich, Führungsethik: ein grundrechteorientierter Ansatz (1995), S. 1. Siehe in diesem Zusammenhang auch Bröckling, Das unternehmerische Selbst (2007), S. 111 ff.; der Unternehmer als Nutzer von Gewinnchancen, als Innovator, als Träger von Risiken, als Koordinator und als mit Ratio ausgestatteter Unternehmer. Ulrich, Führungsethik, in: Korff (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 4.1 (2009), S. 234 f. Ulrich, Führungsethik, in: Kieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Führung (1995), S. 564 f. Augeneder, Sinn und/oder Unsinn von Verhaltenskodizes, in: Dimmel/Pichler (Hrsg.), Governance – Bewältigung von Komplexität in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik (2009), S. 385. Siehe diesbezüglich die Definition der OECD von Codes of Corporate Conduct als „commitments voluntarily made by companies, associations or other entities, which put forth standards and principles for the conduct of business activities in the marketplace“; OECD, Codes of Corporate Conduct: Expanded Review of their Contents, OECD Working Paper on International Investment, Number 2001/6, OECD Publishing, 10.1787/206157234626.

Verantwortungsreduzierung durch Institutionalisierung?

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Die jeweiligen Institutionalisierungen von Rahmenbedingungen in Unternehmen können als eine Form der Legitimierung für das Unternehmen per se, aber auch für Führungskräfte angesehen werden. Diese Legitimierungsfunktion, die im Regelfall mit einer Außenwirkung ausgestattet ist, dient den Unternehmen dazu, sich als Teil der Gesellschaft zu präsentieren bzw. ihre Existenz zu rechtfertigen.34 „…a company’s survival is dependent on the extent that the company operates within the bounds and norms of [the] society … and has to demonstrate that its actions are legitimate and that it behaved as a good corporate citizen.“35 Legitimität gilt soziologisch betrachtet als allgemeine Bezeichnung dafür, dass neben Herrschenden und politischen Bewegungen auch Institutionen wie Unternehmen aufgrund ihrer Übereinstimmung mit Gesetzen, Verfassungen, Prinzipien oder Leistungsfähigkeit für allgemein anerkannte Ziele akzeptiert, positiv bewertet und für rechtmäßig gehalten werden.36 Mit der Entwicklung von formalen Strukturen (wie eben Verhaltenskodizes, Reportings), die mit sozialen Normen, Werten und gesellschaftlichen Vorstellungen übereinstimmen, demonstrieren Unternehmen ihre soziale Verantwortlichkeit anhand interner organisatorischer Prozesse und Strukturen.37 Talaulicar formuliert dieses Ziel dahingehend, als Unternehmen durch Kodizes ihre Akzeptanz bei gesellschaftlichen Anspruchsgruppen stärken, indem „ordnungsgemäß geführte und sozial verantwortliche Unternehmen über derartige Grundsatzdokumente verfügen“38. Etwas weniger positiv fallen die Argumente bei Hooghiemstra aus, die anführt, dass großteils vorbelastete Wirtschaftsbereiche (wie z. B. die Ölindustrie, Chemiebranche, Papierindustrie) von derartigen Instrumenten Gebrauch machen. Im Zuge der Legitimitätstheorie werden vier mögliche Strategien als Gründe aufgelistet: (1) Informationen für Stakeholder bezüglich der Absichten, den sozialen Auftritt der Unternehmung zu verbessern, (2) Beeinflussung der Stakeholder hinsichtlich gewisser negativer Auswirkungen, ohne entsprechende Handlungen zu setzen oder das Verhalten abzuändern, (3) Ablenkung von legitimitätsbedrohenden Handlungen durch das Setzen positiver Anreize, die nicht unmittelbar in einem Zusammenhang stehen müssen und (4) der Versuch, die Erwartungen von Externen/Stakeholdern zu beeinflussen.39 Verhaltenskodizes dienen jedoch nicht nur der Legitimierung des Unternehmens nach außen, im Innenverhältnis kann der Umgang der Mitarbeiter untereinander, aber auch das Verhältnis der Führungskraft zum Mitarbeiter durch Festlegung der Verantwortungsbereiche, Kompetenzen und Weisungsmöglichkeiten geregelt werden. „Codes of conduct … serve as a good marketing, recruiting, and public relation tool, but their main goal is to influence employee behavior.“40 34 35 36 37 38 39

40

Talaulicar, Unternehmenskodizes: Typen und Normierungsstrategien zur Implementierung einer Unternehmensethik (2006), S. 131; Hooghiemstra, Corporate Communication and Impression Management (2000), S. 56. Hooghiemstra, Corporate Communication and Impression Management (2000), S. 56. Fuchs-Heinritz (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie (2007), S. 391. Siehe diesbezüglich auch Karmasin/Litschka, Wirtschaftsethik – Theorien, Strategien, Trends (2008), S. 164. Talaulicar, Unternehmenskodizes: Typen und Normierungsstrategien zur Implementierung einer Unternehmensethik (2006), S. 132. Hooghiemstra, Corporate Communication and Impression Management (2000), S. 56. Siehe auch Huhtala/Feldt/ Lämsä/Mauno/Kinnunen, Does the Ethical Culture of Organisations Promote Managers’ Occupational WellBeing? (2011), S. 231: „Ethicality ... has become a competitive asset to organisations that is made public through value statements, ethical codes, reporting and declarations. However, this external image seldom comprises the actual behaviours and actions that take place within the organisation.“ Petersen/Krings, Are Ethical Codes of Conduct Toothless Tigers (2009), S. 503.

332

4.2

Silvia Augeneder

Verantwortungsverlagerung?

Die möglichen Inhalte, Verantwortungsbereiche bzw. Adressaten von Verhaltenskodizes können sehr unterschiedlich ausfallen, abhängig vom Geschäftsfeld, der Internationalität oder beispielsweise Größe des jeweiligen Unternehmens. Der Prozess der Zurechenbarkeit von Handlungen in Organisationen ist mit den jeweiligen Verantwortungsbereichen der Mitglieder des Unternehmens (Führungskräfte wie auch Mitarbeiter) in Verbindung zu bringen. Verhaltenskodizes, die die jeweiligen Verantwortungsbereiche beispielsweise nach materiell konkretisierten Inhalten festlegen, können nach Talaulicar anhand von im Namen bzw. gegen das Unternehmen gerichtete Verhaltensweisen unterschieden werden. Als Verhaltensweisen im Namen des Unternehmens werden sämtliche Regelungen, die sich auf die Beziehung zu Stakeholdern, Aspekten der Produktqualität und -sicherheit, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, Spenden oder Bestechungsgelder beziehen, verstanden. Verhaltensweisen, die gegen das Unternehmen gerichtet sind, stellen Interessenskonflikte, der Schutz vertraulicher Informationen, Insidergeschäfte oder die Richtigkeit von Rechnungslegungen dar. Talaulicar führt weiters aus, dass Verhaltenskodizes vorwiegend zum Schutz des Unternehmens, nicht jedoch den Rechten der Mitarbeiter dienen.41 „Codes usually tell the employee what he or she is not permitted to do, but they seldom spell out worker rights.“42 Festgelegt werden jedoch nicht nur Verbote, sondern weitere Verpflichtungen der Mitarbeiter, sodass im Zuge der Institutionalisierung durch Verhaltenskodizes auch Mitarbeiter über einen größeren Verantwortungsbereich verfügen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit derartigen Kodizes nicht nur Unternehmen nach außen hin legitimiert werden, sondern neben Führungskräften auch Mitarbeiter im Innen- wie auch Außenverhältnis (Stakeholder) mit neuen Verantwortungsbereichen bzw. institutionalisierter Macht ausgestattet werden. Die damit einhergehende Verlagerung der Verantwortlichkeit vom Unternehmen oder den Führungskräften auf die Mitarbeiter stellt Gellerman treffend fest: „A code of ethics shifts the blame for bad conduct from the company to the individual. In that sense, a code of ethics can be a way for a company to wash its hands publicly of responsibility for the evils its employees commit.“43

4.3

Whistleblowing

Als konkretes Beispiel der Verantwortungsverlagerung dient das im europäischen Raum noch eher unbekannte Element des Whistleblowings. Begrifflich handelt es sich dabei um das Aufzeigen von Missständen durch ein ehemaliges oder aktuelles Mitglied einer Organisation. Die Kenntnis von illegalen, unmoralischen oder illegitimen Verhaltensweisen, die dem Verantwortungsbereich der Organisation zuzurechnen sind, werden gegenüber Personen oder Organisationen aufgedeckt, die vom Whistleblower selber nicht beendet werden können und gleichzeitig die Organisation bzw. bestimmte Personen zu weiteren Handlungen veranlasst.44 41 42 43 44

Talaulicar, Unternehmenskodizes: Typen und Normierungsstrategien zur Implementierung einer Unternehmensethik (2006), S. 226 f. Werhane, Persons, Rights, and Corporations (1985), zit. in Talaulicar, Unternehmenskodizes: Typen und Normierungsstrategien zur Implementierung einer Unternehmensethik (2006), S. 227, Fn. 117. Gellerman, Managing Ethics from the Top Down (1989), S. 73 ff, zit. in Talaulicar, Unternehmenskodizes: Typen und Normierungsstrategien zur Implementierung einer Unternehmensethik (2006), S. 227. Donato, Whistleblowing (2009), S. 11; Ledergerber, Whistleblowing unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung (2005), S. 7; Briegel, Einrichtung und Ausgestaltung unternehmensinterner Whistleblowing-Systeme (2009), S. 14 ff.

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Der Prozess des Whistleblowings kann in mehrere Phasen unterteilt werden und zeigt auf, dass es sich um keinen einmaligen Akt, sondern einen oftmals langwierigen Prozess handelt. Kenntnis von der illegalen, unmoralischen oder illegitimen Handlung, weiterführende Informationen zur Unterstützung der jeweiligen Aussagen stellen den Whistleblower vor die Wahl, den Missstand entweder zu ignorieren oder ihn aufzudecken (typische Dilemmasituation). Beim internen Whistleblowing werden die unzulässigen Vorgänge unternehmensinternen Stellen gemeldet. Sofern keine Reaktion erfolgt und die Meldungen ins Leere laufen, kann das externe Whistleblowing eingeleitet und das Fehlverhalten gemeldet werden.45 Unzureichende rechtliche Regelungen in Österreich, und hier vor allem mangelnde Schutzbestimmungen für Whistleblower,46 stellen (ehemalige) Mitarbeiter vor die schwierige Entscheidung, einen Missstand, verbunden mit möglichen negativen Reaktionen, auch tatsächlich intern/extern aufzuzeigen oder weiterhin zu ignorieren. Diffamierung, Vergeltungsmaßnahmen, Mobbing oder der Verlust des Arbeitsplatzes können mögliche Konsequenzen für einen Whistleblower darstellen und Mitarbeiter davon abbringen. Im Weiteren stellt sich die Frage, ob der Prozess des Whistleblowings ein mögliches Werkzeug für den autonomen, verantwortlichen Mitarbeiter darstellt, der im Sinne eines Rechts davon Gebrauch machen kann, oder ob dem Mitarbeiter durch Verhaltenskodizes, Whistleblowing-Richtlinien oder Gesetz die Pflicht auferlegt wird, den Missstand aufzuzeigen und dieser widrigenfalls bei Nichtbeachtung mit Konsequenzen zu rechnen hat. Tsahuridu/ Vandekerckhove stellen fest, dass Whistleblowing Policies (oder bei uns eher gebräuchlicher: Whistleblowing-Bestimmungen in Verhaltenskodizes) den Mitarbeitern ermöglichen können, als „moral agents“ aufzutreten, verantwortlich für die gesetzten Handlungen zu sein und autonom entsprechend ihrem Gewissen zu reagieren. „However, implementing these policies may also turn responsibility into liability and increase the control of people by organisations, holding them responsible for what they do or fail to do, thus further institutionalising the organisation man or woman. This possibility makes whistleblowing policies a management tool to make people at work liable for what they do or fail to do. This second possibility also shifts responsibility of organisational behaviour to employees, making them responsible not only for reporting organisational wrongdoing but for organisational wrongdoing.“47 Es liegt am österreichischen Gesetzgeber bzw. an der Ausgestaltung der jeweiligen Rahmenbedingungen in Unternehmen und noch viel mehr an der Umsetzung durch Führungskräfte, inwiefern der Mitarbeiter verstärkt Mittel zum Kontrollzweck wird und es zu einer Verantwortungsverlagerung vom Unternehmen auf den Mitarbeiter durch Institutionalisierungsbestrebungen kommt. Whistleblowing wäre ein derartiges Tool, sollte jedoch nicht dafür missbraucht werden.

45

46 47

Miceli/Near, Blowing the Whistle, zit. n. Ledergerber, Whistleblowing unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung (2005), S. 8 f; Briegel, Einrichtung und Ausgestaltung unternehmensinterner WhistleblowingSysteme (2009), S. 62 ff. Siehe auch Augeneder, Korruption als weltweites Phänomen – existieren sinnvolle Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, in: Hagel/Weiß (Hrsg.), Korruption. Eine unbekannte Sünde? (2012 in Druck). Tsahuridu/Vandekerckhove, Organisational Whistleblowing Policies: Making Employees Responsible or Liable? (2008), S. 116.

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Silvia Augeneder

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Das Prinzip Klugheit – eine Außenseiterperspektive Michaela Strasser

1

Einleitung

Wir leben in der Zeit des mündigen Bürgers und Menschen, Ergebnis der Emanzipationsprozesse der letzten drei Jahrhunderte. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet geht es dabei darum, dass vor dem liberalen Anspruch auf Mündigkeit die absolute Geltung gemeinschaftsorientierter Werte zurückweicht. Tradierte ethische Normen werden nicht mehr blind befolgt, sondern Entscheidungen und Handlungen werden am Selbstinteresse ausgerichtet. Mit der Mündigkeit verbindet sich der Anspruch auf Selbstbestimmung, die aber nicht nur die Seite der Freiheit kennt, sondern auch die Seite der Zumutung von Selbstbestimmung. Vor dem Wertepluralismus, der die modernen Gesellschaften prägt, schwindet die Kraft von Prinzipienethik, die ihre Rolle an die Verantwortungsethik abtritt – wie Schönherr-Mann im Rahmen seiner Studie zur „Macht der Verantwortung“ – konstatiert.1 Und selbst wenn sich der Einzelne für eine prinzipienethische Positionierung entscheidet, liegt die Verantwortung dafür beim diesem. Die Individualisierung ethischer Werte korrespondiert mit der Individualisierung der Verantwortung.2 Eine verantwortungsethische Perspektive beurteilt richtiges oder falsches Handeln an den Folgen des Tuns. Trotz dieser konsequentialistischen Ausrichtung benötigt sie Maßstäbe, wonach sie ihre Beurteilung vornehmen kann, um entscheiden zu können zwischen richtig und falsch. Wonach sollen wir unsere Entscheidungen ausrichten, woran unser Handeln orientieren? Kann das Prinzip Klugheit – so die Kernfrage dieses Beitrages – einen Beitrag hierzu leisten, so antiquiert es zunächst auch scheinen mag, auf die Tugend der Klugheit zu rekurrieren? Zu klären ist zunächst die Frage, von welcher Klugheit wir sprechen wollen. In einer groben Skizze würde dies auch die Entscheidung zwischen aristotelischer und machiavellistischer Klugheit implizieren. Worum geht es in dieser – dichotomen – Gegenüberstellung zweier grundverschiedener Konzepte von Klugheit? Ein Drittes ist dann eine vermittelnde Position, die versucht, die Tugend der Klugheit und die Kunst des Urteilens unter den Bedingungen moderner Rationalitätsvorstellungen und der von ihr durchdrungenen gesellschaftlich politischen Landschaft wiederzubeleben. Für die Gedankenfolge in diesem Beitrag wird daher erstens die Klugheit im Tugenddiskurs behandelt, um sie dann zweitens unter den Bedingun-

1 2

Schönherr-Mann, Die Macht der Verantwortung (2010). Vgl. dazu auch Höffe, Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt (1993).

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Michaela Strasser

gen der Moderne zu betrachten. Abschließend und drittens geht es dann um Erwägungen zur Tauglichkeit der Klugheit heute.

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Klugheit im Tugenddiskurs

In seinen Ursprüngen ist der Klugheitsdiskurs eingebettet in den Tugenddiskurs und Klugheit gilt unwidersprochen als eine der zentralen Tugenden, ja avanciert schließlich neben Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung zu einer Kardinaltugend. Was der Tugendlehre anhaftet, das ist ihre Kraft, den Einzelnen zum „eigenen Seinkönnen“ hinzuführen.3 Diese ihr eigentümliche Kapazität als Kunst der Lebensführung – zu leiten, zu führen, zu steuern – lässt sie auch in der Nähe der Kunst des Managements nicht uninteressant erscheinen. So greift auch Wolfgang Kersting, wenn es um die „Rehabilitierung der Klugheit“4 geht, weit in die Geschichte des Klugheitsdiskurses zurück und stößt hierbei auf Platon und Aristoteles. Was schon bei Platon deutlich wird, ist die Bestimmung der Klugheit als eine „praxeologische Kompetenz“, als „vernünftiges, zielgerechtes, situationsangepasstes Handeln auf der Grundlage wohlüberlegter … Urteile“. Klugheit verbindet also Wissen und Praxis und ihre charakteristischen Eigenschaften sind „Situationsempfindlichkeit, Kontextsensitivität und Zeitgespür“. Nach dieser „Strukturbeschreibung der Klugheit“ erweist sie sich als eine „kontingenzbewusste Rationalitätsform“.5 Bei Aristoteles entfaltet sich die Kraft der Klugheit, der phronesis, ebenfalls als Tugend. Eingebettet in die aristotelische Unterscheidung zwischen den ethischen und den dianoetischen Tugenden6, wird die Klugheit diesen Tugenden des Verstandes zugeordnet. Die intellektuelle Tugend der Klugheit ist in einer fast technischen Formulierung in der Nikomachischen Ethik ein „mit einer richtigen Regel verbundener, zur Grundhaltung verfestigter praktischer Habitus im Bereich der Dinge, die für den Menschen Güter und Übel sind“.7 Als solche bündelt sie eine Vielfalt von Nebentugenden wie Wohlberatenheit, Überlegungssorgfalt, Unterscheidungskompetenz, Auffassungsgabe sowie Situationsgespür. Sie zeigt sich als die Kompetenz, die richtigen Mittel zu wählen, wenn gemäß den ethischen Tugenden – die ein glückliches, gelingendes Leben bewirken können (sollen) – das Ziel richtig bestimmt wurde. Denn – so Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik – man kann nicht gut sein ohne die Klugheit, aber auch nicht klug sein ohne die ethische Tugend.8 Klugheit entfaltet ihre integrierende Kraft als Lebensführungskompetenz, die sich „nicht auf rationale Mittelbeherrschung und kundiges Problemlösungsverhalten reduzieren lässt“.9 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. dazu Pieper, Über die Tugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß (2008). Kersting, Klugheit (2005), S. 7 ff. Kersting, Der einsichtige Staatsmann und der kluge Bürger. Praktische Vernünftigkeit bei Platon und Aristoteles, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 23 und 26. In Buch VI seiner Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles fünf dianoetische Tugenden (Tugenden des Verstandes): Erkenntnis, intuitiver Verstand, Weisheit sowie technisches Wissen und Klugheit. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140a 24. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1144 b 31–33. Kersting, Der einsichtige Staatsmann und der kluge Bürger. Praktische Vernünftigkeit bei Platon und Aristoteles, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 39.

Das Prinzip Klugheit – eine Außenseiterperspektive

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Die Klugheit ist weder eine Kunst im Sinne von techné noch eine Wissenschaft, sie ist eine Tugend, die sich beim Klugen als Fähigkeit zur Erwägung zeigt, um in einer gegebenen Situation angemessen zu entscheiden und zu handeln. Klugheit wurzelt in der Erfahrung, in der aus der Fähigkeit zu einer Gesamtsicht in der konkreten Situation das je Besondere zur Geltung kommt. Die Tugend der Klugheit muss sich – und kann sich nur – in einer kontingenten Welt entfalten, die das Handeln der Menschen ermöglicht, aber auch erfordert.10 Die Klugheit wird zum Ausdruck zum einen unserer Urteilskraft, zum anderen unserer Fähigkeit zu einem verantwortlichen Handeln. Zur Klugheit als Anleitung einer klugen Entscheidungsfindung gehören wesentlich das Miteinander-Reden und das Sich-Beraten dazu, sei es die Beratung mit anderen, sei es ein mit sich selbst zu Rate gehen. Dabei behält die Klugheit stets das Ganze im Blick, bei Aristoteles ist dies das gesamte (gelingende) Leben. Damit spielt schon im aristotelischen Verständnis von Klugheit die zeitliche Dimension, die sich nicht nur auf den Einzelfall oder Augenblick verkürzt, eine zentrale Rolle. Die Tugend der Klugheit stellt in der auf die eudaimonia, auf die Glückseligkeit, ausgerichteten Kunst der Lebensführung deren kognitive Seite dar. Sie bestimmt nicht selbst das Ziel, ist aber zuständig für die Mittel und Wege, die zu diesem Gesamtziel führen. Die Ethik bleibt als praktische Philosophie insgesamt für das „know that“ zuständig, die Klugheit hingegen bestimmt sich als das „know how“11, ohne dabei technisch-instrumentell auf eine rein rationale Mittelwahl beschränkt zu sein. Dann wäre sie „intellektuelle Gewandtheit“, die – wenn sie nicht Mittel zu Zielen wählt, die gute Ziele sind – zur bloßen Gerissenheit mutiert.12 Klugheit ist also Handlungsrationalität, aber in einem umfassenderen Sinn. Als das Wissen um das „Wie“ vorzugehen und zu entscheiden ist, dient sie der Selbstorientierung und erweist sich – klug angewendet – als Lebensführungskompetenz.13

3

Klugheit unter den Bedingungen der Moderne

Unter den Bedingungen der Moderne verkürzt sich die Tugend der Klugheit zur bloß eigennützigen Handlungsrationalität. Die Klugheit erhält sozusagen ein „neues Leitbild“, nämlich das der „Selbsterhaltung“.14 Sie gerät damit in den mit der Neuzeit einsetzenden Sog der Individualisierung. Sie behält zwar – wenn auch nur in einem formalen Sinn – ihre Funktion der Handlungsorientierung. Was weg bricht und schließlich in der Moderne zum allumfassenden Pluralismus führt, ist die inhaltliche Festlegung auf eine für jeden einzelnen gültige bestimmte Lebensform. Das Streben gilt zwar weiterhin der Suche nach Glück, nur es wandelt sich das Verständnis von Glück, das sich eng mit dem Selbstinteresse und dem Denken in Nutzenkategorien verbindet. Das Glück, das heute einen ganz eigenen „Glücksmarkt“

10 11 12 13 14

Vgl. dazu die 1963 verfasste, herausragende Studie von Aubenque, Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (2007). Höffe, Klugheit im politischen Projekt der Moderne, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 303. Vgl. dazu Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 1 (2001), S. 158. Vgl. dazu Luckner, Klugheit (2005), S. 3 ff. Vgl. dazu den entwicklungsgeschichtlichen Essay von Luckner, Klugheit und Orientierung. Historisch-systematische Ortsbestimmungen, in: Scherzberg (Hrsg.), Klugheit. Begriff – Konzepte – Anwendungen (2008).

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Michaela Strasser

hervorgebracht hat, entfaltet sich in einer unendlichen Vielfalt von Formen und Konzepten von Glück und von Strategien der Glücksfindung.

3.1

Das neuzeitliche „Ende“ der alten Klugheit

Mit Machiavelli und Thomas Hobbes können zwei Wegmarken für den Verlauf dieser Entwicklung gesetzt werden. Mit Machiavelli enden sozusagen die „Epochen der alten Klugheit“, indem die Klugheit „aus der lebensethischen Mitte gerückt wird. Sie verliert die ethische Imprägnierung“. Die Klugheit mutiert zu „einer providentiellen, interessendienlichen Kontingenzbewältigungstechnik“, gemäß der es aus rationalem Kalkül auch geboten sein kann, Tugendhaftigkeit auszuschalten, wenn sie – bezogen auf den Machiavellistischen Politiker – dessen „Handlungsrepertoire verkleinert und damit seine Handlungsmächtigkeit mindert“.15 Hatte diese Klugheitsregel bei Machiavelli nur für den „Principe“ Geltung, so wird die machiavellistische Klugheit in der politischen Philosophie Hobbes’ zum „anthropologischen Allgemeingut“. Die nüchterne, neutrale, nutzenmaximierende Rationalität wird zur allgemeinen Handlungsregel erhoben.16 Das gesamte Projekt des „Leviathan“ ist von dieser epistemischen Umwertung getragen. Die Rationalität wird schließlich zum Programm des Utilitarismus und bereitet den Boden für die Theorien der rationalen Wahl, die im Kern als eine szientistische Verkürzung der Klugheit zur Nutzenkalkulation zu sehen sind. Was den neuzeitlichen Begriff der Klugheit anbelangt, ist es diese enge Bindung an das Selbstinteresse und das Nutzenkalkül, das zu ihrem Kennzeichen wird. Es wird sich schließlich zum Modell des homo oeconomicus zuspitzen. Seine Elemente sind die Präferenzen, das Eigeninteresse, die rationale Wahl und die Beurteilung nach den Handlungsfolgen, die sich in der nutzenmaximierenden Handlungsrationalität bündeln. Ihr folgt der rationale Egoist, der sein Handlungsrepertoire dem Kalkül unterwirft und in der temporalen Perspektive bloß der Gegenwart verhaftet bleibt. Es fehlt ihm ein Hinausdenken über sich selbst, ein Denken in Richtung auf die Anderen, ein Denken in längerfristigen Perspektiven. Nur trägt dieses Programm heutzutage nicht mehr, wo es angesichts von Risiko, der Schwierigkeit, ja manchmal Unmöglichkeit der Folgen- wie Nebenfolgenabschätzung sowie von (globalen) Interdependenzen vielmehr und immer öfter um die fragile Balance zwischen Wissen, Noch-nicht-Wissen und Nicht-Wissen und infolgedessen um ein „Management der praktischen Ungewissheit“ geht.17

3.2

Gegenbilder zur Maxime des Selbstinteresses

In der Moderne finden sich jedoch auch Gegenbilder zu einer so sich selbst verkürzenden Klugheit. Zum einen ist dies Adam Smith, auf dessen „Theorie ethischer Gefühle“ in diesem 15 16 17

Kersting, Der einsichtige Staatsmann und der kluge Bürger. Praktische Vernünftigkeit bei Platon und Aristoteles, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 7 und 9. Kersting, Der einsichtige Staatsmann und der kluge Bürger. Praktische Vernünftigkeit bei Platon und Aristoteles, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 9. Kersting, Der einsichtige Staatsmann und der kluge Bürger. Praktische Vernünftigkeit bei Platon und Aristoteles, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 26.

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Kontext rekurriert werden soll, zum anderen ist es Hannah Arendt, über deren Arbeiten zum „Urteilen“ auch die Kant’sche Position mit eingebunden werden kann. Gerade bei Adam Smith findet sich unter dem Titel der Klugheit, auch wenn es die von ihm so benannte „niedere Klugheit“ ist, die Einbettung selbstzentrierten Denkens und Handelns in einen sozialethischen Kontext. Mit der Rede von der „niederen Klugheit“ geht es Smith um die Veralltäglichung von Klugheit im Sinne einer guten Lebensführung für jedermann. „Die Sorge für die Gesundheit, für das Vermögen, für den Rang und den Ruf des Individuums, d. h. also für die Dinge, von welchen der allgemeinen Ansicht nach sein Wohlbefinden und seine Glückseligkeit in diesem Leben in erster Linie abhängen, wird als die eigentliche Obliegenheit derjenigen Tugend betrachtet, die man gemeinhin Klugheit nennt.“18 Smith beschreibt dann das Verhalten und Handeln des Klugen, das bedachtsam erfolgt, Mäßigung und Selbstbeherrschung genau so kennt wie stets die Voraussicht auf die eigene zukünftige Lage einschließt. Darin wird ebenfalls deutlich, warum Klugheit bei Adam Smith nicht eine kognitive Kategorie ist, nicht eine Rationalitätsforderung, sondern eine charakterliche Leistung, eine Frage der (Lebens-)Grundhaltung.19 Die vor allem auf moralpsychologische Erwägungen sich stützende „Theorie der moralischen Gefühle“ (1759) entspricht daher der ganz auf Selbstbestimmung, auf Autonomie ausgerichteten Fundierung der Ethik bei Smith. Über die ethisch-moralische Urteilsfindung jedoch, die wesentlich über Sympathie und die Gestalt des unparteiischen Beobachters funktioniert, fügt Smith der individualethischen die sozialethische Dimension hinzu. Zum einen bedient sich Smith der argumentativen Figur der Sympathie, d. h. der Fähigkeit, sich in die Situation anderer Personen hineinzuversetzen, um so den Standpunkt einer anderen Person einzunehmen. Zum anderen wirkt in der moralisch-ethischen Urteilsfindung das moralpsychologische Motiv der Selbstachtung, denn der Kluge wird „stets unterstützt und zugleich belohnt durch die volle Billigung des unparteiischen Zuschauers und durch die Billigung des Stellvertreters jenes unabhängigen Zuschauers, des inneren Menschen in seiner eigenen Brust“.20 Es geht eben nicht nur darum, dass wir den normativen Erwartungen anderer entsprechen, sondern dass wir den normativen Erwartungen, die wir an uns selbst haben, gerecht werden. Über diese beiden Instanzen, nämlich den unparteiischen Beobachter und den „inneren Menschen“ konstituieren sich Selbstachtung und Selbstrespekt. Einen ganz eigenen Ansatz wiederum entwickelt Hannah Arendt, eine der herausragenden Gestalten im politisch-philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts. Sie knüpft dabei an die Figur der „erweiterten Denkungsart“ an, wofür sie auf Kant und dessen „Kritik der Urteilskraft“ rekurriert21, der sie zugleich eine politische Wendung zu geben versucht.22 In § 40 seiner „Kritik der Urteilskraft“ handelt Kant vom sensus communis, dem Gemeinsinn, unter dem man „die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurtheilungs18 19 20 21

22

Smith, Theorie der ethischen Gefühle (2004), S. 362. Vgl. dazu Chwaszcza, Die Tugend der „Selbsterhaltung“. Klugheit und irdisches Glück in Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit (2005), S. 80. Smith, Theorie der ethischen Gefühle (2004), S. 365. Arendt/Beiner (Hrsg.), Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie (1998). Die von Ronald Beiner besorgte Ausgabe beruht vor allem auf der Vorlesung Arendts „Über Kants Politische Philosophie“ aus dem Jahr 1970, ergänzt mit weiteren Materialien. Die als dritter Teil ihres Werkes „Vom Leben des Geistes“ geplante Veröffentlichung „Das Urteilen“ konnte von Arendt, verstorben 1975, nicht mehr verwirklicht werden. So die Interpretation von Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt (2011), S. 20. Kritisch äußert sich dazu allerdings Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 4 (2010), S. 453.

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vermögens“ verstehen muss, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde“. In diesem Überschreiten der je eigenen subjektiven Bedingungen und Interessen und in dieser Orientierung am „gemeinen Menschenverstand“ werden drei Maximen wirksam: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“ Die erste Maxime ist die der vorurteilsfreien Denkungsart, die zweite Maxime ist die der erweiterten Denkungsart und die dritte Maxime ist die der konsequenten Denkungsart. Ist das Selbstdenken als vorurteilsfreie Denkungsart per se das Postulat der Aufklärung zur Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, so zielt die zweite Maxime, jene der erweiterten Denkungsart darauf, dass man sich über die subjektiven Bedingungen des eigenen Urteils hinwegsetzt, und aus „einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt“. Diese Maxime ist die Urteilskraft.23 Hannah Arendt macht diese „erweiterte Denkungsart“, die Kant im Kontext der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ abhandelt, zur Form des politischen Denkens schlechthin. Der entscheidende Punkt und das, was kritisches Denken ausmacht, ist zunächst die „Anwendung kritischer Maßstäbe auf sein eigenes Denken“. Dies geschieht, indem die Standpunkte anderer berücksichtigt werden, und so das eigene Urteil reflektiert wird. „Erweiterte Denkungsart“ heißt damit aber auch Achtung der anderen Position oder in den Worten Arendts – „mit einer ‚erweiterten Denkungsart‘ denken heißt, dass man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen.“ Erweiterte Denkungsart ist das Ergebnis einer Missachtung der „subjektiven Privatbedingungen“, d. h. der Missachtung dessen, was wir gewöhnlich Selbstinteresse nennen. Und wichtigste Bedingung für alle Urteile ist dabei die Bedingung der Unparteilichkeit – oder auch die Bedingung des „uninteressierten Wohlgefallens“. Arendt betont, dass es stets auch des Meinungsaustausches mit anderen bedarf, d. h. der „Überprüfung, die aus der Begegnung mit dem Denken anderer entsteht“. Nur so gelangen wir zu einem unparteiischen bzw. allgemeinen Urteil.24 Sie entwickelt dazu noch andere Denkfiguren, so die des „repräsentativen Denkens“, das auf der Kunst beruht, imaginativ den Standpunkt anderer einnehmen zu können. Denn realiter wird es uns ja nicht möglich sein, alle relevanten Perspektiven direkt hören zu können. Um also den wirklichen Dialog zu erweitern, bedarf es – nach Arendt, unter direkter Berufung auf Kant – der Einbildungskraft, aus der heraus man von anderen Standpunkten aus zu sehen versucht. Es gilt also, die Position des Zuschauers einzunehmen, der – durch den Gebrauch der Einbildungskraft – in der Lage ist, das Ganze in einer uninteressierten Weise zu reflektieren. Interessant dabei ist, dass die Rolle des Zuschauers eigentlich nicht so sehr die andere Person meint, sondern vielmehr einen anderen Modus, die Welt anzusehen und sich zu ihr zu verhalten, ja die Welt auch ganz anders anzusehen und damit „imaginativ“ zu öffnen.

23 24

Kant, Kritik der Urteilskraft (1968), S. 293 ff. Arendt/Beiner (Hrsg.), Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie (1998), S. 59 ff. und 92.

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Zur Tauglichkeit der Klugheit – heute

Was lässt sich aus der Vielfalt an Ansätzen und Bedeutungsvarianten von Klugheit – ob Tugend oder Prinzip – für gegenwärtiges Entscheidungsverhalten und Handeln gewinnen? Gerade in Krisenzeiten offenbart sich, wie schwierig und komplex das Geschäft rationaler Entscheidungsfindung auf politischer wie auch ökonomischer Ebene ist. Die tägliche Medienberichterstattung zur Bankenkrise, Euro Rettungsschirm, drohender Bankrott ganzer Staaten ist Beleg genug. Doch nicht nur panische Reaktionen in Krisenzeiten, auch irrationale Übertreibungen in euphorischen Booms „machen blind für rationales Denken“25. Mit der Theorie der „Behavioral Finance“ lenkte Andrei Shleifer die Aufmerksamkeit darauf, dass angesichts „Inefficient Markets“26 rein rationale Theorien über die Finanzmärkte nicht greifen. Nicht nur Fundamentaldaten bilden die Basis von Entscheidungen, sondern unvollständige Informationen, Meinungen, Fehlinterpretationen – ja das ganze Umfeld der so genannten Investor Sentiments, das sind verzerrte Vorstellungen und Erwartungen, Intuitionen und Stimmungslagen sind nicht minder maßgeblich für ein Entscheidungsverhalten, das vor allem auf einen kurzen Zeithorizont ausgerichtet ist und die Langzeitperspektive vernachlässigt. Bietet daher die Verhaltensökonomie eine Möglichkeit zur Rückkehr der „moral sentiments“, denen schon Adam Smith so große Aufmerksamkeit gewidmet hatte? „Tatsächlich ergibt sich aus der Verhaltensökonomie, dass der Mensch durchaus nach einer eigenen Rationalität vorgeht. Sie richtet sich nach seinen Beschränkungen, Vorlieben und Moralvorstellungen – und sie ist wesentlich komplexer als der Maßstab individueller Nutzenmaximierung.“27 In das Entscheidungsverhalten spielen stets auch nicht-rationale Motive herein wie Emotionen oder moralische Erwägungen.28 Entscheiden und Handeln sind bedingt durch unser Urteilsvermögen und unsere Urteilskraft im Feld der uns gegebenen Handlungsmöglichkeiten. Unter den Bedingungen der Moderne und in von Wertepluralismus geprägten Gesellschaften bringt die Individualisierung der Freiheit auch die Individualisierung der Verantwortung. Mehr denn je ist der Einzelne gefordert, sich „praxeologisch kompetent“ zu erweisen. Diese Kompetenz nicht auf eine instrumentell-kalkulierende Handlungsrationalität zu verkürzen, dieser Appell steht sozusagen hinter diesem kurzen Streifzug durch den tugendethisch geprägten Diskurs um die Klugheit. Die Klugheit ist uns dabei begegnet als kognitive Tugend und als ein Wie-Wissen, das als Lebensführungskompetenz sich einer Gesamtsicht auf die Dinge und einer über die Gegenwart und den Augenblick hinausreichenden temporalen Sicht verpflichtet weiß. Klugheit erscheint schon am Beginn „weniger als ein explizierbares Wissen darüber, was das Gute ist, sondern als ein implizites und durch Erfahrung erworbenes Wissen, wie man das Gute in eine

25 26 27 28

Fenzl, Massenpsychologie der Finanzmarktkrise. US-Immobilienblase, Subprime Desaster, Schulden-Bubble und ihre Auswirkungen (2009), S. 142. Shleifer, Inefficient Markets. An introduction to behavioral finance (2000). Heuser, Homo oeconomicus humanus, in Mutius (Hrsg.), Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. Ein Almanach neuer Denkansätze aus Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur (2008), S. 205 f. Zur komplexen Binnenstruktur des rational-choice Modells und dessen normativen Implikationen, gerade auch im Umgang mit Emotionen vgl. Priddat/Hengsbach/Kersting/Ulrich, Homo oeconomicus. Der Mensch der Zukunft? (1998), S. 1–31.

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Handlung umsetzt.29 Klugheit stützt sich also auf Erfahrung und erfahrungsgebundenes Wissen, wie es auch heute als implizites Wissen wieder Beachtung findet.30 Klugheit bedarf der Beratung mit anderen und mit sich selbst. Klugheit erfordert Selbstdistanzierung, die das Einnehmen anderer Standpunkte ermöglicht. Klugheit erweist sich als belehrbar und schützt vor Selbstgewissheit. Klugheit charakterisiert die kluge Person, die als Ausdruck ihrer Mündigkeit nicht nur das Prinzip der Selbstbestimmung für sich einfordert, sondern auch die daraus folgende Verantwortung für ihr Entscheiden und Handeln übernimmt. Die Freiheit hat ein Doppelgesicht und kann aus „Furcht vor der Freiheit“ Mechanismen der Flucht in die Konformität oder in autoritäres Verhalten freisetzen, wie Erich Fromm bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen sozialpsychologischen Studien aufgezeigt hat.31 Die Tugend der Klugheit ist als „das vollendete Können wirklichkeitsgerechter Entscheidung – just der „Inbegriff ethischer Mündigkeit“, wie Josef Pieper in seinem „Traktat über die Klugheit“ konstatiert.32 So ließe sich Klugheit – auch unter den Bedingungen der Moderne – rehabilitieren als „praktisches Pendant“ zur Rationalität. Denn die Klugheit überschreitet eine bloß kognitive Durchringung der Vorgänge der realen Welt, indem sie „auf emotionale Ressourcen, auf implizites Wissen und intuitive Kompetenz“33 zurückgreift. Es wäre als klug, sich wieder auf die Klugheit zu besinnen.

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29 30 31 32 33

Luckner, Klugheit und Orientierung. Historisch-systematische Ortsbestimmungen, in: Scherzberg (Hrsg.), Klugheit. Begriff – Konzepte – Anwendungen (2008), S. 13. Vgl. dazu Neuweg, Das Schweigen der Könner. Strukturen und Grenzen des Erfahrungswissens (2006) sowie Schanz, Implizites Wissen (2006). Fromm, Die Furcht vor der Freiheit (1990). Pieper, Über die Tugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß (2008), S. 48. Scherzberg, Schlusswort, in: Scherzberg (Hrsg.), Klugheit. Begriff – Konzepte – Anwendungen (2008), S. 229 f.

Das Prinzip Klugheit – eine Außenseiterperspektive

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Einleitung

Wie organisieren und motivieren sich die Arbeitskräfte als Träger der Arbeitsvermögen unter Bedingungen flexibler, deregulierter, diskontinuierlicher Beschäftigung? Was löst die permanente Drohung der Entwertung erworbener Arbeitsqualifikationen, Berufs- und Lebenserfahrungen aus? Was folgt aus der Polarisierung zwischen instrumentellen (extrinsischen) und intrinsischen Erwerbsarbeitsmotiven? Wo steht die zwangsmobilisierte, sich selbst als Arbeitskraftunternehmer disziplinierende Arbeitskraft, wenn die Entgrenzung zwischen Arbeiten und Leben zu einem Verlust sozialer Bindungen und Sinnstiftungen führt? Und vor allem: wie geht die Personalwirtschaft von Unternehmen mit diesen autodestruktiven Tendenzen eines neoliberal reorganisierten Kapitalismus um, wenn dies die Profitabilität von Produktionsprozessen sowie die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen beeinträchtigt? Weitgehend Konsens sozialwissenschaftlicher Arbeitsforschung ist die Entgrenzung von Arbeit und Leben1. Die Arbeitskraft bringt sich als „ganze Persönlichkeit“ mit ihrem „ganzen Leben“ in die (Lohn)Arbeit ein. Zugleich wird die Organisation von Erwerbsarbeit „subjektiviert“2: Beschäftigte werden zu Mitdenkern, Mitgestaltern, Mitmanagern und Selbstmanagern3. Moosbrugger erachtet diese Subjektivierung als ursächlich nicht nur für Praktiken der (gesundheitlich riskanten) Selbstausbeutung, sondern auch für verzögerte bzw. diskontinuierliche Lebensläufe, verzögerte oder unterbliebene Familiengründungen, unausgeschöpfte Potentiale und brachliegende Talente von MitarbeiterInnen4. Derartige aus der „ParadigmenSoziologie“ bekannte Generalisierungen („Risikogesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“, „Multioptionsgesellschaft“ usw.) verdecken nicht nur die Multifaktorialität und Fraktalität von Arbeitsverhältnissen, sondern verzerren, insbesondere wenn sie mit Prozessen der Atypisierung, Deregulierung und Flexibilisierung5 unvermittelt in Verbindung gebracht werden, die reale Entwicklung einer Arbeitswelt, die sich nach wie vor überwiegend durch typische, standardisierte Beschäftigungsverhältnisse bestimmt ist6. In der Tat ist die Arbeitswelt durch 1 2 3 4 5 6

Gottschall, Entgrenzung von Arbeit und Leben (2005). Jürgens, Arbeits- und Lebenskraft. Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung (2009), S. 59 ff. Schweiger, Arbeit im Strukturwandel, in: Böhler (Hrsg.), Menschenwürdiges Arbeiten (2009), S. 48. Moosbrugger, Subjektivierung von Arbeit. Freiwillige Ausbeutung (2008). Keller/Seifert, Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken (2007). Hermann/Flecker, Das „Modell Österreich“ im Wandel, in Hermann (Hrsg.), Die Dynamik des „österreichischen Modells“. Brüche und Kontinuitäten im Beschäftigungs- und Sozialsystem (2009).

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eine komplexe Gemengelage unterschiedlicher Beschäftigungsformen und -verhältnisse geprägt und sind auch die Anforderungen an das betriebliche Personalmanagement fraktal und betriebs-/branchenspezifisch unterschiedlich ausbuchstabiert7. Vorweg sei festgehalten, dass alles Räsonieren über die Subjektkonstitution von Arbeitskräften innerhalb eines Arbeitslebens8 – unter den fraktalen Beschäftigungs- und Produktionsbedingungen9, wie sie für die postfordistische Produktionsverfassung und die zugehörige neoliberale Regulationsweise kennzeichnend10 sind – zwangsläufig immer grob vereinfacht. Eine arbeits- und industriesoziologische Betrachtung macht deutlich, dass Beschäftigungsformen und -verläufe äußerst heterogen sind, jedenfalls nach Branche, Geschlecht, Qualifikation, Alter, Ethnie und vor allem Unternehmensgröße wie auch Unternehmensorganisation differenziert werden müssen. So beschäftigen (im österr. Wirtschaftskammerbereich; 2010) 93,1 % der Unternehmen zwischen 0 und 9 MitarbeiterInnen, die im Übrigen nur insgesamt 15,8 % aller Beschäftigten stellen.11 Gegengleich beschäftigen 0,2 % aller Unternehmen in Österreich mehr als 250 MitarbeiterInnen; 1,1 % beschäftigen zwischen 50 und 249 MitarbeiterInnen; Personalisten finden sich überwiegend in Unternehmen mit mehr als 100 MitarbeiterInnen12. Indes kann festgehalten werden, dass gelingende, profitable Lohnarbeit unter modernen Produktionsbedingungen im hochproduktiven Kernsegment des sekundären Sektors zunehmend auch sich selbst flexibel reorganisierende Arbeitskräfte voraussetzt. Ideologeme wie die „Ich-AG“ oder der „Arbeitskraftunternehmer“ spiegeln diese Strukturverschiebungen13. Nicht nur die organische Zusammensetzung des Kapitals (Rationalisierung, Automatisierung, Mechanisierung, Robotik) nimmt zu, auch die Anforderungen an die Verausgabung von Lohnarbeitskraft tun dies (Wartungsarbeiten). Die durch sozial- und arbeitsmarktpolitische Interventionen in den entwickelten Industriegesellschaften und die „Countervailing Power“ der Arbeitnehmervertretungen vorangetriebene Verdrängung der extensiven „Ausbeutungsmethoden“ durch intensive erreicht gegenwärtig eine Sollbruchstelle. Nicht nur die traditionellen, arbeitsplatzfokussierten Gegensätze zwischen Arbeitskraft und Arbeitsvermögen einerseits und Unternehmen sowie Stake-/Shareholderinteressen – etwa in Form von betrieblichen Konflikten zwischen einzelnen, graduell abgestuft integrierten und prekarisierten Beschäftigungsgruppen – andererseits haben sich verschoben. Auch die Bedingungen und Formen der Ausbeutung von Arbeitskraft selbst haben sich je nach Branche graduell abgestuft substantiell verändert, sieht man einmal von der Option der (sich gerade in der Finanzund Weltwirtschaftskrise nach 2008 ausbreitenden) Strategie einer rigiden Reduktion von Lohnkosten durch Kurzarbeit, Änderungskündigungen oder akkordierte Lohneinbußen ab. Zugleich ist Prüfstein profitabler Arbeitskraftverausgabung gerade auch unter den ggw. Bedingungen eines beschleunigten tendenziellen Falles der Profitrate in der Überakkumula7 8 9 10 11 12 13

Deller/Kern/Hausmann/Diederichs, Personalmanagement im demografischen Wandel. Ein Handbuch für den Veränderungsprozess (2008); Drumm, Personalwirtschaft (2008). Alheit/Dausien, Arbeitsleben (1985). Aulenbacher/Funder/Jacobsen/Völker (Hrsg.), Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft (2007). Opitz, Gouvernementalität im Postfordismus (2004). Statistik Austria, http://wko.at/Statistik/KMU/WKO-BeschStatK.pdf. Human Resource Management, http://www.hrm-austria.at; Brinkmann, Ganzheitliche Unternehmensführung und offensives Personalmanagement (1996). Elster, Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung (2007).

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tionskrise die Erschließung von Kreativitäts- und Innovationspotentialen14 in einer situativen, lösungsorientierten Verknüpfung von Hand- und Kopfarbeit. Die zunehmenden Anforderungen an die Arbeitskraft bedingt durch unentwegte Effizienzsteigerung, die Optimierung der Kundenorientierung, die sich ausbreitende „Just-in-Time“- und „Just-in-Sequence“-Logistik, die Figur des „atmenden“ Unternehmens, der Anstieg der Anzahl fraktaler Unternehmen in Clustern, die Wiederkehr handwerklicher/manufakturieller Produktionsformen usf. machen dies deutlich. Gerade in den technologieintensiven Kernsegmenten des modernen Kapitalismus (Maschinenbau, Mikroelektronik, Softwareentwicklung, Bionik) findet daher nicht nur die autoritäre Strategie der extensiven Exploitation (Ausweitung der Arbeitszeit), sondern auch jene der intensiven Exploitation (Erhöhung des „Workload“, Steigerung des Tempos) eine funktionale Grenze. Bei immer stärkerer Kunden- und Einzelorientierung, kleineren Losgrößen, flexiblerer Produktion und verkürzten Marktzyklen von Produkten sind zugleich sowohl kontinuierliche Produkt- als auch Prozessinnovativen eine „conditio sine qua non“ erfolgreicher Unternehmen. Betriebliche Personalwirtschaft wird damit nicht nur enger denn je an Fragen der Organisation(sentwicklung) zurückgebunden, sondern ist zugleich auch Teil betrieblichen Wissens- und Innovationsmanagements. Dies erhöht die Anforderungen an die stabil beschäftigten ArbeitnehmerInnen von Unternehmen entscheidend, gerade weil Innovation in den sich als lernende Organisationen verstehenden Unternehmen immer weniger auf „Entwicklungsabteilungen/F&E“ zurückgreifen kann, sondern das gesamte Unternehmen (jedenfalls: dessen Kernbelegschaft) miteinschließen muss. Das verschiebt nicht nur die institutionellen Ausprägungen der Arbeitsorganisation (Fertigungsinseln, flexible Teams, Handwerksarbeit etwa bei der Produktion des Motors des Mercedes SL 500), sondern auch die Vorstellungen von Arbeitszeit (Zeitkonten, Vertrauensarbeitszeiten, autonom distribuierte Teamzeitorganisation) sowie die Vorstellung des Entgeltes (Grundlohn, Leistungslohn, Prämiensysteme, Erfolgsbeteiligung am Unternehmen, Halten von Anteilen des Unternehmens). Unbestritten bleibt: die Aneignung fremder Arbeit basiert nach wie vor auf der Abschöpfung von Mehrwert innerhalb eines als Äquivalententausch verbrämten Kontraktes zwischen formal Gleichen und material Ungleichen (Burkhard Tuschling). Doch kann Mehrwert nicht einmal mehr ansatzweise stabil durch die bloße Kostendifferenz zwischen eingekaufter und physikalisch verwerteter Arbeitskraft, deren Verausgabung und fremdem „Kommando“ und lukriertem Preis der Waren erwirtschaftet werden. Es ist eben nicht mehr nur die Aneignung fremder Arbeitskraft und fremder Arbeitsprodukte, sondern in zunehmender Weise auch die Aneignung und Verarbeitung fremder Ideen, potentieller Lösungen und kreativer Potentiale in zeitlich diffusen Arrangements, die als „Entgrenzung von Arbeiten und Leben“ beschrieben werden, welche die modernen Arbeitsverhältnisse auszeichnet. Darin spiegelt sich zugleich, dass jeweilige Produktivkraftverhältnisse und Produktivitätsressouren jeweils unterschiedliche regulatorische Arrangements erfordern, wie auch der historische Rückblick in die Verhältnisse von Herr – Sklave, kolonialistisches Zentrum – Peripherie, Feudalherr – Höriger –oder Fabrikherr – Arbeiter der ersten industriellen Revolution zeigt. Indes bleibt es die menschliche Arbeitskraft, die Wert schöpft, wobei sich die Werte der Produktionsmittel bekanntlich nur anteilig auf Waren übertragen; nach wie vor kann Mehrwert nur durch Mehrarbeit geschaffen werden. Während aber das klassische Lohnarbeitsverhältnis auf der ideologischen Verschleierung (Fetischisierung) der Arbeitszeit 14

Bernien/Delitz, Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Flexibilisierung der Ausbeutung (1989).

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und Arbeitsleistung unter unmittelbarem „Kommando“ beruht, in dem jede Spur der Aufteilung des Arbeitstages zwischen notwendiger und Mehrarbeit, zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit verschwunden ist, also alle Arbeit als bezahlt erscheint, durchbrechen die neuen, flexiblen Arbeitsverhältnisse diese vordem hermetischen Trennungen. Nicht nur Stück- und Leistungslohn, sondern der Einbau von Logiken des Werkvertrags in das unselbständige Beschäftigungsverhältnis, erweiterte Autonomiespielräume sowie zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn konsentierte Verfahren erfolgs- und problemlösungsorientierter Leistungsmessung machen das Expropriationsverhältnis nur mehr mittelbar sichtbar. Vertrauens- oder Projektarbeitszeiten machen nunmehr die ArbeitnehmerInnen verantwortlich für das Arbeitsergebnis; verkauft wird nicht mehr die Arbeitszeit bzw. Arbeitskraft für einen bestimmten Zeitraum, sondern verkauft die Gewährleistung für Qualität, Fehlerfreiheit oder ein konkretes Ergebnis. Damit tritt der in entwickelten industriekapitalistischen Gesellschaften historische Produktionsbedingungen kennzeichnende Zwangsarbeitscharakter der Lohnarbeit in den Hintergrund. Moderne Arbeitsverhältnisse verschränken Produktion und Mehrwertrealisierung, etwa durch die Kombination von Grund- und Leistungslöhnen, Basisbezügen und umsatzorientierten Lohnbestandteilen und die Beteiligung am Unternehmensgewinn in Form von Prämien. Boltanski/Chiapello diagnostizieren nach dem (vorläufigen) Endsieg der neoliberalen (Gegen) Revolution einen „neuen Geist des Kapitalismus“, in dem die Kernbelegschaften wissensbasierter Produktionsformen neue Freiheiten etwa durch Team-Work, Vertrauensarbeitszeiten oder selbstbestimmte Arbeitsformen genießen, während moderne Managementmethoden des Personalwesens gar gleich auch die traditionelle Entfremdungskritik an der kapitalistischen Kommandowirtschaft kapern15. Der moderne Managementdiskurs hat in der Tat zwischenzeitig internalisiert, dass direktive Formen der Vorgabe und Kontrolle von Arbeitstätigkeiten die Selbsttätigkeit der autonomen Subjekte unterdrückt und zugleich damit in einem intensivierten Produktivitäts- und Modernisierungswettbewerb Innovations- und Produktivitätspotentiale „verspielt“. Dieser Fokus überlagert die traditionelle Konfliktlinie der Kritik an der Ungerechtigkeit des formal gleichen, aber material ungleichen – weil Mehrwert „expropriierenden“ Tausches, wie er im sozialreformistischen Diskurs in der Figur des „gerechten Lohnes“ zu Tage getreten ist. Er betont, dass Mitsprache, Transparenz, Selbstbestimmung oder Selbstorganisation, subjektive Freiheit und Spielräume der Kreativität betriebliche Herrschaft nicht dysfunktional behindern, sondern Assets im unternehmerischen Wettbewerb darstellen. Dieser „neue Geist“ forciert die für qualifizierte und mobile Arbeitskräfte attraktiven Aspekte flexibel reorganisierter Arbeit, um die Motivation der Beschäftigten zu steigern. Entfremdende Arbeitszusammenhänge werden durch neue Freiheiten ersetzt, die allerdings um die Gegenleistung der Preisgabe erworbener Sicherheiten erkauft werden müssen. Sicherheit wird gegen Freiheit eingetauscht. Dies spiegelt substantiell nicht nur Innovationen des Personalmanagements im Lichte der „Human Relations“ und „Human Resources“-Debatten wider, sondern muss auch als Ergebnis technologischer Innovationen und Rationalisierungszwänge gelesen werden, die eine mikrosozial wirksame Ausweitung der Kontrollintensität im Kontext der Verausgabung von Arbeitskraft erforderlich machen. Reorganisationsprozesse, die zu betrieblichen Kontraktionsprozessen, zur Ausdifferenzierung von Kern- und Randbelegschaften oder zu extensiven Praktiken des Outsourcing führen, bedürfen neuer Formen und Praktiken der effektiven 15

Boltanski/Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme (1999).

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Überwachung, auch und gerade in der Fertigungsinselarbeit, der Heimarbeit, Brainstormingund anderen innovativen Suchprozessen. Neue Technologien ermöglichen es, auch diese frei gestaltete Lohnarbeit zu überwachen. Dies erfordert genauer betrachtet nicht nur „Compliance“, also zustimmende Mitwirkung der Lohnabhängigen, sondern auch Affirmation, also selbsttätiges Mitwirken. Resignierte, innerlich gekündigte MitarbeiterInnen, die im Burn-Out oder Bore-Out stecken, behindern die Verwertung ihrer Arbeitsvermögen, halten Innovationspotentiale und Ideen zurück. Unternehmen sind folglich darauf angewiesen, nachhaltig wettbewerbsorientiert auf- und anregende Arbeitsbedingungen zu bieten, arbeiten daher mit „Job-Enrichment“ und/oder „JobEnlargement“-Strategien, um intrinsische Motivationselemente zu stärken. So geht branchenspezifisch unterschiedlich gewichtet das Ausmaß entfremdender Beschäftigungsbedingungen und -verhältnisse auf ambivalente Weise zurück. Unter fordistischen Bedingungen wurde die entfremdete Lohnarbeit fremdbestimmt erledigt und die Arbeitskräfte waren nur jenseits und außerhalb der Arbeit bei sich. Unter postfordistischen Bedingungen bringen die Arbeitskräfte als Arbeitskraftunternehmer ihre gesamte Kreativität, ihre Arbeitsvermögen, Zeitressourcen, Ideen und körperliche Präsenz in den Arbeitsprozess ein. Es kommt zu einer Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben. Vor dem Einzug des Human-Relations-Denkens in die Betriebswirtschaft und nach dessen Verdrängung durch die frühe (krude) Human-Resources-Debatte wurden Arbeitskräfte dominant mechanisch wahrgenommen. Während die frühe Human Resources Debatte Arbeitskräfte unterkomplex als Humankapital wahrnahm, wird die Arbeitskraft, ihre Motivation, ihre bio-soziale Reproduktion heute als komplexes Verhältnis verstanden. Dies spiegelt sich in den Diskursen um Worklife-Balances, Zeit- und Bildungskonten, Sabbaticals oder Austauschprogramme zwischen Banken und Obdachloseneinrichtungen. Zugleich gehen damit aber auch die „Inseln des Sozialen“ (Eve Chiapello) verloren, die dem kapitalistischen Produktivitätsprozess bislang entzogen geblieben waren. Moderne Arbeitskräfte arbeiten zunehmend auch am Wochenende, beim Sport und im Urlaub, werden zugleich freilich während ihrer Dienstzeiten auf Outdoor-Events geschickt.16 Zugleich produzieren die Praktiken, über welche sich die neuen Freiheiten realisieren, selbst neue Unsicherheiten, nämlich Prozesse der Prekarisierung oder Zwänge zur Bereitschaft steter Neuorientierung. So verläuft der moderne betriebliche Konflikt letztendlich um ein sozial akzeptanzfähiges Maß an „Flexicurity“. Um die Anforderungen an das moderne Personalwesen/Personalmanagement zu rekonstruieren, werden in einem zweiten Abschnitt Eckmarken des modernen Personalwesens rekapituliert, in Abschnitt 3 „Features“ der modernen Arbeitswelt erörtert und in Abschnitt 4 Umrisse einer Theorie der Arbeitsmotivation diskutiert.

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http://www.misik.at/die-grossen-interviews/was-ist-der-neue-geist-des-kapitalismus-frau-chiapello.php.

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Personalwesen – Quadratur des Kreises

Das moderne Personalwesen17 zielt formal auf die nachhaltige Sicherstellung optimiertqualifizierter Arbeitskräfte zum Erhalt und Ausbau der Markt(konkurrenz)position von Unternehmen. Diesem Ziel einer nachhaltigen Sicherstellung der Wertschöpfung (und Werterhaltung) dienen nicht nur Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitszufriedenheit und Arbeitsproduktivität oder zur Bindung höherqualifizierter MitarbeiterInnen. Hierzu werden auch Maßnahmen zur Steigerung des Arbeitsdrucks, der Beschleunigung des Produktionsprozesses, der unentgeltlichen Abschöpfung von Mitarbeiterideen oder der Etablierung permanenter innerbetrieblicher Konkurrenzbedingungen umgesetzt. Stehende Einsicht ist einerseits, dass eine hohe MitarbeiterInnenzufriedenheit nicht nur das betriebliche Konfliktniveau reduziert, sondern auch die Produktivität und damit die Gewinnmarge erhöht. Zugleich aber wird auch Druck auf die Arbeitsbereitschaft ausgeübt, werden zeitliche und funktionale Handlungsspielräume der MitarbeiterInnen unter Hinweis auf nötige Effizienzsteigerungen reduziert. Darin wird deutlich, dass die Anforderungen an das Personalmanagement mehrschichtig und in sich widersprüchlich sind: Personalisten sollen Lohnkosten senken und die Betriebszugehörigkeit von Kernbelegschaften stabilisieren, sollen hochqualifizierte MitarbeiterInnen binden und gleichzeitig die Entwertung erworbener Qualifikationen implementieren, sollen Arbeitsdruck und Output erhöhen, zugleich Krankenstände und Fehlzeiten (Absentismus) reduzieren. Dieser Widerspruch wird sowohl in den Bereichen der Personalplanung, der Personalbedarfsdeckung, Personalführung, Personalentwicklung und Entgeltgestaltung sichtbar. Vor allem die Personalentwicklung macht dies deutlich. Schulungs- und Fortbildungsmaßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Qualifikation von MitarbeiterInnen, Coaching für Führungskräfte und Supervision sollen Kompetenzen (Sozialkompetenz, Fachkompetenz) fördern, erfordern aber zugleich auch einen kalkulierbaren „Return on Investment“, die Verwertung der erworbenen Qualifikationen im betrieblichen Wertschöpfungsprozess. Die Investition in die Arbeitsvermögen der Lohnarbeitskraft ist regelhaft widersprüchlich: denn sie evoziert zugleich auch eine erhöhte Mobilität der Arbeitskraft, erhöhtes Widerstandspotential und erschwert die „Steuerbarkeit“ von ArbeitnehmerInnen. Unternehmenskulturen mit 360-Grad-Feedback-Prozeduren provozieren den Anspruch der MitarbeiterInnen auf betriebliche Mitbestimmung und Transparenz. Patenschaften, Mentorensysteme, Trainingon-the-Job-Systeme delegieren Führungs- und Ausbildungsverantwortung an MitarbeiterInnen und erschweren die allfällige Rückkehr in autoritäre Entscheidungsmuster; sie bringen also spezifische Pfadabhängigkeiten hervor. Die Methoden der Personalentwicklung, etwa Job-Rotation, Job-Enrichment oder Job-Enlargement, bemächtigen MitarbeiterInnen, was sich etwa in der Fähigkeit zur Planung und Implementation von Punkt-Streiks abbildet. Moderne Personalkommunikation (Intranet, Unternehmen-WIKI’s, Data-Warehouse, Betriebszeitung) ist ebenso mehrschichtig, da diese Kommunikationsforen nicht nur als „One-Way“Kommunikationskanäle genutzt werden können, sondern vielmehr gegebenenfalls auch kritische Öffentlichkeit herstellen, selbst dann, wenn Betriebsräte eng mit dem betrieblichen Personalmanagement kooperieren. Dies betrifft insbesondere die Durchsetzung betrieblicher Differenzierungen und hierarchischer Muster, etwa bei der Einführung differenzierter Lohnmuster (Zeit-, Akkord- oder Prämienlohn). 17

Hammer/Kaltenbrunner, Organisation, Personal & Führung, Management (2009).

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Dynamiken moderner Arbeitswelten

Nach drei Jahrzehnten industriesoziologischer Debatte18 herrscht heute weitgehend Einvernehmen darüber, dass sich die Welt der Arbeit in mehreren Dimensionen gleichzeitig in einem fundamentalen Umbruch befindet und dass dies zugleich erheblichen Einfluss auf Konzepte und Praktiken der Personalwirtschaft hat. Während die Unternehmen aufgrund politischer Entscheidungen durch Standortwettbewerb, Regime-Shopping und die Dominanz neuer Management-Paradigmen unter Anpassungsdruck geraten, unterliegt die Arbeitswelt selbst einer fortlaufenden Rationalisierung und Automatisation. Dies verändert nicht nur das Zeitregime und die Anforderungen an die Arbeitskraftqualifikation, die zeitliche, örtliche und sachlich-fachliche Verfügbarkeit der Arbeitskraft. Es steigert auch den innerbetrieblichen Druck. Dies trägt zu Mobbing, innerer Kündigung, Leistungsverweigerung und Frühverrentung bei. Jährlich verschwinden zudem etwa 10 % aller Arbeitsplätze, die nicht einfach in derselben Branche an anderer Stelle wieder auftauchen. Sie werden nur teilweise durch andere Arbeitsplätze in Verbindung mit neuen Arbeitsprozessen in neuen Unternehmen ersetzt, die neue, bessere oder umfassendere Qualifikationen voraussetzen. So entsteht ein „Arbeitsmarkt der zwei Geschwindigkeiten", mit einem Überangebot an un- und angelernten Arbeitskräften und überholten Fertigkeiten einerseits, und Engpässen bei den stet komplexer werdenden Kompetenzen andererseits. Betriebliche Arbeitsteilungen werden daher zunehmend transnational organisiert. Lebenslanges Entlernen, Umlernen und Adaptieren wird für die „Arbeitsplatzbesitzer“ zu einem unhintergehbaren Zwang. Daher nimmt auch die Spreizung zwischen qualitativ höheren und besser bezahlten sowie qualitativ niedrigeren und schlechter bezahlten Arbeitsplätzen zu. Aus der Fülle von Aspekten seien folgende kursorisch herausgehoben: 1. Die subjektivierte Entgrenzung von Arbeiten und Privatleben, die räumliche und zeitliche Vermengung beider Lebensbereiche, ist bedingt durch die Subsumtion der Arbeitskraft unter die technisch aufgerüsteten und organisationell flexibilisierten Arbeitsabläufe. Unter den geltenden Bedingungen können Arbeitskräfte – abhängig von Qualifikation, Arbeitsinhalt und Arbeitsform – kaum noch zeitliche und räumliche Grenzen zwischen Familie, Privatleben und Erwerbsarbeit ziehen. Wer aus objektiven oder subjektiven Gründen keine Verhandlungsmacht entwickeln kann, ist stärker als andere dem wachsenden Zugriff des Arbeitgebers ausgesetzt. In der Tat kommen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen tendenziell vor allem jene zum Zug, die sich dem Unternehmen vorbehaltlos zur Verfügung stellen. 2. Die Atypisierung und Flexibilisierung von Arbeit schafft funktional und ökonomisch Risikosegmente der Lohnarbeit mit unterbrochenen oder diskontiuierlichen Erwerbsbiographien, Niedrigeinkommen und sukzessivem Qualifikationsverlust; in Deutschland lag der Anteil atypischer Beschäftigung 2008 bei 29,4 %; in Österreich bei 34 %. Mit „Atypisierung“ ist hier die Flucht aus dem Normalarbeitsverhältnis in Formen des individualisierten Zuschnittes von Arbeitsverhältnissen gemeint. Atypisch sind Beschäftigungsverhältnisse, bei denen es sich nicht um dauerhafte Vollzeitbeschäftigung handelt. Dazu zählen im Kern Teilzeit, freie Dienstverträge, Arbeit auf Abruf, Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Tele-Arbeit oder Heimarbeit. „Flexibilisierung“ meint darin die Arbeitszeitkomponente, die dadurch Bedeutung gewinnt, dass erweiterte Maschinen18

Kühl, Arbeits- und Industriesoziologie (2004).

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Nikolaus Dimmel laufzeiten die Produktivität und Rentabilität steigern, dass in „Just-in-Time“- oder „Justin-Sequence“-Prozessen markt- und kundenorientiert ohne Lagerhaltungskosten produziert werden kann. „Typische Arbeit“ stellt im Kapitalverhältnis freilich eine historische Ausnahmesituation dar. Zugleich gilt: ausgehend vom frühen Arbeitsrecht ist die Geschichte des Arbeitskampfes eine Geschichte selektiver Kompromisse. Immer waren erhebliche Teile der Lohnabhängigen nicht oder nur eingeschränkt vom jeweiligen Klassen- und Verteilungskompromiss begünstigt. Die Prekarität von Beschäftigung war der (kapitalistische) Normalfall. Erst in der Nachkriegszeit (WK II) können wir von einer umfassenden Typisierung, dem „Normalarbeitsverhältnis“ mit regularisierter, sozial abgesicherter Vollzeitbeschäftigung bei steter Partizipation am Wirtschaftswachstum sprechen. Nach einer kurzen Ära vermeintlich „immerwährender Prosperität“ (Burkhard Lutz), eigentlich befristet auf die Periode 1969 bis 1981, war es damit aber gleich wieder zu Ende. Seither kehrt der Kapitalismus in seinen Normalzustand zurück. Mehr als ein Drittel der unselbständigen Erwerbsbevölkerung arbeitet in Österreich atypisch, alleine 950.000 Personen teilzeit, knapp 250.000 gelten nach EU-SILC als „Working Poor“, etwa 43 % der Bevölkerung gelten vor Transfers als einkommensarm. Die Ausweitung des Anteils interaktiver (Kommunikations)Arbeit in Dienstleistungsunternehmen steigert die Anforderungen an die Arbeitskraft, weil einerseits Kundenverhalten und Kundenbedürfnisse vor Ort nicht planbar sind, andererseits die Rolle des Leistungsempfängers und ökonomischen Kunden oftmals auseinanderfallen; auch die regulativen Rahmenbedingungen (etwa: Informationspflichten, haftungsrechtliche Bestimmungen) steigern die Anforderungen an die kommunikativen Kompetenzen der MitarbeiterInnen. In einer automatisierten und robotisierten Produktionssphäre nimmt die qualitative Bedeutung hochqualifizierter lebendiger Arbeit zu, weil auch die Komplexität von Arbeitsprozessen etwa in Form der Wartungs- und Reparaturarbeit zunimmt; eine steigende Anzahl von Tätigkeiten ist durch den Zwang zur permanenten situativen Bewältigung von Unvorhergesehenem, Unwägbarem und Nicht-Planbarem geprägt. Der Umgang mit diesen Herausforderungen wird zur Kernkompetenz von Arbeitsvermögen. Die Ausweitung selbstverantwortlicher Teamarbeit als Form der Arbeitsteilung in Arbeits- und Projektgruppen (Task-Forces) mit einer komplexen inneren Architektur (Identität, Kommunikation, Rollenverteilung, Leitung) setzt nicht nur „Teamfähigkeit“, Flexibilität und die Bewältigung komplexer Rollen-Repertoires voraus, sondern auch gelingendes „Job-Enrichment“ und „Job-Enlargement“. Insbesondere im technischen Bereich (EDV/Software, Maschinen- und Anlagenbau) werden Teams bereichsübergreifend fortlaufend neu zusammengesetzt. Dies erhöht die Anforderungen an das Konfliktmanagement in teilautonomen Arbeitsgruppen, die Aufgaben, Ressourcen und Zeit eigenständig verteilen und verantworten. Vielfach haben Teams nur jeweils situativ klar definierte Zeit-, Inhalts-, und Kostenziele, etwa im Rahmen der Qualitätssicherung von Projekten. Die Herausbildung des aktiv-selbststeuernden Arbeitskraftunternehmers, der sich durch Selbstkontrolle, Selbst-Ökonomisierung, Selbst-Rationalisierung und eine Verbetrieblichung der Lebensführung auszeichnet, prägt die Arbeitswelt vor allem der Konzipisten und Symbolagenten, von hochqualifizierten und spezialisierten Rechts- und Wirtschaftsdienstleistern. Je mehr Unternehmen gerade auch unter Einbindung der Arbeitnehmervertretungen ergebnis-, qualitäts- und marktorientierte Ziele für ihre Beschäftigten vorgeben bzw. mit diesen vereinbaren, und eben nicht mehr deren Arbeitsverausgabung

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formal regulieren und kontrollieren, sehen sich die Beschäftigten mit der „weichen“ und prozedural veränderlichen Anforderung konfrontiert, ihre Arbeit selbst zu organisieren, zu kontrollieren und an den Unternehmenszielen zu orientieren. Während so die Figur des Vorarbeiters, die Aufgabe der Arbeitsanleitung verschwindet, exekutieren ArbeitnehmerInnen gleichsam Managementfunktionen an sich selbst, etwa in Form eines gruppenbezogenen Time-Management, setzen sich unter Erfolgszwang, regulieren den eigenen Leistungsdruck und beteiligen sich proaktiv an der indirekten Steuerung ihrer Arbeit vermittelt über Gruppenprozesse. Sie planen selbständig, überwachen die eigene Arbeitsausführung, arbeiten auf Grundlage indirekter Steuerungsimpulse und -anreize. Dies verändert Muster und Strukturen betrieblicher Herrschaft. Arbeitskraftunternehmer internalisieren Rationalitätsmuster „ihres“ Betriebes, setzen ihre Arbeitskraft selektiv und strategisch ein, entwickeln ihre Arbeitsvermögen zielgerichtet und reflektiert, vermarkten sich selbst und sind bereit zu eigenständigen Anpassungsleistungen. Voß/Pongratz skizzieren die Figur des Arbeitskraftunternehmers als ambivalent, relativ frei, kaum fremdbestimmt und selbstdiszipliniert. Die Veränderungen betrieblicher und überbetrieblicher Machtbeziehungen zwischen Arbeit und Kapital, vor allem ausgedrückt durch die Ausweitung der Leiharbeit, Polarisierungen der Qualifikationsmuster, Arbeitszeitflexibilisierungen sowie die Differenzierungsprozesse zwischen Kern- und Randbelegschaften führen zu neuen Formen der De-Solidarisierung, einem Rückgang der gewerkschaftlichen Organisierbarkeit, zu einem Bedeutungsverlust des Tarif- bzw. Kollektivvertrags und einer Bedeutungszunahme der Betriebsvereinbarung und des Einzelarbeitsvertrages als Regelungsinstrumente. Die Veränderung der betrieblichen Aufbau- und Ablauforganisation (Arbeitsteilung; Systeme konzentrischer Kreise; Auslagerung; Just-in-Time-Produktion, Just-inSequence-Produktion, soziale Kontroll-Technologien im Betrieb) bringt neue betriebliche Konfliktlinien (etwa um die Kontrolle der Privatsphäre von ArbeitnehmerInnen) hervor. Freilich ist die Entwicklung der Aufbau- und Ablauforganisation von Betrieben auf Branche und Betriebsgröße bezogen sehr unterschiedlich. Längst nicht alle Betriebe – vor allem kleinere und mittlere KMU – sind durch Outsourcing, Just-in-Time, Just-in-Sequence und erweitertes Markenmanagement geprägt. Vor allem sind es Industriebetriebe, die moderne Personalwirtschaftsmethoden anwenden; in KMU kommen diese nur ansatzweise zum Tragen19. So sehen wir eine dreifache Auffächerung des modernen kapitalistischen Produktionsprozesses, die für die Anwendungspraxis personalwirtschaftlicher Instrumente von Bedeutung ist: zum ersten gliedern sich Betriebe intern in konzentrische Kreise abgestufter Beschäftigungssicherheit und Qualifikation; zum zweiten gliedern sich die Unternehmen zueinander je nach Branche, Markt und Konkurrenzverhältnis auf einem Kontinuum zwischen Anwendung und Nicht-Anwendung gezielt eingesetzter personalwirtschaftlicher Instrumente. Zum dritten sehen wir nur noch im innersten Kreis industrieller Stammbelegschaften die Anwendung der (alten) toyotistischen Methoden des TQM, die mit ihrem Fokus auf Qualitätssicherung und Personalentwicklung ihre Verwurzelung im „Human Relations“-Konzept augenfällig machen. Der wettbewerbsfähige Kern der globalisierten (d. h.: auf globalisierten Wettbewerb ausgerichteten) Ökonomie sieht wie folgt aus: stabil integrierte, hochqualifizierte Auto-

Dimmel/Bruton, Führungsverhalten von JungunternehmerInnen in KMU zur nachhaltigen Beschäftigung und Förderung des Unternehmenserfolges (2007).

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matisationsarbeiter operieren in vollautomatischen Produktionsstraßen als Wartungsingenieure; Teams von Universalisten – durch Maßnahmen des „Job-Enrichment“ und „Job-Enlargement“ fortlaufend qualifiziert – arbeiten an Fertigungsinseln; Erwerbsverläufe sind relativ stabil, Betriebszugehörigkeit wird durch Assessment-Verfahren auf professionelle Weise sichergestellt. Innerbetrieblicher Aufstieg ist möglich. In einem zweiten konzentrischen Kreis sehen wir Beschäftigungsverhältnisse, die Robert Castel als „abstiegsbedroht“ charakterisiert hat, nämlich traditionelle administrative oder manuell-handwerkliche Qualifikationen, die von Rationalisierungs- und Automatisierungsprozessen bedroht sind. Mittelfristige Betriebszugehörigkeit ist möglich, aber nicht mehr die Regel; innerbetrieblicher Aufstieg ist ein Glücksfall. Betriebsbedingte Kündigungen gelten als ubiquitäres Risiko. Im äußersten Kreis konzentrischen Kreis schließlich finden sich die prekarisierten, atypischen und schlecht qualifizierten Erwerbstätigen mit Zeitverträgen, in Arbeit auf Abruf, ohne betriebliche Zugehörigkeit, Qualifikations- und Aufstiegschancen. Analog differenzieren sich die Produktionsformen aus: automatisierten und robotisierten Produktionsstraßen stehen nach wie vor Praktiken der Fließband-, Takt- und Akkordarbeit, der seriellen Arbeit in 3-er und 4-er Schichten gegenüber. Neben die industrielle Serienproduktion tritt die Wiederkehr manufakturieller Produktionsformen – vor allem im Bereich der Herstellung Luxusgütern (Stereoanlagen; Sportwagen). Insofern muss man von einer Heterogenisierung betrieblicher Herrschafts- und Konfliktkonstellationen sprechen. 8. Die Informatisierung der Arbeit erreicht mit der beinahe flächendeckenden Anwendung von IKT – doppelte Buchführung, Stücklisten und Arbeitsplanungen gab es ja schon zu Beginn des 20. Jhdt. – ein neues Niveau der Analyse, Kontrolle und Steuerung von Arbeitsprozessen. Mit dem Internet entsteht zudem ein neuartiger „Informationsraum“, eine neue Schnittstelle zwischen komplexen Informatisierungssystemen und menschlichem Informationsgebrauch. Damit gehen veränderte Raum-Zeit-Strukturen einher, reorganisierte Wertschöpfungsketten und standort-verteilte Produktionsmodelle. Das wiederum reduziert Autonomiespielräume der Unternehmen aber auch die Gegenmachtpositionen der Belegschaft. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Automat bzw. Robot (Polarisierung der Mitarbeiter-Qualifikationen, Tele-Arbeit; 2007 erster Psychotherapeut-Robot in Japan) wird neu definiert. 9. Die Bedeutung interkultureller Kommunikations- und Kooperationskompetenzen nimmt zu; das betrifft nicht nur das Management multinationaler Konzerne, sondern etwa auch die Teamleitung in multiethnisch besetzten Fertigungsinseln. Milton Bennett spricht von einem interkulturellen „skillset“ oder auch „mindset“ und bringt darin zum Ausdruck, dass ausländerfeindliche und/oder rassistische Stereotype am Arbeitsplatz für Unternehmen zusehends zum Problem werden (Mobbing). 10. Moderne Arbeitszeitregime sind trotz langfristiger Arbeitszeitverkürzung durch Überstunden und die Auflösung traditioneller Arbeitszeitregimes geprägt. Dies bezieht sich auf die Einführung von Vertrauensarbeitszeiten, Zeitkonten, Teamzeitkonten, Projektzeitenbudgets u. a. m. Es bezieht sich zugleich auch auf den Prozess der Atypisierung von Arbeit, etwa in Form von Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf, Leiharbeit, Job-Sharing, schließlich auch auf die Ungleichverteilung des Arbeitsstundenvolumens zwischen kapazitätsorientierter Arbeitszeit oder Teilzeitarbeit einerseits sowie (abgeforderten) Überstunden andererseits. 2007 etwa leisteten 822.000 Beschäftigte in Österreich (26 % der unselbständig Beschäftigten) über die kollektivvertraglich festgelegte Arbeitszeit hinaus

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

357

Überstunden (560.500 Männer; 261.500 Frauen)20. 2004 waren es noch 650.000 Personen gewesen. 2004 bis 2007 war also eine Steigerung von 26,8 % der Überstunden leistenden Beschäftigten zu verzeichnen. Durchschnittlich werden 8,8 Überstunden wöchentlich geleistet. Die durchschnittliche Überstundenzahl der Männer betrug im Vorjahr knapp 9,4 Stunden, jene der Frauen belief sich auf 7,5 Stunden. 2007 sind 375 Millionen Überstunden angefallen. Rechnet man die Überstunden ausgehend von einer 40Stunden-Woche um, würde dies einem Arbeitskräftepotenzial von fast 190.000 Personen entsprechen. Das entspricht beinahe den 205.000 Arbeitslosen zum Stichtag. Auch minderjährige Lehrlinge müssen Überstunden leisten, 32 % von ihnen mehrmals wöchentlich. Ausmaß und Häufigkeit der Überstundenleistung bei minderjährigen Lehrlingen ist im Ergebnis genauso hoch wie bei den über 18-Jährigen. Beinahe 16 % der Lehrlinge können nicht die gesetzlich zustehenden fünf Wochen jährlichen Urlaub nehmen. In der Gastronomie betrifft dies 30 % aller Lehrlinge. So wird die Normalarbeitszeit sukzessive aufgelöst. Alleine zwischen 2000 und 2005 sind 85.000 Vollzeitarbeitsplätze verloren gegangen, die Teilzeitbeschäftigung hat gegengleich um 140.000 zugenommen. Von den 970.000 in Teilzeit arbeitenden Menschen in Österreich sehen 30 % dies als Not- oder Übergangslösung. Insgesamt waren im zweiten Quartal 2008 genau 186.200 Männer und 782.100 Frauen teilzeitbeschäftigt. Der Anteil von Männern an Vollzeitbeschäftigten betrug damit 8,3 %, jener von Frauen 41,9 %. Vor allem jüngere Frauen arbeiten vermehrt in Teilzeit, in erster Linie um Kindererziehung und Erwerbstätigkeit zu vereinen. Lediglich ein Viertel zeigt sich zufrieden mit der Teilzeit und will auch weiter so arbeiten. 11. Die immer dispersere Verteilung von Arbeitslosigkeitsrisiken (das Arbeitslosigkeitsrisiko von Männern gleicht sich jenem von Frauen an; auch bei höherqualifizierten Stellenprofilen steigt der „turnover“ am Arbeitsmarkt an) führt als endemische soziale Risikoform zu einer Normalisierung der Arbeitslosigkeitsbetroffenheit; statistisch endet jedes zweite Beschäftigungsverhältnis innerhalb eines Jahres; umgekehrt entstehen damit für Unternehmen gesteigerte Anforderungen an den Umgang mit Wissen, vor allem „tacit knowledge“, an das innerbetriebliche Wissensmanagement, um geeignete Technologien zum „knowledge storage“ zu konzipieren, letztlich aber das Erfordernis, selektiv Strategien zu entwickeln, (vor allem ältere) MitarbeiterInnen zu halten. Diese Veränderungen der Arbeitswelt spiegeln die Veränderung der ökonomischen Regulationsweise im Übergang von fordistischen hin zu post-fordistischen Steuerungsbedingungen:

3.1

Fordismus

Das fordistische Lohnarbeitsverhältnis und sein Arbeitsmarkt basierten auf dem Lohn als Form der Vergütung einer kollektiv detailliert geregelten Arbeit, die auch Konsummuster, Lebensweisen, Arbeitsdisziplin und den Produktionsrhythmus regelte. Es fußte auf sechs Differenzierungen, nämlich 1. einer klaren Trennung zwischen denen, die regelmäßig arbeiten („Aktiven“) und den „Inaktiven“ (den sog. „Erhaltenen“) oder „Semi-Aktiven“, die entweder vorübergehend aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind oder in institutionell regulierten Formen beschäftigt werden müssen; 20

Statistik Austria 2009.

358 2.

3.

4.

5.

6.

3.2

Nikolaus Dimmel einer kulturellen Kopplung der Erwerbstätigen an ihre Arbeitsplätze sowie der fortlaufenden Rationalisierung des Arbeitsprozesses im Rahmen einer reglementierten Zeitverwaltung. Diese Anbindung setzt sich aus intrinsischen und instrumentellen Motiven zusammen; einer Sicherstellung der gesellschaftlichen Teilhabe über die Vermittlungsebene des Lohnes. Dieser Lohn ermöglichte die Teilhabe an den neuen Konsumnormen, durch welche die Erwerbstätigen zu NutznießerInnen und KonsumentInnen der Massenproduktion wurden. Die Lohn- und Verteilungspolitik ermöglichte eine Homogenisierung der Milieus und der Lebensweisen, also eine Nivellierung sozialer Ungleichheit; einer Teilhabe am Sozialeigentum und Zugang zu den öffentlichen Dienstleistungen. Die ArbeitnehmerInnen wurden zu Subjekten mit Anspruch auf öffentliche Güter sowie auf Teilhabe an meritorischen Gütern, die öffentlich bezuschusst werden. Rechtsansprüche wurden an den eindeutig identifizierbaren Zustand der Lohnarbeit oder an die Arbeitsbereitschaft geknüpft, wodurch der Status der Erwerbsbevölkerung von jenem des Restes der unständigen Arbeit abgegrenzt wurde; einer Verankerung der Rechte von ArbeitnehmerInnen im kollektiven Arbeitsrecht, wodurch ein sozialer Status jenseits der rein individuellen Dimension des Arbeitsvertrags geschaffen wurde. Damit wurde die Politik der Arbeit aus der Sphäre des Zivilrechts herausgehoben und um das Feld des öffentlichen Rechts erweitert; einer De-Kommodifizierung der Arbeitskraft durch eine beschränkte und risikobezogene Befreiung von Marktzwängen auf einem geregelten und standardisierten Arbeitsmarkt.

Post-Fordismus

Das postfordistische Lohnarbeitsverhältnis konterkariert dieses Arbeitsmarktmuster durch korrespondierende Gegenbewegungen, nämlich: 1. die sukzessive Auflösung der Grenzen zwischen Integrierten und Desintegrierten. Oskar Negt spricht von einer „wachsenden Armee der Überflüssigen“. Dies wird hervorgerufen durch eine strikt marktwirtschaftlich orientierte Produktivitätsentwicklung, mit der die Lernschwachen, Beeinträchtigten und MigrantInnen nur bedingt mithalten können. Deregulierung und Flexibilisierung verwischen die Grenzen zwischen „Aktiven“, „Inaktiven“ oder „Semi-Aktiven“, Integrierten und Ausgeschlossenen. Erwerbsbiographien werden diskontinuierlich und fraktal. Sie setzen sich aus Beschäftigungssequenzen zusammen, die kaum noch miteinander zu tun haben. Sie zerfallen in unterschiedliche, sachlich nicht aneinander geknüpfte Tätigkeiten. Damit gewinnt der Marx’sche Entfremdungsbegriff eine neue Akzentuierung. Man ist nicht mehr nur von den Ergebnissen und Verwendungsweisen des eigenen Produktes entfremdet. Man ist auch seiner eigenen Erwerbs-Biographie entfremdet, in der man nicht mehr bei sich ist, weil eine organische Entwicklung der Arbeitsvermögen unmöglich wird. Das Arbeitsleben verwandelt sich in eine Ansammlung nächstbester Lösungen; 2. die kulturelle Ablösung der Erwerbstätigen von ihrer Arbeit und ihren Arbeitsplätzen. Intrinsische werden schichtspezifisch durch instrumentelle Motivationen verdrängt. Arbeit ist bei den VerliererInnen dieser Entwicklung etwas, das man haben muss, womit man sich aber nicht mehr etwa durch Berufsethos, die sozialen Ligaturen des Betriebs oder die Ästhetik des Produktionsprozesses identifizieren kann. Arbeit ist also etwas,

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

3.

4.

5.

6.

3.3

359

„durch das man durch muss“. Sie verwandelt sich in einen leblosen oder lebensfeindlichen Zustand. Pointierterweise spricht das Management auch nicht mehr von Arbeitskräften, sondern von Humankapital, von „Human Resources Management“ oder Personalstundenkapazität. Ein modernes, „atmendes Unternehmen“ begreift, auch das eine Paradoxie angesichts der Gesetze der Mehrwertökonomie, menschliche Arbeit als beliebig aufspaltbar und disponibel; die Abkopplung von gesellschaftlichem Reichtum und Lohneinkommen. Für einen wachsenden Teil der unselbständig Erwerbstätigen ermöglicht der Lohn nur noch die Subsistenz. Etwa 12–13 % der Bevölkerung sind armutsgefährdet, 6 % akut arm und 32 % befinden sich in der Zone der Prekarität knapp oberhalb der Armutsschwelle. Dies führt zu einer sozial-riskanten Heterogenisierung von Milieus und Lebensweisen; die Privatisierung oder Streichung öffentlicher Dienstleistungen. Die ArbeitnehmerInnen verlieren ihre Ansprüche auf Teilhabe an öffentlichen und meritorischen Gütern. Sie verwandeln sich von KlientInnen in KundInnen auf Sozialdienstleistungsmärkten. Rechtsansprüche auf soziale Sicherheit werden sukzessive durch Kannleistungen ersetzt. Hierzu gehört eine Politik der umfassenden Entstaatlichung bzw. Privatisierung; die Dekollektivierung des arbeitsrechtlichen Schutzes bzw. die Überlagerung des Kollektivvertrages durch die Betriebsvereinbarung oder einzelvertragliche Bestimmungen. Damit wird die Politik der Arbeit aus der Sphäre des öffentlichen Rechts zurückgeschoben in das Feld des Privatrechts; Die Re-Kommodifizierung der Lohnarbeitskraft wird durch eine Verschärfung von Zumutbarkeitsbestimmungen und die Durchsetzung der „employability“, also individueller Beschäftigungsfähigkeit auf einem radikal flexibilisierten Arbeitsmarkt, durchgesetzt. Arbeit lohnt für einen wachsenden Anteil sozial abstiegsgefährdeter ArbeitnehmerInnen nicht mehr; es kommt zu einer Wiederkehr „harter Marktzwänge“. Erworbene Rechte erodieren, Leistungsansprüche werden verstärkt konditionalisiert und prozeduralisiert.

Arbeit – Einkommen – Verteilung

Die oben skizzierte Entwicklung kennzeichnet eine Ära neoliberaler Staatlichkeit, in welcher sich die gesellschaftliche Kategorie der Arbeit und mit ihr die traditionell-meritokratischen Strukturen der Anerkennung von Arbeit (etwa: das Senioritätsprinzip), wie sie für den paternalistischen Kapitalismus, wie ihn Werner Sombart skizziert hat, prägend waren, grundlegend verändert haben. Die für den Fordismus charakteristische Standardisierung der Beschäftigungsverhältnisse weicht einer umfassenden Flexibilisierung und Deregulierung, einer „Flucht aus dem Arbeitsrecht“ (Klaus Firlei) und Verabschiedung des „Normalarbeitsverhältnisses“ (Bernd Mückenberger). Während sich die herrschende Klasse „refeudalisiert“, nämlich nicht mehr arbeitet, sondern einen aktienfinanzierten – im Sinne des Wortes „arbeitslosen“ Lebensstil repräsentiert, kommt es weiter unten zu Polarisierungen und Fragmentierungen der „Workforce“. Während Höherqualifizierte (Konzipisten, Symbolagenten, Wartungsarbeiter, Rechts- und Wirtschaftsdienstleistungen) vom Prozess der Atypisierung, Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeit profitieren, kommt es bei den Modernisierungs- und BildungsverliererInnen und vor allem beim „abgehängten Prekariat“ (Heinz Bude) zu einer Rückkehr frühindustrieller Beschäftigungsverhältnisse. Hier kehrt als Lebenslage wieder, was Karl Marx vordem als Reproduktionsminimum, als unterste Grenze des

360

Nikolaus Dimmel

Lohnes, bestimmt durch die Reproduktion der individuellen Arbeitskraft, beschrieben hat. Heute organisiert der Staat als ideeller Gesamtkapitalist diesen Abstieg der Schlechtqualifizierten (aber nicht nur dieser), nämlich durch „Workfare“-Programme wie die aktuelle „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ oder durch das Aufstellen von Armutsfallen, in denen Arbeitslosengeld- und Notstandshilfebezüge weit unter der EU-SILC-Armutsschwelle liegen. Im Ergebnis haben die Einkommensunterschiede in den Industrieländern (OECD) in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen. Die ärmsten 30 % erhalten nur mehr 5 % aller Einkommen, die reichsten 30 % hingegen 65 % der Einkommen. Die Einkommen nach Steuern stiegen in Österreich zwischen 1996 und 2006 um mehr als 60 %, die Lohneinkommen hingegen nur um 30 %. 1987–2007 nahm der GINI-Koeffizient (Maßzahl der Einkommensungleichheit) von 0,28 auf 0,32 zu. Dies spiegelt vor allem eine Ungleichverteilung der Produktivitätszuwächse: 2001–2007 stiegen die Arbeitskosten in Österreich im Jahresschnitt um 0,9 %, während die Arbeitsstundenproduktivität um 1,6 % p. a. anstieg. Innerhalb der Lohneinkommen nimmt nicht nur die differentielle Lohn-Drift – also die auf jeweilige Beschäftigungsgruppen bezogene Differenz zwischen Tarifeinkommen und effektivem Einkommen – zu, sondern auch die Lohnspreizung. Die Zahl der NiedriglohnbezieherInnen, mithin: die Zahl der „working poor“, nimmt stetig zu. Während 2004 das oberste Fünftel 46,2 % aller Einkommen lukrierte, hatte sich das unterste Fünftel mit 2,3 % zu begnügen. Fünf Jahre später entfiel auf das unterste Fünftel 2,2 %, auf das oberste bereits 46,7 %. Zudem verdienen Frauen um ein Drittel weniger als Männer. 1997–2007 stieg das Pro-Kopf-Einkommen um durchschnittlich 0,6 % (EU-Schnitt: 0,9 %), während alleine zwischen 2000 und 2005 das Einkommen von Managern in Österreich um 95 % zunahm. Das entspricht einer Spreizung von 1:35. Der Durchschnitt freilich verzerrt. Denn 1999–2004 sanken die bereinigten Einkommen von Teilzeitbeschäftigten, Schlechtqualifizierten und atypisch Beschäftigten gerade an den Rändern des Arbeitsmarktes. Beim Geldvermögen liegt der GINI-Koeffizient inzwischen bei 0,66. Das heißt: 1 % der Bevölkerung besitzt mehr als 50 % des Geldvermögens. 50 % hingegen besitzen gar nichts außer Fahrnissen und Schulden. 1 % besitzt 27 % von Allem (Immobilien, Geld, Wertpapiere etc.). Alleine 2004/05 stiegen die ausgeschütteten Dividenden in Österreich um 58 %. Das Vermögen der Haushalte (etwa 2.100 Mrd. €; davon 340 Mrd. € Geldvermögen) ist im Ergebnis zunehmend ungleich verteilt. Die obersten 10 % besitzen zwei Drittel, 1 % knapp die Hälfte des Gesamtvermögens. 3.500 ÖsterreicherInnen sind Dollarmillionäre (mehr als 5 Mio. US-$), etwa 2.000 ÖsterreicherInnen verfügen über mehr als 10 Mio. US-$ und rund 540 Personen über mehr als 30 Mio. US-$ Geldvermögen. Zugleich ist die Vermögensbesteuerung die niedrigste im OECD-Vergleich. Damit entwickelt sich Österreich in Richtung einer Vermögensverteilung, wie sie etwa von Brasilien bekannt ist.

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

4

361

Dynamiken moderner Arbeitswelten

Dieser postfordistische Umbruch spiegelt sich im Kontext der Arbeitswelt – neben anderem – in einer Verdrängung intrinsischer Erwerbsmotivationen durch extrinsische, instrumentelle Motivationen, bei denen nur noch gearbeitet wird, um zu konsumieren, aber auch in einer verallgemeinerten Entwertungs- und Degradierungserfahrung auch und gerade unter den verbliebenen „Arbeitsplatzbesitzern“ im Normalarbeitsverhältnis.

4.1

Motivationstheoretische Annäherungen

Die Entstehung von Theorien der Motivation begann in den 1930er-Jahren mit der „Human Relations“-Theorie von Majo und der Zurückweisung der Figur des „economic man“ nach F. W. Taylor; gleichwohl ist bis dato keine kohärente Theorie der Arbeitsmotivation erkennbar. Heckhausen etwa bezweifelt überhaupt die Messbarkeit von Motiven21. Motivationen erklären im vorliegenden Kontext auf allgemeine Weise, warum Arbeitskräfte arbeiten. Sie erklären Faktoren (Triebfedern) und Prozesse subjektiven Verhaltens, Zielfestlegungen und Verhalten22; Hillmann fasst dabei Motivation als Summe von vor allem (un)bewussten Antrieben23. Motive sind beweglich und modellierbar24. Motivation lässt sich nur als mehrstufiger Prozess verstehen, ausgehend von Trieben, Bedürfnissen und der Rezeption externer (Zwang; Drohung, im Falle der Arbeitsunwilligkeit zu verhungern) wie auch innerer (Selbstverwirklichung; Sinnstiftung; soziale Anschlussfähigkeit) Stimuli25. Quer dazu unterscheidet Mikl-Horke zwischen bedürfnisorientierten (Deprivationsvermeidung) und anreizorientierten (Selbstverwirklichung) Ansätzen26. Obig erwähnte Stimuli übersetzen sich in Spannungen zwischen perzipierten Soll- und Ist-Zuständen27, die durch Handlungen aufgelöst werden28. Derartige Spannungen (Ungleichgewicht, Inkonsistenz) wiederum konkretisierten sich in Bedürfnissen, die individuelles Verhalten und (reflektiertes) Handeln steuern. Verhalten und Handeln allerdings sind auch durch Werte, Lernprozesse und Erfahrungen modifiziert29, etwa durch vorangegangene Arbeitslosigkeitserfahrungen30. Heckhausen/Heckhausen zeigen, dass (Arbeits-)Motive in Motivationssystemen zudem permanentem Wandel unterliegen, weil hier gesellschaftlich-institutionalisierte Werthaltungsmuster, rückgebunden an eigene Arbeitserfahrungen, übernommen und verworfen werden31. Verinnerlichte Werte entscheiden letztlich, was die Arbeitskraft als negativen oder positiven Reiz ansieht. Hammer/

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Heckhausen, Motivation und Handeln (1980). Weinert (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (1974). Hillmann, Gesellschaft, in: Reinhold (Hrsg.), Soziologie (2007). Zimbardo, Psychologie (1983). Meulemann, Soziologie (2009). Mikl-Horke, Industrie- und Arbeitssoziologie (2007). Lersch, Wesen und Bedeutung des Antriebserlebnisses, in: Thomae (Hrsg.), Die Motivation menschlichen Handelns (1976). Steers/Mowday/Shapiro, The Future Of Work Motivation Theory (2004). Thomae, Die Motivation menschlichen Handelns (1976). Thomas, Motivational Research: Explaining Why Consumers Behave The Way They Do (1998). Heckhausen/Heckhausen, Motivation und Handeln (2010).

362

Nikolaus Dimmel

Kaltenbrunner wiederum betten Motive in die Summe der Einstellungen und Erwartungen von Personen über je attraktive Ziele und Werte ein32. Welche Bedürfnisse soziales Handeln determinieren oder „speisen“, ist Gegenstand vielfältiger theoretischer Entwürfe: Maslow geht bekanntlich von einer (pyramidalen) Hierarchie von Bedürfnissen aus, wobei jeweils nächsthöhere Bedürfnisse nach Erfüllung eines nachgeordneten eine antreibende Rolle spielen33. Er unterscheidet zwischen physiologischen Bedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen, sozialen Bedürfnissen, Bedürfnissen nach Achtung sowie schließlich Selbstverwirklichung. Alderfer wiederum identifiziert zwischen Existenz-, Beziehungs- und Wachstumsbedürfnissen34. Arlt unterscheidet (weniger systematisch denn phänomenologisch) zwischen Ernährung, Wohnen, Körperpflege, Bekleidung, Erholung, Luft, Erziehung, Geistespflege, Rechtsschutz, Familienleben, ärztlicher Hilfe und Krankenpflege, Unfallverhütung und Erster Hilfe sowie Ausbildung zur wirtschaftlichen Tüchtigkeit35. Roper zufolge lassen sich Bedürfnisse wie folgt unterscheiden36: Sicherheit, Kommunikation, Atmen, Nahrung, Privatsphäre und Ausscheidung, Hygiene und Kleidung, Regulieren der Körpertemperatur, Sich bewegen, Arbeiten und Spielen, Sich als Mann und Frau fühlen und verhalten, Ruhe/Schlaf, Sinnfindung Murray differenziert zwischen der Vermeidung von Tadel, Leid, Erniedrigung, Misserfolg, Unterwerfung und sozialem Ausschluss, hingegen der Erreichung von Unabhängigkeit, Aggression, Widerstandsfähigkeit und Machtausübung, Fürsorglichkeit, Spiel, Erwerb, Wissen und Leistung, Selbstdarstellung und Verständnis, Sexualität und Geltung37. In den jeweiligen Bedürfnistheorien spielt die Arbeit bzw. der Erwerb – gleichwohl je abgestuft – eine kontextuelle Rolle. Bedürfnisse speisen im Weiteren Motivkonstellationen (Wollen, Wünschen), die individuelles Verhalten und Handeln aufbereiten. Derartige Motive sind dynamisch, rekursiv gekoppelt, interdependent und von vorangehenden Handlungen wie auch Handlungsfolgen abhängig. Sie lassen sich als Antizipation einer möglichen Zukunft verstehen, die auch verschwommen, bild- und gegenstandslos sein kann38, etwa die Vorstellung von einem „besseren Leben“ oder „sozialer Anerkennung“, die als phantasiertes Gefühl perzipiert werden. Die Motivation einer Person erscheint im Weiteren zudem als Ensemble individueller Motive, die nicht notwendig kohärent oder logisch aufeinander abgestimmt sein müssen39. Jeweilige Motivbündel übersetzen sich nun situativ – abhängig von Macht- und Herrschaftsbeziehungen – in Handlungen, die Mittel einsetzen, um Ziele zu erreichen; dabei können Mittel sozial akzeptiert oder als deviant etikettiert sein, unmittelbaren oder mittelbaren Nutzen versprechen.

32 33 34 35 36 37 38 39

Hammer/Kaltenbrunner/Prähauser, Organisation, Personal & Führung, Management (2009). Maslow, Motivation und Persönlichkeit (2002). Alderfer, Existence, Relatedness and Growth. Human Needs in Organizational Settings (1972). Arlt, Wege zu einer Fürsorgewissenschaft (1958). Roper/Logan/Tierney, Das Roper-Logan-Tierney-Modell – basierend auf den Lebensaktivitäten (2002). Murray, Explorations in Personality (1938). Wiswede, Motivation und Verbraucherverhalten. Grundlagen der Motivforschung (1973). Rosenstiel, Arbeitsmotivation und Anreizgestaltung, in: Macharzina/Oechsler (Hrsg.), Personalmanagement (1978).

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

363

Die unvermittelte, generalisierte Annahme der Steuerbarkeit von Motiven40 muss an der anthropologischen Vorordnung von (komplexen) Bedürfnissen41 und Motiven42 sowie an der Individualisierung von Bedürfniskompositen43 scheitern. Offen bleibt dabei ohnehin die Frage, welchen Stellenwert ein Bedürfnis nach Arbeit hat. Maslow etwa kennt nur ein Bedürfnis nach festem Einkommen, sozialem Anschluss und Selbstverwirklichung, direkt aber keines nach Arbeit, Arlt nur ein Bedürfnis nach einer Ausbildung zu „wirtschaftlicher Tüchtigkeit“44. Im Kontext der „Personalführungslehre“ treffen Bedürfniskonstellationen wie erwähnt auf modifizierende, Macht-vermittelte Rahmenbedingungen45. McClelland zeigt zudem, dass Bedürfnisse (und nicht nur Motive) „gelernt“ werden, also Ergebnis von (auch sekundären) Sozialisationsprozessen sein können, wobei auch Lerninhalt und -form Resultat (über)betrieblicher Konflikte sein können46. Gerade weil ArbeitnehmerInnen als „Subalterne“ (Antonio Gramsci) auch als räsonierende, reflektiert und (mitunter) zielgerichtet handelnde Subjekte zu verstehen sind, kann ein mechanisches Anreizmodell der Motivation, in dem Motivation erzeugt, gefördert oder behindert werden kann47, nicht erfolgreich implementiert werden. Barnard (1938) erkennt an dieser Stelle eine spezifische Dialektik zwischen Subjektbedürfnis, Motivation, sozialisierenden Kooperationssystemen und den Eigenlogiken formaler Organisationen. Im Ergebnis geht ein „rational choice“-Ansatz48 fehl, wenn die ihm entnommene „Anreiz-Beitrags-Theorie“ gegenüber gesellschaftlichen und betrieblichen Interessenkonflikten blind bleibt. Ein Denkansatz, in dem das Individuum seinen Arbeitsaufwand mit den Gratifikationen abgleicht, die ihm als Anreiz geboten werden, verkennt vollkommen das Grundverhältnis struktureller Gewalt in der Organisation kapitalistischer Lohnarbeit sowie die Angstgetriebenheit der Arbeitskräfte, die nichts Anderes am Arbeitsmarkt zu verkaufen haben als sich selbst49. Auch die neoliberal affizierte Annahme, die Unternehmung bewerte die Leistungen des Arbeitnehmers im Verhältnis zu den dafür aufzuwendenden Anreizen (Kosten) und so lange für das Unternehmen die Beiträge der Arbeitnehmer größer wären als die Anreize (Löhne/Gehälter) sind, bleibe die „Kooperationsbereitschaft“50, also die Bereitschaft, zu beschäftigen, aufrecht, bleibt empirisch blind. Denn Unternehmen kündigen auch dann, wenn sie hohe Gewinne schreiben51.

40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Chalupa, Motivation und Bindung von Mitarbeitern im Darwiportunismus. Motivations- und Bindungsstrategien für Mitarbeiter in einer darwiportunistischen Arbeitswelt (2007). Pantucek/Maiss, Die Aktualität des Denkens von Ilse Arlt (2009). Heller, Theorie der Bedürfnisse bei Marx (1980). Maslow, Motivation und Persönlichkeit (2002). Arlt, Wege zu einer Fürsorgewissenschaft (1958). Hentze/Graf/Kammel/Lindert, Personalführungslehre (1997). McClelland, Motives, Personality and Society (1984). Schanz (Hrsg.), Handbuch Anreizsysteme (1991). Chalupa, Motivation und Bindung von Mitarbeitern im Darwiportunismus. Motivations- und Bindungsstrategien für Mitarbeiter in einer darwiportunistischen Arbeitswelt (2007). Pfaffenbach, Die Transformation des Handelns (2002), S. 147 ff.; Morschitzky, Angststörungen (2009). Schanz (Hrsg.), Handbuch Anreizsysteme (1991), S. 208. Baumann, Selbst- und Fremdbilder von Arbeitslosigkeit (2010).

364

4.2

Nikolaus Dimmel

Arbeitsmotive im sozialen Konflikt

Der Arbeitsmarkt lässt sich als Feld verstehen, in dem unterschiedliche Bedürfnisse und konkurrierende Motive der Sinnstiftung und Selbstverwirklichung von Arbeitskräften und Nachfragern menschlicher Arbeit gegeneinander abgeglichen werden müssen. Sowohl individuell als auch kollektiv versuchen ArbeitnehmerInnen, durch den Verkauf ihrer Lohnarbeitskraft nicht nur das zum Lebensunterhalt (und zur sozialen Statusreproduktion Notwendige) zu erwirtschaften, sondern auch ihrem Arbeitsleben einen sinnstiftenden, Identität-vermittelnden Charakter zu verleihen. Das Gelingen dieses Vorhabens reproduziert Muster sozialer Ungleichheit. Für den überwiegenden Anteil der unselbständig Erwerbstätigen ist Arbeit nicht als Beruf, sondern als „Job“ konnotiert, der nicht zu Selbstverwirklichung, sondern zu einer Bewegung auf dem Girokonto führt. Folgerichtig resultiert aus der Entfremdung vom Arbeitsprodukt auch die Entfremdung sowohl von den eigenen Fähigkeiten als auch von jenen anderer Menschen. Hannah Arendt betonte demgegenüber, dass es freilich auch darauf ankommt, was man tut, wenn man arbeitet52. Dabei ist es gar keine Frage, dass Arbeit eben nicht mit individueller Freiheit verbunden ist, sondern mit einem Zwang, dem der Mensch von der Geburt bis zum Tod ständig unterliegt. Allerdings muss man dabei zwischen „Arbeiten“ und „Herstellen“ unterscheiden. Denn das Arbeiten stellt nur verbrauchbare Konsumgüter wie Brot und Dienstleistungen wie Haareschneiden her, die kurzfristigen Nutzen haben. Demgegenüber kommt dem „Herstellen“ eines langlebigen Gutes wie der Konstruktion eines Dachstuhls größere Bedeutung zu. Damit greift Arendt etwas auf, was zuvor bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel schon eine Rolle gespielt hat, nämlich der Umstand, dass wir uns durch gesellschaftliche geteilte Arbeit selbst verwirklichen, weil damit die Erfüllung sozialer Aufgaben und die Ausfüllung sozialer Rollen verbunden ist. Hegel meinte, dass sich der Mensch erst durch die Arbeit zu dem machen kann, was er eigentlich ist – und dass er das damals noch im Schweiße seines Angesichts getan hat, gehört zum Wesentlichen des Menschen. Arbeit ist folglich das, was Gesellschaftlichkeit und das je individuelle Mensch-Sein vermittelt. Zugleich ist Lohnarbeit in kapitalistischen Erwerbsgesellschaften höchst ungleich verteilt, was Qualifikation, Status und Prestige der Arbeitstätigkeit betrifft. Die am besten bezahlte und am höchsten bewertete Arbeit ist jene, der man die Verausgabung von Arbeitskraft nicht unmittelbar ansieht. Also die Arbeit des Entscheidens, des Konzipierens oder Beobachtens. Körperlich belastende Arbeit hingegen, deren Spuren man dem Körper ansieht, wird als gering erachtet. Folgerichtig wird genau diese Tätigkeit nach gesellschaftlichen Machtgesichtspunkten verteilt. Darin steckt eine Paradoxie, also ein innerer Widerspruch. Bei Platon galt noch, dass nur derjenige, der sich den alltäglichen Mühen und Arbeitszwängen entziehen kann, überhaupt die Lebenszeit hat, seinen Neigungen und Bedürfnissen nachzugehen, kreativ zu sein und Neues zu entwickeln. Das war eine Empfehlung, sich von manueller Arbeit fernzuhalten und stattdessen der Kopfarbeit nachzugehen. Aristoteles unterstrich demgegenüber die Bedeutung des „Bewirkens“ in der Arbeit. Er führte die Idee der nützlichen Arbeit als „Dienst für die Gemeinschaft“ ein und leitete daraus die Idee des „Berufes“ ab. Die Moralphilosophie des 18. Jhdt. hat diesen Aspekt vertieft und Arbeit als sittliche Pflicht und Existenzbedingung des menschlichen Daseins verstanden. Hegel und Marx haben Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ gefasst und zugleich festgehalten, 52

Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1960).

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

365

dass Arbeit ein notwendiges Lebensbedürfnis ist. Ihren rechtlichen Ausdruck findet diese Sichtweise in Art 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wo es unter dem Titel „Recht auf Arbeit“ unter anderem heißt, dass jede/r das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit hat. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine menschenwürdige Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch soziale Schutzmaßnahmen. Zwischen diesen beiden Polen, nämlich der Empfehlung, sich von mühseliger Arbeit fernzuhalten, und der Forderung nach einem Recht auf Arbeit, auch nach Lohnarbeit, stellt sich für Eva Senghaas-Knobloch eine ganz andere Frage, nämlich jene nach einer „decent work“, einer menschenwürdigen Arbeit53. Hier wird also das Recht auf Arbeit um die Rechte bei der Arbeit erweitert. Was aber ist menschenwürdige Arbeit? Die Deutsche Kommission „Justitia et Pax“ unterstreicht, dass menschenwürdige Arbeit den Lebensunterhalt erwirtschaftet und vor Armut schützt, die Kreativität, Flexibilität und intellektuelle Offenheit der Menschen im Arbeitsprozess zulässt, dass sie gesellschaftliche Partizipation und die Knüpfung sozialer Netzwerke ermöglicht und dass sie sich den Anforderungen des sozialen Umfeldes anpassen lässt. Das betrifft etwa Pflege-, Erziehungs- und Familienzeiten, zugleich aber auch die ReHumanisierung der Arbeitswelt durch Team-Work, Job-Enrichment, Job-Enlargement und Räume der sozialen Begegnung im Betrieb. Oskar Negt thematisiert hierzu wiederkehrend die Bedeutung eines arbeitsrechtlich abgesicherten Normalarbeitsverhältnisses als Grundvoraussetzung menschenwürdiger Arbeit54. Richard Sennett unterstreicht zugleich, dass arbeitende Menschen das Bedürfnis haben, ihr Berufsleben als eine organisch wachsenden, durchgehende Erzählung verbringen zu können55. Amartya Sen betont in seinem „Fähigkeiten-Ansatz“ die Bedeutung individueller Handlungsspielräume, sein Arbeitsleben autonom zu gestalten56. Seine Idee einer gerechten Arbeit läuft darauf hinaus, dass es ein Recht darauf gibt, durch eigene Leistung unter Nutzung seiner Fähigkeiten selbstbestimmt sein Leben zu gestalten und auch über das Geschaffene verfügen zu können. Denn die Vorstellungen der Menschen von Arbeitsort, Arbeitszeit, Arbeitsinhalt, -form und -intensität sind unterschiedlich. Das unterstreicht auch Martha Nussbaum wenn sie meint, dass gute Arbeitsbedingungen jene sind, die es dem Einzelnen freistellen, sich in einen arbeitsamen „Workaholic“ oder einen Normleister zu verwandeln, ohne durch Niedriglöhne oder Prekarität dazu gezwungen zu sein57.

53 54 55 56 57

Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die Arbeitswelt? (2008). Negt, Arbeit und menschliche Würde (2007). Sennet, Handwerk (2008). Sen, Ökonomie für den Menschen (2000). Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das Gute Leben (1998).

366

4.3

Nikolaus Dimmel

Extrinsische und intrinsische Motivation

Zweckorientiertes Handeln differenziert zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation58, wobei intrinsische Motivation auf Selbstverwirklichung (Selbst-Realisierung), Selbstbestimmung, Wissens- und Befähigungserweiterung abstellt59 und vom Bedürfnis nach Wirksamkeit getragen wird. Intrinsische Arbeits-Motive richten sich auf sozial-relevante, verantwortungsvolle und autonom konzipierte sowie durchgeführte Tätigkeiten, also Tätigkeiten mit hoher Entscheidungsfreiheit, persönlicher Entwicklungsmöglichkeit und interessantem Arbeitsinhalt60. Extrinsische Motivation hingegen bezieht sich auf die Befriedigung durch äußere Anreize (Belohnung) oder die Vermeidung von Unlust und/oder Handlungszwängen. Extrinsische Motive sind in der Regel instrumentell; sie basieren auf einer „rational-choice“-Annahme, dernach Arbeitende sich bei ihren Entscheidungen von Zweck-MittelAbwägungen, also Nutzenpräferenzen leiten lassen. Arbeit hat demnach keinerlei Eigenwert, sondern ist eine Funktion ökonomischer Interessen. Extrinsische Motive richten sich vorwiegend auf Gehaltserhöhungen, Belobigungen und Beförderungen.

4.4

Motivation und Arbeitszufriedenheit

Frederick Herzberg konzipierte in seiner Zwei-Faktoren-Theorie quer zum Kontinuum intrinsischer-extrinsischer Motivationen das Gelingen von Arbeitszufriedenheit als zentrales motivationales Movens. Herzberg identifizierte bekanntlich Faktoren, die der Arbeitszufriedenheit förderlich („motivators“) sind als auch solche, welche die Entwicklung von Arbeitszufriedenheit hemmen („dissatifiers“)61, wobei Erfolg und Anerkennung Zufriedenheit auslösen, die Verweigerung von Anerkennung hingegen Unzufriedenheit speist. Umgekehrt resultiert hohe Arbeitsmotivation Herzberg zufolge eben nicht (nur) aus einem (überdurchschnittlichen) Einkommen, Sicherheit und betrieblichen Sozialleistungen. Diese sind für die allgemeine Arbeitsmoral nur marginal oder in Kombination bedeutsam. Vielmehr wird Arbeitsmotivation erzeugt durch Verantwortlichkeit, Aufstieg, Arbeitstätigkeit, Anerkennung und Erfolg62.

4.5

Motivation und Menschenbild

Douglas McGregor differenziert in seiner Lehre der Führungstheorien zwischen einer „Theorie X“ und „Theorie Y“, wobei erstere der Annahme von Taylor folgt, dass Arbeiter eher desinteressiert, arbeitsscheu, passiv und innovationsfeindlich sind und daher der KontrollLeistungen des Managements bedürfen. Letztere hingegen rekonstruiert passiv-aversive Grundhaltungen als Ergebnis betrieblicher (Leidens)Erfahrungen am Management, weshalb es Herausforderung des Personalmanagements ist, bestehende Potentiale von MitarbeiterInnen auszuschöpfen; ein Denkansatz, der auch bei Chris Argyris zu finden ist, demnach betriebli58 59 60 61 62

Heckhausen, Motivation und Handeln (1980). Hillmann, Gesellschaft, in: Reinhold (Hrsg.), Soziologie (2007). Recklies, http://www.themanagement.de/HumanResources/Motivationstheorien.htm. Wiswede, Motivation und Arbeitsverhalten. Organisationspsychologische und industriesoziologische Aspekte der Arbeitswelt (1980). Mikl-Horke, Industrie- und Arbeitssoziologie (2007), S. 124 ff.

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

367

che Autoritätsstrukturen die ArbeitnehmerInnen repressiv infantilisieren, also auf niedere Entwicklungsstufen ihrer Persönlichkeit zwingen, ihnen die Befähigung zu eigenständigem Handeln und Räsonieren absprechen. Schein differenziert zwischen vier Typen von Menschenbildern (auch als Typologie von ArbeitnehmerInnen), aus denen auf die Motivationslogik jeweiliger Erwerbspersonen geschlossen wird, nämlich zwischen dem „rational economic man“, dem „social man“, dem „self-actualizing-man“ sowie dem „complex man“63. Der „rational-economic man“ gilt als durch finanzielle Anreize instrumentell (nicht-intrinsisch) motiviert und als passiv, bedarf daher der direktiven Anleitung, der Manipulation und Kontrolle. Der „social man“ wird durch die Befriedigung sozialer Bedürfnisse motiviert, wird durch gruppendynamische Prozesse beeinflusst und orientiert sich an sozialen Gruppennormen (Teamwork). Der „self-actualizing man“ korrespondiert als dominant intrinsisch motiviert der Y-Theorie von McGregor sowie dem Konzept von Maslow’s Bedürfnispyramide, denn er strebt nach Autonomie, Selbstkontrolle, Selbstorganisation sowie selbständiger Aufgabenerfüllung. Der „complex man“ schließlich handelt situativ und anpassungsfähig Motivlagen aus, wandelt Bedürfnisse je nach äußeren Bedingungen.

5

Conclusio

Bedürfnisse und Arbeitsmotivationen weisen jenseits ihrer anthropologischen Bestimmtheit, dernach Menschen Arbeit als Area der Selbst-Vergegenständlichung und Vehikel der SelbstVerwirklichung im Sinne der Hannah Arendt’schen Tätigkeits-Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen verstehen, eine Reihe von dynamischen Veränderungen auf. Ernst Bloch thematisierte die nicht-entfremdete Arbeit, die keine abstrakte Lohnarbeit mehr ist, sondern konkrete Arbeit frei vom Erwerbszwang. Bloch problematisierte den „horror vacui“, der den Arbeitslosen, Untätigen, Nicht-Arbeitenden überfällt. Er meinte, dass sich der auf die Dauer Faule wie der auf die Dauer Einsame auf verschiedene Weise in der Unerträglichkeit einer hohlen Existenz aufhalten. Sie sind beide gestört und mit sich nicht in Ordnung. Bloch forderte demgegenüber, man sollte nach seinen Fähigkeiten arbeiten müssen, um anschließend nach seinen Bedürfnissen genießen zu dürfen. Das jedoch setzt eine Befreiung der Arbeit aus den Fesseln der Lohnarbeit voraus. An dieser Stelle traf er auf Karl Marx, der zuvor meinte, dass das wirklich freie Arbeiten, außerhalb der Lohnarbeit als strukturellem Gewalt- und Zwangsverhältnis, etwa das Komponieren, verdammtester Ernst und intensivste Anstrengung sei. Erst dieser „verdammte Ernst“ ermögliche das Nichtstun. Die Lohnarbeit – gerade in ihrer Erscheinungsform als prekäre, schlecht bezahlte und gesundheitlich beeinträchtigte Arbeit – hingegen ermöglicht nur die Freizeit, in der blöde konsumiert wird, damit man die Sinnentleerungen der Lohnarbeit kompensiert. So wird Lohnarbeit folgerichtig auf entfremdete Lohnarbeit und Einkommensquelle reduziert. Gegengleich sind die Interessen der Arbeitenden an Zeitsouveränität, Verzicht, Besinnung oder Entschleunigung sozial signifikant ungleich verteilt. Überwiegend sind es die Modernisierungsgewinner, die Höherqualifizierten, die überhaupt noch inhaltliche Ansprüche an Inhalt, Struktur und Wesen ihrer Arbeit stellen (können). Alle anderen haben einen Job, dessen Entlohnung als Schmerzensgeld dient. Dominant ist die Vorstellung, wonach man arbeitet, um zu konsumieren (Pascal Bruckner). Die Idee eines Marx’schen Tätigkeitstages bestehend aus Fischen, Diskutieren, 63

Schein, Organisationspsychologie (1980).

368

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Muße, Lieben, Erziehen – und ja, wenn Zeit bleibt, arbeiten, scheint völlig aus dem Diskurs der Arbeit verschwunden. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass unterschiedliche Erwerbs-Motive und dahinter stehende Bedürfnisse jeweiligen Zielgruppen, Beschäftigungsformen und Produktionsverfassungen zuzuordnen sind. Das „Display“ jeweiliger Formen der Subjektivierung von Erwerbsarbeit von Lohnabhängigen deckt den gesamten „Range“ jeweiliger Produktionsformen (moderne Manufaktur, Fließband/Akkord, Fertigungsinseln, Teamwork etc.) unterschiedlich gewichtet ab. Selbstredend ist zutreffend, dass die Arbeitswelt Traditionen, Arbeitsteilungen und Berufsbilder fortlaufend auflöst und umwälzt, dass sich stabile Fähigkeitsstrukturen auflösen, Erfahrungen entwertet und Lernzwänge verstetigt wird, dass Formen und Praktiken dauerhafter Beschäftigung und stabiler Arbeitszeiten in Prozessen der Flexibilisierung und Atypisierung aufgelöst werden. Diese Prozesse, die auch als Entgrenzung zwischen Arbeiten und Leben interpretiert werden, führen allerdings eben nicht bei allen ArbeitnehmerInnen zu mehr Freiräumen. Nicht nur in den kleinen und mittleren KMU halten sich traditionelle Produktionsformen, etwa im Bauwesen, auch in der Industrie und im produzierenden Gewerbe muss sich nur ein relativ kleiner Teil von MitarbeiterInnen selbst organisieren und Eigenpotentiale einbringen.

Selbstorganisationsleistungen der Lohnarbeitskraft

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Unternehmensführung im interkulturellen Spannungsfeld: USA und Polen Rudolf A. Thaler

1

Einleitung

Interkulturelle Faktoren spielen auch in einer globalisierten Welt eine bedeutende Rolle. Durch die Nichtberücksichtigung interkultureller Unterschiede entstehen Unternehmen weltweit Milliardenverluste an entgangenen Geschäftschancen, mangelnder Zielerreichung, bis hin zu gescheiterten Projekten. Bei der Mehrheit der länderübergreifenden Joint Ventures und Partnerunternehmen ist das Nichterreichen von Unternehmenszielen auf interkulturelle Gründe zurückzuführen. Die Bedeutung interkultureller Faktoren wird zwar erkannt, aber in der unternehmerischen Praxis teilweise zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Als gegeben werden interkulturelle Unterschiede in Ländern wie z. B. China, Indien oder Saudi Arabien angenommen. Bei nahegelegenen Ländern und solchen mit auf den ersten Blick nicht erkennbaren gravierenden äußeren Unterscheidungsmerkmalen der Gesprächspartner werden interkulturelle Faktoren vielfach unterschätzt. Beispielhaft werden aus einer praktischen Sicht die USA und Polen charakterisiert. Bei beiden Ländern wird vielfach von geringen kulturellen Unterschieden ausgegangen. Unternehmensführung ist in einem weltweit vernetzten Umfeld ohne Berücksichtigung interkultureller Unterschiede undenkbar. Für die stark exportorientierte österreichische Wirtschaft, deren über 40.000 Exportunternehmen teilweise Exportanteile von über 90 % haben, gehört die Bewältigung interkultureller Unterschiede zum unternehmerischen Alltag. Jedes Auslandsengagement ist eine Herausforderung. Die Komplexität der Marktbearbeitung nimmt mit der Marktgröße, der Entfernung und der Intensität interkultureller Unterschiede zu. Bei einem Engagement in exotischen Märkten wird von der Unternehmensführung im Regelfall eine interkulturelle Abweichung angenommen. Das Sensorium ist aktiviert und es wird in der Praxis nicht vorkommen, dass beispielsweise ein arabischer Geschäftspartner bei einem Empfang mit den Worten, „Trinken Sie heute keinen Whiskey?“, bloßgestellt wird oder das Geschäftstreffen sofort mit dem Anliegen eröffnet wird, ohne dem „Small Talk“ und der blumigen arabischen Ausdrucksform Raum zu geben; ebenso wenig der Fall eines nach Indien entsandten Geschäftsführers, der in völliger Unkenntnis des sozialen und hierarchischen Gefüges Mitarbeiter anstellte. Erfahrungsgemäß wird der Beachtung interkultureller Unterschiede in der Praxis gerade in nahegelegenen oder durch Reisen und Medien scheinbar vertrauten Ländern weniger Auf-

374

Rudolf A. Thaler

merksamkeit geschenkt. Der Grad der Unkalkulierbarkeit kann mit dem Einsatz eines unqualifizierten Dolmetschers erheblich zunehmen, wenn er nicht in der Lage ist, Inhalte, Stärke der Formulierung, Gefühle etc. exakt wiederzugeben. Ziel der Ausführungen ist es, das Sensorium für kulturelle Unterschiede auch beim Engagement in scheinbar vertrauten Märkten zu sensibilisieren und interkulturelle Faktoren bei der Marktbearbeitung zu berücksichtigen. Der Fernmarkt USA und der Nahmarkt Polen sind Beispiele für Länder, in denen Vertrautes vermutet wird. Trotzdem bestehen Unterschiede in der Kommunikation, Information, Verhandlungsführung, im Marketing etc. Polen gehört zu den Top 10 der österreichischen Exportdestinationen und die USA sind der größte Überseemarkt sowie die Nr. 3 der Exportdestinationen Österreichs weltweit. Zusammengefasst sind die Erfahrungen als österreichischer Wirtschaftsdelegierter in den USA und Polen sowie die Aussagen von Unternehmern und Experten. Zum Aufzeigen kultureller Länderunterscheide werden die Kulturdimensionen von Geert Hofstede zugrunde gelegt.

2

Kulturelle Länderprofile: USA, Polen und Österreich

Es gibt eine Reihe von Ansätzen, um kulturelle Unterschiede aufzuzeigen. Beispielhaft wurde das Modell von Geert Hofstede ausgewählt, der die wahrscheinlich umfassendste Studie über kulturelle Werte durchführte. Länderprofile USA-Polen-Österreich 90 80 70 60 50

USA PL A

40 30 20 10 0 USA

PL

PDI Abbildung 1:

1

A

USA

PL

A

IDV

USA

PL

A

MAS

USA

PL

A

UAI

Ausprägung der Kulturdimensionen: Machtdistanz (PDI), Individualismus (IDV), Maskulinität (MAS) und Unsicherheitsvermeidung (UAI) nach Geert Hofstede für die USA, Polen und Öster1 reich

Vgl. http://www.geert-hofstede.com.

Unternehmensführung im interkulturellen Spannungsfeld: USA und Polen

375

Die Kulturdimensionen von Hofstede2 zur Charakterisierung kultureller Unterschiede zwischen Ländern sind: •

Machtdistanz (Power Distance Index): Ein hoher Wert signalisiert eine Akzeptanz großer Machtunterschiede in Familie, Schule, Beruf und Politik. Es bestehen hierarchisch gegliederte Organisationen, großer Respekt vor hohen sozialen Positionen und Manager treffen autokratische Entscheidungen. Ein niedriger Wert weist darauf hin, dass sich Vorgesetzte mit Mitarbeitern beraten und geringe Unterschiede in der Unternehmenshierarchie bestehen. Österreich hat mit 11 Punkten den niedrigsten Machtdistanz-Wert (Israel liegt an zweiter Stelle mit 13 Punkten) und tendiert zu einer egalitären Einstellung, einem partizipativen Entscheidungsprozedere und eher flachen Organisationsstrukturen. Die USA (40) liegen unter dem Weltdurchschnitt (55), Polen (68) darüber. • Individualismus (Individualism): Die USA (91 Punkte) haben in der Dimension Individualismus weltweit den höchsten Wert. Es gibt nur 7 Länder, bei denen die Dimension Individualismus zu den höchsten gehört. Neben den USA sind dies Australien (90), GB (89), Niederlande und Kanada (80) sowie Italien (76). Die USA verkörpern damit eine von Individualismus und Eigenständigkeit geprägte Gesellschaft, die enge Verbindungen innerhalb des Familienverbandes pflegt, jedoch lose Beziehungen mit anderen. Polen (60) und Österreich (55) liegen eher im Mittelfeld. Alle drei Länder liegen über dem Weltdurchschnitt von 43. • Maskulinität (Masculinity): Für die USA ist neben dem Individualismus die Maskulinität (62) die zweitausgeprägte Dimension. Männer dominieren zu einem gewissen Anteil die Gesellschaft und Machtstrukturen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Polen (64). In Österreich (79) ist die gesellschaftliche Rollenverteilung stärker ausgeprägt als in den USA. Polen tendiert demnach zu einer maskulinen Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen den Wertvorstellungen von Mann und Frau größer sind. Die USA, Polen und Österreich liegen über dem Weltdurchschnitt von 50, was mit einer stärkeren Durchsetzungsfähigkeit von Frauen gegenüber Männern und einer zunehmenden Abkehr vom klassischen Rollenmodell der Frau einhergeht. • Unsicherheitsvermeidung (Uncertainty Avoidance Index): Ein hoher Wert zeigt einen großen Widerstand gegenüber Veränderung, was sich in einem umfangreichen Gesetzesund Regelwerk des Landes niederschlägt. Es zeigt den Grad des (Un-)Wohlbefindens bei unstrukturierten, vom normalen Zustand abweichenden Situationen auf. Die Bewohner Unsicherheit akzeptierender Länder sind ruhiger, gelassener und toleranter. Die USA (46 Punkte) gehen laut Hofstede mit Unsicherheitsfaktoren besser um als Österreich (70) und Polen (93). Polen liegt etwa im EU-Durchschnitt, Österreich hat ein ähnliches Unsicherheitsvermeidungsverhalten wie der weltweite Durchschnitt. Nur die USA liegen erheblich unter dem Weltdurchschnitt. Als fünfte Dimension fügte Hofstede später die Langzeitorientierung hinzu. Ein hoher Wert charakterisiert eine Gesellschaft mit Tugend und Ausdauer, ein niedriger Wert eine solche mit einer Wertschätzung kultureller Traditionen und der Erfüllung seiner Verpflichtungen. USA (29) und Polen (32) sind kurzzeitorientiert, was auch mit einem eher kurzfristigen und gewinnorientierten Denken einhergeht. Für Österreich gibt es dazu keine Daten.

2

Vgl. http://www.geert-hofstede.com.

376

Rudolf A. Thaler

Unternehmerische Entscheidungsträger können sich durch das Studium kultureller Länderprofile einen ersten Anhaltspunkt über interkulturelle Besonderheiten bei der Bearbeitung neuer Märkte verschaffen.

3

Interkulturelle Faktoren sind entscheidend für den Unternehmenserfolg

Die Annahme einer globalisierten Welt und eines globalen Dorfes, in dem die Bedeutung interkultureller Faktoren im unternehmerischen Umfeld abnimmt, ist eine Fehleinschätzung. Persönliche Kontakte bestimmen nach wie vor maßgeblich den unternehmerischen Erfolg. Hauptregel ist, die Gepflogenheiten des Gastlandes zu beachten. Nachfolgend werden für den Fernmarkt USA und den beinahe Nachbarmarkt Polen persönliche Beobachtungen und Aussagen von Unternehmern und Experten zusammengefasst.

3.1

Polen: trotz Nähe feine kulturelle Unterschiede

Der Flug von Wien nach Warschau dauert nur knapp eine Stunde und die Distanz von Wien nach Südpolen ist kürzer als an die österreichische Westgrenze. Architektur, Kleidung, Werbebotschaften etc. signalisieren als primäre Anhaltspunkte für kulturelle Abweichungen Ver3 trautes. Trotzdem gibt es feine kulturelle Unterschiede, die im persönlichen Gespräch und bei der Marktbearbeitung zu beachten sind, um Sympathiewerte sammeln und möglichst rasch eine Vertrauensbasis aufbauen zu können. Die Erfahrungen bei der Marktbearbeitung in anderen Ländern lassen sich nicht zur Gänze auf den polnischen Markt übertragen. Unterschiede ergeben sich allein schon aus der geschichtlichen Entwicklung des Marktes. Polnische Konsumenten verfügen im Durchschnitt über ein geringeres Einkommen als Haushalte in Österreich und wechseln bei Preisänderungen wie „scheue Rehe“ zum Konkurrenzprodukt. Eine Markenloyalität ist kaum gegeben und Modezyklen sind kürzer. Modewellen kommen in Warschau vielfach schneller an als in Wien. Polnische Frauen kleiden sich modisch und trendy. Generell müssen die Kaufmotive hinterfragt werden. Kriterien beim z. B. Büromöbelkauf sind für den polnischen Geschäftsmann nicht unbedingt Gediegenheit, Haltbarkeit, klassische Formen etc., sondern modernes Design, In-Sein oder der Eindruck bei CEO-Kollegen. Bei Verhandlungen sind unterschiedliche Startzeiten zu beachten. Das Erstgespräch ist nicht mit dem Beginn der Verhandlungen gleichzusetzen, auch wenn die Zahl der involvierten Personen groß ist. Es dient dem gegenseitigen Kennenlernen und der Schaffung einer Vertrauensbasis. Das Darlegen der Standpunkte steht im Vordergrund. Es ist wichtig, genau zuzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen. Sollten die Gespräche in polnischer Sprache stattfinden, ist die Rolle des qualifizierten Dolmetschers entscheidend, Stimmungslagen und Ausdrucksvarianten genau wiederzugeben, um etwaige zukünftige Diskussionspunkte zu erkennen (wenn z. B. auf einen Standpunkt mit einem fast konträren Ansatz geantwortet wird

3

Hierzu und zum Folgenden siehe Thaler, Österreichische Unternehmen in Polen – Erfolgreiche Marktbearbeitung/Austriackie Firmy w Polsce – Skuteczna Strategia Rynkowa (2007), S. 184 ff.

Unternehmensführung im interkulturellen Spannungsfeld: USA und Polen

377

ohne einen Widerspruch zu orten). Mögliche Probleme werden in dieser Phase kaum ausdiskutiert und Standpunkte nicht offen widerlegt, um keinen Gesichtsverlust zu provozieren. Die Verhandlungsführung verläuft teilweise zirkulär und vermeintlich bereits abgehakte Punkte werden später neu beleuchtet. Es empfiehlt sich, geduldig und gelassen zuzuhören und keinesfalls emotional zu reagieren. Das Wiederaufschnüren von Verhandlungspunkten erklärt sich daraus, dass die Startlinie für Verhandlungen von ausländischen Teilnehmern zu früh gesehen wird und vorgebrachte Punkte, denen nicht explizit widersprochen wurde, als Verhandlungsergebnis interpretiert werden. Der neue, abweichende Standpunkt in der zweiten Gesprächsrunde ist das Resultat interner Diskussionen. Dieser Ablauf muss allen involvierten Verhandlungsteilnehmern klar sein. Polnische Geschäftspartner sind generell höflich, gebildet, geschichtsbewusst und zuvorkommend. Der Aufbau einer Vertrauensbasis ist wichtig, um damit die Basis für eine langfristige erfolgreiche Zusammenarbeit zu schaffen. Eine etwaige anfängliche Reserviertheit ist nicht mit Arroganz zu verwechseln. Für viele österreichische Geschäftsleute verfügt der polnische Geschäftspartner über Handschlagqualität. Vertrauen ist der Schlüssel zum Erfolg. Geschäfte werden nicht mit einem Unternehmen, sondern mit einer Person gemacht. Wechselt der vertraute Ansprechpartner, so ist unter Umständen ein Neubeginn erforderlich. Eine regelmäßige persönliche Kontaktpflege ist für eine nachhaltige Geschäftsbeziehung unerlässlich. Für entsandte Führungskräfte ist es ratsam, sich möglichst rasch einen Kreis von Vertrauenspersonen im Unternehmen wie auch außerhalb für offenes Feedback aufzubauen. „Ja-Sager“ und „Kommentierer im Nachhinein“ sind dazu ungeeignet. In der polnischen Sprache ist die Anrede mit dem Nachnamen nicht gebräuchlich. Polnische Geschäftspartner, die mit österreichischen Gepflogenheiten nicht vertraut sind, können es als befremdend und teilweise verletzend empfinden, wenn man sie mit dem Nachnamen anspricht. Bei Funktionen ist ein „Upgrading“ üblich und ein Vizemarschall, Vizedirektor etc. mit Herr Marschall, Herr Direktor anzusprechen und anzuschreiben. Die Verwendung akademischer Titel ist zwar umgangssprachlich in Polen unüblich, aber auf Visitenkarten und im Schriftverkehr gebräuchlich. Bei Hauseinladungen ist unbedingt der Dame des Hauses ein Blumenstrauß zu übergeben. Ein formvollendeter Handkuss weist jeden Gast als mit der traditionellen polnischen Etikette vertraut aus, ist aber bei der jüngeren Generation wenig üblich. Im Gegensatz zu Österreich wird der Handkuss auch im Freien und bei informellen Treffen angewandt. „Small Talk“ ist wichtig. Für Österreicher gibt es viele Themen: Die meisten Polen besuchten bereits Österreich, fahren im Winter Schi oder haben Verwandte in Österreich. Höflichkeitsfloskeln in polnischer Sprache bringen Sympathiewerte und öffnen Türen. Polen gehört zu Mittel- und nicht Osteuropa. Polen reagieren empfindlich auf Überheblichkeit und Belehrungen. Polenwitze sind out. Bei Gesprächen ist vielfach ein Hang zu negativen Übertreibungen bei der Darstellung des eigenen Landes zu beobachten. Derartige Aussagen sollten sofort korrigiert werden, da sonst ein Riss im Vertrauenskorsett entsteht. Einige Tipps für die erfolgreiche Bearbeitung des polnischen Marktes: •

Eindrücke vor Ort sammeln und das über Polen Gehörte und Angelesene durch Gespräche mit polnischen Unternehmern relativieren. Das eigene Polen-Bild ist vielfach veraltet.

378 • • • • • • • • • •

• • • •

3.2

Rudolf A. Thaler Regelmäßige Kontrolle durchführen. Ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen für den 38 Mio. Einwohner-Markt bereitstellen. Erstkontakte auf Top-Ebene einfädeln. Rasches „Follow-Up“ von Kontakten ist entscheidend. Präsenz vor Ort durch Vertreter, Importeure, Niederlassungen, Produktionsfirmen zeigen. Service ist wichtig und ohne polnische Telefonnummer unglaubwürdig. Mündliche Zusagen von Behörden oder Unternehmensvertretern sind keine Basis unternehmerischer Entscheidungen. Polnisch sprachiges Werbematerial und die Übersetzung durch „native speaker“ sind ein Muss. Die Teilnahme an Fachmessen ist zu empfehlen. Synergien nutzen: Es besteht ein dichtes Netzwerk an österreichischen Banken, Versicherungen und Unternehmen. KMUs sollten sich bereits etablierten Unternehmen mit einem Komplementär-Produkt anschließen und damit gemeinsam attraktiver am Markt auftreten. Qualifiziertes, entsandtes Personal mit „soft skills“ ist beim Markteinstieg und Produktionsstart unerlässlich. Die eigene Rekrutierung von lokalem Führungspersonal bietet durch Interviews Zugang zu aktuellen Brancheninformationen. Eine geringe Firmenloyalität bei Mitarbeitern bzw. starkes „job hopping“ ist festzustellen. Weiters ist zu beachten: Der Rechtsanwalt sollte von einer Vertrauensperson empfohlen sein. Verträge sind erst nach Durchsicht eines versierten polnischen Rechtsanwaltes zu unterzeichnen. Aufnahme eines Gerichtsstandes im Falle von Streitigkeiten, Eigentumsvorbehalt explizit formulieren, detaillierte schriftliche Dokumentation für eventuell spätere Forderungseintreibungen.

USA: Hollywooderfahrung ist nicht ausreichend

Durch Film und Medien werden die USA vielfach als scheinbar vertrauter Markt gesehen. Die USA sind ein Markt der Superlative und dementsprechend eine Herausforderung für die Marktbearbeitung: über 313 Mio. Konsumenten und 50 Bundesstaaten als Teilmärkte. Die USA repräsentieren ein Drittel der Weltwirtschaft und sind fünfmal so groß als der deutsche Markt. Der wirtschaftlich bedeutendste Bundesstaat Kalifornien (38 Mio. Einwohner) ist weltweit die achtgrößte Volkswirtschaft und die 18 Mio. Einwohner-Metropole Los Angeles wäre als eigene Volkswirtschaft die Nr. 17 der Welt. Im Verhältnis österreichische Mutterfirma zur amerikanischen Niederlassung werden besonders der Führungsstil, der Ablauf von Entscheidungsprozessen, die Tiefe der Unternehmenshierarchien sowie Kommunikation und Information als abweichend eingestuft (siehe hierzu Abbildung 2: Kulturelle Unterschiede zwischen USA und Österreich).

Unternehmensführung im interkulturellen Spannungsfeld: USA und Polen

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Für den erfolgreichen US-Markteinstieg sind neben der Berücksichtigung kultureller Besonderheiten entscheidend: • • • •

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Mentale Barrieren sind abzubauen wie z. B. Furcht vor US-Produkthaftung. Strategisches Konzept als Voraussetzung für den erfolgreichen Markteinstieg ist zu entwickeln bzw. implementieren. Starkes Commitment: Die Marktgröße erfordert personelle und erhebliche finanzielle Ressourcen, die auch ein Durchhalten ermöglichen. Ein halbherziges Vorgehen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt („think big“). Konzentration auf Regionen und Nischen: Die Bearbeitung des aus 50 Bundesstaaten bestehenden US-Marktes erfordert zu Beginn eine Fokussierung auf Teilmärkte. Bei der Bearbeitung z. B. des Marktes für Biomasse scheiden alle Bundesstaaten mit niedrigen Energiepreisen aus, wie z. B. Texas. Interessant sind der Nordosten, „Mid Atlantic States“, ländliche Gebiete im Nordwesten und Gebirgsstaaten wie Colorado. Ein professioneller Service ist anzubieten. Produktanpassung: Ein ausgereiftes technisches Produkt kann als kompliziert gelten. Günstiges Preis-Leistungsverhältnis, Kostenersparnis und Benutzerfreundlichkeit stehen im Vordergrund. Erfolgsrezepte sind nicht übertragbar. Effiziente Partner und Distributionskanäle sind entscheidend: Zufallsbekanntschaften auf Messen ohne fundierte Recherchen haben eine große Fehlerquote. Eine Exklusivität ist zu vermeiden. Auffällig ist, dass vom österreichischen Unternehmen z. B. potenzielle polnische Partner einem intensiven Screening unterworfen werden, amerikanische Partner dagegen kaum. Partnering: Vernetzung mit US-Firmen, die bereits über ein etabliertes Netzwerk verfügen und komplementäre Produkte/Technologien/Dienstleistungen anbieten sowie die Kooperation mit renommierten Branchenverbänden. Markteintritt ist exakt zu timen. Professionelle Beratung: Ausgaben für Anwälte (Firmengründung, Einwanderungs- und Patentfragen), Steuerberater und Branchenexperten müssen eingeplant sein. Beratungsresistenz kann kostspielig werden. Klare Botschaften: Konsumenten sind anspruchsvoll, die Werbung ist direkter und aggressiver. Die englische Webseite muss mitsamt metrischen Angaben stilistisch und inhaltlich ins Amerikanische „übersetzt“ werden (z. B. Umsatz = Revenue). Pitching: Kurze, prägnante und auf die Zielgruppe abgestimmte Präsentationen sind erforderlich. Made in USA: Konsumenten haben größeres Vertrauen in US-Produkte und Technologien. Es ist zu prüfen, ob ein US-Label einen Wettbewerbsvorteil bringt. Bei Finanzierungen durch den öffentlichen Sektor werden lokal hergestellte Produkte bevorzugt. Die angespannte Wirtschaftslage begünstigt „Buy Local“. Mitarbeiter: Diese weisen eine eher geringe Firmenloyalität auf. Boni-Zahlungen werden erwartet. Karriereperspektiven und Entlohnung orientieren sich nach Leistung.

380

Rudolf A. Thaler Austria

USA Führungsstil

langfristige Ziele und Strategien eher langsame Reaktion auf geänderte Marktgegebenheiten geringer Handlungsspielraum für Niederlassungen langfristige Anstellung von Mitarbeitern

kurzfristige Anpassung an Marktgegebenheiten kurzfristig, gewinnorientiert (z. B. Firmengründung in China) Kündigung nach Marktsituation

Entscheidungsprozess „top down“ strukturierter Informationsprozess Suche nach der besten Lösung langsame Entscheidungsfindung detailorientiert

Einbindung von Teams ad-hoc-Entscheidungen Entscheidungsrevision bei neuen Daten rasche Entscheidungsfindung „big picture“ im Vordergrund

Unternehmenshierarchie mehrere Hierarchieebenen akademische Titel

eher flache Strukturen, Teams Funktionen (CEO, President etc.)

Kommunikation und Information Informationsweitergabe bei Bedarf beschränkter Empfängerkreis kein Feedback vor Projektende persönliche Kommunikation „Small Talk“ eher förmlich defensives Verhalten bei Kritik lange, technische Präsentation

Information als Vertrauensbeweis hohe Transparenz regelmäßiges Feedback Offenheit informell Kommunikationsmedium Nr. 1: Email „to the Point“ jederzeitige Erreichbarkeit

Marketing ehrlich technisch

verschönernd aggressiv

F&E Tendenz zu „over-engineering“

marktorientiert

Vertragsbeziehungen langfristige Perspektive Abbildung 2:

3.3

„win-win-Situation“

Kulturelle Unterschiede zwischen USA und Österreich4

Silicon Valley: Unternehmenskultur der besonderen Art

Die USA sind mit der Speerspitze Silicon Valley weltweiter Technologie- und Innovationsleader. 40 % des US-Risikokapitals werden im Silicon Valley, Kalifornien, investiert. Was macht das „Valley“ für Branchengiganten wie Facebook, Google, Apple etc. und Start-UpUnternehmen so attraktiv, zum Magneten für Risikokapital und zum schnellen Brüter für Innovationen? •

Spirit des Valley: Die ständige Jagd nach Innovationen, getrieben vom Willen, die Welt zu verbessern, und die Suche nach der nächsten disruptiven Technologie.

4

Siehe hierzu auch Winkler, Erfolg in aller Welt: Über den richtigen Umgang mit anderen Kulturen in der Exportwirtschaft (2002).

Unternehmensführung im interkulturellen Spannungsfeld: USA und Polen

381



Maßgeblich für die dynamische Entwicklung von Spin-Offs und Start-Up-Unternehmen in den USA, und besonders im Valley, ist die zu Europa und Österreich unterschiedliche Risikokultur. Für einen amerikanischen Manager ist es normal, einen Fehler einzugestehen, der dem Unternehmen mehrere Millionen US-Dollar kostet. Dies wird als wertvolle Erfahrung gesehen, die als Mehrwert in das neue Engagement einfließt. In den USA steht im Konkursfall der Schutz des Unternehmens und weniger der Gläubiger im Vordergrund. • Dichte an Elite-Universitäten und Forschungseinrichtungen, deren intensive Kooperation mit der Wirtschaft und die Konzentration an Talenten. So mancher High SchoolStudent führt bereits ein eigenes Unternehmen. Selbstständigkeit und Entrepreneurship werden als erstrebenswert vermittelt. • Leichterer Zugang zu Risikokapital durch permanente Networking-Möglichkeiten mit Venture Capital-Firmen und Business Angels. Auch Risikokapital-Abteilungen großer Unternehmen investieren aus strategischem Interesse in neue Technologien. Kapitalgeber bringen sich wie Partner intensiv in das Unternehmensgeschehen ein und investieren fast ausschließlich in lokal präsente Unternehmen, am liebsten im Radius einer Autostunde. Beim erfolgreichen Pitch vor Kapitalgebern zählen Marktvolumen, Marktanteil, Team und erforderliches Kapital. • Ein dichtes Netz von Inkubatoren und Business Accelerators schaffen einen geeigneten Bedingungsrahmen, neue Ideen und Technologien zu entwickeln und zu fördern. In einem Business Accelerator bestehen ideale Voraussetzungen zur Vernetzung mit Experten, potenziellen Geschäftspartnern und Kapitalgebern, um Geschäftsmodelle und Business-Pläne einem Härtetest zu unterziehen und auf einen neuen Level zu hieven. – Dichte an Venture Capital-Unternehmen: Das „Who is Who“ der Venture CapitalSzene mit Milliarden US-Dollar Portefeuilles ist im Valley angesiedelt. – Eine Schlüsselfunktion haben Mentoren, die von erfolgreichen Unternehmern zu Investoren mutierten und mit ihrem Sendungsbewusstsein der ideale Partner für junge Entrepreneure sind. – Das offene, kreative Gesprächsklima und kompetitive Umfeld bieten die Möglichkeit, sich mit den Besten der Besten zu messen und sich global zu positionieren und kalibrieren. • Rasches Feedback für Kommerzialisierungschancen: Untrüglicher Gradmesser für die Attraktivität einer Idee/Technologie ist das (Nicht-)Interesse potenzieller Kapitalgeber und strategischer Partner. Für in Zukunftsbranchen tätige Unternehmen empfiehlt sich ein Aufenthalt im Silicon Valley5, um einen aktuell bestehenden Technologievorsprung zu halten und auszubauen. Wer im kompetitiven und schnelllebigen Umfeld des Silicon Valley besteht, hat die Voraussetzungen, sich am US-Markt und weltweit erfolgreich zu behaupten.

5

Das AußenwirtschaftsCenter Los Angeles der Wirtschaftskammer Österreich startete 2010 die TechnologieInitiative Go Silicon Valley, die qualifizierten österreichischen Start-Up-Unternehmen im IT-Bereich den Aufenthalt in einem Business Accelerator in Sunnyvale ermöglicht.

382

Rudolf A. Thaler

Literatur Cornelius, K. L.: Surfacing, Understanding and Managing Corporate Cultural Differences, Chicago 2009 (Vortrag im Rahmen des Treffens österreichischer Niederlassungsleiter „Austria Connect 2009“ der AußenwirtschaftsCenter New York, Chicago und Los Angeles). Thaler, R. A.: Österreichische Unternehmen in Polen – Erfolgreiche Marktbearbeitung/Austriackie Firmy w Polsce – Skuteczna Strategia Rynkowa, 3. Aufl., Warschau 2007. Winkler, E.: Erfolg in aller Welt: Über den richtigen Umgang mit anderen Kulturen in der Exportwirtschaft, Wien 2002. http://www.geert-hofstede.com [17.08.2011].

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management auf den Unternehmenserfolg am Beispiel von Fußballvereinen Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

1

Einführung

Am 25. August 2011 gab Steve Jobs seinen sofortigen Rücktritt als Konzernchef des amerikanischen Elektronikriesen Apple bekannt. Viele Analysten prophezeiten dem Unternehmen daraufhin massive Kurs- und Gewinneinbrüche, vor allem in einer längerfristigen Perspektive. Dieser Einschätzung liegt offenbar die Meinung zugrunde, dass ein Einzelner den Erfolg eines Unternehmens nachhaltig beeinflussen kann. Unzählige anekdotische Beispiele scheinen dies zu bestätigen, zumindest solange die Unternehmen erfolgreich sind. Ebenso schnell sind aber in Krisenzeiten die Schuldigen gefunden, die gerade noch Gefeierten werden für Misserfolge verantwortlich gemacht, häufig entlassen und durch neue Kräfte in der Führungsetage ersetzt. Neu in ihre Funktion berufene Topmanagerinnen und Topmanager1 sind allerdings mit hohen Erwartungen konfrontiert: Sie sollen das Ruder herumreißen, konsolidieren und das Unternehmen wieder auf die Erfolgsspur führen. Meist haben sie dafür wenig Zeit, denn „Aufsichtsräte fackeln mit dem Rauswurf nicht allzu lange, wenn der Erfolg ausbleibt und die Zahlen nicht stimmen“2. Doch wie weit kann der Topmanager ad personam den Erfolg eines Unternehmens überhaupt beeinflussen? Welche Probleme gibt es bei der Beurteilung des Unternehmenserfolgs, und wie wichtig ist der ausbleibende Erfolg für die Erklärung eines Wechsels im Topmanagement? Und schließlich die entscheidende Frage: Welchen Effekt hat der Wechsel des Topmanagers auf den Unternehmenserfolg? Kehrt der neue Besen tatsächlich besser oder bleibt alles beim Alten? Die Antworten, welche die Wirtschaftswissenschaften in Theorie und Empirie auf diese Fragen geben, fallen keineswegs eindeutig aus, wie im Folgenden gezeigt wird. In Bezug auf die personenzentrierte Betrachtung von Unternehmenser- und misserfolgen drängt sich der Vergleich zu Sportmärkten auf. Auch dort agieren Unternehmen (Sportver1 2

Im Folgenden werden aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männlichen Anredeformen verwendet. Handelsblatt, Neue Besen kehren auch nicht besser (2005).

384

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

eine), welche (meist) Dienstleistungen anbieten und dabei in Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, häufig in (temporär) geschlossenen Märkten (Ligastrukturen). Das Topmanagement ist meist in geschäftliche und sportliche Verantwortlichkeiten geteilt. Ist eine Mannschaft in sportlichen Belangen erfolgreich, wird dies häufig dem Teammanager bzw. Trainer zugeschrieben. Ist sie es nicht, wird dieser als Erster entlassen und durch einen Neuen in der Hoffnung ersetzt, dass dadurch der sportliche Abstieg gebremst bzw. verhindert wird. Im vorliegenden Beitrag beziehen wir uns auf die Analogie zwischen traditionellen Märkten3 und Sportmärkten, um zu untersuchen, ob und in welchem Ausmaß der Wechsel von Führungskräften den Erfolg eines Unternehmens beeinflusst. Konkret wird im Rahmen einer Regressionsanalyse der sportliche Erfolg von Fußballmannschaften als Funktion von Trainerwechseln und anderen Einflussgrößen (z. B. Heim-/Auswärtsspiel oder sportliche Stärke der Gegner) geschätzt. Dazu werden Daten aus der Ersten Deutschen (Fußball-)Bundesliga über 21 Spielsaisonen (zwischen 1986/87 und 2006/07) verwendet. Bevor wir uns der empirischen Analyse zuwenden, wird im folgenden Abschnitt erörtert, zu welchen Ergebnissen die theoretische und empirische (Management-)Literatur in Bezug auf den Einfluss von Wechseln in der Führungsebene auf den Unternehmenserfolg gelangt. Anschließend zeigen wir, dass sich Sportmärkte, speziell im Bereich des professionellen Fußballs, besonders für die empirische Analyse dieses Zusammenhangs eignen. Danach wird das empirische Modell präsentiert, anhand dessen die Beziehung zwischen Trainerwechseln und sportlichem Erfolg geschätzt wird, ehe die empirischen Ergebnisse vorgestellt werden. Im abschließenden Abschnitt werden die Hauptergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.

2

Unternehmenserfolg und Wechsel von Topmanagern

2.1

Mangelnder Unternehmenserfolg und Wechsel im Topmanagement

Zunächst stellt sich die Frage, ob der Topmanager eines Unternehmens den Unternehmenserfolg überhaupt beeinflussen kann. Abgesehen von einer sehr engen neoklassischen Sicht, in der Topmanager ein homogener Faktor und daher perfekt substituierbar sind, könnten auch mannigfaltige Beschränkungen dazu führen, dass selbst heterogene Akteure keinen individuell zuschreibbaren Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen und damit auf den Unternehmenserfolg ausüben.4 Prinzipal-Agenten-Ansätze postulieren dagegen, dass Topmanager über einen Handlungs- und Einflussspielraum verfügen und so ihre eigenen Ziele verfolgen können. Unterschiede im Erfolg von Unternehmen können dann nicht nur Folge unterschiedlicher Eigenschaften und Fähigkeiten der Topmanager sein, sondern auch infolge unterschiedlicher Governance-Strukturen in den Unternehmen entstehen5. Die Einflussmöglichkeiten des Topmanagers hängen dann einerseits von der Stärke und Effektivität der Kontrolle durch das Kontrollorgan (z. B. Aufsichtsrat) ab, andererseits können die Kontrollorgane den für das Unternehmen „passenden“ Topmanager einstellen, wenn ein Strategiewechsel erforderlich erscheint. Die empirische Evidenz zu den Möglichkeiten der Einflussnahme des 3 4 5

Um Sportmärkte von Märkten für Industrie- und Handelsgütern und -dienstleistungen abzugrenzen, verwenden wir für letztere im Folgenden die Bezeichnung „traditionelle“ Märkte. Vgl. Bertrand/Schoar, Managing with style: The effects of managers on firm policies Managing (2003). Vgl. Bertrand/Schoar, Managing with style: The effects of managers on firm policies Managing (2003).

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 385 Topmanagers auf den Unternehmenserfolg ist widersprüchlich: Sie schwankt zwischen bestenfalls geringen Möglichkeiten,6 und einem signifikanten, individuell zurechenbaren Einfluss auf Investitions-, Finanzierungs- und organisatorische Entscheidungen.7 Ein substanzieller Einfluss wird vor allem in diversifizierten Unternehmen festgestellt,8 dieser Einfluss muss sich aber nicht unbedingt positiv für das Unternehmen auswirken,9 wenn der Topmanager als Gründer, Miteigentümer oder aufgrund der Familien-Besitzverhältnisse Macht über das Management Board ausüben kann.10 Geht man nun davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen dem Agieren des Topmanagers und dem Unternehmenserfolg besteht, kommt der Auswahl des Topmanagers zentrale Bedeutung zu. Anhaltspunkte über die Anforderungen an einen Topmanager in deutschen Unternehmen liefert eine Delphi-Studie,11 die Motivieren und Personal entwickeln als die wichtigsten Führungsaufgaben gefolgt von Informieren, Delegieren und Personal auswählen nennt. Wichtigste Dimensionen des Führungsverhaltens sind Ergebnis- und Zielorientierung, wichtigste Kommunikationspartner sind Medien und Berater, wichtigste persönliche Eigenschaften Flexibilität und Teamfähigkeit gefolgt von Lernfähigkeit. Dieses Anforderungsprofil lässt den Schluss zu, dass von Topmanagern kaum betriebsspezifisches Humankapital gefordert wird, sondern branchenspezifisches und insbesondere allgemeines (nichtspezifisches) Humankapital, und daher jedenfalls aus humankapitaltheoretischer Sicht eine interne gleichermaßen wie eine externe Stellenbesetzung zulässt. Ob die Position des Topmanagers aus dem Unternehmen heraus oder extern besetzt werden soll, wird denn auch in der Literatur nicht eindeutig beantwortet: Während die traditionelle personalwirtschaftliche Literatur eindeutig die interne Besetzung vorzieht,12 ergibt eine personalökonomische Analyse keine Rechtfertigung für die Bevorzugung einer internen Besetzung von Spitzenführungspositionen.13 Ein Wechsel des Topmanagers kann entweder unabwendbar sein (Pensionierung, Tod, gesundheitliche Probleme), kann freiwillig auf seine Initiative erfolgen (z. B. aufgrund von Unzufriedenheit mit der bestehenden Arbeitssituation oder besseren Chancen in einem anderen Unternehmen) oder der Wechsel kann erzwungen sein.14 Im letzten Fall entscheidet das kontrollierende Organ des Unternehmens über das Ende des Beschäftigungsverhältnisses; Unstimmigkeiten zwischen dem Topmanager und dem kontrollierenden Organ über die Unternehmensstrategie, mangelnder Unternehmenserfolg, Fusionen und Unternehmensübernahmen sind mögliche Ursachen eines unfreiwilligen Wechsels. Selbst herausragend erfolgreiche Topmanager sind nicht vor Entlassung gefeit: Von 208 Führungskräftewechseln in an der Züricher Börse notierten Unternehmen trifft dies auf ein Drittel der Wechsel zu!15 Zur Wahrung der Reputation des Topmanagers, des Aufsichtsrats und/oder des Unternehmens 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Finkelstein/Hambrick, Strategic Leadership: Top Executives and Their Effects on Organizations (1996). Vgl. Bertrand/Schoar, Managing with style: The effects of managers on firm policies Managing (2003). Vgl. Mackey, The effect of CEOs on firm performance (2008). Vgl. Perez-Gonzalez, Inherited control and firm performance (2006). Vgl. Adams/Almeida/Ferreira, Powerful CEOs and their impact on corporate performance (2005). Vgl. Matiaske/Holtmann/Weller, Anforderungen an Spitzenführungskräfte. Retrospektive und Perspektive: Eine empirische Untersuchung (2002). Vgl. z. B. Liebel/Oechsler, Handbuch Human Resource Management (1994). Vgl. Zimmermann, Intern versus extern – eine personalökonomische Analyse von Einflussfaktoren auf die Besetzung von Spitzenführungspositionen (2009). Vgl. Schrader, Spitzenführungskräfte, Unternehmensstrategie und Unternehmenserfolg (1995). Vgl. Kind/Schläpfer, Is a CEO turnover good or bad news? Faculty of Business and Economics (2010).

386

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

wird häufig versucht, einen unfreiwilligen Abgang der Spitzenführungskraft nach außen als einvernehmliche Trennung darzustellen,16 was wiederum bei empirischen Analysen die Zuordnung zur zutreffenden Kategorie von Wechsel erschwert. Für einen Wechsel des Topmanagers bei geringem Unternehmenserfolg führt Schrader vier Erklärungen an:17 Die Schuld-Hypothese besagt, dass der ursächlich für den geringen Unternehmenserfolg verantwortliche Topmanager durch jemanden ersetzt wird, von dem eine bessere Erreichung der Unternehmensziele erwartet wird. Nach der Sündenbock-Hypothese wird dem Topmanager die Schuld zugewiesen, auch wenn er nicht ursächlich für den geringen Erfolg verantwortlich ist, um andere Personen (z. B. im Aufsichtsrat des Unternehmens) von deren Verantwortung zumindest teilweise zu entlasten. Auch gemäß der SymbolHypothese ist der Topmanager nicht ursächlich für den geringen Erfolg verantwortlich, durch den Wechsel soll aber signalisiert werden, dass das Unternehmen um eine Verhaltensänderung bemüht ist. Gemäß der Dissonanzvermeidungs-Hypothese verlässt der Topmanager das Unternehmen aus eigenem Entschluss, um eine mögliche Dissonanz zwischen dem eigenen Anspruchsniveau und der realisierten Zielerreichung zu vermeiden. Zum Zusammenhang zwischen (mangelndem) Unternehmenserfolg und dem Wechsel des dafür „verantwortlichen“ Topmanagers kann aus den zahlreichen empirischen Studien nur eine kleine Auswahl angeführt werden, die die Vielfalt der Ergebnisse erahnen lässt. In den USA werden Topmanager, deren Unternehmen in den ersten fünf Jahren ihrer Tätigkeit bei verschiedenen Erfolgskennzahlen im untersten Fünftel liegen, mit um 42 % größerer Wahrscheinlichkeit gefeuert als Topmanager von Unternehmen, die im obersten Fünftel liegen.18 Es gibt aber auch empirische Evidenz dafür, dass in amerikanischen Unternehmen unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens die Topmanager dann eher entlassen werden, wenn die Branche oder der gesamte (Aktien-) Markt sich ungünstig entwickelt.19 Auch die Berichterstattung über eine ungünstige wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens in einschlägigen Medien erhöht die Wahrscheinlichkeit der Ablösung des Topmanagers im Vergleich zu sich gleich (un-)günstig entwickelnden Unternehmen.20 In japanischen Unternehmen wird ein negativer Zusammenhang zwischen dem aktuellen Umsatz- und Beschäftigungswachstum einerseits und der Wahrscheinlichkeit der Entlassung des Topmanagers andererseits festgestellt, vor allem aber ist die langfristige Performance des Topmanagers für die Wahrscheinlichkeit seines Wechsels von Bedeutung.21 In australischen Unternehmen führt eine schlechte Unternehmensperformance erst mit Verzögerung zum Wechsel des Topmanagers,22 auch in Deutschland geht einem unfreiwilligen Wechsel des Topmanagers eine deutliche Verschlechterung der Ertragssituation voraus,23 während in dänischen Unternehmen die Gewinnsituation des Unternehmens keinen Einfluss auf den Wechsel des Topmanagers hat, wohl aber die Unternehmensgröße, das Alter des Unternehmens sowie

16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Wiersema, Holes at the top: Why CEO firings backfire (2002). Vgl. Schrader, Spitzenführungskräfte, Unternehmensstrategie und Unternehmenserfolg (1995). Vgl. Jenter/Lewellen, Performance-induced CEO turnover (2010). Vgl. Jenter/Kanaan, CEO turnover and relative performance evaluation (2006). Vgl. Farrell/Whidbee, Monitoring by the Financial Press and Forced CEO Turnover (2002). Vgl. Abe, Chief Executive Turnover and Firm Performance in Japan (1997). Vgl. Suchard/Singh/Barr, The market effects of CEO turnover in Australian firms (2001). Vgl. Leker/Salomo, CEO turnover and corporate performance (2000).

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 387 der Liquiditätsgrad des Unternehmens.24 In großen deutschen Unternehmen liegen der Gewinn und die Kapitalrentabilität von Unternehmen, die den Topmanager entließen, vor dem Wechsel im Management signifikant unter dem Branchendurchschnitt. Unternehmen, in denen ein erzwungener Wechsel des Topmanagers stattfand, weisen zudem eine schlechtere Entwicklung vor dem Wechsel auf als Unternehmen, in denen der Abgang unabwendbar war oder freiwillig erfolgte.25 Geschwindigkeit, Gründe und Art des Wechsels der Topmanager haben sich – jedenfalls in den USA – seit den 1990er Jahren geändert. Für den Zeitraum zwischen 1992 und 2005 schätzen Kaplan und Minton eine durchschnittliche jährliche Wechselquote von 14,9 %,26 was einer durchschnittlichen Beschäftigungsdauer eines Topmanagers im selben Unternehmen von knapp sieben Jahren entspricht. Im Zeitraum zwischen 1998 und 2005 ist die Wechselquote auf 16,5 % gestiegen, die durchschnittliche Dauer des Beschäftigungsverhältnisses ist entsprechend auf ungefähr sechs Jahre gesunken. Bei erzwungenem Wechsel spielen die Performance des Unternehmens in Relation zur Entwicklung der Branche, die Branchenentwicklung in Relation zur Gesamtmarktentwicklung, sowie die Entwicklung des Aktienmarktes insgesamt eine wichtige Rolle (insbesondere in der Periode nach 1998). Wechsel des Topmanagers infolge von Fusionen oder Unternehmensübernahmen weisen keinen Zusammenhang mit dem Unternehmenserfolg auf.27 In den 1990er Jahren wird in den USA eine Zunahme der erzwungenen Wechsel und der Besetzungen mit Nachfolgern von außerhalb des Unternehmens festgestellt: Während in den 1980er Jahren zwischen 13 % und 36 % der Wechsel erzwungen waren, lag dieser Anteil Ende der 1990er Jahre bei 37 %, wobei zu bedenken ist, dass weitere 34 % der Abgänge vorzeitige Pensionierungen – was fast immer ein Euphemismus für einen erzwungenen Rückzug ist – waren.28 Eine neuere, internationale Übersicht zum Wechsel von Spitzenführungskräften zeigt, dass die durchschnittliche Dauer des Beschäftigungsverhältnisses von Topmanagern zwischen 2003 und 2009 leicht zurückging.29 Schließlich ist der Anteil der Nachfolger, die von außerhalb des Unternehmens geholt wurden, von 11 % bis 15 % in den 1970er und 1980er Jahren bis auf 36 % zum Ende der 1990er Jahre gestiegen.30

2.2

Auswirkungen des Wechsels im Topmanagement auf den Unternehmenserfolg

Die Kernfrage im Zusammenhang mit dem Wechsel des Topmanagers in einem Unternehmen ist die nach den Auswirkungen des Wechsels auf den Unternehmenserfolg. Hier ist zunächst zu fragen, ob nach dem Wechsel des Topmanagers eine geänderte strategische Ausrichtung des Unternehmens empirisch festgestellt werden kann. Die Einstellung eines neuen 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Eriksson/Strøjer/Dilling-Hansen/Smith, Determinants of CEO and Board Turnover (2001). Vgl. Bresser/Valle/Biedermann/Lüdeke, Entlassung des Vorstandsvorsitzenden und Unternehmenserfolg: Eine empirische Untersuchung der größten deutschen Aktiengesellschaften (2005). Vgl. Kaplan/Minton, How has CEO turnover changed? Increasingly performance sensitive boards and increasingly uneasy CEOs (2006). Vgl. Kaplan/Minton, How has CEO turnover changed? Increasingly performance sensitive boards and increasingly uneasy CEOs (2006). Vgl. Wiersema, Holes at the top: Why CEO firings backfire (2002). Vgl. Favaro/Karlsson/Neilson, A Decade of Convergence and Compression. The 2000–2009 CEO Succession study (2010). Vgl. Wiersema, Holes at the top: Why CEO firings backfire (2002).

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Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

Topmanagers kann einem Unternehmen eine neue strategische Ausrichtung geben und ist eines der stärksten Signale für einen Wandel der Unternehmensstrategie.31 Aus einer Untersuchung von Führungswechseln in 44 der 200 größten deutschen Unternehmen geht hervor, dass nur erzwungene Wechsel Strategieänderungen zur Folge haben, nicht jedoch freiwillige Wechsel.32 In US-amerikanischen Unternehmen kommt zudem ein Strategiewechsel meist nur dann zustande, wenn nicht nur der Topmanager, sondern mit ihm ein großer Teil des Führungsteams ausgetauscht wird.33 Eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Wechsel des Topmanagers und dem Innovationsverhalten des Unternehmens zeigt, dass zwischen drei und fünf Jahre nach dem Wechsel die Innovationsaktivitäten (gemessen an Patenten, Zitierungen, Patenten in Relation zu den eingesetzten Ressourcen) stark zunehmen.34 Die angeführten Studien legen somit nahe, dass ein neu berufener Topmanager grundsätzlich einen empirisch feststellbaren Einfluss auf die Unternehmensstrategie ausüben kann (und dies in vielen Fällen auch tatsächlich tut). Führt aber ein Wechsel des Topmanagers auch zu einer Steigerung des Unternehmenserfolgs? Der Erfolg wird in der empirischen Literatur anhand von finanzwirtschaftlichen Unternehmenskennzahlen und Aktienkursen gemessen. Finanzwirtschaftliche Kennzahlen bilden den aktuellen Stand der wirtschaftlichen Lage im Unternehmen ab; sie können durch den Topmanager beeinflusst werden und sind daher grundsätzlich als Indikatoren des Managementerfolgs geeignet. Allerdings könnte ein ausscheidender Topmanager in einem letzten verzweifelten Versuch zur Rettung seiner Position Ausgaben streichen und damit vorübergehend eine Ergebnisverbesserung erreichen, während der nachfolgende Topmanager zunächst Ausgaben vorziehen, Sonderabschreibungen vornehmen und ähnliche Maßnahmen setzen könnte, die vorübergehend eine Ergebnisverschlechterung bewirken, sodass die Verbesserung des Ergebnisses in der Folgeperiode seinem erfolgreichen Wirken als neuer Topmanager zugeschrieben werden kann.35,36 Die Messung des Unternehmenserfolgs nach dem Wechsel des Topmanagers anhand von Veränderungen des Aktienkurses liefert eine Einschätzung der Änderung des künftigen Ertragspotenzials des Unternehmens infolge des Wechsels durch Investoren. Der Vorteil von Aktienkursen ist, dass sie eine zeitnahe (Aktien-)Markteinschätzung wiedergeben und kontinuierlich verfügbar sind. Die Markteinschätzung unterliegt dabei aber einer Vielzahl von Faktoren, die nicht mit dem Wechsel im Topmanagement in Verbindung stehen müssen und die vom neuen Topmanager auch kaum zu beeinflussen sind. Reale wirtschaftliche Effekte (verbesserte Gewinnaussichten des Unternehmens, z. B. infolge eines Strategiewechsels) und Informationseffekte wirken somit gleichzeitig auf den Aktienkurs eines Unternehmens ein. Auch wenn sie methodisch schwierig ist, wäre die Trennung dieser Effekte zur Isolierung des Effekts des neuen Topmanagers auf den Unternehmenserfolg wünschenswert.37 31 32 33 34 35 36 37

Vgl. Wiersema/Moliterno, CEO turnover in the new era: A dialogue with the financial community (2006). Vgl. Hungenberg/Wolf/Stengl, Führungswechsel und Strategiewandel. Eine empirische Untersuchung bei deutschen Großunternehmen. Institut für Unternehmensplanung – IUP (2004). Vgl. Barron/Chulkov/Waddell, Top management team turnover, CEO succession type, and strategic change (2011). Vgl. Bereskin/Hsu, New dogs new tricks: CEO turnover, CEO-related factors, and innovation performance (2011). Vgl. Murphy/Zimmerman, Financial performance surrounding CEO turnover (1993). Vgl. Wells, Earnings management surrounding CEO changes (2002). Vgl. Jensen/Warner, The Distribution of Power Among Corporate Managers, Shareholders, and Directors (1988).

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 389 Sowohl bei der Messung des Einflusses des Topmanagers auf den Unternehmenserfolg mit finanzwirtschaftlichen Kennzahlen als auch mit Aktienkursen entstehen weitere Probleme, die die Zurechnung des Unternehmenserfolgs zu den Aktivitäten des neuen Topmanagers erschweren. Brancheneffekte oder gesamtwirtschaftliche Effekte können auf die Entwicklung des Unternehmenserfolgs nach dem Wechsel einwirken und so die Isolierung des Effekts erschweren, der vom Wechsel des Topmanagers auf den Unternehmenserfolg ausgeht. Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten, dass die beiden gebräuchlichsten Ansätze zur Messung des Unternehmenserfolgs im Zusammenhang mit dem Wechsel des Topmanagers Schwächen aufweisen. Empirische Studien zu den Effekten des Wechsels des Topmanagers auf den Unternehmenserfolg offenbaren Widersprüchliches: In ihrem Literaturüberblick verweisen Furtado und Karan auf das Missverhältnis zwischen zahllosen Anekdoten auf der einen Seite, wie einzelne Manager den „Turnaround“ eines Unternehmens schaffen, und den wenigen empirischen Studien, die einen positiven Zusammenhang zwischen dem Wechsel des Topmanagers und dem Unternehmenserfolg finden, auf der anderen Seite.38 Zahlreiche seither durchgeführte Untersuchungen, in denen Konzepte und Analysemethoden verfeinert wurden, liefern ebenfalls einander oftmals widersprechende Ergebnisse. So wird eine signifikante Verbesserung des finanzwirtschaftlichen Unternehmensergebnisses und ein deutlicher Anstieg des Aktienkurses als Folge eines Wechsels des Topmanagers konstatiert, wobei sich die finanzwirtschaftlichen Kennzahlen des Unternehmens insbesondere dann verbessern, wenn der Nachfolger von außerhalb des Unternehmens kommt.39 Dagegen ergibt eine Untersuchung von Topmanager-Wechseln in den größten 500 US-amerikanischen Unternehmen, dass in den drei Jahren nach dem Wechsel im Vergleich zu den zwei Jahren davor bei jenen Unternehmen, die den Topmanager entließen, weder eine signifikante Steigerung des Betriebsergebnisses und des Aktienkurses noch eine Verbesserung des Unternehmenserfolgs im Vergleich zum Branchendurchschnitt eintritt. Als Ursachen dafür nennt sie Krisenerscheinungen im Zusammenhang mit der Entlassung des Topmanagers und inadäquate Reaktionen des Management-Boards. In den Unternehmen mit erzwungenem Wechsel des Topmanagers fällt zudem der Unternehmenserfolg nach dem Wechsel ungünstiger aus als in Unternehmen, in denen ein routinemäßiger Wechsel stattfand.40 Diese Ergebnisse werden in einer Untersuchung der größten börsennotierten deutschen Unternehmen (DAX100-Unternehmen) weitgehend bestätigt und ebenfalls auf mangelnde Qualifikation der Aufsichtsräte bei Entscheidungen über die Besetzung von Spitzenführungspositionen sowie auf das Setzen von symbolischen Akten durch den Aufsichtsrat zurückgeführt.41 Bei erzwungenen Wechseln in großen deutschen Unternehmen verschlechtert sich unmittelbar nach dem Wechsel das Unternehmensergebnis, in den darauffolgenden Jahren verbessert es sich aber deutlich.42 Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Form der Entlohnung des neu eintretenden Topmanagers und dem Unternehmenserfolg: Sowohl bei erzwungenem als auch bei routinemäßi-

38 39 40 41 42

Vgl. Furtado/Karan, Causes, consequences, and shareholder wealth effects of management turnover: A review of the empirical evidence (1990). Vgl. Huson/Malatesta/Parrino, Managerial succession and firm performance (2004). Vgl. Wiersema, Holes at the top: Why CEO firings backfire (2002). Vgl. Bresser/Valle/Biedermann/Lüdeke, Entlassung des Vorstandsvorsitzenden und Unternehmenserfolg: Eine empirische Untersuchung der größten deutschen Aktiengesellschaften (2005). Vgl. Leker und Salomo, CEO turnover and corporate performance (2000).

390

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

gem Wechsel ist der Aktienkursanstieg umso höher, je höher der Anteil der Aktienoptionen an der Entlohnung des Topmanagers ist.43 In einigen empirischen Studien wird sowohl nach erzwungenem vs. „natürlichem“ (unabwendbarem oder freiwilligem) Wechsel als auch nach interner vs. unternehmensexterner Nachfolge unterschieden. In großen US-amerikanischen Unternehmen hat bei einem natürlichen Wechsel die Berufung eines unternehmensinternen Nachfolgers kaum Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg, während sich der Unternehmenserfolg bei externer Nachfolge verschlechtert.44 Es finden sich aber auch positive Effekte einer externen Nachfolge (unabhängig, ob es sich um einen natürlichen oder einen erzwungenen Wechsel handelt), aber nur, wenn nicht zugleich ein Wechsel im Führungsteam stattfindet.45 Beide Studien zeigen, dass bei erzwungenen Wechseln die Berufung eines internen Nachfolgers keine signifikanten Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg hat; eine externe Nachfolge hat in einer der beiden Studien nur bei einem erzwungenen Wechsel einen positiven Effekt.46 Der Zusammenhang zwischen der Beschäftigungsdauer des Topmanagers und dem Unternehmenserfolg ist durch ein Optimum gekennzeichnet, weil sich das Unternehmen bei (zu) kurzer Dauer vom vorangegangenen Wechsel des Topmanagements möglicherweise noch nicht erholt hat und eine zu lange Dauer zur Versteinerung von Organisationsstrukturen führt.47 Ein erzwungener Wechsel mit externer Nachfolge zieht in großen Schweizer börsennotierten Unternehmen meist einen Aktienkursanstieg nach sich; wird allerdings ein besonders erfolgreicher Topmanager entlassen, hat das einen Kursrückgang zur Folge.48 Ein Wechsel des Topmanagers bringt Vorteile für die Aktionäre, er ist aber meist nachteilig für die Besitzer von Anleihen des Unternehmens und hat auf den Unternehmenswert keine Auswirkungen. Die beiden erstgenannten Effekte sind besonders stark ausgeprägt bei einem erzwungenen Wechsel, bei externer Nachfolge oder bei schlechtem Kreditrating des Unternehmens.49

3

Managementwechsel und Unternehmenserfolg: Fußballvereine als geeignete Untersuchungseinheiten

Für traditionelle Märkte ist ein empirischer Test über mögliche Effekte von Managerwechseln zunächst mit einem inhärenten Datenproblem konfrontiert. Einerseits ist die Ablöse und Neueinstellung von Führungskräften häufig nicht oder nur unzureichend beobachtbar, anderseits ist – wie die obigen Ausführungen zeigen – der Erfolg eines Unternehmens nicht eindeutig definierbar. Selbst wenn dieser festlegbar ist, werden die entsprechenden Erfolgs43 44 45 46 47 48 49

Vgl. Blackwell/Dudney/Farrell, Changes in CEO compensation structure and the impact on firm performance following CEO turnover (2007). Vgl. Khurana/Nohria, The performance consequences of CEO turnover (2000). Vgl. Shen/Canella, Revisiting the performance consequences of CEO succession: The impacts of successor type, postsuccession senior executive turnover, and departing CEO tenure (2002). Vgl. Khurana/Nohria, The performance consequences of CEO turnover (2000). Vgl. Shen/Canella, Revisiting the performance consequences of CEO succession: The impacts of successor type, postsuccession senior executive turnover, and departing CEO tenure (2002). Vgl. Kind/Schläpfer, Is a CEO turnover good or bad news? Faculty of Business and Economics (2010). Vgl. Adams/Mansi, CEO turnover and bondholder wealth (2009).

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 391 kennzahlen in den einschlägigen Datenbanken (z. B. Amadeus oder Datastream) nicht regelmäßig reportiert und/oder oft unzureichend ausgewiesen. Ferner ist der Beobachtungszeitraum meist das Wirtschaftsjahr, sodass etwaige Auswirkungen von Wechseln der Führungsebene allenfalls auf mittel- bis langfristige, nicht aber auf kurzfristige Effekte hinweisen. Daten aus Sportmärkten weisen diese Probleme hingegen nicht auf. Ein Fußballverein ist dann sportlich erfolgreich, wenn er am Ende der Spielsaison möglichst viele Punkte bzw. einen möglichst guten Tabellenrang aufweist oder zumindest nicht absteigt. Für eine Runde während der Spielsaison (d. h. die bilaterale Begegnung mit einem unmittelbaren Ligakonkurrenten) bedeutet dies, dass ein Spiel möglichst gewonnen oder zumindest ein Unentschieden erreicht werden sollte. Trainerentlassungen werden entweder während oder am Ende der Saison vorgenommen, sodass der Zeitpunkt des Managementwechsels eindeutig beobachtbar ist. Dies erlaubt die Messung von kurz- und langfristigen Effekten von Trainerwechseln. Im vorigen Abschnitt wurde weiters beschrieben, dass bei der empirischen Messung von Managementeffekten gewichtige Messfehler auftreten können, die beispielsweise darin bestehen, dass der Unternehmenserfolg auch von konjunkturellen Einflüssen bestimmt wird oder das Management Anreize hat, den Betriebserfolg strategisch zu manipulieren. Konjunkturelle Faktoren spielen auf Sportmärkten zumindest unmittelbar kaum eine Rolle. Ferner sind Sportdaten auch insoweit unverfälscht, als der sportliche Erfolg durch den vor der Entlassung stehenden Trainer nicht manipuliert werden kann. Umgekehrt steht der neue sportliche Leiter meist sofort unter Erfolgsdruck, sodass er wenige Möglichkeiten zur „Beschönigung“ von sportlichen Erfolgen hat. Schließlich erweisen sich auf Sportmärkten Probleme, die mit dem Managementwechsel selber in Zusammenhang stehen, als weniger gravierend als auf traditionellen Märkten. So ist es auf solchen Märkten meist schwierig zu beobachten, ob der Managementwechsel freiwillig (wie im Falle von Steve Jobs) oder aufgrund von mangelnden Unternehmenserfolgen erfolgt. Ferner lässt sich nur schwer feststellen, ob der neue Topmanager intern oder extern besetzt wird. Trainerwechsel sind hingegen, zumindest soweit sie während der Saison erfolgen, von unfreiwilliger Natur, während ein Wechsel am Ende der Saison auf einen freiwilligen Abschied hindeutet. Weiters erfolgen die meisten Neubesetzungen von Trainern extern, was wiederum einen trennschärferen Test von Managementwechseln zulässt, da mit einer externen Besetzung meist auch eine Änderung der Unternehmensstrategie einhergeht. Alles in allem erweisen sich Unternehmen auf Sportmärkten als interessante Untersuchungseinheit, wenn es darum geht, den Einfluss von personalwirtschaftlichen Strukturen auf den Unternehmenserfolg zu quantifizieren. Dies belegt auch eine Vielzahl von neueren sportökonomischen Arbeiten, welche sich u. a. auch mit Trainerwechseln auseinander setzen.50 In Bezug auf die sportlichen Effekte von Trainerwechseln finden die meisten Studien negative oder insignifikante Parameter, was darauf hindeutet, dass eine Neubesetzung der sportlichen 50

Zeitpunkt und Ursachen von Trainerwechseln werden beispielsweise analysiert in Scully, Is managerial turnover rational? Evidence from professional team sports (1992); Scully, Managerial efficiency and survivability in professional team sports (1994); Fizel/D’Itri, Estimating managerial efficiency; The case of college basketball coaches (1996). Während sich diese Arbeiten auf den Profisport in den Vereinigten Staaten beziehen, finden sich Studien zum europäischen Fußball in Audas/Dobson/Goddard, Organizational performance and managerial turnover (1999); Bachan/Reilly/Witt, The hazard of being an English football league manager (2008); Aid/Leong/Saslaw/Sgroi, A power-law distribution for tenure lengths of sports managers (2006); Frick, B./Barros, C. P./Passos, J.: Coaching for survival: The hazards of head coach careers in the German “Bundesliga” (2009); Frick/Barros/Prinz, Analysing head coach dismissals in the German “Bundesliga” with a mixed logit approach, in: European Journal of Operational Research (2010).

392

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

Leitung wenig wirkungsvoll ist.51 Eine erwähnenswerte Ausnahme bildet eine Arbeit von Wirl und Sagmeister für die Österreichische Bundesliga, in der positive Effekte von Trainerwechseln ausgewiesen werden.52 Ähnlich findet Wagner für die deutsche Bundesliga positive Trainereffekte, allerdings wird in dieser Arbeit vorwiegend auf die Einführung der DreiPunkte-Regel abgestellt.53 Unsere Datenbasis bezieht sich auf die Erste Deutsche Bundesliga, der Hauptunterschied zu bisherigen Arbeiten manifestiert sich vor allem im empirischen Modell, welches der Analyse zugrunde liegt.

4

Empirische Analyse

4.1

Datenbeschreibung

Unsere empirische Untersuchung über den Zusammenhang von Managerwechsel und Unternehmenserfolg verwendet einen Datensatz mit den Spielergebnissen der Ersten Deutschen (Fußball) Bundesliga. Dieser Datensatz wurde in ähnlicher Form bereits in einer früheren Studie zum Einfluss von geographischer Distanz auf die Spielperformance bei Auswärtsspielen verwendet.54 Insgesamt berücksichtigt dieser Datensatz 12.963 Spiele, die in den 21 Saisonen von 1986/87 bis 2006/07 durchgeführt wurden. Zusätzlich sind für alle Spiele die Zuschauerzahlen und Stadionkapazitäten verfügbar. Aus diesen Informationen wird pro Spiel die Stadionauslastung berechnet. Weiters unterscheidet der Datensatz, ob es sich bei einem Spiel um ein Heim- oder Auswärtsspiel für die jeweilige Mannschaft handelt. Abschließend enthält die Datenbasis für jede Mannschaft die Anzahl an Trainerwechseln, welche innerhalb einer Saison vorgenommen wurden. Der Datensatz erlaubt darüber hinaus eine genaue Datierung der jeweiligen Trainerwechsel. Diese Information ermöglicht die empirische Quantifizierung von Performanceänderungen nach einem Trainerwechsel.

4.2

Deskriptive Statistik

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Gesamtzahl an Trainerwechseln für jede der 21 Spielsaisonen zwischen 1986/87 und 2006/07. Im Durchschnitt wurden während unseres Beobachtungszeitraums circa 8,6 Trainer pro Saison entlassen und durch neue Trainer ersetzt. 51

52 53

54

Für die englische Premier League vgl. beispielsweise Audas/Dobson/Goddard, Team performance and managerial change in the English football league (1997); Audas/Dobson/Goddard, The impact of managerial change on team performance in professional sports (2002); für die italienische Serie A De Paola/Scoppa, The effects of managerial turnover: Evidence from coach dismissals in Italian soccer teams (2008); für die spanische Primera División de Dios Tena/Forrest, Within-season dismissal of football coaches: Statistical analysis of causes and consequences (2007); für die argentinische Primera División Flores Forrrest/de Dios Tena, Decision taking with external pressure: Evidence on football manager dismissals in Argentina and their consequences, (2008); für die Eredivisie in den Niederlanden Koning, An econometric evaluation of the firing of a coach on team performance (2003); ter Weel, Does manager turnover improve performance? New evidence using information from Dutch soccer, 1986–2004 (2006). Vgl. Wirl/Sagmeister, Changing of the guards: New coaches in Austria’s premier football league (2008). Vgl. Wagner, Managerial succession and organizational performance – evidence from the German soccer league (2010); hingegen finden Heuer/Müller/Rubner/Hagemann/Strauss, Usefulness of dismissing and changing the coach in professional soccer (2011) insignifikante Trainereffekte für die Deutsche Bundesliga. Vgl. Oberhofer/Philippovich/Winner, Distance matters in away games: Evidence from the German Football League (2010) für eine detaillierte Beschreibung der Datengrundlage.

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 393 14 12

Trainerwechsel

10 8 6 4 2

Trainerwechsel

Trend (linear)

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

1988

1987

1986

0

Jahr

Abbildung 1:

55

Trainerwechsel in der Ersten Deutschen Bundesliga, 1986/87–2006/07

Allerdings weist die Abbildung auch auf eine beträchtliche Varianz in Bezug auf die Trainerentlassungen hin. So wurden in der Spielsaison 1999/2000 lediglich 4 Trainerwechsel vollzogen, während in der Saison 1991/92 14 Trainer ihren Arbeitsplatz verloren. Ferner zeigt die Trendlinie in Abbildung 1, dass im Verlauf der 21 Saisonen die Anzahl der Trainerwechsel tendenziell zugenommen hat. Diese Beobachtung scheint die Ergebnisse aus der traditionellen Managementliteratur, die ebenfalls eine Zunahme an Kündigungen im Topmanagement konstatieren, zu bestätigen.56 Tabelle 1 stellt die Verteilung der Trainerwechsel innerhalb der Spielsaisonen dar. In den ersten Spalten werden die Anzahl der Mannschaften mit jeweils einem, zwei oder drei Trainerwechseln aufgelistet. Zusätzlich werden die Vereine mit den meisten Trainerwechseln angeführt. Die erste Zeile von Tabelle 1 zeigt beispielsweise, dass in der Saison 1986/87 drei Mannschaften einen Trainerwechsel vollzogen haben, während nur eine davon (der FC Homburg) zweimal den Trainer entlassen hat. Erwähnenswert ist weiters, dass innerhalb der Spielsaisonen von 1986/87 bis 2006/07 kein Verein mehr als drei Trainerwechsel pro Saison vorgenommen hat. Allgemein bestätigen die Einträge von Tabelle 1 unsere vorhergehenden Aussagen, nach denen die Häufigkeit von Trainerwechseln in der Ersten Deutschen Bundesliga starken Schwankungen unterworfen ist. In zwei Saisonen (2003/04 und 2005/06) hat die Hälfte aller Bundesligavereine zumindest einmal während der Spielzeit den Trainer gewechselt. In beiden Jahren gab es darüber hinaus zwei Clubs mit zwei Trainerwechseln. Der MSV Duisburg verzeichnet im Laufe der Saison 2005/06 sogar drei Trainerwechsel. Betrachtet man im Gegensatz dazu die Saison 1999/00, so fällt auf, dass in dieser Spielzeit nur circa 17 Prozent aller Vereine ihren Trainer gewechselt haben. Dabei weisen zwei Mannschaften (Eintracht Frankfurt und MSV Duisburg) einen und ein Verein (Borussia Dortmund) zwei Trainerwechsel auf. 55 56

Eigene Darstellung. Vgl. Kaplan/Minton, How has CEO turnover changed? Increasingly performance sensitive boards and increasingly uneasy CEOs (2006).

394

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

Tabelle 1:

57

Relative Häufigkeit von Trainerwechsel pro Saison, 1986/87–2006/07

Jahr

(1)

(2)

(3)

Name der Vereine mit den meisten Trainerwechseln (mind. zwei)

1986/87

3

1

0

FC Homburg

1987/88

3

2

0

FC Homburg*, Uerdingen

1988/89

2

2

0

Eintracht Frankfurt, Hannover 96*

1989/90

6

0

0



1990/91

6

1

1

Hertha BSC Berlin*

1991/92

4

2

2

1. FC Köln, Fortuna Düsseldorf*

1992/93

7

1

0

1. FC Köln

1993/94

5

2

0

1. FC Nürnberg*, VfB Leipzig*

1994/95

5

1

0

Dynamo Dresden*

1995/96

6

2

0

1. FC Köln, Bayern München

1996/97

4

1

0

Schalke 04

1997/98

3

2

0

Borussia M'gladbach, Vfl Wolfsburg

1998/99

2

2

2

Eintracht Frankfurt, VfB Stuttgart

1999/00

2

1

0

Borussia Dortmund

2000/01

3

3

0

Bayer Leverkusen, Hansa Rostock, Eintracht Frankfurt*

2001/02

2

3

0

1. FC Köln*, Hamburger SV, Hansa Rostock

2002/03

6

1

0

Bayer Leverkusen

2003/04

7

2

0

1. FC Köln*, Hertha BSC Berlin

2004/05

4

1

1

Borussia M'gladbach

2005/06

6

2

1

MSV Duisburg*

2006/07

7

1

0

Arminia Bielefeld

Anmerkungen: (1) Anzahl Vereine mit einem Trainerwechsel, (2) Anzahl Vereine mit zwei Trainerwechseln, (3) Anzahl Vereine mit drei Trainerwechseln. * Verein ist am Ende der Saison abgestiegen.

Die letzte Spalte von Tabelle 1 listet die Namen der Vereine mit den jeweils meisten Trainerwechseln pro Saison auf. Für 1989/90 erfolgt keine Nennung, da in dieser Saison kein Verein öfter als einmal den Trainer entlassen hat. Zusätzlich bedeutet die Markierung der Namen mit einem Stern, dass die entsprechende Mannschaft am Ende der Saison abgestiegen ist. Von den hier aufgelisteten 32 Mannschaften mit den meisten Trainerwechseln sind am Ende der entsprechenden Saison 11 in die Zweite Deutsche Bundesliga abgestiegen. Dies entspricht circa einem Drittel aller Fälle und suggeriert, dass durch den Trainerwechsel ein Abstieg verhindert oder zumindest nicht ausgelöst wurde. So gesehen würde dieses Ergebnis eine erste empirische Evidenz dafür liefern, dass im Profifußball der Wechsel des Topmanagements wenigstens nicht zu einer Verschlechterung der Unternehmensperformance beigetragen hat. Um einen derartigen Zusammenhang systematisch nachweisen zu können, sind allerdings tiefergehende empirische Verfahren erforderlich, welche im nächsten Abschnitt kurz vorgestellt werden. 57

Eigene Darstellung.

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 395

4.3

Spezifikation und Schätzung58

Um den Einfluss von Trainerwechseln auf die Performance von Fußballvereinen zu quantifizieren werden zwei alternative Spezifikationen verwendet. In einem ersten Modelltyp wird untersucht, ob sich ein Trainerwechsel auf die Offensiv- bzw. Defensivleistungen der betreffenden Bundesligavereine auswirkt. Diese werden anhand der Anzahl von erzielten bzw. erhaltenen Toren pro Spiel gemessen. Da es sich in beiden Fällen um Zählvariablen (nur positive ganzzahlige Ausprägungen) handelt, liegt die Verwendung eines Zähldatenmodells nahe.59 In der vorliegenden Analyse beschränken wir uns auf das Poisson-Regression-Modell (PRM).60 Das PRM geht davon aus, dass ein Ereignis (in unserem Fall die erzielten oder erhaltenen Tore) einer Poisson-Verteilung mit Skalierungsparameter λ folgt. Demenentsprechend ergibt sich die Wahrscheinlichkeitsfunktion für diese nicht-negative Zufallsvariable Y als p (Y = yi λ) =

exp (−λ) λ− yi yi !

, λ∈

+

, yi = 0,1, 2, …, N .

Das PRM parametrisiert folglich den Zusammenhang des Skalierungsparameters λ mit einer Funktion von erklärenden Variablen X. Üblicherweise wird dazu der bedingte Erwartungswert als Exponentialfunktion dieser unabhängigen Variablen und der korrespondierenden Schätzparametern β modelliert.61 Formal bedeutet dies für unseren Fall λij , rs = E ( yij , rs X ) = exp ( Xβ ) ,

wobei i die jeweilige Mannschaft und j den gegnerischen Verein bezeichnet. Darüber hinaus bezeichnet r eine Spielrunde in einer Saison s. Die Matrix X beinhaltet zwei Vektoren xi und xj, welche ihrerseits mannschafts- und gegnerspezifische Informationen enthalten. β bezeichnet einen Vektor von Schätzparametern. Diese werden mittels Quasi-Maximum-Likelihood (QML) Verfahren ermittelt. Ein zweiter Modelltyp fokussiert auf das Gesamtergebnis eines Fußballspiels in Abhängigkeit eines oder mehrerer Trainerwechsel. Dazu definieren wir zwei dichotome Variablen (mit den Ausprägungen 0 und 1), welche angeben, ob eine Mannschaft in einem Spiel zumindest ein Unentschieden erreicht bzw. das entsprechende Spiel gewonnen hat. Eine Ausprägung von 1 bedeutet demnach, dass die Mannschaft entweder mindestens einen Punkt erzielt hat oder das Spiel gewinnen konnte. In der ökonometrischen Literatur werden dichotome (abhängige) Variablen in der Regel mit Hilfe von diskreten Entscheidungsmodellen abgebildet.62 Für unsere Zwecke formulieren wir 58 59

60

61 62

Der folgende Abschnitt ist eng angelehnt an Oberhofer/Philippovich/Winner, Distance matters in away games: Evidence from the German Football League (2010). Long, Regression Models for Categorical and Limited Dependent Variables (1997); Cameron/Trivedi, Trivedi, P. K.: Regression Analysis of Count Data (1998); Winkelmann, Econometric Analysis of Count Data (2003); Oberhofer/Philippovich/Winner, Distance matters in away games: Evidence from the German Football League (2010). Alternativ dazu wurde auch ein negatives Binomialmodell (NBRM) geschätzt, welches die Annahme der Äquidispersion aufhebt. Die Ergebnisse des NBRM sind allerdings sehr ähnlich zu jenen des PRM, sodass wir im Folgenden nur jene des PRM ausweisen bzw. diskutieren. Vgl. Cameron/Trivedi, Microeconometrics. Methods and Applications (2005). Vgl. Maddala, Limited-Dependent and Qualitative Variables in Econometrics (1983); Greene, Econometric Analysis (2008); Train, Discrete Choice Models with Simulation (2009).

396

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

ein Logit-Modell, welches die Wahrscheinlichkeit für einen Punktegewinn bzw. für einen Sieg mittels der logistischen Verteilungsfunktion modelliert. Formal lässt sich diese wie folgt darstellen: P ( zij , rs = 1 X ) =

exp ( Xγ ) 1 + exp ( Xγ )

= ψ ( Xγ ) ,

wobei zij,rs die beiden dichotomen Variablen für ein Unentschieden bzw. einen Sieg darstellen, ψ die logistische Verteilungsfunktion bezeichnet und γ ein Vektor von Schätzparametern ist, der mittels Maximum-Likelihood (ML) Verfahren bestimmt wird. Das PRM wie auch das Logit-Modell zeichnen sich durch eine nicht-lineare funktionale Form aus. Für die Interpretation der Schätzergebnisse bedeutet dies, dass im Gegensatz zum klassischen linearen Regressionsmodell die geschätzten Parameter nicht direkt als marginale Effekte interpretierbar sind. Vielmehr hängen diese davon ab, an welcher Stelle der Verteilung man den marginalen Effekt evaluiert. Um eine inhaltliche Interpretation der Schätzergebnisse zu ermöglichen, schlägt die Literatur zwei Verfahren vor. Erstens einen durchschnittlichen marginalen Effekt („average marginal effect“, AME), und zweitens einen marginalen Effekt am Durchschnitt („marginal effect at the mean“, MEM).63 In der nachfolgenden Präsentation der Ergebnisse fokussieren wir auf den MEM (entsprechende Ergebnisse des AME weichen in unserer Anwendung nicht wesentlich von jenen der MEM ab). Für eine allgemeine nicht-lineare Funktion F(·) mit einem Vektor von erklärenden Variablen x und einem Parametervektor β ergibt sich der marginale Effekt am Durchschnitt für einen Parameter βi als MEM i = F ( xβ + βi ) − F ( xβ ) ,

wobei x den Mittelwert der jeweiligen erklärenden Variablen bezeichnet. Basierend auf dieser allgemeinen Definition können modifizierte Berechnungsverfahren für kontinuierliche und auch für dichotome erklärende Variablen bestimmt werden.64 Im Allgemeinen lassen sich diese Verfahren jedoch immer auf die oben dargestellte Gleichung zurückführen. Im Bezug auf die empirische Spezifikation unseres Modells zur Performance von Fußballvereinen sind folgende Informationen in X gesammelt. Bei den mannschaftsspezifischen Informationen (Vektor xi) berücksichtigen wir zunächst, ob die jeweilige Mannschaft ein Heim- oder Auswärtsspiel zu bestreiten hat. Die sportökonomische Literatur zeigt diesbezüglich, dass Heimmannschaften meist im Vorteil sind. Die Gründe dafür reichen von einem etwaigen „Home-Bias“ der Schiedsrichter65 bis hin zu psychischen und physischen Strapazen, welche durch die Anreise zu einem Auswärtsspiel auftreten können.66 Eine zweite, xispezifische Variable stellt die Stadionauslastung dar. Wie bereits beschrieben, ergibt sich für jedes Spiel die Stadionauslastung als Quotient der tatsächlichen Zuschauerzahl des jeweiligen Spiels zur Maximalkapazität des Heimstadions. Die Stadionauslastung verwenden wir 63 64 65 66

Vgl. Bartus, Estimation of Marginal Effects using Margeff (2005). Details dazu werden in Bartus, Estimation of Marginal Effects using Margeff (2005) diskutiert. Vgl. u. a. Page/Page, Alone against the crowd: Individual differences in referees’ ability to cope under pressure (2010). Vgl. Oberhofer/Philippovich/Winner, Distance matters in away games: Evidence from the German Football League (2010).

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 397 als Proxy-Variable für die (relative) Wichtigkeit eines Spiels. Bei Spielen von großer Bedeutung für zumindest eine der beiden Mannschaften erwarten wir eine höhere Stadionauslastung. Weiters kann vermutet werden, dass Fußballvereine bei wichtigen Spielen eine vorsichtigere Taktik verfolgen. Daher erwarten wir für Spiele mit einer hohen Auslastung im Durchschnitt weniger erzielte als auch erhaltene Tore. Welche Auswirkungen die Stadionauslastung auf die Punkt- und Siegwahrscheinlichkeiten haben, lässt sich a priori hingegen weniger vorhersagen. xj enthält Informationen über die unmittelbare Offensiv- und Defensivleistung der gegnerischen Mannschaft. Dazu addieren wir die Anzahl der geschossenen (erhaltenen) Tore in den letzten fünf Runden vor dem jeweiligen Spiel.67 Für die ersten Runden in einer Saison addieren wir die entsprechenden Tore in den bis dahin durchgeführten Spielen. Diese beiden Variablen (Offensivleistung und Defensivleistung des Gegners) geben darüber Aufschluss, wie stark der Gegner zum Zeitpunkt des Spiels eingeschätzt werden kann. Empirisch erwarten wir, dass man gegen Mannschaften mit starker Offensivleistung (schwacher Defensivleistung) ceteris paribus mehr Tore erhält (erzielt). Eine Vorhersage bezüglich des Einflusses einer starken (schwachen) gegnerischen Offensive (Defensive) auf die eigene Torgefährlichkeit (Defensivleistung) scheint hingegen weniger eindeutig und ist daher vor allem eine empirisch zu klärende Frage. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt auf dem Einfluss von Trainerwechseln auf die Performance von Fußballvereinen. Dazu konstruieren wir drei Indikatorvariablen, welche sich auf die Anzahl der Trainerwechsel je Spielsaison beziehen. Die erste Indikatorvariable nimmt einen Wert von 1 an, sobald ein Verein innerhalb einer Saison den Trainer durch einen anderen ersetzt. Für Mannschaften ohne Trainerwechsel weist diese Variable durchgängig einen Wert von null auf. Analog dazu wird eine zweite (dritte) Indikatorvariable definiert, welche ab dem Zeitpunkt des zweiten (dritten) Trainerwechsels einen Wert von 1 annimmt, andernfalls bleibt sie auf null gestellt. Die beiden Variablen geben somit den zusätzlichen, durchschnittlichen Effekt eines zweiten bzw. dritten Trainerwechsels für die Performance von Fußballvereinen an. Zusätzlich zu den bisher diskutieren Variablen berücksichtigen unsere empirischen Modelle nicht-beobachtbare Faktoren, welche die Performance von Fußballvereinen beeinflussen könnten. Dazu nehmen wir in allen Schätzungen mannschafts-, gegner-, runden- und saisonspezifische fixe Effekte und für jeden Verein einen eigenen (linearen) Zeittrend auf. Die fixen Effekte stellen sicher, dass unbeobachtete Faktoren keinen Einfluss auf die empirischen Resultate nehmen. So kontrollieren etwa mannschafts- und gegnerspezifische fixe Effekte auf zeitinvariante Einflüsse des sportlichen Erfolgs, beispielsweise das ökonomische Umfeld oder die Fankultur eines Fußballvereins. Sie erfassen aber auch systematische Unterschiede in den finanziellen Ausstattungen zwischen den Vereinen einer Liga. Rundenspezifische fixe Effekte kontrollieren auf Einflussfaktoren, denen die Mannschaften während des Verlaufs der Meisterschaft in gleicher Weise ausgesetzt sind (beispielsweise wetterbedingte Leistungsveränderungen). Zeittrends erlauben eine unterschiedliche Entwicklung der jeweiligen Vereine, z. B. dass die Vereine unterschiedliche längerfristige Strategien in Bezug auf ihre sportlichen Ziele verfolgen. Die saisonspezifischen fixen Effekte kontrollieren schließlich auf Änderungen zwischen Saisonen, welche alle Mannschaften im selben Ausmaß treffen (z. B. die Ein67

Vgl. Oberhofer/Philippovich/Winner, Distance matters in away games: Evidence from the German Football League (2010).

398

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

führung der Drei-Punkte-Regel in der Saison 1995/96 oder die Umsetzung des BosmanUrteils nach 1995).

4.4

Ergebnisse

Tabelle 2 fasst die empirischen Ergebnisse zusammen. Die ersten beiden Spalten beziehen sich auf das PRM für die (i) erzielten und (ii) die erhaltenen Tore. Die Ergebnisse in der dritten und vierten Spalte basieren auf den Logit-Modellen für die Wahrscheinlichkeit (iii) mindestens einen Punkt in einem Spiel zu erreichen, und für die Wahrscheinlichkeit, (iv) das Spiel zu gewinnen. In der Tabelle sind, wie vorher diskutiert, die marginalen Effekte am Durchschnitt (MEM) sowie die Ergebnisse von F-Tests auf die fixen Effekte ausgewiesen. Die F-Tests geben an, ob unbeobachtete Heterogenität für die Performance einer Fußballmannschaft eine Rolle spielt. Die Ergebnisse von Tabelle 1 legen nahe, dass dies der Fall ist und daher unter Ausklammerung dieser Effekte die Schätzergebnisse verzerrt wären. Generell ist die Güte der Regressionen gut, was in einem relativ hohen (Craig-Uhler) R2 um 0,2 ihren Niederschlag findet. Die unmittelbare Offensiv- sowie Defensivleistung der gegnerischen Mannschaft weist zumeist den vorher vermuteten Einfluss auf die Anzahl an erzielten und erhaltenen Toren auf. So zeigt sich etwa, dass eine Mannschaft signifikant weniger Tore gegen eine Mannschaft mit starker Defensive erzielen kann. Darüber hinaus scheint es auch so zu sein, dass starke gegnerische Offensivleistungen es der eigenen Mannschaft weniger ermöglichen, sich selbst zu entfalten. Dementsprechend erzielt ein Verein auch weniger Tore gegen starke Offensivmannschaften. Auf den ersten Blick überraschend erscheint, dass ein Verein gegen eine Mannschaft mit starken Offensivleistungen systematisch weniger Gegentore erhält. Dies lässt sich möglicherweise mit Antizipation erklären, wonach Mannschaften gegen starke Offensivgegner selbst defensiv agieren, um Gegentore möglichst zu vermeiden. In Bezug auf die Ergebnisse für die Punkt(e)- und Siegwahrscheinlichkeiten suggerieren unsere Ergebnisse, dass eine Mannschaft gegen starke Offensivgegner wahrscheinlicher mindestens einen Punkt erreicht, jedoch starke gegnerische Abwehrreihen die Wahrscheinlichkeit für einen Sieg oder zumindest ein Unentschieden reduzieren. Die Stadionauslastung scheint nur einen begrenzten Einfluss auf die Performance von Fußballvereinen auszuüben. Wie jedoch vermutet, erzielt eine Mannschaft in Spielen mit besserer Stadionauslastung signifikant weniger Tore. Bei vollen Stadien scheinen die Bundesligamannschaften in der Tat vorsichtiger zu agieren. In Bezug auf erhaltene Tore (Spalte 2), sowie Punkt(e)- und Siegwahrscheinlichkeiten (Spalten 3 und 4) scheint die Stadionauslastung den Unternehmenserfolg von Fußballvereinen weder statistisch signifikant noch quantitativ bedeutsam zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu dokumentiert unsere empirische Untersuchung einmal mehr die Relevanz des Heimrechts im Profifußball. So zeigen unsere Ergebnisse, dass Heimmannschaften signifikant mehr (weniger) Tore erzielen (erhalten) und auch über eine höhere Punkt(e)- und Siegwahrscheinlichkeit verfügen.

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 399 Tabelle 2:

Empirische Ergebnisse, marginale Effekte am Durchschnitt (MEM)

Variablen Erster Trainerwechsel Zweiter Trainerwechsel Dritter Trainerwechsel Heimspiel Stadionauslastung Offensivleistung des Gegners Devensivleistung des Gegners Beobachtungen Pseudo R ² Craig-Uhler R ² Fixe Effekte (F-tests) Mannschaft Gegner Mannschaft × Saison Gegner × Saison Saison Runde Log-likelihood

Erzielte Tore 0.162 (0.047) 0.272 (0.091) 0.190 (0.218) 0.519 (0.020) -0.065 (0.033) -0.008 (0.004) -0.027 (0.004)

*** ***

*** ** ** ***

12,963 0.068 0.199 108.3 175.8 629.5 663.8 45.7 113.0 -18,784.5

*** *** *** *** *** ***

Erhaltene Tore

68

Punkt(e)

-0.209 *** (0.038) 0.118 (0.075) -0.064 (0.186) -0.500 *** (0.020) -0.051 (0.040) -0.029 *** (0.004) -0.001 (0.004)

0.092 (0.018) 0.053 (0.031) 0.049 (0.074) 0.263 (0.009) 0.011 (0.018) 0.007 (0.002) -0.005 (0.002)

12,963 0.068 0.199

12,963 0.163 0.263

141.853 114.0 657.298 662.9 48.165 119.4 -18,793.4

*** *** *** *** *** ***

84.6 117.5 522.3 468.4 18.6 41.3 -7,097.4

*** *

***

*** ***

Sieg 0.133 *** (0.023) 0.041 (0.040) 0.171 (0.104) 0.265 *** (0.009) -0.011 (0.016) 0.003 (0.002) -0.008 *** (0.002) 12,963 0.165 0.266

*** *** *** ***

103.3 105.8 507.5 507.0 15.5 27.1 -7,081.2

*** *** *** ***

Anmerkungen: Heteroskedastie-robuste Standardf ehler in Klammern. Die Symbole ***, ** und * bezeichnen statistische Signif kanz auf dem 10%, 5% bzw. 1% Niveau.

In Bezug auf die Kernfrage nach dem Einfluss von Trainerwechseln auf den Erfolg von Fußballvereinen können überwiegend positive Effekte festgestellt werden. Mannschaften, die bereits einen „Chefcoach“ gefeuert haben, erzielen im Durchschnitt pro Spiel um 0,16 mehr Tore und erhalten um etwa 0,21 weniger Tore als Teams, die den Trainer während einer Saison nicht gewechselt haben. Beide Parameter sind statistisch hochsignifikant und auch quantitativ relevant. Bei einer genaueren Betrachtung der geschossenen und erhaltenen Tore fällt auf, dass in circa 60 Prozent aller Spiele maximal ein Tor geschossen wird. Erzielt ein Verein in jedem sechsten Spiel ein Tor mehr (1/0,162) bzw. erhält in jedem fünften Spiel (1/0,21) ein Tor weniger, so verbessert dies dessen Erfolg substantiell. Dies steht im Einklang mit den Ergebnissen in der dritten und vierten Spalte von Tabelle 1, wonach ein Trainerwechsel die Wahrscheinlichkeit, zumindest ein Unentschieden bzw. einen Sieg zu erreichen, signifikant erhöht. Die dort ausgewiesenen Koeffizienten weisen darauf hin, dass für eine Mannschaft mit einem Trainerwechsel während der Saison die Wahrscheinlichkeit eines Sieges (Unentschiedens) um 9,2 (13,3) Prozentpunkte höher ist als für ein Team ohne Trainerentlassungen. 68

Eigene Darstellung.

400

Harald Oberhofer, Walter Scherrer und Hannes Winner

Daraus lässt sich folgern, dass Fußballvereine in sportlich schwierigen Zeiten nicht zögern sollten, ihren Trainer zu entlassen, um eine neue sportliche Leitung zu installieren. Gleichzeitig weisen die Ergebnisse von Tabelle 2 aber auch darauf hin, dass zu häufig vorgenommene Trainerwechsel keine zusätzlichen Performanceverbesserungen mehr erbringen. So bewirkt der zweite Trainerwechsel nur mehr eine Erhöhung der Offensivkraft, die Defensivleistung bleibt davon aber unberührt. Auch die Siegwahrscheinlichkeit wird vom zweiten Trainerwechsel kaum berührt, während die Wahrscheinlichkeit für ein Unentschieden ansteigt (allerdings nur schwach signifikant). Ein dritter Trainerwechsel löst hingegen keine Leistungssteigerungen mehr aus, was in durchwegs insignifikanten Parameterwerten zum Ausdruck kommt.

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Der vorliegende Beitrag untersucht den Einfluss von Wechseln im Topmanagement auf den Erfolg von Unternehmen. Die empirische Quantifizierung von derartigen Effekten ist auf traditionellen Märkten mit gravierenden Datenproblemen konfrontiert, die etwa darin bestehen, dass Managementwechsel zeitlich oft nicht exakt identifizierbar sind oder der Erfolg eines Unternehmens nicht eindeutig definierbar bzw. messbar ist. Eine alternative Untersuchungseinheit stellen Unternehmen auf Sportmärkten dar, welche den Vorteil aufweisen, ein klar definiertes Erfolgsmaß zu liefern (sportlicher Erfolg) und auch den Wechsel der sportlichen Leitung zuverlässig bestimmen zu können. Als Datenbasis werden die Spielergebnisse der Ersten Deutschen Bundesliga über einen Beobachtungszeitraum von 21 Saisonen zwischen 1985/86 und 2006/07 verwendet. Empirisch werden vier alternative Spezifikationen geschätzt, die sich im verwendeten Erfolgsmaß unterscheiden: (i) Anzahl der erzielten Tore (Offensivperformance), (ii) Anzahl der erhaltenen Tore (Defensivperformance), (iii) Wahrscheinlichkeit eines Unentschiedenes und (iv) Wahrscheinlichkeit eines Sieges. Die ersten beiden Versionen werden mit Zähldatenmodellen, die letzten beiden mit logistischen Modellen geschätzt. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass ein Trainerwechsel im Durchschnitt sowohl die Offensiv- wie auch Defensivleistung eines Fußballteams der Ersten Deutschen Bundesliga signifikant verbessert. Analog dazu erhöhen sich auch die Wahrscheinlichkeiten für eine Punkteteilung oder einen Sieg. Kommt es hingegen zu einem mehrmaligen Trainerwechsel, scheinen diese an sich positiven Effekte nicht mehr aufzutreten. Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit einer breiten empirischen Literatur der Sport-, aber auch der Personalökonomik. Unsere Ausgangsfrage lässt sich – zumindest für unser Sample von deutschen Fußballvereinen – klar beantworten: Neue Besen kehren im Regelfall besser, sofern man ihnen genügend Zeit gibt, ihre Wirkungskraft zu entfalten. Auf die unternehmerische Personalpolitik übertragen bedeutet dies, dass der neuen Führungskraft ausreichend Zeit eingeräumt werden sollte, eine eventuell geänderte Unternehmensstrategie zu implementieren und zu festigen.

Kehren neue Besen wirklich besser? Der Einfluss von Führungswechseln im Management 401

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Whistleblowing und Corporate Reputation Management

„Whistleblowing“ ist zu einem breit diskutierten Phänomen geworden, und das ist sicherlich kein Zufall in einer Zeit, in der sich große Unternehmen, Regierungen und öffentliche Verwaltungen immer häufiger mit angeblichen oder tatsächlichen Skandalen konfrontiert sehen, welche breite öffentliche Aufmerksamkeit finden. „To blow the whistle“ bedeutet, dass ein Angestellter eines Unternehmens oder der Beamte einer Behörde Informationen über ein rechtswidriges, unethisches oder sonst verwerfliches Handeln seiner Organisation, über einen Missbrauch von Macht oder die Bedrohung von öffentlichem Interesse weitergibt, und zwar entweder intern an eine Controllingstelle oder an die Unternehmensspitze, in Form einer Anzeige an die Behörden oder im Wege des „Leaking“ an die Massenmedien. Was den Whistleblower auszeichnet, sind die mehr oder minder ehrenwerten Motive, die ihm unterstellt werden, oder zumindest das ehrenwerte Ziel, nämlich der erwartete oder angenommene Nutzen für die Gesellschaft oder ein Unternehmen. Die Forderung nach einem gesetzlichen Whistleblower-Schutz findet breite Resonanz und in vielen Staaten gibt es bereits entsprechende Regelungen. Sie folgen häufig dem US-amerikanischen Vorbild, das dem Whistleblower einen bemerkenswert weitreichenden Schutz gibt. So existieren in den USA auf Bundesebene, aber auch in den Einzelstaaten, zahlreiche Gesetze, die den Whistleblower ermutigen, die ihn vor Vergeltungsmaßnahmen schützen und ihm sogar finanzielle Vorteile verschaffen. Bekannt wurde der Fall des Douglas Niven, der als Angestellter von United Airlines Schlampigkeiten bei der Wartung von Flugzeugen der amerikanischen Air Force aufgedeckt hatte. Dass er in der Folge gefeuert wurde, musste er zwar hinnehmen, aber von den 3,2 Millionen Dollar Schadenersatz, die United Airlines aufgrund eines Vergleichs der amerikanischen Regierung zahlen musste, floss ein 20 %iger Anteil an ihn persönlich, wie das ein Bundesgesetz, der False Claim Act, vorsieht. Und der spektakuläre Enron Skandal von 2001, bei dem der bevorstehende Konkurs des Unternehmens ebenfalls durch einen Whistleblower aufgedeckt wurde, hat ein weiteres Bundesgesetz inspiriert, das private Unternehmen verpflichtet, ein System einzurichten, das es den Bediensteten erlaubt, ohne Furcht vor Repressionen und anonym behauptete Missstände aufzudecken (Sarbanes-Oxley Act).1 1

Vgl. den Überblick über den US-amerikanischen Whistleblower-Schutz bei Király, Der rechtliche Schutz von Whistleblowern, ZRP 2011, 146 (147 ff.).

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Viele große Unternehmen haben in den letzten Jahren „Hinweissysteme“ eingerichtet, die der Sache nach einem Whistleblower-Schutz entsprechen. Sie sollen die Durchsetzung von Codes of Conduct fördern, können als betriebsinternes Frühwarnsystem fungieren und durch die rechtzeitige Aufdeckung von Missständen Reputationsverlusten vorbeugen. Corporate Reputation Management ist zu einer Unternehmensaufgabe geworden.2 Die Implementierung derartiger Hinweissysteme wirft zahlreiche Fragen auf, die zum Teil auch den Juristen interessieren. So ist die Umsetzung von Hinweissystemen vor allem bei global verflochtenen Unternehmen etwa aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht unkompliziert, weil sie auf eine Verarbeitung und einen grenzüberschreitenden Transfer von personenbezogenen Daten hinausläuft.3 Auch arbeitsrechtliche Fragen spielen eine große Rolle.4 Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Hier interessiert ein anderer rechtlicher Zusammenhang: Betriebsinterne Hinweissysteme versuchen in der Regel den Informationsfluss zu kanalisieren. Die Missstände, welche der „Hinweisgeber“ aufdecken möchte, sollen unternehmensintern kommuniziert werden, um eine rasche Reaktion der Controlling- oder Complience-Abteilung, erforderlichenfalls auch der Unternehmensspitze, möglich zu machen. Dass das Problem nach außen dringt, ist im Allgemeinen unerwünscht, lässt sich aber oft nicht verhindern. Keine Organisation ist vor „Leaks“ gefeit und die Ratio des Whistleblowings – die Aufdeckung von Korruption oder Bestechung unter dem Schutz von Anonymität – kann in letzter Konsequenz gerade dazu führen, dass der Informant den Weg an die Öffentlichkeit sucht oder, aus seiner Perspektive betrachtet, vielleicht sogar suchen muss. Für die Massenmedien, deren Geschäft die Skandalisierung von Missständen ist, sind indiskrete Informanten eine wichtige Ressource und der Informationsfluss zu den Medien wird durch den Schutz der journalistischen Quellen auch rechtlich gefördert.5 In einer solchen Situation stellt sich die Frage, wie die Rechtsordnung derartige Indiskretionen bewertet.

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Die rechtswidrige Preisgabe von Geheimnissen: der indiskrete Informant

Die Preisgabe vertraulicher Informationen aus dem internen Bereich von Organisationen der öffentlichen Verwaltung oder aus einem Unternehmensbereich läuft häufig auf eine Rechtsverletzung hinaus. Der Journalist, der sich undercover in ein Arbeitsverhältnis einschleicht, um eine Enthüllungsreportage zu schreiben, verstößt gegen die ihm aus dem Arbeitsverhältnis obliegende Treuepflicht.6 Der Beamte oder Angestellte, der vertrauliche Informationen 2 3

4 5

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Vgl. z. B. Leisinger, Whistleblowing und Corporate Reputation Management (2003). Vgl. dazu Leissler, Datenschutzrechtliche Zulässigkeit von Whistleblowing-Hotlines, in: Jahnel (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht. Grundrecht auf Datenschutz, Zulässigkeitsprüfung, Betroffenenrechte, Rechtsschutz (2010), S. 179 mit weiteren Nachweisen zu den einschlägigen Entscheidungen der Datenschutzkommission. Vgl. z. B. Berthold, Whistleblowing in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (2010). Zur medienrechtlichen Begünstigung des Geheimnisverrats in der Form des Redaktionsgeheimnisses vgl. Berka, Whistleblower and Leaks: Von den Schwierigkeiten das Amtsgeheimnis zu wahren, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Recht und Öffentlichkeit (2004), S. 66. Vgl. z. B. den seinerzeit viel diskutierten Fall Günther Wallraff, der sich als Hans Eser in die Redaktion der Bild-Zeitung einschlich, um Material für ein „Enthüllungsbuch“ zu sammeln. Zur rechtlichen Bewertung vgl. BGH 20.01.1981, VI ZR 162/79, Verwertung illegal erlangter Informationen, in: NJW 20 (1981), S. 1089;

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Medien zuspielt, bricht das Amtsgeheimnis oder verstößt gegen seine Verpflichtung zur Wahrung von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen. Durch die Preisgabe jener diplomatischen und militärischen Geheimnisse, die WikiLeaks genüsslich ausgebreitet hat, dürfte sich der US-Armee-Angehörige Bradley Manning, der der Enthüllungsplattform die klassifizierten Dokumente zugespielt hat, offenbar nach amerikanischem Recht (Espionage Act) strafbar gemacht haben.7 Auch die Preisgabe privater Geheimnisse kann rechtswidrig sein, etwa wenn intime Details aus dem Privatleben eines Menschen oder seine Steuerakten den Medien zugespielt werden. In der Welt der elektronischen Dokumente läuft Whistleblowing schließlich häufig auf eine datenschutzrechtlich relevante Rechtswidrigkeit hinaus, wenn und weil personenbezogene Daten übermittelt werden.8 Die Verletzung gesetzlich oder vertraglich auferlegter Verschwiegenheitspflichten durch einen internen Geheimnisträger ist somit in vielen Fällen rechtswidrig – zumindest nach den bisher weitgehend unumstritten geltenden Wertungen der Rechtsordnung. Ausnahmsweise kann man vielleicht einen Rechtfertigungsgrund annehmen, wenn die Preisgabe eines Geheimnisses durch überwiegende und gewichtige Interessen erzwungen wird, um einen gravierenden Schaden von der Gesellschaft oder der Interessensphäre Dritter abzuwehren. Aber das sind Ausnahmefälle und sie können in der Regel auch nur die Weitergabe der vertraulichen Information an die zum Handeln berufenen Behörden oder an die Unternehmensleitung, keinesfalls ihre Veröffentlichung rechtfertigen. Gegenwärtig scheint es allerdings einen bemerkenswerten Wandel in der rechtlichen Bewertung zu geben. Er drückt nicht nur in den existierenden Whistleblower-Gesetzen aus, auf die bereits hingewiesen wurde. Denn auch unabhängig von einer solchen Privilegierung des Geheimnisverrats durch gesetzliche „Whistleblower Protection“ lassen sich Anzeichen für einen „großzügigeren“ Umgang mit indiskreten Informanten erkennen. Dies soll im Folgenden anhand von aktuellen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte illustriert werden.

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Die Fälle Guja und Heinisch

Der erste Fall Guja gegen Moldawien betrifft den Verrat von Amtsgeheimnissen, also den öffentlichen Bereich:9 Im Vorfeld turbulenter Parlamentswahlen in Moldawien hatten Polizeibeamte einer Sondereinheit des Innenministeriums mehrere Personen verhaftet, offenbar unter Missbrauch ihrer Amtsgewalt und aus politischen Gründen. Als die Strafverfolgungsbehörden gegen die Polizisten die Strafverfolgung einleiten wollten, intervenierte der Parlamentspräsident und warf, auf dem Briefpapier des Parlaments, in einem Schreiben an die

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teilweise abweichend die Beurteilung durch das BVerfG im Hinblick auf die Schilderungen aus der einer gesteigerten Vertraulichkeit unterliegenden Redaktionskonferenz; BVerfGE 66, 116. Dies gilt unabhängig davon, ob die Veröffentlichung der Dokumente aus WikiLeaks zulässig war oder nicht; zu dieser Frage vgl. z. B. Franck/Steigert, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von WikiLeaks (2011), S. 380; zu einer urheberrechtlichen Bewertung vgl. Hoeren/Herring, Urheberrechtsverletzung durch WikiLeaks? – Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit vs. Urheberinteressen (2011), S. 143; dies., WikiLeaks und das Erstveröffentlichungsrecht des Urhebers. Informationsfreiheit als externe Schranke des Urheberrechts? (2011), S. 500. Dies gilt auch für firmenintern eingerichtete Meldesysteme; vgl. Leissler, Datenschutzrechtliche Zulässigkeit von Whistleblowing-Hotlines, in: Jahnel (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht. Grundrecht auf Datenschutz, Zulässigkeitsprüfung, Betroffenenrechte, Rechtsschutz (2010), 179 ff. Vgl. EGMR 12.02.2008, Nr. 14.277/04, Guja, in: NL (2008), S. 28.

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Generalstaatsanwaltschaft die rhetorische Frage auf, ob die Generalstaatsanwaltschaft „das Verbrechen bekämpfen wolle oder eher die Polizei“. Derart unter politischen Druck gesetzt stellte die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen die Polizisten ein. Der Leiter der Presseabteilung der moldawischen Generalstaatsanwaltschaft wollte diese skandalöse politische Intervention nicht hinnehmen und er spielte das Schreiben des Parlamentspräsidenten den Medien zu, die dessen Versuche zur Einschüchterung der Strafverfolgungsbehörden aufdeckten. Das blieb nicht ohne Konsequenzen: Der „illoyal“ handelnde Informant wurde wegen eines Verstoßes gegen die Dienstvorschriften entlassen, eine Entlassung, die auch der Oberste Gerichtshof Moldawiens bestätigte. Der EGMR kam zu einer anderen Einschätzung: In einer von einer großen Kammer getroffenen Entscheidung ging der Gerichtshof zunächst davon aus, dass der Beamte von seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) Gebrauch gemacht hatte. Aber nicht nur das. Die Information der Medien über den Vorgang war trotz der tatsächlichen Verletzung dienstlicher Obliegenheiten gerechtfertigt. Denn das öffentliche Interesse, über unangemessenen Druck und über das willfährige Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft informiert zu werden, war nach Auffassung des Gerichtshofs gewichtiger als das entgegenstehende amtliche Geheimhaltungsinteresse, und die Sanktion der Entlassung war so einschneidend, dass sie auch ernste, abschreckende Wirkungen auf andere öffentliche Bedienstete haben und diese davon abhalten könnte, Fehlverhalten publik zu machen. Ein solcher Abschreckungseffekt würde aber gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen. Betraf dieser Fall die Verletzung von dienstrechtlichen Obliegenheiten, wie sie öffentlich Bediensteten auferlegt sind, geht es in der zweiten aktuellen Entscheidung um ein privates Arbeitsverhältnis. Es handelt sich um den Fall Heinisch, der von der WhistleblowerBewegung geradezu als ein Durchbruch gefeiert wird. Die deutsche Altenpflegerin Brigitte Heinisch war von ihrem Arbeitgeber, dem landeseigenen Berliner Konzern Vivantes, entlassen worden, weil sie eine Strafanzeige gegen Vivantes wegen des Verdachts auf Betrug und weitere Straftaten eingebracht hatte. Hintergrund war die Besorgnis von Frau Heinisch über erhebliche Personal- und Qualitätsmängel in der Pflege. Darauf hatte sie, teilweise gemeinsam mit Kolleginnen, zuvor schon mehrfach intern hingewiesen, ohne dass das zu einer Verbesserung der Situation geführt hatte. Daher erstattete sie die Strafanzeige gegen ihren Dienstgeber, der das nicht unerwartet als arbeitsrechtlichen Treuebruch bewertete und die Entlassung von Frau Heinisch aussprach. In der Folge wurde ihre Entlassung von den deutschen Arbeitsgerichten bestätigt. Für den dagegen angerufenen Straßburger Gerichtshof ging es auch in diesem Fall um eine Abwägung zwischen der Meinungs- und Informationsfreiheit des Art. 10 EMRK und den entgegenstehenden Interessen des Arbeitgebers, der auf die Loyalität und Diskretion seiner Mitarbeiter vertrauen können muss. Insoweit betont der Gerichtshof zwar, dass Beschäftigte regelmäßig zunächst ihren Vorgesetzten oder andere kompetente Stellen über mögliche Missstände am Arbeitsplatz informieren sollten. Der Gang an die Öffentlichkeit komme nur als letzter Ausweg in Betracht, wenn es keine anderen effektiven Mittel zur Abstellung des Missstandes gibt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der EGMR zustimmend auf eine Europarats-Empfehlung verweist, nach der externes Whistleblowing jedenfalls als Ultima Ratio geschützt sein müsse. Im Ergebnis stellte das Gericht auch in diesem Fall einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK fest.10 10

Vgl. EGMR 21.07.2011, Heinisch, Nr. 28.274/08, in: NL (2011), S. 232.

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Was zeigen beide Entscheidungen: Im Lichte des Grundrechts der Meinungsfreiheit und des Interesses der Öffentlichkeit an der Aufdeckung fragwürdiger Vorgänge kann sich auch ein Informant, der gegen rechtlich anerkannte Geheimhaltungspflichten verstoßen hat, rechtfertigen. Bevor das näher kommentiert wird, gilt es noch die andere Seite – das sind die Medien, die das ihnen zugespielte Geheimnis publik machen, – zu beleuchten.

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Die Veröffentlichung rechtswidrig erlangter Geheimnisse: die Seite der Medien

Werden den Massenmedien vertrauliche Informationen zugespielt, dann stellt sich die Frage, ob sie von den Medien veröffentlicht werden dürfen. Ich habe von „zugespielten“ Informationen gesprochen, denn das ist die praktisch wichtigste Konstellation. Wenn ein Journalist zum Geheimnisverrat angestiftet wird und damit selbst an einem rechtswidrigen Geheimnisverrat Anteil hätte, würde sich nämlich die Rechtslage unter Umständen anders darstellen – aber die Verhältnisse sind nun einmal so, dass die Medien fast immer mit Erfolg behaupten können, dass sie die Information ohne eigene Beteiligung erhalten haben, ob das nun im Einzelfall zutrifft oder nicht. Eine rechtswidrige Beteiligung oder Anstiftung lässt sich in der Regel kaum nachweisen, nicht zuletzt wegen des bereits erwähnten Schutzes des Redaktionsgeheimnisses. Ist die publizistische Verwertung von Informationen zulässig, wenn ihre Offenbarung auf einen rechtswidrigen Geheimnisverrat zurückgeht? Die Antwort ist verhältnismäßig eindeutig: In fast allen Staaten, die in der Tradition der westlichen liberalen Verfassungsstaaten stehen, bekennt man sich zu dem Grundsatz, dass die publizistische Auswertung vertraulicher Quellen rechtlich geschützt ist und dass das zumindest im Prinzip auch die Verwertung von Informationen einschließt, die aus rechtlich geschützten Geheimsphären stammen.11 Auch der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof geht davon aus, dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) die publizistische Verwertung von durch Geheimnisbruch erlangten Informationen deckt, wie das der Fall Stoll zeigt. Freilich sieht man gerade auch an diesem Fall die Unsicherheiten der Gerichte, wenn sie mit einem konkreten Fall der Veröffentlichung von geheimen Dokumenten konfrontiert sind. Der Sachverhalt im Fall Stoll weist gewisse Parallelen zu den für die USA so blamablen WikiLeaks-Enthüllungen auf. Im Zuge von Verhandlungen, welche zwischen dem Jüdischen Weltkongress und Schweizer Botschaften im Zusammenhang mit der Entschädigung von Holocaust-Opfern durch die Schweizer Banken geführt wurden, hatte der damalige Schweizer Botschafter Jagmetti eine brisante Depesche über die Verhandlungsstrategie verfasst und an einige Botschafterkollegen verschickt. Die Vertraulichkeit dieser Diplomatenpost wurde durchbrochen und die Depesche dem Journalisten Stoll zugespielt, der Auszüge daraus veröffentlichte und den Botschafter wegen seiner „Blockadehaltung“ heftig kritisierte. Der Journalist wurde daraufhin von den Schweizer Gerichten zu einem Bußgeld von 800 Franken verurteilt. Wie bewertete der Straßburger Gerichtshof diese Fakten? Die zunächst angerufene Kammer IV des Gerichtshofs zeigte Verständnis für die Geheimhaltung diplomatischer Korrespon11

Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Berka, Ex injuria ius oritur? Die publizistische Verwertung rechtswidrig erlangter Informationen (in Druck).

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denz, aber nicht „um jeden Preis“. Sie hob den Umstand hervor, dass der Journalist Stoll offenbar keinen Anteil an der rechtswidrigen Offenbarung der vertraulichen Depesche hatte, dass vitale Interessen der öffentlichen Sicherheit der Schweiz durch die Veröffentlichung nicht bedroht waren und sie prüfte sorgfältig die Art und Weise, in der die Schweizer Medien das geheime Material präsentiert hatten. Nach Abwägung des Für und Wider, welches für oder gegen die Zulässigkeit der Veröffentlichung sprach, war es letztlich für die IV. Kammer des Gerichts ausschlaggebend, dass die Verhandlungen über die angemessene Entschädigung der Holocaust-Hinterbliebenen eine Sache von öffentlicher Bedeutung betrafen und die Medien daher darüber berichten durften, um ihrer demokratiepolitisch wichtigen Rolle als „public watchdog“ gerecht zu werden. Und selbst wenn die über den Journalisten Stoll verhängte Strafe gering war, wäre sie doch geeignet gewesen, die Erfüllung dieser wichtigen öffentlichen Aufgabe der Medien zu behindern. Die Schweiz wurde daher zunächst wegen einer Verletzung des Grundrechts der Meinungsfreiheit verurteilt.12 Gegen diese Entscheidung der Kammer wurde die zur Letztentscheidung berufene Große Kammer des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs angerufen, die im Ergebnis zu einer anderen Beurteilung kam. Zwar bestätigte auch sie den Grundsatz, dass es ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit gab, über die seltsame Position des Schweizer Botschafters informiert zu werden, und dass es nicht „um jeden Preis“ geboten wäre, diplomatische Geheimnisse zu wahren. Aber dann scheute die Große Kammer doch vor einer Verurteilung der Schweiz zurück und ließ sich auf eine ganz konkrete Analyse der Art und Weise ein, wie der Journalist Stoll die geheimen Dokumente aufbereitet hatte: Das Gericht betonte die „sensationsheischende Aufmachung“ der fraglichen Artikel, stieß sich an der Überschrift „Mit Bademantel und Bergschuhen in den Fettnapf“ und kam schließlich zu dem Urteil, die Veröffentlichung hätte den Geheimbericht zu einem „Bestandteil eines unnötigen Skandals“ gemacht. Abweichend von der Entscheidung der Vorinstanz hielt die Große Kammer daher die Verurteilung des Journalisten für gerechtfertigt. Man kann diese Entscheidung geradezu als Paradigma nehmen: Der Topos von der öffentlichen Aufgabe der Medien, ihres Auftrags und ihrer Verpflichtung zur ungehemmten Berichterstattung über alle für die demokratische Öffentlichkeit wichtigen Angelegenheiten, zur Kontrolle der Mächtigen und zur Aufdeckung dessen, was die Macht unter den Teppich kehren möchte, ist ein jedenfalls im Prinzip feststehender Grundsatz. Er rechtfertigt die Veröffentlichung auch vertraulicher Informationen. Andererseits hat das Gericht im konkreten Fall dann doch Skrupel, ob die Medien den Nutzen aus einem rechtswidrigen Geheimnisverrat ziehen dürfen, und lässt sich daher auf die heikle Beurteilung der Qualität und Seriosität der konkreten journalistischen Arbeit ein. Ohne das Prinzip als solches in Frage zu stellen, kann angesichts der konkreten Umstände dann doch die Verurteilung der Schweiz vermieden werden. Dass diese Entscheidung alles andere als eindeutig war, zeigt die knappe Mehrheit, mit der sie getroffen wurde.13

12 13

Vgl. EGMR 25.04.2006, Nr. 69.698/01, Stoll, in: NL (2006), S. 97 (IV. Kammer). EGMR 10.12.2007, Nr. 69.698/01, Stoll, in: NL (2007), S. 321.

„Management by Treachery“: Zur rechtlichen Bewertung des Whistleblowings

5

411

Einige Schlussfolgerungen

Was bedeuten die geschilderten Entwicklungen für die Unternehmenskommunikation und den Umgang von Unternehmen mit dem Phänomen des „Leaking“? Man kann sicherlich nicht sagen, dass die Veröffentlichung jedes Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses, das den Medien zugespielt wird, schlechterdings gerechtfertigt ist. Vieles soll nach den einschlägigen Entscheidungen der Gerichte von den Umständen des Einzelfalles abhängen: von der Gewichtigkeit des öffentlichen Interesses an einer Offenbarung, von der mehr oder weniger verantwortungsvollen Art und Weise, wie die Medien und ihre Journalisten mit solchen Informationen umgehen und anderen Umständen mehr. Aber es bleibt nach dem Gesagten bei der grundsätzlichen Regel: Die Verwertung auch rechtswidrig erlangter Informationen kann unter Berücksichtigung des öffentlichen Auftrags der Medien gerechtfertigt sein. Davon abgesehen kann sich aber auch der indiskrete Informant in vielen Fällen auf einen Rechtfertigungsgrund berufen, wenn er Unternehmensinterna an die Öffentlichkeit trägt, und zwar selbst dann, wenn das an sich auf eine Verletzung rechtlich anerkannter Verschwiegenheits- oder Treuepflichten hinausläuft. Zwar wird der Gang an die Öffentlichkeit zumeist nur als „Ultima Ratio“ anerkannt, wenn also entsprechende interne Beschwerdekanäle versagt haben. Aber stehen entsprechend gewichtige öffentliche Interessen am Spiel, gibt das sehr oft den Ausschlag zugunsten des Informanten, der einen Geheimnisverrat begeht. Unternehmen müssen mit diesen Umständen rechnen und sie bei der Organisation ihrer internen Kommunikationskultur berücksichtigen. Das spricht zunächst nicht gegen, sondern vielmehr für die Einrichtung unternehmensinterner Hinweissysteme. Sind solche Systeme gut ausgestaltet, können Beschwerden tatsächlich in gewissem Umfang kanalisiert werden und kann ein öffentlicher Reputationsschaden in vielen Fällen verhindert werden. Wie solche internen Whistleblower-Hotlines professionell aufgestellt werden, ist nicht Sache einer juristischen Analyse. Die Erfahrung zeigt, dass sie kein Vorwand für die Unterdrückung von Missständen sein dürfen, wenn sie funktionieren sollen, dass Anonymität zwar gesichert, diese aber nicht grenzenlos gewährleistet werden muss, und dass es auch gewisser Vorkehrungen bedarf, um Querulanten möglichst fernzuhalten. Solche Probleme sind aber lösbar. Aus der juristischen Perspektive und im Hinblick auf die hier behandelten Fragen haben funktionsgerecht ausgestaltete unternehmensinterne Hinweissysteme sicherlich einen Vorteil: Wie gezeigt wurde, neigen die Gerichte dazu, die Mobilisierung einer breiteren Öffentlichkeit im Wege des „Leaking“ dann für zulässig anzusehen, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, behauptete Missstände abzustellen. Funktionierende interne Hinweissysteme haben daher nicht nur die faktische Funktion eines Frühwarnsystems oder eines Dampfkessels mit dosiertem Überdruckventil, sie können auch für die rechtliche Bewertung ausschlaggebend sein. Dies ist nicht unerheblich, auch wenn man bei realistischer Betrachtung einräumen muss, dass sich rechtswidrige Indiskretionen in keiner Großorganisation wirklich verhindern lassen. Denn, wie es in einem Benjamin Franklin zugeschriebenen Bonmot heißt: Drei Personen können ein Geheimnis nur wahren, wenn zwei von ihnen tot sind.

412

Walter Berka

Literatur Berka, W.: Whistleblower and Leaks: Von den Schwierigkeiten das Amtsgeheimnis zu wahren, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.): Recht und Öffentlichkeit, Wien 2004. Berka, W.: Ex injuria ius oritur? Die publizistische Verwertung rechtswidrig erlangter Informationen (in Druck). Berthold, A.: Whistleblowing in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, Frankfurt am Main 2010. Frank, J./Steigert, V.: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von WikiLekas, in: CR 6 (2011), S. 380–387. Hoeren, T./Herring, E. M.: Urheberrechtsverletzung durch WikiLeaks? – Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit vs. Urheberinteressen, in: MMR 3 (2011), S. 143–148. Hoeren, T./Herring, E. M.: WikiLeaks und das Erstveröffentlichungsrecht des Urhebers – Informationsfreiheit als externe Schranke des Urheberrechts?, in: MMR 8 (2011), S. 500–504. Jahnel, D.: Handbuch Datenschutzrecht. Grundrecht auf Datenschutz, Zulässigkeitesprüfung, Betroffenenrechte, Rechtsschutz, Wien 2010. Kiraly, A.: Der rechtliche Schutz von Whistleblowern, in: ZRP 5 (2011), S. 146 ff. Leisinger, K. M.: Whistleblowing und Corporate Reputation Management, München 2003.

IV

Unternehmensführung im interdisziplinären Spannungsfeld

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld Birgit Renzl und Julia Müller

1

Relevanz von Dynamic Capabilities in der Unternehmensführung

Seit den 1990er Jahren bildet die Forschung über Dynamic Capabilities einen festen Bestandteil der Theorie der Unternehmensführung. Der Grund dafür ist, dass das Umfeld, in dem Unternehmen im Wettbewerb stehen, immer dynamischer wird. Heutzutage sind Unternehmen vermehrt mit einer größeren Komplexität bezüglich Produkte und Prozesse, kürzeren Produktlebenszyklen, rasantem technologischen Wandel und schnelleren Lernprozessen konfrontiert1. Schlagworte wie Wissens- und Informationsgesellschaft, Hypercompetition und Globalisierung charakterisieren seit einigen Jahren die Geschäftswelt, in der sich Unternehmen behaupten müssen2. Deshalb kommt den Fähigkeiten und Kernkompetenzen, die sich an eine dynamische Umwelt anpassen können, eine immer größere Bedeutung zu. Sogenannte dynamische Fähigkeiten sollen es Unternehmen ermöglichen, externe Veränderungen erfolgreich zu antizipieren. Dynamic Capabilities können die bestehenden Ressourcen und Fähigkeiten eines Unternehmens integrieren, aufbauen, kombinieren und neu gestalten, um auf veränderte Anforderungen reagieren zu können3. Gemäß dem Ansatz der Dynamic Capabilities sind Unternehmen dann wettbewerbsfähig, wenn sie nicht nur die vorhandenen Ressourcenbestände nutzen, sondern auch so flexibel sind, dass sie auf Veränderungen im Umfeld mit neuen Entwicklungen entsprechend reagieren können und damit langfristig erfolgreich sind. Ein Unternehmen ist daher mehr als die Summe der vorhandenen Ressourcen, mehr als die Summe der Fähigkeiten seiner Mitglieder und auch mehr als die Summe seiner Routinen4. Da sich die Schnelllebigkeit der Wirtschaft in den letzten Jahren noch verstärkt hat, ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Forscher mit diesem Konzept auseinandersetzen5. Aller1 2 3 4 5

Vgl. Uit Beijerse, Questions in Knowledge Management: Defining and Conceptualising a Phenomenon (1999), S. 97. Vgl. Drucker, Die postkapitalistische Gesellschaft (1993), S. 34; D’Aveni, Hypercompetition (1994), S. 334. Vgl. Teece/Pisano/Shuen, Dynamic Capabilities and Strategic Management (1997), S. 516. Vgl. Katkalo/Pitelis/Teece, Introduction: On the nature and scope of dynamic capabilities (2010), S. 1177 ff. Vgl. Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 258.

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Birgit Renzl und Julia Müller

dings ist die Forschung nicht einheitlich. Obwohl die Dynamic-Capabilities-Forschung ihren Ursprung in der ressourcenorientierten Sichtweise hat6, hat sich nicht nur der Wissenschaftsbereich Unternehmensführung mit der Erforschung von dynamischen Fähigkeiten beschäftigt. Vielmehr haben sich verschiedenste Felder der Betriebswirtschaftslehre mit derartigen Prozessen auseinandergesetzt, wie beispielsweise Marketing, Human Resource Management, Informationsmanagement und Entrepreneurship7. Das Ziel dieses Beitrags ist also, das Konzept der Dynamic Capabilities als interdisziplinäres Feld zu betrachten. Dazu werden zuerst die Entwicklung und Bedeutung von Dynamic Capabilities erläutert und ein praktisches Beispiel, nämlich die Ambidextrie beschrieben. Da Ambidextrie aus zwei Prozessen (Exploration und Exploitation) besteht, mit denen sich andere Forschungsgebiete, wie exemplarisch an den Feldern Wissens- und Innovationsmanagement gezeigt wird, beschäftigt haben, illustrieren wir, dass es interdisziplinäre Einflüsse für dynamische Fähigkeiten gibt. Allerdings wurden diese Forschungsergebnisse nicht in der Dynamic-Capabilities-Perspektive erlangt, sodass das Feld immer noch sehr fragmentiert erscheint.

2

Hintergrund: Entwicklung der Dynamic-CapabilitiesForschung

Die Theorie der Unternehmensführung versucht zu erklären, warum einige Unternehmen im Wettbewerb besser sind als andere. Dabei werden verschiedene Faktoren für den Unternehmenserfolg herangezogen8. In der ressourcenorientierten Perspektive beispielsweise werden Unternehmen als Bündel von Ressourcen gesehen, die das Management so einsetzen soll, dass der Unternehmenswert maximiert wird9. Dabei wird der Ressourcenbegriff weit gefasst: „By a resource is meant anything which could be thought of as a strength or weakness of a given firm“10. Allerdings wird diese Perspektive dafür kritisiert, dass das Modell zu statisch ist und keine dynamischen Entwicklungen miteinbezieht und darüber hinaus auch nicht erklärt, wie diese Ressourcen für Wettbewerbsvorteile eingesetzt werden können11. Es genügt also nicht, Ressourcen nur zu besitzen; Unternehmen müssen auch die Fähigkeiten (Capabilities) haben, diese Ressourcen gezielt einzusetzen12. Diese Weiterentwicklung des ressourcenorientierten Ansatzes wird fähigkeitenorientierter Ansatz (Capability-Based-View) genannt. Fähigkeiten werden dabei folgendermaßen definiert: „Capabilities, in contrast, refer to a firm’s capacity to deploy resources usually in combination, using organizational

6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Penrose, The Theory of the Growth of the Firm (1959), S. 25 ff.; Wernerfelt, A Resource-based View of the Firm (1984), S. 172 f.; Barney, Firm Resources and Sustained Competitive Advantage (1991), S. 100 ff. Vgl. Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 258. Vgl. Grant, Toward a Knowledge-Based Theory of the Firm (1996a), S. 109. Penrose, The Theory of the Growth of the Firm (1959), S. 25 ff.; Wernerfelt, A Resource-based View of the Firm (1984), S. 173 f. Wernerfelt, A Resource-based View of the Firm (1984), S. 172. Vgl. Priem/Butler, Is the Resource-Based “View” a Useful Perspective for Strategic Management Research? (2001), S. 34 f. Vgl. Grant, Contemporary Strategy Analysis – Concepts, Techniques, Applications (1991), S. 104; Amit/ Schoemaker, Strategic Assets and Organizational Rents (1993), S. 35.

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

417

processes, to effect a desired end“13. Wenn Fähigkeiten eine strategische Bedeutung für das jeweilige Unternehmen haben, werden sie zu Kernkompetenzen. Diese sind eine integrierte und durch organisationale Lernprozesse koordinierte Gesamtheit von Technologien, Knowhow, Prozessen und Einstellungen, die für den Kunden einen Wert besitzen, für die Konkurrenz schwer imitierbar sind und die einen Zugang zu verschiedenen Märkten eröffnen14. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Ansätzen geht das Konzept der Dynamic Capabilities über eine rein statische Betrachtung der Ressourcen und Fähigkeiten, die ein Unternehmen benötigt, um am Markt wettbewerbsfähig zu sein, hinaus15. Für Unternehmen ist es wichtig, dass sie sich den Veränderungen der externen Umwelt anpassen. Bereits im ressourcenorientierten Ansatz wurde auf die Wichtigkeit von organisationalen Routinen hingewiesen, die Ressourcen entsprechend einzusetzen16. Obwohl dieser Ansatz nicht unumstritten ist17, ist er dennoch stark in der Strategic-Management-Forschung vertreten18.

2.1

Was sind Dynamic Capabilities?

Die Definition von Dynamic Capabilities wurde über die Jahre hinweg stetig weiterentwickelt. Ursprünglich wurden sie definiert als „the firm’s ability to integrate, build, and reconfigure internal and external competences to address rapidly changing environments“19, wobei der Fokus auf „ability“ liegt, um auszudrücken, dass es sich um eine Managementaufgabe handelt20. Sie können aber auch „the firm’s processes that use resources – specifically the processes to integrate, reconfigure, gain, and release resources – to match and even create market change“21 sein. Damit wird konkret gezeigt, dass diese dynamischen Fähigkeiten als Prozesse im Unternehmen sichtbar sind. Zollo und Winter orientieren sich mehr an Nelsons und Winters konzeptionalem Verhaltensmuster: „A dynamic capability is a learned and stable pattern of collective activity through which the organization systematically generates and modifies its operating routines in pursuit of improved effectiveness“22. Obwohl es in der Theorie noch keine allgemeingültige Definition von Dynamic Capabilities gibt23, wollen wir in diesem Beitrag das Hauptaugenmerk auf wahrnehmbare Prozesse, Routinen und Verhaltensmuster legen, die in der Lage sind, die Ressourcenausstattung eines Unternehmens so zu verändern, dass es wettbewerbsfähig bleibt.

13 14 15 16

17 18 19 20 21 22 23

Amit/Schoemaker, Strategic Assets and Organizational Rents (1993), S. 35. Vgl. Hinterhuber, Strategische Unternehmungsführung, Band I (2004), S. 12. Vgl. Barney, Firm Resources and Sustained Competitive Advantage (1991), S. 101 ff. Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change (1982), S. 76 ff.; Cohen/Burkhart/Dosi/ Egidi/Marengo/Warglien/Winter, Routines and Other Recurring Action Patterns of Organizations: Contemporary Research Issues (1996), S. 691 ff.; Dosi/Nelson/Winter, Introduction: The Nature and Dynamics of Organizational Capabilities (2000), S. 1 ff. Vgl. Arend/Bromiley, Assessing the dynamic capabilities view: Spare change, everyone? (2009), S. 75. Vgl. Easterby-Smith/Lyles/Peteraf, Dynamic capabilities: Current debates and future directions (2009), S. 1 f.; Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 259. Teece/Pisano/Shuen, Dynamic Capabilities and Strategic Management (1997), S. 516. Vgl. Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 259. Eisenhardt/Martin, Dynamic Capabilities: What Are They? (2000), S. 1107. Zollo/Winter, Deliberate Learning and the Evolution of Dynamic Capabilities (2002), S. 340. Vgl. Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 259 ff.

418

Birgit Renzl und Julia Müller

Wichtig ist, dass sich Dynamic Capabilities von „normalen“ Fähigkeiten24 unterscheiden: Das „Dynamische“ an den Dynamic Capabilities besteht in der Interaktion zwischen den dynamischen organisationalen Fähigkeiten und der Ressourcengrundlage, die eine Modifikation erlaubt25. Dynamische Fähigkeiten sind dementsprechend Organisationsprozesse, die die Ressourcengrundlage an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen sollen, z. B. durch Akquisition, Integration und Kombination neuer und bestehender Ressourcen26. Das bedeutet, dass Dynamic Capabilities zielgerichtet sind. Sie können die Ressourcenbasis, Routinen und Fähigkeiten verändern.

2.2

Wie entstehen Dynamic Capabilities?

Dynamic Capabilities können nicht erworben werden27, vielmehr entstehen sie in organisationalen Prozessen. Durch die Kombination von implizitem Erfahrungswissen und explizitem Wissen werden Prozesse immer neu reproduziert28 und Dynamic Capabilities entstehen in pfadabhängigen Lernprozessen, deren Aufbau und Entwicklung29. Das bewusste und unbewusste Lernen aus vergangenen Fehlern und das Ändern von Praktiken sind wichtig für die Entstehung von dynamischen Fähigkeiten30. Außerdem sind Versuch und Irrtum, Improvisation und Imitation weitere Mechanismen, die für die Entstehung von Dynamic Capabilities, speziell bei jungen Unternehmen, relevant sind31. Diese Pfadabhängigkeit macht dynamische Fähigkeiten einzigartig und für Mitbewerber schwer zu imitieren. Sie sind daher unersetzlich für die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens32. Allerdings ist die Pfadabhängigkeit nicht nur positiv: Feste Organisationsstrukturen können zu einer gewissen Trägheit führen, die die Dynamik von Routinen einschränken kann33. Deshalb könnte es hilfreich sein, ein „capability monitoring“ vorzunehmen und die organisationalen Fähigkeiten ständig mit der Ressourcengrundlage und den Veränderungen in der externen Umwelt abzugleichen34.

24 25 26

27 28 29 30 31 32 33 34

So genannte “operating routines”, die das Tagesgeschäft am Laufen halten; Vgl. Zollo/Winter, Deliberate Learning and the Evolution of Dynamic Capabilities (2002), S. 340. Vgl. Ambrosini/Bowman, What are Dynamic Capabilities and are they a Useful Construct in Strategic Management (2009), S. 34. Vgl. Grant, Prospering in Dynamically-competitive Environments: Organizational Capability as Knowledge Integration (1996b), S. 376; Teece/Pisano/Shuen, Dynamic Capabilities and Strategic Management (1997), S. 516; Teece, Explicating Dynamic Capabilities: the Nature and Microfoundations of (Sustainable) Enterprise Performance (2007), S. 1344. Vgl. Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 259. Vgl. Zollo/Winter, Deliberate Learning and the Evolution of Dynamic Capabilities (2002), S. 343 f. Vgl. Eisenhardt/Martin, Dynamic Capabilities: What Are They? (2000), S. 1105 f. Vgl. Eisenhardt/Martin, Dynamic Capabilities: What Are They? (2000), S. 1114 ff.; Zollo/Winter, Deliberate Learning and the Evolution of Dynamic Capabilities (2002), S. 341. Vgl. Zahra/Sapienza/Davidsson, Entrepreneurship and dynamic capabilities: A review, model and research agenda (2006), S. 932. Vgl. Teece/Pisano/Shuen, Dynamic Capabilities and Strategic Management (1997), S. 509. Vgl. core rigidity bei Leonard-Barton, Core Capabilities and Core Rigidities: A paradox in Managing New Product Development (1992), S. 111 f. Vgl. Schreyögg/Kliesch-Eberl, How dynamic can organizational capabilities be? Towards a dual-process model of capability dynamization (2007), S. 913 f.

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

2.3

419

Perspektive der Dynamic Capabilities

Zusammenfassend kann der Ansatz der dynamischen Fähigkeiten folgendermaßen beschrieben werden (siehe auch Abbildung 1): Dynamische Fähigkeiten werden durch Wissens- und Lernprozesse entwickelt. Da sie im Werterstellungsprozess der Produkte oder Dienstleistungen einen direkten Einfluss auf die Ressourcenbasis des Unternehmens haben, beeinflussen sie auch die Performance und Ergebnisse des Unternehmens. Idealerweise wird dadurch ein nachhaltiger Wettbewerbsvorteil generiert, auch wenn Untersuchungen gezeigt haben, dass sich dieser in sehr dynamischen Branchen immer kürzer hält. Dass Dynamic Capabilities zum Unternehmenserfolg beitragen, hängt von einer Reihe von internen und externen Faktoren ab. Intern spielen das Management und sein Verhalten eine entscheidende Rolle sowie das soziale Kapital der Belegschaft und die Führungskräfte. Diese beeinflussen, ob Dynamic Capabilities im Unternehmen entstehen können. Die externe Umwelt beeinflusst hingegen, wie groß der Wettbewerbsvorteil durch dynamische Fähigkeiten sein kann35.

Abbildung 1:

35 36

36

Zusammenfassung des Ansatzes der Dynamic Capabilities

Vgl. Ambrosini/Bowman, What are Dynamic Capabilities and are they a Useful Construct in Strategic Management (2009), S. 34. Basierend auf Ambrosini/Bowman, What are Dynamic Capabilities and are they a Useful Construct in Strategic Management (2009), S. 43.

420

2.4

Birgit Renzl und Julia Müller

Ambidextrie als eine Form von Dynamic Capabilities

Die Forschung hat konkrete Prozesse identifiziert, die dynamische Fähigkeiten sein können. Dazu zählen Produktentwicklungsprozesse, die durch die Kombination von neuem und bestehendem Wissen, neue Produkte und Dienstleistungen für den Markt schaffen37. Auch Wissenstransfer ist ein Prozess, der darauf abzielt, die Wissensbasis des Unternehmens zu verändern, indem beispielsweise Best Practices weitergegeben werden oder neues Wissen für Innovationen genutzt werden kann38. Das Nutzen von Synergien, indem die Zusammenarbeit unterschiedlicher Unternehmenseinheiten forciert wird, kann ebenfalls die Ressourcenbasis eines Unternehmens verändern39. Diese Fähigkeiten sind nicht nur auf Unternehmen beschränkt, sondern können auch interorganisational, in strategischen Allianzen, stattfinden40. Die Herausforderung besteht darin, vorhandenes Wissen zu nutzen und gleichzeitig neues zu entwickeln. Die Literatur spricht von Ambidextrie, also Beidhändigkeit41, wenn es darum geht, den Spagat zwischen Stabilität und der Nutzung des bestehenden Wissens (Exploitation) einerseits und dynamischer Anpassungsfähigkeit und der Generierung neuen Wissens (Exploration) andererseits zu schaffen42. Es handelt sich dabei um zwei grundverschiedene, divergierende Prozesse mit unterschiedlichen Lernmodi43. Bei der Exploitation wird bereits vorhandenes Wissen repliziert und somit die Effizienz der Prozesse gesteigert, die Produktivität verbessert etc. Es geht um das Ausschöpfen etablierter Erfolgsmuster. Aus vormaligen Kernkompetenzen können dabei aber auch schnell Kernschwächen44 werden, wie beispielsweise die Entwicklung von der mechanischen (Remington Co.) über die elektronische Schreibmaschine (Olivetti) bis zum PC zeigt, oder auch von der analogen (Kodak) zur digitalen Fotografie45. Das zu lange Festhalten an etablierten Erfolgsmustern bzw. das Faktum, dass nicht erkannt wurde, dass eine Veränderungsnotwendigkeit besteht, war verheerend. Allerdings reicht es auch nicht, viele neue Geschäftsideen (Exploration) zu haben, wenn diese nicht in ertragreiche Geschäftsmodelle überführt werden können. Es ist daher wichtig, eine Balance zwischen Exploitation (Replikation) und Exploration (Innovation) zu finden, einem Unternehmen gleichzeitig Stabilität zu 37 38 39 40 41

42 43

44 45

Vgl. Helfat/Raubitschek, Product Sequencing: Co-Evolution of Knowledge, Capabilities and Products (2000), S. 961. Vgl. Szulanski, Exploring Internal Stickiness: Impediments to the Transfer of Best Practice within the Firm (1996), S. 27. Vgl. Eisenhardt/Galunic, Coevolving: at last, a way to make synergies work (2000), S. 91 f. Vgl. Powell/Koput/Smith-Doerr, Interorganizational Collaboration and the Locus of Innovation: Networks of Learning in Biotechnology (1996), S. 117 f. Vgl. Duncan, The Ambidextrous Organization: Designing Dual Structures for Innovation (1976), S. 167 ff.; Tushman/O’Reilly, The Ambidextrous Organization: Managing Evolutionary and Revolutionary Change (1996), S. 11; Gibson/Birkinshaw, The Antecedents, Consequences, and Mediating Role of Organizational Ambidexterity (2004), S. 209; O’Reilly/Tushman, The Ambidextrous Organization (2004), S. 76. Vgl. March, Exploration and Exploitation in Organizational Learning (1991), S. 71 ff. Vgl. March, Exploration and Exploitation in Organizational Learning (1991), S. 71; Konlechner/Güttel, Kontinuierlicher Wandel mit Ambidexterity – Vorhandenes Wissen nutzen und gleichzeitig neues entwickeln (2009), S. 45. Vgl. Leonard-Barton, Core Capabilities and Core Rigidities: A paradox in Managing New Product Development (1992), S. 118 ff. Vgl. Utterback, Mastering the Dynamics of Innovation: How companies Can Seize Opportunities in the Face of Technological Change (1994), S. 9 ff. u. S. 178 ff.; Konlechner/Güttel, Kontinuierlicher Wandel mit Ambidexterity – Vorhandenes Wissen nutzen und gleichzeitig neues entwickeln (2009), S. 46.

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

421

geben und es für Neuerungen offen zu halten. Die Kombination von Exploration und Exploitation ist also essentiell für die Wandlungsfähigkeit und damit für die Erzielung von langfristigen Wettbewerbsvorteilen. „Beidhändige“ Organisationen schaffen es, beide Prozesse auf hohem Niveau zu betreiben. In der Literatur wird Ambidextrie zunehmend als besondere dynamische Fähigkeit (Dynamic Capability) erachtet, die es Unternehmen ermöglicht, sich an tiefgreifende Veränderungen anzupassen46. Das Konzept der Ambidextrie hilft zu verstehen, wie Dynamic Capabilities47 in Unternehmen geschaffen werden, um im Sinne des ressourcenorientierten Ansatzes langfristig Wettbewerbsvorteile zu erzielen48. Ein interessanter Aspekt der aktuellen Forschung ist, wie Unternehmen vorgehen, um Ambidextrie aufzubauen und zu fördern. Dabei werden zwei Formen, strukturelle und kontextuelle Ambidextrie, unterschieden. Strukturelle Ambidextrie wird durch strukturelle Abgrenzung der beiden Lernprozesse erzielt49. Es werden beispielsweise die Aufgaben einer Forschungsund Entwicklungsabteilung getrennt von der Produktionsabteilung in einer abgegrenzten Organisationseinheit durchgeführt. Es wird von einem dichotomen Ansatz, einem grundsätzlichen Trade-off zwischen Exploitation und Exploration ausgegangen50. In der Forschungsund Entwicklungsabteilung wird neues Wissen erforscht und entkoppelt davon wird in der Produktion das vorhandene Wissen umgesetzt. Im Gegensatz dazu wird bei der kontextuellen Ambidextrie angenommen, dass die beiden unterschiedlichen Lernmodi der Exploration und Exploitation innerhalb einer Abteilung oder sogar in einer einzelnen Person vereinbar sind. Als Beispiel kann eine Produktentwicklung, die eine Moderationsfunktion zwischen Forschung und Entwicklung und Produktion übernimmt, angeführt werden51. Die Mitarbeiter leben gewissermaßen in beiden Welten. Sie müssen regelmäßig beide Arten von Aufgaben (Exploration und Exploitation) bewältigen52. Daraus resultieren vielfältige Spannungen und Konflikte, die mit entsprechenden Rahmenbedingungen abgefedert werden müssen wie z. B. mittels Arbeiten in flexiblen Projektteams durch Zielvereinbarungsprozesse, um den nötigen Freiraum zu gewähren etc. Kontextuelle Ambidextrie entsteht auf der Basis des organisationalen Kontexts, der kulturellen Werte und Normen. Es muss ein gemeinsamer Bezugsrahmen da sein, der auf einer breit verankerten Unternehmenskultur basiert.

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47

48 49 50 51 52

Vgl. Gibson/Birkinshaw, The Antecedents, Consequences, and Mediating Role of Organizational Ambidexterity (2004), S. 209; O’Reilly/Tushman, The Ambidextrous Organization (2004), S. 74 ff.; Güttel/Konlechner, Continuously Hanging by a Thread: Managing Contextually Ambidextrous Organizations (2009), S. 150. Vgl. Teece/Pisano/Shuen, Dynamic Capabilities and Strategic Management (1997), S. 509 ff.; Eisenhardt/ Martin, Dynamic Capabilities: What Are They? (2000), S. 1105 f.; Easterby-Smith/Antonacopoulou/Graça/ Ferdinand, Organizational Learning and Dynamic Capabilities (2008), S. 1 ff.; Ambrosini/Bowman, What are Dynamic Capabilities and are they a Useful Construct in Strategic Management (2009), S. 32 f. Vgl. Barney, Firm Resources and Sustained Competitive Advantage (1991), S. 100; Freiling, Resource-based View und ökonomische Theorie (2001), S. 22 ff. Vgl. Konlechner/Güttel, Kontinuierlicher Wandel mit Ambidexterity – Vorhandenes Wissen nutzen und gleichzeitig neues entwickeln (2009), S. 45 ff. Vgl. Hobus/Busch, Organisationale Ambidextrie (2011), S. 189. Vgl. Renzl/Rost/Kaschube, Gestaltung des Wandels mit struktureller und kontextueller Ambidextrie am Beispiel eines Technologieführers in der Automobilzulieferbranche (2011), o. S. Vgl. Konlechner/Güttel, Kontinuierlicher Wandel mit Ambidexterity – Vorhandenes Wissen nutzen und gleichzeitig neues entwickeln (2009), S. 46.

422

3

Birgit Renzl und Julia Müller

Dynamic Capabilities und Interdisziplinarität am Beispiel der Ambidextrieforschung

Wie am Beispiel der Ambidextrie gezeigt wurde, sind dynamische Fähigkeiten organisationale Prozesse. Die Prozesse Exploitation und Exploration wurden aber nicht nur im Sinne der Dynamic-Capabilities-Forschung untersucht. Eigene Forschungsrichtungen zum Wissens- und Innovationsmanagement haben sich entwickelt, die jedoch von unterschiedlichen theoretischen Perspektiven beeinflusst wurden. Die folgenden Ausführungen zeigen exemplarisch, welche interdisziplinären Einflüsse auf die Erforschung dieser Prozesse ausgeübt wurden.

3.1

Interdisziplinarität im Feld Wissensmanagement

Wissensmanagement bezieht sich auf die Schaffung von Rahmenbedingungen für den reibungslosen Ablauf von Wissensprozessen im Unternehmen53. Diese Wissensprozesse umfassen Identifikation, Erwerb, Entwicklung (vgl. Exploration), Austausch, Nutzung (vgl. Exploitation) und Bewahrung von strategisch relevantem Wissen54. Um diese Prozesse bestmöglich in einem Unternehmen zu implementieren und managen, werden informations- und kommunikationstechnologische sowie soziokulturelle und psychologische Aspekte miteinbezogen55. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Gegenstand des Wissensmanagements, nämlich Wissen, nicht einfach zu erfassen ist. Für einige ist Wissen gleich Information, die objektiviert werden kann; für andere besteht Wissen aus mehr als Daten und Informationen56, das deshalb nicht getrennt von Personen, den sogenannten Wissensträgern, betrachtet werden kann57. Wissen hat eine explizite und implizite Komponente. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Art und Weise, wie Wissen artikuliert wird58. Explizites Wissen, das leicht kodifiziert werden kann, kann auch leicht weitergegeben werden z. B. mit Hilfe von Handbüchern und Dokumenten. Allerdings ist nur ein kleiner Teil unseres Wissens rein explizites Wissen. Wissen hat auch eine implizite Dimension59, die in Denkmuster, Praktiken, Fähigkeiten, Fachkompetenzen und Routinen eingebettet ist60. Die implizite Dimension von Wissen kann nicht kodifiziert werden, da sich Individuen gar nicht bewusst sind, dass sie dieses implizite Wissen besitzen61. Implizites Wissen wird durch persönliche Erfahrung gewonnen und beinhaltet Können, weshalb es nicht von Handlungen getrennt werden kann62. 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Bennet/Bennet, The Partnership between Organizational Learning and Knowledge Management (2003), S. 26 ff. Vgl. Probst/Raub/Romhardt, Wissen managen – wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen (2006), S. 29 f. Vgl. Scarbrough/Swan/Preston, Knowledge management: a literature review (1999), S. 10 f. Vgl. North, Wissensorientierte Unternehmensführung: Wertschöpfung durch Wissen (2005), S. 34. Vgl. Probst/Raub/Romhardt, Wissen managen – wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen (2006), S. 38 ff. Vgl. Polanyi, Implizites Wissen (Dt. Übers. von: The Tacit Dimension) (1985), S. 4; Baumard, Tacit Knowledge in Organizations (1999), S. 53. Vgl. Polanyi, Implizites Wissen (Dt. Übers. von: The Tacit Dimension) (1985), S. 4 ff. Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change (1982), S. 76 ff. Vgl. Polanyi, Implizites Wissen (Dt. Übers. von: The Tacit Dimension) (1985), S. 5. Vgl. Orlikowski, Knowing in Practice – Enacting a Collective Capability in Distributed Organizing (2002), S. 253.

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

423

Bezüglich der Entwicklung des Feldes Wissensmanagement haben verschiedene theoretische Perspektiven, die hier exemplarisch dargestellt werden, einen Beitrag geleistet. Diese unterscheiden sich in der Art und Weise, wie Wissen gesehen wird bzw. welcher Teilaspekt hervorgehoben wird. •





63 64 65

66 67 68

69 70

Die Informatik beschäftigt sich mit explizitem Wissen, das mit Hilfe von Informationsund Kommunikationstechnologien gemanagt werden kann63. Traditionelle IT-Systeme beschränken sich v. a. auf die Funktion der Informationsspeicherung, damit Mitarbeiter ständig Zugang zu allen wichtigen Dokumenten und Daten haben64. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Vernetzung von Wissensträgern, indem beispielsweise Plattformen mit Diskussionsforen bereitgestellt werden65. Neueste Entwicklungen versuchen vermehrt, Web-2.0-Technologien und virtuelle Welten als Wissensplattformen zu verwenden66. Wenn man die Handlungsorientierung von Wissen in den Vordergrund stellt, werden die Wissensträger wichtig. Human Resource Management versucht so beispielsweise, einen Beitrag zu leisten und Motivationen und Anreizsysteme derart zu beeinflussen, dass Wissensprozesse stattfinden können67. Gleichzeitig beschäftigt sich auch die Psychologie mit Wissensmanagement, beispielsweise indem sie Persönlichkeitsfaktoren, Zielorientierungen oder Vertrauen als Voraussetzung für Wissensprozesse untersucht68. Die Literatur zu organisationalem Lernen beschäftigt sich intensiv mit Teilbereichen des Wissensmanagements, wobei der Lernprozess nicht in einzelne Wissensprozesse aufgeschlüsselt wird. Auch hier kann man verschiedene Ansätze unterscheiden: Technischorientierte Ansätze drehen sich um die Informationsverarbeitung in Bezug auf organisationales Lernen69. Andere Ansätze versuchen, Lernprozesse in ihrem sozialen und organisationalen Kontext zu erforschen, wobei dieses Umfeld als konstituierende Faktoren für Lernprozesse gesehen wird. Der Fokus liegt auf Prozessen der sozialen Interaktion, damit die Beteiligten eine gemeinsame Bedeutung der Lernergebnisse haben70. Darüber hinaus

Vgl. Anand/Manz/Glick, An Organizational Memory Approach to Information Management (1998), S. 797. Vgl. Alavi/Leidner, Review: Knowledge Management and Knowledge Management Systems: Conceptual Foundations and Research Issues (2001), S. 111 ff. Vgl. Rheingold, The Virtual Community: Homesteading on the Electronic Frontier (2000), S. 10 f.; Wasko/ Faraj, It is What One Does: Why People Participate and Help Others in Electronic Communities of Practice (2000), S. 163 ff. Vgl. Müller/Hutter/Füller/Matzler, Virtual Worlds as Knowledge Management Platform – Enhancing Social Interaction, o. S. Vgl. Cabrera/Cabrera, Knowledge-Sharing Dilemmas (2002), S. 248; Lam/Lambermont-Ford, Knowledge sharing in organisational contexts: a motivation-based perspective (2010), S. 52. Vgl. Matzler/Renzl/Müller/Herting/Mooradian, Personality Traits and Knowledge Sharing (2008), S. 305; Renzl, Trust in Management and Knowledge Sharing – The Mediating Effects of Fear and Knowledge Documentation (2008), S. 208; Matzler/Müller, Antecedents of Knowledge Sharing – Examining the Influence of Learning Orientation and Performance Orientation on Knowledge Sharing (2011), S. 317 f.; Matzler/Renzl/ Mooradian/von Krogh/Müller, Personality Traits, Affective Commitment, Documentation of Knowledge, and Knowledge Sharing (2011), S. 297. Vgl. Argyris/Schön, Organizational Learning: A Theory of Action Perspective (1978), S. 15 ff.; Huber, Organizational Learning: The Contributing Processes and the Literatures (1991), S. 89. Vgl. hierzu die Ausführung zu „situated learning“ u. a. in Lave, Situated Learning in Communities of Practice (1991), S. 45 ff.; vgl. hierzu die Ausführung zu „sensemaking“ u. a. in Weick, Sensemaking in organizations (2006), S. 129.

424



3.2

Birgit Renzl und Julia Müller geht es auch um Fragestellungen, die die unterschiedlichen Lernformen betreffen71 oder die sich mit kognitivem Lernen versus Verhaltensänderungen beschäftigen72. Managementorientierte Ansätze des Wissensmanagements zielen hauptsächlich auf unternehmensspezifische Voraussetzungen ab. Organisationale Strukturen wie beispielsweise das Entstehen von Communities of Practice als informelle Organisationseinheit für Wissensprozesse73 sind Gegenstand dieser Ansätze. Auch die Organisationskultur im Sinne von Wissenskulturen oder wissensfreundlichen Unternehmenskulturen werden als entscheidende Faktoren für die Einführung und den Erfolg von Wissensmanagementinitiativen gesehen74. Außerdem wird in diesen Ansätzen Wissen als intellektuelles Kapital gesehen, mit dem sich die Disziplin Accounting beschäftigt. Intellektuelles Kapital umfasst Information, Wissen, Patente und Erfahrungen, die dazu verwendet werden, Wert zu generieren75.

Interdisziplinarität im Feld Innovationsmanagement

Im Innovationsmanagement wird der Fokus auf zwei Prozesse gelenkt, einerseits auf die Generierung von neuen Ideen (vgl. Invention), andererseits auf die Implementierung und Vermarktung dieser Ideen in Produkte, Dienstleistungen, Prozesse oder Geschäftsmodelle. Auch diese Prozesse können als Exploration und Exploitation im Sinne von dynamischen Fähigkeiten verstanden werden. Sie sind essentiell, um am Markt bestehen zu können. Als besonders wichtig wird die Kombination von Wissen, Fähigkeiten und Ressourcen erachtet, um eine erfolgreiche Innovation auf den Markt zu bringen. Ähnlich wie bei Wissen wird auch bei Innovationen zwischen verschiedenen Arten unterschieden. Am weitesten verbreitet ist die Unterscheidung zwischen radikalen und inkrementellen Innovationen, die den Grad der Neuheit einer Neuerung ausdrücken76. Auch diese Arten von Innovationen werden mit den Prozessen Exploitation (das zu inkrementellen Neuerungen führt) und Exploration (das zu radikal neuen Ideen führt) und den damit verbundenen Lernprozessen in Verbindung gebracht77. Darüber hinaus gibt es noch disruptive Innovationen, die einen völlig neuen Markt entstehen lassen und alte Technologien verdrängen78. Allerdings hat sich auch das Feld Innovationsmanagement seit seiner Entstehung in den 1960er Jahren nicht geradlinig entwickelt79. Verschiedene Perspektiven haben ihren Einfluss 71

72 73 74

75 76 77

78 79

Vgl. die Konzepte single loop, double loop und deutero learning von Argyris/Schön, Organizational Learning: A Theory of Action Perspective (1978), S. 30 ff.; Argyris/Schön, Organizational Knowledge II: Theory, Method, and Practice (1996), S. 10 ff. Vgl. hierzu z. B. Fiol/Lyles, Organizational Learning (1985), S. 803; Crossan/Lane/White, An Organizational Learning Framework: From Intuition to Institution (1999), S. 522 ff. Vgl. Wenger/Snyder, Communities of Practice – The Organizational Frontier (2000), S. 141. Vgl. Schein, Organizational Culture and Leadership (1992), S. 2 ff.; Müller, Projektteamübergreifender Wissensaustausch – Fehlervermeidung und organisationales Lernen durch interaktive Elemente einer Wissenskultur (2009), S. 222 ff. Vgl. Sveiby, The New Organizational Wealth. Managing and Measuring Knowledge-based Assets (1997), S. 23. Vgl. Fagerberg, Innovation – A guide to the literature (2005), S. 1 ff. Vgl. Tushman/O’Reilly, The Ambidextrous Organization: Managing Evolutionary and Revolutionary Change (1996), S. 11; Benner/Tushman, Exploitation, exploration, and process management: The productivity dilemma revisited (2003), S. 243. Vgl. Christensen, The Innovator’s Dilemma: When new technologies cause great firms to fail (1997), S. 23 ff. Vgl. Fagerberg, Innovation – A guide to the literature (2005), S. 5 f.

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

425

gefunden. Im Gegensatz zum Wissensmanagement haben sich nicht nur Vertreter der Betriebswirtschaftslehre, Psychologie, Soziologie und Informatik mit diesen Prozessen beschäftigt, sondern auch Volkswirte und Wirtschaftsgeographen untersuchen das Potenzial von Innovationen für das Wachstum von Regionen und Nationen und deren Verbreitung. Im Folgenden bleiben wir auf der Ebene der organisationalen Prozessperspektive und klammern daher volkswirtschaftliche und geographische Einflüsse aus. In der Prozessperspektive liegt der Fokus auf Individuen, Unternehmen und Netzwerken, die gemeinsam die Innovationsleistung erbringen müssen und dementsprechend aus verschiedenen Blickwinkeln erforscht werden können: •



• •

80 81 82

83 84 85 86

87 88

Individuen sind die kreativen Köpfe, die Ideen generieren müssen80. Dementsprechend hat sich die Psychologie mit den Voraussetzungen für Kreativität auseinandergesetzt81. Aber auch die Managementforschung versucht Leadership-Konzepte zu finden, die Innovationen im Unternehmen fördern82. In unternehmensbezogenen Studien geht es um die Rolle von Innovationsfähigkeit im gesamten Unternehmen, die beispielsweise durch Anpassungsfähigkeit an die Umwelt und die Fähigkeit, Ressourcen effektiv einzusetzen, erreicht wird83. Außerdem ist durch den vorwiegenden Projektcharakter von Innovationsinitiativen der Einfluss der Projektmanagementforschung spürbar84. Ähnlich wie im Wissensmanagement geht es darüber hinaus um innovative Unternehmenskulturen85. Unternehmensnetzwerke bieten die Möglichkeit, Innovationsanstrengungen gemeinsam zu erreichen. Wichtig ist, dass relationale Fähigkeiten ausgebildet werden und soziales Kapital entsteht86. Auch die Marketingforschung beeinflusst die Innovationsliteratur. Neue Konzepte wie beispielsweise Innovations-Communities und Open Innovation zeigen, dass der Innovationsprozess stark von den Nutzern und Kunden abhängt. Sie sind aber nicht nur diejenigen, die Innovationen akzeptieren müssen, sondern können auch im Ideengenerierungsprozess mitwirken87. Um an viel Marktwissen zu gelangen, braucht es aber auch entsprechende technologische Voraussetzungen. Demensprechend übt auch die Informations- und Kommunikationstechnologie ihren Einfluss aus88.

Vgl. Amabile, The social psychology of creativity (1983), S. 28 ff. Vgl. Basadur/Finkbeiner, Measuring preference for ideation in creative problem solving (1985), S. 38. Vgl. Hambley/O’Neill/Kline, Virtual Team Leadership: The Effects of Leadership Style and Communication Medium on Team Interaction Styles and Outcomes (2007), S. 2 f.; Pearce/Manz/Sims, Where do we go from here? Is shared leadership the key to team success? (2009), S. 238. Vgl. Gopalakrishnan/Damanpour, A review of innovation research in economics, sociology and technology management (1997), S. 22. Vgl. Daneels/Kleinsmith, Product innovativeness from the firm’s perspective: its dimensions and their relation with project selection and performance (2001), S. 358. Vgl. Jamrog/Vickers/Bear, Building and Sustaining a Culture that Supports Innovation (2006), S. 17; Dombrowski/Kim/Desouza/Braganza/Papagari/Baloh/Jha, Elements of Innovation Cultures (2007), S. 192 f. Vgl. Tsai/Ghoshal, Social Capital and value creation: The Role of Intrafirm Networks (1998), S. 468; Capaldo, Network Structure and Innovation: The Leveraging of a Dual Network as a Distinctive Relational Capability (2007), S. 591. Vgl. von Hippel, Democratizing Innovation (2005), S. 10 ff.; Chesbrough, Open innovation – The new imperative for creating and profiting from technology (2006), S. 25 f. Vgl. Hrastinski/Kviselius/Ozan/Edenius, A Review of Technologies for Open Innovation: Characteristics and Future Trends (2010), S. 4 ff.

426

4

Birgit Renzl und Julia Müller

Resümee

Dynamic Capabilities als Fähigkeiten eines Unternehmens, sich an rasch ändernde Rahmenbedingungen anpassen zu können, kommt eine immer größere Bedeutung zu. Dies zeigt sich auch in der Resonanz des Konzepts in der Managementforschung, in der es seit den 1990er Jahren fest verankert ist. Das Konzept der Dynamic Capabilities kommt ursprünglich aus dem ressourcenorientierten Ansatz der strategischen Unternehmensführung und hat sich zu einem komplexen, interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt. Mit Dynamic Capabilities setzt man sich im Marketing ebenso auseinander wie in der Produktion, im Human Resource Management, im Wissens- und Informationsmanagement, im Entrepreneurship etc.89. Neben den theoretischen Grundlagen werden in empirischen Studien Zusammenhänge über Dynamic Capabilities und Performance-Kennzahlen untersucht und detaillierte Fallstudien über Unternehmen aufgezeigt, die es geschafft haben, nachhaltige Wettbewerbsvorteile in dynamischen Umwelten zu halten. Die Herausforderung in der Dynamic-Capabilities-Forschung besteht nun darin, konkrete Prozesse zu identifizieren, die es Unternehmen ermöglichen, sich dynamisch im Wettbewerb zu behaupten. Bisher wurden z. B. Produktentwicklungsprozesse, die durch die Kombination von neuem und bestehendem Wissen neue Produkte und Dienstleistungen schaffen90, als konkrete Prozesse identifiziert, in denen Dynamic Capabilities zur Anwendung kommen. Auch Ambidextrie, also Beidhändigkeit91, die den Spagat zwischen Stabilität und der Nutzung des bestehenden Wissens (Exploitation) einerseits und dynamischer Anpassungsfähigkeit und der Generierung neuen Wissens (Exploration) andererseits schafft92, wird als dynamische Fähigkeit erkannt. Die Prozesse Exploitation und Exploration sind aber nicht nur Gegenstand des Forschungsfeldes der Ambidextrie, sondern werden interdisziplinär von Betriebswirten, Psychologen, Soziologen und einigen mehr bearbeitet und sind somit exemplarisch für das interdisziplinäre Spannungsfeld des Dynamic-Capabilities-Ansatzes. Die Herausforderung für die zukünftige Forschung besteht nun darin, die einzelnen Facetten der unterschiedlichen Forschungsfelder in den verschiedenen Disziplinen unter ein Dach zu bringen und in einem einheitlichen Konzept zu verankern.

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92

Vgl. Barreto, Dynamic capabilities: A review of past research and an agenda for the future (2010), S. 258. Vgl. Helfat/Raubitschek, Product Sequencing: Co-Evolution of Knowledge, Capabilities and Products (2000), S. 961. Vgl. Duncan, The Ambidextrous Organization: Designing Dual Structures for Innovation (1976), S. 167 ff.; Tushman/O’Reilly, The Ambidextrous Organization: Managing Evolutionary and Revolutionary Change (1996), S. 11; Gibson/Birkinshaw, The Antecedents, Consequences, and Mediating Role of Organizational Ambidexterity (2004), S. 209; O’Reilly/Tushman, The Ambidextrous Organization (2004), S. 80. Vgl. March, Exploration and Exploitation in Organizational Learning (1991), S. 85.

Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

427

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Dynamic Capabilities im interdisziplinären Spannungsfeld

429

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430

Birgit Renzl und Julia Müller

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Wirtschaftsethik im Spannungsfeld von Freiheit, Effizienz und Gerechtigkeit Christian Smekal

1

Ethik als Querschnittsmaterie in der theoretischen und praktischen Diskussion

In der ethischen Diskussion geht es darum zu beurteilen, ob menschliche Handlungen und die durch sie geschaffenen Institutionen (im weitesten Sinn des Wortes) „gut“, „schlecht“ oder gar „böse“ sind. Was aber ist gut und was schlecht oder böse? Vielleicht ist es besser, egoistisch und eigennützig zu handeln. Das Urteil über das „richtige“ oder „gute“ Handeln stellt ein philosophisches Problem dar und ist einer wissenschaftlichen Analyse grundsätzlich nicht zugänglich. Dabei geht es auch um die Frage, ob es überhaupt einen Sinn macht, gut zu sein oder gut zu handeln. Was ist der Sinn des Lebens? Darauf können religiöse Offenbarungen oder philosophische Weltanschauungen eine Antwort geben. Das griechische Wort „Ethos“ bedeutet ursprünglich Brauch, Sitte, Gewohnheit. Menschen müssen ihr Zusammenleben so organisieren, dass es „sittlich“ ist, das heißt, dass sie die Spielregeln (Konventionen) ihres Umganges akzeptieren und „gutheißen“ können. Aus dieser Sicht ist Ethik stets praxisbezogen. Verstöße gegen diese Spielregeln werden demnach als „unethisch“ empfunden und gesellschaftlich sanktioniert. Grundsätze wie nun Menschen in bestimmten Situationen entscheiden, handeln oder sich verhalten sollen, können sie aus Erfahrungen (Aristoteles), aus Begründungen der Vernunft (Kant) und aus der Kenntnis von Sachzusammenhängen gewinnen.1 Immer aber geht es darum, dass Menschen ihre Entscheidungen in einem gesellschaftlichen Umfeld treffen, das sie beeinflussen und von dem sie beeinflusst werden. Da Gesellschaften stets im Wandel begriffen und vor sich ändernde Herausforderungen gestellt sind, können sich auch ethische Grundregeln diesem Wandel nicht entziehen und müssen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Das entscheidende Ziel für ethisches Handeln und Gestalten muss aber letztlich immer auf eine Verbesserung der Zustände des menschlichen Zusammenlebens gerichtet sein. Das komplexe System der modernen Gesellschaft ist in hohem Maße verantwortungs- und arbeitsteilig. Einzelne Menschen können das gesamte System mit seiner Vielzahl von unterschiedlichen und speziellen Sachgebieten nicht mehr überschauen. Aus ethischer Sicht haben sich daher für einzelne Sachgebiete Fragestellungen ergeben, die es erforderlich machen, 1

Vgl. Honecker, Ethik (1993), S. 249 f.

432

Christian Smekal

ethische Grundregeln auf Gebiete anzuwenden, die eine besondere Sachkenntnis voraussetzen. In der Folge hat sich eine Reihe spezifischer Ethiken herausgebildet, unter denen die medizinische Ethik, die Umweltethik, die politische Ethik und die Wirtschaftsethik besonders aktuell sind.

2

Freiheit als Voraussetzung ethischer Entscheidungen und Handlungen

Die Beschäftigung mit ethischem Handeln macht nur Sinn, wenn vorausgesetzt wird, dass der Mensch entscheiden kann, ob etwas gut oder schlecht ist. Diese Entscheidungsfreiheit macht den Menschen aus. Ihre Abwesenheit würde ihn entweder übermenschlichen Mächten und Zwängen ausliefern oder zum Tier degradieren. Das heißt nicht, dass die Freiheit des Menschen nicht eingeschränkt oder „gebunden“ sein (werden) kann. Aber grundsätzlich muss sie vorausgesetzt werden, wenn davon ausgegangen wird, dass Menschen ihr Zusammenleben nach gewissen Regeln organisieren wollen (und können).2 Entscheidungsfreiheit setzt Menschen in die Lage, Antworten zu geben auf Fragen und Probleme, die in ihrem persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Umfeld auftreten. Daraus ergibt sich, dass auch „Verantwortung“ untrennbar mit Freiheit verbunden ist. Die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, bedeutet einerseits, dass Menschen positiv Einfluss nehmen können auf die Gestaltung ihres Lebensbereiches, andererseits aber auch, dass sie deren Folgen verantworten müssen. Die Übernahme von Verantwortung mag ein Grund dafür sein, dass sich manche Menschen vor allzu großer Freiheit fürchten. Das Abschieben von Verantwortung und die „Flucht“ in vorgefertigte Ideologien sind Strategien, die auf kürzere Sicht die „Last“ der Entscheidungen zwar verringern, auf längere Sicht aber mit einer zunehmenden Einschränkung der Freiheit verbunden sind.3 Aber auch zügellose bzw. grenzenlose Freiheit führt notwendig zur Unfreiheit. Als gesellschaftliches Phänomen bedingt Freiheit, dass sie allen Mitmenschen zugänglich sein muss. Freiheit des Einen, die die Freiheit des (der) Anderen ausschließt, schafft gesellschaftliche Unfreiheit.4 Insofern Freiheitsrechte grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung stehen sollen, zeigt sich auch eine Verbindung zum Postulat der Gleichheit. Freiheit und Gleichheit werden häufig als Gegensätze angesehen. In demokratisch verfassten Systemen ist dagegen einzuwenden, dass die gleiche Teilhabe Aller am demokratischen Willensbildungsprozess und der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz aufs Engste mit den „demokratischen Freiheitsrechten“ verbunden sind. Anders sind die Zusammenhänge zwischen Freiheit und Gleichheit in sozialer und ökonomischer Hinsicht zu sehen. Unterschiedliche Veranlagungen, Motivationen und Interessen von Menschen führen notwendigerweise zu unterschiedlichen Entscheidungssituationen und zu entsprechenden ungleichen Ergebnissen. Diese sind sogar wünschenswert, da sie die Wandelbarkeit der Gesellschaft zeigen und dynamische Prozesse für den gesellschaftlichen Fortschritt auslösen können. Extreme Ungleichheiten in den sozialen und ökonomischen Positionen stellen hingegen nicht nur Diskriminierungen, sondern auch Freiheitsbeschränkungen dar. Sie fordern daher politische Entscheidungen und Korrek2 3 4

Vgl. Knoepffler, Angewandte Ethik (2010), S. 21. Vgl. Schulmeister, Der „arabische Frühling“ – eine Lektion in Sachen Freiheit (2011), S. 26. Vgl. Thielemann, Freiheit unter den Bedingungen des Marktes (2005), S. 263.

Wirtschaftsethik im Spannungsfeld von Freiheit, Effizienz und Gerechtigkeit

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turen heraus, um das schwierige Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit in ein gesellschaftlich allgemein akzeptiertes Gleichgewicht zu bringen.

3

Die effiziente Gestaltung der Wirtschaft als ethische Herausforderung

Im Jahre 1989 sind die zentral gelenkten und planwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssysteme weltweit zusammengebrochen und untergegangen. Seither ist je nach ideologischem Standpunkt vom „Siegeszug“ neoliberaler oder kapitalistischer Marktwirtschaften die Rede. Tatsache ist, dass heute in den meisten Ländern die jeweiligen Wirtschaftssysteme grundsätzlich marktwirtschaftlich organisiert sind. In der Praxis zeigen sich zwar sehr unterschiedliche Typen und Ausprägungen. Bereits zwischen den Systemen Deutschlands und Frankreichs bestehen erhebliche Unterschiede. Diese beiden unterscheiden sich erheblich von dem der USA. Die Marktwirtschaft Chinas beruht auf einer starken Vorherrschaft des Staates. Der „Siegeszug“ marktwirtschaftlich orientierter Systeme beruht aber offensichtlich auf der Überlegung, dass die Teilhabe am internationalen Warenaustausch und wirtschaftlichen Fortschritt am vorteilhaftesten in Systemen erfolgen kann, die – bei allen Mängeln – grundsätzlich marktwirtschaftlich organisiert sind. Die Entscheidung für ein marktwirtschaftliches System beinhaltet sowohl eine sozialethische als auch eine ökonomische Dimension. Aus sozialethischer Sicht lässt sich eine Marktwirtschaft damit begründen, dass sie auf freien einzelwirtschaftlichen Entscheidungen beruht und Selbstverwirklichung, Eigenverantwortung sowie Solidarität der Marktteilnehmer ermöglicht. Aus ökonomischer Sicht ist es der Leistungswettbewerb zwischen einer Vielzahl von Akteuren, der positive Wirkungen auf die Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Fortschrittsfähigkeit ausübt. In ihrer idealen Form verbinden daher Marktwirtschaften die Vorzüge einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung mit fortschritts- und wachstumsfreundlichen Wirkungen des organisierten Wettbewerbs. Dem Wettbewerb als konstitutivem Prinzip einer Marktwirtschaft wird in der Praxis nach wie vor mit einer skeptischen bis kritischen Einstellung begegnet. Kann man ein System, in dem sich das „Recht des Stärkeren“ durchsetzt, ethisch rechtfertigen? Stellt das Marktgeschehen eine Art „gerechter Krieg“ dar?5 Lässt sich das Ergebnis des Wettbewerbs immer mit einer individuellen wirtschaftlichen Leistung rechtfertigen? Die Katholische Soziallehre hat sich in den letzten Jahrhunderten intensiv mit diesen Fragen aus ethischer Sicht beschäftigt. Sie anerkennt heute, dass der Wettbewerb eine wichtige Funktion im Rahmen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung erfüllen kann. Er beruht auf dem System des Privateigentums und ermöglicht Entscheidungsfreiheit sowie Selbstverwirklichung der Marktteilnehmer. Das Wechselspiel von Anbietern und Nachfragern führt zu einem Preissystem, das zum Ausgleich der Interessen tendiert. Diese Funktionen kann der Wettbewerb allerdings nur erfüllen, wenn er in eine Rahmenordnung eingebettet wird, die am Gemeinwohl der Gesellschaft ausgerichtet ist.6 So gesehen weist das Wettbewerbssystem eine befreiende und eine beschränkende Dimension auf: Die Marktteilnehmer können einerseits ihren Zielen und Bedürfnissen in freier Entscheidung nachgehen, andererseits verlangt die Rücksichtnahme auf das übergeordnete 5 6

Vgl. Höffner, Wettbewerb und Ethik (1986), S. 107. Vgl. Höffner, Wettbewerb und Ethik (1986), S. 113.

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Christian Smekal

Gemeinwohlprinzip die Befolgung von Regeln, die das friedliche und sozialgerechte Zusammenleben in der Gesamtgesellschaft zum Ziele haben.7 Das „eherne Gesetz“ der Ökonomie besteht darin, dass die Menschen gezwungen sind, mit beschränkten Ressourcen zu leben und diese zu bewirtschaften. Die Organisation der effizienten Verwendung der knappen Ressourcen stellt die wissenschaftliche Zielsetzung der Ökonomie dar. Die ökonomische Theorie der vollkommenen Konkurrenz geht von freien Tauschverhältnissen aus. Wenn genügend Anbieter und Nachfrager vorhanden sind, sorgt die „atomistische“ Konkurrenz dafür, dass die Preise auf ein Niveau gedrückt werden, das die einzelnen Marktteilnehmer nicht mehr beeinflussen können, da sie ansonsten ihre Kosten nicht mehr decken könnten und aus dem Markt ausscheiden müssten. Die Preise diktiert nun der Markt und die Marktteilnehmer werden zu sog. Mengenanpassern. Sie sind nur mehr in der Lage, ihre Nachfrage bzw. ihr Angebot an die vorgegebenen Preise anzupassen.8 Das theoretische Konstrukt der „atomistischen“ Konkurrenz hat den Vorteil9, dass ein Konkurrenzgleichgewicht nachgewiesen werden kann, in dem die Bedingungen der Paretooptimalität gegeben sind. In diesem Gleichgewicht kann kein Marktteilnehmer mehr seinen Nutzen erhöhen ohne den eines anderen zu reduzieren. Aus ethischer Sicht zeigt dieses System allerdings ein paradoxes Ergebnis. Einerseits verlieren die Marktteilnehmer in der „atomistischen“ Konkurrenz ihre freien Wahlmöglichkeiten und müssen sich dem Preisdiktat des Marktes unterwerfen. Andererseits ist das System „machtlos“. Ökonomische Macht durch Ausnützen von Preis- oder Gewinnvorteilen ist automatisch ausgeschlossen. Das abstrakte Modell des „atomistischen“ Konkurrenzgleichgewichts beruht auf einer Reihe von Annahmen, die in der Realität nicht gegeben sind. Die Marktteilnehmer haben nicht vollständige Informationen über Preise, verfügbare Ressourcen, Anzahl der Marktteilnehmer, erwartete Kosten. Alle diese Informationsmängel führen dazu, dass eine „vollkommene“ Konkurrenzsituation in der Praxis nicht entstehen kann. Unternehmer können sehr wohl Preise beeinflussen und Gewinne machen. Sie müssen diese Strategien sogar verfolgen, wenn sie ihre Marktanteile halten bzw. erhöhen wollen. Allerdings sind sie dabei nicht völlig frei, sondern müssen auf andere Wettbewerber sowohl von gleichen Gütern als auch von Substitutionsgütern Rücksicht nehmen. Wenn es die Marktsituation erlaubt, können sie ihre Lage auch ausnützen und mit unlauteren Mitteln Machtpositionen zu Lasten anderer Wettbewerber aufbauen.

4

Die Systemmängel der Marktwirtschaft

4.1

Unmöglichkeit der individuellen Leistungszurechnung

Marktwirtschaften stellen interaktive Abstimmungsprozesse einer Vielzahl von Marktteilnehmern im Wettbewerb dar. Die Ergebnisse dieser Prozesse sind grundsätzlich unsicher und nur schwer vorhersehbar. Gesamtwirtschaftlich lassen sie sich nur sehr beschränkt den individuellen Entscheidungsträgern zurechnen. Investitionen werden in der Regel getätigt, wenn positive Rückflüsse und Gewinne erwartet werden. Im Falle eines Verlustes kann dieser zwar 7 8 9

Vgl. Koslowski, Über Notwendigkeit und Möglichkeit einer Wirtschaftsethik (1994), S. 160. Vgl. Berger/Nutzinger, Zum Verhältnis von „Macht“ und „ökonomischem Gesetz“ (2008), S. 31. Vgl. Berger/Nutzinger, Zum Verhältnis von „Macht“ und „ökonomischem Gesetz“ (2008), S. 33.

Wirtschaftsethik im Spannungsfeld von Freiheit, Effizienz und Gerechtigkeit

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auf eine individuelle Fehlplanung zurückgeführt werden. Es kann aber auch sein, dass unvorhersehbare Änderungen der Marktsituation aus konjunkturellen Gründen, aus Gründen unlauterer Wettbewerbsmanipulationen oder als Folge der Veränderung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen zu einem Scheitern des Investitionsprojektes beigetragen haben. Wem sind nun die wirtschaftlichen Folgen des gescheiterten Projektes zuzurechnen? Wer trägt die ethische Verantwortung, dass ein Unternehmen zahlungsunfähig wird und Arbeitsplätze verloren gehen? In der Finanzkrise der Jahre 2008 bis 2010 wurde in der öffentlichen Diskussion allseits die Frage gestellt, wem die Schuld an der Krise zuzuschreiben war. Waren es die absichtlichen oder unabsichtlichen Fehleinschätzungen der Ratingagenturen, die Spekulationen der gewinnsüchtigen Banken, die expansive Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank oder letztlich die überschuldeten amerikanischen „Häuselbauer“, die die Krise verursacht haben? Ex post ist eine klare Zurechnung der individuellen Verantwortungen und Haftungen nicht (mehr) möglich. Daher bedarf es in einer Marktwirtschaft ex ante einer übergeordneten Rahmenordnung und Kontrolle, die das Risiko für das Entstehen solcher Krisen von vorneherein vermindern und das (Finanz)System gesamtwirtschaftlich funktionsfähiger halten.10

4.2

Ausbeutung durch Monopole

Die reale Wirtschaftswelt ist eine Mischung aus Konkurrenz- und Monopolelementen.11 Unternehmer neigen dazu, ihre Gewinne oder Marktanteile durch Einschränkung oder Beseitigung des Wettbewerbs zu erhöhen. Ein monopolistischer Marktvorsprung kann wettbewerbsfördernd sein, wenn er Konkurrenten auf den Plan ruft, die innovative Produkte auf den Markt bringen und die übermäßigen Gewinne des Monopolisten wieder zurückführen. Monopole werden dann zu einem wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Problem, wenn es ihnen gelingt, den Wettbewerb zur Gänze auszuschalten und eine diktatorische Position der einseitigen Preisfestsetzung einzunehmen. Solche Machtmonopole sind ein Fremdkörper in der Marktwirtschaft. Indem sie die Angebotsbedingungen diktieren, schränken sie die Wahlmöglichkeiten der übrigen Marktteilnehmer ein. Mit einer Verschlechterung der Qualität und überhöhten Preisen beuten sie ihre Abnehmer aus. Um den höchstmöglichen Preis zu erzielen, werden sie auch die Angebotsmenge reduzieren, so dass die Abnehmer zusätzlich einen Versorgungsverlust hinnehmen müssen. Monopole, die sich in der Wirtschaft verfestigen, können darüber hinaus gesellschaftliche Macht entfalten und Einfluss auf die Politik nehmen. Aus den dargelegten Gründen stellen der Schutz und die Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs vorrangige Aufgaben der staatlichen Wettbewerbspolitik dar. Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb, gegen wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen (Kartellbildungen) und gegen monopolistische Marktmacht gehören zu den „Grundgesetzen“ eines marktwirtschaftlichen Systems. Bei den gesetzlichen und administrativen Interventionen des Staates ist allerdings darauf zu achten, dass sie nicht zu einer Überregulierung des Marktes führen, die die Leistungskraft der Marktteilnehmer einschränkt statt fördert. Ziel muss stets die Setzung von Rahmenbedingungen zur Sicherung eines freien Wettbewerbs sein und nicht eine staatliche „Wettbewerbsbewirtschaftung“. 10 11

Vgl. Homann, Ethik und Ökonomik (1995), S. 184. Vgl. Samuelson/Nordhaus, Volkswirtschaftslehre (1987), S. 95.

436

4.3

Christian Smekal

Zerstörungen der Umwelt

Mit dem Bericht des „Club of Rome“ aus dem Jahre 1972 sind die Fragen der Begrenztheit der auf der Welt zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Bedingungen für ein nachhaltiges Überleben der Menschheit auf die Tagesordnung der politischen und wissenschaftlichen Diskussion gekommen.12 Angesichts der sich beschleunigenden weltweiten Bevölkerungszunahme rücken Fehlsteuerungen durch Ressourcenverschwendung und durch Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in den Vordergrund ökonomischer Überlegungen. Dem marktwirtschaftlichen System wird vorgeworfen, dass Unternehmer bzw. Unternehmen im Wettbewerb oft kurzfristige Eigennutzinteressen verfolgen, die zu umweltschädlichen Wirkungen führen. Umweltschädigungen durch Luft- und Wasserverschmutzungen, durch Übernutzungen landwirtschaftlicher Böden oder Vernichtung ökologisch wichtiger Waldbestände werfen ein zentrales ökonomisches Problem auf, das wir als „Gefangenendilemma“ bezeichnen. Wir können davon ausgehen, dass alle Menschen ein Interesse haben, in einer gesunden Umwelt zu leben. Ein umweltgerechtes Verhalten lohnt sich für den Einzelnen aber nur, wenn dies auch alle anderen tun. Andernfalls ist es vorteilhafter, sich ebenfalls nicht umweltgerecht zu verhalten. Um umweltgerechtes Verhalten zu erreichen, sind daher allgemeine Regeln und Sanktionen erforderlich.13 Es gilt Instrumente zu entwickeln, die einerseits den vielfältigen Anwendungsbereichen gerecht werden und andererseits die wirtschaftliche Entwicklung möglichst wenig beeinträchtigen. In Marktwirtschaften ist es nicht sinnvoll, ausschließlich Gebote bzw. Verbote vorzuschreiben. Durch marktkonforme Maßnahmen, wie Steuer- oder Zertifikatslösungen lassen sich Marktverzerrungen, die durch administrative Eingriffe in den Marktprozess entstehen, vermeiden ohne dass die angestrebten Ziele beeinträchtigt werden. Die kollektive bzw. staatliche Verantwortung für die Steuerung der Umweltpolitik wird in der wissenschaftlichen Literatur mit Marktversagen begründet: der Markt „funktioniere“ nicht, weil es im Wettbewerb für Einzelne keine Anreize gibt, sich umweltgerecht zu verhalten. Dagegen kann eingewendet werden, dass gesunde und nachhaltige Umweltbedingungen nicht private, sondern kollektive „Güter“ darstellen, die unteilbar und grundsätzlich nicht handelbar sind. Es erhebt sich daher die Frage, ob es der Markt ist, der „versagt“ oder ob er vielmehr gar „nicht zuständig“ ist, diese lebensnotwendigen Güter bereit zu stellen. Demnach muss der Staat die Zuständigkeit und Verantwortung für die Umweltpolitik wahrnehmen. Angesichts der fortschreitenden Schädigungen und Zerstörungen der Umwelt erscheint es angebracht, auch von einem „Staatsversagen“ zu sprechen. Dieses Staatsversagen wird heute besonders deutlich, wenn international und weltweit kaum Fortschritte erzielt werden, Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zu vereinbaren. Da die Zerstörung der Umwelt nicht vor staatlichen Grenzen halt macht, wird eine globale Umweltpolitik immer dringlicher.

4.4

Ökonomische Ungleichheit und Gerechtigkeit

Die ökonomische Gerechtigkeitsdiskussion wird häufig unter dem Aspekt der Gegensätzlichkeit von Effizienz und Gerechtigkeit geführt. Das marktwirtschaftliche Wettbewerbssystem sei auf Effizienz ausgerichtet. Der Leistungswettbewerb führe zu Wachstums- und Ein12 13

Vgl. Meadows/Meadows/Randers/Behrens III, The Limits to Growth (1971), o. S. Vgl. Smekal, Globale Verantwortung – weltwirtschaftliche Gerechtigkeit (2000), S. 109.

Wirtschaftsethik im Spannungsfeld von Freiheit, Effizienz und Gerechtigkeit

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kommenssteigerungen, die ihrerseits die Grundlage für soziale Umverteilungsmaßnahmen bilden. So gesehen sei wirtschaftliche Effizienz per se eine Kategorie, die Gerechtigkeit erst ermögliche.14 Es sei daher vorteilhaft, Marktprozesse möglichst wenig durch Eingriffe zum Zwecke der Umverteilung zu stören. Diese vorzugsweise Einschätzung von Effizienz gegenüber Gerechtigkeit übersieht zweierlei. Zum einen ist es unbestreitbar, dass ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen Effizienz und Gerechtigkeit besteht. Die Anhebung von Einkommen der unteren Einkommensschichten kann durchaus positive Effekte auf die Konsumnachfrage und auf individuelle Leistungsmotivationen auslösen. Staatliche Sozialversicherungssysteme können sowohl die Sparneigung wie auch die Risikobereitschaft der Individuen erhöhen. In beiden Fällen wird die Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems gestärkt. Zum anderen ist auch in der Gerechtigkeitsdiskussion das Problem der Zurechnung von Leistungen und Verantwortungen zu berücksichtigen. Wem gehören die im Marktprozess entstandenen Einkommen und Gewinne? Aus rechtlicher Sicht ist diese Frage klar zu beantworten. Aus sozialethischer Sicht mag hinterfragt werden, wie diese Einkommen und Gewinne entstanden sind. Wenn die Höhe der Gewinne in einer Marktwirtschaft einerseits auf eine Vielzahl von Einflussfaktoren zurückgeführt werden kann und andererseits die Verteilung dieser Gewinne stark streut, ist es aus sozialethischer Sicht legitim, die Frage zu stellen, inwieweit ausgleichende Korrekturen vorgenommen werden sollen oder sogar müssen. Der Begriff Sozialstaat ist tautologisch. Staatlichkeit stellt per se eine soziale Kategorie dar. Menschen schließen sich zu staatlichen Gemeinschaften zusammen, weil sie Schutz und Sicherheit brauchen und weil sie an einer gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten in der Gemeinschaft interessiert sind. Dies impliziert auch die Teilhabe an der allgemeinen Wohlfahrt. Für diese Leistungen sind sie auch bereit, einen Teil ihrer individuellen Freiheit aufzugeben. Aus ökonomischer Sicht greift es daher zu kurz, den Sozialstaat nur als Umverteilungsstaat zu sehen. Der moderne Staat ist ein Wohlfahrtsstaat mit den beiden Aufgaben, einerseits durch die Setzung geeigneter Rahmenbedingungen den effizienten Ablauf der Wirtschaft zu ermöglichen und zu fördern, und andererseits starke wirtschaftliche Ungleichheiten durch Umverteilungsmaßnahmen zu verringern. In den politischen Auseinandersetzungen des modernen Parteienstaates werden diese Aufgaben immer wieder gegeneinander ausgespielt. Dies ändert aber nichts an der politischen Verantwortung und Herausforderung, zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit eine allgemein akzeptierte Balance herbeizuführen. Ein Ungleichgewicht in die eine oder andere Richtung würde zwingend zu Lasten der Gesamtwohlfahrt gehen.

5

Sozialethische Herausforderungen der Globalisierung

Im Mittelpunkt der Globalisierungsdebatte stehen die Probleme der ökonomischen Globalisierung. Die Märkte sind global geworden. Aus wirtschaftlichen Gründen können die einzelnen Volkswirtschaften nicht auf die Teilnahme am internationalen Wettbewerb verzichten. Eine Beschränkung auf den jeweils nationalen Markt wäre unweigerlich mit erheblichen Wohlstandseinbußen verbunden. Wachstum und Beschäftigung einer Volkswirtschaft hängen in erster Linie von ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten ab. Die Ver14

Vgl. Genosko, Gerechtigkeit – horizontal, vertikal, intergenerational (2004), S. 45 ff.

438

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flechtung der Märkte bringt es auch mit sich, dass Wanderungen des Kapitals und von Arbeitskräften ohne Rücksicht auf nationale Grenzen nach jeweils günstigen Produktionsund Einkommensbedingungen stattfinden. Die Integration der Märkte im Zuge der Globalisierung hat zwar spürbare Wachstums- und Beschäftigungserfolge für die teilnehmenden Staaten gebracht. Gleichzeitig ist aber eine Reihe schwerwiegender Probleme entstanden. Unterschiedliche nationale Gesetze in den Bereichen des Wettbewerbs, der Steuer- und Sozialsysteme, des Umweltschutzes, der Arbeitsmärkte und des Gesundheitswesens führen zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen und für die einzelnen Wirtschaftstreibenden zu hohen Transaktionskosten. Auf offenen Märkten sehen sich die Wirtschaftstreibenden gedrängt, diesen Problemen durch Konsum- und Produktionsverlagerungen zu begegnen, wodurch die Relevanz nationaler Gesetze tendenziell abnimmt. Die wechselseitige Verflechtung der einzelnen Volkswirtschaften wird dadurch immer größer, was auch dazu führt, dass Maßnahmen einzelstaatlicher Wirtschaftspolitiken an Wirksamkeit verlieren.15 Die Globalisierung hat zu einer supranationalen Ordnungslücke geführt. Nicht nur die unterschiedlichen nationalen Gesetzgebungen und Wirtschaftspolitiken verlangen nach vermehrter Koordination. Die wachsenden Herausforderungen der Menschheit, die Bewältigung von Migrationen, die Armutsbekämpfung, die atomare Sicherheit, die nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung und der Umweltschutz bedürfen dauerhafter internationaler Kooperationen und Abstimmungen. Zahlreiche internationale Organisationen und einzelne Staaten versuchen zwar im Rahmen von Verträgen Vereinbarungen über eine Zusammenarbeit herbeizuführen. Das Zustandekommen solcher Verträge geht jedoch meist schleppend vor sich und ist mit hohen Kosten der Kontrolle sowie Unsicherheiten der Durchführung verbunden. Der mühsame Weg der Europäischen Union, zu gemeinsamen Entscheidungsstrukturen zu gelangen, mag dafür als Beispiel dienen. Immer wieder wird auch die Schaffung einer Weltregierung vorgeschlagen.16 Eine Weltregierung der Vereinten Nationen, die alle jene Probleme löst, die bisher in der Kompetenz der Nationalstaaten waren, dürfte noch lange Zeit eine Utopie bleiben. Es gibt kaum einen Staat auf der Welt, der sich einer Weltregierung unterwerfen würde. Trotzdem ist es ein ethisches Gebot, im Interesse einer friedlichen und solidarischen Entwicklung der Menschheit, unermüdlich und beharrlich am Aufbau einer übernationalen Ordnung zu arbeiten. Die nationalstaatlichen Entscheidungsträger und Entscheidungsstrukturen sind weltweit zu unterschiedlich, um rasche und perfekte Fortschritte erwarten zu können. Nationale Regierungen befinden sich im Dilemma, dass sie einerseits den Interessen ihrer Wähler verpflichtet sind, andererseits aber die ethische Verantwortung haben, ihrer jeweiligen Bevölkerung die Welt bedrohenden Gefährdungen vor Augen zu führen, denen sich letztlich auch noch so kleine Nationalstaaten nicht entziehen können. Die Einsicht, dass die Vorteile einer übernationalen Zusammenarbeit auf Dauer größer sind als das Verharren auf nationalen Gewohnheitspositionen, in Verbindung mit dem immer stärker werdenden Problemdruck des die Welt bedrohenden Zerstörungspotentials, sollten Anlass zur Hoffnung geben, dass es gelingt, eine internationale Ordnung unserer Welt in die Wege zu leiten.

15 16

Vgl. Hesse, Globalisierung (1993), S. 402 ff. Vgl. Benedikt XVI, Enzyklika Caritas in Veritate (2009), Zf. 67.

Wirtschaftsethik im Spannungsfeld von Freiheit, Effizienz und Gerechtigkeit

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Literatur Benedikt XVI.: Enzyklika Caritas in Veritate, Rom 2009. Berger, J./Nutzinger, H.: Zum Verhältnis von „Macht“ und „ökonomischen Gesetz“, in: Grötzinger, G./Matiaske, W./Nutzinger, H./Panther, St./Weise, P. (Hrsg.): Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 21: Macht oder ökonomisches Gesetz?, Marburg 2008, S. 7–60. Genosko, J.: Gerechtigkeit – horizontal, vertikal, intergenerational, in: Görres Gesellschaft (Hrsg.): Jahresbericht 2004, Bonn 2004, S. 45–66. Hesse, H.: Globalisierung, in: Enderle, G./Homann, K./Honecker, M. (Hrsg.): Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, S. 202–410. Höffner, J.: Wettbewerb und Ethik, in: Neuorientierung des Wettbewerbsschutzes, FIW Schriftenreihe, 120 (1986), S. 107–118. Homann, K.: Ethik und Ökonomik, in: Kappler, E./Scheytt, T. (Hrsg.): Unternehmensführung – Wirtschaftsethik – Gesellschaftliche Evolution, Gütersloh 1995, S. 177–200. Honecker, M.: Ethik, in: Enderle, G./Homann, K./Honecker, M. (Hrsg.): Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, S. 249–259. Knoepffler, H.: Angewandte Ethik, Köln 2010. Koslowski, P.: Über Notwendigkeit und Möglichkeit einer Wirtschaftsethik, in: Koslowski, P. (Hrsg.): Die Ordnung der Wirtschaft, Tübingen 1994, S. 157–169. Meadows, D. H./Meadows, D. L./Randers, J./Behrens III, W. W.: The Limits to Growth, A Report to the Club of Rome, New York 1972. Samuelson, P./Nordhaus, W. D.: Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 8. Aufl., Köln 1987. Schulmeister, P.: Der „arabische Frühling“ – eine Lektion in Sachen Freiheit, in: Die Presse, Ausgabe vom 30.05.2011, Wien, S. 26. Smekal, C.: Globale Verantwortung – weltweite Gerechtigkeit, in: Schmidinger, H. (Hrsg.): Gerechtigkeit heute, Innsbruck/Wien 2000, S. 107–127. Thielemann, U.: Freiheit unter den Bedingungen des Marktes, in: Schmidinger, H./Sedmak, C. (Hrsg.): Der Mensch – ein freies Wesen?, Darmstadt 2005, S. 261–287.

Aufklärung als Prozess

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Michael Fischer

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Gewalt und Monopol

Bekannt ist die Behauptung von der Aufklärung des Mythos und vom Mythos der Aufklärung. Aber sind Mythos, Vernunft und Aufklärung überhaupt Gegensätze? Der Mythos leistet die Benennung des uranfänglichen Entsetzens, „Entängstigung“ und den Abbau des schwer lebbaren Absolutismus der Wirklichkeit: also Aufklärung. Die alten Mythen erzählen, dass anfangs die Gewalt eine ordnungsstiftende Tat war. Sie erzählen von Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat und dem strikten Beharren Gottes auf seinem Gewaltmonopol, sie erzählen von Prometheus kulturstiftender Freveltat, sie erzählen von Antigone und Kreon. Kreon erzwingt sein Gewaltmonopol, die Gesetzgebungskompetenz in der Polis gegenüber Antigone. In diesem Konflikt wird deutlich, dass der höchste Wert der Polis, Recht bzw. Gerechtigkeit (Dike), dem Ursprung nach sehr schillernd, unfasslich, bedrohlich sein kann. Die fundamentale kulturelle Bedeutung des Rechtsdiskurses veranschaulicht, dass die Differenz zwischen Mensch und Tier zunächst weniger durch den Besitz der Vernunft definiert wurde als durch das Merkmal der Vertragsfähigkeit. Diese setzt freien Willen voraus und dessen Verwirklichung wiederum einen institutionellen Rahmen. Von den Tieren unterscheiden sich die Menschen, weil sie ihre Existenz nach Vereinbarungen und gültigen Nomoi ausrichten. Durch das Rechtsdenken fügt sich das rationale Denken zur politischen Vernunft als Maßstab und Paradigma künftiger Entwicklung.

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Tragödie und Rechtsdiskurs

Die tiefe Verunsicherung, die von der Tragödie ausging, bestand darin, dass mit der Zweifelsfreiheit des menschlichen Rechts die Ratio selbst einer kritischen Befragung unterzogen wurde. Die griechische Tragödie behandelte die Beurteilung von Taten und die Frage nach der legitimen (gerechten) Ordnung sowie dem Einsatz der Macht vor einem Publikum, das in diesen Angelegenheiten äußerst kompetent war. Die Durchdringung des alltäglichen Lebens mit Politik, wie die Vergabe öffentlicher Ämter durch Los, versetzte das Tragödienpublikum in die Lage, selbst als Archon, Richter, Verwaltungsbeamter oder Redner in der politischen Versammlung die agonale Realität der Bühne zu erleben. Das Publikum des Theaters trat in 1

Der folgende Beitrag ist eine veränderte und gekürzte Fassung des im ARSP Beiheft Nr. 115 erschienenen Beitrags „Neuzeit als Aufklärungsprozess“.

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Michael Fischer

der Agora als Volksversammlung zusammen. Die Tragödie ist der anschwellende „Bocksgesang“ der ethischen Begründung des Rechts. Und die Renaissance ist ja zunächst dies: die Wiedergeburt der Antike!

3

Maßstab und Konflikt

„Politisch“ bedeutet seit der Antike das, was (von der Sprache bis zu Gesetzen, Werten, Rechten und Pflichten) ein Maß, eine Spielregel abgibt, welche Gemeinsamkeit stiftet. „Politisch“ ist ein Regelfeld für die Stabilisierung, für Erwartungshaltungen und damit für potenziellen Konsens. Die Ausnahme hingegen, die Unterbrechung des Regelhaften, verdeutlicht die Fragwürdigkeit der Regel, der Norm in ihrer durch die Fortdauer oft vergessenen Pragmatik. Man denke bloß an die Gnade im Verhältnis zum Gesetz, an die Bacchanalien in der Differenz zum Alltag. Jedes gesetzte Regelfeld steht unausweichlich im (virtuellen) Konflikt mit anderen Regelfeldern. Denn die politische Regel wurde irgendwann einmal agonal etabliert gegen eine andere. Ihre Rechtlichkeit verweist auf Akte der Institutionalisierung des Rechts, die ihrerseits als Setzungsakte nicht Recht gewesen sein können. Daher besteht die Tendenz, das Agonale und Konfliktträchtige hinter der geronnenen Fassade von Rechtsverhältnissen nicht mehr zu registrieren. Andererseits wohnt der Konflikt dem Recht auch systematisch inne. Das Politische, dessen Grundkategorie von Carl Schmitt als die Unterscheidung von Freund und Feind bestimmt worden ist, behält in der fest gewordenen Rechtsgestalt einen agonalen Charakter, der freilich zunehmend unsichtbarer, gestaltloser, ungreifbarer wird. Seit der Trennung von Natur und Gesetz im Denken der Sophisten wurde es möglich, Freiheit auf die „Natur“ zu beziehen, von der Polis abzulösen und ihr entgegenzusetzen. In der Folge wurde Freiheit als „innere Freiheit“ des Einzelnen zum Inbegriff seiner Lebensweise, die unabhängig von Recht und Politik demjenigen erreichbar ist, der im Einklang mit der Natur am Logos teilhat. Mit der Aporie von „innerer“ und äußerer“ Freiheit zeigt sich bereits die wirkungsgeschichtlich erhebliche Spannung in der Entwicklung des Freiheitsbegriffs.

4

Antizipation und Kulturentwicklung

Auch prägt die Antike die dynamische Behauptung, dass die Menschen „suchend das Bessere finden“ können. Diese These formulierte der Rhetor und Fürstenberater Isokrates (436–338), der Aristoteles politische Konzeption stark beeinflusste. „Suchend das Bessere finden“ war sein Imperativ und das heißt: Die Zukunft, der nächste Tag sind nicht etwas, das ohne Zutun des Menschen auf ihn zukäme. Vielmehr ist Zukunft etwas, das durch sein Wissen, Können, durch seine Hoffnungen und Befürchtungen entstehen wird. Domestikation der Natur, das heißt, Kultivierung, wird zur Daueraufgabe des Menschen. Fragend eindringen in die Welt, Analyse, Deutung und Umdeutung, Argumentation und Antizipation werden zu Generatoren des Erfolgs. Dies ist der Kernpunkt der abendländisch-europäischen Kulturentwicklung, aber auch der Fokus für den Integrationsprozess anderer Kulturen, der in der Antike beginnt. Kultur versorgt die Menschen mit Bedeutsamkeit, das heißt, den Standards der Wertorientierung. Diese befähigen den Menschen, über sich selbst nachzudenken und neue Sinngehalte zu suchen. Kultur heißt zunächst Zivilisationsprozess.

Aufklärung als Prozess

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Freilich sind zwei Kulturbegriffe auseinander zu halten: Der eine bindet Kultur an einen bestimmten Raum: Der Begriff geht von der Annahme aus, Kultur sei das Ergebnis hauptsächlich lokaler Lernprozesse. In diesem Sinne besitzt eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe eine je „eigene“, gegen andere abgegrenzte Kultur. In dieses kulturelle Selbstverständnis wird eine Vielzahl von spezifischen, exklusiven Selbstbeschreibungen eingebaut, durch die die Unterscheidung einer Kultur in den Augen ihrer Mitglieder von anderen Kulturen zu sichern ist. Ein weitreichender Kulturbegriff betrachtet Kultur als allgemeine menschliche „Software“, als „Zivilisation“. Er setzt Kulturen im Plural voraus, und diese beiden Begriffe sind daher inklusive Unterscheidungen. Werte funktionieren dabei als Regulatoren, sie verhindern, dass sich bestimmte gesellschaftliche Konflikte zerstörend zuspitzen. Sie sind kulturelle Anpassungsleistungen, die den permanenten Ausnahmezustand, den Bürgerkrieg verhindern helfen. Sie funktionieren als „Gleichrichter“, mit dem die jeweilige Gesellschaft (Gemeinschaft) auf bestimmte Grundbegriffe „gepolt“ wird. Wer Werte lediglich moralisch interpretiert, verkennt ihren wahren Kern als gesellschaftliches Regelsystem.

5

Animale civilis – Homo bestialis

Die Renaissance war ein mächtiger Schritt bei der Globalisierung der abendländischeuropäischen Kultur. Sie stellte den Menschen als Herrscher seines Daseins in den Mittelpunkt, fragte nach der humanen Funktion des Rechts. „Aristotile dice, ‚l’uomo è aminale civile“, sagt Dante und verweist (lateinisch) auf die zivilisierende Funktion der artes liberales (als Kulturgeneratoren), wenn er sagt, dass Orpheus „homines bestiales et solitarios reduceret ad civilitatem“. Aus der Unterscheidung zwischen dem vorpolitischen und dem politischrechtlich geordneten Leben entstand eine bis heute bedeutsame Differenzierung: Die bestialischen oder barbarischen Menschen sind immer schon von der civilitatis und ihrem Recht ausgeschlossen. Bereits hier verfestigen sich Inklusions- und Exklusionsmodelle jenseits der religiösen Argumentation. Wo es Unterschiede gibt, kann man defensiv oder offensiv mit dem Willen zur Selbstbehauptung oder der Überwältigung des anderen darauf reagieren. Dieser Unterschied hat eine rigorose Aufteilung der Welt zur Folge: Die Innenverhältnisse stehen unter dem moralischen Gesetz, für den Kampf gegen außen gelten andere Regeln. Es gibt kein moralisches Universum, sondern nur Inseln von Moralität in einem Ozean wilder Selbstbehauptungs- und Eroberungskämpfe. Hier der Bund, das Reich, das Gesetz, dort draußen die Wildnis, die Regellosigkeit, die Fremde, die Barbaren. Die Welt des politischen Denkens hat eine Grenze, von der her sie ihren begrenzten, durchaus nichtuniversellen Sinn empfängt. Man hat sich angewöhnt, nach der „Begründung“ von Moral und Recht zu fragen. Doch empirisch gesehen, beruhen beide weniger auf einem „Grund“, sondern eher auf einer Grenzziehung, die es gegen die Fremden, gegen die anderen zu behaupten oder auszuweiten gilt.

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Jurisprudenz als vera philosophia

Die Renaissance-Anthropologie dagegen definierte den Menschen als Entwicklungsprojekt rationaler Systeme. Dabei ist der Mensch nicht nur er selbst, sondern auch das, was ihn überdauert, seine Artefakte, seine Denk- und Kunstwerke, seine Institutionen. Er selbst ist das

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Echo seiner Kulturgeschichte. In Pico della Mirandolas Schrift „De dignitate hominum“ hat der Mensch die Aufgabe, sich selbst zu schaffen und als ein Projekt zu begreifen, das in seinen Händen liegt (Marsilius Ficino, Leonardo da Vinci). Es gab eine erbittert geführte Diskussion über Funktionalität und Humanrelevanz der Wissenschaften. Der Petrarca-Schüler Coluccio Salutati sieht primo loco die Rechtswissenschaften. Leonardo Bruni und Poggio Bracciolini geben wegen der willkürlichen Gesetzgebung der Medizin den Vorrang, ähnlich wie später Hermann Julius von Kirchmann in seiner Arbeit „Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ (1847). Salutati, bis zu seinem Tode 1406 Kanzler der Signora in Florenz, repliziert: 1. Die Entstehung und Kontinuität der bürgerlichen Ordnung ist ein Produkt der Gesetzgebung. 2. Die Poetik liefert den Kontext von „civilitas“ und Vernunft als sinnvolle Organisation der Emotionen in den menschlichen Beziehungen und Intimitäten. Die Selbstsicherheit der Rechtswissenschaften lässt sich nicht erschüttern und Paulus de Castro versichert: „Haec scientia est vera philosophia, et non simulata, et nobilior omni alia, postquam tendit ad faciendum homines bonos … aliae vero scientiae ad hoc non tendunt: ideo non attingunt dignitatem istius.“ („Diese Wissenschaft ist wahre Philosophie, und zwar keine scheinbare und vornehmer als jede andere, da sie darauf abzielt, die Menschen besser zu machen … andere Wissenschaften zielen nicht darauf ab: daher erreichen sie nie die Würde dieser.“)

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Wissenschaft und Verheißung

Die alten metaphysischen Koordinaten des Rechts waren baufällig geworden. Bisher galt jede Wissenschaft – auch die Jurisprudenz – als „Weg zu Gott“. Die wissenschaftliche Revolution, verbunden mit Namen wie Galileo Galilei, Johannes Keppler, Giordano Bruno, Francis Bacon, Isaak Newton und René Descartes, markiert einen radikalen Wechsel des Legitimationsprinzips. Mit ihr ging das Monopol, gültige Ordnungen zu beglaubigen, auf die Wissenschaft über. Diese hatte ihren Siegeszug mit der Verheißung begonnen, die wahre Ordnung der Dinge in Natur, Religion, Recht, Politik, Gesellschaft, Moral und Kultur bloßzulegen und säkularisierte damit die Vorstellung eines göttlichen „Heilsplanes“. Schließlich trat auch die Gesellschaft als regulatives Prinzip auf. Im Blick auf die Gesellschaft, sei es auf ihre künftige rationale Organisation, sei es auf die funktionalen Erfordernisse ihres Bestandes, kann man Rechtsregeln entwerfen, seine Praxis ordnen und die vorhandenen Mittel konzentrieren und koordinieren: Zukunft als kulturelles Experiment, als Wagnis des Denkens von einer materiell gerechten Welt und einem besseren Menschen, den es (durch das Recht?) zu schaffen gilt. Schwierig an der Konstruktion ist der Anspruch auf den Besitz absoluter Richtigkeit. Vermeintliche (situativ abhängige) Wahrheit verfestigt sich zum Zwangsbetrieb. Das wahrhaft Richtige braucht ja nicht mehr verändert werden. Wenn das Endziel irreversibel feststeht, ist keine Änderung mehr möglich. Die Praxis der Utopie beruht daher häufig auf Propaganda, Unterdrückung der Kritik, Ausmerzung des Widerstandes. Die utopische Vernunft setzt eine Berechenbarkeit des Menschen voraus, er muss kalkulierbar, „mathematisierbar“ sein, sonst funktioniert das Experiment nicht. Diesbezüglich verlässt man sich ganz auf die Naturwissenschaften und ihre Methoden: Der Zweifel an der Wahrheit wird durch die Wissenschaftlichkeit des Verfahrens und die Qualität des damit gewonnenen Wissens kompensiert. Ist man sich der Unverbrüchlichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts gewiss, erwartet man von seiner instrumentellen Anwendung die

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endgültige Herrschaft über die Natur. Das Ende der Knappheit der Mittel und das Recht fügen die Perfektion des Menschen.

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Die Stunde der Philosophen

In den Wirrnissen des Dreißigjährigen Krieges gelang es weder theologischer Argumentation noch ihrer Radikalisierung durch bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, Frieden und Sicherheit in Europa herzustellen. Wo selbst politische Macht und militärische Gewalt versagen, sind neue und effiziente Konstruktionen gefordert. Die Rechtsphilosophen bekamen ihre historische Chance. Wie lässt sich mittels der Vernunft eine souverän-übergeordnete Instanz küren? Diese muss unabhängig von allem theologischen Zwist den Konfessionen gegenüber neutral sein, aber auch effizient und mächtig genug, um mit harter Durchsetzung des Gewaltmonopols die Gewalt zwischen Untertanen zu unterbinden bzw. zu bestrafen. Diese Instanz wird der moderne Staat mit seiner Souveränität, begründet durch normative Rationalität. Aber das war vorbereitet von den Meisterdenkern wie Bruno, Bacon, Descartes und vielen anderen. Doch vermarktet und organisiert sich dieses Denken effizient erst im 18. Jahrhundert, wo seine politischen Konsequenzen umgesetzt wurden. Hobbes entwickelte sein normativ-rationales System mit einer strikt an den Souverän gebundenen voluntaristisch-absolutistischen Lehre vom Gesetz. Den Erfahrungshintergrund bildeten die gefährlichen Spannungen zwischen König und Parlament, bei denen es hauptsächlich um das Verhältnis der Konfessionen untereinander ging. Als dann 1642 der konfessionelle Bürgerkrieg ausbricht, der zunächst zur Niederlage und zum Tod des Königs führt, sieht Hobbes sich in seiner Vision vom staatsfreien Zustand als eines Krieges aller gegen alle bestätigt. („Leviathan“!) Angesichts der Unfähigkeit von Theologie und Moral den Frieden zu erhalten oder wieder herzustellen, bedarf es einer neuen und funktionalen Rationalität, um den zerstörerischen, Menschen vernichtenden, inneren Kriegszustand zu beenden. Dies wird Aufgabe für den den abstrakten Staat regierenden Souverän, der aufgrund seines Gewaltmonopols die ständischen und religionspolitischen Differenzen pazifiziert. Ziel ist die Schaffung eines sicheren Lebensraums für die Menschen mit seinen kleinen Freuden durch den starken Staat. Nur so gibt es nach Hobbes eine effektive, rationale Sicherung gegen die Übergriffe rivalisierender Konfessionen, die die Angelegenheiten des forum internum (des individuellen Gewissens) mit Verfahren des forum externum (wie etwa Zwang und Gewalt) zu regeln trachten. Das „dictatem rationis“ ist das Selbsterhaltungsgebot. Der Staat mit dem Souverän als Akteur ist die Institution, die diese Konstruktion der Ratio umsetzen und realisieren kann.

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Machiavellis Skepsis

Aber Nicolò Machiavelli hatte auf diesem Weg in die Aufklärung gezeigt, dass eine realistische (empirische) Sichtweise eine Relativierung selbst der schönsten Rechtskonstruktionen mit sich bringt. Wer die Gewalt hat, hat die Macht und ist stets im Recht und besitzt das Interpretationsmonopol der Moral. So werden immer wieder die tiefsten philosophischen Gedanken, die großen ethischen Systeme, die Wünsche, gut zu sein als irrlichternde Phantome zerstört. Shakespeare zeigt dies auf der Bühne so deutlich. Der Kern der Macht ist die

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bloß nach außen hin ritualisierte und tabuisierte Gewalt. Wer über die Macht verfügt, hat auch das Recht, selbst das der Begnadigung. Das Gewaltmonopol ermöglicht den gefahrlosen Machtverzicht, die Begradigung der Gewalt, die dann das Non-Plus-Ultra der Legitimation ist. Mozarts „La clemenza di Tito“ und die „clemenza“ anderer Potentaten sind nicht von ungefähr ein Lieblingsthema der Fürstenspiegel und der Barockoper. Durch Machiavelli schärft sich der Blick, Recht und Politik als Wirklichkeitswissenschaft zu betrachten. Also verkündet der Rechtsrealismus: „homo homini lupus“! (Hobbes).

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Normative Rationalität

Die Attraktivität der normativen Rationalität bestand darin, dass ihre Regeln die Welt in eine universale Ordnung brachte, die theoretische Zweifel und innere Spannungen ausschließen. Diese Überzeugung schaffte erst den Freiraum, in welchem die Menschen Vernunftsysteme nicht nur konstruieren, sondern auch politisch propagieren können. Man denke an die großen Konzeptionen von Descartes, Spinoza, Leibniz, Pufendorf und Wolff. Die Regeln der Ratio verbürgen nicht nur die Vernünftigkeit in der Natur, sondern in ihrer Vollkommenheit sind sie die Wesenseigenschaft Gottes selbst. Gott offenbart sich durch Methode! Christian Wolff ersetzt in seinem „Ius naturae: Methodo Scientifica Pertractatum“ (das in acht Bänden von 1740 bis 1748 erscheint) traditionale Sicherheiten durch eine neue: Durch die dogmatisch geltende Ordnung der „ungezweifelten Gewißheit“. Dieser methodischen, rationalistischen Vernunft ist jede Unregelmäßigkeit sowie alles Nichtrationale ein Skandal, eine Sünde wider den „methodologischen Gott“. Daher wollen Wolff und Pufendorf Rationalität im Sinne mathematischer Berechenbarkeit in die Rechtswissenschaft einführen. Rechtspolitischer Angriffspunkt wird die unkontrollierbare Macht des absolutistischen Fürsten. Diese könne nur akzeptiert werden, wenn sie allgemeingültigen Regeln unterworfen wird und „more geometrico“ dem „Gemeinwohl“ dient. Der Rationalismus wandelt sich zur Utopie der perfekten Rechtsordnung. Die französische und englische Neubildung „civilisation“ als Ausdruck für ein selbstbewusstes Weltverständnis wird im deutschen Sprachraum als Kultur bezeichnet, etwa von Leibnitz. Er versteht darunter die Pflege des Geistes (ésprit), der Moral, aber auch der Gesellschaftlichkeit und der Arbeit, wie später die Kameralisten betonen (etwa Heinrich Gottlieb von Justi). Der absolutistische Staat hat die primäre Verpflichtung, den allgemeinen Wohlstand materiell und kulturell (ideell) anzuheben. Thomasius, Christian Wolff und seine Schüler arbeiten an einer verweltlichten Universaljurisprudenz, einem „demonstrierenden“, historisch völlig invarianten System strikter Rationalität.

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Herrschaft als Selbstbestimmung

Rousseau hatte in seinem „Contract social“ (1762) eine Konzeption entwickelt, wo das Gesetz als der unmittelbare Ausdruck der gemeinsamen Willensübereinstimmung (volonté générale) der in der Kollektivperson des „corps politique“ vereinten „citoyens“ erscheint. Dieser materiell (und nicht numerisch) begründete Gesamtwille stützt sich auf eine gemeinwohlorientierte Staatsgesinnung, die als öffentliche Meinung vom Gesetzgeber hergestellt werden soll. Diese Sozialethik verwirklicht sich in der freien und öffentlichen Diskussion als das

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Vernünftige. Bei Rousseau erhält der Befehlscharakter des Gesetzes eine entscheidende Umdeutung, weil Herrschaft in Selbstbestimmung aufgelöst wird. Rousseau will die Eigenständigkeit des Bürgers nicht verstaatlichen, sondern ins Spiel der allgemeinen Gesetzesordnung bringen, die der Bürger zu seiner eigenen Sache macht. Rousseaus Vorschlag einer Zivilreligion hatte die Funktion, die Denunzierung der christlichen Konfessionen untereinander zu beenden, andererseits sollte sie eine Identifizierung der Bewohner nicht nur als Bürger, sondern auch als Menschen ermöglichen. Diese Rousseausche Konzeption wurde durch die deutsche Popularphilosophie eifrig rezipiert. Politisch engagierte Autoren mit „Zivilcourage“ begriffen sich als Avantgarde der „aufklärerischen Vernunft“ und versuchten in einer ersten Form von Wissenschaftsjournalismus, Aufklärung zu einem öffentlichen und politisch praktischen Anliegen zu machen (Franz Heinrich Ziegenhagen, Carl Wilhelm Frölich, Johann Bernhard Erhard, Christian Garve). Normative Rationalität soll den Menschen als Subjekt seiner Selbstbestimmung konstituieren.

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Revolution und Republik

Um diesem Konzept Geltung zu verschaffen, griffen die einen zur Gewalt (Französische Revolution), die anderen wollten die Selbstbestimmung zum Fokus eines neuen Massenkults machen, zu einer emphatischen „Religion der Republik“ oder „Nation“. Friedrich Schlegel formuliert 1796: „Nur durch einen universellen Republikanismus kann der politische Imperativ vollendet werden. Dieser Begriff ist also kein Hirngespinst träumender Schwärmer, sondern praktisch notwendig, wie der politische Imperativ selbst. Seine Bestandteile sind: 1. Polizierung aller Nationen; 2. Republikanismus aller Polizierten; 3. Fraternität aller Republikaner; 4. die Autonomie jedes einzelnen Staates und die Isonomie aller. Nur universeller und vollkommener Republikanismus würden ein endgültiger, aber auch allein hinlänglicher Definitivartikel zum ewigen Frieden sein … Der universelle und vollkommene Republikanismus und der ewige Friede sind unzertrennliche Wechselbegriffe.“ Sollte die aufklärerische Vernunft etwa am Ziel sein? Die Französische Revolution strebte die Identität zwischen menschlicher Natur und universeller Vernunft an, zwischen Sitte und Gesetz, Ethik und Recht: Legalität und Legitimität sollen völlig vereint werden. Aber diese Identität ist nicht mehr Einheit, sondern „Totalität“, der Zwang zum „Ganzen“. Denn jedes positive Gesetz kann seine Rechtfertigung nur in der konkreten menschlichen Existenz finden, sonst wird es zumindest in dem Augenblick abstrakt, in dem seine metaphysische Begründung hinfällig wird. Am wirksamsten und erfolgreichsten wurden die genannten Konzepte als ein Rationalisierungsinstrument aufklärerischer Reformpolitik. Auf dieser Grundlage entstand das bahnbrechende Gesetzgebungswerk der europäischen Aufklärung, das Allgemeine Preußische Landrecht (1794). Es beeinflusst tief die Rechtsphilosophie der nächsten Jahrzehnte, etwa bei Hegel.

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Das Allgemeine Preußische Landrecht

Carl Gottlieb Svarez, der Protagonist und Mitverfasser des ALR (Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, identisch mit dem Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten, 1791, dem die Veränderungen des ALR vorgebunden sind. Die zitierten

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Gesetzesstellen werden im Text in Klammer gesetzt.), baute ein Gesellschaftsrecht, das unabhängig von den Standesrechten neuen Vereinigungsformen und Assoziationen einen Gestaltungsraum gab. Die rechtlichen Grundlagen für eine dynamisch-ökonomische Entwicklung der Gesellschaft waren damit geschaffen. Das Handelsrecht war eine völlig neue Kreation des ALR (II 8 Abschn. 7–10). Svarez war sich des politischen und instrumentellen Charakters dieser Kodifikation bewusst: „Jede Neuerung in der Gesetzgebung“ hat „eine Art von Erschütterung“ des „Staates oder gewisser Klassen seiner Mitbürger“ zur Folge. Man hatte durch den „Choque“ der Französischen Revolution gelernt, aus Angst vor Umsturz und Gewalt. Die sich auflösende Ständeordnung erzeugte eine Massenarmut, und die im ALR festgeschriebene Verpflichtung des Staates die Armut unmittelbar zu beheben, wurde zu einem prekären Problem des Staates. Denn im ALR wird dort, wo der Begriff „Bürger“ im allgemeinen außerständischen Sinn gebraucht wird, den Armen ein Rechtsanspruch auf Versorgung zugesichert (II 19 § 1). Diese Verpflichtung des Staates, Armut zu beheben und zu beseitigen, wird von Hegel in seine Rechts- und Staatskonzeption übernommen. Die Zahl der wirtschaftlich Unselbständigen und Hilflosen, der Arbeiter und Arbeitslosen nahm in dem Maß zu, wie der Staat außerstande war, der übernommenen Verpflichtung nachzukommen. Gefördert durch die liberale Wirtschaftsgesetzgebung blieb der Arme als „Bürger“ zwischen Staat und Stand heimatlos (Reinhart Kosseleck). Im ALR war bereits die künftige Antinomie zwischen Rechts- und Sozialstaat angelegt und das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaats- und Sozialstaatspostulat bestimmt die kommende Diskussion.

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Der mathematisierte Mensch

David Hume hatte zuvor die Rolle der Leidenschaften (Hass, Liebe, Verachtung) in säkularisierter Form und nicht als Bestandteil der Sieben Todsünden wieder in den Diskurs eingebracht. Wie soll man damit umgehen? Condorcet setzte auf die Wissenschaften. Er hatte in seinem „Tableau général de la science“ eine „mathématique sociale“ entworfen: „Denkt man nach über die Natur der Wissenschaften vom menschlichen Verhalten (sciences morales), so tritt einem klar und zwingend vor Augen: Da sie sich wie die Naturwissenschaften (sciences physiques) auf die Beobachtung von Tatsachen stützen, müssen sie dieselbe Methode verfolgen, eine ebenso exakte und präzise Sprache erwerben und denselben Grad an Sicherheit erreichen.“ Die „mathématique sociale“ fügt ein universelles Instrument des Fortschritts. Wie viele andere war auch Condorcet überzeugt, so die unveränderlichen Gesetze von Recht und Unrecht sowie sämtliche Fragen des menschlichen Zusammenlebens klären zu können. Die konstruierte Vernunft hat die Berechenbarkeit des Menschen und die Beherrschung einer durch Wissen und wissenschaftlichen Eingriff transparenten Natur zur Voraussetzung. In dieser vernünftig organisierten Welt stört der „natürliche“ Leib mit seinen der Vernunft zuwider laufenden Wünschen und Obsessionen. Daher wird eine perfekte Diätetik und radikale Zensur entworfen. Sozialtechnologische Eingriffe (Sektionen) sollen Menschenverbesserungen ermöglichen und zu einer moralischen und praktischen Lebensordnung führen, die alle sozialen Konfliktmöglichkeiten eliminieren soll. Der Mensch tritt erstmals in das Zeitalter seiner realen Konstruiertheit ein: Er wird zum Produkt eines Herstellungsprozesses, den man immer besser in den Griff zu bekommen glaubt.

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Berufungsinstanz Kant

Die Entwürfe, die die Popularphilosophie der Aufklärung, der Idealismus und die beginnende Romantik zum „besten Staat“ anstellen, sehen Republik und Demokratie als Leitbild und den Menschen als prinzipiell offenes Kulturwesen (Johann Gottlieb Herder). Denn „alle Monopole in den Gedanken sind schädlich“. Einzig und allein eine Pluralität der Meinungen kann endgültigen Fortschritt freisetzen (Herder 1780). Kant wurde zur großen Berufungsinstanz: Er definierte 1793 den Bürger als „citoyen“ und „Mitgesetzgeber“, dessen rechtlicher Anspruch auf „Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit“ beruht. Dies wurde von vielen Autoren als Grundlage der parlamentarischen Demokratie interpretiert (Gottfried August Bürger, August von Knigge, Friedrich Schlegel und Johann Benjamin Erhard). Kants Rechtsdefinition lautet: „Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ Die große Unbekannte in dieser Rechtsdefinition ist die Freiheit. Kant selbst hat dieses Problem mit dem Gedankengang erledigt, dass die Freiheit im Sittengesetz erkannt werde und das Sittengesetz seine ratio essendi in der Freiheit habe. Damit hat er sich die Klärung der empirischen Grundlage der Verwirklichung des Sittlichen und des Rechts erspart. (Das Problem wird verlagert in die Polarisierung von Pflicht und Neigung.) Die Vernunft kapituliert wie zuvor vor dem Gewaltmonopol des Staates, da auch mit der Kantschen Lehre eine sachadäquate Trennungslinie zwischen Freiheit und Willkür nicht möglich ist. Seitdem ist empirisch evident, dass Recht letztlich die Ordnung von „Verhältnissen“ aufgrund gegebener Gewaltmonopolisierung ist. Die eklatanten Unterschiede setzen bei der „Art“ der Ordnung dieser Verhältnisse ein. Die Eliminierung der theologischen Orientierung des Rechts hat den Zirkelschluss von Recht und Ordnung unausweichlich gemacht: Und zwar Ordnung einer gewaltsam und insofern für den Menschen nicht „verfügbaren“ vorgegebenen Lage. Alle nunmehr folgende Rechtsbegründung teilt mit der Kantschen Problemstellung diese Zirkularität, das Problem bleibt in der „Positivität“ des Rechts stecken. Die Aufmerksamkeit verlagert sich auf den Prozess, das Verfahren. Daher wird die Kultur, wie Kant sagt, zum zentralen „Lebens-Mittel“ künftiger Entwicklung („Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, 1789).

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Der Schock der Revolution

Die „Verhältnisse“, deren politische, kulturelle und ökonomische Strukturen beherrschen den Diskurs, schockieren vor allem durch die Ereignisse der Französischen Revolution. Die Frage war, ob nicht der Terror der Französischen Revolution den politischen Fortschritt insgesamt kompromittiert? Die Antwort der deutschen Philosophie von Kant über Fichte, Hegel, Friedrich Schlegel und Novalis war die: Der Terror kompromittiert die Revolution als Ereignis, nicht aber deren Prinzipien. Die Entartung der Vernunft sei ein Produkt des abstrakten Freiheitsdenkens. Dieses degradiert das Gegenwärtige, um sich auf ein Morgen einzustimmen, das sich ins Unendliche verflüchtigt: „Das höchste scheint das Verändern zu sein“, sagt Hegel, ohne dass man ein Kriterium dafür besitzt, denn, wer eine andere Zukunft anstrebt, „wolle nur eine andere Gegenwart“, und wer das Sollen gegen die Wirklichkeit ausspielt, verfehlt diese selbst.

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Hegel will dagegen den Fortschritt in seinem Vollzug begreifen: Geschichte als „Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit“, als einen Prozess also, bei dem sich die Menschen kulturell ihrer Freiheit versichern und die Welt danach einrichten. Am Ende der Entfaltung der Geschichte hin zur Freiheit sollte der bürgerliche Rechtsstaat stehen, der auf menschenrechtlicher Tradition gründet. Er zeigt, dass eine politische Theorie aufgeklärter Reformen die einzige Antwort auf die Frage ist, wie man den Prinzipien politischer und wirtschaftlicher Modernisierung Geltung verschaffen kann, wenn dies nicht auf revolutionärem Weg geschehen soll. Nur so gelingt die Verwirklichung der Freiheit als Institutionalisierung des Rechts und der Menschenrechte (Hegel, „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Bd. 7 der Glockner-Jubiläumsausgabe, § 209). Hegel forderte stets eine Disziplinierung auf die Zukunft hin, und das heißt, er forderte eine effiziente kulturelle Nachhaltigkeit, die nur das Recht als Verwirklichung „seiner Idee“ bewirken könne. Mit der Französischen Revolution hatte die Berufung auf die Vernunft ihre Unschuld definitiv verloren (de Sade). Die Fortschrittseuphorie war brüchig geworden. Die Romantik hatte einen kritischen Blick für den „erstorbenen“ und „verausgabten“ Aspekt aufklärerischer Wissenschaftsgläubigkeit. Friedrich Schiller, als brillanter Kulturkritiker und Entscheidenstheoretiker, meinte, dass trotz aller sozialpolitischen Bemühungen Erotik (Sexualität), Hunger und Tod stets als Sprengstoff in der Menschheit bleiben werden. Schelling kritisierte radikal den „anti-historischen Fortschritt“, der je nach dem Maßstab, den man anlegt, „eher ein Rückschritt“ ist. Liegt das Glück also doch ganz woanders?

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Kritik und Terror

Die Linkshegelianer Ludwig Feuerbach, Arnold Ruge, Moses Hess, Karl Marx attackierten die lähmende Wirkung der alten Institutionen, die das Leben verkrusten, und wollten dagegen Tat, Praxis, Veränderung setzen. Marx und Engels attackierten das Recht als Herrschaftsinstrument, plädierten für einen radikalen Anti-Institutionalismus. Auch Richard Wagner sieht dies in seiner Schrift „Die Kunst und die Revolution“ (1849) ähnlich. Die Gegenwart mit ihren Institutionen, ihrer Gesellschaft und ihrer Kunst muss überwunden werden. Wagner strebt keine „Unterhaltung der Gelangweilten“ an, sondern eine Kunst, die sich „zu den Tiefen des Proletariats herab lässt, entnervend, entsittlichend, entmenschlichend überall, wohin sich das Gift ihres Lebenssaftes ergießt“. Wagner versucht mit den Mitteln der künstlerischen Überredung, eine politische, soziale, ökonomische Utopie zu verwirklichen. Anhänger des kulturell orientierten deutschen Nationalstaates begründeten ihre Ideologie erstrangig aus dem Kampf gegen die Kommerzialisierung der Kultur. So hat Richard Wagner den Primat seines Gesamtkunstwerks auf strikte Gegnerschaft zur Pariser „Bankiers-Musikhurerei“ gestützt (Giacomo Meyerbeer). Der Antisemitismus gerierte sich längst als Kampf gegen die Kommerzialisierung der „heiligen deutschen Kunst“. Als „heilig“ galt, was nicht in Geldwert aufgewogen werden konnte, als „undeutsch“ (jüdisch!?) galt die Kommerzialisierung und „zersetzendes Element“ der deutschen Kunst und Kultur. Linkshegelianer wie Wagnerianer glaubten an die spontane Identifikation von Einzel- und Gesamtinteresse in der kommunistischen oder einer sonstigen Endgesellschaft, die Aufhebung sämtlicher institutioneller Vermittlungen wie Recht und Staat. Eine ideale, sich selbst permanent transzendierende Kommunikationsgemeinschaft. Hier beginnt die Utopie eines herrschaftsfreien Diskurses.

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Die Überzeugung, dass die künftige Gemeinschaft nicht des Gesetzes als eines Zwangs- und Kontrollsystems bedarf, da die sozialen Bindungen sich allein durch spontane Identifikation eines jeden einzelnen Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen ergeben, beruht vor allem auf der Berufung des nach Herkunft und Zukunft angeblich durchschauten Verlaufs der Geschichte. Der mit dem Telos der Geschichte sich in Übereinstimmung wissende Denker ist ein Exekutor des Weltgeistes: Er ist ein Terrorist, der als Schaf im Wolfspelz auftritt: Er mordet im Dienste des Lebens, er versklavt um der Freiheit willen, er verbreitet Entsetzen als reinigendes Vorspiel überschwänglicher Freude. Nur Terror, so Marx 1848, kann „die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abkürzen“. Der Terror bezieht seine „Rationalität“ und „Legitimität“ unmittelbar aus höchsten Zwecken. Bloß für diesen Endzweck und aus keinem anderen Grund müssen die blutigen Aktionen realisiert werden. In dieser Universalität höchster Zwecke verschwinden das Einzelindividuum und seine subjektiven Rechte. Sigmund Freud wird später über den Zusammenhang von Todestrieb und Kulturzerstörung schreiben: Im Verlaufe der Zivilisation nimmt der soziale Druck auf den Einzelnen zu. Was der Mensch, wenn auch je anders und immer wieder neu, als Konflikt zwischen Lust- und Realitätsprinzip zu bewältigen hat, verursacht das „Unbehagen in der Kultur“.

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Der Ruf der Wildnis

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gewann der Darwinismus mit seiner Evolutions- und Selektionstheorie enormen Einfluss auf das philosophische, soziologische und juristische Denken. Die Sozialdarwinisten (allen voran Herbert Spencer) beriefen sich auf die gesamten modernen Wissenschaften und setzten sich für Rassenhygiene, Aufartung und Euthanasie ein, bis hin zu einer nach biologischen Prinzipien aufgebauten Staats-, Sozial- und Kulturordnung. Ihnen ging es um „Eugenik“, um den Gestaltwandel der Natur im Sinne der „guten Gene“. Francis Galton prägte 1883 diesen Begriff und definierte ihn als die Wissenschaft von der genetischen Verbesserung des Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Fülle eugenischer Forschungsgesellschaften. In linken wie in rechten Kreisen, ja selbst unter Zionisten avancierte die Eugenik zu einer Grundlagenwissenschaft der Sozialpolitik. Der Eingriff in das Erbgut galt als ethisches Gebot, als Wegweiser in die Zukunft des Über-Menschen. Dieser galt als das einzige Kompensat für den von Friedrich Nietzsche diagnostizierten Triumph des europäischen Nihilismus. Analog dazu entdeckt der Mensch seine barbarische Herkunft. In seinem Buch „Der Kampf als inneres Erlebnis“ beschreibt Ernst Jünger (1922) dies folgendermaßen: „Doch unter immer glänzender polierter Schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behingen, blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe. Das zeigte sich, als der Krieg die Gemeinschaft Europas zerriß, als wir hinter Fahnen und Symbolen, über die mancher längst ungläubig gelächelt, uns gegenüberstellten zu uralter Entscheidung. Da entschädigte sich der Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte.“ Nicht die zerstreuten, flirrenden und vieldeutigen Zeichen der urbanen Zivilisation sprechen die Sprache des inneren Menschen, sondern Symbole, die die einfachste Unterscheidung von Leben und Tod erzwingen. Der Krieg ist die Schule der großen anthropologischen Evidenzen.

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NS-Biologismus

Hitler und Himmler versuchten auf diesem Hintergrund ihr Unrechtssystem zu verwirklichen: Politische Machtansprüche, Gewalt und Terror galten als Umsetzung biologischer Kategorien in politisches Handeln. Der Führermythos verkörperte sich im totalen Staat mit seinen strengen Reglementierungen, die auch den Alltag erfassen. Man denke an die Sucht der Nationalsozialisten nach authentischen Zeichen, nach einer Archetypensprache oder an den more-geometricoAberwitz der Aufmärsche und Kundgebungen. Vor allem die Jugend wurde in die „Verpflichtung der Volksgenossenschaft“ genommen, für die damals Konrad Lorenz (der spätere Nobelpreisträger) die These von „Schönheit“ als rassischem Auslesemuster formuliert hat. Hitler erklärte zum Thema „Jugend“: „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich … Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend … ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich die Jugend … aber die Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen.“ (1934) Hitler „huldigt“, wie er sagt, lediglich dem „aristokratischen Grundgedanken der Natur“, der „das allgemeinste unerbittliche Gesetz des Lebens“ ist, nämlich „Kampf um das Dasein“, „Kampf der Rassen und Völker um ihren Lebensraum“. In einem solchen Staat herrschen Gewalt und Unterdrückung als ehernes Naturgesetz. Dies illustriert Himmlers Ansprache vor dem Offizierskorps der Leibstandarte SS „Adolf Hitler“: „Ob die anderen Völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur insoweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird … Das ist das, was ich der SS einimpfen möchte.“ An anderer Stelle sagt Himmler zum „Ausrottungsprogramm“ des jüdischen Volkes unmissverständlich: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammen liegen, wenn fünfhundert daliegen oder wenn tausend daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei … anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt deutscher Geschichte.“ (4. Oktober 1943). Diese Natur-Rhetorik, Gewaltverherrlichung und Bestialität ist in Wirklichkeit dualistisch-apokalyptisch auf das Ende der Welt hin orientiert, auf die Wahnidee des „Rassentodes“ fixiert: ewiges Leben oder ewiger Tod, Erlösung oder Strafe.

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Die Rechtskonstruktion der Vernichtung

Im rechtstheoretischen Modell des Nationalsozialismus wird der Begriff „Artgleichheit“ zu einer „Grundnorm“ erhoben. Dieser Ansatz mit dem Freund-Feind-Konzept verknüpft, dessen Formulierung Carl Schmitt in seiner Arbeit „Der Begriff des Politischen“ 1932 unternommen hat: „Die spezifisch-politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Defini-

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tion oder Inhaltsangabe … Der politische Feind … ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas Anderes und Fremdes ist, sodaß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen‘ Dritten entschieden werden kann. Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen, ist hier nämlich durch das existentielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben.“ Kriterium bedeutet hier Begriffsbestimmung im Sinne von Entscheidungsalternative und Entscheidungszwang. Die lebensphilosophische Kategorie „existentielle Teilhabe“ gilt als evident, da Artzugehörigkeit Naturgesetz ist. Die Einleitung des Bewusstseins in „richtiges“ und „falsches“ potenziert und verstärkt das Modell.

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Auschwitz als negativer Gründungsmythos der Moderne

George Steiner hat in seinem Buch „Sprache und Schweigen“ (1969) die Frage aufgeworfen: „Verflechten sich die Wurzeln des Unmenschlichen mit denen der Hochzivilisation? Auschwitz kam nicht aus dem Dschungel, nicht aus der Steppe. Die Barbarei überfiel den modernen Menschen im Zentrum der Kultur, der Künste, der universellen Bildung und des naturwissenschaftlichen Wunders. Nur wenige Kilometer entfernt von einigen der schönsten Museen, Bibliotheken, Konzertsälen verpestete Dachau die Luft. Männer, die bei Tage folterten, Kinder erhängten, lasen abends Rilke, hörten Schubert. Das ist ein ontologisches Rätsel, das Mysterium des zivilisierten Ennui oder des Bösen und es stellt für mich die Zukunft des Menschen überhaupt in Frage. Wenn die humanistischen Wissenschaften nicht zur Humanisierung beitragen, wenn derselbe Mensch Bach spielen und das Willnauer Ghetto in Brand stecken kann, wo bleibt da die Zivilisation? Warum erziehen, warum lesen? Ist es möglich, daß im klassischen Humanismus selbst, in seiner Neigung zur Abstraktion und zum ästhetischen Werturteil, ein radikales Versagen angelegt ist? Kann es sein, daß Massenmord und jene Gleichgültigkeit gegenüber den Greueln, die dem Nazismus Vorschub geleistet hat, nicht Feinde oder Negationen der Zivilisation sind, sondern ihr gräßlicher, aber natürlicher Komplize?“ Auschwitz wurde zum „negativen Gründungsmythos“ (Rüdiger Safranski) unserer politischen Kultur, da deren Fortschritt künftig nicht mehr an der Idee eines vollkommenen, „humanisierten“ Seins messbar ist, sondern nur mehr am möglichen Nichts des moralischen Totalinfernos.

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Der Mensch als Artefakt

Heute vollendet sich, was Guy Debord und die Situationisten als eine „Gesellschaft des Spektakels“ voraussahen. Zu ihr gehört wesentlich die Definition der Zuschauer, für die das gesamte öffentliche und politische Leben zum Schauspiel wird. Die Gesellschaft lebt bereits im Zustand der Besetzung durch Gewalt und Sensation. Sie befindet sich längst in einem merkwürdigen Krieg zwischen Quoten, Autodestruktion und Rekonstruktion als Artefakt. In den gegenwärtigen Debatten dominiert das Thema Biopolitik. Sie wird zum eigentlichen Feld, auf dem sich die rechtspolitischen und rechtsphilosophischen Reibungsflächen ergeben. Die traditionellen Domänen der Natur (Empfängnis, Geburt, Gesundheit und Tod) sind vom

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Gestaltungswillen der Biowissenschaften erobert. Reproduktionsmediziner, Psychopharmakologen, Organzüchter, plastische Chirurgen haben sich zum Ziel gesetzt, Körper und Geist zu formen. Der Mensch als naturgegebene Modelliermasse verheißt den schöneren, leistungsfähigeren und glücklicheren Menschen. In Nietzsches „Zarathustra“ (1883–1885) sind bereits die Richtungskämpfe der „Menschenzüchter“ ungeschminkt beschrieben, vor allem die zwischen „Menschenfreunden“ und „Übermenschenfreunden“. Von der Zeugung und der lebenslangen medizinischen Versorgung über die Regulierung des Verhältnisses zwischen Arbeitszeit und Freizeit bis hin zum medizinisch überwachten, wenn nicht sogar medizinisch herbeigeführten Tod wird die Lebenszeit des heutigen Menschen permanent künstlich gestaltet und optimiert. Vor allem in diesem Sinne sprechen auch viele Autoren von Michael Foucault und Giorgio Agamben bis hin zu Antonio Negri und Michael Hardt über die Biopolitik als das eigentliche Feld, auf dem sich der politische Wille und die technologische Gestaltungskraft heute manifestieren. Wenn das Leben nämlich nicht mehr als natürliches Ereignis, als Schicksal, als Fortuna, sondern als künstlich produzierbare und gestaltbare Zeit verstanden wird, dann wird das Leben automatisch politisiert. Denn die Entscheidungen hinsichtlich der Gestaltung der Lebensdauer sind immer zugleich politische Entscheidungen. Auf der einen Seite ersetzt die Moderne ständig das Lebendige durch das Künstliche, das technisch Hergestellte durch das Simulierte oder, was das Gleiche ist, das Unwiederholbare durch das Reproduzierbare. Diese Entortung des Lebens wird als die eigentliche Bedrohung durch die Technik empfunden. Als Reaktion auf diese Bedrohung werden immer wieder konservative, defensive Strategien angeboten, die diese Entortung durch Verordnungen und Verbote aufhalten wollen, wobei die Vergeblichkeit solcher Bemühungen sogar ihren Protagonisten völlig bewusst ist.

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Biotechnische Aufklärung

Nicht mehr Kultur, nicht mehr Wohlstand, nicht mehr Rechtskonzepte, sondern kleine Korrekturen am Datensatz des Lebens, kleine Manipulationen an der Doppelhelix des Menschen sollen die Lösung bringen. Die biotechnische Aufklärung steht auf dem Programm. Das Konzept genetisch verbesserter „Menschentypen“ hat Francis Fukujama bereits vor Peter Sloterdijk philosophisch erörtert. Beiden gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Humanismus mit seinen Rechtskonzepten als „Schule der Menschenzähmung“ gescheitert ist und daher die Lektionen der Aufklärung durch die Selektionen der Gentechnik ersetzt werden müssen. Erst diese radikal-evolutionär verbesserte Aufklärung kann eine neue Qualität des Zivilisationsprozesses hervorbringen. Technizität und instrumentelle Vernunft bewirken eine genetische Reform der Gattungseigenschaften des Menschen. Gelingt es, den funktionalen, friedfertigen, leicht steuerbaren Menschentypen herzustellen, wird das Recht überflüssig. Diesem Prometheusprojekt liegt die problematische Vorstellung zugrunde, die Vertreter der Naturwissenschaften seien mit einer abstrakten Natur verbunden, die als hartes und robustes Wissen (Hard Sciences) hervortritt, sobald sie die kulturellen Hüllen (Humanities) fallen lässt. Doch der Mensch bewegt sich stets in einer Doppelverankerung evolutionärer (biochemischer) und kultureller Gedächtnisspuren. Kultur ist die Natur des sozialen Menschen, wie Otto Hondrich umfassend erläutert hat. So gesehen „rechtfertigt“ sich nach wie vor das Recht als per se nicht selbstverständlicher Zwangsapparat und Steuerungsapparat.

Aufklärung als Prozess

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Eine realistische Erfahrungsorganisation ist jenseits des enormen Potenzials der Genforschung und Biotechnologie heute nicht mehr möglich. Die Büchse der Pandora ist geöffnet. Im Wegschauen und in der abstrakten Negation dieses Entwicklungsprozesses liegt mehr Menschenverachtung als in einem aktiven Aufgreifen des Spiels. Sloterdijk zeichnet ein äußerst realistisches Szenario, wenn er meint: Auf der einen Seite führen die „beispielslosen Enthemmungsfälle“ der Gentechnik „unvermeidlich“ zu Richtungskämpfen, andererseits ist es wahrscheinlich, dass die alltägliche Bestialisierung der Menschen in den Medien durch „enthemmende Unterhaltung“ das barbarische Potenzial unserer Zivilisation verstärkt.

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Nachbemerkung

Im 18., 19. und 20. Jahrhundert war aufgeklärtes Denken als Realisierung der Natur des sozialen Menschen eine kulturelle Kampfansage an Aberglauben, überkommene Wissenschafts- und Moralvorstellungen sowie autoritäre Strukturen. Doch heute trifft aufklärerische Wissenschaft auf unerschütterliche Orthodoxie, fundamentalistischen Glauben, religiösen Neoprimitivismus als Gegenkultur. In der Wahrnehmung der Medienöffentlichkeit verengte sich der Gegensatz von entwickelter und Dritter Welt immer mehr zum Gegensatz zwischen Rationalität und Fundamentalismus. Stimmt das? Ich glaube, nicht ganz. Denn die Gewalt der Ohnmächtigen gilt zumeist als Unrecht, die Gewalt der Mächtigen setzt sich ins Recht: Erfolgreich angewandte Gewalt wird kaum sozial diskreditiert, sondern häufig mit dem Bonus der Gerechtigkeit versehen, legitimiert und systematisiert. Lyotards „Ästhetik des Erhabenen“ und Karl-Heinz Bohrers „Ästhetik des Schreckens“, Peter Sloterdijks Mystik der „animalistischen Gewalt“, André Glucksmanns „Diskurs des Hasses“ erzwingen förmlich die Frage, ob wir nicht zum vorrechtlichen Anfang schrittweise zurückkehren. Es könnte mit Gewalt enden, was mit Gewalt begonnen hat. Doch die kulturelle Bedeutung der exorbitanten Gewaltzunahme auf allen Ebenen (der realen und der virtuellen) sowie der sukzessiven „Dekonstruktion“ des Rechtsbewusstseins und damit des Rechtsdenkens werden ein neues Kapitel.

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Strafrechtliche Risiken moderner Betriebsführung: Das Beispiel der Rufbereitschaft über ein Firmenhandy Otto Lagodny und Nina Marlene Schallmoser

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Einleitung und Problemstellung

Es ist sehr modern, ständig erreichbar zu sein. Ein mobiler Berufsalltag allerdings führt zu einer geradezu sinnbildlichen elektronischen Leine, an die ein Dienstgeber seinen Dienstnehmer legen kann. Via Email und vor allem per Handy ist letzterer rund um die Uhr zu erreichen. Diese mögliche lückenlose Erreichbarkeit ist in wirtschaftlichen Leitungsfunktionen unabdingbar und wegen der Verantwortung der jeweiligen Funktionsträger auch ethisch vertretbar. Der allfällige Umkehrschluss ist allerdings fatal. Wer ständig erreichbar ist, hat deshalb noch keine Leitungsfunktion. Vielmehr trägt er (oder sie) ein erhebliches gesundheitliches Risiko: Psychischer (Leistungs-)Druck bis hin zu länger anhaltendem Schlafmangel belasten den Arbeitnehmer, der – freiwillig oder unfreiwillig – ständige Rufbereitschaft am Diensthandy erklärt hat. Bedenkt man, dass es Formen von Schlafentzug gibt, die schon zu Recht als „Folter“ charakterisiert wurden1, dann liegt das strafrechtliche Problem auf der Hand: Führt ständige Erreichbarkeit über ein Firmenhandy zu einer objektiv-tatbestandlichen Körperverletzung im Sinne der §§ 88 und 83 StGB2, wenn tatsächlich eine Gesundheitsschädigung eintritt? Das ist die zentrale Frage, mit der sich dieser Beitrag befassen soll. Sie ist zugleich Beispiel für die Problemstellungen, die mit dem zunehmend verstärkten Einsatz moderner Telekommunikationstechnologien am und um den Arbeitsplatz verbunden sind. Einen entsprechenden Sachverhalt kann man sich leicht vorstellen. Auf ein konkretes Beispiel verzich-

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2

Nach EGMR v. 18.1.1978, Irland vs. Vereinigtes Königreich, wurde die Anwendung der „fünf Techniken“ zur Vernehmung, zu der auch Schlafentzug gehört, als „unmenschliche Behandlung“ i. S. d. Art. 3 EMRK qualifiziert; vgl. Grabenwarter, EMRK (2009), § 20 Rz. 23. Auch die Vereinten Nationen subsumieren den Schlafentzug in Ausnahmefällen unter den Begriff der Folter; vgl. hierzu den Bericht des UN News Centers und die Worte der High Commissioner for Human Rights Navi Pillay; online unter: http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=38866&Cr=torture&Cr1=. Zur Identität des objektiven Tatbestands von Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelikt vgl. Kienapfel/Schroll, Studienbuch Strafrecht, Bd. 1: Delikte gegen Personenwerte (2008), § 88 StGB Rz. 13 f.; oder Fuchs/Reindl-Krauskopf, Strafrecht Besonderer Teil – Delikte gegen den Einzelnen (Leib und Leben, Freiheit, Ehre, Privatsphäre, Vermögen) (2009), S. 33 f. Die nachfolgenden Überlegungen nehmen vorwiegend auf § 88 StGB Bezug.

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Otto Lagodny und Nina Marlene Schallmoser

ten wir bewusst, weil es vieler Abwandlungen bedürfte. Wir wollen vielmehr generell auf die denkbaren Rechtsprobleme hinweisen. Dazu müssen wir zwar zunächst den juristischen Blick auf die Regelungen des Arbeitsrechts richten und fragen: Bedeutet die Zurverfügungstellung eines Diensthandys automatisch „ewige Rufbereitschaft“? Ist die Entgegennahme eines Dienstgesprächs per Diensthandy am Wochenende „Arbeitszeit“? Die Normen des Arbeitnehmerschutzrechts zielen maßgeblich und vorrangig auf den Schutz der Gesundheit eines Arbeitnehmers. So untersagt etwa das Arbeitszeitgesetz eine zeitlich allzu ausgedehnte Verpflichtung zur Rufbereitschaft auch per Handy, verankert Arbeitszeithöchstgrenzen und installiert entsprechende Verwaltungsstraftatbestände bei Verstoß. Die Bestimmungen knüpfen allesamt schon an der abstrakten Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen an. Was aber geschieht, wenn ständige Erreichbarkeit tatsächlich krank macht? An genau dieser Stelle setzt nun das Kriminalstrafrecht an. Tritt infolge der vertraglichen oder jedenfalls so empfundenen Verpflichtung, für den Arbeitgeber rund um die Uhr telefonisch verfügbar zu sein, tatsächlich ein Gesundheitsschaden ein, steht das Strafrecht vor der Herausforderung, etwaige kriminalstrafrechtliche Verantwortlichkeiten zu klären. § 88 StGB stellt die fahrlässige Körperverletzung unter gerichtliche Strafe. Eine Strafbarkeit kann für den Dienstgeber, der Rufbereitschaft jenseits arbeitsrechtlicher Zulässigkeit eingefordert hat, jedoch nicht ohne nähere Erörterung einiger klärungsbedürftiger Fragen bejaht werden. So setzt § 88 StGB zunächst eine sorgfaltswidrige Handlung des Dienstgebers voraus, welcher der Eintritt des Gesundheitsschadens objektiv zugerechnet werden kann. Die Gesundheitsschädigung als (für den Dienstgeber vorhersehbarer) Taterfolg muss nach § 88 StGB weiters einen gewissen Grad erreicht haben. Zu guter Letzt ist der Problematik einer etwaigen Einwilligung des Arbeitnehmers auf den Grund zu gehen, wenn dieser der überschießenden Rufbereitschaftsvereinbarung zugestimmt hat. Ausgangspunkt sind deshalb (vor allem) die klassischen Fragen der objektiven Tatbestandsmäßigkeit. Geht man von Fahrlässigkeitsaufbau aus, dann bedarf es folglich insbesondere einer objektiv sorgfaltswidrigen Handlung. Hierzu müssen die arbeitsrechtlichen Regelungen, die hierfür als Sorgfaltsmaßstab dienen können, vorgestellt werden (unten 2). Damit verbunden ist die arbeitsrechtliche Abgrenzung von Rufbereitschaft und Arbeitszeit (2.2) und dann diejenige zwischen verwaltungsstrafrechtlicher und kriminalstrafrechtlicher Sanktionierung (unten 3). Die Frage der Wirkung der Einwilligung des Dienstnehmers wird abschließend (unter 4) behandelt. Der nachfolgende Beitrag sei dem verehrten Kollegen Richard Hammer herzlichst zum 65. Geburtstag gewidmet. Wir sind uns dabei im Klaren darüber, dass es zu diesen strafrechtlichen Fragen keine gerichtliche Praxis gibt und möglicherweise kaum je geben wird. Solange entsprechende Gebräuche und Erwartungshaltungen wirtschaftlich durchsetzbar sind, wird kein Arbeitnehmer strafrechtlich dagegen vorgehen. Ändert sich die Wirtschaftslage, dann werden solche Erwartungen auf Seiten der Arbeitgeber nicht mehr existieren. Aus strafrechtlicher Sicht kann man die nachfolgenden Überlegungen daher in der Rubrik „symbolisches Strafrecht“3 einordnen. Das mag dann eben so sein, ändert aber nichts an der sozialen Realität und deren immer mehr schwindenden Sinn für den Wert von Zeit als solcher. 3

Vgl. dazu – allerdings auf den Gesetzgeber bezogen – Díez Ripollés, Symbolisches Strafrecht und die Wirkungen der Strafe (2001), S. 516 ff.; Hassemer, Strafen im Rechtsstaat (2000), S. 170 ff.; Voß, Symbolische Gesetzgebung: Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten (1989), passim.

Strafrechtliche Risiken moderner Betriebsführung

2

Arbeitsrechtliche Regelungen als (strafrechtlicher) Sorgfaltsmaßstab

2.1

Überblick

461

Die Strafbarkeit nach § 88 StGB setzt zentral eine Sorgfaltswidrigkeit voraus.4 Die Bestimmungen des Individualarbeitsrechts kommen als Quelle für maßstabsgebende Sorgfaltsnormen in Betracht. Zu suchen sind Regelungen, wonach ein Arbeitnehmer seine Arbeitskraft nur eine bestimmte Zeit zur Verfügung stellen muss und Verstöße hiergegen rechtswidrig sind. Einschlägig sind insoweit die Regelungen im Arbeitszeitgesetz (AZG5) und im Arbeitsruhegesetz (ARG6). Sie unterscheiden zunächst zwischen Arbeitszeit und Rufbereitschaft und machen damit die Klärung der Frage notwendig, ob die permanente Erreichbarkeit per Handy „Arbeitszeit“ oder vielmehr „Rufbereitschaft“ ist. Je nach Qualifikation ist das Arbeitnehmerschutzrecht nämlich unterschiedlich streng, namentlich im Hinblick auf die zulässigen zeitlichen Höchstgrenzen, ausgestaltet.

2.2

Abgrenzung Arbeitszeit und Rufbereitschaft

Nach § 2 Abs. 1 Z. 1 AZG ist „Arbeitszeit“ jene Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit mit Ausnahme der Ruhepausen. Somit ist unter Arbeitszeit nicht nur die Zeit der tatsächlichen, normalerweise zu leistenden Arbeit zu subsumieren, sondern auch jene, in welcher der Dienstgeber die Freizeit des Dienstnehmers für seine Zwecke in Anspruch nimmt.7 Von „Rufbereitschaft“ spricht man, wenn der Dienstnehmer nicht an der Arbeitsstätte selbst oder in deren unmittelbarer Nähe anwesend sein muss, sondern seinen Aufenthaltsort grundsätzlich frei wählen kann und den Dienstgeber nur davon unterrichten muss, wo er stets schnell erreichbar ist.8 Bloßer „Bereitschaftsdienst“ in Form der Rufbereitschaft allerdings ist

4 5 6 7

8

Zum tatbestandlich vorgelagerten Verhalten siehe unten 3.2. BGBl 461/1969, zuletzt geändert durch BGBl I 93/2010. BGBl 144/1983, zuletzt geändert durch BGBl I 100/2010. So OGH v. 14.5.1957, 4 Ob 54/57, Arb 6.661; LGZ Wien v. 20.10.1969, Arb 8.691; vgl. im Weiteren zum Arbeitszeitbegriff auch Binder/Brunner/Szymanski, AZG – Arbeitszeitgesetz: Mit der neuen Lenkzeiten-Verordnung der EU (2006), § 2, S. 34 ff.; Dittrich/Tades, Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten2, § 2 AZG E 1; Grillberger, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 2 Rz. 2 ff. Hierzu abermals Binder/Brunner/Szymanski, AZG – Arbeitszeitgesetz: Mit der neuen Lenkzeiten-Verordnung der EU (2006), § 2, S. 37, § 20a, S. 284 ff.; Dittrich/Tades, Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten2, § 2 AZG E 2a m. w. N.; Grillberger, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 2 Rz. 11 f.; Pfeil, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 20a Rz. 1. Demgegenüber ist Arbeitsbereitschaft der Aufenthalt an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort mit der Bereitschaft zur jederzeitigen Aufnahme der Arbeitsleistung im Bedarfsfall (z. B. Nachtdienst eines Arztes, der im Krankenhaus anwesend sein muss, aber etwa schlafen kann, wenn keine Arbeit anfällt). Arbeitsbereitschaft zählt sehr wohl zur Arbeitszeit; vgl. Binder/Brunner/Szymanski, AZG – Arbeitszeitgesetz: Mit der neuen Lenkzeiten-Verordnung der EU (2006), § 2, S. 37; Dittrich/Tades, Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten2, § 5 AZG E 1 f., E 4 m. w. N.; Grillberger, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 2 Rz. 8 ff.

462

Otto Lagodny und Nina Marlene Schallmoser

nach ständiger Rechtsprechung damit gerade noch keine Arbeitszeit.9 Der Arbeitnehmer ist auch, wie der OGH10 zutreffend festhält, während der „Erreichbarkeit per Handy“ solcherart in der Bestimmung seines Aufenthalts beschränkt. Daher erfüllt diese Form angeordneter Bereitschaft nach Sinn und Zweck jedenfalls den Begriff der Rufbereitschaft und zählt damit dem Grunde nach prinzipiell zur Freizeit des Dienstnehmers. Regelungen zur Rufbereitschaft finden sich insbesondere in den § 20a AZG11, § 6a ARG oder auch in § 50 (insbesondere) Abs. 3 Beamten-Dienstrechtsgesetz12. Ihnen allen ist gemein, dass sie zeitliche Höchstgrenzen für die Zulässigkeit einer arbeitsrechtlichen Vereinbarung von Rufbereitschaft normieren: Nach § 20a Abs. 1 AZG etwa darf Rufbereitschaft außerhalb der Arbeitszeit nur an zehn Tagen pro Monat vereinbart werden, wobei eine im Gesetz genauer definierte, abweichende kollektivvertragliche Regelung zulässig sein soll: „§ 20a AZG Rufbereitschaft (1) Rufbereitschaft außerhalb der Arbeitszeit darf nur an zehn Tagen pro Monat vereinbart werden. Der Kollektivvertrag kann zulassen, dass Rufbereitschaft innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten an 30 Tagen vereinbart werden kann. (2) Leistet der Arbeitnehmer während der Rufbereitschaft Arbeiten, kann 1. die Tagesarbeitszeit bis auf zwölf Stunden ausgedehnt werden, wenn innerhalb von zwei Wochen ein entsprechender Ausgleich erfolgt, und 2. die tägliche Ruhezeit unterbrochen werden, wenn innerhalb von zwei Wochen eine andere tägliche Ruhezeit um vier Stunden verlängert wird. Ein Teil der Ruhezeit muß mindestens acht Stunden betragen.“ Leistet der Arbeitnehmer während der Rufbereitschaft Arbeiten, kann die Tagesarbeitszeit demnach gem. Abs. 2 von acht Stunden als der täglichen Normalarbeitszeit nach § 3 Abs. 1 AZG auf zwölf Stunden ausgedehnt werden, wenn innerhalb von zwei Wochen ein entsprechender Ausgleich erfolgt. Daneben ist möglich, die tägliche Ruhezeit zu unterbrechen, wenn innerhalb derselben Frist eine andere tägliche Ruhezeit um vier Stunden verlängert wird. Ein Teil der Ruhezeit hat diesfalls mindestens acht Stunden zu betragen. Ergänzend hierzu führt § 6a ARG aus, dass Rufbereitschaft außerhalb der Arbeitszeit überdies nur während zwei wöchentlicher Ruhezeiten pro Monat vereinbart werden darf. Arbeitsrechtlich sind die Phasen der bloßen Rufbereitschaft folglich theoretisch von der Arbeitszeit abzuschichten. Dies kann uneingeschränkt nur für den Fall gelten, dass in der Zeit der Rufbereitschaft keine tatsächliche Arbeit anfällt, der Arbeitnehmer etwa überhaupt nicht telefonisch kontaktiert oder an den Arbeitsplatz beordert wird. Eine Ausnahme von 9 10

11 12

Hierzu wiederum etwa Dittrich/Tades, Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten2, § 2 AZG E 2 m. w. N. aus der Rechtsprechung. Vgl. Binder/Brunner/Szymanski, AZG – Arbeitszeitgesetz: Mit der neuen Lenkzeiten-Verordnung der EU (2006), § 20a, S. 285; Dittrich/Tades, Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten2, § 2 AZG E 2e, jeweils mit Hinweis auf OGH v. 29.8.2002, 8 ObA 321/01s, Arb 12.266. Eingefügt mit BGBl I 46/1997. Letztere Bestimmung steht allerdings nicht im Fokus dieses Beitrags. Ihr Wortlaut sei hier nur der Vollständigkeit halber angeführt. Hiernach lautet § 50 Abs. 3 BDG: „Soweit es dienstliche Rücksichten zwingend erfordern, kann der Beamte fallweise verpflichtet werden, in seiner dienstfreien Zeit seinen Aufenthalt so zu wählen, daß er jederzeit erreichbar und binnen kürzester Zeit zum Antritt seines Dienstes bereit ist (Rufbereitschaft). Rufbereitschaft gilt nicht als Dienstzeit.“

Strafrechtliche Risiken moderner Betriebsführung

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diesem Grundsatz ist dementsprechend umgekehrt darin zu sehen, dass während der Rufbereitschaft des Arbeitnehmers tatsächlich Arbeit anfällt, der Arbeitgeber etwa den Dienstnehmer an den Arbeitsplatz ruft oder häufig anruft und um Auskunft o. Ä. bittet.13 Die genauen Grenzen hier sind jedoch unklar. So gibt es, soweit ersichtlich, keine Judikatur zur Frage, wann genau diese Schwelle erreicht und die bloße Rufbereitschaft zur „echten“ Arbeitszeit wird. Abgestellt werden sollte unter anderem darauf, ob der Erholungswert der Rufbereitschaft ohne Arbeitseinsatz groß genug ist. Übertragen auf eine Fallkonstellation, wo es um einzelne/häufige/ständige Anrufe des Arbeitgebers geht, wird man die Häufigkeit und Dauer der Anrufe und damit einhergehenden Gespräche sowie den hiermit verbundenen Arbeitsaufwand etc. einbeziehen müssen. Aus unserer Sicht ist es dabei weniger entscheidend, wie oft objektiv ein Anruf erfolgt, sondern über welchen Zeitraum hinweg der Dienstnehmer mit einem Anruf des Dienstgebers rechnen muss. Denn wesentlich für die Erholungsfunktion ist es, wie lange man – geradezu im Wortsinne – abschalten kann. Subsumiert man deshalb derartige Telefonate unter „Arbeitszeit“ i. S. d. Gesetzes, sind zusätzlich zu den zeitlichen Grenzen der Rufbereitschaft auch die (hochkomplexen) Regelungen über die Arbeitszeitgrenzen14 sowie zur gesetzlichen Wochenruhe, Wochenendruhe und Feiertagsruhe gem. §§ 2–5, 7 ARG zu beachten.

3

Rufbereitschaft und Strafe

3.1

Verwaltungsstrafe

Regelungen des AZG Folgt man also dem Grundsatz, wonach die Verpflichtung des Dienstnehmers zur Erreichbarkeit per Handy im Wesentlichen als „Rufbereitschaft“ i. S. d. § 20a AZG zu qualifizieren ist, muss als nächstes nach den Konsequenzen bei Verstoß gegen diese Höchstfrist – der Fokus liegt im Weiteren ausschließlich auf der Norm des § 20a AZG – gefragt werden. Der OGH führt hierzu aus: „Aus dem für die Rufbereitschaft charakteristischen Mischverhältnis zwischen Arbeit und Freizeit folgt die Schutzbedürftigkeit jener Dienstnehmer, die Rufbereitschaft vereinbart haben. Der Gesetzgeber hat in § 20a AZG zum Ausdruck gebracht, dass durch Vereinbarungen über die Rufbereitschaft die ungetrübte Freizeit des Dienstnehmers in einem bestimmten Mindestausmaß gewahrt bleiben muss und dass Arbeitseinsätze während der Rufbereitschaft die Grenzen der Arbeitszeit und der täglichen Ruhezeit nur in bestimmtem Rahmen zu Lasten des Dienstnehmers lockern dürfen. Die Vereinbarung eines höheren als nach § 20a AZG zulässigen Ausmaßes ist unwirksam.“15

13 14

15

So hält der VwGH fest, dass Rufbereitschaft umso weniger anzunehmen ist, je öfter in der Bereitschaftszeit tatsächlich Arbeit anfällt; vgl. Erkenntnis v. 2.12.1991, 91/19/0248, 0249, 0250 = RdA 1992/31 m. Anm. v. Pfeil. Einen tabellarischen Überblick über die Arbeitszeitgrenzen stellen das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und dessen Zentral-Arbeitsinspektorat zur Verfügung; online verfügbar unter: http://www.arbeitsinspektion.gv.at/NR/rdonlyres/40F10357-56A7-441F-A14C-80BBC2E9253E/0/ Arbeitszeitgrenzen_Allgemein.pdf. V. 6.4.2005, 9 ObA 71/04p, Arb 12.518 = RdA 2006/16 m. Anm. v. B. Schwarz = EvBl 2005/156 = ecolex 2005/292.

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Die Vereinbarung eines höheren als nach § 20a AZG zulässigen Ausmaßes ist nach der Rechtsprechung des OGH damit unwirksam. Die Heranziehung von Dienstnehmern entgegen § 20a AZG ist vielmehr nach § 28 AZG sogar strafbar:16 „§ 28 AZG (1) Arbeitgeber, die (…) 2. Arbeitnehmer entgegen § 19a Abs. 7 zur Ruferreichbarkeit oder § 20a Abs. 1 zur Rufbereitschaft heranziehen oder entgegen § 19a Abs. 9 beschäftigen; (…) sind, sofern die Tat nicht nach anderen Vorschriften einer strengeren Strafe unterliegt, von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe von 20 Euro bis 436 Euro zu bestrafen. (2) Arbeitgeber, die 1. Arbeitnehmer über die Höchstgrenzen der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit gemäß § 2 Abs. 2, § 7, § 8 Abs. 1, 2 oder 4, § 9, § 12a Abs. 5, § 18 Abs. 2 oder 3, § 19a Abs. 2 oder 6 oder § 20a Abs. 2 Z. 1 hinaus einsetzen; (…) 3. die tägliche Ruhezeit gemäß § 12 Abs. 1 bis 2b, § 18a, § 18b Abs. 1, § 18c Abs. 1, § 18d, § 18g, § 19a Abs. 8, § 20a Abs. 2 Z. 2 oder § 20b Abs. 4 oder Ruhezeitverlängerungen gemäß § 19a Abs. 4, 5 oder 8 oder § 20a Abs. 2 Z. 1 nicht gewähren; (…) sind, sofern die Tat nicht nach anderen Vorschriften einer strengeren Strafe unterliegt, von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe von 72 Euro bis 1 815 Euro, im Wiederholungsfall von 145 Euro bis 1 815 Euro zu bestrafen. (4) Abweichend von Abs. 2 und 3 sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, sofern die Tat nicht nach anderen Vorschriften einer strengeren Strafe unterliegt, von der Bezirksverwaltungsbehörde im Wiederholungsfall mit einer Geldstrafe von 218 Euro bis 3 600 Euro zu bestrafen, wenn 1. die Höchstgrenze der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit (Abs. 2 Z. 1 oder Abs. 3 Z. 1) um mehr als 20 % überschritten wurde, oder 2. die tägliche Ruhezeit (Abs. 2 Z. 3 oder Abs. 3 Z. 5) weniger als acht Stunden betragen hat, soweit nicht eine kürzere Ruhezeit zulässig ist.“ § 28 zeigt, dass er gezielt danach differenziert, ob eine Regelung des AZG, deren Nichteinhaltung er bestraft, unmittelbar dem Gesundheitsschutz dient (wie etwa die Einhaltung der Höchstgrenzen der Arbeitszeit) oder ob es sich eher um administrative Verfahrenspflichten handelt, die missachtet (oder jedenfalls nicht hinreichend beachtet) wurden.17 Der Verstoß 16

17

Vgl. dazu auch Dittrich/Tades, Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten2, § 20a AZG E 1 f.; Pfeil, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 20a Rz. 2. Vgl. dazu Pfeil, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 28 Rz. 2; sowie auch ErläutRV 141 BlgNR 23. GP 7: „Um zu verdeutlichen, dass vor allem der Schutz der Gesundheit im Mittelpunkt steht, wurden die bisher in einem Absatz zusammengefassten Tatbestände danach differenziert, ob sie unmittelbar dem Gesundheitsschutz dienen wie die Höchstgrenzen der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit oder die Mindestruhezeiten, oder ob es sich um eher verfahrensrecht-

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gegen § 20a Abs. 1 AZG ist danach nach dem milderen § 28 Abs. 1 Z. 2 zu ahnden, ein Verstoß gegen Abs. 2 jedoch nach dem strengeren § 28 Abs. 2 Z. 1 oder 3 AZG.18 Befürwortet man für die Konstellation bestimmter Anrufe, dass deren Entgegennahme/Bearbeitung unter den Begriff der „Arbeitszeit“ zu subsumieren ist, ist die Strafbarkeit i. S. d. § 28 hiernach zu bemessen (vgl. z. B. § 28 Abs. 2 Z. 1 oder auch Abs. 4 Z. 1 AZG).19 Verhältnis zur Kriminalstrafe Zentral von Bedeutung ist vorliegend jedoch in erster Linie das Verhältnis dieser verwaltungsstrafrechtlichen Normen zum Strafgesetzbuch und im Besonderen dessen § 88 StGB. Letzterer stellt die fahrlässige Körperverletzung unter Strafe und normiert sohin ein Erfolgsdelikt. Demgegenüber setzen die Regelungen des AZG allesamt zwar bereits bei der (bloß) abstrakten Gefährlichkeit eines Verhaltens des Arbeitgebers an. Die Tatsache, dass es Delikte abstrakter Gefährdung20 gibt, schließt jedoch gerade nicht aus, dass ein- und dieselbe Handlung auch ein Erfolgsdelikt verwirklichen kann. Augenfällig ist dies etwa bei §§ 178 und 179 StGB (vorsätzliche bzw. fahrlässige Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten).21 Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um Verwaltungs- oder Kriminalstraftatbestände handelt. Die Existenz der erwähnten Vorschriften des AZG führt also nicht zu einem Tatbestandsausschluss bei § 88 (oder gar § 83) StGB. Im Folgenden geht es zentral um eine solche etwaige gerichtliche Strafbarkeit des Arbeitgebers nach § 88 (oder § 83) StGB.

3.2

Kriminalstrafe

§§ 88 und 83 StGB § 88 StGB stellt die fahrlässige Körperverletzung unter Strafe. Als strafbares Verhalten des Täters kommt hierbei grundsätzlich jede Handlung in Frage, die zum Erfolg in Gestalt genau jener Körperverletzung führt. Die Tathandlung des Arbeitgebers, der eine Körperverletzung oder genauer: Gesundheitsschädigung seines Arbeitnehmers verursacht, wäre grundsätzlich bereits in der Vereinbarung der Rufbereitschaft zu erblicken. Dies ist auch bei Zugrundelegung dargestellter Rechtsprechung des OGH22 konsequent, wonach schon die Vereinbarung überhöhter Rufbereitschaftsdauer unwirksam sein soll. Folgerichtig ist dieser Anknüpfungspunkt auch für die gerichtliche Strafbarkeit zu wählen. Voraussetzung ist naturgemäß, dass diese Vereinbarung sozial inadäquat war (objektive Zurechenbarkeit, dazu sogleich).

18 19 20 21

22

liche Tatbestände handelt wie die Verletzung von Auskunfts- oder Meldepflichten. (…) Abs. 2 enthält nunmehr ‚schwerere‘ Tatbestände…“. Zum Wortlaut des § 20a AZG siehe bereits vorne 2.2. Zu den Normadressaten, Strafbarkeitsvoraussetzungen etc. ausführlich etwa Pfeil, in: Grillberger, AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie (2011), § 28 Rz. 4 ff. Zu diesem Deliktstyp instruktiv etwa Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1994), S. 63 f. m. w. N. Für echte Konkurrenz zu den Delikten gegen Leib und Leben beispielsweise auch Hinterhofer, Strafrecht Besonderer Teil II (2005), §§ 178, 179 StGB Rz. 10; Kienapfel/Schmoller, Studienbuch Strafrecht, Bd. 3: Delikte gegen sonstige Individual- und Gemeinschaftswerte (2009), §§ 178, 179 StGB Rz. 19; Leukauf/Steininger, Kommentar zum Strafgesetzbuch (1992), § 178 StGB Rz. 14 und § 179 StGB Rz. 7; a. A. für §§ 80 und 88 StGB Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht Besonderer Teil, Bd. 2 (2010), §§ 178, 179 StGB Rz. 1. V. 6.4.2005, 9 ObA 71/04p, Arb 12.518 = RdA 2006/16 m. Anm. v. B. Schwarz = EvBl 2005/156 = ecolex 2005/292.

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Eine Gesundheitsschädigung als Taterfolg des § 88 Abs. 1 (oder 4) StGB liegt dann vor, wenn durch die Tathandlung eine körperliche oder seelische Störung herbeigeführt (oder eine bereits bestehende verschlimmert) wird.23 Vorausgesetzt ist eine Funktionsstörung, der nach Art und Ausmaß Krankheitswert zuerkannt wird.24 Eine gewisse Erheblichkeitsschwelle muss damit überschritten werden. Bloße Übermüdungserscheinungen infolge zahlreicher nächtlicher Telefonanrufe etwa erfüllen den Begriff der Gesundheitsschädigung für sich genommen damit noch nicht.25 Die Bagatellschwelle wird umgekehrt etwa bei schweren Schlafstörungen oder Depressionen überschritten.26 Dasselbe muss auch für etwa ein pathologisch und somatisch objektiviert festgestelltes Burn Out-Syndrom gelten.27 Weitere Voraussetzung ist, dass genau jene Vereinbarung der Rufbereitschaft des Dienstnehmers kausal für die geschilderte Gesundheitsschädigung war. Dass etwa das Überlassen des Diensthandys und die zeitgleich ausgesprochene Forderung jederzeitiger (telefonischer) Verfügbarkeit tatsächlich ursächlich für etwa eine spätere Depression des Arbeitnehmers war, wird sich freilich in der Praxis oft nur schwer nachweisen lassen. Dass der Kausalitätsnachweis schwierig ist, führt aber nicht zur generellen Ablehnung der Kausalität. Vielmehr hat ja – wie das Beispiel des § 178 StGB zeigt – oft diese Schwierigkeit dazu geführt, dass man statt einer konkreten Gefährdung nur eine abstrakte Gefährdung pönalisiert. Nicht jede denkbare Rufbereitschaftsvereinbarung soll nämlich bereits eine Strafbarkeit des Arbeitgebers nach dem StGB begründen. Unabdingbar ist vielmehr, dass die Handlung des Arbeitgebers sozial inadäquat i. S. v. § 88 Abs. 1 StGB war. Für die Beurteilung ist ein entsprechender Maßstab anzulegen. Bedenkt man, dass die dargestellten arbeitsrechtlichen Normen (v. a. im AZG und ARG) maßgeblich die Gesundheit des Arbeitnehmers zum Schutzgut haben, können genau diese arbeitsrechtlichen Schutznormen ein solcher objektiver Sorgfaltsmaßstab für die Prüfung einer Fahrlässigkeit des Arbeitgebers sein. Sie normieren folglich die Grenze, deren Überschreiten ein sozial inadäquates Risiko schafft. Führt der Verstoß gegen eine dieser Schutznormen tatsächlich zu einer Gesundheitsschädigung des Arbeitnehmers, kann die objektive Vorhersehbarkeit dieser Gesundheitsschädigung als zentrale Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 88 Abs. 1 (und ggf. 4) StGB für den Arbeitgeber bejaht werden. Über den zeitlichen Rahmen der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit einer Rufbereitschaft hinaus handelt er nach alledem in der Regel sorgfaltswidrig.

23

24 25 26

27

So die h. M. für den Begriff im StGB; vgl. dazu ausführlich Birklbauer/Hilf/Tipold, Strafrecht Besonderer Teil I (2011), § 83 StGB Rz. 8; Burgstaller/Fabrizy, Kommentierung des § 83, in: Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum StGB2, § 83 Rz. 9; Kienapfel/Schroll, Strafrecht BT I (2008), § 83 StGB Rz. 15; Leukauf/Steininger, Strafgesetzbuch (1992), § 83 Rz. 9; Lewisch, Strafrecht BT I (1999), § 83 StGB, S. 25; vgl. auch OGH etwa v. 27.6.2001, 13 Os 36/01 = JBl 2002, 129; v. 7.6.2000, 13 Os 169/99 = JBl 2001, 255 m. Anm. v. Burgstaller; v. 31.7.1986, 13 Os 98/86 = SSt 57/56; a. A. Bertel/Schwaighofer, Strafrecht BT I (2010), § 83 StGB Rz. 4; Messner, Kommentierung des § 83, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum StGB, § 83 Rz. 63, wonach seelische Leiden gerade nicht erfasst sein sollen. Burgstaller/Fabrizy, Kommentierung des § 83, in: Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum StGB2, § 83 Rz. 10. So Lewisch, Strafrecht Besonderer Teil I (1999), § 83 StGB, S. 26. Kienapfel/Schroll, Studienbuch Strafrecht, Bd. 1: Delikte gegen Personenwerte (2008), § 83 StGB Rz. 20. Diese können u. U. sogar eine schwere Körperverletzung nach § 88 Abs. 4 StGB darstellen; vgl. hierzu OGH v. 6.4.1999, 14 Os 15/99 = EvBl 1999/163 = ÖJZ-LSK 1999/180. Zahlreiche weitere Beispiele bereitet Velten, Stalking – Teil 1 (2003), S. 163 ff. m. w. N., im Detail auf.

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467

Letzteres ist folglich regelmäßig der Fall, wenn etwa eine Rufbereitschaft über mehrere Monate hinweg ohne Unterbrechung vereinbart wurde.28 Kommt es in dieser Zeit (genauer: ab Überschreiten der gesetzlich zulässigen Höchstfrist) zu einer Gesundheitsschädigung des Arbeitnehmers, ist sie dem Arbeitgeber zuzurechnen. Dies muss unabhängig davon gelten, wie viele Male die Rufbereitschaft tatsächlich genutzt wurde und ob in dieser Phase der Rufbereitschaft tatsächlich Arbeit anfiel oder nicht. Nach alledem stellt es zusammenfassend jedenfalls eine objektive Sorgfaltswidrigkeit dar, wenn der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer, der unter das AZG/ARG fällt, ein Betriebshandy überlässt und zugleich die ständige Erreichbarkeit des Arbeitsnehmers vereinbart. War der daraus resultierende Körperverletzungserfolg für den Arbeitgeber darüber hinaus auch subjektiv vorhersehbar (Regelfall), kann eine Strafbarkeit nach § 88 StGB begründet werden. Ob darüber hinaus das Vorsatzdelikt des § 83 Abs. 1 StGB (und ggf. die darauf folgenden Bestimmungen) greift (greifen), hängt nach § 5 Abs. 1 HS 2 StGB davon ab, ob der Arbeitgeber bedingten Vorsatz hat. Dies richtet sich nach allgemeinen Regeln und wird hier nicht weiter verfolgt. Exkurs: § 107a StGB Eine andere strafrechtliche Grenze wäre zugleich dort erreicht, wo der Arbeitgeber (in und außerhalb der Phasen der Rufbereitschaft) so oft anruft, dass die Grenze zur beharrlichen Verfolgung nach § 107a StGB überschritten wird. § 107a StGB verbietet namentlich die beharrliche – auch telefonische – Kontaktaufnahme durch den Arbeitgeber, wenn sie geeignet ist, den Arbeitnehmer in seiner Lebensführung unzumutbar zu beeinträchtigen. Als Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen „Stalkings“ verlangt das Gesetz allerdings insbesondere die „Widerrechtlichkeit“ dieser wiederholten Kontaktaufnahme.29 Dies kann übertragen auf hiesige Problemstellung zweierlei bedeuten: Zunächst fallen Anrufe des Dienstgebers, die nicht die Tätigkeit des rufbereiten Dienstnehmers zum Gegenstand haben, unter diesen Begriff. Widerrechtlich ist die Verfolgung aber schließlich auch, wenn der Arbeitgeber trotz Überschreitens oben geschilderter arbeitsrechtlicher Zulässigkeitsgrenzen weiterhin anruft. Die Widerrechtlichkeit ergibt sich diesfalls nämlich aus dem Verstoß gegen das Recht des AZG oder ARG. Grafische Zusammenfassung Zusammenfassend kann die kriminalstrafrechtliche Relevanz von Rufbereitschaftsvereinbarungen schließlich grafisch dargestellt werden. Als Ausgangssituation soll zunächst die Rechtmäßigkeit einer solchen Übereinkunft samt ihrer praktischen Durchführung illustriert werden: 28

29

In einem einzigen Fall wäre die Strafbarkeit nach § 88 Abs. 1 (und u. U. 4) StGB sogar unabhängig von zitierten arbeitsrechtlichen Grenzen erreicht: Dies dann, wenn zwar innerhalb des arbeitsrechtlichen Rahmens agiert wird, es aber objektiv wie subjektiv vorhersehbar war, dass der Arbeitnehmer durch die Anforderungen einer Rufbereitschaft (insbesondere psychisch) erkranken würde. Eine solche Konstellation könnte etwa bei älteren, gebrechlichen oder psychisch labilen Personen eintreten, denen „permanente Erreichbarkeit“ aus verschiedensten gesundheitlichen Gründen nicht mehr zumutbar ist. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelnen instruktiv etwa Birklbauer/Hilf/Tipold, Strafrecht Besonderer Teil I (2011), § 107a StGB Rz. 5 ff.; Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil, Bd. 2 (2010), § 107a StGB Rz. 2 ff.; Kienapfel/Schroll, Studienbuch Strafrecht, Bd. 1, Delikte gegen Personenwerte (2008), § 107a StGB Rz. 4 ff.; Schwaighofer, Kommentierung des § 107a, in: Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum StGB2, § 107a Rz. 7 ff.

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A

A

Rufbereitschaft III

Rufbereitschaft II

Rufbereitschaft I

A

A

A

A

A

A

A

30

Abbildung 1:

Rechtmäßigkeit der Rufbereitschaftsvereinbarung

Wird in Übereinstimmung mit oben dargestellten arbeitsrechtlichen Schutznormen Rufbereitschaft vereinbart und – unterhalb der Schwelle des § 107a StGB – durch den Dienstgeber auch wahrgenommen, ist ihm folglich eine dennoch eintretende Gesundheitsschädigung des Dienstnehmers in aller Regel (zur einzigen Ausnahme vgl. bitte Fn. 28) nicht i. S. einer Strafbarkeit nach § 88 Abs. 1 (und 4) StGB zuzurechnen. Anders verhält es sich, wenn die arbeitsrechtlichen Grenzen überschritten werden:

Rufbereitschaft

A

A

A

A

A A

A

A

A

A A

A

A 31

Abbildung 2:

Rechtswidrigkeit der Rufbereitschaftsvereinbarung bei zu langer Rufbereitschaftsdauer I

Für die Strafbarkeit des Arbeitgebers ist es diesfalls irrelevant, wie groß der Arbeitsanfall in dieser Zeit war, sofern die Vereinbarung der unzulässigen Rufbereitschaftsdauer kausal für die eintretende Gesundheitsschädigung des Arbeitnehmers war:

Rufbereitschaft

A Abbildung 3:

A

A

A

A

A

A

A

A

Rechtswidrigkeit der Rufbereitschaftsvereinbarung bei zu langer Rufbereitschaftsdauer II

32

Dies wird in der Praxis allerdings naturgemäß schwer nachzuweisen sein, weil es dann darum geht darzulegen, dass der Arbeitgeber durch die Rufbereitschaftsvereinbarung einen solchen – insbesondere – psychischen Druck auf den Arbeitnehmer ausübt, dass letzter daran erkrankte. Die „Lebensnähe“ dieser Kausalkette ist nichtsdestoweniger gegeben. Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ist überdies unter den dargestellten Voraussetzungen des § 107a StGB anzudenken. Auch diese Konstellation soll grafisch veranschaulicht werden:

30 31 32

Eigene Darstellung. Eigene Darstellung. Eigene Darstellung.

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Rufbereitschaft

AAAAAA A A A Abbildung 4:

Rechtswidrigkeit der Anrufanzahl bei Widerrechtlichkeit der Kontaktaufnahmen

33

Als praktisches Fazit hieraus kann man festhalten: Werden feste Zeiten der „Handyruhe“ vereinbart, also Zeiten, in denen das Handy ausgeschaltet werden darf und nicht empfangsbereit sein muss, dann können strafrechtliche Risiken von vornherein weitgehend vermieden werden. Voraussetzung ist darüber hinaus freilich, dass auch die Höchstgrenzen der zulässigen Rufbereitschaftsdauer eingehalten werden.

4

Rechtfertigung durch Einwilligung des Arbeitnehmers?

Freilich liegt es nahe zu argumentieren, eine etwaige kausal und objektiv zurechenbare Köperverletzung wäre (unabhängig von Verstößen gegen das Arbeitnehmerschutzrecht) durch Einwilligung des Arbeitsnehmers (§ 90 Abs. 1 StGB) aus strafrechtlicher Sicht gerechtfertigt. Immerhin übernimmt der Arbeitnehmer das Diensthandy vom Arbeitgeber gerade mit der Auflage ständiger oder weitreichender Erreichbarkeit. Ähnlich wie der Wettkampfsportler (z. B. Boxer oder Fußballspieler) u. U. in einen Körperverletzungserfolg einwilligt, ließe sich beim Arbeitnehmer anführen, er willige ebenfalls in eine spätere Gesundheitsschädigung ein.34 Allerdings sind die beiden Konstellationen trennscharf zu unterscheiden: Der Arbeitnehmer, der einer gesetzwidrigen Rufbereitschaftsdauer zustimmt, willigt damit nur in genau diese (gesetzwidrige) Vereinbarung der Erreichbarkeit ein. Eine solche Übereinkunft ist ohnedies unwirksam nach herrschender Rechtsprechung des OGH, wie bereits dargestellt wurde. Davon zu differenzieren ist aber eine etwaige Einwilligung in eine Gesundheitsschädigung i. S. d. § 88 StGB. Vom Vorliegen einer solchen kann bei bloßer Akzeptanz der Rufbereitschaft durch den Arbeitnehmer keinesfalls ausgegangen werden. Allenfalls könnte noch diskutiert werden, ob der Arbeitnehmer bei Zusage der Rufbereitschaft in eine bloße Gefährdung seiner Gesundheit einwilligt. Dies allerdings würde wiederum keinen hinreichenden Rechtfertigungsgrund nach § 88 StGB darstellen, weil dieser gerade nicht nur die bloße Gefährdung, sondern die tatsächliche Verletzung unter Strafe stellt. Eine Rechtfertigung des Arbeitsgebers für den Fall einer eingetretenen Gesundheitsschädigung des Arbeitnehmers ist aus diesem Grunde klar zu verneinen.

33 34

Eigene Darstellung. Zur Einwilligungsproblematik bei Sportverletzungen instruktiv Kienapfel/Schroll, Studienbuch Strafrecht, Bd, 1: Delikte gegen Personenwerte (2008), § 88 StGB Rz. 21 f. m. w. N.

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Fazit: Strafbarkeit nach dem StGB

Der Arbeitgeber ist nach alledem bei der Vereinbarung von Rufbereitschaft eines Arbeitnehmers per Handy an zweierlei rechtliche Grenzen gebunden: Zunächst sind für ihn die Arbeitnehmerschutznormen (v. a.) des AZG und ARG zu beachten. Bei Verstoß gegen diese Bestimmungen droht das Gesetz Verwaltungsstrafen an. Dies geschieht unabhängig von einem etwaigen tatsächlich eingetretenen Schaden des Arbeitnehmers. Die bloße Gefährdung seiner Gesundheit und seines Wohlbefindens genügt nach arbeitsrechtlichen Vorgaben bereits als Grundlage für die Strafbarkeit des Dienstnehmers. Der Arbeitgeber kann sich darüber hinaus aber zugleich auch wegen fahrlässiger (oder gar vorsätzlicher) Körperverletzung nach (insbesondere) § 88 StGB gerichtlich strafbar machen, wenn er seinen Arbeitnehmern ein Diensthandy überlässt und dabei letztlich voraussetzt, dass der Arbeitnehmer in einem den Körper verletzenden Maße erreichbar ist. Voraussetzung hierfür ist allen voran allerdings der tatsächliche Eintritt einer Gesundheitsschädigung des Dienstnehmers, für welche eine sorgfaltswidrige Vereinbarung der Rufbereitschaft kausal war. Vermieden werden können solche Strafbarkeitsrisiken 1. durch die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Höchstgrenzen der Rufbereitschaftsdauer zusammen mit 2. der Vereinbarung fester Zeiten der Nichterreichbarkeit, die ebenfalls im Einklang mit den arbeitsrechtlichen Schutznormen stehen.

Literatur Bertel, C./Schwaighofer, K./Venier, A.: Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil, Bd. 1: §§ 75 bis 168e StGB, 11., vollst. überarb. Aufl., Wien u. a. 2010. Bertel, C./Schwaighofer, K.: Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil, Bd. 2: §§ 169 bis 321 StGB, 9., vollst. überarb. Aufl., Wien u. a. 2010. Binder H./Brunner R./Szymanski E.-E.: AZG – Arbeitszeitgesetz: Mit der neuen LenkzeitenVerordnung der EU, Wien/Graz 2006. Birklbauer, A./Hilf, M. J./Tipold, A.: Strafrecht Besonderer Teil I, §§ 75–168e StGB, Wien 2011. Burgstaller, M./Fabrizy, E. E.: Kommentierung des § 83 StGB, in: Höpfel, F./Ratz, E.: Wiener Kommentar zum StGB2, Stand 2002. Díez Ripollés, J. L.: Symbolisches Strafrecht und die Wirkungen der Strafe, in: ZStW, 113 (2001), S. 516–538. Dittrich, R./Tades, H.: Arbeitsrecht: die Rechtsvorschriften betreffend das privatrechtliche Dienstverhältnis der Arbeiter und Angestellten; mit verweisenden und erläuternden Anmerkungen und einer Übersicht der gesamten Rechtsprechung, 2., neu bearb. Aufl., Wien 2010. Fuchs, H./Reindl-Krauskopf, S.: Strafrecht Besonderer Teil – Delikte gegen den Einzelnen (Leib und Leben, Freiheit, Ehre, Privatsphäre, Vermögen), 3., überarb. und erw. Aufl., Wien u. a. 2009. Grabenwarter, C.: Europäische Menschenrechtskonvention: ein Studienbuch, 4. Aufl., München/Wien 2009. Grillberger, K. (Hrsg.): AZG – Arbeitszeitgesetz. Mit den wichtigen Verordnungen und der Arbeitszeit-Richtlinie, 3. Aufl., Wien 2011. Grillberger, K.: Kommentierung des § 2 AZG, in: Grillberger, K.: AZG (2011). Hassemer, W.: Strafen im Rechtsstaat, 1. Aufl., Baden-Baden 2000.

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Hinterhofer, H.: Strafrecht Besonderer Teil II, §§ 169 bis 321 StGB, 4., neu bearb. Aufl., Wien 2005. Höpfel, F./Ratz, E. (Hrsg.): Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2., vollst. neu bearb. Aufl., Wien, ab 1999. Kienapfel, D./Schmoller, K.: Studienbuch Strafrecht, Bd. 3: Delikte gegen sonstige Individual- und Gemeinschaftswerte, 2. Aufl., Wien 2009. Kienapfel, D./Schroll, H. V.: Studienbuch Strafrecht, Bd. 1: Delikte gegen Personenwerte, 2. Aufl., Wien 2008. Leukauf, O./Steininger, H.: Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3., völlig neu bearb. Aufl., Eisenstadt 1992. Lewisch, P.: Strafrecht Besonderer Teil I, 2., neu bearb. Aufl., Wien 1999. Messner, F.: Kommentierung des § 83 StGB, in: Triffterer, O./Rosbaud, C./Hinterhofer, H.: Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 18. Lieferung, 2008. Pfeil, W.: Kommentierung der §§ 20a und 28 AZG, in: Grillberger, K., AZG (2011). Schwaighofer, K.: Kommentierung des § 107a StGB, in: Höpfel, F./Ratz, E.: Wiener Kommentar zum StGB2, Stand 2010. Triffterer, O.: Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil, 2., neu bearb. Aufl., Wien 1994. Triffterer, O./Rosbaud, C./Hinterhofer, H. (Hrsg.): Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Wien, ab 1992. Velten, P.: Stalking – Teil 1, in: JSt, 5 (2003), S. 159–166. Voß, M.: Symbolische Gesetzgebung: Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten, Ebelsbach 1989. http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=38866&Cr=torture&Cr1= [26.9.2011]. http://www.arbeitsinspektion.gv.at/NR/rdonlyres/40F10357-56A7-441F-A14C-80BBC2E9253E/0/ Arbeitszeitgrenzen_Allgemein.pdf [26.9.2011].

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie Günther Kreuzbauer

1

Einleitung*

In vielen Wissenschaften wird neben der sprachlichen Kommunikation auch die Bildkommunikation verwendet: In praktisch allen Naturwissenschaften nützt man fototechnisch produzierte bewegte oder unbewegte Bilder (Foto und Film [bzw. Video]). Man erinnere sich aber auch an die ästhetisch teilweise sehr ansprechenden so genannten naturhistorischen Zeichnungen früherer Jahrhunderte1, die Prinzipiendarstellungen der Physik oder die chemischen Strukturformeln2. In der Medizin ist das Bild (aller-)spätestens seit Andreas Vesalius (1514 bis 1564)3 nicht mehr wegzudenken und in praktisch allen technischen Wissenschaften werden technische Zeichnungen verwendet. Weniger häufig findet man das Bild in den Sozialwissenschaften und viele Geistes- und Kulturwissenschaften, so wie etwa die Sprachwissenschaften und der größere Teil der Geschichtswissenschaft – nicht hingegen die Kunstwissenschaften und die Archäologie – sind fast als ikonophob zu bezeichnen. Innerhalb der Sozialwissenschaften wiederum kann sich insbesondere die Rechtswissenschaft nur wenig mit dem Bild anfreunden4, während es für die Wirtschaftswissenschaften ein fixer, wenn auch, wie noch auszuführen ist, unreflektierter Bestandteil ist: Praktisch alle wirtschaftswissenschaftlichen Teildisziplinen sowohl der Volkswirtschaftslehre als auch der Betriebswirtschaftlehre verwenden Informationsgrafiken, etwa in Form von statistischen Diagrammen * 1

2 3 4

Den Vorgaben der Herausgeber/-innen folgend wird auf die Anführung der weiblichen sprachlichen Form verzichtet. Auch heute noch sind etwa die Zeichnungen des schottischen Zeichners Sydney Parkinson (1745 bis 1771) bekannt, der die erste Entdeckungsreise von James Cook (1728 bis 1779) mitmachte, auf der er jedoch bedauerlicherweise verstarb. Diese Visualisierungsmethode wurde im Wesentlichen von Friedrich August Kekulé von Stradonitz (1829 bis 1896) entwickelt. Vgl. Vesalius, De humani corporis fabrica libri septem (1543). Die bekannten anatomischen Zeichnungen Leonardo da Vincis (1452 bis 1519) sind nicht als Bestandteil der medizinischen Wissenschaft zu werten. Als Ausnahmen sind für den deutschsprachigen Raum vor allen anderen Gernot Kocher (vgl. Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts [1992]), Friedrich Lachmayer (vgl. Lachmayer, Grundzüge einer Normentheorie [1977]) und Klaus F. Röhl (vgl. Röhl/Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation [2000] sowie Bildkommunikation im Recht [2001]) zu nennen. Vgl. aber auch Brunschwig, Legal Design und Web Based Legal Training (2002) und Rechtsvisualisierung – Skizze eines nahezu unbekannten Feldes (2009); Hilgendorf, Dtv-Atlas Recht, Band 1 (2003) und Band 2 (2008) und Beiträge zur Rechtsvisualisierung (2005) sowie Kreuzbauer, Vizualisation of Legal Argumentation (2007).

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Günther Kreuzbauer

aber auch als Baum- und Flussdiagramme (insb. Kreislaufdiagramme) mit meist prinzipiendarstellender Funktion, Beeinflussungsdiagramme etc. Alle aktuellen Lehrbücher5 enthalten Informationsgrafiken und als einer derjenigen, die sich besonders intensiv und erfolgreich darum verdient gemacht haben, ist Richard Hammer zu nennen, dem diese Festschrift gewidmet ist.6 Trotz der ersichtlichen Relevanz des Themas findet man über das Bild in den Wissenschaften kaum theoretische Fundierung, d. h. weder eine Phänomenologie, noch eine Theorie über die relevanten Prinzipien, noch sonst etwas in hinreichendem Ausmaß.7 Das gilt auch für die Wirtschaftswissenschaften und findet seine Parallele in der wirtschaftlichen Praxis ebenso. Das hier zu besprechende Phänomen der (nicht-animierten) Informationsgrafik in den Wirtschaftswissenschaften ist also nach wie vor theoretisch unreflektiert, weshalb die kommunikativen, zeichentheoretischen etc. Funktionen und Zwecke, die mit dem Einsatz von Informationsgrafik verbunden werden, nicht systematisiert sind: Bei vielen in den wirtschaftswissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern verwendeten Informationsgrafiken ist nicht klar, ob sie argumentativ oder illustrativ zu verstehen sind. Viele scheinen empirisch gemeint, könnten aber auch normativ gelesen werden. Viele scheinen den Status des Actus wiedergeben zu wollen, könnten aber auch im Sinne der Potentia gedeutet werden etc. Wenn Informationsgrafiken in rechtfertigende Argumentationen eingebaut werden, stellt sich außerdem die Frage nach ihrer genauen argumentativen Funktion und nach etwaigen funktional besseren Alternativen. In vielen Fällen hat es den Anschein, dass ein sehr intuitiver Zugang verwendet wird, gepaart mit viel Improvisation. Dieser Text soll ein kleiner Beitrag zur tieferen Analyse, Präzisierung und theoretischen Fundierung des Phänomens der (nicht-animierten) Informationsgrafik in den Wirtschaftswissenschaften sein.8 Dabei wird zwar ein Auge ständig auf die Wirtschaftswissenschaften gerichtet werden, es wird sich aber nicht vermeiden lassen, dass das andere Auge auf andere Aspekte blickt, und zwar diejenigen, die sachlogisch vorher zu denken sind, nämlich Bestandserhebung und Phänomenologie der Informationsgrafik im Generellen. Das eine ist eine Art philosophisch-interdisziplinärer Rekurs auf mehrere einschlägige wissenschaftliche Disziplinen. Das andere erweist sich als Kategorisierungsaufgabe, die unter Anwendung des etablierten Begriffsapparats der zeitgenössischen Philosophie zu lösen ist. Insgesamt versteht sich der Text deshalb auch als Beitrag zur angewandten Philosophie und wenn dabei eine gewisse Nähe zur analytischen Richtung der modernen Philosophie heraus gelesen wird, ist 5

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In der Volkswirtschaftslehre verwendet beispielsweise Paul A. Samuelson unterschiedliche Grafiken bereits in der ersten Auflage seines bekannten Lehrbuchs, wenn auch nicht besonders ausgiebig (vgl. Samuelson, Economics: An Introductory Analysis [1948], S. 19, 20, 28 etc.). Im Bereich der Betriebswirtschaftslehre findet sich etwa auch bei Günter Wöhe (vgl. Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre [1993]) der Einsatz weniger aber sehr unterschiedlicher Grafiken; Henner Schierenbeck und Claudia Wöhle (vgl. Schierenbeck/Wöhle, Grundzüge der Betriebswirtschaftslehre [2008]) verwenden erheblich mehr und auch optisch gelungenere Grafiken. Richard Hammers „Führungsorientiere Betriebswirtschaftslehre“ (vgl. Hammer, Führungsorientierte Betriebswirtschaftslehre [2007]) zeigt deutlich, dass Hammer auf den Einsatz von Grafik besonders großen Wert gelegt und damit die Rolle des Pioniers für die weitere Entwicklung gespielt hat. Als Ausnahmen sind vor allem Otto Neurath (vgl. Neurath, International Picture Language [1936]), Jacques Bertin (vgl. Bertin, Séminologie Graphique [1967]) und Edward Tufte (vgl. Tufte, The Visual Display of Quantitative Information [1983, hier zitiert nach der 2. Auflage von 2001], Envisioning Information [1990] und Visual Explanations [1997]) zu nennen, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Dieser Text ist der erste von zwei geplanten Beiträgen zur Theorie der Informationsgrafik in den Wirtschaftswissenschaften. Er beschäftigt sich mit den generellen Aspekten, während der zweite den speziellen gewidmet sein wird.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

475

das nicht ganz unbeabsichtigt. Auf dieser Basis sollen in der gebotenen Kürze dieses Textes jedenfalls folgende Themen behandelt werden: • • • •

2

Relevante Aspekte der Informationsgrafik Definition des Begriffs der Informationsgrafik Geschichtliche Entwicklung der Informationsgrafik Phänomenologie der Informationsgrafik

Relevante Aspekte der Informationsgrafik

Was ist Informationsgrafik?9 An den Anfang seien als erste Annäherung drei Überlegungen gestellt, die so basal sind, dass man annehmen darf, dass darüber Konsens besteht: (1) Bei Informationsgrafik geht es um Information10; (2) Informationsgrafik wird mit den Techniken der Grafik erzeugt und (3) Informationsgrafik dient als Kommunikationsmedium.11 Daraus ergibt sich eine Reihe von Aspekten, so wie etwa der kommunikationstheoretische, der künstlerische und der technische, die irgendwie mit Informationsgrafik zu tun haben und mit denen sie in einem – im Detail sehr komplexen – Spannungsverhältnis steht: Obwohl Informationsgrafiken beispielsweise üblicherweise durch die künstlerische Technik der Grafik – und nicht die der Malerei – erzeugt werden, sind sie nicht automatisch als Kunstwerke anzusehen.12 Obwohl sie wie technische Zeichnungen in der Regel nicht fotografiert aber auch nicht freihändig gezeichnet, sondern mittels technischer Hilfsmittel produziert werden, macht sie das nicht automatisch zu technischen Zeichnungen. Obwohl sie normalerweise mit der Funktion der Information (= Informativität) verbunden sind, können sie trotzdem ästhetisch schön sein. Dies ließe sich beliebig fortsetzen, führte aber immer wieder zur selben Erkenntnis, nämlich dass Informationsgrafik offenbar quer zu den üblichen Kategorien liegt und die Grenzen fließend sind. Dies muss also näher analysiert werden und am besten beginnt man mit den drei relevantesten Aspekten, nämlich: • • •

2.1

semiotischer Aspekt Kunstaspekt Technikaspekt

Semiotischer Aspekt

Unter ‚Semiotik‘ wird im Allgemeinen die Wissenschaft von den Zeichen verstanden.13 Der semiotische Aspekt der Informationsgrafik beinhaltet demnach alles, was deren Zeichencha9

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In diesem Beitrag geht es nur um die nicht-animierte Informationsgrafik. Auf die Abbildung von Informationsgrafiken wird dabei zur Gänze verzichtet, weil diese im Internet unter Zuhilfenahme der angeführten Bezeichnungen leicht und in wesentlich höherer Qualität zu finden sind, als der Druck sie jemals wiedergeben könnte. Als ausgezeichnetes Kompendium in Buchform kann daneben Harris, Information Graphics: A Comprehensive Illustrated Reference (1999) gelten. Zum Informationsbegriff vgl. Kreuzbauer, Philosophische Betrachtungen zum Informationsbegriff (2001). Zu diesen Begriffen siehe sogleich weiter unten. Zum Verhältnis zwischen Information und Ästhetik vgl. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 3 (1991), S. 429 f. Zur Semiotik im Allgemeinen vgl. Eco, Einführung in die Semiotik (1988) und Nöth, Handbuch der Semiotik (2000) und Frank, Semiotik und Informationstheorie (2003).

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rakter bzw. den ihrer Elemente betrifft. Innerhalb dieses Aspekts lassen sich Zeichen-, Kommunikations- und Sprachaspekt unterscheiden. Der Zeichenaspekt bezieht sich auf den modernen Zeichenbegriff, der insbesondere auf den US-amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce (1839 bis 1914) zurückgeht. Gemäß der von ihm ausgehenden wissenschaftlichen Traditionslinie besitzt jedes Zeichen drei Dimensionen, nämlich die syntaktische, die semantische und die pragmatische. Das erklärt sich am besten, wenn man sich vorher das von Charles W. Morris (1901 bis 1979) stammende semiotische Dreieck14 – eigentlich ebenfalls eine Informationsgrafik – ansieht. Darin werden drei Rollen unterschieden, die bei jedem Zeichen relevant sind, nämlich: 1. Bezeichnendes: also das vertypte Bezeichnungsmittel15, d. h. das als Typ aufgefasste Zeichen – beispielsweise ein Symbol – selbst 2. Bezeichnetes: also ein real existierendes oder fiktives, materielles oder immaterielles Phänomen 3. Zeichenbenützer: die die Bezeichnung verwendende und verstehende Person Die syntaktische Dimension umfasst die Beziehung zwischen Bezeichnenden, die semantische Dimension die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem und die pragmatische Dimension die Beziehung zwischen dem Zeichenbenützer und den beiden anderen Rollen. Peirce unterscheidet dabei folgende Arten von Zeichen16: 1. Ikon: Beim ikonischen Zeichen ist das Bezeichnende dem Bezeichneten ähnlich, wozu beispielsweise viele (aber nicht alle) Orientierungszeichen auf Flughäfen gehören.17 2. Index: Beim Index besteht zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten eine reale Beziehung, beispielsweise Kausalität in der Form, dass das Bezeichnende vom Bezeichneten verursacht wird, so wie Feuer Rauch verursacht und folglich Rauch als ein Zeichen für Feuer angesehen wird.18

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16 17

18

Linke/Nussbaumer/Portmann, Studienbuch Linguistik (2001), S. 25 f. Mit dem Begriff „Vertypung“ wird hier die Zusammenfassung aller substanziellen Eigenschaften der Elemente einer Klasse zu einem fiktiven, immateriell zu denkenden Beispielselement, eben dem ‚Typ‘, verstanden. Man beachte, dass Zeichen in der Tat als Typen und nicht als Token (das sind nach dieser Theorie die materiellen Vorkommnisse von Typen) verstanden werden und dass Typen üblicherweise und zu Recht als immaterielle Entitäten angesehen werden, was etwa in dem vom deutschen Soziologe Max Weber (1864 bis 1920) geprägten Begriff „Idealtyp“ enthalten ist. Man beachte jedoch, dass dieser essentialistische Ansatz in neuester Zeit zunehmend in Frage gestellt wird. Linke/Nussbaumer/Portmann, Studienbuch Linguistik (2001), S. 19 ff. Zwei einfache Beispiele sind die Zeichen für Anflug oder Abflug, welche jeweils ein abstrahiertes Bild eines Flugzeugs in stereotyper startender oder landender Position zeigen. Dabei handelt es sich um Piktogramme, die sich meistens an demjenigen System orientieren, welches von der 1914 in den USA als ‚American Institute of Graphic Arts‘ gegründeten ‚AIGA – The Professional Association for Design‘ in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Verkehrsministerium entwickelt wurde. Vgl. dazu http://www.aiga.org/symbol-signs/. Das ist allerdings in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum ersten verleitet das zur Verwechslung mit logischen Zusammenhängen, was aber falsch wäre, denn physikalisch gilt mit hinreichender Sicherheit nur: ‚Wenn Feuer dann Rauch.‘. Daraus folgt logisch: ‚Wenn nicht Rauch dann nicht Feuer.‘, aber nicht ‚Wenn Rauch dann Feuer.‘, was physikalisch außerdem falsch ist, weil es rauchende Verbrennungsprozesse ohne Feuer gibt. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine Best-Explanation-Heuristik, was besagt, dass im Alltag die beste Erklärung für Rauch in der Annahme besteht, dass da ein Feuer ist, weshalb Rauch ein hinreichend guter AlltagsIndikator für Feuer ist. Zum zweiten drängt sich auch eine Type/Token-Verwechslung auf, denn der konkrete Rauch ist ein Token. Wie bereits erwähnt werden Zeichen aber als, wie gesagt, immaterielle Types – also Typen – aufgefasst. Tut man das nicht müsste man realen Rauch sprechen können.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

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3.

Symbol: Hierbei gibt es zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem keinen Zusammenhang, sondern dieser wird willkürlich festgesetzt. D. h. um Kommunikation zu ermöglichen muss er zwischen den an einer Kommunikation beteiligten Personen hinreichend vereinbart werden. Alle natürlichen Sprachen basieren praktisch ausschließlich auf Symbolen. Informationsgrafik kann in diesem Zusammenhang nur als Kombination von Darstellung ohne Zeichencharakter, ikonischen Zeichen und Symbolen verstanden werden, wobei das weit weniger trivial ist, als es auf den ersten Blick klingen mag: Sind etwa die Rechtecke, die Unternehmen und Haushalte in einem Marktdiagramm repräsentieren, Symbole oder nicht doch Ikone? Die Geschlossenheit dieser Polygone könnte nämlich als Hinweis auf den Systemcharakter von Unternehmen und Haushalten verstanden werden. Noch problematischer ist etwa der Pfeil in einem Flussdiagramm: Was symbolisiert eigentlich ein Pfeil? Einen Interaktionskanal, also die bloße Potentialität der Interaktion oder eine aktuale Interaktion auf diesem Kanal? Anhand dieser Beispiele zeigt sich unschwer die Bedeutung der Frage des Zeichencharakters von Informationsgrafiken. Beim Kommunikationsaspekt geht man am besten von der vom US-amerikanische Philosophen John Searle (*1932)19 entwickelten Sprechakttheorie für die sprachbasierte Kommunikation aus, die auf der Grundannahme beruht, dass ein Sprecher mit einer sprachlichen Äußerung vier verschiedene Akte vollzieht, nämlich: 1. Äußerungsakt (= Lokution): Äußerung von Wörtern (bzw. Morphemen und Sätzen) 2. propositionaler Akt: Bezugnahme auf die „Welt“ (= Referenz) und Äußerung über die Welt (= Prädikation) 3. illokutiver Akt: Angabe einer performativen Verwendung20 der Proposition, wie Behaupten, Fragen, Befehlen, Versprechen etc. 4. perlokutiver Akt: intendierte Wirkung des Sprechaktes Es ist nun kein Grund ersichtlich, warum sich dieses Konzept nicht genauso für Informationsgrafiken anwenden lassen sollte. Wichtig ist dabei Searles Unterscheidung folgender illokutiver Akte21: (1) assertive Äußerungen (Behauptungen, feststellend), (2) direktive Äußerungen (jemanden zu einer Handlung/Unterlassung bewegen), (3) kommisive Äußerungen (sich selbst auf eine Handlung/Unterlassung festlegen), (4) expressive Äußerungen (Ausdruck der eigenen Gefühlslage) und (5) deklarative Äußerungen (mit dem Sagen die Welt entsprechend dem Gesagten verändern). Man kann sich schwer der Meinung entziehen, dass Informationsgrafiken in den weitaus meisten Fällen assertiv gebraucht werden, was wir hier auch ‚informativ‘ nennen werden. Dies wird zwar natürlich nicht immer der Fall sein, aber man kann sagen, dass Personen Informationsgrafiken hoch mehrheitlich mit dem Zweck verbinden, damit zu informieren, und dass dies von Rezipienten ebenso verstanden wird. In diesem Fall werden wir hier sagen, dass das der Standardfall ist und deshalb davon sprechen, 19

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Zitiert nach Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft (2002), S. 641 ff.; vgl. dazu auch Searle, Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay (1997). Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass John Searle dabei bekanntlich auf den Arbeiten des englischen Philosophen John Langshaw Austin (1911 bis 1960) aufbaute. Unter Performanz – der ursprünglich von Austin entwickelte Begriff wurde später vor allem dadurch berühmt, dass er von der einflussreichen US-amerikanischen Philosophin Judith Butler (*1956) für die Queer-Theorie übernommen wurde – versteht man den Aspekt des Handelns durch die Verwendung mit Sprache, was etwa durch Formulierungen wie „ich eröffne“, ich stimme zu“ etc. illustriert wird. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft (2002), S. 641 f.

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dass Informationsgrafiken die Standardfunktion22 der Information eines Adressaten über das grafisch Abgebildete aufweisen. Die Informationsfunktion kann dabei auch nur für einen selbst von Bedeutung sein, und zwar beispielsweise dann, wenn man Informationsgrafiken – so wie beispielsweise Mindmaps oder Flussdiagramme – für die strategische Planung nützt. Informationsgrafik kann zusätzlich auch künstlerische, allgemein ästhetische, emotionale, motivationale etc. Funktionen erfüllen. Das alles sind aber keine Standardfunktionen. Aus der Informationsfunktion folgt jedoch bei allen komplizierteren Phänomenen, dass Informationsgrafik eine gewisse – teils auch drastische – Komplexitätsreduktion leisten können muss, die zumindest so weit geht, dass man die Information noch verarbeiten kann. Diese Komplexitätsreduktion ist die zweite Standardfunktion der Informationsgrafik. Der Sprachaspekt betrifft die Frage, in wie weit Informationsgrafik bzw. ihre Elemente als Sprache aufzufassen sind. In der Tat könnte man das Kommunizieren mit Informationsgrafik als Sprache sowohl im Sinne von Langue als auch Parole23 ansehen. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden, aber es soll doch erwähnt werden, dass der globale Sprachcharakter von Informationsgrafik sehr in Zweifel zu ziehen ist, da es weder ein Regelwerk im Sinne einer Grammatik noch einen einigermaßen einheitlichen Gebrauch gibt. Gerade das scheint eines ihrer größeren Probleme zu sein. Für diese Sicht spricht auch, dass die so genannte „Visual Literacy“ der Bevölkerung, also die Kompetenz, Akte visueller Kommunikation24 zu produzieren und zu verstehen25, in der Wissenschaft eindeutig als Desiderat gesehen wird. In der Tat besteht kaum ein Zweifel daran, dass es die visuelle Kommunikationskompetenz mit der Sprachkompetenz auch der am wenigsten kompetenten Sprecher in keiner Weise aufnehmen kann. Mit analoger Argumentation kann man davon ausgehen, dass Informationsgrafik in ihrer Gesamtheit auch nicht als Schrift zu werten ist, was auch für die hier noch am ehesten in Frage kommenden Piktogramme gilt, auf die noch einzugehen ist. Auch der in der Sprachphilosophie an prominenter Stelle immer wieder diskutierte Abbildungsaspekt – Ludwig Wittgenstein beispielsweise

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Vgl. dazu Lumer, Argumentation, Argumentationstheorie (1990), S. 248 f. Zur Illustration des Begriffs der Standardfunktion sei das Beispiel genannt, dass ein Kochtopf die Standardfunktion „darin etwas kochen“ besitzt und nicht „Lärm erzeugen“, obwohl man das im Prinzip auch damit machen könnte – was die meisten Eltern wohl bestätigen werden. Ein historisch gut illustriertes Beispiel ist die berühmte Augustus-Statue von Prima Porta, die den römischen Imperator Augustus [=Gaius Octavius] (63 v. Chr. bis 14 n. Chr.) zeigt. Augustus’ Statue trägt einen Harnisch, der insbesondere die Rückgabe der von Publius Licinius Crassus (†53 v. Chr.) 53 v. Chr. verlorenen Feldzeichen durch die Parther an Rom zeigt, was Augustus auf diplomatischem Wege – und nicht durch Krieg – erreichte. Die Darstellung will dabei zweifellos über dieses Ereignis informieren. Gleichzeit ist aber auch ein selten gelungenes Kunstwerk entstanden und natürlich ist der propagandistische Zweck der Darstellung unschwer zu erkennen. Schon dieses Beispiel zeigt, dass die einzelnen Aspekte vor allem kumulativ auftreten. Dies ist auch der Grund dafür, warum hier der – in seinen Randbereichen notwendig unscharfe – Begriff der Standardfunktion verwendet wird. Die Begriffe „Langue“ und „Parole“ gehen auf den Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857 bis 1913) zurück, wobei mit „Langue“ die Sprache im Sinne des Regelwerkes eines Zeichensystems und mit „Parole“ die Sprache im Sinne der tatsächlichen Anwendung dieses Zeichensystems verstanden wird (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann, Studienbuch Linguistik [2001], S. 36 ff.). Auch diese Auffassung ist aus heutiger Sicht als zu einfach und essentialistisch sehr zu kritisieren, wurde aber zumindest als Heuristik innerhalb der Sprachwissenschaften so weit absehbar noch durch nichts anderes ersetzt. Vgl. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 4 (1994), S. 646 f. Dieser Begriff wurde vor allem von der IVLA – der ‚International Visual Literacy Association‘ – geprägt. Vgl. dazu: http://www.ivla.org/org_what_vis_lit.htm.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

479

vertrat bekanntlich in seinem Frühwerk eine Abbildtheorie der Sprache26 – ist bei der Informationsgrafik zu besprechen. Nicht jede Informationsgrafik ist jedoch trivialer Weise als Abbildung zu sehen: insb. bei Informationsgrafiken im Bereich der Statistik ist der Abbildcharakter keine triviale Frage.

2.2

Kunstaspekt

Im Begriff „Informationsgrafik“ steckt der Begriff „Grafik“27, der vor allem in der Kunstwissenschaft in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. In dieser Wissenschaft sind genau abgrenzbare Kategorisierungen in einem hohen Maße erschwert, weil künstlerische Kreativität ja auch darin besteht, etablierte Kategorien zu überschreiten und die wissenschaftliche Analyse dem in gewisser Hinsicht Rechnung zu tragen hat. Man muss sich hier deshalb oft mit wissenschaftlichen Idealtypen behelfen und bei den kategoriebildenden Merkmalen darauf abstellen, dass die Elemente einer Kategorie in Relation zu anderen Merkmalen dominieren, worunter hier verstanden wird, dass sie robust vorherrschen. Das soll hier für die Informationsgrafik überhaupt übernommen werden, denn es reicht für unsere Zwecke vom Präzisionsniveau her bei weitem aus. Ohne sich auf eine Debatte über den Kunstbegriff einlassen zu wollen, können wir feststellen, dass Kunst als eine der wichtigsten Kategorien menschlichen Gestaltens eine menschliche kulturelle Universalie ist28, die im Sinne eines Produkts, eines Produktionsprozesses oder einer Technologie29 verstanden werden kann. Kunst im Sinne eines Produkts (d. h. im Sinne eines Kunstwerks) hat folgende Eigenschaften: (1) Es handelt sich um ein von Menschen tatsächlich produziertes und in irgendeiner Form publiziertes, materielles oder prozessuales, nicht bloß triviales Phänomen. (2) Bei seiner Produktion wird ein nicht bloß gewöhnliches Ausmaß kognitiver und/oder emotionaler Arbeit geleistet. (3) Der funktionale Aspekt ist nicht dominant und (4) der ästhetische Aspekt wird reflektiert, d. h. dass dazu in einer mehr als trivialen Weise Stellung genommen wird. Dem können je nach Kultur weitere spezifizierende Kriterien hinzugefügt werden. Kunst im Sinne eines Prozesses und im Sinne einer Technologie basieren auf diesem Begriff.30 Ein Teil der Kunst ist die bildende Kunst31, bei der das Gestalten materieller Kunstwerke dominiert – im Gegensatz beispielsweise zur darstellenden oder schreibenden Kunst.32 Gemäß der traditionellen Kunstwissenschaft geht es

26 27

28 29 30 31 32

Vgl. Wittgenstein, Tractus logico-philosophicus (1989). Vgl. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 2 (1989), S. 835 ff. sowie Stadler, Lexikon der Kunst: Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, Band 5 (1988). Weiterführend Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 2 (1989), S. 84 ff. Unter „Technologie“ wird hier jedes System zur Produktion, Anwendung, Wartung und Entsorgung von Techniken und den dazu gehörigen Kompetenzen verstanden. Da aus dem Zusammenhang klar wird, welcher der drei Kunstbegriffe gemeint ist, wird auf Indexe verzichtet. Vgl. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 1 (1987), S. 540 f. Seit der Moderne hat sich die Gewichtung zwischen dem Werk und dem Produktionsprozess bekanntlich verschoben. Ganz ohne Werk ist bildende Kunst aber auch heute kaum vorstellbar.

480

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bei der bildenden Kunst im Kern um die Produktion von Malerei33, Grafik und Plastik34, wobei dem noch die fototechnisch hergestellten Kunstwerke hinzugefügt werden müssen, deren Herstellung durch technische Produktionsverfahren – also nicht die menschliche Hand – dominiert werden und wozu natürlich vor allem die Fotografie35 zählt. Sowohl bei der Malerei als auch bei der Grafik spielt die Herstellung von Bildern36 die größte Rolle, worunter Kunstwerke verstanden werden, bei denen Farbstoffe auf einer hinreichend planen Oberfläche aufgetragen werden.37 Malerei wird dominant durch den flächigen Auftrag von Farbe hergestellt, alles andere ist Grafik. Zur Grafik zählen damit auch alle künstlerischen Druckverfahren (= Druckgrafik) und die Zeichnung. Viele Arten der Druckgrafik und die Zeichnung werden dominant durch Striche, also den Auftrag von geraden oder gekrümmten Linien, erzeugt. Eine hundertprozentige Trennung zwischen Grafik und Malerei ist jedoch so gut wie unmöglich, was beispielsweise durch Tuschmalerei/Tuschzeichnung und Pastellzeichnung gezeigt wird – zwei künstlerische Genres, die sich nicht eindeutig als Grafik oder Malerei einordnen lassen.38 Wenn man dem allen folgt, tritt die Problematik der Darstellung von Umrissen in den Vordergrund: Bei der Grafik – insbesondere der Zeichnung – werden Umrisse ja bekanntlich durchwegs durch Linien dargestellt. Dies ist jedoch nicht nur technisch bedingt, sondern auch eine bedeutende Rekonstruktionsleistung, weil Umrisse auch dann gezeigt werden, wenn diese beim abgebildeten Objekt gar nicht sichtbar sind, sondern wenn man nur weiß, dass sie da sind. Das wird hier als ‚Umrissrekonstruktion‘ bezeichnet und findet sich selbst dann, wenn ein realistische Abbildung angestrebt wird: Jedes Kind zeichnet ein Haus durch die Darstellung seiner idealtypischen Umrisse, die aber in der Natur praktisch nie so vorkommen, weil Häuser keine dunklen Striche an den Umrissen haben und weil Lichteinfall und Farbe etwaig vorhandene reale Umrisse unsichtbar machen würden. Auch bei der technischen Zeichnung – auf die noch einzugehen ist – ist dieser Effekt bemerkbar. Auch hier werden Umrisse zeichnerisch rekonstruiert, wobei der Grund darin liegt, dass man dadurch am besten die Konstruktion, d. h. den Aufbau, eines technischen Objekts zeigen kann. Selbst bei naturalistischen naturwissenschaftlichen Abbildungen – insbesondere bei zoologischen oder botanischen werden Umrisse rekonstruiert, weil das die Morphologie von Lebewesen besser zeigt. Bei all diesen Bildern handelt es sich daher tatsächlich um Grafik und nicht um Malerei und Analoges gilt auch für die Informationsgrafik: Wäre sie Kunst, was sie – wie noch gezeigt werden wird – nicht ist, so wäre sie in der Tat Grafik und nicht Malerei. Man beachte aber, dass die moderne Computertechnik diese und alle folgenden Einteilungen scheinbar in 33

34

35 36 37

38

Vgl. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 4 (1992), S. 491 ff. sowie Stadler, Lexikon der Kunst: Lexikon der Kunst: Malerei, Architektur, Bildhauerkunst; Band 5 (1989), S. 373 f. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 2 (1989), S. 835; der Begriff „Plastik“ wird hier im weitesten Sinn als Begriff für alle Kunstwerke gebraucht, bei denen alle drei Raumdimensionen eine Rolle spielen, außer der Gebäude. Inwieweit die Architektur zur bildenden Kunst zu zählen ist, ist strittig, soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Vgl. dazu Koschatzky, W.: Die Kunst der Photographie: Technik, Geschichte, Meisterwerke (1984). Vgl. dazu Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 1 (1987), S. 539 f. Dies steht etwa im Gegensatz zum Bemalen von Plastik und man spricht auch von zweidimensionalen Kunstwerken, wobei darauf hinzuweisen ist, dass auch Bilder wie alle anderen nicht-idealen Phänomene vierdimensional sind. Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 4 (1992), S. 492.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

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Frage gestellt hat, denn wo sollte man die Herstellung von Bildern mit Hilfe von Grafiktabletts39 oder die Verwendung von 3D-Druckern korrekterweise einordnen? Hier hat es sich eingebürgert, diese Techniken analog zu deren traditionellen Pendants zu behandeln, weshalb man beispielsweise von Computerzeichnung spricht, wenn man strichbasiert arbeitet, von Computermalerei, wenn man flächig arbeitet und von digitaler Fotografie, wenn man statt einer lichtempfindlichen chemischen Schicht einen lichtempfindlichen Sensor verwendet. Dieser Gepflogenheit wird auch hier gefolgt. Im Gegensatz dazu sind jedoch noch zwei weitere Begriffsverwendungen von „Grafik“ zu erwähnen: Zum Ersten wird unter „Grafik“ in manchen Begriffsverwendungen jedes Bild verstanden, welches für seinen Standardgebrauch vervielfältigt wird – etwa durch klassische Druckverfahren. Bei elektronischer Herstellung ergibt sich die Reproduktionsmöglichkeit gewissermaßen automatisch. Zum Zweiten schließlich versteht man unter „Grafik“ nur diejenigen nicht-fototechnisch hergestellten Bilder, die mit Unterstützung technischer Hilfsmittel hergestellt werden und deshalb durch stärker formalisierte Formen dominiert werden. Das bedeutet bei der traditionellen Herstellungstechnik die Verwendung von Lineal, Zirkel etc. Grafik wird dadurch von Malerei und Freihandzeichnung abgegrenzt und in die Nähe der technischen Zeichnung gerückt, von der sie sich aber in Punkto Funktion und durch größeren Reichtum an Herstellungstechniken unterscheidet. Es ist wichtig zu beachten, dass mit den Techniken der Grafik auch Bilder erzeugen werden können, die den oben skizzierten Kunstbegriff nicht erfüllen. Das kommt sogar sehr häufig vor, und zwar etwa bei technischen Zeichnungen, Karten etc. Diesen Grafiken ist nicht nur gemein, dass sie nicht automatisch Kunst sind, sondern dass sie auch eine bestimmte – meist technische und keine künstlerische – Standardfunktion haben. Aus diesem Grunde werden wir hier von ‚Funktionsgrafik’ sprechen.40 Auch wenn Funktionsgrafiken wie gesagt nicht automatisch Kunst sind, können einzelne Exemplare natürlich unabhängig von ihrer Eigenschaft Funktionsgrafiken zu sein zusätzlich auch Kunst sein. Zu den Funktionsgrafiken zählen auch die Informationsgrafiken. Man kann festhalten, dass der Grafik-Aspekt von Informationsgrafik ohne die besprochenen Begriffe aus der Kunstwissenschaft nicht erklärbar ist. Informationsgrafik wird danach zu Recht als Grafik bezeichnet, aber da sie im Standardfall zwar nicht den Begriff der Kunst aber den der Funktionsgrafik erfüllt, handelt es sich um Funktionsgrafik.

2.3

Technikaspekt

Neben der Kunst ist die so genannte technische Zeichnung41 als weiteres wichtiges Beispiel menschlichen Gestaltens im Zusammenhang mit Informationsgrafik zu nennen. Die Standardfunktion der technischen Zeichnung ist die Abbildung der Konstruktion – existierender oder fiktiver – technischer Erzeugnisse und/oder Prozesse, d. h. dass der Aufbau des Gezeichneten gezeigt werden soll – z. B. um es herstellen zu können. Wir werden deshalb hier von der Konstruktionsfunktion sprechen und für alle dafür relevanten Grafiken den Begriff der Konstruktionsgrafik einführen. 39 40 41

Führend am Markt sind die Geräte der Firma Wacom. Vgl. dazu auch Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 2 (1989), S. 672 f. und Green, Commercial Art (1996), S. 650 ff. Vgl. Feldhaus, Geschichte des technischen Zeichnens (1953).

482

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Im Lichte des bereits Gesagten gehört die Konstruktionsgrafik zur Funktionsgrafik und umfasst die architektonische Zeichnung42 und alle Arten der technischen Zeichnung, also die Zeichnungen in allen Disziplinen der Technik, was von der Elektronik über die Mechanik bis hin zum Anlagenbau reicht.43 Nicht dazu gezählt wird die Kartografie. Neben der Konstruktionsfunktion ist hier noch die Dokumentationsfunktion zu nennen, was bedeutet, dass die Zeichnung als Abbild für spätere Zwecke archiviert werden soll. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich später noch ergeben wird, dass nicht alle Konstruktionsgrafiken auch Informationsgrafiken sind. Die Konstruktionsfunktion der Konstruktionsgrafik bedingt, dass gestalterische Kreativität und Reichhaltigkeit hier – anders als in der Kunst – keine Ziele sind, sondern normalerweise eher als störend empfunden werden. Vielmehr sollen die für relevant gehaltenen Aspekte des Abgebildeten möglichst klar und eindeutig gezeigt werden, weshalb sich in vielen Bereichen der technischen Zeichnung ein starker Schematismus findet. Ein besonders wichtiger Anwendungsfall ist die bereits besprochene „Umrissrekonstruktion“, d. h. dass Umrisse durch Linien repräsentiert werden. Außerdem ist die Formensprache44 insgesamt stark schematisiert, was bedeutet, dass reale und/oder komplizierte Formen des Abgebildeten in der Abbildung durch hinreichend vereinfachte, schematische Formtypen ersetzt werden. Das entspricht einem (nicht-idealen) Abstraktionsprozess, wobei besonders häufig hoch-abstrakte Formen wie insbesondere die bekannten Figuren der ebenen Euklidischen Geometrie (Polygone wie Dreieck, Rechteck, Quadrat etc., Kreis und Ellipse) vertreten sind. Aber es gibt auch Winkelschematisierung, Schemas für Farbverläufe etc. Das ist auch der Grund dafür, dass zeichnerische Hilfsmittel, wie Lineale, Schablonen etc. bzw. deren zeitgemäße computertechnische Pendants verwendet werden. So wie in der Kunst stellt sich auch bei der Konstruktionsgrafik das Problem der Abbildung von vierdimensionalen Phänomenen auf einer planen Oberfläche. Im Laufe der Geschichte haben sich dafür viele Lösungen entwickelt, wie die Grund-Aufriss-Geometrie, der Schrägriss, die Axonometrie, die Perspektive etc. – Techniken, die den meisten Lesern wohl noch aus der Schule bekannt sind. Es ist zu beachten, dass auch bestimmte Informationsgrafiken die Merkmale der Konstruktionsgrafik, also schematisierte Formensprache, Rekonstruktion von idealtypischen Formen (insbesondere Umrissrekonstruktion) und die Verwendung zeichnerischer Hilfsmittel, aufweisen.

3

Zwischenbilanz und Definition des Begriffs der Informationsgrafik

Nach dem bisher Gesagten kann nun ein Vorschlag für eine Definition des Begriffs der Informationsgrafik gewagt werden. Zunächst sollen die beschriebenen Aspekte zusammenge42

43 44

Dieser Begriff wird hier in einem weiten Sinne verwendet und umfasst alle technischen Zeichnungen im Zusammenhang mit Bauwerken; vgl. dazu auch Mislin, Geschichte der Baukonstruktion und Bautechnik: Von der Antike bis zur Neuzeit (1988). Vgl. dazu auch Feldhaus, Geschichte des technischen Zeichnens (1953) sowie Lefèvre, Picturing Machines (2004). Vgl. dazu auch Olbrich, Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 2 (1989), S. 551 f.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

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fasst werden: Informationsgrafik ist ein Kommunikationsmedium, aber weder Sprache noch Schrift, und diesbezüglich gibt es auch (noch) keine Visual Literacy. Sie besitzt zwei Standardfunktionen, nämlich Informationsfunktion und Komplexitätsreduktionsfunktion, und in der Tat ist Informationsgrafik Grafik und zwar Funktionsgrafik. Nicht prioritär – aber auch nicht ausgeschlossen – sind künstlerische, allgemein ästhetische oder dokumentarische Aspekte, die damit verbunden werden können. Informationsgrafik weist viele Merkmale der im technischen Bereich zu findenden Konstruktionsgrafik (also schematisierte Formensprache, Rekonstruktion von idealtypischen Formen [insbesondere Umrissrekonstruktion] und die Verwendung zeichnerischer Hilfsmittel) auf. Bei dem nun folgenden Versuch eine formal einigermaßen korrekte Definition anzubieten wird zwischen „Informationsgrafik im Sinne eines Produkts“ und „Informationsgrafik im Sinne einer Technologie“ unterschieden: Informationsgrafik im Sinne eines Produkts Eine Informationsgrafik (im Sinne eines Produkts) ist eine Funktionsgrafik, die alle folgenden Kriterien erfüllt: 1. Standardfunktionen a. Standardfunktion 1 ist die Information über das Dargestellte b. Standardfunktion 2 ist die Komplexitätsreduktion 2. Produktionsmodus a. Dominanz grafischer Techniken (was sich eigentlich schon aus der Zuordnung zu den Funktionsgrafiken ergibt) b. Dominanz einer schematisierten Formensprache (insb. Umrissrekonstruktion) Informationsgrafik im Sinne einer Technologie Informationsgrafik (im Sinne einer Technologie) ist eine Technologie, deren Standardfunktion in der Produktion von Informationsgrafik im Sinne eines Produkts besteht.

4

Geschichtliche Entwicklung der Informationsgrafik

Die ältesten erhaltenen Kunstwerke der Menschheit werden auf ein Alter von 70.000 bis 80.000 Jahren geschätzt.45 Die frühesten der berühmten Höhlenzeichnungen, wie man sie insbesondere in mehreren französischen und spanischen Höhlensystemen findet, wurden nach herrschender Meinung vor etwa 35.000 Jahren hergestellt. Letzteres zeigt, dass Menschen bereits in der Altsteinzeit Abbildungen ihrer Umwelt gestaltet haben. Bereits bei den Höhlenmalereien ist jedoch die Frage, ob der religiöse, der künstlerische, der informative oder ein anderer Aspekt im Vordergrund gestanden ist, nicht letztgültig geklärt. Dass diese Höhlenzeichnungen also (auch) als „Informationsgrafiken“ für den Jagdunterricht gedacht waren, ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, jedoch auch nicht ausgeschlossen. Bereits im alten Ägypten findet man Vorläufer der Informationsgrafik, etwa in Form einer Kombination von Bild und Schrift46 und aus dem alten Mesopotamien sind die ältesten archi-

45 46

Vgl. http://news.bbc.co.uk/2/hi/science/nature/1753326.stm und http://news.bbc.co.uk/2/hi/3629559.stm. Für viele vgl. Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 24 f.

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tektonischen Zeichnungen erhalten.47 Als älteste erhaltene Karte gilt die Darstellung einer neolithischen Siedlung bei Çatalhöyük – in der Nähe der heutigen türkischen Stadt Konya – die auf 6.200 v. Chr. datiert wird.48 Berühmte antike Karten sind weiters die nicht erhaltene so genannte „Karte des Agrippa“49 und die in einer mittelalterlichen Kopie erhaltene so genannte Peutingersche Tafel50. Architektonische Zeichnung und Kartografie waren in der Antike wohl schon sehr gebräuchlich, wie auch anzunehmen ist, dass man bereits das geometrische Zeichnen kannte: Man denke nur an den Pythagoreischen Lehrsatz oder an die Figuren aus Euklids Elementen. Ferner berichtet der griechische Biograf und Historiker Plutarch (ca. 45 bis 125), dass sich der griechische Mathematiker und Techniker Archimedes (287 bis 212 v. Chr.) eine Darstellung von Kugel und Zylinder auf seinem Grab gewünscht habe. Nicht zuletzt wurden antike Zeichengeräte auch ausgegraben. Vom geometrischen Zeichnen muss es wohl einen nahtlosen Übergang zum technischen Zeichnen gegeben haben. Hier erfolgte der bedeutendste Entwicklungssprung allerdings erst relativ spät, und zwar erst im späten Mittelalter bzw. in der (sich damit teilweise überschneidenden) Renaissance.51 Zu den bekanntesten und frühesten erhaltenen Zeichnungen mechanischer Apparate zählen die von Leonardo da Vinci (1452 bis 1519). Von ihm stammen auch frühe anatomische – und damit naturwissenschaftliche – Abbildungen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch der bereits erwähnte Andreas Vesalius (1514 bis 1564) zu nennen, der mit seinem anatomischen Atlas die Darstellung des menschlichen Körpers revolutioniert hat.52 Ebenfalls in der Renaissance erlebte die architektonische Zeichnung einen bedeutenden Aufschwung, wobei hier etwa die Wiederentdeckung der Perspektive durch Filippo Brunelleschi (1377 bis 1446) erwähnt werden muss. Im Hintergrund steht, dass der Baustil der Renaissance nach genauerer – bereits aufgezeichneter – Planung verlangte als die vorherige Architektur, die die Bauzeichnung allerdings auch bereits kannte.53 Im Zuge des neuzeitlichen Aufschwungs der Naturwissenschaften wurden auch in diesem Bereich immer häufiger Abbildungen verwendet. Hier sei nur auf den deutschen Naturforscher und Zeichner Johann Leonhard Frisch (1666 bis 1743) und nochmals auf den schottischen Zeichner Sydney Parkinson (1745 bis 1771) verwiesen. Im Bereich der mathematischen Grafik ist zu dieser Zeit auch die Entwicklung des Kartesischen Koordinatensystems zu nennen, dessen Name sich vom französischen Philosophen René Descartes – latinisiert: ‚Renatus Cartesius‘ – (1596 bis 1650) herleitet, was in diesem Falle nichts über die eigentliche Urheberschaft dieser Art von Koordinatensystem aussagt.54 Wichtig für die Entwicklung 47 48

49 50

51 52 53 54

Mislin, Geschichte der Baukonstruktion und Bautechnik: Von der Antike bis zur Neuzeit (1988), S. 34 f. Vgl. Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 22 f. sowie Friendly, Milestones in the History of Thematic Cartography, Statistical Graphics and Data Visualization (2009), S. 3 f. Vgl. Hänger, Die Welt im Kopf: Raumbilder und Strategie im Römischen Kaiserreich (2001), S. 148 ff. Vgl. Hänger, Die Welt im Kopf: Raumbilder und Strategie im Römischen Kaiserreich (2001), S. 103 ff. sowie Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 22 f. McGee, The Origins of Early Modern Machine Design (2004), S. 56. Vgl. Vesalius, De humani corporis fabrica libri septem (1543). Mislin, Geschichte der Baukonstruktion und Bautechnik: Von der Antike bis zur Neuzeit (1988), S. 114 ff. Auch das um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Nomogramm basiert auf einem zweidimensionalen (aber nicht-kartesischen) Koordinatensystem und ist als Informationsgrafik insofern bedeutend, als es eines der wenigen Beispiele darstellt, wo in einer Informationsgrafik – nach einem Prinzip das an einen Rechenschieber erinnert – direkt relevante, numerische Werte gemessen werden können.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

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der Informationsgrafik war aber auch die von Denis Diderot (1713 bis 1784) und JeanBaptiste le Rond D’Alembert (1717 bis 1783) zwischen 1751 und 178055 herausgegebene Encyclopédie56, die ca. 2.500 als Kupferstiche realisierte Abbildungen enthält, die man zumindest zu den Vorläufern der Informationsgrafik zählen kann. Einen aus heutiger Sicht wichtigen jedoch weitgehend unbemerkt gebliebenen Schritt setzte der Schweizer bzw. deutsche Mathematiker Johann Heinrich Lambert (1728 bis 1777), der sich bereits 1765 intensiv mit Zeitreihendiagrammen befasste.57 Nur wenig später erfolgte einer der bedeutendsten Schritte auf dem Weg zur Informationsgrafik, der gleichzeitig auch für die wirtschaftswissenschaftliche Informationsgrafik sehr wichtig ist, nämlich die Entwicklung der volkswirtschaftlichen statistischen Informationsgrafik, die maßgeblich durch den schottischen Ingenieur und Volkswirt William Playfair (1759 bis 1823) erfolgte.58 Bekannt ist dabei vor allem sein 1786 erschienener „Commercial and Political Atlas“59. Playfair befasste sich vor allem mit Zeitreihendiagrammen, aber auch anderen statistischen Informationsgrafiken. Er wird im Allgemeinen als der Vater der Informationsgrafik bezeichnet und war demnach auch um einiges wirkmächtiger als der gerade genannte Lambert. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Informationsgrafik wird zu Recht auch immer die berühmte Grafik des französischen Ingenieurs Charles Joseph Minard (1781 bis 1870) über die Verluste von Napoleon I. (1769 bis 1821) im Russlandfeldzug von 1812/1813 erwähnt. Die Grafik zeigt den Weg der französischen Armee in diesem Feldzug vom Eintritt nach Russland bis nach Moskau und zurück, wobei die Strichstärke die Anzahl der Soldaten widerspiegelt.60 Ebenfalls in den Bereich der Wirtschaftswissenschaften gehört eine weitere ganz besonders wichtige Entwicklung, und zwar die Entwicklung des AngebotNachfrage-Diagramms, welches nach seinem vermeintlichen Urheber, dem englischen Ökonomen Alfred Marshall (1842 bis 1924) auch „Marshallian cross“ genannt wird. Trotz Fehlens einer letztgültigen Klärung der Urheberschaft steht fest, dass es jedenfalls nicht von Marshall stammt.61 Allerdings wurde es von ihm in seinen „Principles of Economics“62 populär gemacht. 55 56

57 58 59 60

61 62

Die Zahlen beziehen sich auf die erste Auflage. Eigentlich: „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ (vgl. Diderot/ D’Alembert, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers [1751–1780]; man beachte, dass dieses Werk zwar bei weitem nicht die erste Enzyklopädie aber die historisch wohl bedeutendste darstellt. Vgl. dazu auch Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 28 f.. Tufte, The Visual Display of Quantitative Information (2001), S. 45 f., vgl. dazu auch Lambert, Beyträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung (1765). Tufte, The Visual Display of Quantitative Information (2001), S. 10 ff. Playfair, The Commercial and Political Atlas (1786). Vgl. Carte figurative des pertes successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812–1813 (ohne weitere Quellenangabe). Beim Eintritt der französischen Armee nach Russland ist bei dieser Grafik der Strich noch sehr breit (die Grafik spricht von ca. 400.000 Soldaten) um sich immer mehr zu verjüngen und beim Austritt aus Russland ganz dünn zu werden (genannt werden 10.000 überlebende Soldaten). Es handelt sich dabei um eine zu Recht berühmte Informationsgrafik, die die (eigenen) Opfer der Politik Napoleons I. eindrucksvoll illustriert. Eine ähnliche Idee hatte auch der irische Ingenieur Matthew Henry Phineas Riall Sankey (1853 bis 1925), dessen „Sankey-Diagramm“ ebenfalls ein Flussdiagramm darstellt, bei dem die Strichstärke die Flussstärke repräsentiert. Sankeys Diagramm ist dabei thematisch aber unbeschränkt. Vgl. dazu Humphrey, Marshallian Cross Diagrams and Theirs Uses before Alfred Marshall: The Origins of Supply and Demand Geometry (1992). Marshall, Principles of Economics (1890); hier zitiert nach Marshall 1891, vgl. dabei insbesondere die S. 154, S. 405 und S. 408.

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Um die Wende zum 20. Jahrhunderts war die Kunst in ihrer Modernität noch nicht radikal, dafür aber ornamental. Im Zuge des 1. Weltkriegs radikalisierte sie sich jedoch zusehends und wandte sich einer puristischen, ja modernistischen Einfachheit zu.63 All diese Stilrichtungen waren auch für die Informationsgrafik von großer und durchaus förderlicher Bedeutung. Man beachte, dass die heutige und schon mehrfach erwähnte Schematisierung der Informationsgrafik aus dieser Zeit rührt. Zu den Meilensteinen der Informationsgrafik der Zwischenkriegszeit gehört etwa der 1933 vom britischen Grafiker Harry C. Beck (1902 bis 1974) entworfene Liniennetzplan für die Londoner U-Bahn64, der insofern berühmt ist, als Becks stark schematisiertes Design – das insbesondere auch mit Winkelschematisierung65 arbeitet – von praktisch jeder anderen U-Bahn-Organisation der Welt übernommen wurde. Weiters ist die maßgeblich vom österreichischen Philosophen Otto Neurath (1882 bis 1945) entwickelte so genannte Isotype66 zu nennen, deren wohl bekanntester Bestandteil die vom deutschen Grafiker Gerd Arntz (1900 bis 1988) entwickelten Piktogramme sind67. Die Isotype verstand sich als eine komplette Bildersprache, also als ein gesamtes System visueller Kommunikation, welches vor allem dazu dienen sollte, quantitative Daten durch Häufungen von Piktogrammen zu repräsentieren. Piktogramme sind dabei stark schematisierte und abstrahierte, ikonische oder symbolische Zeichen, die oft bewusst Stereotypen zeigen, um damit ihre Standardfunktion zu erfüllen, eine bestimmte Information schneller und leichter zu transportieren, als das mit Schrift (und komplexeren Bildern) möglich wäre. Arntz’ Piktogramme gelten dabei als die ersten Piktogramme im modernen Sinne überhaupt. Mehrere am Isotype-Projekt beteiligte Personen emigrierten später in die USA und brachten diese Ideen mit. Insbesondere die Zeitschrift ‚Fortune‘ griff das auf und war in den 30er- und 40er-Jahren im Bereich der Informationsgrafik führend.68 Piktogramme werden heute vor allem zur Orientierung in Verkehrssystemen, wie etwa in Flughäfen, benutzt. Dafür – und auch für andere Zwecke – bietet die AIGA69 ein standardisiertes System an.70 Die heutigen Straßenverkehrszeichen wiederum wurden parallel zu den anderen Arten der Informationsgrafik seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Diese sind mit den Piktogrammen verwandte, ikonische und symbolische oder schriftliche Zeichen, deren Gestaltung grundsätzlich der jeweiligen nationalen Gesetzgebung obliegt, bezüglich derer es aber dennoch seit Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere internationale Konferenzen 63

64 65 66 67 68 69 70

Man denke an die Stilrichtungen des Futurismus und des Konstruktivismus und in der Folge an den Bauhausstil und die faschistische Architektur etwa in Italien. Diese Zeitströmung spiegelt sich aber besonders in der Frauenmode wieder: Während die Herrenmode nämlich schon seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sachlichfunktional war (Loschek, Reclams Mode- und Kostümlexikon [2005], S. 67), verschwand die Opulenz des Fin de siècles zu dieser Zeit auch aus der Frauenmode, was sich im ‚Bubikopf ‘ (Bob), der kniekurzen Saumlänge, dem Smoking-Kostüm und allgemein in der Schnittführung manifestierte. Vgl. http://www.tfl.gov.uk/assets/images/general/beckmap1.jpg. Dabei werden nämlich nicht die tatsächlichen Winkel der Verläufe der Streckenführung abgebildet, sondern es erfolgt eine Beschränkung auf Striche in der Vertikalen, Horizontalen und als 45°-Diagonalen. Das Acronym ‚Isotype‘ leitet sich von ‚International System of Typographic Picture Education‘ ab. Vgl. dazu etwa Neurath, International Picture Language: The First Rules of Isoptype (1936). Vgl. http://www.gerdarntz.org/isotype. Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 44. ‚AIGA‘ leitet sich vom Namen des 1914 gegründete American Institute of Graphic Arts ab, wobei der heutige offizielle Name‚ AIGA, the professional association for design lautet. Vgl. dazu: http://www.aiga.org/. Vgl. http://www.aiga.org/symbol-signs/.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

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gegeben hat, bei der man sich um internationale Vereinheitlichung bemühte. Unser heutiges internationales System geht dabei übrigens auf das „Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen“ von 1968 zurück.71 Noch vor der digitalen Revolution konnten sich Informationsgrafiken in den Medien durchsetzen und heute erlebt man in den Industriegesellschaften eine nie gekannte Flut – qualitativ teils sehr hochwertiger – Informationsgrafiken. In den Printmedien war die ab 1982 erscheinende US-amerikanische Tageszeitung USA Today federführend72, welche die Informationsgrafik zu ihrem fixen Bestandteil machte. Außerhalb der digitalen Welt sind außerdem der Einsatz von Informationsgrafik in der Meteorologie, die Grafiken der dpa-infografik GmbH73 und nicht zuletzt auch die Grafiken des englischen Verlags Dorling Kindersley zu nennen. Durch die digitale Revolution war die Informationsgrafik weniger betroffen als andere Darstellungsbereiche, wie insbesondere die Fotografie. Auch heute ist Informationsgrafik durchaus noch Handarbeit, wenngleich man Grafiktabletts und Zeichenprogramme zur Verfügung hat. Bis heute gibt es weder Hard- noch Software, die die Produktion von Informationsgrafik zu so einem Massenphänomen gemacht hätten, wie es etwa die digitale Fotografie eines ist. Am weitesten fortgeschritten sind die diversen Produkte zur Herstellung von Mindmaps74, aber auch diese sind am Markt nicht annähernd so verbreitet wie Text- oder Fotoeditoren. Viele Menschen verwenden einfach die Grafikfunktionen der Programme Powerpoint oder Excel der Firma Microsoft, was allerdings nur sehr bescheidene Ergebnisse zeitigt. Der Masse der Powerpoint-User gelingt es vermutlich nur selten, ansprechende Informationsgrafiken zu erzeugen, was wohl darauf zurück zu führen ist, dass Informationsgrafik ein gehöriges Ausmaß an Kompetenz benötigt, was nach wie vor eine nicht unbeträchtliche Hürde darstellt. Somit ist heute zwar die Konsumtion von Informationsgrafik ein Massenphänomen, die Produktion ist aber nach wie vor eine Sache von Spezialisten. Zum Abschluss dieses Teils sei noch erwähnt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Informationsgrafik nach wie vor „Orchideencharakter“ hat. Um die Theorie der Informationsgrafik haben sich – wie bereits erwähnt – neben Otto Neurath vor allem zwei Wissenschaftler verdient gemacht, nämlich einerseits der französische Kartograf Jacques Bertin (1918 bis 2010), der eine „grafische Semiologie“75 entwickelte, die über sein ursprüngliches Feld, nämlich die Kartografie, weit hinaus weist und der US-amerikanische Statistiker Edward Rolf Tufte (*1942)76, der vermutlich bedeutendste Wissenschaftler überhaupt in diesem Bereich.

71 72 73 74 75 76

ÖBGBl. 291/1982. Kongresse zu diesem Thema werden von der World Road Association/Association mondiale de la Route – PIARC/AIPCR veranstaltet. Vgl. dazu http://www.piarc.org/en/. Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 50. Vgl. http://www.usatoday.com/. Vgl. http://www.dpa.de/Grafiken.271.0.html. Vgl. etwa das Programm ‚Mindmanager‘ der Firma Mindjet. Vgl. Bertin, Séminologie Graphique: Les diagrammes, les réseaux, les cartes (1967). Vgl. Tufte, The Visual Display of Quantitative Information (1983) (hier zitiert nach der 2. Aufl. von 2001); Tufte, Envisioning Information (1990) und Tufte, Visual Explanations: Images and Quantities, Evidence and Narrative (1997). Edward Tufte wurde nebenbei auch für seine Kritik am Einsatz von MSPowerpoint bekannt, die er in Tufte, The Cognitive Style of Powerpoint (2003) äußerte. Vgl. weiters: http://www.edwardtufte.com/tufte/.

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5

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Phänomenologie der Informationsgrafik

Alles bisher Gesagte diente der analytischen Bestandsaufnahme der relevanten Aspekte der Informationsgrafik, wobei das Rayon, in dem die Informationsgrafik verortet wurde, etwas weiter abgesteckt werden musste. So weit jedenfalls, dass darin alle relevanten Beziehungen zu den benachbarten Darstellungsarten Platz fanden, weil sich nur so die komplexen Beziehungen zwischen der Informationsgrafik und den anderen Darstellungsarten in den Griff kriegen ließen. Auf dieser Basis lässt sich nun eine Phänomenologie wagen, worunter hier die systematische Darstellung der wichtigsten Aspekte eines Phänomens verstanden wird, was ähnlich wie die Taxonomie in der Biologie eine wissenschaftliche Arbeit von eigenem Wert darstellt und sinnvoller Weise eher am Beginn eines Forschungsprojektes erfolgen sollte. Die hier zu erstellende Phänomenologie besteht aus zwei Teilen: Der erste besteht aus einer Kategorisierung des Umfelds der Informationsgrafik, also eine systematische Darstellung der Informationsgrafik in ihrem Kontext. Der zweite besteht in der Kategorisierung der internen Aspekte.

5.1

Informationsgrafik im Kontext

Die hier vorgeschlagene – sehr basale – Kategorisierung des Kontexts der Informationsgrafik unterscheidet zwischen folgenden drei Arten der grafischen Darstellung: A. Künstlerische Grafik im weiteren Sinne: Dazu werden hier auch die Grafiken aus dem Bereich der angewandten Kunst, dem Design (Beispiele: Grafikdesign oder Design von Benutzeroberflächen von Software) sowie grafische Darstellungen mit anderer primär ästhetischer Ausrichtung (Beispiele: Körperbemalung oder Tätowierung) gezählt. B. Funktionsgrafik: Das meint wie bereits erwähnt alle Grafiken mit nicht-künstlerischer Standardfunktion. Das sind: 1. Mathematische Grafik (insbesondere aus dem Bereich der Geometrie) 2. Naturwissenschaftliche Grafik a. aus Physik und Chemie b. aus Astronomie und Geowissenschaften (mit Ausnahme kartografischer Darstellungen) c. aus den Lebenswissenschaften (Botanik, Zoologie, Medizin etc.) 3. Kartografische Grafik (auch im Zusammenhang mit Geoinformatiksystemen) 4. Konstruktionsgrafik77 a. Konstruktionsgrafik der Architektur, also architektonische Zeichnung (Beispiel: Baupläne) b. Konstruktionsgrafik der höheren Technik, insbesondere technische Zeichnungen aus Mechanik, Elektrotechnik, Hydrologie etc. c. Konstruktionsgrafik aus Gewerbe und Alltag (Beispiel: Schnittmuster der Schneiderei) 5. Orientierungsgrafik: Verkehrszeichen, Wegleitsysteme, Wegweiser etc. 6. Weitere Arten der Funktionsgrafik: Restklasse (Beispiele: Tanzschrittmuster, Spielgrafik, Grafik der Musik etc.) C. Weitere Arten der Grafik: Restklasse 77

Zu diesem Begriff siehe bereits weiter oben.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

489

Das heißt, dass die primäre Trennlinie zwischen der künstlerischen Grafik, der Funktionsgrafik und einer hier nicht weiter bedeutenden Restklasse verläuft. Die Informationsgrafik liegt im Zentrum dieses Netzwerkes aber auch etwas quer zu dieser Einteilung. Die Überschneidungsmöglichkeit mit der künstlerischen Grafik ist kumulativ: Jede Informationsgrafik kann prinzipiell auch Kunst sein. Im Bereich der Funktionsgrafik hingegen ist der Zusammenhang alternativer Natur: Bestimmte Funktionsgrafiken erfüllen auch die oben aufgestellten Definitionskriterien der Informationsgrafik (Informativität, Komplexitätsreduktion etc.), andere nicht. Im Ergebnis sind deshalb beispielsweise auch nur diejenigen technischen Zeichnungen auch Informationsgrafiken, die einfach sind, also diejenigen, die das Kriterium der Komplexitätsreduktion erfüllen.

5.2

Interne Aspekte der Informationsgrafik

Nach der Systematisierung des Kontexts lässt sich nun auch an eine Kategorisierung der internen Aspekte der Informationsgrafik denken. Dafür wird ein philosophischer Begriffsapparat benötigt, denn gerade Informationsgrafik und Funktionsgrafik haben – merkwürdiger Weise – eine deutliche Affinität zum ontologisch Grundsätzlichen: Landkarten beispielsweise zeigen die spatiale Dimension von Phänomenen sehr grundlegend, Prinzipiengrafiken und Flussdiagramme die Prozesshaftigkeit, Organigramme die mereologische78 Dimension etc. Diese Affinität lässt sich bei anderen Bildern wie Fotografien oder bei sprachlichen Darstellungen in dieser Fundamentalität nicht finden. Diese Kategorisierung verlangt also nach der Anwendung des Begriffsapparats der dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplin, d. h. der Philosophie, genauer gesagt: der Ontologie (bzw. der Metaphysik).79 Es ist dabei offensichtlich, dass man nur bei oberflächlicher Betrachtung annehmen könnte, dass Informationsgrafik alle Aspekte des Seins gleich gut darstellen kann. Auf Grund ihrer planen – d. h. (pseudo-)zweidimensionalen – Natur können nicht (hineichend) plane Phänomene nämlich wie bereits angesprochen nicht direkt dargestellt, sondern nur indirekt erfahrbar gemacht werden. Im Grunde lassen sich folglich nur Oberflächeneffekte (Hell-DunkelKontraste und Farbschattierungen) direkt zeigen, alles andere nur indirekt. Das betrifft insbesondere die dritte Raumdimension und die Zeit sowie alles was im Hintergrund abläuft, also Verborgenes (z. B. [vermutlich] die CIA-Zentrale), Unbeobachtbares (z. B. das Innere der Sonne), universelle Prinzipien wie Naturgesetze, Immaterielles etc. Bei der nun folgenden Kategorisierung wird auf der obersten Stufe zwischen Informationsgrafiken unterschieden, die auf qualitativen Daten und solchen, die auf quantitativen Daten basieren. Letztere werden auch ‚statistische Informationsgrafiken‘ oder ‚statistische Diagramme‘ genannt.80 Auf der nächsten Ebene erfolgt eine Unterscheidung in Grundformen und Kombinationen. Ausgangspunkt des Ganzen ist das in vielen Naturwissenschaften übli78 79

80

Mereologie ist eine Disziplin der Metaphysik (bzw. Ontologie), die sich mit der Teil-Ganzes-Relation beschäftigt. Unter „Ontologie“ versteht man eine philosophische Disziplin, bei der es um die grundlegendsten Aspekte des Seins geht. Sie wird von vielen Philosophen zur Metaphysik gezählt und befasst sich mit den Fragen, ob und wenn ja was existiert, was Existenz bedeutet, was die grundlegenden Eigenschaften des Existierens und der existierenden Phänomene sind etc. Man arbeitet dabei mit Begriffen wie Sein und Form, Substanz und Akzidenz, Individualität und Universalität, Teil und Ganzes, Actus und Potentia, Materialität und Idealität, Raum und Zeit etc. Im Folgenden wird meistens der hier gebräuchlichere Begriff „Diagramm“ verwendet.

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che naturalistisch-makroskopische Weltbild81, das durch folgende ontologischen Zusätze ergänzt wird: Unsere bekannte Welt wird durch vier Dimensionen hinreichend beschrieben und es gibt darin materielle Phänomene. Alle materiellen Phänomene haben eine räumliche (spatiale) und gleichzeitig eine zeitliche (temporale) Dimension. Fokussiert man auf den Aspekt der schieren zeitlichen Existenz, wird das ‚Ereignis‘ genannt, geht es um die Veränderung in der Zeit, wird von einem ‚Prozess‘ gesprochen. Man kann mit hinreichender Verlässlichkeit annehmen, dass jede relevante Änderung der Materie einen Prozess darstellt und umgekehrt.82 Qualitative Informationsgrafik I. Grundformen der qualitativen Informationsgrafik Bei der qualitativen Informationsgrafik werden qualitative Daten dargestellt. Gemäß der oben vorgeschlagenen Definition sind alle Informationsgrafiken schematisiert. Man kann aber zwischen denjenigen unterscheiden, bei denen eine schematisierte Element-StrukturRekonstruktion erfolgt (wie z. B. bei Flussdiagrammen, Kreislaufdiagrammen etc.), und denjenigen, wo das nicht der Fall ist. Im ersten Fall sprechen wir hier von ‚formalisierter Informationsgrafik‘ und unter so einer Rekonstruktion wird die Ausdifferenzierung und formale Standardisierung von Element- und Struktur-Zeichen verstanden, wie man es beispielsweise bei einfachen Kreislaufdiagrammen findet, wo oftmals Rechtecke durch Pfeile verbunden werden. Die Rechtecke fungieren dabei als Element-Zeichen und die Pfeile als Struktur-Zeichen. Folgende Kategorien lassen sich unterscheiden: A. Deskriptive Informationsgrafik: Hier gibt es zwar eine Schematisierung aber keine Element-Struktur-Rekonstruktion. Zu unterscheiden sind: 1. Naturalistisch-deskriptive Informationsgrafik: Hier wird die Abbildung des natürlichen Detailreichtums angestrebt. 2. Abstrakt-deskriptive Informationsgrafik: Das Detailreichtum soll hier – meist aus Gründen der Vereinfachung – deutlich reduziert und schematisiert werden. Dazu gehören vor allem die Piktogramme. B. Formalisierte Informationsgrafik: Hier erfolgt eine Element-Struktur-Rekonstruktion. Man kann weiter unterteilen in: 1. Konstruktionsgrafik: Dabei handelt es sich um formalisierte Informationsgrafiken (insbesondere Zeichnungen) bei denen die Darstellung des Aufbaus von tatsächlichen oder fingierten materiellen Phänomenen dominiert. Zu unterscheiden sind: a. technische Zeichnung b. architektonische Zeichnung

81

82

„Naturalismus“ besagt grob: (1) Die Welt ist durch Naturgesetze determiniert. Dadurch wird die Existenz von damit kompatiblem Indeterminismus (d. h. insbesondere Zufall) nicht ausgeschlossen, wohl aber ein Verstoß gegen die Naturgesetze. (2) Es existieren zwar unerklärte Phänomene aber nicht notwendig unerklärliche Phänomen, d. h. es gibt keine Wunder. (3) Die richtige Methode der Erkenntnis ist die auf Rationalität und Empirie aufbauende Wissenschaft. (4) Die Phänomene sind in mehrere Entitätsebenen eingeteilt, und zwar von den quantenphysikalischen Phänomenen bis zu den kulturellen. „Makroskopisch“ besagt, dass die Quantenwelt ignoriert werden soll. Dies soll hier nur näherungsweise behauptet werden, weil es auch sehr wichtige veränderliche nicht-materielle physikalische Phänomene gibt, beispielsweise Felder.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie 2.

3.

4.

491

Tempospatiale Lagegrafik a. Spatialgrafik: Hier dominiert die formalisierte Darstellung der räumlichen Anordnung von Elementen (Beispiele: Karten und Wegdiagramme). b. Temporalgrafik: Hier dominiert die formalisierte Darstellung der zeitlichen Anordnung von Elementen. Zu unterscheiden sind: i. Ereignisdarstellungen: Hier werden singuläre Ereignisse dargestellt (Beispiele: Informationsgrafiken der Anschläge vom 11. September 2001, militärische Grafiken oder Zeitliniendiagramme). ii. Prozessdarstellungen: Bei dieser wichtigen Kategorie wird entweder ein Prozess oder im Sinne einer Prinzipiendarstellung83 der formalisierte „Mechanismus“ eines Prozesses formalisiert dargestellt (Beispiele: Flussdiagramme im Allgemeinen, Fischgrätendiagramme und Kreislaufdiagramme im Allgemeinen). Mereologische Informationsgrafik: Hier wird die Teil-Ganzes-Beziehung – rekonstruiert als räumliche Struktur – formalisiert dargestellt (Beispiele: Organigramme, Mindmaps, Matrizen [z. B. SWOT-Diagramme], Baumdiagramme im Allgemeinen, Venn-Diagramme und Systemdiagramme etc.). Allgemeine Relationsgrafik: Hier werden weitere Relationen formalisiert dargestellt, also solche die weder tempospatial noch mereologisch sind (Beispiele: RelationshipDiagramme im Allgemeinen, Soziogramme und Entscheidungsbäume).

II. Häufige Kombinationen im Bereich qualitativer Informationsgrafik Zu nennen sind: • •

Deskriptive Schnittgrafik: Bei dieser sehr bekannten Art der Informationsgrafik wird eine naturalistische Informationsgrafik grafisch sozusagen aufgeschnitten, sodass man in das dargestellte Objekt quasi hinein blicken kann. Funktionsprinzipgrafik: Hier wird eine naturalistische Informationsgrafik – häufig eine deskriptive Schnittgrafik – mit einer Prozessprinzipgrafik kombiniert. Diese Grafik ist vielen Menschen noch von der Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung bekannt, weil damit meist das Funktionsprinzip des Verbrennungsmotors erklärt wird.

Quantitative Informationsgrafik84 I. Grundformen quantitativer Informationsgrafik Diese Art von Informationsgrafik dient der Darstellung quantitativer – also numerischer – Daten. Die wichtigste Unterscheidung orientiert sich an der Frage, wie viele Dimensionen das dargestellte Datenmaterial hat. Je nachdem lassen sich deshalb univariate, bivariate und multivariate Informationsgrafiken unterscheiden, wobei die letzten beiden zusammengefasst werden können. A. Univariate Informationsgrafik85: Hier wird nur ein eindimensionaler Datensatz dargestellt, beispielsweise Größenangaben, wobei diese oft gruppiert werden und sich dann die Mäch83 84 85

Jansen/Scharfe, Handbuch der Infografik: Visuelle Information in Publizistik, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (1999), S. 19. Vgl. Spence, Informations Visualization (2001), S. 34 ff. und Harris, Information Graphics: A Comprehensive Illustrated Reference (1999), S. 164 ff. Spence, Informations Visualization (2001), S. 34 ff.

492

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tigkeit der dadurch entstandenen Mengen, d. h. die Häufigkeiten, darstellen lässt. Zu unterscheiden sind: 1. Univariate Informationsgrafik mit eindimensionalem Koordinatensystem (Beispiele: Grafische Darstellung der Körpergrößen, des Gewichts oder des Body-Mass-Indexes der Mitglieder einer Familie [jeweils ohne Gruppierung]) 2. Univariate Informationsgrafik mit zweidimensionalem Koordinatensystem: Diese dienen meist der Darstellung von Häufigkeiten (Beispiele: Einkommensverteilung oder Wahlhochrechnung). a. Tabellarische Informationsgrafik: Hier wird das Datenmaterial in Form einer Tabelle dargestellt. b. Kartesische Informationsgrafik: Diese basiert auf einem im weitesten Sinne kartesischen Koordinatensystem. Zu unterscheiden sind: i. Punktdiagramm ii. Liniendiagramm (Beispiel: Zeitreihendiagramm) iii. Säulendiagramm iv. Balkendiagramm c. Zentraldiagramm (Beispiel: Kiviat-Diagramm) d. Tortendiagramm e. Weitere Arten von Häufigkeitsdiagrammen 3. Univariate Informationsgrafik gemäß den Regeln der Isotype: siehe dazu weiter oben 4. Quantilgrafik: Hier werden verschiedenen Quantile dargestellt (Beispiel: Boxplot-Diagramm). Bivariate86 und multivariate87 Informationsgrafik: Hier wird ein mehrdimensionaler Datensatz dargestellt, etwa um die Korrelation zwischen verschiedenen Variablen zu visualisieren. Zu unterscheiden sind: 1. Informationsgrafik mit zweidimensionalem Koordinatensystem: Hier gibt es dieselben Varianten wie bei den entsprechenden univariaten Arten der Informationsgrafik. 2. Informationsgrafik mit pseudo-mehrdimensionalem Koordinatensystem: Auch hier existieren dieselben Varianten wie bei den entsprechenden Arten der univariaten Informationsgrafik. Zusätzlich gibt es noch Oberflächendiagramme. Man beachte, dass beispielsweise bei Kiviat-Diagrammen mehr als drei Dimensionen gezeichnet werden können. II. Häufige Kombinationen quantitativer Informationsgrafik Histogramm: Das wahrscheinlich wichtigste Beispiel ist hier das Histogramm, welches üblicherweise als Kombination eines Balken- und eines Liniendiagramms ausgeführt ist.

6

Schlussbemerkung

Um es zu wiederholen: Über das Phänomen der Informationsgrafik in den Wirtschaftswissenschaften gibt es noch keine Theorie. Will man sich dem widmen, muss man zunächst eine 86 87

Spence, Informations Visualization (2001), S. 39 ff. Spence, Informations Visualization (2001), S. 42 ff.

Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

493

Bestandsaufnahme und eine Phänomenologie der Informationsgrafik aufstellen, die es in kompakter und stringenter Form ebenfalls noch nicht gibt. Das wurde hier im kleinen Rahmen versucht. Weitere Forschungen sollen sich nun mit dem spezifischen Einsatz der Informationsgrafik in den Wirtschaftswissenschaften beschäftigen, an deren Ende ein Regelwerk stehen könnte, das den Gebrauch der Informationsgrafik in diesen Wissenschaften auf eine solidere Basis stellt. Zu guter Letzt soll nochmals auf die Pionierstellung des mit dieser Festschrift Geehrten, Richard Hammer, für diesen Bereich hingewiesen werden. Es bleibt zu hoffen, dass seine Arbeit auch auf diesem Wege weitere Früchte trägt.

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Informationsgrafik: Bestandsaufnahme und Phänomenologie

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Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als Gläubigerbegünstigung? Zum Konflikt zwischen § 153c und § 158 StGB Kurt Schmoller Richard Hammer ist nicht nur ein langjähriger Fakultätskollege, sondern ein guter Freund. Als permanenter Leiter des früheren Instituts für Wirtschaftswissenschaften hatte er es an einer rechtswissenschaftlichen Fakultät nicht immer leicht; jedoch fand er weit über die Fakultät hinaus Anerkennung und unterrichtete stets Studierende vieler Studienrichtungen. Mit dem Beginn des Salzburger Bachelor- und Masterstudiums „Recht und Wirtschaft“ im Wintersemester 2004/05 kamen große Aufgaben auf ihn zu: Der Bereich Wirtschaftswissenschaften musste massiv erweitert, der Ansturm einer unerwartet großen Zahl von Studierenden bewältigt werden. Als damaliger Dekan habe ich es intensiv miterlebt: Die Erfolgsgeschichte der Salzburger Studienrichtung „Recht und Wirtschaft“ wäre ohne den unermüdlichen Einsatz, die große Belastbarkeit und Flexibilität von Richard Hammer (gemeinsam mit Sabine Urnik, später auch Claudia Wöhle und Hannes Winner) nicht möglich gewesen. Die Salzburger Rechtsfakultät ist dem Jubilar für sein jahrzehntelanges verdienstvolles Wirken zu großem Dank verpflichtet! – Richard Hammer hat sich immer auch für rechtliche Fragen interessiert. Ihm seien deshalb die folgenden Überlegungen zu einem wirtschaftsstrafrechtlichen Sonderproblem gewidmet.

1

Zahlungspflicht (§ 153c StGB) oder Zahlungsverbot (§ 158 StGB)?

Einen Dienstgeber trifft unter anderem die Pflicht, die Beiträge des Dienstnehmers zur Sozialversicherung vom Lohn einzubehalten und an den Sozialversicherungsträger abzuführen. Unterlässt er (vorsätzlich) die rechtzeitige Zahlung der einbehaltenen Dienstnehmerbeiträge an die Sozialversicherung, macht er sich nach § 153c StGB (Vorenthalten von Dienstnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung) strafbar. Dabei handelt es sich um ein Unterlassungsdelikt, weil eine bloße Untätigkeit („Vorenthalten“ = Nicht-Abführen der Sozialversicherungsbeiträge) unter Strafe gestellt ist. § 153c StGB wurde zwar erst mit dem SozBetrG 20041 eingefügt, zuvor war jedoch ein weitgehend übereinstimmender Straftatbestand in § 114 ASVG enthalten. Die Übernahme ins Kernstrafrecht sollte den Straftatbestand besser ins allgemeine Bewusstsein rufen und außerdem den Zusammenhang zu den neu geschaffe1

BGBl I 2004/152.

498

Kurt Schmoller

nen Straftatbeständen in § 153d StGB (Betrügerisches Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen etc.) und § 153e StGB (Organisierte Schwarzarbeit) herstellen. Die Strafbarkeit des Dienstgebers, der die Dienstnehmerbeiträge zur Sozialversicherung nicht an den Versicherungsträger abführt, gilt nach dem Wortlaut des § 153c StGB ohne Einschränkung, also grundsätzlich auch für einen Dienstgeber, der in die Zahlungsunfähigkeit geschlittert ist2. Andererseits ist es einem Schuldner, sobald er zahlungsunfähig wird (und dies erkennt), grundsätzlich verboten, die Schulden einzelner Gläubiger zu begleichen und diese dadurch gegenüber den anderen Gläubigern zu begünstigen. Denn gem. § 158 StGB (Begünstigung eines Gläubigers) ist ein Schuldner strafbar, der „nach Eintritt seiner Zahlungsunfähigkeit einen Gläubiger begünstigt und dadurch die anderen Gläubiger oder wenigstens einen von ihnen benachteiligt“. Im Fall einbehaltener Dienstnehmerbeiträge zur Sozialversicherung ist der Sozialversicherungsträger einer der Gläubiger, durch Ablieferung der geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge verringert sich der Befriedigungsfonds zum Nachteil der übrigen Gläubiger. Damit treffen einen Dienstgeber in der Situation der Zahlungsunfähigkeit einander widersprechende Pflichten, die er nicht gleichzeitig erfüllen kann: Er muss fällige Dienstnehmerbeiträge an die Sozialversicherung abführen, um sich nicht nach § 153c StGB strafbar zu machen, darf aber andererseits diese Zahlung nicht leisten, weil er dadurch § 158 verwirklichen würde. Der Dienstgeber befindet sich somit in einer klassischen (strafrechtlichen) Pflichtenkollision3. Die Situation der Pflichtenkollision beginnt, sobald die Zahlungsunfähigkeit eintritt und der Betroffene (= Schuldner und Dienstgeber) dies erkennt; ein „Erkennen“ ist im Sinn des § 5 Abs. 1 StGB dann anzunehmen, wenn der Betroffene die eingetretene Zahlungsunfähigkeit „ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet“4. Die Pflichtenkollision endet, sobald das Insolvenzverfahren eingeleitet wird und somit der Insolvenzverwalter die Verfügungsmacht über das Vermögen übernimmt. Da der Schuldner ab diesem Zeitpunkt nicht mehr rechtswirksam über sein Vermögen verfügen kann5, trifft ihn keine Pflicht mehr zur Abfuhr der Sozialversicherungsbeiträge im Sinn des § 153c StGB6, sodass die Konfliktsituation entfällt. 2

3

4 5 6

Zahlungsunfähigkeit bedeutet generell nicht, dass der Schuldner keine Zahlungen mehr leisten kann, sondern allein, dass seine Liquidität nicht mehr zur Zahlung aller fälligen Verpflichtungen ausreicht; näher Kirchbacher/ Presslauer, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 159 Rz. 60 (2011) m.w.N. Entgegen einer früher vertretenen Ansicht lässt sich das Problem nicht einfach durch Hinweis auf eine „Spezialität“ einer der beiden Vorschriften lösen. Für „Spezialität“ des § 114 ASVG gegenüber § 158 StGB ursprünglich Derntl, Strafbarkeit gem § 114 ASVG und Restschuldbefreiung, ZIK 2004, S. 157; Breiter, Fahrlässige Krida nach Zahlungsunfähigkeit (1998), S. 192; Nemec, in Fuchs/Keppert (Hrsg.), Kridastrafrecht aus der Sicht der Strafverfolgung (2001), S. 115 (der aber die gegenteilige Lösung für ebenso vertretbar hält). In Wahrheit liegt echte „Spezialität“ nicht vor, weil sich die Anwendungsbereiche überschneiden: § 153c StGB richtet sich an alle „Dienstgeber“, § 158 StGB an alle „zahlungsunfähigen Schuldner mehrerer Gläubiger“. Ebenfalls gegen das Spezialitäts-Argument deshalb Honsell, Die Haftung des Geschäftsführers gegenüber Gesellschaftsgläubigern bei Insolvenz der GmbH, GesRZ 1984, S. 145. Verstünde man hingegen „Spezialität“ ungenau einfach als Regelung eines besonders gelagerten Falls, würde dies eher auf § 158 StGB als auf § 153c StGB zutreffen; denn „zahlungsunfähige Schuldner“ sind eher selten, „Dienstgeber“ dagegen sehr verbreitet. Erst durch dieses Mindesterfordernis eines Vorsatzes (sog. „dolus eventualis“) wird das Vorsatzdelikt des § 158 StGB erfüllt. § 2 Abs. 2 IO. Ausdrücklich Derntl, § 153c StGB: Täterkreis, Liquiditätsprobleme, Ratenvereinbarung und Spezialfragen, SozSi 2008, S. 440; Derntl/Neumann, Das Sozialbetrugsgesetz. Scheinfirmen und Schwarzarbeit sollen künftig effektiver bekämpft werden, ASoK 2005, S. 92; Kirchbacher/Presslauer, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 153c Rz. 21 (2009); Mayerhofer, Das österreichische Strafrecht, StGB6 (2009), § 153c Rz. 12a.

Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als Gläubigerbegünstigung?

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Der Zeitraum der Pflichtenkollision zwischen erkannter Zahlungsunfähigkeit und Einleitung eines Insolvenzverfahrens ist allerdings schon deshalb nicht unbedeutend, weil § 69 Abs. 2 IO eine bis zu 60-tägige Frist für den Antrag auf ein Insolvenzverfahren einräumt, sofern der Schuldner in dieser Zeit ein Sanierungsverfahren mit Eigenverwaltung vorbereitet. In dieselbe Konfliktsituation kann das vertretungsbefugte oder sonst für die Einzahlung der Sozialversicherungsbeiträge zuständige Organ einer juristischen Person oder sonstigen Personengemeinschaft geraten. Denn einerseits erstreckt sich der Straftatbestand des § 153c Abs. 2 StGB auch auf eine solche Person und andererseits kann diese sich gem. § 161 StGB auch nach § 158 StGB strafbar machen. Der Insolvenzverwalter selbst kann nach eingeleitetem Insolvenzverfahren hingegen in keine derartige Konfliktsituation geraten, weil die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Insolvenzordnung als leges speciales die von ihm einzuhaltende Vorgangsweise hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge vorschreiben7: Sozialversicherungsbeiträge, die ihren Entstehungsgrund erst während des Insolvenzverfahrens haben, sind gem. § 46 Z. 2 IO als Masseforderungen vorrangig zu befriedigen8, sodass § 158 StGB nicht anwendbar ist. Haben die Sozialversicherungsbeiträge hingegen ihren Entstehungsgrund im Zeitraum vor Einleitung des Insolvenzverfahrens, sind sie den sonstigen Insolvenzforderungen gleichgestellt9; sie sind deshalb insolvenzmäßig abzuwickeln und werden insoweit nicht „vorenthalten“ im Sinn des § 153c StGB. Wie muss sich also nun ein Dienstgeber (bzw. das zuständige Organ einer juristischen Person oder sonstigen Personengemeinschaft, die Dienstgeber ist) bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit verhalten, um sich im Spannungsfeld zwischen § 153c StGB und § 158 StGB nicht strafbar zu machen?

2

Situation vor dem SozBetrG 2004

Ein vergleichbares Spannungsverhältnis bestand vor dem SozBetrG 2004 zwischen § 114 ASVG und § 158 StGB und bereitete immer wieder Schwierigkeiten10.

2.1

Vorrang der Zahlungspflicht

Im Jahr 1987 nahm der OGH ausdrücklich zur Pflichtenkollision zwischen dem damaligen § 114 ASVG und § 158 StGB Stellung. Dabei schloss er „aus der Strafdrohung des § 114 7 8 9

10

Vgl. Derntl, § 153c StGB: Täterkreis, Liquiditätsprobleme, Ratenvereinbarung und Spezialfragen, SozSi 2008, S. 441. Z. B. Engelhart, in Konecny/Schubert (Hrsg.), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen, § 46 KO Rz. 65 (2004). Die allgemeine Bevorrechtung von Sozialversicherungsbeiträgen in der Insolvenz wurde durch das InsolvenzrechtsänderungsG 1982 beseitigt; dazu z. B. Prem, Die Anfechtung nach der Konkursordnung am Beispiel der Sozialversicherungsträger, SozSi 2010, S. 523 f.; Honsell, Die Haftung des Geschäftsführers gegenüber den Gesellschaftsgläubigern bei Insolvenz der GmbH, GesRZ 1984, S. 145. Verschiedentlich wurde der Vorschlag unterbreitet, dieses Spannungsverhältnis durch ersatzlose Aufhebung des § 114 ASVG aufzulösen; vgl. Keppert, in Fuchs/Keppert (Hrsg.), Kridastrafrecht – Bestandsaufnahme und Reform aus der Sicht des Buchsachverständigen (2001), S. 132; auch Brandstetter, in BMJ (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme der Gegenwart 29 (2002), S. 102, 107; ders., in BMJ (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme der Gegenwart 26 (1998), S. 152. Diese Ansicht hat sich jedoch nicht durchgesetzt, vielmehr wurde die Regelung mit § 153c StGB sogar ins Kernstrafrecht verschoben.

500

Kurt Schmoller

ASVG“ auf die „Prävalenz der Verpflichtung zum Abführen der Dienstnehmeranteile“11. Demnach bejahte der OGH für den Täter, der ab dem Zeitpunkt seiner Zahlungsunfähigkeit keine Beiträge mehr an die Sozialversicherung geleistet hatte (um sich nicht wegen Begünstigung eines Gläubigers strafbar zu machen), eine Verwirklichung des § 114 ASVG. Allerdings wurde der Täter im konkreten Fall wegen eines nicht vorwerfbaren Rechtsirrtums (§ 9 StGB) freigesprochen, weil er die Beitragszahlung an die Sozialversicherung auf Anraten seines Rechtsanwalts eingestellt hatte und deshalb für ihn unvermeidbar glaubte, sich in der Konfliktsituation rechtmäßig zu verhalten. Der OGH stützte seine Ansicht, dass die Zahlungspflicht an die Sozialversicherung dem Verbot der Gläubigerbegünstigung vorgehe, auf die Strafdrohung des § 114 ASVG und sprach damit den Umstand an, dass in § 114 ASVG eine höhere Strafdrohung vorgesehen war als in § 158 StGB. Tatsächlich bestand diese Differenz, wenngleich nur in einem Nebenaspekt: Sowohl in § 114 ASVG als auch in § 158 StGB war jeweils eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren angedroht, in § 114 ASVG allerdings zusätzlich vorgesehen, dass „neben der Freiheitsstrafe … eine Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen verhängt werden“ kann. Da diese kumulative Geldstrafe bei § 158 StGB fehlte, war § 114 ASVG das strengere Delikt. Damit konnte der OGH an die herrschende Meinung zur Pflichtenkollision anknüpfen, der zufolge im Fall unterschiedlich gewichtiger Pflichten die höherrangige Pflicht zu erfüllen ist, während die Verletzung der weniger gewichtigen Pflicht gerechtfertigt wird12. Die Höherrangigkeit einer Pflicht wird insbesondere durch die schwerere Strafe im Fall ihrer Verletzung indiziert. Es erschien deshalb schlüssig, dass der OGH aus der schwereren Strafdrohung in § 114 ASVG auf einen Vorrang gegenüber § 158 StGB schloss und damit eine Pflicht zur Zahlung an die Sozialversicherung auch nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit annahm.

2.2

Abweichende Ansichten

Die vom OGH vorgezeichnete Lösung war allerdings schon vor dem SozBetrG 2004 nicht einhellige Meinung. Im Jahr 1995 nahm Kosch zur dargestellten Kollisionsproblematik Stellung13. Im Unterschied zum OGH beurteilte er die in § 114 ASVG und § 158 StGB verankerten Pflichten als gleichwertig, indem er auf die in beiden Straftatbeständen angedrohte Freiheitsstrafe von zwei Jahren abstellte; der in § 114 ASVG zusätzlich vorgesehenen Geldstrafe maß er ausdrücklich – allerdings ohne dies näher zu begründen – keinen Aussagegehalt für eine Höherwertigkeit der Pflicht bei14. Ausgehend von der Gleichwertigkeit der Pflichten nahm er an, es bleibe „dem Verpflichteten überlassen, welche Pflicht er erfüllen möchte“15, d. h. der in die Zahlungsunfähigkeit geratene Dienstgeber könne wählen, ob er die Dienstnehmerbeiträge an die Sozialversicherung abführe oder nicht, in beiden Fällen handle er jeweils rechtmäßig und daher straflos. 11 12

13 14 15

OGH 1. 9. 1987, 15 Os 62/87. Z. B. Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1994), Kapitel 11 Rz. 144, 146; Fuchs, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil I7 (2008), Kapitel 18 Rz. 4, 6; Lewisch, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, Nachbemerkungen zu § 3 Rz. 138, 142 (2003); Steininger, in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Nachbemerkungen § 3 Rz. 80 (2004); Lenckner/SternbergLieben, in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar28 (2010), Vorbemerkungen §§ 32 ff. Rz. 71–73. Kosch, Kollision zwischen § 114 ASVG und § 158 StGB?, ZIK 1995, S. 33. Kosch, Kollision zwischen § 114 ASVG und § 158 StGB?, ZIK 1995, S. 36. Kosch, Kollision zwischen § 114 ASVG und § 158 StGB?, ZIK 1995, S. 35; zustimmend Dellinger, in Konecny/ Schubert (Hrsg.), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen, § 69 KO Rz. 31 (2005).

Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als Gläubigerbegünstigung?

501

Die Ausführungen von Kosch überzeugen jedoch schon deshalb nicht, weil nach herrschender Meinung eine freie Wahl des Verpflichteten nur bei einer Kollision gleichwertiger Handlungspflichten besteht. Wenn jemand zu zwei nicht miteinander vereinbaren Handlungen verpflichtet ist und sich keine Höherrangigkeit einer der Pflichten begründen lässt, ist das Verhalten rechtmäßig, sofern eine der Pflichten nach freier Wahl des Verpflichteten erfüllt wird16. Eine solche Situation liegt z. B. vor, wenn ein Notarzt am Unfallort eintrifft und zwei Personen gleichermaßen dringend Hilfe benötigen, er aber zeitgleich nur einer von ihnen helfen kann; der Notarzt handelt dann rechtmäßig, wenn er zumindest einem der Verunglückten hilft. Anderes gilt hingegen nach herrschender Meinung, wenn eine Handlungspflicht mit einer gleichwertigen Unterlassungspflicht kollidiert. In diesem Fall geht nach herrschender Meinung die Unterlassungspflicht vor, da sich für ein aktives Handeln, mit dem gleichermaßen Schaden angerichtet wie Nutzen bewirkt wird, keine Handlungslegitimation finden lässt17. Wenn somit die Zahlungspflicht gem. § 114 ASVG, also eine Handlungspflicht, der Unterlassungspflicht gem. § 158 StGB gegenübersteht, müsste bei Gleichwertigkeit die Unterlassungspflicht vorgehen, d. h. der Betroffene untätig bleiben. In genau diese Richtung hat sich im Jahr 2001 Brandstetter geäußert18. Er geht offenbar – wie Kosch – von der Gleichwertigkeit der sich aus § 114 ASVG bzw. § 158 StGB ergebenden Pflichten aus und merkt an, dass in solchen Fällen nach herrschender Lehre die Unterlassungspflicht der Handlungspflicht vorgehe; auf dieser Grundlage müsse man dem Betroffenen raten, „der Unterlassungspflicht nachzukommen, die Sozialversicherungsbeiträge nicht abzuführen und damit auch keinen Gläubiger durch aktives Tun zu begünstigen“19. Allerdings muss sich auch Brandstetter entgegenhalten lassen, dass die angenommene Gleichwertigkeit der beiden Pflichten nicht überzeugt. Denn auch wenn § 114 ASVG dieselbe Freiheitsstrafe vorsah wie § 158 StGB, bestand doch mit der in § 114 ASVG kumulativ angedrohten Geldstrafe ein merklicher Unterschied. Will man eine Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen nicht als vernachlässigbare Größe ansehen (was angesichts jener Straftatbestände, die eine solche Geldstrafe als Hauptstrafe androhen20, schwer erklärbar wäre), führt kaum ein Weg daran vorbei, der Pflicht nach § 114 ASVG den Vorrang einzuräumen. Bis zum SozBetrG 2004 sprachen deshalb die besseren Argumente für die vom OGH angenommene Prävalenz der Pflicht zur Zahlung an die Sozialversicherung.

16

17

18 19 20

Z. B. Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1994), Kapitel 11 Rz. 147; Fuchs, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil I7 (2008), Kapitel 18 Rz. 7; Nowakowski, in Foregger/Nowakowski (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB1, Nachbemerkungen zu § 3 Rz. 13 (1984); Lenckner/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar28 (2010), Vorbemerkungen §§ 32 ff. Rz. 73. Dagegen nimmt eine abweichende Meinung in solchen Fällen nicht Rechtfertigung, sondern bloße Entschuldigung an; z. B. Lewisch, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, Nachbemerkungen zu § 3 Rz. 147 ff. (2003) m. w. N. Diese Lösung überzeugt aber nach herrschender Meinung nicht, weil die Rechtsordnung in jeder Situation zumindest eine Möglichkeit rechtmäßigen Verhaltens eröffnen muss. Z. B. Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1994), Kapitel 11 Rz. 145; Fuchs, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil I7 (2008), Kapitel 18 Rz. 4 f.; Lewisch, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, Nachbemerkungen zu § 3 Rz. 138 (2003); Brandstetter, in BMJ (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme der Gegenwart 29 (2002), S. 98; Breiter, Fahrlässige Krida nach Zahlungsunfähigkeit (1998), S. 191; Lenckner/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar28 (2010), Vorbemerkungen §§ 32 ff. Rz. 71, 72. Brandstetter, in BMJ (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme der Gegenwart 29 (2002), S. 98. Brandstetter a .a. O. Für die meisten einfachen Vermögensdelikte ist im Grundtatbestand Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen vorgesehen (z. B. §§ 125, 127, 133, 134, 135, 136, 146, 153, 164 StGB u. a.). In diesen Fällen ist die Geldstrafe (alternative) Hauptstrafe.

502

Kurt Schmoller

3

Situation seit dem SozBetrG 2004

3.1

Meinungsstand und Kritik

Im Zuge des SozBetrG 2004 und der dabei vorgenommenen Ersetzung des § 114 ASVG durch § 153c StGB war auch das Kollisionsverhältnis zu § 158 StGB im Gespräch21. Dies gab Anlass, in den Gesetzesmaterialien dazu Stellung zu nehmen. Dabei wurde ausdrücklich auf die Entscheidung des OGH aus dem Jahr 198722 Bezug genommen und die „aus der Strafdrohung des § 114 ASVG folgende Prävalenz der Verpflichtung zum Abführen des Dienstnehmeranteils“ auch für die Zukunft als gültig betrachtet23. In der Literatur wurde diese Stellungnahme anschließend unkritisch übernommen. So hat insbesondere Derntl unter Hinweis auf die Strafdrohung des § 153c StGB und die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien eine „Vorrangstellung des § 153c StGB gegenüber § 158 StGB“ angenommen und ausgeführt: „Einbehaltene Dienstnehmerbeiträge sind deshalb voll an den berechtigten Sozialversicherungsträger weiterzuleiten; ansonsten ist § 153c StGB zu Anwendung zu bringen. Die Abfuhr der Dienstnehmerbeiträge bewirkt somit jedenfalls keine Strafbarkeit gem. § 158 StGB.“24 Auch in den Kommentaren zum StGB wurde diese Ansicht übernommen: Nach Kirchbacher/Presslauer fällt „die Entrichtung von Dienstnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit … als Erfüllung einer strafbewehrten Zahlungspflicht nicht unter § 158“25. Auch Fabrizy hält an der „Prävalenz der Verpflichtung zum Abführen der Dienstnehmeranteile“ fest26. Sowohl die Gesetzesmaterialien als auch die angeführten Autoren gehen allerdings auf einen wesentlichen Punkt nicht ein, der sich mit dem SozBetrG 2004 geändert hat: In § 153c StGB ist allein eine zweijährige Freiheitsstrafe angedroht, die in § 114 ASVG vorgesehene zusätzliche Geldstrafe wurde in § 153c StGB nicht übernommen. Die Strafdrohungen in § 153c StGB und § 158 StGB sind daher heute völlig identisch. Damit entfällt das entscheidende Argument, das den OGH in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1987 dazu bewog, eine Prävalenz der Zahlungspflicht nach § 114 ASVG anzunehmen. Soweit die Gesetzesmaterialien und Derntl die Vorrangstellung des § 153c StGB weiterhin „aus der Strafdrohung“ ableiten27, haben sie die mit dem SozBetrG 2004 eingetretene Änderung in der Strafdrohung offenbar übersehen. Kirchbacher/Presslauer nehmen auf die Strafdrohung überhaupt nicht Bezug, sodass letztlich unklar bleibt, woraus sie eine Vorrangstellung des § 153c StGB gegenüber § 158 StGB ableiten28.

21 22 23 24

25 26 27 28

Dazu Derntl, § 153c StGB: Täterkreis, Liquiditätsprobleme, Ratenvereinbarung und Spezialfragen, SozSi 2008, S. 444 f.. Oben Fn. 11. EBRV-SozBetrG = 698 BlgNR 22. GP, 8. Derntl, § 153c StGB: Täterkreis, Liquiditätsprobleme, Ratenvereinbarung und Spezialfragen, SozSi 2008, S. 444; ebenso Derntl/Neumann, Das Sozialbetrugsgesetz. Scheinfirmen und Schwarzarbeit sollen künftig effektiver bekämpft werden, ASoK 2005, S. 92. Kirchbacher/Presslauer, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 153c Rz. 31 (2009). Fabrizy, Strafgesetzbuch10 (2010), § 153c Rz. 4. Oben Fn. 24. Der Hinweis von Kirchbacher/Presslauer darauf, dass § 153c StGB eine „strafbewehrte Zahlungspflicht“ vorsehe (oben Fn. 25), reicht als Argument nicht aus. Denn dass sowohl § 153c StGB als auch § 158 StGB „strafbewehrte Pflichten“ vorsehen, schafft ja gerade das Kollisionsproblem, löst es aber nicht.

Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als Gläubigerbegünstigung?

3.2

503

Vorrang des Zahlungsverbots!

Aufgrund der völlig identen Strafdrohungen in § 153c StGB und § 158 StGB ist – im Unterschied zur Situation vor dem SozBetrG – heute von einer Kollision gleichwertiger Pflichten auszugehen. Dann ergeben sich aber nach den allgemeinen Regeln der Pflichtenkollision jene Konsequenzen, die Brandstetter bereits 2001 aufgezeigt hat, wenngleich damals wegen der vor dem SozBetrG 2004 unterschiedlichen Strafrahmen nicht überzeugend29: Kollidiert eine Handlungspflicht mit einer gleichwertigen Unterlassungspflicht, so fehlt nach herrschender Meinung die Legitimation für die Vornahme der betreffenden Handlung, weil diese rechtlich gesehen im gleichen Ausmaß schadet wie nützt. Bei Gleichwertigkeit ist deshalb von einem Vorrang der Unterlassungspflicht auszugehen, d. h. der Einzelne ist nicht legitimiert, verändernd in das Geschehen einzugreifen – er muss untätig bleiben30. Für den zahlungsunfähigen Dienstgeber (bzw. das insoweit zuständige Organ einer juristischen Person oder sonstigen Personengemeinschaft) ergibt sich daraus die Handlungsanleitung, dass er grundsätzlich untätig bleiben muss; eine Zahlung der Beiträge an die Sozialversicherung wäre rechtswidrig, weil für die dadurch bewirkte Gläubigerbegünstigung keine Legitimation durch ein überwiegendes Interesse besteht31. Leistet der zahlungsunfähige Dienstgeber die geschuldeten Beiträge an die Sozialversicherung, verwirklicht er den Straftatbestand der Gläubigerbegünstigung nach § 158 StGB. Angesichts der insoweit ebenfalls vertretenen abweichenden Ansichten wäre allerdings denkbar, dass sich derzeit ein Täter mit Erfolg auf einen nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum nach § 9 StGB berufen könnte32.

3.3

Würdigung des Ergebnisses

Das Ergebnis, dass der zahlungsunfähige Dienstgeber keine Beiträge an den Sozialversicherungsträger leisten darf, um diesen nicht vor anderen Gläubigern zu begünstigen, verdient rechtspolitisch Zustimmung. Im Fall einer Insolvenz erleiden – abgesehen von besonders bevorrechteten Forderungen – ohnehin alle Gläubiger gravierende Einbußen. Eine Sonderstellung der Sozialversicherung könnte sich allenfalls daraus ergeben, dass diese sich ihre Schuldner (im Gegensatz zu den meisten anderen Gläubigern) nicht aussuchen kann. Allerdings wurde gerade deshalb ohnehin der Straftatbestand des § 153c StGB eingeführt, der jedenfalls für zahlungsfähige Dienstgeber ein erhöhtes Motiv zur rechtzeitigen Zahlung der Beiträge schafft. Für den Fall einer Insolvenz hat der Gesetzgeber hingegen dadurch Vorsorge getroffen, dass die Sozialversicherung einen Ersatz für Zahlungsausfälle seitens des

29 30 31

32

Oben Fn. 18 und 19. Nachweise in Fn. 17. Eine strafbare Gläubigerbegünstigung tritt freilich nur dann ein, wenn der zahlungsunfähige Schuldner einen höheren Betrag an die Sozialversicherung bezahlt, als der späteren Insolvenzquote entspricht, weil nur dann andere Gläubiger benachteiligt werden. Deshalb läge kein rechtswidriges Verhalten vor, wenn der Schuldner nur einen so geringen, aliquoten Teil der Ansprüche der Sozialversicherung erfüllt, von dem im konkreten Fall sicher ist, dass er in der Insolvenzquote Deckung findet. Wegen der stets unsicheren Vorhersehbarkeit der Insolvenzquote ist aber in jedem Fall anzuraten, keine Zahlung zu leisten. – Wenn sich im Übrigen Lewisch für eine aliquote Zahlung ausspricht – vgl. Lewisch, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, Nachbemerkungen zu § 3 Rz. 129 (2003) – erkennt er implizit wie nach der hier befürworteten Lösung einen Vorrang des § 158 StGB gegenüber § 153c StGB an. Vgl. etwa Feuchtinger/Lesigang, Praxisleitfaden Insolvenzrecht³ (2010), S. 222, die auf der Grundlage des bisherigen Meinungsstands den „Praxistipp“ geben, im Kollisionsfall die Beiträge an die Sozialversicherung zu bezahlen, weil das Strafbarkeitsrisiko gem. § 153c StGB höher sei als jenes gem. § 158 StGB.

504

Kurt Schmoller

Insolvenz-Entgelt-Fonds erhält33; der Schaden soll insoweit also auf die Allgemeinheit (übrigens unter Einschluss auch der ohnehin schon geschädigten anderen Gläubiger) verteilt werden. Zwar besteht gewiss auch ein hohes Interesse, eine Schädigung der Allgemeinheit zu vermeiden; Ziel der Regelung war aber wohl, dass im Fall einer Insolvenz eben die Allgemeinheit einspringt, um zu vermeiden, dass die anderen Gläubiger ein noch weitergehendes „Sonderopfer“ zur Ermöglichung einer vollständigen Zahlung an die Sozialversicherung erbringen müssen. Ausgewogener erscheint es deshalb, die Sozialversicherung nicht anders zu behandeln als sonstige Gläubiger und zu akzeptieren, dass die Sozialversicherung ohnehin Ersatz über den Insolvenz-Entgelt-Fonds durch die Allgemeinheit erhält34. Das erzielte Ergebnis passt auch besser zum Insolvenzrecht: Nach diesem hat der Insolvenzverwalter Sozialversicherungsbeiträge, die ihren Entstehungsgrund vor der Einleitung des Insolvenzverfahrens haben, wie sonstige Forderungen zu behandeln, allein die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehenden Zahlungsverpflichtungen genießen als Masseforderungen Vorrang35. Es erschiene ohnehin nicht konsequent, den zahlungsunfähigen Dienstgeber zur vollständigen Zahlung an die Sozialversicherung zu verpflichten, im Insolvenzverfahren dann aber eine andere Lösung vorzusehen. Auch ist kaum sinnvoll, dass der Insolvenzverwalter dann nachträglich jene Zahlungen an die Sozialversicherung noch anfechten kann36, zu denen der zahlungsunfähige Dienstgeber zuvor verpflichtet war. Besser ins System des Insolvenzverfahrens passt deshalb, bereits den zahlungsunfähigen Dienstgeber von einer Zahlung an den Sozialversicherungsträger abzuhalten, um anschließend die Verteilung der Insolvenzmasse dem Insolvenzverwalter zu überlassen.

4

Ausblick auf § 153d StGB

Zum Abschluss ist noch auf ein Sonderproblem aufmerksam zu machen: Handelt ein Dienstgeber bereits bei der Anmeldung zur Sozialversicherung mit dem Vorsatz, später keine ausreichenden Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen, wird das spätere Vorenthalten als „Betrügerisches Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen“ gem. § 153d StGB mit deutlich strengerer Strafe bedroht, nämlich mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (Abs. 1) bzw. sogar mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren (Abs. 2). Wie ist nun die Situation zu beurteilen, wenn ein Dienstgeber nach vorhergehender betrügerischer Anmeldung zur Sozialversicherung zahlungsunfähig wird (und in die Pflichtenkollision zwischen Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen und Begünstigung eines Gläubigers gerät)? 33 34

35 36

§ 13a Insolvenz-EntgeltsicherungsG; vgl. z. B. Prem, Die Anfechtung nach der Konkursordnung am Beispiel der Sozialversicherungsträger, SozSi 2010, S. 524. Problematisch erscheint deshalb auch, wenn der OGH im Jahr 1986 in einem obiter dictum formuliert hat, bei einem Konflikt zwischen einer abgabenrechtlichen Zahlungspflicht (z. B. § 33 FinStrG) und einer Gläubigerbegünstigung (§ 158 StGB) könne § 158 StGB nie erfüllt werden, weil es einen „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ gäbe, „daß die Befolgung eines Gesetzes nicht strafbar machen könne“ (SSt 57/55). In Wahrheit gibt es einen solchen Grundsatz nicht, sondern bei einander widersprechenden Strafgesetzen ist eben nach den Regeln der Pflichtenkollision zu entscheiden. – Im konkreten Fall von SSt 57/55 bestand allerdings, wie der OGH zu Recht entschied, in Wahrheit gar keine Pflichtenkollision, weil der Täter durch Offenlegung der Steuerschuld ohne gleichzeitige Bezahlung beide Straftatbestände vermeiden hätte können, sodass die Aussagen des OGH zur Lösung der Pflichtenkollision hypothetisch blieben. Oben Fn. 8 und 9. Zur Anfechtungsmöglichkeit z. B. Rebernig, in Konecny/Schubert (Hrsg.), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen, § 30 KO Rz. 71, 75 ff. (2006).

Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als Gläubigerbegünstigung?

505

Eine Argumentation könnte dahin gehen, aus der in § 153d StGB angedrohten deutlich höheren Strafe auf einen Vorrang gegenüber § 158 StGB zu schließen und daraus abzuleiten, dass ein zahlungsunfähiger Dienstgeber, der zuvor betrügerisch zur Sozialversicherung angemeldet hat, nun auch vorrangig die Sozialversicherungsbeiträge leisten müsse, weil der höheren Strafdrohung eine erhöhte Pflicht entspräche. Der Nachteil einer solchen Lösung liegt allerdings darin, dass schwer erklärt werden kann, warum die übrigen Gläubiger allein deshalb schlechter gestellt sein sollen, weil der Schuldner zuvor eine betrügerische Anmeldung zur Sozialversicherung vorgenommen hat. Vielmehr erscheint die rechtspolitische Wertung, ob die Sozialversicherung eine bevorzugte Gläubigerstellung einnehmen soll, mit den übrigen Fällen (ohne vorangegangene betrügerische Anmeldung) vergleichbar. Dafür spricht auch, dass innerhalb des Insolvenzverfahrens nicht unterschieden wird; der Insolvenzverwalter hat Ansprüche der Sozialversicherung, die ihren Entstehungsgrund vor Einleitung des Insolvenzverfahrens haben, auch dann mit anderen Forderungen gleich zu behandeln, wenn der Schuldner die Anmeldung zur Sozialversicherung ursprünglich betrügerisch erwirkt hat. Diese Überlegungen sprechen dafür, einen anderen Argumentationsweg zu wählen: Die in § 153d StGB vorgesehene höhere Strafe knüpft nur formell als tatbestandsmäßiges Verhalten – wie § 153c StGB – daran an, dass der Täter Beiträge dem Versicherungsträger vorenthält; in Wahrheit wird jedoch mit der in § 153d StGB vorgesehenen erhöhten Strafe nicht nur das Vorenthalten, sondern das zeitlich früher gelegene betrügerische Anmelden zur Sozialversicherung mitbestraft. Bezieht sich die höhere Strafdrohung aber in Wahrheit auf ein zeitlich vorgelagertes Handeln, nicht auf das Vorenthalten selbst, kann die höhere Strafdrohung nicht Maßstab für das Verhältnis der kollidierenden Pflichten im Zeitpunkt des Vorenthaltens sein; denn das betrügerische Anmelden zur Sozialversicherung ist bereits abgeschlossen und kann deshalb im Zeitpunkt der Pflichtenkollision (Vorenthalten oder Gläubigerbegünstigung) ohnehin nicht mehr beeinflusst werden. Betrachtet man hingegen allein das „Vorenthalten“, kann der – allein auf diesen Vorgang bezogenen – Strafdrohung in § 153c StGB entnommen werden, dass das Vorenthalten im Verhältnis zur Gläubigerbegünstigung ein gleichwertiges Unrecht darstellt. Bei dieser Ausgangsposition kann auch der Umstand, dass § 153d StGB infolge der Mitabgeltung eines früheren Verhaltens (der betrügerischen Anmeldung zur Sozialversicherung) insgesamt eine höhere Strafdrohung aufweist, zu keiner abweichenden Bewertung der Pflichtenkollision im Zeitpunkt der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit führen. Daraus folgt: Auch ein Dienstgeber, der zuvor betrügerisch zur Sozialversicherung angemeldet hat, muss bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit (so wie ohne vorangegangenes betrügerisches Anmelden) untätig bleiben, d. h. das Verbot der Gläubigerbegünstigung hat auch in dieser Konstellation Vorrang. Es ist anschließend Sache des Insolvenzverwalters, einen Ausgleich zwischen allen Gläubigern zu schaffen.

Literatur Brandstetter, W.: Aktuelle Fragen des Insolvenzstrafrechts, in: BMJ (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, Referate des 29. Fortbildungsseminars aus Strafrecht und Kriminologie 2001, Wien 2002, S. 77. Brandstetter, W.: Die Fragwürdigkeit der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ und andere aktuelle Fragen des Wirtschaftsstrafrechts, in: BMJ (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, Referate des 26. Fortbildungsseminars aus Strafrecht und Kriminologie 1998, Wien 1998, S. 127. Breiter, G.: Fahrlässige Krida nach Zahlungsunfähigkeit, Wien 1998.

506

Kurt Schmoller

Dellinger, M.: in: Konecny, A./Schubert, G. (Hrsg.), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen, § 69 KO, Wien 2005. Derntl, J.: § 153c StGB: Täterkreis, Liquiditätsprobleme, Ratenvereinbarung und Spezialfragen, in: SozSi 2008, S. 439. Derntl, J./Neumann, T.: Das Sozialbetrugsgesetz. Scheinfirmen und Schwarzarbeit sollen künftig effektiver bekämpft werden, in: ASoK 2005, S. 92. Derntl, J.: Strafbarkeit gemäß § 114 ASVG und Restschuldbefreiung, in: ZIK 2004, S. 156. Engelhart, K.: in: Konecny, A./Schubert, G. (Hrsg.), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen, § 46 KO, Wien 2004. Fabrizy, E. E.: Strafgesetzbuch10, Wien 2010. Feuchtinger, G./Lesigang, M.: Praxisleitfaden Insolvenzrecht³, Wien 2010. Fuchs, H.: Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil I7, Wien 2008. Honsell, H.: Die Haftung des Geschäftsführers gegenüber Gesellschaftsgläubigern bei Insolvenz der GmbH, in: GesRZ 1984, S. 134. Keppert, T.: Kridastrafrecht – Bestandsaufnahme und Reform aus der Sicht des Buchsachverständigen, in: Fuchs, H./Keppert, T. (Hrsg.), Grundfragen des Kridastrafrechts, Wien 2001, S. 129. Kirchbacher, K./Presslauer, W.: in: Höpfel, F./Ratz, E. (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, §§ 148a–155, Wien 2009, §§ 156–165a, Wien 2011. Kosch, N.: Kollision zwischen § 114 ASVG und § 158 StGB?, in: ZIK 1995, S. 33. Lenckner, T./Sternberg-Lieben, D.: in: Schönke, A./Schröder, H. (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar28, München 2010. Lewisch, P.: in: Höpfel, F./Ratz, E. (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, Nachbemerkungen zu § 3, Wien 2003. Mayerhofer, C.: Das österreichische Strafrecht, StGB6 , Wien 2009. Nemec, W.: Kridastrafrecht aus der Sicht der Strafverfolgung, in: Fuchs, H./Keppert, T. (Hrsg.), Grundfragen des Kridastrafrechts, Wien 2001, S. 95. Nowakowski, F.: in: Foregger, E./Nowakowski, F. (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB1, §§ 3–5, Wien 1984. Prem, E.: Die Anfechtung nach der Konkursordnung am Beispiel der Sozialversicherungsträger, in: SozSi 2010, S. 522. Rebernig, R.-P.: in: Konecny, A./Schubert, G. (Hrsg.), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen, § 30 KO, Wien 2006. Steininger, E., in: Triffterer, O./Rosbaud, C./Hinterhofer, H. (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch (Loseblattsammlung), Nachbemerkungen zu § 3, Wien 2004. Triffterer, O.: Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2, Wien 1994.

Vorstandsvergütung im österreichischen Corporate Governance Kodex Michael Gruber und Anna Doblhofer-Bachleitner

1

Einleitung

Die durchschnittliche Vorstandsvergütung in einem ATX Unternehmen betrug 2008 das 48fache des durchschnittlichen Bruttobezugs eines Beschäftigten dieser Unternehmen.1 Solche und ähnliche Meldungen erregten in Folge der Finanzkrise öffentliches Aufsehen und führten zu einer europaweiten Diskussion über die Angemessenheit von Managergehältern. Die europäische Kommission reagierte schnell und verabschiedete im April 2009 eine Empfehlung zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften2, auch im Grünbuch vom 05.04.2011 wurde das Thema aufgegriffen.3 Der österreichische Gesetzgeber entschied sich – im Gegensatz zum deutschen Gesetzgeber – dafür, die Empfehlung nicht in Form eines Gesetzes umzusetzen, sondern sie in den österreichischen Corporate Governance Kodex zu integrieren. Dies führte zu einer umfänglichen Kodex-Revision und zur Einführung einiger materieller Regelungen zur Bestimmung der Höhe der Vorstandsvergütung. Im Folgenden sollen, neben einer kurzen Einführung zum Corporate Governance Kodex, die neuen Bestimmungen zur Vorstandsvergütung erläutert werden.

2

Der österreichische Corporate Governance Kodex

2.1

Überblick

Der österreichische Corporate Governance Kodex (ÖCGK) wurde am 01.10.2002 vom österreichischen Arbeitskreis für Corporate Governance der Öffentlichkeit vorgestellt. In seiner ursprünglichen Form enthielt der Kodex 79 Regeln, die teilweise zwingende Rechtsvor1 2

3

Wieser/Oberrauter, Vorstandsvergütung und Ausschüttungspolitik der ATX-Unternehmen 2008, Studie der Arbeiterkammer Wien (2009), S. 1. Empfehlung der Kommission vom 30.04.2009 zur Ergänzung der Empfehlungen 2004/913/EG und 2005/162/EG zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, 2009/385/EG im Folgenden: EU-Empfehlung zur Managervergütung. Grünbuch, Europäischer Corporate Governance-Rahmen, 05.04.2011, KOM (2011) 164 unter 1.4. Vgl. auch Hopt, Vergleichende Corporate Governance (2011) S. 490.

508

Michael Gruber und Anna Doblhofer-Bachleitner

schriften4 widergeben, oder Regeln darstellen, die eingehalten werden sollen, wobei eine begründete Abweichung jedoch möglich ist5, oder die einen Empfehlungscharakter aufweisen.6 Mittlerweile ist der Kodex mehrfach überarbeitet worden, die aktuelle Version trat am 01.01.2010 in Kraft. Österreich folgte damit als eines der letzten europäischen Länder dem Trend, einen Corporate Governance Kodex zu erstellen. Begründet wurde diese Initiative damit, dass von Investoren das Vorhandensein von Standards guter Corporate Governance erwartet wird – ein Fehlen also einen Nachteil für den Wirtschaftsstandort Österreich darstellt.7 Ziel des Kodex ist es, österreichischen börsennotierten Unternehmen einen Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, der einerseits die internationalen Standards für gute Unternehmensführung enthält und andererseits die bedeutsamen Regeln des österreichischen Aktienrechts darstellt. Der ÖCGK stellt laut seiner Präambel einen wichtigen Baustein für die weitere Entwicklung und Belebung des österreichischen Kapitalmarkts dar, weil durch ihn das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt – durch erhöhte Transparenz, durch eine Qualitätsverbesserung im Zusammenwirken zwischen Aufsichtsrat, Vorstand und Aktionären und durch die Ausrichtung auf langfristige Wertschöpfung – gefördert werden soll.8 In seinem Aufbau und den Inhalten orientiert sich der ÖCGK an supranationalen Regelungswerken, wie etwa den OECD-Grundsätzen der Corporate Governance (1999) sowie an den Empfehlungen der hochrangigen EU-Expertengruppe (2002).9 Der Kodex befasst sich zunächst mit den wesentlichen Regelungen betreffend Aktionäre und Hauptversammlung, einen weiteren zentralen Regelungspunkt bildet das Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat. Zahlreiche Regeln bestehen in Zusammenhang mit dem Vorstand, wobei alleine sieben Regeln sich mit der Vergütung des Vorstands befassen. Weitere zentrale Themenbereiche sind der Aufsichtsrat sowie Transparenz und Prüfung. Die aktuelle Kodexrevision10 diente hauptsächlich der Umsetzung der Empfehlung der europäischen Kommission zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften.11 Es hatten sich bereits vorangehende EU-Empfeh4

5

6 7 8 9

10 11

Sog. (L) Regel (Legal Requirement) beinhalten zwingende Rechtsvorschriften, können aber zum Ziel leichterer Verständlichkeit oder zur Anpassung an die Terminologie des Kodex anders formuliert sein, womit aber keine Änderung der Auslegung der Rechtsvorschrift beabsichtigt ist. Vgl. dazu Hausmanninger/Kletter/Burger, Corporate Governance Kodex (2003), S. 33, Rn. 77. Sog. (C) Regel (Comply or Explain): Abweichungen von diesen Regeln sind möglich, müssen aber gesondert begründet werden, dies soll die Berücksichtigung branchen- oder unternehmensspezifischer Bedürfnisse des Unternehmens ermöglichen. Vgl. dazu Hausmanninger/Kletter/Burger, Corporate Governance Kodex (2003), S. 33, Rn. 77. Sog. (R) Regel (Recommendation): Eine Nichteinhaltung ist hier weder offen zu legen noch zu begründen. Vgl. dazu Hausmanninger/Kletter/Burger, Corporate Governance Kodex (2003), S. 33, Rn. 77. Vgl. Geppert, Corporate Governance in Österreich (2002), S. 781; Schima, Ein Corporate Governance Kodex für Österreich (2002), S. 52 f. Vgl. Vorwort des Regierungsbeauftragten für den Kapitalmarkt, Richard Schenz, zum ÖCGK, www.corporate-governance.at. Bericht der hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa vom 04.11.2002, http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/modern/report_de.pdf. Die neue Version trat mit 01.01.2010 in Kraft. EU-Empfehlung zur Managervergütung.

Vorstandsvergütung im österreichischen Corporate Governance Kodex

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lungen12 mit der Vorstandsvergütung befasst, diese setzten aber vor allem bei der Transparenz der Vergütungsregelungen an, während die aktuelle Empfehlung zur Managervergütung materielle Regeln für die Vergütungspolitik börsennotierter Unternehmen aufstellt. Die Kommission sah sich durch die aktuelle Krise der Finanzmärkte und die in öffentliche Kritik geratenen hohen Managergehälter zu diesem Schritt veranlasst. Sie stellte dabei fest, dass die Vergütungsstrukturen zunehmend komplex geworden seien, sich zu stark an kurzfristigen Ergebnissen orientierten und in einigen Fällen zu unverhältnismäßig hohen Vergütungen geführt hätten, die durch die erbrachten Leistungen nicht zu rechtfertigen seien.13

3

Vorstandsvergütung

Ein zentrales Thema der öffentlichen Diskussion in Zusammenhang mit der Finanzkrise waren überhöhte Managergehälter, die bei Bekanntwerden großes Unverständnis und dadurch einen Vertrauensverlust auslösten. Es bleibt festzustellen, dass österreichische Managervergütungen sicherlich nicht Auslöser der internationalen Diskussion und der daraus folgenden Regulierungsvorschläge waren. Exzessive Boni, kurzfristige Gewinnmaximierung und falsche Anreizsysteme hat es vor allem in den USA und in einigen europäischen Ländern gegeben. Eine zeitgerechte Umsetzung der EU-Empfehlungen stand aber aufgrund der positiven Auswirkungen – vor allem der vertrauensstärkenden Impulse – nicht in Frage.14 Im Folgenden sollen nun die einzelnen auf der EU-Empfehlung zur Managervergütung beruhenden Regeln näher erläutert werden. Gemäß den Interpretationen zum ÖCGK gelten die neuen Vergütungsregeln (Regeln 27, 27a und 28) für Verträge, die nach dem 31.12.2009 neu abgeschlossen wurden. Als ein solcher Neuabschluss sind auch die Verlängerung oder die wesentliche Änderung von bestehenden Verträgen zu verstehen.15

3.1

Allgemeine Grundsätze (Regel 27)

Die C-Regel 27 legt allgemeine Grundsätze und Kriterien für die Bemessung der Vorstandsvergütung fest. Die Regelung stellt eine Ergänzung und Erweiterung zur gesetzlichen Bestimmung des § 78 Abs. 1 AktG dar. § 78 Abs. 1 AktG legt als Kriterien für die Bemessung der Vergütung das angemessene Verhältnis zu den Aufgaben des einzelnen Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft fest. Regel 27 nennt folgende Kriterien: • • • • •

Umfang des Aufgabenbereichs des Vorstandsmitglieds Verantwortung des Vorstandsmitglieds Persönliche Leistung des Vorstandsmitglieds Erreichung der Unternehmensziele Größe und wirtschaftliche Lage des Unternehmens

12

Vgl. Empfehlungen 2004/913/EG; 2005/162/EG. Vgl. Erwägungsgrund 2 der EU-Empfehlung zur Managervergütung. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 210. Vgl. Interpretationen des Österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance, www.corporate-governance.at.

13 14 15

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Michael Gruber und Anna Doblhofer-Bachleitner

Dabei stellen die persönliche Leistung des Vorstandsmitglieds und die Größe des Unternehmens neue Kriterien dar, die in der Fassung 2010 erstmals enthalten sind. Der Kriterienkatalog stellt unter anderem sicher, dass die Vergütung der langfristigen Unternehmensentwicklung dient und sich an der Leistung orientiert.16 Während der österreichische Gesetzgeber die Konkretisierung der Bemessungskriterien für die Vorstandsvergütung dem Corporate Governance Kodex überließ, ging der deutsche Gesetzgeber durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG)17 einen Schritt weiter. Dieses ergänzt § 87 Abs. 1 S. 1 dAktG in der Weise, dass neben den Aufgaben auch die Leistungen des Vorstandsmitglieds zu berücksichtigen sind und weiters auch die Gesamtbezüge, welche „die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen“ dürfen.18 Der Begriff der üblichen Vergütung wird in den Materialien so umschrieben, dass einerseits die Branchen-, Größen- und Landesüblichkeit – also die horizontale Vergleichbarkeit – und andererseits das Lohn- und Gehaltsgefüge im Unternehmen selbst (vertikale Vergleichbarkeit) bei der Bemessung der Vergütung einzubeziehen sind.19 Der Begriff der Üblichkeit im Zusammenhang mit der Vorstandsvergütung war dem AktG und dem ÖCGK bislang fremd. Wohl hat es aber in der Literatur Stimmen gegeben, die die Ermittlung einer angemessenen Vergütung mittels internen und externen Fremdvergleichs befürwortet haben.20 Der interne Fremdvergleich kann sich einerseits auf den Vergleich der Bezüge der Vorstandsmitglieder untereinander, also auf einen horizontalen Vergleich beziehen. Andererseits ist auch ein vertikaler Vergleich innerhalb eines Unternehmens denkbar, in dem die Vorstandsbezüge in ein Verhältnis zu jenen der restlichen Belegschaft gesetzt werden.21 Dieser Gedanke – die unterschiedlichen Ebenen der unternehmensinternen Vergütungspyramide in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen – liegt der deutschen Neuregelung zugrunde. Eine Maß- und Bezugslosigkeit der Vergütungen an der Spitze des Unternehmens soll so verhindert werden.22 Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Regelung keinerlei Angaben dazu enthält, um welchen Faktor das Gehalt eines Vorstandsmitglieds größer sein darf, als ein Gehalt auf mittlerer Führungsebene oder das eines Fachoder Fließbandarbeiters. Mangels konkreter Maßstäbe wird diese Regelung wohl kaum intendierte Veränderungen bewirken.23 Bei einem externen Fremdvergleich wird standardmäßig ein indirekter Vergleich durchgeführt, indem statistische Werte herangezogen werden. Das VorstAG fordert hier für den hori-

16 17 18 19 20 21

22 23

Wie das auch in Erwägungsgrund 6 der EU-Empfehlung zur Managervergütung gefordert wird. Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) vom 31. Juli 2009. Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 13; Bernhardt, Managergehälter: Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2009), S. 21. BT-Drucks 16/13433, S. 10. Vgl. dazu vor allem Gröhs in Schuster/Gröhs/Havranek, Executive Compensation (2008), S. 87 ff. Gerade in diesem Zusammenhang war ja starke Kritik laut geworden. So ergab eine Studie der Arbeiterkammer Wien, dass der durchschnittliche Vorstandsbezug bei ATX-Unternehmen im Jahr 2008 1,3 Mio. Euro betragen hat, und damit das 48-fache des Bruttobezuges eines einfachen Beschäftigten. Vgl. Wieser/Oberrauter, Vorstandsvergütung und Ausschüttungspolitik der ATX-Unternehmen 2008, Studie der Arbeiterkammer Wien (2009), S. 1. BT-Drucks 16/13433, S. 10; vgl. auch Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 14. Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 14.

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zontalen Vergleich, dass besonders die Landesüblichkeit der Vergütung beachtet wird.24 Ziel dieser Regelung ist es, das oft bemühte Argument der höheren angloamerikanischen Managergehälter hintan zu halten. Ein Überschreiten der (landes-)üblichen Vergütung, soll nur bei Vorliegen besonderer Gründe möglich sein.25 Eine der zentralen Forderungen der Regel 27 ÖCGK ist, dass die Vergütung aus fixen und variablen Bestandteilen zu bestehen hat. Dabei haben die variablen Vergütungsteile insbesondere an nachhaltige, langfristige und mehrjährige Leistungskriterien anzuknüpfen. Dies stellt die Umsetzung des Punktes 3.3. der EU-Empfehlung zur Managervergütung dar, der vorschreibt, dass der Großteil der variablen Vergütungskomponenten während einer bestimmten Mindestzeit nicht ausgezahlt werden soll.26 Der Begriff der mehrjährigen Leistungskriterien wird in den Interpretationen zum Österreichischen Corporate Governance Kodex27 näher konkretisiert. Danach umfassen mehrjährige Leistungskriterien einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren – ein angemessener Anteil der variablen Vergütung soll auf solchen mehrjährigen Leistungskriterien beruhen. Daneben sollen auch langfristige Anreize gesetzt werden, die in einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren umzusetzen sind.28 Es soll dabei auf das Erreichen des Ziels nach Ablauf dieses Zeitraums oder auf das mehrmalige Erreichen des Ziels während dieses Zeitraums abgestellt werden. Trotz dieser Forderung bleiben variable Vergütungen auf Basis von einjährigen Leistungskriterien oder beispielsweise einmalige Transaktionsboni für Akquisitionen weiterhin zulässig.29 Durch diese Regelung kommt es zu einer verstärkten Ausrichtung auf nachhaltige Unternehmensentwicklung. Die Ausrichtung der Bezüge auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ist dem österreichischen Aktiengesetz bislang fremd. § 70 AktG verpflichtet allerdings den Vorstand, seine Handlungen primär am Unternehmensinteresse zu orientieren, darunter wird die Erreichung des bestmöglichen Betriebsergebnisses unter Beachtung der langfristigen Unternehmensentwicklung verstanden.30 Insofern sind Vorstand und Aufsichtsrat an das langfristige Unternehmensinteresse gebunden, was sich auch auf die Bemessung der Vorstandsvergütung bezieht – insofern bestand diese Verpflichtung bereits bisher.31 Neben der Ausrichtung auf die Nachhaltigkeit findet auch eine Neuausrichtung auf nichtfinanzielle Kriterien statt, diese sind in die Bemessung der Vorstandsvergütung mit einzubeziehen. Darunter fallen etwa Kriterien wie Kundenzufriedenheit, Produktqualität, Reputation, Mitarbeiterzufriedenheit usw. Die EU-Empfehlung zur Managervergütung nennt in Punkt 3.2. auch die Einhaltung geltender Regeln und Verfahren (Compliance) als mögliches nicht-

24 25 26 27 28

29 30 31

BT-Drucks 16/13433, S. 10. Dazu ausführlich Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 14. Vgl. dazu auch Erwägungsgrund 6 der EU-Empfehlung zur Managervergütung. Vgl. Interpretationen des Österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance, www.corporate-governance.at. Hier orientieren sich die Interpretationen an Erwägungsgrund 6 zu den EU-Empfehlungen zur Managervergütung; vgl. auch Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 210. Vgl. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 210 m. w. N. Vgl. Haberer, Corporate Governance (2003), S. 254; Nowotny in Doralt/Nowotny/Kalss, Kommentar zum Aktiengesetz (2003), § 70 Rz. 11. Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 17.

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finanzielles Kriterium.32 Gemäß den Interpretationen zum ÖCGK können nicht-finanzielle Kriterien entweder in die jährliche variable Vergütung oder in die Vergütungsbestandteile mit mittel- oder langfristiger Anreizwirkung einbezogen werden.33 Für die variablen Vergütungskomponenten ist vorgesehen, dass bereits im Vorhinein messbare Leistungskriterien sowie betragliche oder als Prozentsätze der fixen Vergütungsteile bestimmte Höchstgrenzen festzulegen sind.34 Dabei dürfen die festgelegten Leistungskriterien nicht zum Eingehen unangemessener Risiken verleiten. Daneben ist auch vorzusehen, dass die Gesellschaft die variablen Vergütungskomponenten zurückfordern kann, wenn diese aufgrund von Daten ausgezahlt wurden, die sich als offenkundig falsch erweisen. Ein solcher Rückforderungsanspruch kann sich auch bereits aus dem Gesetz ergeben35, dennoch wird es sinnvoll sein, eine entsprechende Bestimmung in die Verträge über die Vorstandsvergütung aufzunehmen.

3.2

Abfindungszahlungen (Regel 27a)

In Regel 27a befasst sich der ÖCGK mit Ansprüchen, die anlässlich der Beendigung des Vorstandsmandats bestehen. Danach ist beim Abschluss von Vorstandsverträgen darauf zu achten36, dass die Abfindungszahlungen bei vorzeitiger Beendigung der Vorstandstätigkeit ohne wichtigen Grund nicht mehr als zwei Jahresgesamtvergütungen betragen und außerdem nicht mehr als die Restlaufzeit des bestehenden Vertrages abgelten. Damit wird eine zweifache Begrenzung der Abfindungshöhe eingeführt: Beträgt die Restlaufzeit des Vertrags beispielsweise ein Jahr, so darf nur eine Jahresvergütung ausbezahlt werden, beträgt die Restlaufzeit aber drei Jahre, so dürfen maximal zwei Vergütungen ausbezahlt werden.37 Mit dieser Regelung sollen die so genannten „goldenen Fallschirme“ wirksam verhindert werden.38 Daneben schreibt Regel 27a auch vor, dass bei vorzeitiger Beendigung des Vorstandsvertrages aus einem vom Vorstandsmitglied selbst zu vertretenden wichtigen Grund keine Abfindung zu bezahlen ist. Die Interpretationen führen dazu näher aus, dass als wichtiger Grund im Sinne dieser Regel die Entlassungsgründe des Angestelltengesetzes (§ 27 AngG) und der Abberufungsgrund der groben Pflichtverletzung gemäß § 75 Abs. 4 AktG zu verstehen sind.39 Die sonstigen Abberufungsgründe des AktG sind also nicht erfasst. In allen Fällen sind aber die Umstände des Ausscheidens des betreffenden Vorstandsmitglieds und die wirtschaftliche Lage des Unternehmens zu beachten. Diese Regelung kann dann Bedeutung

32 33 34 35 36 37 38 39

Vgl. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 210. Vgl. Interpretationen des Österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance, www.corporate-governance.at. Entspricht den Punkten 3.1. und 3.2. der EU-Empfehlung zur Managervergütung. Vgl. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 210. Es bedarf also einer vertraglichen Verankerung. Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 17. Vgl. Erwägungsgrund 7 der EU-Empfehlung zur Managervergütung. Vgl. Interpretationen des Österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance, www.corporate-governance.at.

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erlangen, wenn eine Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds im Raum steht, die aber nicht das Gewicht einer groben Pflichtverletzung im Sinne des § 75 Abs. 4 AktG hat.40

3.3

Kriterien für die aktienbezogene Vergütung (Regel 28)

Die neue Regel 28 gibt konkrete Regeln vor, die bei Einführung eines Stock Option-Programms oder eines Programms für die begünstigte Übertragung von Aktien einzuhalten sind. Stock Option-Programme wurden ursprünglich als mögliche Lösung des Principal-AgentKonflikts in der AG gesehen, da hier Vorstandsmitglieder selbst zu Aktionären werden und sich ihre Interessen denen der Aktionäre dadurch anglichen. Es stellte sich aber bald heraus, dass Vorstände im Verband mit den Aufsichtsräten den Aktionären oft undurchschaubare, für sie aber höchst lukrative Programme einredeten.41 Deshalb wird in den aktuellen Regulierungsbemühungen die Verhinderung der missbräuchlichen Gestaltung solcher Programme in den Mittelpunkt gestellt. Aktienoptionsprogramme haben an vorher festgelegte, messbare, langfristige und nachhaltige Kriterien geknüpft zu sein. Eine nachträgliche Änderung dieser Kriterien ist ausgeschlossen. Vorstandsmitglieder haben auf die Dauer eines solchen Programms, längstens aber bis zur Beendigung ihrer Vorstandstätigkeit einen angemessenen Eigenanteil an Aktien zu halten. Daneben ist für Aktienoptionsprogramme eine Wartefrist von mindestens drei Jahren vorzusehen. Für Aktienübertragungsprogramme ist eine Warte- oder Behaltefrist von insgesamt mindestens drei Jahren festzulegen. Mit Festlegung dieser Fristen wurde der EU-Empfehlung voll entsprochen.42

3.4

Erstreckung der Vergütungssysteme auf leitende Angestellte (Regel 28a)

Bei der Regel 28a handelt es sich um eine (R) Regel, die den Anwendungsbereich der Grundsätze für die Vergütung des Vorstands auf leitende Angestellte erstreckt. Dies war im ÖCGK von Beginn an vorgesehen, aufgrund der bedeutenden Ausweitung der Vergütungsgrundsätze durch die Kodexrevision wurde hierfür eine eigene Regel eingeführt.43

3.5

Transparenzregelungen (Regel 30 und 31)

Nicht so große Änderungen ergaben sich durch die EU-Empfehlung zur Managervergütung im Bereich der Transparenzregelungen. Bereits durch die Kodexrevision 2006 wurde der Vergütungsbericht in den ÖCGK eingeführt und durch die Revision 2009 wurde Regel 31 (Einzelveröffentlichung der Vorstandsgehälter) zu einer C-Regel aufgestuft.

40 41 42 43

Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 18. Haberer führt als Beispiel etwa den Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG an, der auf diese Weise 61 Mio. DM lukrierte. Vgl. Haberer, Corporate Governance (2003), S. 286. Vgl. Punkt 4.1. der EU-Empfehlung zur Managervergütung. Das deutsche VorstAG sieht dagegen sogar eine vierjährige Sperrfrist vor (§ 193 Abs. 2 Nr. 4 dAktG). Vgl. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 211.

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In der Revision 2010 wurden hauptsächlich die neu in Regel 27 und 28 enthaltenen Bestimmungen über die neuen Standards der variablen Vergütung (nachhaltige, langfristige und mehrjährige Leistungskriterien, Methoden zur Feststellung der Erfüllung der Leistungskriterien, Höchstgrenzen, Eigeninvestments und Fristen für die aktienbezogene Vergütung44) in Regel 30 und 31 eingefügt.

3.6

Einrichtung eines Vergütungsausschusses (Regel 43)

Bereits die EU-Empfehlung über die Aufgaben der Aufsichtsräte aus 200545 sah die Einrichtung eines Vergütungsausschusses vor. Diese Ausschüsse sind mit einer wichtigen Aufgabe bei der Konzeption der Vergütungspolitik einer Gesellschaft, der Vermeidung von Interessenskonflikten und der Überwachung der Vergütung sämtlicher Mitglieder der Unternehmensleitung betraut.46 Durch die Revision wurde das Gewicht dieser Ausschüsse noch verstärkt, da nun mindestens ein Mitglied über Kenntnisse und Erfahrungen im Bereich der Vergütungspolitik verfügen muss. Über solche Kenntnisse und Erfahrungen verfügt gemäß den Interpretationen zum ÖCGK eine Person, die in einer großen oder börsennotierten Gesellschaft für den Bereich Personal mehrere Jahre verantwortlich war.47 Eine weitere Neuregelung in diesem Zusammenhang dient der Vermeidung von Interessenkonflikten: Nimmt der Vergütungsausschuss einen Berater in Anspruch, so ist sicherzustellen, dass dieser nicht auch den Vorstand in Vergütungsfragen berät. Wird nur ein Vergütungsmodell durch einen von der Gesellschaft beauftragten Berater präsentiert, wird das wohl noch keine Inanspruchnahme des Beraters durch den Vergütungsausschuss darstellen.48 Beauftragt der Vergütungsausschuss aber selbst einen Berater, so hat er von diesem eine Erklärung einzuholen, dass er unabhängig ist und nicht gleichzeitig den Vorstand und die Gesellschaft in Vergütungsfragen berät.49 In Umsetzung von Punkt 6 der EU-Empfehlung zur Managervergütung wurde auch die Pflicht des Aufsichtsratsvorsitzenden, die Hauptversammlung einmal jährlich über die Grundsätze des Vergütungssystems zu informieren, in den ÖCGK aufgenommen. Die Aktionäre sollen dadurch dazu ermutigt werden, an den Hauptversammlungen teilzunehmen und bei Fragen der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen.

44 45 46 47 48 49

Vgl. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 211. Empfehlung 2005/162/EG. Vgl. Erwägungsgrund 11 der EU-Empfehlung zur Managervergütung. Vgl. Interpretationen des Österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance, www.corporate-governance.at. Vgl. Schenz/Eberhartinger, Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex (2010), S. 212. Vgl. Interpretationen des Österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance, www.corporate-governance.at.

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4

515

Zusammenfassung und Ausblick

Die Revision des ÖCGK 2010 brachte zahlreiche Änderungen mit sich, die sich vor allem im Bereich der Vorstandsvergütung niederschlugen. Hier sollte die EU-Empfehlung zur Managervergütung umgesetzt werden. Diese war in Folge der Krise auf den Finanzmärkten und der dadurch aufkommenden Kritik an überhöhten Managergehältern durch die Kommission erlassen worden. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Empfehlungen50 in diesem Bereich, trifft die nunmehrige Empfehlung hauptsächlich materielle Regelungen für die Bestimmung der Höhe der Vorstandsvergütung. Die Angemessenheitskriterien wurden wesentlich spezifiziert und vor allem die Nachhaltigkeit der Unternehmensführung wurde in den Mittelpunkt gestellt. Es soll ein strategisches Wachstum und langfristiges Wohl der Gesellschaft sichergestellt werden.51 Das Eingehen unangemessener Risiken – etwa zur Optimierung der variablen Vergütungsbestandteile – soll verhindert werden. Dennoch bleibt zu bedenken, dass Vorstandsverträge grundsätzlich der Privatautonomie unterliegen und daher die Angemessenheit der Vorstandsvergütung als besondere Verantwortung dem Aufsichtsrat bzw. dem Vergütungsausschuss der einzelnen Gesellschaft obliegt.52 Dabei sollte dem Aufsichtsrat für seine unternehmerische Entscheidung, bei der er ohnehin uneingeschränkt dem Unternehmensinteresse verpflichtet ist, ein ausreichender Freiraum verbleiben.53

Literatur Bernhardt, O.: Managergehälter: Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, Köln 2009. Bericht der hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa vom 04.11.2002; URL: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/modern/report_de.pdf [01.9.2012]. Doralt, P./Nowotny, Ch./Kalss, S.: Kommentar zum Aktiengesetz, Wien 2003. Geppert, S.: Corporate Governance in Österreich, in: Österreichische Juristen-Zeitung (2002), S. 11 ff. Haberer, Th.: Corporate Governance, Wien 2003. Haberer, Th./Kraus S.-F.: Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, in: Zeitschrift für Gesellschafts- und Steuerrecht (2010), S. 10 ff. Hausmanninger, C./Kletter, M./Burger, E.: Corporate Governance Kodex, Wien 2003. Hopt, K.: Vergleichende Corporate Governance, in: Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht 175 (2011), S. 444 ff. Schenz, R./Eberhartinger, M.: Die Regelung der Managergehälter im Österreichischen Corporate Governance Kodex, in: Österreichisches Bankarchiv (2010), S. 209 ff.

50 51 52

53

2004/913/EG; 2005/162/EG. Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 16. Dies muss nicht nur positiv gesehen werden, da es eine zunehmende Bürokratisierung der Aufsichtsratsarbeit sowie eventuell weitere Haftungsprobleme für den Aufsichtsrat bedeutet. Vgl. Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 19 m. w. N. Vgl. auch Haberer/Kraus, Gedanken zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (2010), S. 19.

516

Michael Gruber und Anna Doblhofer-Bachleitner

Schima, G.: Ein Corporate Governance Kodex für Österreich, in: Zeitschrift für Gesellschafts- und Steuerrecht (2002), S. 52 ff. Schuster, G./Gröhs, B./Havranek, Ch.: Executive Compensation, Wien 2008. Wieser, Ch./Oberrauter, M.: Vorstandsvergütung und Ausschüttungspolitik der ATX Unternehmen 2008, Studie der Arbeiterkammer Wien (2009). www.corporate-governance.at (enthält alle Fassungen des Kodex sowie weitere Dokumente des österreichischen Arbeitskreises für Corporate Governance) [01.9.2012].

Stichwortverzeichnis A Abfindungszahlung 512 Abweichungsanalyse 270, 275, 285 Activity Based Kostenrechnung 276 Ad-hoc-Crash-Reaktion 229 Agilität 163 ff. Allgemeines Preußisches Landes recht 1794 447 Ambidextrie 416, 420ff. – Exploitation 420 ff. – Exploration 422 ff. Amtsgeheimnis 407 Angebot-Nachfrage-Diagramm 485 Angebotslogik 218, 221 − strategische 274 Animale civilis 443 Anonymität 406, 411 Anpassungsprozess 281 Antizipation 442 Arbeiterkammer 317 f. Arbeitnehmerschutz 460 f., 469 f. Arbeitsablauf 276 Arbeitsbeziehung 321 Arbeitsklima-Index 317 Arbeitskraftunternehmer 347 f., 354 ff. Arbeitslosigkeit 365 Arbeitsmotiv 364 Arbeitsplatz 29, 353 Arbeitsrecht 27, 354, 460 ff. Arbeitsruhegesetz 461 f. Arbeitsvertrag, psychologischer 321 f., 329, 358 Arbeitszeit 293, 349 f., 355 ff., 454, 460 ff. Arbeitszeitgesetz 461 ff. Arbeitszufriedenheit 315 ff., 352, 366 – resignative 317 Atypisierung 347, 353 ff. Aufgabe, öffentliche 410 Auflagen, gesetzliche 17 Ausrottungsprogramm 452

Automatisierung 348, 356 Autonomie 46, 48, 447 Average marginal effect (AME) 396

B Baccalaureat 47 Bachelor 45, 50 ff. Balanced Scorecard 52, 95, 265 ff. Bankenkommunikation 232 f. Bankiers-Musikhurerei 450 Bankverschuldungsquote 252 BBG 2011 148 Beamte 34 ff. Begründung 443 Beherbergung 252 f. Benchmarking 52 Beobachter, unparteiischer 341 Beschäftigungssicherheit 322, 355 Bestechung 406 Best-Practice-Beispiel 113, 115 ff. Betriebsgeheimnis 407, 411 Betriebsprozess 274 f. Betrugsbekämpfungspaket 127 Beziehungsmanagement 232 Bilanzvorlage 257 Bild 473, 480 ff. Bildung 45 ff., 55 ff., 318 Bildungsanstalt 45 Bildungsfunktion 179 f. Binnenmarkt 4 ff. Biopolitik 453 Biozid-Richtlinie 17, 25f. Blue Ocean Strategy 161 Bologna Prozess 45, 50 Bonitätswert 250 ff. Bottom-Up-Planung 282 Branche 161, 195 ff., 271 Branchenvergleich 252 Bretton-Woods-Ordnung 4 ff.

518 Bubble Charts 278 Buchhalter 36 Bürokratie 23, 25 Business Format Franchising 195 f. Business Process Reengineering 285

C Capability-Based-View 416 Cap-Option 257 Change Process 125 – Compliance Program 125 – Effective Ethics 125 Citoyen 446, 449 Coaching 309 ff. Codes of Conduct 93, 331, 406 Commitment 116 Common-Threads-Recycling-Program 118 Competitive Advantage 159 Competitive Strategy 159 Compliance 125 ff. – Kultur 126 – Management 125, 128 ff. – Management Kompetenz 134 – Management Matrix 135 – Risikopotenzial 133 – System 125 – Wettbewerbsvorteil 130 Contract social 299, 446 Controlling 131, 137 ff. – finanzielles 267 – operatives 139 Corporate Citicenship 103 ff. Corporate Governance 91 ff., 126 – Kodex 507 – Shareholder-Ansatz 91 – Stakeholder-Ansatz 91 Corporate Identity 273 Corporate Misconduct 127 Corporate Reputation Management 405 f. Corporate Social Responsibility 92 f., 103 ff. Cradle-to-Cradle®“-Konzept (C2C) 115 f., 119 Cradle-to-Grave“-Konzept (C2G) 115 Critical-Incident-Technique 187 Cross-Selling 223

Stichwortverzeichnis D Dasein – Kampf 452 – vorsorge 33 Datennetzwerk 106 Deckungsbeitrag 276 f. Dekonstruktion 455 Delphi-Studie 385 Demotivation 298 Denkungsart, erweiterte 341 Diensthandy 459 f., 466 Dienstnehmerbeiträge vorenthalten 497 Direktion 33, 40 Discounted-Cashflow-Verfahren (DCF) 90 Diskriminanzanalyse 253 ff. Diskurs – des Hasses 455 – herrschaftsfrei 450 Dissonanzvermeidungs-Hypothese 386 Double-Loop-Lernen 286 ff. Dynamik 102, 107 Dynamic Capabilities (dynamische Fähigkeiten) 415 ff.

E Effizienz 9, 94, 104, 275, 431 ff. Emotionale Intelligenz 320 Empirische Studie 196, 200 ff. Employability 50 f. Entscheidungsfreiheit 182, 432 Entwicklungstendenzen 177 Erfolgsfaktoren 76 – Entwicklung 84 – kritische 233 – strategische 76 Erreichbarkeit 459 f., 467 Ertragslogik 216, 219 f., 223 Ertragswachstum 271 Ethik 431 – Führungsethik 329 ff. – Kodex 93 – ökologische 118, 120 – politische 29 – soziale 446 – Wirtschaftsethik 431 Expansion 20

Stichwortverzeichnis Exportunternehmen 373 EU – Beitritt Österreichs 22 – Richtlinien 28 Eurokrise 3 European Monetary Fund (EMF) 13 Europäische Metropolregion München (EMM) 102 Europäischer Stabilisierungsmechanismus (ESM) 12 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 4 Europäisches Währungssystem (EWS) 5 Europäische Währungsunion 5 Euro-Raum 14 Euthanasie 45

519 Fraternität 447 Fraud Tree 127 Frühaufklärung, strategische 228 Frühaufklärungssprozess 230 Frühaufklärungssystem 230 Frühindikator 273, 279 Führungsbilanz 305 Führungsethik 329 ff. Führungskompetenz 296, 302, 312 Führungspassage 307 Führungspersönlichkeit 318 f. Führungsqualität 318 f., 296 Führungsstil 319, 378, 380 Funktionsgrafik 481 Fürstenspiegel 446 Fusion 385

F Fahrlässigkeit 460, 466 Faktoren, situative 176 Fallstudie 176 Familienbezug 253 Familienunternehmen 17 ff. Feedback 285, 303 f., 310 f. Finanzierung, fristenkongruent 255 Finanzierungsstruktur 232 Finanzierungsverhalten 250 – von Eigentümern 252 – von Kreditinstituten 252 – von Lieferanten 252 Finanzkrise, internationale 7 Finanzmarkt-Akteure 3, 8 Finanzordnung 9 Finanzpolitik 12 Finanzsektor 7, 9 Finanzsystem 91 Finanzverbund 41 Firmenhandy 459 Fixzinsperiode 257 Flexibilisierung 347, 353 ff. Fließband 356, 368 Fluktationsquote 276 Forderungsmanagement 257 Fortschritt, anti-historischer 450 Franchisegeber 195 ff. Franchisenehmer 195 ff. Franchising 195 ff. Französische Revolution 449

G GABEK 101 f., 106 ff. Gastronomie 252 Gefangenendilemma 436 Geheimnisverrat 407, 409 Geldordnung 9 Geldpolitik 7, 435 Gelehrtenschule 45 Gegenstromverfahren 282 Gemeinwohl 29, 446 Genossenschaftskasse 37 Gentechnik 455 Geplante Crash-Reaktion 229 Geschäftseinheitsstrategie 271 Geschäftsgeheimnis 407, 411 Geschäftsmodellinnovation 213 ff. Gestaltungsprinzipien 180 – Subjekt- und Lebensweltbezug 182 – Gemeinschaftserleben 182 – Selbstbestimmung und -organisation 183 Gesundheitsschädigung 459 f., 465 ff. Gewährträger 32 Gewalt 442, 445 Gewaltmonopol 441 Gläubigerbegünstigung 497 f. Gleichheit 432 Globalisierung 437 f. Goodwill 247 Grafik 480 f. – kartographische 488

520 Gratifikation – materielle 322 f. Green Washing 119, 122 Griechenlandkrise 11 Gründungsphase 31

H Haftungsvermeidung 126 Handlungsanregung 113 Handlungsrationalität 339 f. Hard Sciences 454 Harmonisierung 26 Hinweissystem 406, 411 Homo bestialis 443 Human Relations 358 Humanities 454

I Image 273 Indiskretion 411 Individualismus 375 Industriebetrieb 20 Informant 408 Informationsdeckungsziffer 277 Informationsfreiheit 408 Informationsgrafik 473 – geschichtliche Entwicklung 483 ff. – qualitative 490 f. – quantitative 491 Informationspolitik 232 Informationssystem 278 Informationszeitalter 272 Ingolstadt 102 Innovation 108, 349 f., 366 Innovationsdruck 102, 109 Innovationsmanagement 424 Innovationsprozess 274 Insolvenz 228 Insolvenz-Entgelt-Fonds 504 Insolvenzprognosemodelle 549 Insolvenzquote 503 InsolvenzrechtsänderungsG 1982 499 Insolvenzverfahren 498 f. Insolvenzverwalter 498 Integrationsfunktion 179, 181 Interaktivität 278 Interdependenzanalyse 166

Stichwortverzeichnis Interessensvertretung 28 Interimsmanagement 233 Interkulturelle Faktoren 373 Internet 244 Interpretationsmonopol 445 Intuition 170 Investitionsplanung 145 Investitionsrechnung 150 Investitionsstrategie 271 Investitionstheorie 284 Isonomie 447 Iso-ROI-Kurve 218 Isotype 486

J Job Enlargement 351 ff. Job Enrichment 351 ff. Joint Venture 373 Jugend 452 Jugend- und Nachwuchsbereich 175 – Entwicklungstendenzen 177 – Spannungsfelder 177 Jurisprudenz 443

K Kanzleivorsteher 36 Kanzlist 36 Kapital, intellektuelles 276 Kapitalbindung (Warenlager) 257 Kapitalverkehr 5 Karriere 295 ff. Kassenrevision 34 Kausalnetz 108 Kennzahlenanalyse 252 Kennzahlensystem 277 f. Kernkompetenzen 273, 285, 415 Klimawandel 113 ff. Klugheit 337 KMU 75 f., 102 Kodex – Corporate Governance – ethischer 93 Kommunikation 354, 362 Kommunikationsklemme, strukturelle 232 Kommunikationskultur 278, 411 Kommunikationspolitik 232 Kommunikationsprogramm 282

Stichwortverzeichnis Kompetenz 293 ff., 302 ff. – soziale 319 Kompetenzpaket, strafrechtliches 126 Komplexität, Reduktion 230 Konjunktur – Abschwung 7 – Aufschwung 7 Konzept 175 – der schwachen Signale 228 Konzeptentwicklung 175 ff. Konzeptionsdesigns 184 – formal-deduktives 185 f. – formal-induktives 186 – pragmatisch-induktives 187 Konzeptionselemente – materielle (inhaltliche) 176 – formale 176 Konzeptionsprozess 184 f. – Partizipation 184 – Reflexion 184 – Zielformulierung und -operationalisierung 184 Kooperation 356, 363 Kopfsponsoren 245 Körperverletzung 459 f., 465, 469 – fahrlässige 460, 465 Korruption 406 Kostensenkung 271 Kreativität 349 ff. Kreditwesengesetz 43 Kriegsfinanzierung 39 Krisensignale 229 Kommunikationsaspekt 477 Komplexität 164 Komplexitätsreduktion 278 Konflikt 442 Konkurrenzanalyse 274 Konkurrenzgleichgewicht, atomistisches 434 Konstruktionsgrafik 481 f., 490 f. Kontrollsystem 278, 451 Korrelationsanalyse 287 Kulturbegriff 443 Kulturdimensionen 375 – Individualismus 375 – Langzeitorientierung 375 – Machtdistanz 375 – Maskulinität 375 – Unsicherheitsvermeidung 375

521 Kulturentwicklung 442 Kundenakquisition 222, 272 f. Kundenanteil 274 Kundendienst 274 Kundenerhaltung 272 Kundenloyalität 279 Kundenperspektive 272 Kundenrentabilität 272 f. Kundensegment 272 Kundenservice 276 Kundentreue 272 f. Kundenverhalten 85 Kundenwunsch 274 Kundenzufriedenheit 78, 272 f., 279, 284 Kunst 479 ff. Kunstaspekt 475, 479 ff. Kuratorium 33 f.

L Lack, wasserverdünnbarer 22 Länderprofil 374 Landesfürstlicher Kommissär 37 Leadership 170, 198, 308 Leaking 405, 411 – Leaks 406 Lebenszyklus – Einführungsphase 270 – Erntephase 270 – Reifephase 270 – Wachstumsphase 270 Lebenszyklusmodell 270 Legislative 28 Legitimierung 330 ff. Legitimitätstheorie 331 Leistungsmessung 266 Leistungstreiber 273, 278, 283 ff. Lern- und Entwicklungsperspektive 275 Lerneffekt 287 Lernmilieu 309 Lernprozess 286 Lernsystem 278 Lieferantenkredit 257 Linkshegelianer 450 Liquiditätsengpass 226 Logit-Modell 396 Logos 442 Lohn 347 ff.

522 Loyalität 297, 299

M Macht 326, 362 ff., 446 – Belohnung 326 – Bestrafung 326 – Entpersonalisierung 327 – Experten- und Informationsmacht 327 – Identifikation 327 – institutionalisierte 327 – Legitimation 326 – potentielle 326 – relationale 326 Magisches Viereck 238 Management, sozial verantwortliches 101 Management by Objectives 282, 295, 322 Managementinformationssystem 268 Managementprozess 198, 284 Managementsystem 280, 288 – strategisches 267 Managementtool 268 Manager, reifer 319 f. Managergehalt 509 ff. Managervergütung 513 f. Marginal effect at the mean 396 Market Based View 272 Marketing- und Vertriebslogik 219 Markt, strategisch-relevanter (SRM) 162 Marktanteil 162, 273 ff. Marktbearbeitung 376 Marktsegmentierung 273 Marktvolumen 274 Marshallian Cross 485 Masseforderung 499, 504 Massenmedien 239, 406, 409 Maßstab 442 Mathématique sociale 448 Medien 237 ff., 408 f. Mediensport 242 Mehrwert 349 f., 359 Meinungsfreiheit 408 f. Mensch – Berechenbarkeit 444 – Perfektion 445 – Verbesserung 448 Menschenrechtskonvention 408 Mentoring 309 f.

Stichwortverzeichnis Mission 272 Mitarbeiter 276 Mitarbeiterproduktivität 276 Mitarbeiterqualifikation 279 Mitarbeiterzufriedenheit 105, 109, 276 f. Mitgesetzgeber 449 Mobilität 298 Mobilitätswirtschaft 102, 106 Moderne, Gründungsmythos 453 Monopol 435, 441 Motivation 305 f. Mustersatzung 35

N Nachhaltigkeit 78, 125, 315 f., 323 Naturwissenschaften 444 Nespresso 220 ff. Netzplantechnik 278 Neue Mittelschule 65 ff. New Public Management 52 Non-Compliance 126 Nonprofit-Organisation 175 Nutzenkalkül 340

O Offenheit 232 Ökologischer Effekt 117 Ökologisches Bewusstsein 116 Ökologisches Gewissen 120 Ökonomisierung 53, 177 „1%-for-the-Planet-Organisation“ 118 Operationalisierbarkeit 284 Organisationshandbuch 275 Orientierungsfunktion 179, 181 Orientierungsgröße 180

P Paradigmawechsel 272 Peer-Review 287 Performanceänderung 392 Performance-Measurement-Ansatz 266 Performance-Measurement-System 274 Personalentwicklung 282, 304, 322, 352, 355 Personalmanagement 315, 318 ff., 348 ff. Personalpolitik 318, 400 Personalsubvention 62 Perspektive, finanzwirtschaftliche 269

Stichwortverzeichnis Pfadabhängigkeit 418 Pflichtenkollision 498 Phänomenologie 473 ff. Piktogramm 476, 478, 486 Planung 81 – operative 137 – strategische 268 Poisson-Regression-Modell 395 Polen 376 Polis 442 Popularphilosophie 447 Porters Wettbewerbsanalyse 160 Positionierung 217 Precycling 119 Prekariat 360 Privatschule – Geschichte 55 – konfessionelle 55 – Legaldefinition 57 Privatschule, Rahmenbedingungen – bildungspolitische 66 – demographische 64 – wirtschaftliche 67 Privatschulwesen – Finanzierung 61 – konfessionelles 58 – Subventionierung 61 – Zukunft 68 Problemlösung 256 Produktentwicklungsprozesse 420, 426 Produktivität 275 f. Produktivitätssteigerung 276 Produktivitätsverbesserung 271 Prometheusprojekt 454 Prozessperspektive 274 Prozess-Wertekette 274 Public Watchdog 410 Publikum 238, 243

Q QML Verfahren 395 Qualifikation 267 Qualität 276 Qualitätsmanagement 274 Qualitätsservice 273

523 R Ranking 52 Rassenhygiene 451 Ratingbestimmungen 232 Rationalisierung 348, 350, 353 ff. Rationalität – funktionale 445 – normative 446 REACH 24 Reaktion 229 – interne Dynamik 229 Reaktionsfähigkeit 276 Realsektor 7 Rechtfertigung – durch Einwilligung 469 Rechtsdiskurs Rechtsirrtum 503 Rechtsregeln 444 Regulativ 34 Rentabilität 279 Reportingsystem 270 Republik 447 Republikanismus 447 Reputation 273 Reputationsschäden 125 Ressource, unerschöpfliche 118 Ressource Based View, ressourcenorientierter Ansatz 416, 272 Restrukturierung 231 Restschulen 70 Retailgeschäft 31 Revision 38 Revolution 447 Rezeptionsverhalten 246 Risiko 26 Risikomanagement 125 Robustheit 164 Rollenklärung 300 f. Rollenklarheit 301 Roter Ozean 163 Rotes Kreuz 176 Rückschritt 450 Rufbereitschaft 459 ff.

524 S Sachsubvention 62 Sanierungskonzept 226 Sanierungsmanagement 231 Schematismus 482 Schengener Abkommen 23 Schlüsselarbeitskräfte 276 Schlüsselsituation 187 Schuld-Hypothese 386 Schulgeld 62 Schulverein St. Ursula Österreich 63 6-Stufen-Methode (Komplexitätsanalyse) 166 Selbstbindungsmechanismus 126 Selbstfinanzierung – offene 256 Sekretär 36 Semiotischer Aspekt 475 f. Shared Value 95 Shared-Value-Konzept 90, 221 Shareholder-Value 103 Sicherheit 25 – Sicherheitsdatenblatt 23 Silicon Valley 380 Situationist 453 Skirennsport 244 Soft Law 126 Soft Skills 320 Sorgfaltswidrigkeit 460 f., 466 Souverän 445 SozBetrG 2004 497 f., 502 Sozialstaat 437 Sozialstaatspostulat 448 Sozialversicherung – Anmeldung 505 – Beiträge 497, 505 Spannungsfelder 177 Sparkassengesetz 43 Sparkassenleiter 42 Spätindikator 279 Sponsoring 237 f. Sport 237 Sportmarkt 384 Sportsponsoring 237 Sprachaspekt 478 Staatsaufsicht 34, 37 Staatsdienerschmiede 49 Staatskommissär 38

Stichwortverzeichnis Staatsschuldenkrise 3 Stabilisierung 85 Stabilitäts- und Wachstumspaket (SWP) 12 Stakeholder 101, 107 Stammkunden 276 Ständestaat 40 Standortbezug 104 Stärken-Schwächen-Analyse 75, 77 Statistik 479 Steuerarten 142 Steuerbegünstigungen 143 Steuer-Controlling 137 Steuerung 75 Steuerungsmedien 305 f. Steuerungstool 267 Stille Reserven 253 Strategieänderung 388 Strategieausführung 278 Strategiediskussion 268 Strategieprozesse 85 Structure follows Strategy 169 Strukturationstheorie 295 Sündenbockhypothese 386 Symbolhypothese 386 Sympathie 341s Systeme, marktwirtschaftlich orientierte 433

T Tagesgeschäft 81 Talent Manger 294 ff. Talententwickler 295 ff. Talentpolitik 295, 297 Team 349 f., 354, 356, 365 Technikaspekt 475, 481 f. Technische Zeichnung 475, 481 f., 490 f. Technologie- und Innovationsleader 380 Teilhabe, existenzielle 453 Tobin-Steuer 11 Top-Down-Planung 282 Topmanager 383 Total Quality Service 275 Tragödie 441 Transparenz 232 Transportkosten 256 Treuepflicht 406 Tugenddiskurs 338 Turnaround 231

Stichwortverzeichnis U Überregulierung 29 Überzeugungsebenen-Modell 120 Umrissrekonstruktion 480 Umsatzsteigerung 276 Umweltausbeutung 117 Umweltpolitik 436 Umweltprobleme 133 f. Umweltschutz 133 ff., 122 – Gruppen 118 – Organisation 118 Umweltverschmutzung 114 ff. UN Global Compact 93 Universalbank 31 Universitäts-Rechtsgeschichte 45 Universitätsreform 48 Unsicherheit 228 Unternehmen – Lebensfähigkeit 163 – wissensintensives 102 Unternehmen Universität 45 Unternehmensentwicklung 86 Unternehmenserfolg 102, 383, 416 Unternehmensethik 103 Unternehmensführung 28, 31 ff. – strategische 75, 125, 195 f., 205, 208 – strategische, Innsbrucker Modell 198, 210 – strategische, Operationalisierungsgrad 202 ff. – strategische, Relevanz 205 ff. – werteorientierte 102 – wertorientierte 90 Unternehmensintensität 105 Unternehmenskommunikation 411 Unternehmenskrise 225 – Erfolgskrise 227 – Insolvenz 227 – Liquiditätskrise 227 – Produkt- und Absatzkrise 227 – Stakeholderkrise 226 – Strategiekrise 227 Unternehmenskultur 321 Unternehmensübernahme 385 Unternehmensstrategie 277 ff. Unternehmensverantwortung, regionale 104 ff. Unternehmenswert 104 Unternehmensziel 322

525 Ursache-Wirkungsbeziehung 269, 272, 278 ff. Urteilskraft 341 USA 378 Utopie 450

V Value Based Management 102 Value Capture 214 ff. Value Creation 214 ff. Veränderung diskontinuierliche 225 Verantwortung 102 ff., 327 – Aufgaben- und Rollenverantwortung 328 – Handlungsergebnisverantwortung 328 – Unvollkommene Information 329 – Verantwortungsbereich 332 – Verantwortungsethik 337 – Verantwortungslücke 328 Verantwortungsverlagerung 332 Vereinigung von Ordensschulen Österreichs 63 Vereinssparkasse 32 ff. Vergütungsausschuss 514 Verhaltenskodex 325 ff. Verhaltensökonomie 343 Verhaltensrichtlinien 93 Vernunft, utopische 444 Verordnung 21 – Fertigpackungsverordnung 24 Verschwiegenheitspflicht 407 Vertrag von Maastricht 6 Vertrauen 108, 299, 307 Verwaltungsausschuss 40 Vision 103, 268, 272 f. Vorbild 302, 307 Vorschrift 21 Vorstand (Direktion) 40 Vorstandsvergütung 508 ff. – Bemessungskriterien 510 Vorteilsmanagement 130

W Wachstums- und Lernperspektive 277 Wachstumsziele 275 Wagnerianer 450 Wahl, rationale 340 Währungsordnung 5 Währungsraum, optimal 4 ff.

526 Web-2.0-Welt 171 Weißbuch der EU 24 Weiterbildungsprogramm 282 Werbeeffekte 241 Werte 91, 101 ff. Wertediskussion 103 Werteorientierung 89, 91 Werteset 102, 107 Wertestruktur 102 Wertorientierung 89 Wertschätzung 295, 298, 306 Wertschöpfung 319 Wertschöpfungslogik 218 Wertsteigerung 103 Wertvorstellungen 91, 299, 302 Wettbewerb 25 Wettbewerbsfähigkeit 257 Wettbewerbssystem 433 Wettbewerbsumfeld 271 Wettbewerbsverzerrungen 25 ff., 438 Wettbewerbsvorteil 132 Whistleblowing 332 f., 405 ff. WikiLeaks 407, 409 Win-Win-Situation 117 Wirtschaft 238 Wirtschaftlichkeitsprinzip 269 Wirtschaftsintegration – europäische 3 – internationale 3

Stichwortverzeichnis Wirtschaftspolitik 28 Wirtschaftsunion 12 Wirtschaftsraum 106 Wirtschaftswissenschaft 476 ff. Wissen – explizites 422 f. – implizites 422 f. Wissensmanagement 422 Wissensvorsprung 22 Working-Capital-Management 227

Z Zahlungsunfähigkeit 498 – Dienstgeber 503 Zahlungsverbot 497 Zeichenaspekt 476 Ziele, finanzielle 269 Zielerreichung 278 Zielgruppe 274 Zielsegment 274 Zielvereinbarung 283, 322 f. Zielvorgaben 283 Zinsniveau 257 Zinsproblematik 254 Zivilcourage 447 Zivilisationsprozess 442 Zufriedenheit 352, 366 Zukunftsorientierung 78