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German Pages [205] Year 2022
Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur
Band 13
Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz
Nina Nowara-Matusik (Hg.)
Unter dem Signum der Grenze Literarische Reflexe einer (aktuellen) Denkfigur
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice mitfinanziert. Gutachterin: Joanna Godlewicz-Adamiec © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Monika Blidy: Zukunftspläne Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1496-0
Inhalt
Nina Nowara-Matusik Unter dem Signum der Grenze – einleitende Bemerkungen
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Übergreifende Approximationen an das literarische und sprachliche Phänomen der Grenze Ralf Schnell (Siegen/Berlin) »In Fesseln – frei« – Grenzerfahrungen literarischer Produktivität
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Paweł Zimniak (Zielona Góra) Grenzen und Entgrenzungen. Strukturalistisch-konstruktivistische Gedankengänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(Selbst)regulierende, fremd- und ideologiebestimmte Grenzpraktiken in der Gegenwartsliteratur Clemens Fuhrbach (Köln) Besprechungen mit dem Selbst – Das ›Ich‹ als dialogischer Grenzraum in der Erzählung Was bleibt von Christa Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karsten Dahlmanns (Katowice) Selbstbezüglichkeit, Selbstbeschränkung und Fremdausgrenzung in Monika Marons Roman Artur Lanz (2020) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Arletta Szmorhun (Zielona Góra) Grenzbestimmte Familienexistenzen in Fünf Kopeken von Sarah Stricker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Innerhalb und außerhalb (selbstbestimmter) Raum-Zeit-Grenzen: exzeptionelle Zustände in der aktuellen Literaturproduktion Katarzyna Grzywka-Kolago (Warszawa) Zum märchentypischen Prinzip der Isolation im Roman Das Kind, das nicht fragte von Hanns-Josef Ortheil . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Monika Blidy (Katowice) Einsamkeit, die vernichtet. Zu Verwandlungen eines Weltflüchtigen in Kevin Kuhns Roman Hikikomori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Zbigniew Feliszewski (Katowice) Roland Schimmelpfennigs poetische Annäherungen an das Reale . . . . . 117
Literarische Grenzdiskurse in (trans-)nationaler und interkultureller Perspektive Anna Rutka (Lublin) Literatur – Gedächtnis – nationale Abgrenzungen: Erinnerungshandlungen an der Grenze zwischen Ost und West in der Literatur der Enkel*innengeneration im Roman Anna Baars Die Farbe des Granatapfels (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Małgorzata Dubrowska (Lublin) Zwischen Eingrenzung und Transnationalität. Dmitrij Kapitelmans Eine Formalie in Kiew und Lena Goreliks Wer wir sind . . . . . . . . . . 153
Poetische Verhandlungen geschlechtsbedingter, ideologischer und territorialer Grenzziehungen Nina Nowara-Matusik (Katowice) »ein Bote von dort […], der mich wieder lebhaft in die alten Fesseln zieht.« Zur Frage der Begrenzungen im Roman Amanda und Eduard (1803) von Sophie Mereau-Brentano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Hannelore Scholz-Lübbering (Berlin) Mascha Kaléko: Die Dichterin der Großstadt Berlin und ihre Jahre im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Marek Krisch (Katowice) Die Angst vor einer neuen Grenze in Hugo Hartungs Gewiegt von Regen und Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Nina Nowara-Matusik
Unter dem Signum der Grenze – einleitende Bemerkungen
Wittgensteins bekanntes Diktum, die Grenzen meiner Sprache seien die Grenzen meiner Welt, scheint derzeit besondere Brisanz zu gewinnen: Unsere durch die Covid-Pandemie grundlegend veränderte Welt kann ja bereits durch einen bloßen Sprechakt gefährdet werden und gar aus den Fugen geraten. Der obligatorische Mundschutz, der heutzutage kaum fortzudenken ist, erwächst daher beinahe zu einer paradoxen Sprach- und Sein-Chiffre: Er schützt, indem er einen unbegrenzten Redefluss unmöglich macht. Die physische wie psychische Dimension der Eingrenzung, das soziale, wie überhaupt das zwischenmenschliche Auf-Distanz-Gehen, gehören bereits zu dem pandemischen Alltag und sind ein festes Element einer eigenwilligen Pandemie-Sprache – und das gerade in einer Welt, die sich ja bereits globalisiert und grenzenlos gebärdete. Die wechselseitige Bedingtheit der beiden Denkfiguren – der Grenze und der Zeit – ist folglich unverkennbar und auffallend gegenwartsnah: Im Zeichen des Zeitgeistes erfährt die Grenzproblematik eine Wiederbelebung; manifest, erfahrbar und sinnfällig werden (wieder einmal) ästhetische wie sprachliche Grenzziehungspraktiken, soziale Distinktionen und Ausschlussmechanismen, die eine irritierende Wirkung entfalten und eine permanente Disparatheit der Gegenwart umso deutlicher vor Augen führen. Eine grenzorientierte wissenschaftliche Reflexion ist aber selbstredend nicht bloß auf das Zeitgeschehen einzugrenzen. Der Grenzbegriff – ob topographisch, politisch, ideologisch, historisch oder ontologisch aufgefasst – impliziert und provoziert ja immerdar neue Semantisierungs- und Kontextualisierungsmöglichkeiten, transgressive Gedankengänge, die sich auch jenseits seiner zeitaktueller, ästhetischer sowie diskursiver Konkretisierungen erproben und erforschen lassen. Dabei ist allerdings auch die doppelte Ausrichtung des Modus Operandi einer solchen gedanklichen Praxis zu beachten: »Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen.«1 Und es ließe sich demnach hinzufügen:
1 Gätje, Hermann/Singh, Sikander: Vorwort. In: Gätje, Hermann/Singh, Sikander (Hg.): Grenze
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Nicht nur, dass diese produziert, reproduziert oder gar verfestigt werden, sondern auch, dass Grenzen Reibungsflächen kenntlich machen, die dem Gestus einer Grenzziehung oder Grenzüberschreitung innewohnen. In diesem herausfordernden und erkenntnisfördernden Potenzial liegt wohl auch der Reiz der Grenzmetapher: »Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig.«2 Dieser breit aufgefächerten Fragestellung geht nun der vorliegende Sammelband nach: Anvisiert werden hier einerseits literarische Manifestationen und Konzeptualisierungen der Grenze als eine umfassende Denkfigur und Reflexionskategorie, andererseits Phänomene, Diskurse und Narrative, die mit dem Zeitgeist resonieren bzw. sich als saliente Reflexe unseres durch diverse Zwänge, Limitierungen und Umzäunungen überschatteten Zeitalters offenbaren. Es wird somit die Vielgestaltigkeit des Phänomens Grenze evident, aber auch die Pluralität und Diversität der möglichen analytischen Zugänge, die sich dem Diktat einer vorgegebenen und somit begrenzenden Optik nicht beugen wollen und sollen. Eröffnet wird der vorliegende Sammelband durch epochen-, theorie- und disziplinübergreifende Ausführungen zum Thema Grenze sowie deren Konzeptualisierungen und Fluktuationen in Raum und Zeit. Ralf Schnell lässt die schöngeistigen Werke Revue passieren, die im Zeichen eines metaphorischen wie physikalischen Grenzdrucks entstanden sind, angefangen in der Antike, bis hin zu der jüngsten Literaturproduktion der deutschen Gegenwart. Der den Grundaspekt des Bandes synthetisierende Beitrag zielt darauf hin, die befreienden Potenziale der (scheinbar) belastenden Grenzerfahrungen zu veranschaulichen, Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen zu exemplifizieren, die sich im produktionsästhetischen Sinne als Katalysatoren einer kreativen Praxis erwiesen haben und somit als prototypische Narrative betrachtet werden können, welche die Verschränkung von Grenz- und Zeitdiskursen eingehend beleuchten. Paweł Zimniak sondiert das Phänomen der Grenze aus einer grundsätzlich phänomenologischen Perspektive, wobei ihn vor allem die semantische Aufladung des Begriffs selbst sowie dessen Konzeptualisierungsmöglichkeiten interessieren, bei denen die Frage der System(nicht)konformität bzw. -affinität eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Es wird evident, dass die Grenze als emergenter und fluktuierender Relationsbegriff stets der Zugrundelegung einer wie auch immer gearteten, allen voran jedoch
als Erfahrung und Diskurs. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen. Tübingen: Narr Francke 2018, S. 7–8, hier S. 7. 2 Foucault, Michel: Vorrede zur Überschreitung. In: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 28–45, hier S. 28.
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stabilisierten und damit rhetorisch operationalisierbaren Struktur bzw. Denkfigur bedarf. Den Gegenstand der Überlegungen von Clemens Fuhrbach bildet Christa Wolfs Erzählung Was bleibt, die gemäß den aktuellen Forschungstendenzen innerhalb der DDR-Literatur unter stärkerer Einbindung narratologischer Fragen untersucht wird. Der Autor weist nach, welche Konsequenzen das Bewusstsein einer ständigen Beobachtung und damit einer Fremd- und Selbstbegrenzung für die Konstruktion eines textimmanenten, dialogischen Ich hat, das nicht über die Utopie einer bloß sprachreflexiven Subjektivität hinauszugehen vermag. Karsten Dahlmanns nimmt sich des kontroversen Romans Artur Lanz von Monika Maron an, wobei es ihm daran gelegen ist, den Text auf dreierlei Ebenen – der Autoreferenzialität, der Selbstbeschränkung und der Fremdausgrenzung – weniger im genuin literaturwissenschaftlichen, als vielmehr wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Sinne auszulegen. Fokussiert werden hochaktuelle und nicht selten umstrittene Probleme der bundesdeutschen Wirklichkeit, wie die Energiewende und Einwanderungspolitik, ähnlich wie höchst heikle ideologische Parallelisierungen (die ehemalige DDR vs. die gegenwärtige BRD), welche unter Rückgriff auf eine nicht weniger kontroverse Rhetorik untersucht werden, die sich aber schließlich dem obersten Prinzip einer allgemein gültigen Wissenschaftslogik fügen muss, demzufolge jede (noch so gut argumentierte) These anfechtbar sei. Arletta Szmorhun ist an den Verschränkungen geschlechtsspezifischer, hierarchischer und symbolischer Grenzen mit einer interfamiliären Gewaltordnung interessiert, für welche die Figur eines autoritären, ideologisch verblendeten Vaters steht, wie er im Roman Fünf Kopeken von Sarah Stricker dargestellt wird. Das dichte Grenzgeflecht wird auf der Ebene der Handlung und der Figurenkonstellation ausgelotet, wobei vor allem die Relation zwischen Vater und Tochter in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt wird. In Anlehnung an Max Lüthis Märchentheorie untersucht die Warschauer Germanistin Katarzyna Grzywka-Kolago den Roman Das Kind, das nicht fragte von Hanns-Joseph Ortheil, wobei die Ausführungen um drei grundlegende, märchentypische Probleme oszillieren: die Isolation des Märchenhelden, der Ortheil’schen Hauptfigur und des Autors. Es wird gezeigt, wie sich alle drei Reflexionsebenen, denen die Denkfigur der Begrenzung immanent ist, gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Dem zeitaktuellen Phänomen der Selbstbegrenzung, das anhand des Romans Hikikomori von Kevin Kuhn exemplifiziert wird, geht auch Monika Blidy nach. Die motiv-, sozialgeschichtlich und intertextuell angelegte Studie zielt darauf hin, den aus der selbst gewählten Isolation und sozialem Rückzug resultierenden Prozess der Entmenschlichung der Hauptfigur zu veranschaulichen, der schließlich ein tragisches Ende nimmt. Rolland Schimmelpfennigs ästhetische Verhandlungen des Realen sind Gegenstand der Ausführungen
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von Zbigniew Feliszewski. Anhand der Dramen Die Frau von früher und Die arabische Nacht wird dargelegt, wie Schimmelpfennig eine mehrdimensionale und -schichtige Poetik entwirft, in welcher geläufige Zeitauffassungen und Grenzziehungen in Frage gestellt werden, um entfremdende »Lichtungen« entstehen zu lassen, die den Zugang zum Realen ermöglichen würden. Anna Rutka untersucht Erinnerungsformen und -narrative im Roman Die Farben des Granatapfels von Anna Baar, die sich als Ausbruchversuche aus begrenzenden und nicht selten konkurrierenden nationalen Stereotypisierungen auslegen lassen. Eine wichtige Rolle kommt hierzu dem Geschlecht als einem memorialen Faktor zu, der die Prozesse der Hybridisierung von Kulturen und Gedächtnisräumen wesentlich beeinflusst. Im Fokus der Betrachtungen von Małgorzata Dubrowska stehen die aktuellen Romane von Dmitrij Kapitelman (Eine Formalie in Kiew) und Lena Gorelik (Wer wir sind), die in Hinblick auf die Identitätsfrage und -suche interpretiert werden. Den beiden Werken ist gemeinsam, dass sich die Hauptfiguren jenseits familiärer Ressentiments und bloß nationaler Kategorisierungen in einem transitorischen Raum bewegen, in dem sie zu einer selbstgewählten und -bestimmten Existenzform zurückfinden. Im Mittelpunkt des Aufsatzes von Nina Nowara-Matusik steht der Briefroman Amanda und Eduard (1803) von Sophie Mereau-Brentano (1770–1806), einer erfolgreichen romantisch-klassischen Berufsschriftstellerin, die nach der (Wieder)Entdeckung durch die feministische Forschung vor allem der 1990er Jahre (Sigrid Weigel, Christa Bürger, Hannelore Scholz-Lübbering, Katharina von Hammerstein) heute immer noch einer aktualisierenden Re-Lektüre bedarf. Im Fokus der Betrachtungen steht das Phänomen der textimmanenten Begrenzungen, die den vorherrschenden Liebesdiskurs beinahe unauffällig unterlaufen und so andere, nicht unbedingt »liebeszentrierte« (K. von Hammerstein) Perspektiven auf den Roman eröffnen. Hannelore Scholz-Lübbering zeichnet das grenzübergreifende Porträt einer deutsch-jüdischen Autorin – Mascha Kaléko – nach, die heute in der germanistischen Forschung kaum noch wahrgenommen wird. Im Vordergrund des Beitrags stehen territoriale Grenzüberschreitungen und biographisch-ideologische Begrenzungen, welche das poetische Schaffen der Berlinerin und späterer Exilantin (in Amerika und Israel) wohl am stärksten prägen. Eines heute ebenfalls weitgehend vergessenen Autors – Hugo Hartung – nimmt sich in seinem Beitrag Marek Krisch an. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei dem Problem der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem heutigen Schlesien, das anhand des Romans Gewiegt von Regen und Wind exemplifiziert wird. Es wird ersichtlich, wie sich das Provisorische des sich neu herauskristallisierenden, historischen Grenzraumes auf die geistige Kondition der Protagonisten und den mäandrierenden Erzählduktus des Romans auswirkt. Bei aller Unterschiedlichkeit der methodologischen Zugänge zum Problem der Grenze, die die Aufsätze dieses Sammelbandes auszeichnet, lässt sich aber
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auch eine grundsätzliche Konstante feststellen: Auch wenn die Grenze per se einen beschränkenden Gestus impliziert, fordert sie unverkennbar zugleich dazu heraus, den auferlegten Rahmen zu sprengen und Grenzgänge zu praktizieren. Grenzüberschreitungen, -verletzungen und -annihilationen sind dabei selbstredend nicht bloß als komplementäre Begleiterscheinungen des Phänomens Grenze abzutun, sondern sie weisen auch ihre eigene Dynamik, Autonomie und kreatives Potenzial auf, das nicht nur eine literaturwissenschaftlich orientierte Reflexion zu stimulieren und zu diversifizieren vermag.3 Dem möglicherweise erkenntnissteigernden Nutzen, welcher so der Literaturwissenschaft erwüchse, wenn sie sich gerade der Grenze als einer (zu überwindenden) Trennlinie zwischen den einzelnen Disziplinen der Humanwissenschaften annehmen würde, müsste aber eine separate Untersuchung gewidmet werden. *** Ausgewählte Beiträge des Sammelbandes gehen auf die internationale Tagung Ein-/Be-/Abgrenzungen: literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven zurück, die an der Schlesischen Universität in Katowice (Polen) am 29. 9.–30. 9. 2021 veranstaltet wurde. Angenommen wurden ebenfalls eingesandte Beiträge, die das Rahmenthema aufgreifen und um neue Fragestellungen bereichern. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern sei an dieser Stelle für die produktive Zusammenarbeit gedankt. Mein besonderer Dank gilt der Gutachterin dieses Bandes, Frau Prof. Joanna Godlewicz-Adamiec von der Universität Warszawa, sowie den Herausgebern der Reihe Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit. Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur, Frau Prof. Renata Dampc-Jarosz und Herrn Prof. Paweł Zimniak. Schließlich bin ich auch Herrn Prof. Adam Dziadek, dem Dekan der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Schlesischen Universität, für seine großzügige Unterstützung unseres Vorhabens zur Dankbarkeit verpflichtet. Die Herausgeberin
3 Siehe hierzu stellvertretend den aktuellen Sammelband: Adamowicz-Pos´piech, Agnieszka/ Dampc-Jarosz, Renata/Rabsztyn, Andrzej (Hg.): Beyond Borders – Jenseits der Grenzen – auDelà des Frontières: Transgressions in European Literatures – Transgressionen in Europäischen Literaturen – la Transgression Dans les Littératures Européennes. Göttingen: V&R unipress 2022.
Übergreifende Approximationen an das literarische und sprachliche Phänomen der Grenze
Ralf Schnell (Siegen/Berlin)
»In Fesseln – frei« – Grenzerfahrungen literarischer Produktivität
Mit »dramatischen Bilder[n] von der türkisch-griechischen Grenze, die im Frühjahr 2020 über unsere Fernsehschirme flimmerten«, eröffnet Steffen Mau seine Studie über die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, eine soziologische Analyse, die das Zeug hat, zu einem Grundtext der Globalisierungskritik zu werden.1 Ende August 2021 erfahren wir von der Verhängung des Notstandes an der polnischen Grenze zu Belarus – seither erschüttert uns eine wachsende Dramatik der Bilder, die uns von dort über das Fernsehen erreichen. Und nicht zuletzt zeigt uns seit mehr als zwei Jahren die Covid 19-Pandemie auf schmerzhafte Weise die Grenzen, die unserer persönlichen Freiheit, Freizügigkeit und Mobilität durch die Einschränkungen unserer Lebenswirklichkeit gesetzt sind. Mit anderen Worten: Die Tagungsthematik Be-/Ein-/Abgrenzungen war von höchster Aktualität. Nehmen wir verwandte Termini wie ›Entgrenzungen‹ oder ›Ausgrenzungen‹ hinzu, so wird mit dem Begriffsfeld Grenze eine ganze Serie von Umbrüchen historischen Ausmaßes umschrieben, ein Konglomerat von Problemen, das alle Kulturen übergreift und alle sozialen Differenzen überschreitet. Es schließt alltägliche Restriktionen und Reduktionen ebenso ein wie die historischen Dimensionen von Katastrophen, die Errichtung politischer Mauern und Vorurteilsstrukturen ebenso wie Feindbilder und Sprachbarrieren, Denkschranken oder Mentalreservationen. Es geht um explosive gesellschaftliche Dynamiken und mit diesen um Impulse des Widerstandes gegen sie – die Beispiele hierfür sind allgegenwärtig. Die literatur- und sprachwissenschaftlichen Aspekte, die in uns diesem Zusammenhang beschäftigen, erlauben es, den Blick auf das Rahmenthema zu erweitern und zu vertiefen. Das geschieht im Folgenden anhand von Texten, die zurückführen in die Mythologie der Antike und ins Neue Testament (I), in Leben und Werk des Dichters Christian Friedrich Daniel Schubart (II), in die Grenz1 Mau, Steffen: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München 2021, S. 11.
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gänge Heinrich Heines zwischen Deutschland und Frankreich (III) und in die Literatur der DDR (IV), bevor anhand eines Romans von Eva Menasse der Bogen zurück geschlagen wird in die jüngste Gegenwart (V).
I Sprache – insbesondere die Sprache von Literatur als Kunst – ist bekanntlich ein Gedächtnisspeicher. Sie bildet ein Jahrtausende altes kulturelles Reservoir, das uns immer aufs Neue Erinnerungsanstöße zuführt, Materialien und Impulse, die – auch wenn sie weit zurückliegen – uns nicht nur an die Vielfalt und das Gewicht dessen erinnern, was Grenze heißt, sondern auch an die Produktivität, die mit der Erfahrung von Grenzziehungen verbunden sind. Mit dieser Feststellung lässt sich ein Sprung zurück um fast drei Jahrtausende begründen, ins 8. Jahrhundert vor Christi Geburt, zur literarischen Urszene aller Grenzziehungen. Sie findet sich im 11. Gesang von Homers Odyssee, νέκυια = ›Totenopfer‹ genannt. Nur zur Erinnerung: Odysseus begibt sich auf Geheiß der göttlichen Kirke in das Haus des Hades, an jene Grenze, die das Leben vom Tode trennt. Odysseus bereitet die Totenopfer vor – daher rührt der Titel des elften Gesangs. Das Blut der geschlachteten Schafe soll ein Gespräch mit den Toten ermöglichen. Homers Held führt an der Grenze zum Totenreich einen grenzüberschreitenden Dialog mit den Dahingeschiedenen. Überraschenderweise – überraschend zumindest für heutige Leser – sucht er nicht zuallererst das Gespräch mit der Seele seiner verstorbenen Mutter, sondern den Austausch mit dem blinden Seher Teiresias. Erst darauf folgt der Dialog mit der Frau, die ihm das Leben geschenkt hat, bevor Odysseus in chronologischer Folge die Heroen der antiken Mythologie wahrnimmt, von Achill und Ajax bis zu Sisyphos und Herakles. Die zeitliche Bevorzugung des blinden Sehers verweist auf die Bedeutung des Totenreichs für die Welt der Lebenden. Von Teiresias erhält Odysseus jene Informationen, die er dringend benötigt, um seiner Irrfahrt die Richtung nach Ithaka zu sichern, die glückliche Heimfahrt zu seiner Gattin Penelope. Aus der Abgeschiedenheit des Hades, aus der Finsternis des Totenreichs fällt Licht in die diesseitige Wirklichkeit. Die Seele eines Toten weissagt dem ratlosen Helden und belehrt ihn über sein künftiges Schicksal. Erst nachdem Teiresias die von den Göttern verfügten Bedingungen benannt hat, unter denen der Held des Epos seinen gefahrvollen Weg wird bestehen können, erst danach wendet sich dieser der Mutter zu, die sich um ihn sorgt, und nach ihr den großen Heroen der antiken Mythologie. Hier sind alle Schattierungen von Konstellationen im Bereich poetischer Be-/ Ein-/Abgrenzungen bereits vorgezeichnet. In einer Art Typologie werden die Verblichenen vorgestellt. Ganz unverhohlen bringen sie ihr Leid, ihren Schmerz
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über das abgeschiedene Dasein jenseits der Grenze zum Ausdruck, beispielhaft der große Achill, oberster Herrscher im Reich der Toten, der den Anteil nehmenden Odysseus – nach der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt – mit den Worten zurückweist: »Suche mich nicht über den Tod zu trösten, strahlender Odysseus! Wollte ich doch lieber als Ackerknecht Lohndienste bei einem anderen, einem Manne ohne Landlos leisten, der nicht viel Lebensgut besitzt, als über alle dahingeschwundenen Toten Herr sein!«2 Die Trauer über den Verlust des eigenen Selbst hat ihre Spur bis in die Weltliteratur unserer Tage gezogen, bis hin zu Juan Rulfos Jahrhundertwerk Pedro Páramo (1955; dt. zuletzt 2008), zu Elfriede Jelineks epochalem Roman Die Kinder der Toten (1995), Robert Seethalers Friedhof-Kabinettstück Das Feld (2018) oder auch George Saunders’ virtuoser Geisterstimmenvielfalt Lincoln in the Bardo (2017; dt. Lincoln im Bardo, 2018). Werke, die sich, jedes auf seine Weise, mit der eigenen Wirklichkeit der Toten auseinandersetzen, ihnen eine Stimme, ein Dasein, eine verstörende Atmosphäre abgründiger Dynamik zuschreiben. Im Vergleich mit ihnen lässt sich der 11. Gesang der Odyssee jedoch nicht nur als Imagination der jenseitigen, sondern zugleich als Allegorese der diesseitigen Welt lesen, als Entwurf, in dem die Jahrhunderte währenden Muster des Spannungsgefüges im Grenzbereich zwischen Leben und Tod vorgezeichnet sind, allegorisch auch und gerade darin, dass es in diesen Jenseitsvorstellungen Freiheitsimpulse gibt, Versuche zur Überschreitung der absoluten Grenze, die das Reich der Toten vom Fest des Lebens trennt. Bei Homer ist nicht allein Teiresias in diesem Zusammenhang zu nennen, sondern auch Herakles, der in der Unterwelt die zwölfte und damit letzte seiner schweren Arbeiten zu verrichten hat, nämlich Kerberos, den mehrköpfigen Wachhund des Hades, für eine gewisse Zeit aus der Unterwelt zu entfernen. Vor allem aber Persephone ist hierfür die exemplarische Figur, die Gemahlin des Hades, die im Winter ›in Fesseln‹, das heißt: an der Seite ihres Gatten in der Unterwelt lebt, während des Sommers aber ›frei‹ ist, will sagen: als Lebende unter den Lebenden weilen darf. Zudem überschreitet, anders als die Protagonisten in Vergils Aeneis und Dantes Commedia Divina, der Held Homers die Grenze zum Totenreich nicht. Er wartet an der Grenze und wahrt auf diese Weise Distanz zur dunklen Welt der Verstorbenen. Man kann in dieser Zurückhaltung eine Vorprägung zur religiösen Grundfigur des christlichen Themas ›Grenze‹ erkennen, zu jenem Berührungsverbot des ›noli me tangere‹, mit dem Jesus im Johannes-Evangelium den Berührungsversuch der Maria Magdalena abwehrt. »Rühre mich nicht an!«, so Jesus zu Maria Magdalena in der Übersetzung Martin Luthers, »denn ich bin noch nicht auf2 Homer: Die Odyssee. 11. Gesang, V. 488–4491. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1958, S. 151.
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gefahren zu meinem Vater. Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.« (Joh 20, 17) Liest man die Schilderung der Begegnung Jesu mit Maria Magdalena als biblische Erzählung und damit als literarischen Text, so wird der fundamentale Gestaltwandel deutlich, den diese Grenzerfahrung repräsentiert. Wie im Mythos der Antike Persephone und Herakles, so kehrt auch der auferstandene Jesus aus dem Reich der Toten zurück. Doch anders als die mythologischen Präfigurationen der Antike überschreitet der Σωτήρ, der Retter, der Heiland in der christlichen Mythologie des Neuen Testaments die Grenze ein weiteres Mal, eine andere freilich: jene zum Reich Gottes, zur Erlösung der Welt, zum Reich der absoluten Freiheit. Dies ist der Grund, warum Jesus die Annäherung zurückweist, die Berührung untersagt: Die bevorstehende Auffahrt gen Himmel, in den Bereich des Göttlichen, erlaubt keine Profanierung. Der allem Irdischen und zumal den Bezügen der Menschen zuvor zugewandte Sohn Gottes muss nach seiner Auferstehung von eben diesen Bezirken sich fernhalten, um in die Sphäre Gottes, fern von den Menschen, eingehen zu können. Jean-Luc Nancy hat dieser Szene eine luzide Studie mit dem Titel Noli me tangere (2003) gewidmet.3 In seinem Essay sur la levée du corps (Untertitel) führt der französische Philosoph anhand einer Vielzahl bildlicher Darstellungen – in Deutungen zu Gemälden von Pontormo, Dürer, Cano, Giotto und vor allem Tizian – den Nachweis des christlichen Berührungsverbots, das in sich die paradoxale Spannung zwischen Befehl und Bitte, Angriffsdrohung und Leidensdruck austrage. Nancy konzentriert sich in seiner Analyse auf die körperlichen Aspekte, die mit diesem Verbot einhergehen. Doch dessen Voraussetzung, die Bedingung, es aussprechen und durchsetzen zu können, ist eben jene Grenzziehung, die sich durch die grammatische Konstruktion der griechischen und der lateinischen Fassung mitteilt. μή μου ἅπτου (me¯ mou haptou) = ›halte mich nicht fest‹ lautet die resolute Semantik der griechischen Version, die der lateinischen zeitlich vorausliegt. ›noli me tangere‹ heißt dagegen, wörtlich übersetzt: ›Wolle mich nicht berühren‹. Das Verb ›nolle‹, gebildet aus ›non‹ = ›nicht‹ und ›velle‹ = ›wollen‹, legt mit seinem Imperativ ›noli‹ die Einlösung der geforderten Haltung, also die Umsetzung der geforderten Zurückhaltung, auf die Seite Maria Magdalenas. Die Anweisung Jesu ist eine Grenzziehung. In den Gemälden Tizians, Antonio da Corregios und Fra Angelicos ist diese Grenze bildlich als ein Innehalten entworfen, als – so Jean-Luc Nancy – ein Zögern angesichts der Gewalt des göttlichen Wortes: Dies ist eine letzte Warnung, eine letzte Mahnung, ist wie die letzte Grenze, an der das Recht der Kraft weichen wird, einer Kraft, die sich aus der Gewalt des anderen legiti3 Nancy, Jean-Luc/Dittrich, Christoph: Noli me tangere. Aufhebung und Aussegnung des Körpers. Zürich/Berlin: Diaphanes Verlag, Neuauflage 2019.
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mieren wird, oder aus dem, was man schon im Voraus als die Gewalt des anderen bezeichnet hat, indem man eben diese Warnung vorgebracht hat.4
Maria Magdalena muss ihren spontanen Wunsch, Jesus zu berühren, zurücknehmen. Wie unter einem Bann stehend, gehorcht sie, unterwirft sich und folgt dem Befehl Jesu. Doch ist diese letzte Warnung nicht das letzte Wort des Auferstandenen. Dieses schließt vielmehr einen Auftrag ein, eine Anweisung, die Maria Magdalena den Rang einer Botschafterin zugesteht: »Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.« (Joh. 20, 17) Im Neuen Testament verbindet sich mit der Grenzziehung zum jenseitigen Gottesreich nach der Auferstehung Christi, des Retters der Welt, die Erlösungsbotschaft für die ganze Menschheit. Bei Homer findet sich an ihrer Stelle die Weissagung des blinden Sehers über den künftigen Weg des gefährdeten Einzelgängers Odysseus. Im Wahrnehmungshorizont der antiken Mythologie wird also auch hier Licht in das diesseitige Dunkel getragen. Übereinstimmend bildet in beiden Fällen eine Grenzziehung die Bedingung – man könnte auch sagen: den Katalysator – für die jeweilige Offenbarung: Die einmal gezogene und dauerhaft zu wahrende Grenze ist die Voraussetzung eines neu zu gewinnenden Freiheitsraums.
II Der Titel dieses Beitrags In Fesseln – frei zitiert einen (fast) vergessenen Roman eines heute (fast) vergessenen Autors: Heinrich Lilienfein (1879–1954). Sein Roman erschien unter eben diesem Titel im Jahr 1938.5 Darin wird die Geschichte des »schwäbischen Rebellen«6 Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) erzählt, eines Dichters, der im Jahr 1777 unter intrigant gesponnenen Vorwänden aus der Freien Reichsstadt Ulm über die Grenze nach Blaubeuren und damit auf württembergisches Gebiet gelockt wird. Er wird entführt, auf Geheiß des württembergischen Herzogs Karl Eugen gefangengenommen und ohne schriftliche Anklage, ohne amtliche Verfügung, ohne jedes Urteil eingekerkert. Der freiheitlich gesinnte Dichter und aufgeklärte politische Publizist soll exemplarisch
4 Ebd., S. 74. Vgl. hierzu auch Derrida, Jaques: Berühren. Jean-Luc Nancy. Übers. Hans-Dieter Gondek. Berlin: Brinkmann & Bose 2007. 5 Lilienfein, Heinrich: In Fesseln – frei. Ein Schubart-Roman. Stuttgart: Fleischhauer & Spohn 1938. 6 Schoeller, Wilfried F.: Schubart. Leben und Meinungen eines schwäbischen Rebellen. Berlin: Wagenbach 1979.
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bestraft, der Öffentlichkeit entzogen, sein Werk zerstört werden. Kurzum: Er wird eingesperrt und ausgegrenzt. Exkurs I Nur in Parenthese sei an dieser Stelle auf den skandalösen aktuellen Parallelfall zu diesem historischen Vorgang hingewiesen, nämlich auf die Entführung einer Ryanair-Maschine mit dem Publizisten Roman Protassewitsch an Bord auf Geheiß des belarussischen Diktators Lukaschenko am 23. Mai 2021. Die strukturellen Ähnlichkeiten – von der Entführung eines Menschen durch einen autokratischen Machthaber über die unmenschliche Behandlung des Delinquenten, seine öffentliche Zurschaustellung und Einkerkerung bis hin zur mutmaßlichen Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe nach den willkürlichen Maßstäben eines Unrechtsregimes – liegen auf der Hand. Und ebenso die Zeichen der Ohnmacht, die den Verlautbarungen einer empörten Weltöffentlichkeit abzulesen sind. Schubart hat den Augenblick seiner Inhaftierung in einer eindrucksvollen szenischen Beschreibung festgehalten: »Jetzt rasselte die Tür hinter mir zu und ich war allein – in einem grauen, düstern Felsenloche allein. Ich stand und starrte vor Entsetzen, wie einer, den die donnernde Woge verschlang und der nun im schaurigen Scheol erwacht.«7 Das Wort ›Scheol‹ entstammt dem Hebräischen. Es bedeutet ›Totenreich‹ und spielt, für Schubarts Zeitgenossen unmissverständlich, auf den bereits zitierten Passus aus Homers Odyssee an. Das Opus Lilienfeins bietet auf seinen mehr als 500 Seiten jedoch nicht allein die Biographie eines unbotmäßigen Dichters. Vielmehr darf man diesen Roman mit Fritz Martini als ein Werk verstehen, welches »das Leben Ch. F. D. Schubarts in verhüllter Opposition gegen die Unterdrückung im Dritten Reich darstellt«.8 Der Roman zeugt deutlich von Kritik an der Obrigkeit – allerdings der des 18. Jahrhunderts. Er beweist unbestreitbar Sympathie für den rebellischen Helden und sein Werk – das freilich vor mehr als zwei Jahrhunderten geschrieben wurde. Er hält sich unverkennbar an die historisch gegebenen Zeitgrenzen – und doch aktualisiert er schon mit der Wahl des Titels In Fesseln – frei jenes Potenzial poetischer Produktivität, das sich dem Œuvre Schubarts hinter den Grenzen des Kerkers unverlierbar eingeschrieben hat. Er spricht von einem unbändigen Willen zur Freiheit ebenso wie von der unzerstörbaren Kraft der Sprachkunst – und wird eben dadurch zum exemplarischen Fall einer historischen Camouflage, welche die von der Zensur im Dritten Reich gesetzten Grenzen überschreitet, indem sie diese unterläuft. Wer zu lesen verstand, konnte den Anfang des in der
7 Zit. nach Schoeller, Wilfried: Schubart, S. 67. 8 Martini, Fritz: Lilienfein, Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie 14/1985. URL: https:// www.deutsche-biographie.de/pnd118993682.html#ndbcontent / letzter Zugriff am 27. Oktober 2021.
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Haft entstandenen Schubart-Gedichts Die Fürstengruft (1779/80) unschwer auf die Gegenwart des Dritten Reiches übertragen: Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer Ehmals die Götzen ihrer Welt! Da liegen sie, vom fürchterlichen Schimmer Des blassen Tags erhellt. Die alten Särge leuchten in der dunkeln Verwesungsgruft, wie faules Holz; Wie matt die großen Silberschilde funkeln, Der Fürsten letzter Stolz! Entsetzen packt den Wandrer her am Haare, Geußt Schauer über seine Haut, Wo Eitelkeit, gelehnt an eine Bahre, aus hohlen Augen schaut. […] Die liegen nun in dieser Schauergrotte Mit Staub und Würmern zugedeckt, So stumm! so ruhmlos! Noch von keinem Gotte Ins Leben aufgeweckt.9
Und so geht es weiter, insgesamt 26 Strophen lang, ein poetischer Abgesang, geschrieben aus der Perspektive des gefangen gesetzten Dichters, der ›frei‹, im visionären Blick über die gesetzten Grenzen hinweg, jene Schädelstätte besichtigt, in der einst er, Christian Friedrich Daniel Schubart, ›in Fesseln‹ geschlagen wurde. Ein poetischer Blick, der unbehelligt von der Zensur im Dritten Reich erscheinen konnte, weil er seine Gegenwart im Licht einer historisch eingebetteten Dichterbiographie zeigt. Sie spielt über weite Strecken auf dem berüchtigten Hohenasperg, einer Jahrhunderte alten Straf- und Zuchtanstalt des Landes Württemberg, eine Stätte des Grauens, deren prophetisch vorweggenommener Niedergang eine Übertragung auf die Entwicklung des Dritten Reichs im Jahr 1938 freilich nur bedingt nahelegen mochte. Doch unmissverständlich zeigt dieser Roman die Grenze als historische Markierung eines absoluten Herrschers im 18. Jahrhundert. In ihrer Folge erscheint die Einkerkerung des Dichters Schubart als Ausgrenzung durch eben diesen Herrscher. Literaturgeschichtlich visionär entworfen ist die zuvor zitierte Umkehrung dieser Grenzziehung durch den eingekerkerten Poeten. Zusammengeführt werden diese Perspektiven in einem Roman des 20. Jahrhunderts, 9 Schubart, Christian Friedrich Daniel: Die Fürstengruft. In: Karthaus, Ulrich (Hg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Band 6: Sturm und Drang und Empfindsamkeit. Stuttgart: Reclam 1976, S. 171–174, hier S. 171, 173.
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der die nationalsozialistischen Überwachungsgrenzen durch ein biographisch dicht gefügtes Text-Konstrukt unterläuft. In ihrer Summe handelt es sich um wiederholte Spiegelungen, deren reflektiertes Spiel mit Be-/Ein- und Abgrenzungen der Subversion von Herrschaft dient. Lilienfein lässt Schubart diese Lebensbilanz in Form einer selbstkritischen Reflexion ziehen, die des Dichters eigene Grenzen ebenso wie die Möglichkeiten seiner Befreiung zeigt: »In Fesseln – frei!« … Er las und las die Worte wieder … Wie war das? In Fesseln – und doch frei? Oder frei – und doch in Fesseln? Verstand er jetzt, was er damals geschrieben, neu und erst ganz? … Ja – er war frei, und doch in Fesseln! Frei war das Heiligste und Tiefste in ihm: die feurige, sehnende, schönheitverlangende, dichtende musizierende Seele – aber die Fesseln, nicht die Fesseln des Aspergs, sondern die seiner eigenen, fehlerhaften, gleichgewichtslosen, unbändigen, tierhaften Natur banden ihn, bis der Geist – wirklich frei, wirklich er selbst – aufflog zu Gott, der ihn gegeben hatte …
Man darf die Verlagerung der »Fesseln« aus der institutionellen Sphäre, die mit dem Namen »Asperg« verknüpft ist – also die des autokratischen Herrschaftssystems eines württembergischen Herzogs –, in die individuelle Sphäre einer »fehlerhaften, gleichgewichtslosen, unbändigen, tierhaften Natur« – die des allzu unbeherrschten Dichters – als ein Signal der Camouflage-Literatur verstehen. Es soll die Übertragung der historischen Vorgänge auf die Gegenwart dadurch sichern, dass Figuren und Zeitumstände ein eigenes Gewicht erhalten. Dieser Kunstgriff besitzt einen doppelten Effekt: Er schützt den Roman vor Eingriffen der Zensur und ermöglicht gleichwohl seine Dechiffrierung im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse im Dritten Reich. Was auf diese Weise bewahrt bleibt, ist ein durchgängig sich findendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst, das der Roman In Fesseln – frei bereits mit seinem Titel anklingen lässt. Es war, so heißt es nach der schockartigen Begegnung des Dichters Schubart mit seinem eigenen Selbst weiter, eine »Erkenntnis wie das Aufleuchten eines Blitzes, der erlosch, kaum daß er aufgeleuchtet war …«.10 Eine Erkenntnis, die dem be-/ein-/abgegrenzten Dichter-Subjekt die Befreiung seines Selbst durch die unmittelbare Rückbindung an die absolute Kraft eines Schöpfergottes erlaubt, eine poetische, imaginative Entgrenzung, die Freiheit als Naturgewalt erfährt, enthoben allen Restriktionen und Repressionen der politischen Wirklichkeit. Exkurs II An dieser Stelle bietet sich der Blick auf einen Parallelfall der deutschen Gegenwartsliteratur an: der Blick auf Leben und Werk des Lyrikers und Romanautors Peter-Paul Zahl (1944–2011). Zahl wurde 1976 aufgrund eines – man kann es nicht anders nennen: Gesinnungsurteils wegen versuchten Mordes zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil in erster Instanz hatte auf vier Jahre
10 Lilienfein, Heinrich: In Fesseln – frei, S. 546f.
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Gefängnis gelautet – Einzelheiten hierzu lassen sich an anderer Stelle nachlesen.11 Entscheidend ist in unserem thematischen Zusammenhang: Das am Ende rechtskräftige Urteil trug ihm Haftbedingungen ein, wie sie schwieriger zu jener Zeit in Deutschland kaum denkbar waren – es war zugleich die Zeit höchster literarischer Produktivität. Ich habe mit Peter-Paul Zahl im September 1978 in der Justizvollzugsanstalt Werl in Westfalen ein zweistündiges Gespräch geführt. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihm die Frage gestellt, ob er bei seiner literarischen Arbeit Grenzen formaler oder auch inhaltlicher Art sehe, die mit den Grenzen seines Erfahrungsbereichs »Gefängnis« zusammenfallen. Aus seiner ausführlichen Antwort ein aufschlussreiches Zitat, das sich auf die Erfahrung des Mangels in der Isolation der Haft bezieht: Das ist auch ein Typikum von Knastliteratur, diesen Mangel zu überschreiten durch Antizipation, durch Träume, durch Utopien, durch Wünsche, die eben durch den Mangel, durch die ungeheuren Mangelerscheinungen (im Knast) deutlicher ausgedrückt werden, krasser, klarer als in jedem anderen gesellschaftlichen Bereich außer in Irrenanstalten […].12
Peter-Paul Zahls im Gefängnis entstandene Literatur, seine Lyrik ebenso wie sein mehr als 500 Seiten umfassender »Schelmenroman« Die Glücklichen (1979), ist eine Grenzfall-Dichtung: literarisches Dokument gesellschaftlicher Ausgrenzung und poetischer Versuch einer Grenzüberschreitung.
III Von der Antike bis in die Gegenwart bildet die Grenze den Katalysator einer Konstellation, in der und durch die Literatur auf subversive Weise ihre Produktivität entfaltet. Heinrich Heines Versepos Deutschland – ein Wintermärchen (1844) bietet hierfür ein beredtes Beispiel: das Echo auf den Grenzwechsel des Dichters zwölf Jahre zuvor. Die Nachricht von der Juli-Revolution in Frankreich hatte ihn 1830 enthusiasmiert, die »bizarrsten Nachtgesichte« trieben ihn um: »In diesem Zustande ist mir manchmal zu Sinne, als ob meine eigenen Glieder ebenfalls sich kolossal ausdehnten und daß ich, wie mit ungeheuer langen Beinen von Deutschland nach Frankreich und wieder zurück liefe.«13 Am Ende siegen die 11 Vgl. hierzu ausführlich Schnell, Ralf (Hg.): »Schreiben ist ein monologisches Medium«. Dialoge mit und über Peter-Paul Zahl. Berlin: Verlag Ästhetik und Kommunikation 1979. 12 Zahl, Peter-Paul/Schnell, Ralf: Gespräch am 28. September 1978 in der Justizvollzugsanstalt Werl/Westfalen. In: Schnell, Ralf (Hg.): »Schreiben ist ein monologisches Medium«. Dialoge mit und über Peter-Paul Zahl. Berlin: Verlag Ästhetik und Kommunikation 1979, S. 26, S. 28. 13 Heine, Heinrich: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In: Sämtliche Schriften. Vierter Band. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1971, S. 55. Vgl. zum Folgenden auch Schnell, Ralf: Heinrich Heine zur Einführung. Hamburg: Junius 1996, S. 37–43 und 171–180.
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Symbole der Freiheit: »Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marseillaise …« locken ihn nach Frankreich, treiben ihn 1831 zum Aufbruch in das ersehnte Reich des politischen und persönlichen Aufbruchs: »Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder, was ich will, was ich soll, was ich muß …«14 Die Erfahrungen, die er nun, jenseits der Grenze, in der »Hauptstadt der Revolution« (Heine) macht, die widerspruchsvollen Entwicklungen nach dem Umsturz und die Umbrüche im sozialen Gefüge, die Vielfalt des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, die Anregungen, die der Dichter in namhaften Salons erhält, die zahlreichen Begegnungen mit Intellektuellen und der Austausch mit Schriftstellerkollegen – dies alles belebt und belehrt ihn, bereichert und prägt ihn auf die denkbar produktivste Weise. Ablesbar ist seinen in Paris entstandenen Schriften (Französische Maler, 1831; Französische Zustände, 1832; Über die Französische Bühne, 1837; Lutetia, 1840), dass Heine das Publikum in Deutschland über das öffentliche Leben in Frankreich informieren wollte, um von seinem selbstgewählten Exil aus auf das öffentliche Leben in Deutschland einzuwirken. Und umgekehrt informiert er durch seine journalistische Arbeit in Pariser Zeitungen die französische Öffentlichkeit über deutsche Geschichte und die gegenwärtige Situation in diesem Land (De l’Allemagne, 1835). Die Überquerung der Grenze zurück nach Deutschland im Jahr 1844 bedeutet vor dem Hintergrund seiner publizistischen Arbeit nichts Geringeres als den Versuch, das Unternehmen der wechselseitigen Erhellung beider Länder einer kritischen Überprüfung zu unterziehen: die Erfahrungen und Ideen von jenseits der Grenze, von Frankreich aus, nach Deutschland zu transferieren und andererseits die politischen und gesellschaftlichen Zustände innerhalb Deutschlands im Licht der in Frankreich gewonnenen Ideen und Zielvorstellungen zu bewerten. Deutschland ist für Heine zu einer Art Projekt geworden, an dem er arbeitet, auch nach einem Dutzend Jahren noch mit deutlich spürbarer Empathie. In einem Anflug von Sentimentalität heißt es gleich zu Beginn des Wintermärchens: Und als ich an die Grenze kam, Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen In meiner Brust, ich glaube sogar Die Augen begunnen zu tropfen.
Doch nur wenige Strophen später verrät der Dichter beim Anblick der Zollbeamten an der deutschen Grenze, dass er sich angesichts der Wirklichkeit in diesem Lande als Ideenschmuggler verstehen muss und will, als Multiplikator der Dreieinheit liberté, égalité, fraternité, die er selbst bereits 1831, bei seiner
14 Heine, Heinrich: Ludwig Börne, S. 53.
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Ankunft in Paris, »an den Straßenecken […] schon wieder abgewischt«15 gesehen hatte. Ihr Toren, die Ihr im Koffer sucht! Hier werdet Ihr nichts entdecken! Die Contrebande, die mit mir reist, Die hab ich im Kopfe stecken!16
Ob Heines publizistisch-journalistische Tätigkeit mit ihren glanzvollen essayistischen Arbeiten oder die versepische Gegenprobe mit dem Titel Deutschland. Ein Wintermärchen – in beiden Fällen ist es die Überschreitung der Grenze, die zu signifikanten Einschätzungen führt. In Ludwig Börne. Eine Denkschrift zieht der Dichter bereits frühzeitig eine vergleichsweise ernüchterte Bilanz seiner frühen euphorischen Stimmung: »Schon die ersten Tage meiner Ankunft in der Hauptstadt der Revolution merkte ich, daß die Dinge in der Wirklichkeit ganz andere Farben trugen, als ihnen die Lichteffekte meiner Begeisterung in der Ferne geliehen hatten.«17 Und dennoch bewahrt er sich, wie das Wintermärchen zeigt, über mehr als zwölf Jahre hinweg seinen revolutionären Weltverbesserungselan: Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten.18
Die Grenzüberschreitung aber und in ihrer Folge die Reise – unter anderem über Aachen, Köln, Hagen, Unna, Münster, Bremen und Hamburg und zurück über Celle, Hannover, Minden, Bückeburg Münster, Hagen, Köln nach Paris – führt ihn durch das Deutschland der 36 Fürstentümer und damit durch eine politische Landschaft, die bestimmt wird durch Ressentiments des Denkens und politische Verwerfungen, durch Überwachung, Unterdrückung und Zensur, und die ideengeschichtlich angefüllt ist mit rückwärtsgewandten Entwürfen und abgründigen Mythologien. Es ist ein »Zukunftsgestank« (Heine), der sich in diesem Lande ausbreitet und den Dichter zu einem vernichtenden Urteil kommen lässt: Was ich gesehn, verrate ich nicht, Ich habe zu schweigen versprochen,
15 Heine, Heinrich: Geständnisse. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Sechster Band. Erster Teilband. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1975, S. 461. 16 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Vierter Band. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1971, S. 577, 579. 17 Heine, Heinrich: Ludwig Börne, S. 60. 18 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen, S. 578.
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Erlaubt ist mir zu sagen kaum, O Gott! Was ich gerochen! – - -19
Heines Grenzerfahrungen tragen zu seiner Skepsis gegenüber den revolutionären Ideen seiner Zeit maßgeblich bei. Bereits sein 1834 in Paris verfasster Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland hatte seiner Vision der Revolution als Apokalypse Ausdruck gegeben, und ebenso hatte er in der Essaysammlung Lutetia 1842 die »Weltrevolution« als eine einzige Bedrohung entworfen: »Wilde, düstere Zeiten dröhnen heran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte, müßte ganz neue Bestien erfinden.«20 Die Erlebnisse und Erfahrungen der mehrwöchigen Reise durch Deutschland führen Heine zu Einsichten, die seiner Desillusionierung im Blick auf seine Heimat Auftrieb geben, seiner literarischen Produktivität aber eine umso größere Energie zuführen. Das Resultat ist der zeitgleich mit Deutschland. Ein Wintermärchen publizierte Zyklus der Zeitgedichte im Band Neue Gedichte (1844), dessen Abschluss das Gedicht »Nachtgedanken« bildet. Die Summe, zurück in Frankreich, lautet: »Denk ich an Deutschland in der Nacht,/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht.«21
IV Es klingt – hat man bestimmte Verse aus Heines Wintermärchen im Ohr – wie ein wohlfeiles Aperçu, dass sich der wichtigste DDR-Grenzübergang von West- nach Ost-Berlin ausgerechnet an der Heinrich-Heine-Straße befand. Fast möchte man von einem subversiven Witz der politischen Geschichte sprechen. Doch lässt sich die dramatische Spannweite der deutsch-deutschen Grenzziehungen adäquat wohl nur dann ermessen, wenn man sie aus der Perspektive eines Autors sieht, der seinerseits ›in Fesseln‹ geschlagen, das heißt: mundtot gemacht wurde und dennoch ›frei‹, will sagen: literarisch äußerst produktiv war. Es ist der – Heinrich Heine so sehr verwandte – Wolf Biermann, der in der DDR die Erfahrung machte: »Hinter jedem Strauch ein Strauchdieb der Stasi, hinter jeder Ecke ein Mörder der Firma Mielke, hinter jedem Freund ein Feind – das ist der Weg in die Klapsmühle.«22 Worum es bei den Grenzziehungen des diktatorischen Sozialis19 Ebd., S. 639. 20 Heine, Heinrich: Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Fünfter Band. Lutetia. Hg. von Karl Heinz Stahl. München: Carl Hanser 1974, S. 407. 21 Heine, Heinrich: Neue Gedichte. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Vierter Band. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1971, S. 432. 22 Biermann, Wolf: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Auobiographie. Berlin: Ullstein Buchverlage 2016, S. 202.
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mus substanziell ging, das hat der rebellische Dichter, just im Rückblick auf Heine und sein Verhältnis zum Kommunismus, präzise pointiert: Die Phantasie des genialen Spötters reichte nicht aus. Nicht einmal der weitsichtige Heinrich Heine konnte sich so was wie einen Archipel Gulag vorstellen: ein Land, in dem 200 Millionen Menschen unter roten Fahnen und sozialistischen Phrasen die Lügenpropaganda der Partei fraßen wie Manna und aus Todesfurcht heuchelten.23
Um wiederholte Spiegelungen handelt es sich auch hier. Das Zitat Heines, die Anspielung auf Alexander Solschenizyn, die persönlichen Erfahrungen des von der Kulturbürokratie erst ein-, dann von der Staatsführung ausgegrenzten Spötters Biermann – es ist die spiralförmig sich fortzeugende Konfliktlinie zwischen Literatur und Politik, in der sich die politische Dimension der Grenzproblematik und mit ihr das Verhältnis von politischer Knechtschaft und literarischer Produktivität zur Geltung bringt. In Biermanns Populärballade heißt es: Die Herren auf dem hohen Stuhl […] Die sitzen gern bequem Drum machten sie das Angebot Ich dürft nach Westen gehen (Ick hör dir trapsen, Nachtigall!) Ach, wär das für die schön! Wenn überhaupt wer abhaun soll Dann solln die selber gehn24
Biermann hat das Wechselverhältnis von Druck und Gegendruck, politischer Unterdrückung und poetischer Opposition immer wieder, nahezu leitmotivisch, zu Poesie werden lassen, exemplarisch in dem Peter Huchel gewidmeten LiedGedicht »Ermutigung«, das in fünf Strophen den Konfliktraum DDR und das Aufbegehren gegen die politischen Be- / Ein- und Abgrenzungen hinter der Mauer bezeichnet: Du, lass Dich nicht verhärten In dieser harten Zeit Die allzu hart sind, brechen Die allzu spitz sind. Stechen Und brechen ab sogleich […] Wir wolln es nicht verschweigen In dieser Schweigezeit Das Grün bricht aus den Zweigen 23 Biermann, Wolf: Heine und Le Communisme. In: »Der Spiegel« 7/2006. 24 Biermann, Wolf: Warte nicht auf bessre Zeiten!, S. 179.
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Wir wolln das allen zeigen Dann wissen sie Bescheid25
Die hier gezeichnete Konfliktlinie zeigt sich auch in Erzählungen Christa Wolfs, und zwar in Gestalt der psychophysischen Reaktionsmuster Krankheit und Tod, welche die zentralen Figuren ereilen: in der Erzählung Der geteilte Himmel (1963) die Protagonistin Rita Seidel, für die der Bau der Berliner Mauer zum Zusammenbruch führt; in Nachdenken über Christa T. (1968) die Titelfigur, deren Isolation zur tödlichen Erfahrung wird; in Kein Ort. Nirgends (1979) die Dichterin Karoline von Günderrode, die sich gesellschaftlich ebenso ausgegrenzt sieht wie Heinrich von Kleist, mit dem gemeinsam sie den Tod sucht. »Das wiegt alles auf: Daß wir uns gewöhnen, ruhig zu schlafen. Daß wir aus dem vollen leben, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben. Als könnte er nie zu Ende gehen«, lautet der Schluss von Der geteilte Himmel.26 »Schreiben ist groß machen«, heißt es in Nachdenken über Christa T.27 »Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt« lesen wir in Kein Ort. Nirgends.28 Es sind die programmatischen Maximen einer Produktionsästhetik zur Bekämpfung des Mangels in einer Situation politischer und gesellschaftlicher Eingrenzung, erfahrbar nicht allein in Haftanstalten. Wolfgang Hilbigs 2021 unter dem Titel »ich unterwerfe mich nicht der Zensur« erschienene Brief-Odyssee durch den Dschungel der politischen Abhängigkeiten und Hierarchien bietet in diesem Zusammenhang anschauliches Material für die Zwänge, denen Autoren in der DDR in räumlicher Hinsicht und auch publikationsstrategisch ausgesetzt waren, Präskriptionen und Restriktionen, denen sie ein Maximum an produktiver Energie abzugewinnen hatten, wenn sie ihrer literarischen Produktion Überlebensfähigkeit sichern wollten. In Briefen an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, an Kulturminister Erich Höpcke oder an den Präsidenten des P.E.N.-Zentrums der DDR, Heinz Kamnitzer, weist Hilbig auf seine »irreversible Angst vor einer mich in der DDR erwartenden Einschlußsituation«29 hin, ein Begriff, der ausdrücklich die räumliche Dimension der Existenz in der DDR mit ihrer »so schwer überschreitbaren Landesgrenze« einbezieht. Es geht Hilbig in erster Linie und in einem ganz konkreten Sinn um die Möglichkeit – oder eben Unmöglichkeit –, die Landes-
25 Biermann, Wolf: Ermutigung. In: Biermann, Wolf: Nachlaß 1. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1977, S. 325. 26 Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. München: dtv 1973, S. 199. 27 Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T.. Neuwied und Berlin: Luchterhand 1971, S. 213. 28 Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1979, S. 148. 29 Hilbig, Wolfgang: »ich unterwerfe mich nicht der Zensur«. Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden. Hg. und kommentiert von Michael Opitz. In: Neue Rundschau. 132. Jg. 2021, H. 2, S. 181.
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grenze zu überschreiten, um in den Westen Deutschlands reisen oder gar zwischen Ost und West dauerhaft frei sich bewegen zu können, weil sich für mich in der Wirklichkeit einer Einschlußsituation, im Festgehaltensein innerhalb unüberschreitbarer Grenzen, keine Wirklichkeitswahrheit […] mehr wird auffinden lassen, es sei denn, diese eine Wahrheit, eingeschlossen, und damit von der Welt ausgeschlossen zu sein. Dies nun ist ein Konflikt, der die Gefahr in sich trägt, daß er Kunst geradewegs verhindert.30
Doch Hilbigs Wahrnehmung seiner »Einschlußsituation« in der DDR lässt sich nicht allein im Licht ethnologischer Liminalitätstheorien, etwa in der Tradition Victor Turners (Betwixt and Between, 1964), im Hinblick also auf entwicklungspsychologische oder Spatialitätsaspekte lesen. Für Hilbig verbindet sich mit der ganz praktisch – eben räumlich – zu verstehenden Möglichkeit einer ungehinderten Mobilität zwischen Ost und West zugleich die weiterführende substantielle Vorstellung einer künstlerischen Produktivität, die der Grenzüberschreitung auch in einem produktionsästhetischen Sinn bedarf, wie er gegenüber dem DDR-Kulturminister Höpcke betont: Diese Grenze ist eine innere Grenze für mich, und ich werde aus Verantwortung für das, was ich noch leisten zu können glaube, nicht aufgeben in dem Versuch, diese Grenze zu überschreiten: allein deshalb, weil aus diesem Konflikt Kunst werden soll. Das Überschreiten von Grenzen ist eine der Voraussetzungen für den Fortgang von Kunst […].31
Nicht weniger deutlich heißt es in einem Brief an den damaligen Präsidenten des P.E.N.-Zentrums der DDR: »Ich hoffe auf Ihr Verständnis zu stoßen, wenn ich sage, daß ein Schriftsteller aus Verantwortung für seine Arbeit sogar die Pflicht hat, seine Grenzen zu sprengen, unbedingt aber das Recht haben muß einen solchen Weg zu wählen, wenn er ihn als notwendig erkennt […].«32 Hilbig versteht seine literarische Arbeit als Rebellion gegen jene Grenzen, die der Staat DDR ihr gesetzt hat. Seine Briefe sind wiederholte Versuche zur Überwindung der räumlichen Grenzen und zugleich mehr als dies: Ausdruck eines künstlerischen Selbstverständnisses, dessen aporetische Konstellation der Autor 1991 in seinem Vorwort zum Roman Fahrwasser. Eine innere Biografie in Ansätzen von Jayne-Ann Igel thematisiert hat: »Die Literatur bezweifelt das Unmögliche, das sprachlos ist, zumindest bezweifelte sie es, als sie begann; mit dem ihr eigenen Atem, der länger ist, zersetzt sie Sprachlosigkeit durch Sprache,
30 Hilbig, Wolfgang, »ich unterwerfe mich nicht der Zensur«, S. 155 (Brief an Kulturminister Wolfgang Höpcke vom 18. September 1985). 31 Ebd. S. 156. 32 Hilbig, Wolfgang: »ich unterwerfe mich nicht der Zensur«, S. 150 (Brief an den Präsidenten des P.E.N.-Zentrums der DDR, Heinz Kamnitzer).
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unterwandert das Unmögliche mit ihren Negationen, widerspricht den Identitäten des Vorgegebenen.«33 Hilbigs Vorwort zu dem Buch eines Dichters, der durch die Infragestellung seiner geschlechtlichen Identität im Begriff war, »eine Grenze zu überschreiten«34 (Hilbig), die nämlich zu einer neuen, weiblichen Körperlichkeit, fasst Hilbigs Bestimmung von »Grenze« in nuce zusammen. Es geht ihm darum, die räumlichen, psychologischen und ästhetischen Voraussetzungen des Schreibens von allen äußeren Zwängen freizuhalten, eine conditio sine qua non seiner Arbeit, ihre existenzielle Voraussetzung, um das Potenzial der Literatur ausschöpfen zu können und das Unsagbare Sprache werden zu lassen: »Die oft gehörte, gute Meinung, daß Literatur sich bis zu Grenzen vorwage, ist ein schlichtes Klischee: die Literatur beginnt auf der Grenze. Oft genug widerspricht sie auch noch solcher Festlegung; in ihren besten Beispielen verkörpert sie geradezu Grenzfälle.«35
V Die bislang genannten Beispiele für literarische Grenzphänomene darf man prototypisch nennen. Homer mit der Urszene der Grenze zum Totenreich, das ›noli me tangere‹ Jesu vor der Himmelfahrt, das Schicksal des eingekerkerten Dichters Christian Friedrich Daniel Schubart, das Unterlaufen der Zensurgrenzen im Dritten Reich durch die historische Camouflage Heinrich Lilienfeins, Heines Ideenschmuggel in Form von »konfiszierlichen Büchern« über die deutsche Grenze und sein desillusionierter Weg zurück, die Wirkung des Grenzregimes auf Christa Wolf und das Aufbegehren hiergegen durch Wolf Biermann und Wolfgang Hilbig – es handelt sich um prototypische Texte, weil sie jeweils unverwechselbare Perspektiven des Phänomens ›Grenze‹ repräsentieren. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, das Potenzial von Grenzerfahrungen poetisch produktiv gemacht zu haben, auf eine Weise, anhand derer sich eine Produktionsästhetik der Liminalität im Sinne Hilbigs entwerfen ließe. Eva Menasses Roman Dunkelblum (2021), auf den vor diesem Hintergrund zuletzt noch hingewiesen sei, unterscheidet sich von solchen Maximen deutlich. Zwar bildet auch hier das Datum einer Grenzüberschreitung par excellence die Handlungsgegenwart, nämlich das Jahr 1989. Doch ist dieser Roman keine Verkörperung eines Grenzfalls, weder in der Person der Autorin noch in seiner Ästhetik. Vielmehr handelt es sich um ein Werk über die Grenze. Der Romantitel 33 Hilbig, Wolfgang: Vorwort, S. 103. 34 Ebd. 35 Hilbig, Wolfgang: Vorwort zu Jayne-Anne Igels »Fahrwasser«, eine innere biographie in ansätzen. In: Essays – Reden – Interviews. Werke. Bd. 7. Hg. von Bong, Jörg/Hosemann, Jürgen/ Vogel, Oliver. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 103.
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benennt einen fiktiven Ort, in dem von Grenzerfahrungen in einer historischen Perspektive die Rede ist. Der Ortsname – in »Wahrheit ist es ein seltener jüdischer Familienname« (Menasse) – besitzt für die Autorin »etwas Poetisches, Geheimnisvolles«.36 Es geht um unaufgeklärte Verbrechen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, um die sogenannten »Endphaseverbrechen«, ein Begriff, der die Massakrierung von Zwangsarbeitern, darunter 30000 Juden, beim Bau des Südostwalls, Hitlers letztem Bollwerk gegen die Rote Armee an der SüdostGrenze des Deutschen Reiches, das sich von den Weißen Karpaten bis zum Fluss Drau erstreckte: Dieser Wall war eine der letzten grandiosen Ideen, die aus dem Führerbunker drangen. Zur Abwehr der Roten Armee wollte man ein Stellungssystem erbauen, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte; die Chinesische Mauer, der römische Limes und knapp dahinter gleich der Südostwall, so ungefähr.37
Die Massaker im März 1945 sind historisch verbunden mit dem Ort Rechnitz, einem Schauplatz von Massenexekutionen, den Eva Menasses Roman in eine »mythische Landschaft« verwandelt, »in der paradigmatisch etwas passiert, das wirklich an vielen Orten geschehen ist«.38 Menasses Werk bietet ein Wechselspiel von Grenzschließungen und Grenzöffnungen, eine gelungene Beschreibung des Aufbruchs von Massenbewegungen und des Ausbruchs aus Völkergefängnissen. Dieser Roman erfüllt eine klassische literarische Funktion: die Aufarbeitung von Geschichte. Hierfür ist er seinerseits exemplarisch.
Literatur Biermann, Wolf: Ermutigung. In: Biermann, Wolf: Nachlaß 1. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1977. Biermann, Wolf: Heine und Le Communisme. In: »Der Spiegel« 7/2006. Biermann, Wolf: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie. Berlin: Ullstein Buchverlage 2016. Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Vierter Band. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1971. Heine, Heinrich: Geständnisse. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Sechster Band. Erster Teilband. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1975. Heine, Heinrich: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In: Sämtliche Schriften. Vierter Band. Hg. von Klaus Briegleb. München: Carl Hanser 1971. Schnell, Ralf: Heinrich Heine zur Einführung. Hamburg: Junius 1996. 36 Menasse, Eva: »Beim Baden sahen wir Wachtürme«. In: »Tagesspiegel« vom 18. August 2021, S. 19. 37 Menasse, Eva: Dunkelblum. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021, S. 84f. 38 Menasse, Eva: »Beim Baden sahen wir Wachtürme«, S. 19.
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Ralf Schnell
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Paweł Zimniak (Zielona Góra)
Grenzen und Entgrenzungen. Strukturalistisch-konstruktivistische Gedankengänge
Grenze als Semantisierungsprozess Halt! Stopp! Grenze! Zutritt verboten! Die Frage nach der ›Macht des Wortes‹ funktioniert nicht nur als eine Frage nach der Substanz der semantisch kreierten ›Wahrheiten‹, sondern auch als eine Frage nach den bestehenden Machtverhältnissen unter kommunikativ beteiligten ›Akteuren‹. Mit Aufforderungen, Geboten und Verboten dieser Art konfrontiert, zuckt der Mensch zusammen. Im Angesicht eines ›Grenzregimes‹ wird sofort eine bestimmte Gefühls- und Stimmungslage erzeugt. Man befindet sich auf einmal in einem hochgradig atmosphärischen Raum und in einem spezifischen Kommunikationsraum, zu dem auch eine merkliche Militarisierung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Sprache gehört. Der Betroffene nimmt wahr, dass er sich in ein Sperr- und (Hoch)Risikogebiet, in eine richtige Sperr- und Gefahrenzone begeben hat. Die ›organisierende Kraft‹ der Grenze besteht darin, dass sich Fronten bilden und Ungleichgewichte auffallen, denn Grenzen werden in ihrer abschreckenden Form selten zwecklos markiert oder gezogen. Grenzenverantwortende Machthaber betonen in ihren medial inszenierten Auftritten die Notwendigkeit der Grenze. Man könnte in solchen Fällen von einem Sicherungsdispositiv sprechen, denn scharfe Grenzziehungen werden als vernunftgeleitetes, strategisches und nutzenorientiertes Handeln hingestellt. Ihr feindbildproduzierender, menschenfeindlicher bzw. menschenverachtender Zwangscharakter wird dabei bewusst heruntergespielt. Die auf den Plan gerufenen ›Grenzhüter‹ oder Grenzverteidiger werden zum Zweck einer Systemstabilisierung und einer systemischen Absicherung eingesetzt und ›heroisiert‹. Sie haben dafür Sorge zu tragen, dass jegliche Grenz- und Ordnungsverletzung verhindert oder behoben wird, und sind berechtigt, ihren Macht- und Kontrollanspruch jederzeit – oft ohne Rücksicht auf Verluste – durchsetzen. Der ›wahre‹, sich um nationale Belange herumkristallisierende Patriotismus muss nämlich in der Geschichte ›großer Nationen‹ auch an bestimmte ›Heldentaten‹, die ein Identifikationsangebot darstellen (sollen), gekoppelt werden.
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Eine sichtbare und zu schützende territoriale Grenze besitzt u. a. die Funktion, Energien freizusetzen, die zentripetal wirken und den nationalen Zusammenhalt fördern. Ob das ›Hissen der Flagge‹ als eine Art Selbstbezüglichkeit und Selbsterhebung – man könnte dies auch ein Setzen von grenzmarkierenden ›Duftmarken‹ bezeichnen – allgemeine Anerkennung oder Verkennung findet, bleibt allen diesen Akt wahrnehmenden Beobachtern überlassen. Sie entscheiden deshalb darüber, ob durch eine sichtbar verstärkte Grenze nach außen wirklich die Einheit nach innen gesteigert wird. Nichtsdestotrotz bieten gutbewachte Landesgrenzen als Territoriumsgrenzen ein Terrain für das Erbringen eines Beweises für die Unerschütterlichkeit der nationalen ›Hardpower‹ und die Wirklichkeit der Selbstbehauptung. Systemkritische Distanz ist dabei meistens unerwünscht. Grenzen sind immer eine sinnstiftende Gegenwartsaneignung. Wenn man sich ihrer territorialen, national-ethnischen, kulturell-zivilisatorischen, politisch-weltanschaulichen, materiell-sozialen, religiös-konfessionellen, zeichenhaft-symbolischen, geistig-mentalen, kognitiv-emotiven, disziplinären, generationellen, geschlechtlichen, moralischen, rechtlichen, körperlichen und sogar physikalisch-technischen Existenz bewusst wird, weiß man dann auch, in welchem Rahmen man sich bewegt. Laut Bernhard Waldenfels darf man davon ausgehen, dass »jede Kultur, Gesellschaft, Lebenswelt oder Lebensform sich in bestimmten Grenzen bewegt, daß aber der Umgang mit den Grenzen, der ständig von einer Grenzpolitik begleitet wird, erheblich variiert.«1 Der Umgang mit Grenzen verrät einiges über die geistige Konstitution und weltanschauliche Orientierung von Individuen und Kollektiven, von individuellen und kollektiven Entscheidungsträgern, deren Positionen Offenheit oder Geschlossenheit fördern können. Auch Grenzen selbst sind nicht nur im Plural gebräuchlich, sondern auch in ihrer Bedeutungsvielfalt: Es gibt nicht nur eine, sondern viele; letztlich so viele, wie menschliches Leben sich in unterschiedlichen Dimensionen vollzieht: religiös, politisch, ethnisch, generationell, geschlechtlich, lokal etc. Solche differenzsetzenden Grenzen können und müssen gelegentlich aufgehoben werden, z. B. in festlichen Veranstaltungen wie einer Verbrüderung, in Rausch und Ekstase, in Saturnalien, ästhetischer Erfahrung und anderen Praktiken der Entgrenzung. Im normalen Vollzug des menschlichen Lebens bleiben freilich Grenzen und Differenzen eine bestimmende und oft sehr mächtige, über Leben und Tod entscheidende, kulturelle Größe. Kulturelle Identität beruht auf einer solchen Grenzziehung. Sie legt eine Zugehörigkeit fest, die auf gemeinsamen Grundüberzeugungen, Traditionen, Wertsystemen, mentalen Dispositionen, bewussten Vereinbarungen, kurz: auf all dem beruht, was man eine kulturelle Lebensform nennt.
1 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. 4. Aufl., Frankfurt (M.): Suhrkamp 2012, S. 16.
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Jenseits dieser Grenze leben »die Anderen«. Die kulturelle Konstitution des Eigenen ist zugleich immer auch, oft implizit, eine Konstitution des Andersseins der Anderen.2
Obwohl es Situationen gibt, in denen Grenzen überwunden und überschritten werden und somit an ihrer differenzbildenden Wirkung verlieren, kann ›Entgrenzung‹ kaum als Heilmittel der Menschheit und Synonym der Menschlichkeit verwendet und verherrlicht werden. Grenzziehungen sind deshalb nicht nur einseitig als Beschränkung oder Beschneidung von Vielfalt, Kontingenz und Ambiguität aufzufassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund gelten Grenz- und Ordnungsverletzungen unter Umständen als störende, ›stabilitätsgefährdende‹, feindselige und schädliche Aktivitäten, denen unbedingt Einhalt geboten werden muss. Zur Überwachung der Grenze werden nicht nur schwer bewaffnete Grenzsoldaten, Söldner oder Warlords abkommandiert, sondern es gehören auch bestimmte Grenzanlagen dazu. Grenzerfahrungen der Menschheit – sie sind von Schmerzerfahrungen nicht zu trennen – schließen Repressions- und Bewachungsmaßnahmen des Staates, hochgezogene Betonmauern, Stacheldraht, Wachtürme, kläffende Schäferhunde, Selbstschussanlagen, Schießbefehl und Todesstreifen ein. Grenzen dieser Art werden immer instrumentell bzw. instrumentalistisch eingesetzt, sie besitzen aber auch eine zeichenhafte Funktion. Bedenkt man den menscheneigenen Drang nach Grenzüberschreitung und -überwindung muss eine solche (Aus)Rüstung auch in den Kontext kontrollillusionärer Maßnahmen gerückt werden, aber die territoriale Grenze zeigt sich dann in ihrer ganzen Deutlich- und Sichtbarkeit. Sie wird nicht nur zur militärischen Drohkulisse, sondern auch zur harten oder scharfen bzw. ›heißen Grenze‹ im Sinne einer richtigen Kampfzone mit der Möglichkeit einer wirklichen Intervention im anderen Teilraum.3 Grenzbewacher fungieren in solchem Kontext keinesfalls als Repräsentanten nationaler oder supranationaler ›Softpower‹ – sie kommt beispielsweise bei weichen Grenzen des Schengenraums zum Tragen –, sondern sie werden in einen identitären Sinnstiftungsprozess eingebunden. Man denke nur an die innerdeutsche und innerkoreanische Grenze, an die Grenze zwischen Israelis und Palästinensern, die texanisch-mexikanische oder polnisch-weißrussische bzw. belarussische Grenze. In ihrer stacheldrahtartigen Sichtbarkeit sind solche Grenzräume Nahtstellen zwischen zwei Systemen und als solche nicht zu übersehen. Sie stechen ins Auge und ragen furchund angsteinflößend in die Höhe, sind stumme, menschenverachtende Zeugen 2 Rüsen, Jörn: Kulturelle Identität in der Globalisierung – Über die Gefahren des Ethnozentrismus und die Chancen des Humanismus. In: Gunsenheimer, Antje (Hg.): Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation. Bielefeld: transcript 2015, S. 49–54, hier S. 49. 3 Vgl. z. B. Conrad, Benjamin: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa). Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014.
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einer geteilten und gespaltenen Welt, Zeugen menschlicher Brutalität und Unversöhnlichkeit, wenn berittene Polizeieinheiten arme und schutzsuchende Menschen zurückdrängen. Asymmetrische Verhältnisse sind dabei einprogrammiert. Nach Jurij M. Lotman wird die Grenze »zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes. […] Sie teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume«, weil die Handelnden »einem bestimmten Raum fest zugeordnet« sind.4 Aus dem strukturalistisch-konstruktivistischen Ansatz ist eine Binarität von Ordnungen und ihren Repräsentanten nicht wegzudenken: Grenzer und Grenzverletzer, Inund Ausländer, Freunde und Feinde, Leidende und Leidzufügende, Lebende und Tote. Mit klassifizierenden bzw. klassifikatorischen Grenzziehungen wird der »Charakter der semantischen Opposition und das Wesen der Grenze prädeterminiert. Sie legt das ganze System fest […].«5 Zwei disjunkte Teilräume funktionieren als voneinander abgegrenzte, getrennte Bereiche, in denen die ›Spielregeln‹ jeweils anders aussehen. Jede Grenzziehung schließt aber auch die Frage nach der Dauerhaftigkeit des Bestehens von Grenzen und ihrer Durchlässigkeit. Oder anders: Gelten die markierten oder gezogenen Grenzen – auch wenn mit ihnen hermetische Abriegelung und totale Kontrolle angestrebt werden – wirklich als unüberschreitbar oder unüberwindlich? Diese Fragestellung verbindet sich mit zur Verfügung stehenden wirklichen Handlungsspielräumen, mit der wirklichen – und nicht imaginären – ›Aktionsmacht‹ der betroffenen Akteure. Wenn grenzüberschreitend ein anderer Teilraum betreten wird – man kann in ihn selbstverständlich auch mit Gewalt eindringen –, wird dabei nicht nur die bestehende Ordnung verletzt, sondern die jeweilige Raumordnung unterliegt zugleich einer Veränderung: »In dem Maße, in dem Individuen aufgrund verschiedener Gruppenbezüge auch diverse kollektive Identitäten ausbilden, unterliegt die Grenze zwischen Eigenem und Fremden, also zwischen Identität und Alterität, ständigen Verschiebungen und Überlagerungen.«6 Grenzüberschreitungen sind also in dem Sinne Ordnungsverletzungen – sie können auch mit aller Härte des Gesetzes und der justiziellen Verfolgung geahndet werden –, als sie Verschiebungen, Überlagerungen und Veränderungen von Grenzen sowie eine Entstehung von ›Schwellen-‹ bzw. ›Grenzexistenzen‹ ermöglichen. Es macht zusätzlich einen Unterschied, ob der Grenzüberschreiter ›einer von uns‹, d. h. ein Mitglied der eigenen Gruppe, oder ein Fremder ist. Lotman spricht in diesem Fall 4 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 2. Aufl., München: Wilhem Fink Verlag 1986 [1972], S. 327. Vgl. auch: Fludernik, Monika: Grenze und Grenzgänger: Topologische Etuden. In: Fludernik, Monika/Gehrke, Hans-Joachim (Hg.): Grenzgänger zwischen Kulturen. Würzburg: Ergon Verlag 1999, S. 99–109. 5 Ebd., S. 344. 6 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of Memory«. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2005, S. 80.
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von der »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.«7 Hat ›einer von uns‹ »die Grenze überwunden (eine Mauer überstiegen, eine richtige Grenze überschritten, sich ›wie die da‹ angezogen, angefangen ›nicht wie unsereiner‹ zu sprechen […])«8, kommen differenzierte Deutungsmöglichkeiten der vollzogenen Grenzüberschreitung ins Spiel: Der Grenzüberschreiter ist ein ›Held‹, den es zu bewundern gilt, weil er sich bei hoher Risikobereitschaft ohne Rücksicht auf Verluste besonders hervorgetan und sein Vorhaben vollständig realisiert hat. Bei der Bewertung des Vollzugs einer Grenzüberschreitung und der Zielrealisierung greifen die Parameter ›möglich vs. unmöglich / teilweise möglich‹ und ›vollständig vs. unvollständig‹. Die Grenzüberschreitung bedeutet darüber hinaus nicht nur Vorteile für den grenzüberschreitenden ›Helden‹, sondern möglicherweise auch für die eigene Gruppe. In diesem Fall könnte ihr sogar das Attribut ›höherrangig‹ zuerkannt werden. Auch wenn der mehr oder weniger heldenhafte Grenzüberschreiter bei seinem Versuch einer Grenzüberschreitung oder einer Grenzverletzung scheitert oder stirbt, kann er immer noch wegen seiner (ruhmreichen) Tat sowohl von Mitgliedern der Eigengruppe als auch von Fremden gerühmt werden. Wenn eine Grenzüberschreitung mit einer ›verbrecherischen‹ Tat, mit der Tat eines Übeltäters oder einer Tat jenseits der standardisierten Erwartungshaltung zusammenhängt, ist man eher geneigt, ein ›Auge zuzudrücken‹ bzw. entsprechende Rechtfertigungsstrategien in Gang zu setzen, wenn der Grenzüberschreiter – wie es Lotman formuliert – ›einer von uns‹ ist. Ein Fremder wird in solcher Situation viel härter ins Gericht genommen. Nicht ohne Bedeutung scheint bei der Bewertung der Grenzüberschreitung sowohl die Eigenperspektive des Grenzüberschreiters – sie hängt mit der wahrnehmungssinnlichen Subjektivierung des Eindrucks – als auch die Fremdperspektive seiner Beobachter zu sein.9 Es macht nämlich einen Unterschied, ob sich nach der vollzogenen Grenzüberschreitung bei dem Grenzüberschreiter und seinen Beobachtern ein positiver emotionaler Gefühlshaushalt entwickelt, oder eben nicht. Grenzüberschreitungen gehören nach Lotman zum Sujethaften und sind Ereignisse, die einen restitutiven oder revolutionären Charakter besitzen.10 In diesem Kontext könnte auch das Gegensatzpaar ›reversibel vs. irreversibel‹ gebraucht werden. Bei der Bewertung, ob eine Grenzüberschreitung als restitutiv oder revolutionär einzustufen ist, spielt der Erfolg als Parameter eine Rolle. Sinnbildlich formuliert: Wenn der Ausbruch eines Häftlings aus dem Gefängnis 7 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 332, Hervorhebung im Original. 8 Ebd., S. 339. 9 Vgl. Zimniak, Paweł: (Lebens)Raumfluktuationen. Soziale und psychische Systeme im Angriffs- und Übergangsmodus. In: Szmorhun, Arletta/Kotin, Andrey (Hg.): Fremdes zwischen Teilhabe und Distanz. Fluktuationen von (Nicht-)Zugehörigkeiten in Sprache, Literatur und Kultur. Teil 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, S. 15–27. 10 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 339, 342.
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als grenzüberschreitendes Handeln nicht mehr rückgängig gemacht wird, d. h. wenn der flüchtige Betroffene nicht gefasst und erneut hinter Gitter gebracht wird, ist diesem Ereignis – »[e]in Ereignis ist somit immer die Verletzung irgendeines Verbotes, ein Faktum, das stattgefunden hat, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen«11 – eine revolutionäre Komponente inhärent. Wird die Flucht nicht von einem Erfolg gekrönt, wird im restitutiven Sinne die alte Ordnung wiederhergestellt. Das Leben an der Grenze und in Grenzsituationen – wortwörtlich und metaphorisch – ist also keinesfalls durch Bewegungslosigkeit und Stagnation gekennzeichnet, sondern es gestaltet sich eben als eine ständige Gratwanderung, bei der ein Absturz immer einkalkuliert werden muss. Nicht zuletzt auf diesen Umstand ist ein starker Grad an ›Ereignishaftigkeit‹ von Grenzexistenzen zurückzuführen. Durch die ›Ereignishaftigkeit‹ von Lebensabläufen bekommen menschliche Existenzen eine turbulente, spannungsvolle und dramatische Dimension, sie werden besonders und bemerkenswert. Zu ereignishaften Erfahrungen von Grenzüberschreitungen gesellen sich auch ereignishafte Erkenntnisse und affektiv-emotive Ereignisse im Sinne von Spannungsaufbauprozessen, heftigen Gemütsbewegungen, Gefühlsaufwallungen und Erregungszuständen, Zuständen außergewöhnlicher innerer Angespanntheit, entwickelten Leidenschaften und Exaltationen. Dynamiken von Grenzziehungen und damit verbundenen Grenzsituationen beinhalten einen hohen Emotionsgrad, oder anders formuliert: Wird der Mensch dazu gezwungen, seine Existenz in Grenzräumen zu fristen – auch wenn solche Zwangssituationen keinen Dauerzustand bedeuten – muss er ständig auf der Hut sein, mit Bedrohungssituationen rechnen, Risiken und Verluste irreparabler Art einkalkulieren. Er kommt nicht zur Ruhe, und der Lebensentwurf gleicht einem ›Stand-by-Betrieb‹, einem Leben auf Abruf, denn ein Leben in Grenzräumen geht nicht selten mit dem Gefühl einher, ›deplatziert‹ zu sein, sich am falschen Ort zu befinden. Das Verbleiben in Räumen mit manifesten scharfen Grenzziehungen und Distinktionen heißt zugleich, sich auf einen Konfrontationskurs mit Mächtigeren einzulassen. Raumprofite und Situationsrenditen erwachsen dann aus der Ferne zu solchen Orten.
Exemplarische ›Grenzgänge‹ Es gibt »keine Phänomenologie der Grenze, ohne daß diese an ihre eigene Grenze gerät. Ein Denken der Grenze ist immer auch ein Denken an der Grenze oder auf der Schwelle […] als radikalisierte Besinnung auf eine Räumlichkeit, die sich von einem bevorzugten Hier aus entfaltet, sei dieses Hier unser Leib, unser Haus, 11 Ebd., S. 336.
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unser Land, unser Kontinent oder schließlich unser Planet […].«12 An die eigenen Grenzen geraten die Menschen nicht nur bei ihren kognitiv-emotiven Aneignungsversuchen komplexer Wirklichkeiten – man könnte in diesem Fall von Grenzen der Erkenntnis und Grenzen einer ›emotiven Domestizierung von Räumen‹ sprechen –, sondern auch bei jedem Absolutheitsanspruch revolutionärer Weltveränderungs- oder Weltverbesserungsideen. Nichtsdestotrotz ist die Bereitschaft zum ›Grenzgängertum‹ eine wichtige Voraussetzung für kognitivemotive Metamorphosen. Nur im Austausch mit anderen werden Wandlungsprozesse in Gang gesetzt. Der Mensch neigt jedoch dazu, von einem bevorzugten Hier aus zu argumentieren. Mit dem bevorzugten Hier wird zugleich ein mehr oder weniger zugängliches Dort vorausgesetzt. Die Grenze zeigt sich dann als eine Grenze der Vertrautheit. Grenzen – beispielsweise »Grenzen zwischen kultureller Majorität und Minorität«13 – sind in diesem Kontext zweifelsohne ein ›Regulationsinstrument‹ für Stimmungslagen und die Erzeugung von atmosphärischen Räumen. Sie bilden ein Organisationsraster für das Beziehungsdenken, auch für das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Kulturen – und dazu gehört auch die Alltagskultur des Umgangs miteinander –, denn auch das Vertrauen und sein Fehlen ist die Realität des Erlebens von Grenzen und Grenzüberschreitungen: »Wer Moral einfordert, muß sie auch für sein eigenes Verhalten gelten lassen.«14 Fälle der Pädophilie in der Kirche sind keineswegs zu tolerieren und entschieden zu bekämpfen, politische Gegner sind nicht mundtot zu machen, hart arbeitende Menschen steuerlich wie eine Weihnachtsgans auszunehmen, Mädchen und Frauen von der Bildung abzuschneiden, ›Funkinnen‹ auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, Ehebrecherinnen zu steinigen, Flüchtlinge und Migranten zu einer Grenzexistenz in einem kalten herbstlichen Wald zu verdammen etc., denn es sind alles Formen einer moralischen Verfehlung. Es gibt also eine Grenze zwischen verschiedenen Manifestationsformen der Menschlichkeit bzw. Humanität und der menschlichen Gleichgültigkeit sowie der Anmaßung, ›Gott zu spielen‹. Sie wird oft erst im Handeln sichtbar, wenn ein angefahrener Hund von einem Autofahrer einmal gerettet und ein anderes Mal abseits am Straßenrand liegen gelassen wird, oder wenn eine bettelnde ältere Rollstuhlfahrerin von einem wohlhabenden Mann keines Blickes gewürdigt wird oder schäbige Almosen in die Hand gedrückt bekommt. Aus der ›Werkzeugkiste‹ können noch weitere Beispiele für die Grenze zwischen menschenfreundlicher Empathie und vernunftgeleiteter Kaltherzigkeit hervorgeholt werden: Können Menschen beispielsweise als illegal gelten? Trägt eine solche Einstufung nicht Züge einer 12 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. 5. Aufl., Frankfurt (M.): Suhrkamp 2013, S. 28, Hervorhebungen im Original. 13 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration, S. 111. 14 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2015, S. 242.
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menschenfeindlichen und menschenverachtenden Behandlungsweise? Sollten solche ›Illegalen‹ ohne Rücksicht auf Differenzen ihrer ›Illegalität‹ in Grenzräumen menschlichen Elends von der jeweiligen politischen Dominanzkultur schroff abgewehrt, schnellstens deportiert oder abgeschoben werden, weil sie stören, die einheimische Bevölkerung ›überfremden‹, kontinuierlich Angst erzeugen und Wähler mobilisieren, die mit ihren Stimmen als populistisch gewertete Parteien erstarken lassen? Das Werk Frankensteins, die Kryonik oder die Erschaffung der japanischen Androidin Erica sowie Gehirn-ComputerSchnittstellen können hingegen als ›wissenschaftliche Grenzüberschreitungen‹ und ›Grenzverletzungen‹ gelten, durch die sich der Mensch möglicherweise auch selbst ein Bein stellt oder über sie stolpert. Grenzen als Organisationsraster für das Beziehungsdenken werden darüber hinaus ständig auch diskursiv verhandelt und ausgehandelt. Nimmt man das Prinzip der politischen Korrektheit als Beispiel, ist es eine Grenze zwischen dem spezifischen und generellen Verbot und der Möglichkeit einer freien Meinungsäußerung, oder anders: zwischen der äußeren ›Zensur‹ und der Selbstzensur. Diskursteilnehmer werden begrenzt – Sperrung von Accounts mit mainstreamabweichenden Inhalten in sozialen Netzwerken durch mächtige Medienkonzerne als Beispiel – und sie begrenzen sich selbst in ihrer eigenen Gedanken- und Gefühlswelt aus Angst, negativ aufzufallen.15 Michel Foucault macht mit folgenden Worten auf diskursive Grenzen und Gefahrenzonen aufmerksam: »Offensichtlich ist der Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem die Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befriedet, vielmehr ist er ein bevorzugter Ort, einige ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten.«16 Die bedrohlichsten Kräfte des Diskurses reiben sich an der Grenze zwischen Inklusion und Exklusion. Für eine Grenzziehung zwischen Inklusion und Exklusion zeichnet die Regulierung des ›Wer‹, des ›Was‹ und ›Warum‹, des ›Wie‹ sowie des ›Wann‹ und ›Wo‹ verantwortlich. Es wird verhandelt und ausgehandelt, wer legitimiert ist, welche Inhalte mit welcher Begründung und in welcher Form der jeweils zulässigen Aussagen zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort zur Sprache zu bringen und sich somit in ein bestimmtes diskursives Feld einzumischen. Oder anders: Welcher Diskursteilnehmer ist mit welcher Begründung berechtigt, sich zu bestimmten Sachverhalten an einem geeigneten Ort zur angemessenen Zeit auf eine bestimmte Art und Weise zu äußern, und welcher Diskursteilnehmer ist – aus welchen Gründen auch immer – von diskursiven Verhandlungen ganz ausgeschlossen, d. h. nicht 15 Vgl. Zimniak, Paweł: Eigenes und Fremdes als ›Reibungsflächen‹ des sozialen Raumes. In: Feliszewski, Zbigniew/Blidy, Monika (Hg.): Fremdheit – Andersheit – Vielheit. Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur. Berlin: Peter Lang 2019, S. 15–28. 16 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt (M.): Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 11.
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mal zuschauen und schweigen darf. Das diskursive Begehren, so zu sprechen, ›wie einem der Schnabel gewachsen ist‹, wird auf diese Weise an die Kandare genommen. Die rote Linie als Grenze geht mit dem Selbstverzicht und einem durch diskursives Außen erzwungenen Verzicht einher. Die Volksverhetzung mit demagogischen Reden gegen Migranten, Homosexuelle und Dunkelhäutige wird beispielsweise nicht nur diskursiv, sondern auch rechtlich geahndet. Nicht nur diskursive, moralische und rechtliche Grenzen – manche von ihnen sollten, dem aufweichenden Liberalismus und Relativismus zum Trotz, wirklich unverhandelbar bleiben – werden ständig sondiert bzw. ausgelotet, fallengelassen und verschoben, sondern auch beispielsweise Grenzen zwischen dem Erinnern, Vergessen und Verdrängen, was Birgit Neumann »Grenzen der retrospektiven Sinnstiftung«17 nennt. Sie verbinden sich bei einer solchen Betrachtungsweise mit bestehenden Machtstrukturen, verfolgten Erinnerungsinteressen und normativen Hierarchisierungen. Es geht dabei darum, »die gesellschaftlich etablierte Grenze zwischen Erinnern und Vergessen in Frage zu stellen und die vermeintlich einzige hegemoniale Vergangenheitsdeutung kritisch zu perspektivieren.«18 Auf der Gegenwartsebene der polnischen Erinnerungskultur sind es zum Beispiel »verstoßene Soldaten« als neue Helden Polens und doppelte Opfer des sowjetischen Terrors und des (Ver)Schweigens, die als nationale Konstituenten der postkommunistischen Erinnerungskultur aus dem ›schwarzen Loch des Vergessens‹ immer wieder hervorgeholt werden.19 Aus dem Schattenreich der Toten und der Totgemachten haben sie durch einen Paradigmawechsel in der Erinnerungspolitik die Grenze in das ›Reich der Lebenden‹ überschritten. Nicht zuletzt gilt auch der eigene Körper als eine wichtige ›Grenzinstanz‹: »Streng wird überwacht, was in ihn eindringen darf und was nicht. Deshalb sind die Fälle verdorbener, vergifteter und manipulierter Nahrung so mühelos politisier- und skandalisierbar […].«20 Die eigene Körpergrenze ist eine schützenswerte Verteidigungszone. Wird sie mit Gewalt überschritten, kommt es zu irreparablen psychischen und physischen Schädigungen und Verlusten. Dies zeigt sich exemplarisch durch langanhaltende und schwer heilbare Traumatisierungen – Opfer sexuellen Missbrauchs als Beispiel – und Fälle posttraumatischer Belastungsstörung nach erfolgten Kriegseinsätzen. Dabei gilt die physische Haut als ›Grenze des Körpers‹ bzw. ›Grenzfläche‹:
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Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration, S. 205. Vgl. ebd., S. 113. S´wider, Małgorzata: »Verstoßene Soldaten«. Die neuen Helden Polens als politischer Mythos der Republik. In: Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hg.): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Bielefeld: transcript Verlag 2017, S. 119–138, hier S. 120. 20 Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2006, S. 293.
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Der Körper erscheint als Raum, weil er zwar durchlässige, aber doch feste, bestimmbare Grenzen hat. Mit der Haut als Hülle, die alle Organe, Muskeln, Knochen, Venen usw. umspannt, steht und fällt die Vorstellung vom Körper als Gefäß, dem etwas entweichen und in das etwas hineingegeben werden kann. Es ist die Haut, die als ›Grenzfläche‹ innen und außen voneinander scheidet. Sie ist gewissermaßen der Schauplatz, an dem sich der – höchst gefährliche, möglichst kontrollierte – Austausch mit der Umwelt ereignet.21
Markus Schroer stellt die Haut als Grenze und Kontaktzone zwischen dem Inneren des menschlichen Körpers und der Außenwelt dar, »an der schon der Säugling lernt, wo er beginnt und wo er endet. Sie ist aber Grenze im umfassenden Sinne: Sie dient nicht allein der Abgrenzung nach außen, sondern ist auch der Ort des Austauschs mit der Umwelt.«22 Durch den Kontakt giftiger Substanzen mit der Haut und ihr Eindringen in den Körper kann großer Schaden angerichtet werden. Angriffe auf die Grenze des eigenen Körpers – sie ist keine undurchlässige Barriere, kein unüberwindbares Bollwerk – können mehr oder weniger erfolgreich durch Einsatz von Pfeffersprays, Tränengaspistolen oder Elektroschockern abgewehrt werden. An der Grenze zum eigenen Körper sollten auch Viren, Keime, Dioxine und Gifte als »illegale Einwanderer« keinen Einlass bekommen.23 Müssen Abwehrmechanismen verschiedener Art aktiviert werden, wird die eigene Körpergrenze zur heißen Verteidigungszone. Bewaffnete Konflikte, mithin auch Bürgerkriege, machen sie besonders fragil. Der chemische Kampfstoff Sarin – menschenfeindlich-verbrecherisch von Autokraten und Diktatoren in Krisenregionen wie dem Irak und Syrien gegen die eigenen Landsleute eingesetzt – ist ein stiller, heimtückischer Feind eines jeden Körpers. Wasserlöslich, farb-, geruch- und geschmacklos kann das Nervengas durch Einatmen oder Hautkontakt ins Körperinnere gelangen. Nervenschädigende Wirkung zeigt sich durch Atem- und Sehstörungen, starke Kopfschmerzen und Nasenbluten, Übelkeit und Erbrechen, Muskelzuckungen und tödliche Krämpfe, Bewusstseinsverlust und Kollaps des ganzen Körpers bis hin zum Tod. Die natürlich vorgegebenen (Körper)Grenzen werden auch durch Transplantationen, Amputationen und Prothesen als ›Körpermodifikationen‹ überschritten.24 Der Erfahrung von Begrenztheit wird ein Ende gemacht. Fettabsaugen, Haut-Lifting und Spritzen von Dopingmitteln – nicht nur Profis sind ›Grenzgänger‹ und wollen ihre Schmerzschwelle ausloten und an ihre Schmerzgrenze gehen – bedeuten ebenfalls ›Eingriffe hinter die Haut‹. Mit Röntgendiagnostik, Ultraschall und Computertomografie wird das Innere des Körpers sichtbar gemacht, und
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Ebd., S. 290. Ebd., S. 285. Vgl. ebd., S. 294. Vgl. ebd., S. 292.
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der Mensch erfährt, »was sich hinter der Hautgrenze abspielt.«25 Der ›gläserne Mensch‹ wird somit immer mehr perfektioniert. »Wer sich in der geläufigen Begriffsgeschichte umschaut, wird bei dem Begriff der ›Grenze‹ kaum auf das Phänomen der Ein- und Ausgrenzung stoßen, sondern vorwiegend auf das der Abgrenzung.«26 Diese Diagnose von Bernhard Waldenfels könnte noch um das ›phänomenale‹ Defizit von Entgrenzung ergänzt werden. Nichtsdestotrotz hängen all diese Phänomene auch mit Überlappungen, Durchgangszonen und Übergängen, mit dem Fallen und Flüssigwerden der Grenzen sowie der Möglichkeit der Entstehung von Zwischenräumen und Schwellenexistenzen zusammen, was aber nicht heißt, dass eine Lockerung der Raumordnung unter allen Umständen als kostbares Gut dargestellt werden kann. Grenze ich mich ein, muss es nicht unbedingt heißen, dass ich mich physisch ein- oder umzäune, indem ich mich mit einem Zaun umschließe, eine Mauer hochziehe oder als Bunkerbewohner drei Stockwerke unter die Erde ziehe, weil ich Angst vor dem endgültigen Verrücktwerden der Welt und ihrem baldigen Zusammenbruch habe. Es muss auch nicht bedeuten, dass ich durch mein ›eingrenzendes‹ Handeln einen ›guten‹ Anderen benachteilige, indem ich ihn aus meinem Wahrnehmungskreis ausschließe oder ihn aus meinem Betätigungsbzw. Wirkungsfeld ausgrenze. Und auch scharfe Grenzziehungen und Trennlinien müssen nicht unter allen Umständen zugunsten ›milder‹ Übergänge und Zwischenräume aufgegeben werden. In der Sorge um das eigene Wohlbefinden können Türriegel und Sicherheitsschloss – selbstverständlich auch metaphorisch gemeint – durchaus helfen. Leben heißt schließlich, eine ständige Bewegung von Öffnung und Schließung zu akzeptieren. Es tut manchmal not, einen zudringlichen und störenden Anderen auszugrenzen, indem man sich ›verriegelt‹ und dem Unruhestifter oder Störenfried Einlass verwehrt. Auch beim Schließen von Bekanntschaften und Freundschaften wird beispielsweise in Abhängigkeit von der gewollten Qualität der Bindungsligaturen und der eigenen Erfahrungswelt über Einlass und Ausschluss entschieden. Werden Grenzen gezogen, werden mit ihnen zugleich Zugehörigkeiten markiert. Grenzziehungen gehören deshalb zum relationalen Raumverständnis. Bei einem ›Miteinander‹ verläuft die Grenze anders als bei einem ›Nebeneinander‹ oder einem ›Gegeneinander‹. Nicht zuletzt aus diesem Grunde können wir »einen verstärkten Bedarf an Grenzbildungen beobachten, der in der Tendenz zur Abkapselung, zum Einigeln, zum Cocooning kulminiert, die sich an räumlichen Gegebenheiten ebenso beobachten lässt wie an bestimmten Körperpraktiken«27, Verhaltensweisen und ›Lebensphilosophien‹. Die persönlich bewusst 25 Ebd., S. 286. 26 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, S. 29, Hervorhebung im Original. 27 Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen, S. 292.
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aufgebauten Grenzen strukturieren Kommunikationsräume und Interaktionsabläufe. Öffnungsbreite und Zugangsmöglichkeit werden geregelt. Sozialen Kontakten wird auf diese Weise ein individueller Stempel aufgedrückt. Es ist ein Resultat der evolutionistischen Vorstellung von sich selbst, von den eigenen Bedürfnissen, Erwartungen, Wünschen und Sehnsüchten. Die eigene Existenz ohne Entfremdung bedeutet schließlich auch ein Sich-selbst-(Er)Leben und ein Sich-selbst-Empfinden. Dabei können durchaus diejenigen ausgebootet werden, die mit einem hohen Irritationspegel verbunden werden. Zu einem persönlichen Grenzaufbau kommt es auch dann, wenn der Andere als Gefahr oder Bedrohung wahrgenommen wird und der Kontakt mit ihm ein mögliches Verlustgeschäft bedeutet. Grenzbildende Ausschlusspraktiken sind nämlich auch auf die ›Eigengesetzlichkeit‹ als individuelle Empfindlich- und Verletzlichkeit zurückzuführen. Der Grenzaufbau verläuft in diesem Fall von innen nach außen und hängt mit der individuellen Verfügungsgewalt über sich selbst zusammen. Es ist eine Art Verteidigung des eigenen Territoriums. Überflüssige und schädliche Elemente sind zu eliminieren, um dem störenden und schädigenden Anderen nicht schutzlos bzw. ohnmächtig ausgeliefert zu werden. Auch in diesem Fall werden Grenzen mit Unterscheidungen und Trennungen im Zusammenhang gedacht. Jeder Mensch wacht also selbst über seine persönlichen Grenzen und entscheidet darüber, ob er interagierend beim Austausch mit seiner ›Umwelt‹ auf Nahverhältnisse setzt oder für Distanzen optiert, oder anders: Jeder Einzelne trifft in Abhängigkeit von seinem eigenen Wertsystem die Entscheidung, in welchem Ausmaß – ob überhaupt – der Zugang zu seinem inneren ›Sonderraum‹ gewährt wird. Und auch die Option für einen sozialen ›Reduktionismus‹ mit einem extremen Rückzug ins Private gilt nicht zuletzt als eine Reaktion auf Enttäuschungen vonseiten der Außenwelt.
Entgrenzte Gesellschaften zwischen Utopie und Wirklichkeit Einen Habitus kann man sich nicht per Zufall aussuchen, sondern man muss zu ihm finden, indem man sich die ›Welt‹ auf seine eigene Art und Weise aneignet. Dazu gehört auch ein individuelles Verhandeln von Grenzen zwischen ihrer Offenheit und Geschlossenheit, zwischen einer Option für ein beengendes Korsett oder begrenzendes Prokrustesbett und einer völligen Entgrenzung. Die Option für die Geschlossenheit im Sinne einer Abschottungstendenz bedeutet zugleich ein Streben nach der Abgrenzung von anderen. Sie kann sich grenzüberschreitend im Umfeld eines partikularistisch-protektionistischen und isolationistisch-chauvinistischen Denkens vollziehen. Nationalstaaten lassen sich nämlich mit ihren Grenzen und ihrem Machtstreben nicht ganz aus der sogenannten Weltgesellschaft ›verdrängen‹, auch wenn sie phasenweise ein ruhiges
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Schattendasein fristen, und der Konkurrenzkampf untereinander und gegen den Globalismus nicht immer in aller Schärfe ausgetragen wird: Vor allem die Fortexistenz von Nationalstaaten führt dazu, daß innerhalb der Weltgesellschaft und unter Ausnutzung ihrer Fluktuationen regionale Interessen zur Geltung gebracht und dadurch verstärkt werden. Die Staaten konkurrieren zum Beispiel auf den internationalen Finanzmärkten um Kapital für regionale Investitionszwecke. Besonders am Staat wird diese Differenz von global und regional sichtbar, auch wenn das politische System der Weltgesellschaft ein Staatensystem ist, das es nicht mehr zuläßt, die Einzelstaaten als Einheiten für sich zu betrachten.28
Bei dieser Konstellation gehen ›weltgesellschaftliche‹ Offenheit und nationale Geschlossenheit auf Kollisionskurs. Nationale Egoismen und protektionistische Praktiken – sie werden durch den notwendigen Schutz des Binnenmarktes gerechtfertigt – sind dann die Folge, weil man sich übervorteilt und durch Ungleichgewichte benachteiligt fühlt. In solchen Fällen treten Kräfte bzw. Akteure auf die Bühne, die nicht grenzüberschreitend ›weltgesellschaftlich‹, sondern grenzverfestigend national argumentieren. Niklas Luhmanns Behauptung über das Transitorische der Nationalidee und des Nationalstaates ist deshalb kritisch zu hinterfragen: »Offenbar gehört die Idee der Nation also zu jenem Bündel transitorischer Semantiken, die eine Übergangszeit faszinieren konnten […]. Man kann daher vermuten, daß wir uns heute in einer Auslaufphase dieser Idee befinden, in der sie mehr Schaden als Nutzen stiftet […].«29 Einerseits wird von der Idee nationaler Selbstbezüglichkeit als Auslaufmodell gesprochen. Das Nationale sei im Transitorischen anzusiedeln, in einer Übergangszeit, an deren Ende sich ein über- oder postnationaler loser Verbund von gleichberechtigten Weltbürgern konstituieren wird. Andererseits betont Luhmann, dass nationale Einheiten nach dem Muster einer »familienähnlichen Loyalität«30 agieren. Die grenzüberwindende und grenzüberschreitende Weltgesellschaft weist im Stadium der aktuellen Entwicklung zu wenig Integrationskraft und kaum bindende Harmonie auf, als dass sie in steigender Progression mit uneingeschränktem Optimismus, bedenkenlos und unreflektiert erwartet werden könnte.31 Das Streben nach global angetriebener Auflösung von Grenzen und Herstellung weltgesellschaftlicher Grenzenlosigkeit führt somit in rückkoppelnder Wirkung zum Aufbau neuer Grenzen bzw. zur Entstehung neuer Grenzziehungen, wenn Markus Schroer behauptet: »Die einstmalige Bewegung der immer weiteren Grenzverschiebung nach außen, die alle Entdeckungs- und Eroberungsprozesse 28 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2015, S. 808. 29 Ebd., S. 1055. 30 Ebd., S. 810. 31 Vgl. ebd., S. 930–931.
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begleitet hatte, kehrt sich um und errichtet nun in der zum Innenraum gewordenen Weltgesellschaft, die scheinbar kein Außen mehr kennt, kleinräumige Parzellen und Zonen, die nun gewissermaßen künstliche Differenzen von innen und außen, drinnen und draußen, eigen und fremd etc. schaffen. […] Als Reaktion auf diese neue Lage kommt es zum Aufbau neuer Grenzen, die sich nicht wie die alten von innen nach außen ausdehnen, sondern gerade umgekehrt, von außen nach innen verlaufen, immer kleinere Einheiten umschließend.«32 Es gibt also heutzutage keine universale ›weltgesellschaftliche‹ Sinngarantie – und es ist fraglich, ob es sie prospektiv jemals geben wird –, weil der sogenannten Weltgesellschaft starke partikulare Interessen von Nationalstaaten, die in Identitätsdiskurse eingebettet werden, in die Quere kommen, und die staatliche Partikularität – Luhmann spricht von »partikularem Geltungsanspruch«33 – scheint schwerer als die ›weltgesellschaftliche Universalität‹ zu wiegen. Luhmann behauptet zwar, dass sich »eine Verlagerung der Primärorientierung aus der Vergangenheit (Identität) in die Zukunft (Kontingenz)«34 vollzieht, aber die momentane ›Weltgesellschaft‹ hat sich nicht wirklich vom nationalen Landkartenbewusstsein befreit. Zugleich fragt er sich selbst mit ziemlicher Skepsis, »wie denn auf neuen Grundlagen das Paradox der Einheit des Differenten entfaltet werden könnte«35, wenn man nicht will, dass sich der ›weltgesellschaftliche Kitt‹ oder besser: Zusammenhalt lediglich auf die (Denk)Figur einer grenzüberwindenden und grenzüberschreitenden Erlebnis- oder Spaßgesellschaft beschränkt. Deshalb ist die ›entgrenzte Weltgesellschaft‹ immer noch auf der Suche nach sich selbst und mit Sicherheit – wenn überhaupt – in einer offenen, völlig entgrenzten Zukunft angelegt, aber auf der Gegenwartsebene muss sie als eine Utopie des ›Sich-Ereignens‹ der Welt in der Gleichzeitigkeit auf der Basis der Kommunikation ohne Wahrnehmung der Territorialität unter ›Bagatellisierung‹ nationaler Belange »ihr Schicksal in sich selbst aushandeln […] – in ökologischer wie in humaner, in wirtschaftlicher wie in technischer Hinsicht«36, ohne Sicherheitsgarantie, dass eine ›freischwebende Menschheit‹ irgendwann wirklich funktionieren wird.
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Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen, S. 292. Ebd., S. 931. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, S. 149. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, S. 1060. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, S. 149.
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(Selbst)regulierende, fremd- und ideologiebestimmte Grenzpraktiken in der Gegenwartsliteratur
Clemens Fuhrbach (Köln)
Besprechungen mit dem Selbst – Das ›Ich‹ als dialogischer Grenzraum in der Erzählung Was bleibt von Christa Wolf
Nach seinem Erscheinen führte der von Christa Wolf bereits 1979 verfasste, aber erst 1990 veröffentlichte Text Was bleibt zu einer öffentlichen Kontroverse.1 Die unterschiedlichen Stimmen der Debatte wurden von Thomas Anz unter dem programmatischen Titel Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland zusammengetragen.2 Im Rückblick fasste er wesentliche Punkte der Auseinandersetzung zusammen und stellte fest, dass die Zeit der Wiedervereinigung als Phase »kultureller Umorientierungsprozesse[] […] von irritierenden Widersprüchen begleitet«3 wurde. Neben persönlichen Vorwürfen wurden die großen Fragen der Zeitgeschichte im alten Streit zwischen Literatur und Politik neu ausgetragen. Dabei bildete das Thema der Bewältigung einer gemeinsamen und einer deutsch-deutschen Vergangenheit den Kern des Konfliktes. In den Fokus der Aufarbeitung historischer Verantwortung gerieten Einzelbiografien wie die der erfolgreichen DDR-Autorin Christa Wolf, der man eine »Gesinnungsästhetik«4 vorwarf. Hatte sie ihre Staatskritik tatsächlich zu spät formuliert und war ihr ebenfalls später Parteiaustritt aus der SED nicht geradezu ein Zeichen des politischen Opportunismus gewesen? Letztlich zeigte sich in der Fragestellung nichts weniger als ein Fortbestehen der bipolaren Konfliktstruktur des Kalten Krieges. Offensichtlich blieben politische Denksysteme auch nach dem Fall der Mauer unvereinbar. Der Streit um die Literatur diente als Exempel für die politische Debatte um die Zukunft der Bundesrepublik. Nach dem Ende der Deutschen Demokrati1 Vgl. Wolf, Christa: Was bleibt. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007 (1990). 2 Vgl. Anz, Thomas: Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland. In: Ders. (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München: edition spangenberg 1991, S. 7–28. 3 Ders.: Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. Ein Rückblick aus dem Jahr 1996. In: Monteath, Peter/Alter, Reinhard (Hg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. German Monitor Nr. 38. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1996, S. 1–17. Zit. nach: Anz, Thomas/Seiler Sascha (Hg.): »literaturkritik.de«, URL: https://literaturkritik.de/id/16181 / letzter Zugriff am 28. September 2021. 4 Anz, Thomas: Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland, S. 19.
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schen Republik und mit Beginn der Wiedervereinigung schien der Richtungsstreit um die innerdeutsche Zukunft zu Gunsten des westlichen Modells entschieden. Dem entsprechend wurde die Reaktion auf die Veröffentlichung und auf die öffentliche Autorfigur ›Christa Wolf‹ unter anderem auch als Reflex einer westdeutschen Siegermentalität wahrgenommen. Einer ostdeutschen DDRKultur konnte keine ästhetische Wirkkraft zugestanden werden. Mit anderen Worten erwartete man im Westen der vereinigten Bundesrepublik die Wende der Ostdeutschen hin zur Bundesrepublik, während man im Osten noch an die demokratische Kraft der Revolution glaubte. Die Besonderheiten einer Sprache der Wende hat Christa Wolf selbst problematisiert: »Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache«,5 schreibt sie im November 1989. Die euphorische Stimmung in Zeiten der politischen Veränderung hat sie nicht unkritisch kommentiert. Im Aufbruch sieht sie die soziale Gemeinschaft durch eine kommunikative Anstrengung und die produktive Diskursivität herausgefordert: Mit dem Wort »Wende« habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: »Klar zur Wende!«, weil der Wind sich gedreht hat, und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild? […] Ich würde von »revolutionärer Erneuerung« sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. […] Wir wollen jeden Tag nutzen, wir schlafen nicht oder wenig, wir befreunden uns mit neuen Menschen, und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen. Das nennt sich nun »Dialog«, wir haben ihn gefordert, nun können wir das Wort fast nicht mehr hören […].6
Es ist wohl unbestritten, dass Literatur und Politik grundsätzlich zwei konstitutive Elemente innerhalb von Wolfs Autorschaft darstellen. Der demokratische Dialog ist die Herausforderung der deutsch-deutschen Gegenwart, die Wolf im reflexiven Schreiben erschließt. Sie selbst hat die beiden Ebenen im Zusammenhang betrachtet, gerade den Prozess des Schreibens aber in seiner befreienden Wirkung herausgestellt: Der Schrecken darüber, wie in Industriegesellschaften die Selektion der »nützlichen« Kräfte und Strebungen eines Menschen auf Kosten seiner »unnützen« Bedürfnisse und Wünsche funktioniert, und die Trauer über die Folgen dieser Spaltung und Amputation fließen sicherlich in mein Schreiben ein. Heute ist die Kunst wohl der einzige Hort, zugleich das einzige Erprobungsfeld für die Vision von ganzheitlichen menschlichen Wesen. Insofern ist Schreiben für mich eine Art Selbstversuch. […] Ich, für mein Leben,
5 Wolf, Christa: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz (4. November 1989). In: Dies.: Sämtliche Essays und Reden. In 3 Bänden. Herausgegeben von Sonja Hilzinger. Suhrkamp Verlag: Berlin 2021. Hier: Wider den Schlaf der Vernunft. Band 2: 1981–1990, S. 457–459, hier S. 457. 6 Ebd.
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brauche die Verbindung mit einer anderen Dimension in mir, um nicht das Gefühl von Da-Sein zu verlieren. Und darum schreibe ich.7
An anderer Stelle fasst sie das Experiment das Schreibens als »Sehnsucht, sich zu verdoppeln«.8 Diese existenzialistische Funktion der schreibenden Daseinsbestätigung erinnert im Ansatz an eine ursprüngliche Sprach- und Subjektauffassung, wie sie zum Beispiel Wilhelm von Humboldt vertreten hat.9 Anders als bei Humboldt sind das Sprechen und Schreiben bei Wolf aber keine Prozesse, die eine verlorene Einheit wiederherstellen können. Stattdessen hält sie an der klassischen Idee fest, im Wissen darum, dass es sich um ein »Depot des Verbotenen […], der Imagination und der Subjektivität«10 handelt. Letztlich zeigen sich im Schreiben zwei unvereinbare Ebenen der subjektiven Persönlichkeit in ihrer Konfrontation mit der modernen Welt. Was daraus resultiert ist eine Spaltung der sprachlichen Selbstbestimmung. Das ›Ich‹ wird begleitet von einer kritischen Reflexion der narrativ konstruierten Lebenswelt, die im ›erzählenden Ich‹ ihre dialogische Entsprechung findet. Die genuin literarische Ebene ist die zweite, wichtige Perspektive auf Wolfs Literatur, der heute stärkere Beachtung geschenkt wird. Auf der politischen Ebene bleibt die Berücksichtigung der unterschiedlichen Sichtweisen in Ost- und Westdeutschland zusätzlich wichtig, da sie auf die Möglichkeit eines westlichen Bias in der Wahrnehmung und in der Auseinandersetzung mit der DDR-Literatur verweist. Dieses Problem hat man in der DDR-Literatur-Forschung inzwischen erkannt.11 Während man sich in der Vergangenheit mit dem Problem der »Emotionalisierung der Auseinandersetzung«12 und der starken Fokussierung auf »politische Statements und deren ideologische Aussagewerte«13 konfrontiert sah, fokussiert man sich seit den 2010er Jahren verstärkt auf »literaturwissenschaftliche Analysen«.14 Im Zentrum steht eine textimmanente Konstruktion, die sprachliche Prozesse und narrative Strukturen in den Blick der beobachtenden Beschreibung rückt. Daran möchte diese Darstellung anschlie7 Wolf, Christa: Warum schreiben Sie? (1985). In: Ebd., S. 341–342, S. 341. 8 Dies.: Einiges über meine Arbeit als Schriftsteller (1965). In: Ebd. Lesen und Schreiben. Band 1: 1961–1980, S. 7–12, hier S. 7. 9 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Natur und Beschaffenheit der Sprache überhaupt. In: Ders.: Bildung und Sprache. Besorgt von Clemens Menze. Paderborn: Ferdinand Schönigh Verlag 5 1997 (1974), S. 89–100. – Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. 2., korrigierte Auflage. Weinheim/München: Juventa Verlag 1995 (1989), S. 121. 10 Wolf, Christa: Warum schreiben Sie? (1985), S. 341. 11 Vgl. Sandhöfer-Klesen, Kathrin: Christa Wolf im Kontext der Moderne. Eine Neuverortung ihres Œuvres zwischen Ost und West. Würzburg: Köngishausen & Neumann 2019. 12 Ebd., S. 18. 13 Ebd., S. 14. 14 Ebd., S. 19, Hervorhebung im Original.
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ßen. Im Folgenden wird dazu zunächst erläutert, was man grundsätzlich unter einem ›dialogischen Subjekt‹ verstehen kann. Im Anschluss daran werden zwei Positionen aus der Forschung skizziert. Beide greifen den Aspekt der ›Dialogizität‹ auf. Davon ausgehend wird gezeigt, wie sich die Anlage einer ›vielstimmigen Subjektivität‹ in Christa Wolfs Erzählung Was bleibt exemplarisch beschreiben lässt. Dabei liegt der Akzent in dieser Darstellung auf der Unterscheidung zwischen den Auswirkungen der Fremdbeobachtung und den Konsequenzen der Selbstbeobachtung. Diese führen auf der Ebene der Figur zu einer dialogischen Selbstkonstruktion und in der Narration zu einem sprachsensiblen Verhalten. Abschließend wird diskutiert, inwiefern man ausgehend vom literarischen Text ein reflexives Sprachverstehen zum Ausgang einer allgemeinen Sensibilisierung für das Thema Sprache und Datenschutz in unserer Gegenwart heranziehen kann.
Vom ›dialogischen Subjekt‹ zur ›vielstimmigen Subjektivität‹ Der Begriff der ›Dialogizität‹ wird in der Regel mit dem Namen Michail Bachtin in Verbindung gebracht.15 Er hat das Konzept des polyphonen Romans entwickelt und damit einen wesentlichen Grundstein für die ›Dialogische Theorie‹ gelegt.16 Diese geht als kulturwissenschaftliche Theorie heute über die rein literarische Betrachtung hinaus und ist darauf ausgerichtet, dass »sowohl Ideologie als auch Theorie nicht einfach ›Systeme von Sätzen‹ oder gar einzelne Sätze, sondern interessengeleitete Diskurse sind, d. h. semantisch-narrative Strukturen mit Aussagesubjekt und Aktantenmodell […] im Sinne von A. J. Greimas’ Semiotik.«17 Ein wesentlicher Punkt des Ansatzes besteht darin, dass man unter ›Dialogizität‹ nicht den Aufbau eines Textes in Dialogen oder die Gespräche zwischen unterschiedlichen Personen oder Figuren meint, sondern »jene prinzipielle Mehrdeutigkeit […], die erkennbar wird, wenn Rede und Text als rezipierende und antizipierende Verarbeitung von Äußerung des Anderen konstruiert werden.«18 Mit anderen Worten begreift man sprachliche Strukturen als dynamischen Prozess, der immer durch semantische Variabilität und subjektive
15 Volkmann, Laurenz: Dialogizität. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2013 (1998), S. 135–136. 16 Zima, Peter V.: Dialogische Theorie. In: Ebd., S. 135. 17 Ebd. 18 Deubel, Volker: Dialogizität. In: Burdorf, Dieter [u. a.] (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günter und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 153.
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Multiperspektivität gekennzeichnet ist.19 Davon ausgehend bezeichnet man als ein ›dialogisches Subjekt‹ ein Subjekt, das in sprachlichen Prozessen sensibel auf semantische Ambivalenz reagieren kann. Ferner kann es selbstbestimmt die Erfahrung von Alterität verarbeiten. Dazu sucht es den reflexiven Zugang zum eigenen Sprechen und Handeln. Bei Peter V. Zima heißt das: Kollektive und individuelle Subjekte entstehen in sozio-linguistischen Situationen, die als Zusammenwirken von Gruppensprachen oder Soziolekten und deren Diskursen darstellbar sind. Das Subjekt konstituiert sich im Diskurs, indem es auf andere Diskurse imitativ oder dialogisch-polemisch reagiert und sich im Verlauf dieser Kommunikation für oder gegen bestimmte semantische Relevanzkriterien, Klassifikationen und Definitionen entscheidet. Seine Identität als sprechendes und handelndes Subjekt kommt im Diskurs als narrativem Programm zustande.20
Damit sind beide Perspektiven benannt, die für die Betrachtung eines ›dialogischen Subjekts‹ entscheidend sind: Einerseits gibt es eine individuelle Subjektposition, andererseits ist diese eingebunden in ein kollektives Subjekt. Die ›dialogische Subjektivität‹ ist auf gesellschaftliche Teilhabe angewiesen. Durch den Ausschluss des Subjekts vom »permanenten Dialog«21 geht ein wesentlicher Bestandteil der identitären Sozialisation verloren. In der Isolation mündet das individuelle Subjekt im Dialog mit sich selbst. Dieser kann als bewusster Prozess eine existenzielle Grenzerfahrung sein und die Entwicklung mündiger Subjektivität befördern. Insgesamt ergibt sich aus der dialogischen Anlage eine ›vielstimmige Subjektivität‹, die sich auf der narratologischen Ebene in einem reflexiven Sprachverstehen nachvollziehen lässt.
Zwei Forschungspositionen zur ›Dialogizität‹ bei Christa Wolf In der älteren Forschung wurde das dialogische Subjektverständnis in Wolfs Texten zum Beispiel bei Anz diskutiert. Er hat eine mehrdimensionale Wahrnehmung der figurativ dargestellten Persönlichkeit im Text Was bleibt zusammenfassend wie folgt beschrieben: Es ist ein gespaltenes Selbst, von dem Was bleibt erzählt. In einigen Passagen tritt die von jungen Männern observierte Ich-Erzählerin in einen Dialog mit der Stimme des Gewissens in ihr, »meinem Zensor«. Die Protagonistin dieser Erzählung wird nicht nur von anderen überwacht, sondern auch von einer selbstkritischen Instanz im eigenen
19 Vgl. Volkmann, Laurenz: Dialogizität. Bzw. Zima, Peter V.: Dialogische Theorie. 20 Ders.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. 4., durchgesehene und erweiterte Auflage. Tübingen: A. Francke Verlag 2017 (2000), S. 15, Hervorhebung im Original. 21 Ebd.
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Ich, die mal »Partner«, mal »Richter«, mal »Begleiter« genannt wird. »Aufgebracht wollte ich wissen, wer ihn [diesen Begleiter] denn eingesetzt habe, und er antwortete ungerührt: Du selbst, Schwester.« Dem inneren Dialog folgen Reflexionen über dieses »Selbst«: »Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen ›ich selbst‹ mich zusammensetzte.22 […]
Die Verdopplung der identitären Struktur, die sich im dialogischen Sprachverstehen zeigt und die durch die narrative Konstruktion einer vielstimmigen Subjektivität im reflexiven Sprachverstehen gebrochen wird, betrachtet Anz im politischen Kontext der Zeit. Die historischen Erfahrungen eines schreibenden Subjekts, das sich im System der DDR behaupten muss, führen zu dem Versuch, sich von der Fremdbestimmung zu emanzipieren. Aus dem Bewusstsein, ein Leben in einem Staat zu verbringen, der seine Bürgerinnen und Bürger, ihr Handeln und ihre Sprache systematisch überwacht, resultiert eine chronische Selbstbeobachtung, die sich auf das eigene Sprechen und Handeln auswirkt. Die Befreiung von diesem ideologischen und psychologischen Ballast ist das Ziel der Erzählung, die im Titel darauf verweist, dass immer ein Rest zurückbleiben wird. Der identitäre Konflikt zeigt sich in der inneren Konstitution der Hauptfigur. Sie vollzieht eine sprachliche Trennung von ›Ich‹ und ›Selbst‹ und entwickelt eine fragmentierte Persönlichkeit, die sich von den soziopolitischen Zwängen der alltäglichen Welt aktiv distanziert: Der Teil dieses Selbst, der versucht ist, sich der Macht des SED-Staates unterzuordnen, wird keineswegs verleugnet. Im Gegenteil: Die Erzählerin hofft nur vage, daß sie diesen Bestandteil der eigenen Person später einmal aus sich herauslösen kann.23
Obwohl die politische Dimension sich deutlich zeigt und eine autobiographische Lesart naheliegt, erschöpft sich der Text für Anz in dieser Lesart nicht: »Als Figur, mit der die Autorin sich nachträglich zum Opfer der Stasi oder gar zur Heldin des Widerstands gegen die Staatsgewalt stilisieren könnte, taugt die privilegierte Protagonistin […] überhaupt nicht.«24 Die pathetische Abwehr gegen eine Politisierung von Wolfs Literatur ist sicher den Umständen der damaligen Zeit geschuldet. Abseits dessen verweist Anz auf den methodischen Zugang, der die literarische Konstruktion in Wolfs Text zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Diskussion macht. Eine stärkere Fokussierung der literarischen Elemente ist inzwischen ein zentraler Bestandteil der Auseinandersetzungen mit Wolfs Autorschaft. In der neueren Forschung hat Kathrin Sandhöfer-Klesen eine Lesart entwickelt, die sich Eine Neuverortung […] zwischen Ost und West zum Ziel der Darstellung setzt.25 22 23 24 25
Anz, Thomas: Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland, S. 24. Ebd. Ebd. Vgl. Sandhöfer-Klesen, Kathrin: Christa Wolf im Kontext der Moderne.
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Sie löst sich nicht radikal von der doppelten Anlage der älteren Lesart, aber sie tritt in eine analytische Distanz zur historisch-politischen Dimension. Die literarische Konstruktion und die ästhetische Wirkung der sprachlichen Darstellung treten stärker in den Vordergrund. Dadurch kann den narratologischen Elementen größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dem entsprechend betont sie bei Wolf werkübergreifend den Entwurf einer mehrstimmigen Subjektivität der Moderne. Diese liegt in einer eskapistischen Transgression und in der dialogischen Anlage des Schreibens begründet: Wolfs Texte sind ganz im modernen Gestus der Suche geschrieben, wobei die Erfahrung der Krise der Erzählerfigur bzw. der Protagonistin als Ausgangspunkt des Erzählens fungiert. Wolf entwirft eine »Ästhetik, die den Prozeß der Selbstkonstitution an den Akt des Schreibens bindet«.26
Das Schreiben bei Wolf ist für Sandhöfer-Klesen der »[n]arrative Versuch, das ›Ich‹ neu zu erzählen«.27 In der Moderne wird das ›Ich‹ mit der weltlichen Komplexität konfrontiert und verliert die Möglichkeit, die eigene Subjektivität selbstbestimmt in der Gesellschaft als identitären Grenzraum ganzheitlich zu fassen. Die Erfahrung der Ohnmacht in der kohärenten Selbstkonstruktion mündet in einem sprachgenetischen Reflex und in der Utopie des vernetzenden Schreibens. Der so postulierte Ausweg aus der Entfremdung bleibt eine »idealistische[] Vorstellung[] einer Ganzheit und Kohärenz des ›Ichs‹ sowie der Einheit von ›Ich‹ und Welt«.28 Der literarische Prozess des Subjekts verweilt aber nicht in der Suche nach einer ursprünglichen Einheit und Originalität, sondern tritt diesem Modell kritisch-konstruktiv entgegen: »Dass diese Ideale in der modernen Gesellschaft nur quasi utopischen Charakter haben können, wird durch die selbstreflexive Art in nahezu allen Texten von Christa Wolf thematisiert.«29 In ähnlicher Weise hat auch Ilse Nagelschmidt festgehalten, dass das ›Ich‹ in Was bleibt »keine fixierbare, einfach zugängliche Selbst-Gewissheit«30 ist. Am Ende des Tages bleibt der Konflikt der subjektiven Selbstkonstruktion auf Textebene ungelöst, aber im erschriebenen Narrativ nicht unartikuliert.
26 Ebd. S. 91. Bzw. Schmaus, Marion: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2000, S. 251. 27 Sandhöfer-Klesen, Kathrin: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 90. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 91. 30 Nagelschmidt, Ilse: »Was bleibt« (1990) und der Literaturstreit. In: Dies./Hilmes, Carola (Hg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 219–223, hier S. 219.
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Das Beispiel der unvermittelten ›Vielstimmigkeit‹ in der Erzählung Die Erzählung Was bleibt ist aus der Perspektive einer Schriftstellerin geschrieben, die einen Tag in Berlin erlebt. Sie protokolliert ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen durch eine selbstreflexive Sprache. Diese bildet die Grundlage der Erzählung. Narrative Elemente dienen dazu, subjektive Beobachtungen einzuordnen und das eigene Handeln zu kommentieren. Dadurch wird die Erzählung zu einem langen Selbstgespräch der dargestellten Figur. Die fiktionale Welt wird durch sie konstruiert. Gleich zu Beginn des Textes führt ein innerer Monolog in den zentralen Konflikt der erzählenden Instanz ein. Mit einer Suche nach »jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe«31 werden gleichermaßen der literarische Prozess des Schreibens und der politische Prozess der öffentlichen Stimmfindung problematisiert: »Würde ich meine Sprache je finden? Einmal würde ich alt sein.«32 Einerseits ist diese Suche nach einer eigenen Sprache ein alltägliches Problem der Schriftstellerin und ihrer literarischen Arbeit, andererseits ist die Artikulation einer genuin ›eigenen‹ Stimme in totalitären Strukturen per se ein Politikum. Die Überforderung mit dieser Situation führt zur personalen Entfremdung und zur dialogischen Selbstkonstruktion: »Was ist mit uns, hörte ich mich denken, mehrmals hintereinander, sonst fehlten mir die Worte, sie fehlen mir bis heute.«33 Es gibt eine doppelte »Sprachgrenze«,34 auf der sich die erzählende Instanz als Individuum bewegt und die es in der Zukunft für dieses sprechende Subjekt in der kollektiven Erfahrung von Gesellschaft zu überwinden gilt. Auf der politischen Ebene ist die Figur alltäglich mit Praktiken der Überwachung konfrontiert. Der literarische Prozess und die eigene Arbeit sind davon betroffen. Die Auswirkungen der Fremdbeobachtung zeigen sich nicht nur mental als schizophrener Phantomschmerz, sondern auch als Angst vor einer drohenden Repression.35 Die Schriftstellerin folgt deshalb standardisierten Abläufen und kommentiert die eigenen Routinen im reflexiven Verfahren: Die kleinen Tricks, die ich mir jeden Morgen erlaubte: ein paar Zeitungen vom Tisch raffen und sie in den Zeitungsständer stecken, Tischdecken im Vorübergehen glattstreichen, Gläser zusammenstellen, ein Lied summen […], wohl wissend, alles, was ich tat, war Vorwand, in Wirklichkeit war ich, wie an der Schnur gezogen, unterwegs zum vorderen Zimmer, zu dem großen Erkerfenster, das auf die Friedrichstraße blickte und durch das zwar keine Morgensonne hereinfiel, denn es war ein sonnenarmes Frühjahr, aber doch Morgenlicht, das ich liebe, und von dem ich mir einen gehörigen Vorrat 31 32 33 34 35
Wolf, Christa: Was bleibt, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 69. Ebd., S. 20. Vgl. ebd.
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anlegen wollte, um in finsteren Zeiten davon zu zehren. […] So stand ich also, wie jeden Morgen, hinter der Gardine, die dazu angebracht worden war, daß ich mich hinter ihr verbergen konnte, und blickte, hoffentlich ungesehen, hinüber zum großen Parkplatz jenseits der Friedrichstraße. Übrigens standen sie nicht da.36
Im Bewusstsein der äußeren Beobachtung entwickelt die Figur ein dialogisches Verhältnis zu sich als ›Selbst‹ und positioniert das eigene ›Ich‹ in Distanz dazu gezielt in der Welt der Erzählung. Sie befreit sich dadurch von der fremdbestimmten Konstruktion innerer Subjektivität. Dieser Versuch der Emanzipation von sozio-normativen Erwartungen oder Zwängen und von den Erfahrungen struktureller Gewalt gelingt aber nur bedingt. Es kommt nicht zu einer tatsächlichen Verbesserung der eigenen Situation. Vielmehr verbleibt die Stimme des Widerstands auf der Ebene der Narration und wird in der fiktionalen Welt nicht artikuliert. Damit ist sie in der Gesellschaft aber auch nicht sichtbar. Diese praktische Grenze wird in der Erzählung nicht überschritten. Ein aktiver Versuch der Befreiung durch eine politisch-literarische Partizipation erfolgt nicht, Kritik bleibt im Text implizit. Stattdessen wird eine eskapistische Hoffnung auf eine neue Zeit und einen anderen Ort formuliert. Selbstverständlich redeten wir in der Wohnung mit anderen sehr leise, wenn bestimmte Themen aufkamen (und sie kamen immer auf), ich stellte das Radio laut bei gewissen Gesprächen, und manchmal zogen wir den Telefonstecker aus der Steckdose, wenn Gäste da waren, doch blieb uns bewußt, daß die Maßnahmen der anderen und unsere Reaktionen darauf ineinandergriffen wie die Zähne eines gut funktionierenden Reißverschlusses. Hoffnung ließ sich nicht daraus ableiten. Hoffnung lag vielleicht in der Tatsache, daß ich mich seit dem vorigen Sommer in meiner Wohnung nicht mehr zu Hause fühlte.37
Die chronische Beobachtung der eigenen Person im öffentlichen und im privaten Raum, führt zu einer konsequenten Selbstbeobachtung und mündet in einer permanenten Selbstkontrolle. Diese umfasst neben einer physischen und einer mentalen auch eine technische Dimension. Da nicht nur die Verhaltens- und Bewegungsmuster der Menschen überwacht werden, sondern auch die Kommunikation, wird der Anruf eines Freundes zur Inszenierung einer kodierten Sprechweise. Das Gespräch wird in der indirekten Rede durch die erzählende Instanz wiedergegeben und so dokumentiert. Beide Figuren passen ihr Sprechen im Bewusstsein der möglichen Überwachung durch eine dritte Instanz an. Sie entwickeln eine situative Hermetik, die auch die Lesenden aus dem Dialog ausschließt. Die literarische Sprache wird zur schriftlichen Repräsentation der akustischen Materialität. In Form des Tonbandes wird sie thematisiert und findet in der schriftlichen Ausführung eine symbolische Entsprechung. 36 Ebd., S. 8f. 37 Ebd., S. 25.
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Das Telefon. Ein Freund. Grüß dich, sagte ich. Nein, er störe mich bei keiner wichtigen Arbeit. Warum denn nicht, sagte er strafend. Ach, sagte ich, die Frage ließe sich nicht in einem Satz beantworten. Ich könnte ruhig mehrere Sätze machen, sagte er. Zum Mitschreiben, sagte ich. Aber da unterschätze ich doch wohl unsere technischen Möglichkeiten, sagte er. Ein Tonband werde man für uns beide doch übrig haben! Was das kostet, sagte ich. Folgte die Art von Lachen, die wir uns für genau diese Gelegenheiten angewöhnt hatten, ein bißchen herausfordernd, ein bißchen eitel. Und wenn keiner mithörte?38
Das Gespräch wird von einem Misstrauen begleitet. Durch eine private Sprache widersetzen sich die handelnden Akteure der situativen Überwachung im Unwissen, ob diese tatsächlich stattfindet oder nicht. Dadurch wird nicht nur die individuelle Subjektivität, sondern auch der Dialog selbst zu einer interpersonalen Grenzkonstruktion. Das Gespräch wird zur sprachlichen Repräsentation einer geschlossenen Gesellschaft. Diese nutzt eine verschlüsselte Kommunikation. Die sprachliche Konstruktion einer virtuellen Privatheit bleibt allerdings fehleranfällig und führt zu einer letzten Verunsicherung, weil das Code-Switching zwischen der hermetischen und der realen Ebene nicht immer gelingt: Wann sehen wir uns? Ich sagte den wahren Text: Möglichst bald. Na denn, sagte er. Er werde in den nächsten Tagen in der Stadt sein und mir vorher durchgeben, wann ich das Kaffeewasser aufsetzen solle. Da sollten sich gewisse von uns beiden hochgeschätzte Persönlichkeiten ruhig ihren Kopf darüber zerbrechen, wofür »Kaffeewasser« das Codewort sein könnte. Diese Art Späße liebe ich nicht besonders. Kaffee? sagte ich. Und ich dachte, du würdest Tee bevorzugen. Mitnichten, sagte er, und ich solle nun nicht den ganzen Code durcheinanderbringen. Bon, sagte ich.39
Letztlich verbleibt die sprachliche Konstruktion der Erzählung in einem Zustand der mehrstimmigen Schwebe. Die subjektive Suche nach einer eigenen Stimme und nach einer Befreiung von der politischen Situation gelingt nicht. Obwohl die dialogische Anlage des ›Ich‹ in der erzählenden Instanz das personelle Streben der Figur im reflexiven Verfahren narratologisch abbildet, bleibt diese Stimme in der fiktionalen Welt nicht artikuliert. Im Telefonat erfolgt eine Verschlüsselung, diese aber ist fehleranfällig. Der Zustand innerer Sicherheit ist erkauft durch den Ausschluss einer letzten Gewissheit. Insgesamt kann man festhalten, dass die Figur nur teilweise souverän mit der eigenen Situation umgeht und sich vom Phantomschmerz nicht befreit. Die Spaltung der ›dialogischen Subjektivität‹ führt zwar zu einer kritischen Wahrnehmung und zu einer grundsätzlichen ›Vielstimmigkeit‹ auf der Ebene der Figur, diese bleibt aber unvermittelt. Das Nebeneinander der Stimmen spiegelt sich exemplarisch in der Gegenüberstellung der Bereiche Literatur und Politik in der Erzählung. Es mündet in der Figur 38 Ebd., S. 22. 39 Ebd., S. 22f.
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der Schriftstellerin auf der Suche nach der eigenen Sprache aber nicht in einer emanzipatorischen Selbstbehauptung in der kollektiven Lebenswelt.
Schluss In dieser Darstellung wurde zunächst gezeigt, dass sich der Forschungsdiskurs zur DDR-Literatur der Möglichkeit eines westlichen Bias bewusst sein muss. Davon ausgehend wurde am Beispiel skizziert, wie sich die kritische Betrachtung der Texte Wolfs im Zusammenspiel von Literatur und Politik zu einer stärkeren Fokussierung der literarischen Anlagen verschiebt. Die analytische Betrachtung textimmanenter Merkmale tritt dadurch stärker in den Vordergrund. Diese Vorbedingungen aufgreifend, lässt sich in der Erzählung Was bleibt die Anlage einer ›vielstimmigen Subjektivität‹ beschreiben. Durch die Hauptfigur werden literarische und politische Aspekte der Stimmfindung im dialogischen Prozess problematisiert. Dieser zeigt sich in der grammatisch gespaltenen Persönlichkeit. Das erzählende ›Ich‹ begegnet im inneren Dialog dem ›Selbstzensor‹ und distanziert sich in der sprachlichen Formulierung von dieser dritten Person. Die Mehrstimmigkeit innerhalb der lokalen Figur ist eine direkte Folge der Erfahrungen des Subjekts in seiner alltäglichen Welt. Im Bewusstsein der äußeren Beobachtung verstärkt sich das reflexive Sprachverstehen als dialogischer Prozess. Die Selbstbeobachtung führt zu einer Intensivierung der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache. An den Besprechungen mit dem Selbst über die Welt zeigen sich individuelle Grenzerfahrungen innerhalb der bestehenden sozialen Ordnung. Darin verbinden sich die politische und die literarische Ebene im Leben der Schriftstellerin und in der Erzählung. Die Hoffnung auf eine eigene Sprache wird zur unerfüllten Vision von Freiheit und Humanität. Sie löst das dargestellte Subjekt von den Auswirkungen der Fremdbeobachtung und ermöglicht die Überwindung von Konsequenzen der Selbstbeobachtung. Die Utopie der harmonischen Vermittlung von ›Ich‹ und ›Selbst‹ in einer gemeinsamen Stimme wird zum Ziel der grenzüberschreitenden Subjektivität, die sich in einer Welt der Moderne von Beobachtung und Misstrauen literarisch befreit. Das Ziel wird aber nicht erreicht. Wenn wir uns abschließend noch einmal an den Einstieg in die Erzählung erinnern, dann steht dort eine Frau am Fenster, die sich der Beobachtung bewusst ist und weiß, dass sie permanent sensible Daten produziert. Sie weiß, dass ihre Bewegungen und ihr Verhalten im öffentlichen und im privaten Raum erfasst werden. Sie weiß auch, dass Telefonate abgehört werden können und dass es Personen gibt, die andere Personen ausspionieren. Aus dem Misstrauen der Figur wächst ein Reflex der Selbstkontrolle. Dieser betrifft auch ihre eigene Sprache. Die Dialogisierung ermöglicht es ihr, eine kritische Auseinandersetzung
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mit der eigenen Lebenswelt in einem geschützten Raum zu initiieren. Die Schriftstellerin kann sich dem externen Apparat zwar nicht entziehen, sie weiß aber um die Mechanismen der systematischen Überwachung. In der Entwicklung eines spezifischen Verhaltens und eines kommunikativen Codes entzieht sich die Figur dem gesellschaftlichen Diskurs und schützt sich so vor einer personenbezogenen Datenerfassung. Gerade in Zeiten von Digitalisierung und Datenschutz sollten wir uns wahrscheinlich in ähnlicher Weise bewusst sein, dass wir sensible Daten produzieren und nur selten wirklich wissen, wo wir beobachtet werden. Vielleicht sollten wir uns gerade deshalb auch häufiger mit der Frage konfrontieren, wo die Grenzen unserer digitalen Persönlichkeit verlaufen und mit welcher Stimme wir im digitalen Raum sprechen – und mit welcher wir tatsächlich sprechen wollen.
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Karsten Dahlmanns (Katowice)
Selbstbezüglichkeit, Selbstbeschränkung und Fremdausgrenzung in Monika Marons Roman Artur Lanz (2020)
Einführung Im Folgenden wird Monika Marons 2020 erschienener Roman Artur Lanz einer genaueren Lektüre unterzogen. Diese Unternehmung verfolgt den Zweck, die Komposition des Erzähltexts genauer auszuleuchten. So werden einige Fälle von Selbstbezüglichkeit ausgemacht. Außerdem treten Beispiele für eine gewisse Selbstbeschränkung im Gestalterischen hervor, die sich als Reaktionen einer umstrittenen Autorin auf Fremdausgrenzung verstehen lassen.1 Fremdaus1 Vgl. Revesz, Eva B.: Changing Her Tune: Antihumanism in Monika Maron’s Munin oder Chaos im Kopf. In: Iván López (Hg.): Aftershocks: Globalism and the Future of Democracy. Zaragoza: Servicio de Publicaciones, Universidad Zaragoza 2021, S. 66–75, bes. S. 68–70. Vgl. ferner Lewicki, Aleksandra/Shooman, Yasemin: Building a new nation: anti-Muslim racism in postunification Germany. In: »Journal of Contemporary European Studies«, 28. Jg., Nr. 1 / 2020, S. 30–43. Dort ist von Marons »anti-Muslim agitation« (S. 34) die Rede, sowie davon, dass sie ein »nationalist political project« (S. 35) unterstütze. Vgl. des Weiteren Hoffmann, Torsten: Ästhetischer Dünger. Strategien neurechter Literaturpolitik. In: »Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte«, 95/2021, S. 219–254. Hoffmann rekonstruiert die Diskussion um den Wechsel Marons vom S. Fischer Verlag zum Verlagshaus Hoffmann und Campe: »Begründet wurde der Schritt ausdrücklich nicht mit dem seit einigen Jahren zu beobachtenden Rechtsruck der ehemaligen DDR-Autorin, die zunehmend als Kritikerin von Flüchtlingspolitik, Islam und Feminismus von sich reden machte, sondern mit der Veröffentlichung eines Essaybandes in der Reihe EXIL des BuchHauses Loschwitz« (S. 220), die von der mit Götz Kubitschek kooperierenden Susanne Degen verlegt werde. Hoffmann unterstreicht, dass »die Aufnahme der Hochliteratur-Autorin Maron in die EXIL-Reihe« zu »ungewollten Werbeeffekten« (S. 223) für die Neue Rechte um Kubitschek führe. Besonderes Augenmerk verdient Hoffmanns Hinweis, dass ein Gutteil des deutschen Feuilletons auf die Selbststilisierung – also das Marketing – der Neuen Rechten um Kubitschek als Gruppe Verfemter hereinfalle, wo man »die Nicht-Verlängerung eines Verlagsvertrags mit der Exilsituation von Fischer-Autoren wie Thomas Mann assoziiert und die Kunstfreiheit des ganzen Landes bedroht sieht (während Maron offensichtlich keine Probleme hat, andere Verlage für sich zu interessieren, und keinen Monat später als Autorin des renommierten Hoffmann und Campe Verlags präsentiert wurde).« (S. 225). Die informelle Ausgrenzung aus dem, was Angelsachsen – zuweilen ironisch – Polite Society zu nennen pflegen, sollte in der Tat von staatlicher Verfolgung unterschieden werden. Dessenungeachtet lassen sich auch in einem
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grenzung spielt ebenfalls in der Handlung des Romans eine Rolle – namentlich im Tun und Erleben der Figur Gerald Hauschildt, eines Arbeitskollegen und Freundes des Titelhelden Artur Lanz. Der Naturwissenschaftler Hauschildt wird von den Mitarbeitern seines Forschungsinstitutes für eine kurze Veröffentlichung auf Facebook kritisiert, die – hier mag ein Euphemismus am Platze sein – als politisch bedenklich eingestuft wird und dazu gegen die finanziellen Interessen des Instituts verstößt. Hauschildt wird also ausgegrenzt. Hauschildt muss sich jedoch auch selbst Ausgrenzung vorwerfen lassen, weil er sich gegen eine großzügige Einwanderungspolitik, besonders die Immigration von Muslimen ausspricht.2 Damit ist der dreifache Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes umrissen: Selbstbezüglichkeit, Selbstbeschränkung und Fremdausgrenzung.
Die Handlung Es dürfte nützlich sein, zunächst in aller Kürze die Handlung des Romans zusammenzufassen: Die Erzählerin Charlotte Winter, eine zweimal geschiedene, ältere Schriftstellerin, fragt einen geschiedenen Naturwissenschaftler namens Artur Lanz aus, weil sie Material für einen neuen Erzähltext gewinnen möchte. Lanz fühlt sich gebrochen. Der eine über die Jahre »lieblos gewordene Ehe«3 führende Lanz hatte eine Liebesbeziehung mit einer aus Polen stammenden Praktikantin in seinem Forschungsinstitut. Lanz quält sich mit der Frage, ob es feige gewesen sei, seine Frau nicht verlassen zu haben, wobei er in selbstkritischer oder – je nach Lesart – selbstentwürdigender Absicht den Sachverhalt zur Geltung kommen lässt, dass sein Lebensstandard durch das bundesdeutsche Scheidungsrecht auf ein Existenzminimum reduziert worden wäre.4 Gleichzeitig fühlt Lanz Stolz auf eine Art Heldentat (oder ›Heldentat‹): Bei einem Spaziergang reißt sich Lanz’ Hund mitsamt seiner Hundeleine los. Obwohl Lanz selbst herzkrank ist, rettet er das Tier aus dem Gestrüpp eines Rapsfeldes, bevor es sich an seiner Hundeleine selbst erdrosselt. Ironischerweise wird diese Parodie auf eine Heldentat zum Anlass für das Ende von Lanz’ Ehe. Seine Frau kommentiert, dass Artur den Hund mehr liebe als sie; Artur findet nichts einzuwenden.5
2 3 4 5
demokratischen Verfassungsstaat bedenkliche Tendenzen ausmachen, ohne dass dies einer unbotmäßigen Dramatisierung gleichkommen würde. Freiheit ist immer bedroht – ganz gleich, ob durch »Mob or Monarch«; vgl. Kipling, Rudyard: The Reeds of Runnymede. In: ders., Rudyard Kipling’s Verse. Definitive Edition. London: Hodder and Stoughton 1940, S. 715–716, hier S. 716. Vgl. Maron, Monika: Artur Lanz. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2020, S. 123–125, 177, 212. Ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 86–87. Vgl. ebd., S. 20.
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Die zweite Hälfte des Romans stellt Arturs Versöhnung mit sich selbst dar – durch eine Heldentat, die nicht mehr bloß Parodie ist. Sein Kollege im Physikalisch-Chemischen Institut und Freund Gerald Hauschildt, der in Thüringen aufgewachsen ist, wird eines Posts auf Facebook wegen angegriffen, in dem er die Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland kritisiert. Hauschildt verstößt damit gegen die Interessen seines Instituts, das Beschichtungen für Windkraftwerke entwickelt. Die Angelegenheit wird desto stärker zum Politikum, als der »Vizechef der Rechten Partei«6 Gleichlautendes äußert. Auf Betreiben des Institutsmitglieds Franziska Schwarz, über deren politisch-weltanschauliche Ausrichtung »manche behaupteten, durch ihre Adern fließe grünes Blut«,7 kommt es zu einer Art Tribunal, bei dem Hauschildt rechtes Gedankengut, einschließlich Islamophobie, Ausländer- und Frauenfeindlichkeit vorgeworfen wird.8 Nach einigem Zögern steht Artur seinem Freund Gerald bei. Beide kündigen. Sie wandern in die Schweiz aus, wo sie an einem wissenschaftlichen Institut tätig sind. Soweit der wesentliche Strang der Handlung. Er wird begleitet durch Reflexionen der Erzählerin und Gespräche, die sie mit weiteren Figuren führt: vor allem mit einer engen Freundin, die den Spitznamen »Lady« führt, und einem emeritierten Professor namens Adam Bergmann. Mit Adam verständigt sich die Erzählerin über das Wesen des Heldentums, indem literarische Beispiele diskutiert werden (Theodor Fontane, Der Stechlin; Bertolt Brecht, Die Maßnahme).9 Ein maßvoll eingestreutes Motiv bildet die Erinnerung Charlotte Winters an ihre Jahre in der DDR: an einen Familienvater, der verzweifelt war, wider besseres Wissen und Gewissen einen politischen Aufruf unterzeichnen zu sollen,10 sowie an eine Studentin, die um ein Haar ihrer Lehranstalt verwiesen worden wäre, weil sie es gewagt hatte, auf einer Party Lieder von Wolf Biermann abzuspielen; sie wurde damals von Lady lautstark verteidigt.11 Es versteht sich, dass die DDRReminiszenzen des Erzähltextes als Vergleichsgröße für die Geschehnisse um den aus Thüringen stammenden Hauschildt dienen. Die Erzählerin bemerkt: Geralds Anspruch, ein feineres Gehör für falsche Töne und manipulative Propaganda zu haben als Menschen, die Diktaturen nur aus Büchern und Berichten von Zeitzeugen kannten, teilte ich, zumal ich nicht nur meine Kindheit und Jugend, sondern mein halbes Leben Zeit hatte, mein Gehör zu schulen.12
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Ebd., S. 156. Ebd., S. 132. Vgl. ebd., S. 202–203, 206–212. Vgl. ebd., S. 186–194. Vgl. ebd., S. 52–53. Vgl. ebd., S. 140–142. Ebd., S. 131; vgl. ebd. S. 208.
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Selbstbezüglichkeit Marons Erzähltext weist (mindestens) drei interessante Fälle von Selbstbezüglichkeit auf. Fall 1: Der Roman berichtet von seiner eigenen Entstehung. Auf den abschließenden Seiten des Buches teilt die Erzählerin Charlotte Winter mit, wie sie an ihrem Text über Artur Lanz arbeitet. Dabei ist der Text der Erzählerin über Artur Lanz als identisch und nicht-identisch mit dem Roman Artur Lanz von Monika Maron zu denken, denn der Erzähltext berichtet nicht von seiner Vollendung. Auf der vorletzten Seite des Romans heißt es: »Ich kam nur langsam voran, es war schon April, als Gerald in der Geschichte auftauchte und damit Arturs Suche nach Glück endlich ihre Aufgabe fand.«13 Danach folgt nur noch eine knappe Seite Text, in dem vom Eintreffen einer Ansichtskarte aus der Schweiz die Rede ist. Auf deren Rückseite berichten Lanz und Hauschildt von ihrem neuen Leben im helvetischen Exil. Fall 2: Die mutige und, wie ihre 2021 erschienene Essay-Sammlung Was ist eigentlich los? belegt, streitbare Autorin Monika Maron gestaltet eine zurückhaltende, kaum oder nur sehr selten14 mutige Erzählerin. Dabei geht Maron so weit, ihrer Erzählerin zwar das Interesse an Fragen von Heldentum – in postheroischer15 Formulierung (mit Scare Quotes): ›Heldentum‹ – zuzuschreiben, aber auch hedonistische Charakterzüge, die sie zwar nicht grundsätzlich untauglich für alles Heldentum machen, doch ihre Tauglichkeit für heldische Unternehmungen bedeutend beeinträchtigen dürften. Charlotte Winter verhält sich gegenüber vielen anderen Figuren in einer Weise, die als konsumentenhaft oder instrumentalisierend beschrieben werden könnte; so reflektiert die Erzählerin: »Wäre er [Artur – K.D.] mein Nachbar gewesen, hätte ich ihn sicher als angenehm empfunden«,16 beschreibt sie ihr gewöhnliches Erleben eines Abends im Hause Bergmann: »Fast immer, wenn er [Adam – K.D.] mich einlud, fand ich mich in einer Gesellschaft, der ich lieber ferngeblieben wäre«,17 erinnert sie sich an ihr Leben als »Kind großzügiger, aufgeklärter Eltern« in Ostberlin, »die die vitale Experimentierfreude ihrer Tochter zwar manchmal mit Sorge beobachteten, aber nie behinderten.«18 Charlotte Winter schlägt dabei selbstkritische Töne an; sie sei 13 Ebd., S. 219. 14 Für eine Ausnahme, die allerdings viele Jahre zurückliegt, vgl. ebd., S. 101. Damals verteidigte die Erzählerin ihren Lebensgefährten mit einem Regenschirm gegen einen anderen Mann. 15 Der Begriff »Postheroismus« (bzw. »postheroisch«) kommt in Marons Artur Lanz einige Male zur Sprache, zumeist als Schlagwort, auf das die Erzählerin und andere Figuren Bezug nehmen; vgl. ebd., S. 29, 58, 75, 111, 139, 185. 16 Ebd., S. 51. 17 Ebd., S. 31. 18 Ebd., S. 42.
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»autonomiesüchtig«.19 Die Konsequenz: »Meine Ehen hielten nicht, bis dass der Tod uns schied.«20 Fall 3: Trotz ihrer unheldischen Disposition sieht die Erzählerin ein, dass Heroismus als Lebensideal und -aufgabe ihr zwar fremd sein mag, doch keine Gesellschaft auf die Fähigkeit einer ausreichenden Anzahl Einzelner zum Heldentum verzichten kann – jedenfalls nicht auf die Dauer.21 Die Gespräche Charlotte Winters mit Adam Bergmann dienen, wie ebenfalls die Reflexionen der Erzählerin vor und nach diesen Gesprächen, dazu, den Begriff des Heldischen von Missverständnissen zu befreien, die wie Schlacken an ihm kleben. Denn natürlich muss von Fall zu Fall geklärt werden, wofür der Held sich und nicht selten andere Menschen opfert, die als Gegner, Mitstreiter oder Kollateralschäden zu verzeichnen wären: »Die ganze Welt ändern. Um die Welt zu ändern, ist jedes Mittel recht, hieß das. Der Zweck heiligt die Mittel, hieß das. Und was der Zweck ist, entscheidet wer?«22 Marons Text gerät hier in die Nähe des Didaktischen, indem er – den handlungslogischen Verhältnissen durchweg angemessen – verdeutlicht, dass Schaden oder Nutzen heldenhaften Tuns ceteris paribus vom ethischen Charakter des Ziels definiert werde, welches es zu verwirklichen trachte, und die Fähigkeit zu heldischem Handeln auch dann löblich bleibe, wenn sie missbraucht werden könne: Welcher Begriff lässt sich nicht kapern, sagte Adam, Frieden, Freiheit, Menschenrechte … Du bist doch aus dem Osten, denk nur an euren antifaschistischen Schutzwall, alberner ging es doch gar nicht. Natürlich kann der Begriff gekapert werden, aber der Mythos vom Helden, dem außergewöhnlichen Einzelnen, der bleibt.23
Es gibt folglich ein segensreiches, da vernünftigen und nachhaltigen Zielen dienendes Heldentum und ein schädliches, da unvernünftigen, in die Irre führenden Zielen dienendes Heldentum; all das spricht nicht gegen die Unverzichtbarkeit von Heldentum. Vor diesem Hintergrund sollte der Begriff »Postheroismus« als wenig hilfreiches Schlagwort angesehen werden. Realiter besteht dasjenige, was Norbert Bolz als »antiheroischen Affekt«24 in (vielen) demokratischen Gesellschaften erkennt, nämlich ein Ausfluss von Ressentiment gegenüber demjenigen, der sich zu beherzter Tat fähig zeigt. Somit tritt eine Spannung zwischen intellektuellen Moden, einem in Feuilletons und anderswo vertretenen Antiheroismus (als Ideologem) und den handlungslogischen und historischen Realitäten zutage, die sich im Text als Lernprozess der postheroisch ein19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 50. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 192. Ebd., S. 194. Bolz, Norbert: Der antiheroische Affekt. In: »Merkur« 724–725/2009, S. 762–771, hier S. 768.
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gestellten Erzählerin manifestiert. Marons Roman Artur Lanz legt gerade seinen westdeutschen, unter dem Schirm der Pax americana aufgewachsenen, durch den Einfluss der 1968er Bewegung zu teils unverblümtem Hedonismus ›befreiten‹ Leserinnen und Lesern einen Lernprozess nahe, den seine aus Ostdeutschland stammende, im Westteil Berlins lebende Erzählerin selbst Stück um Stück durchmacht.
Fremdausgrenzung Marons Artur Lanz enthält einige kompositorische Reaktionen auf Fremdausgrenzung, vollzogen von einer Schriftstellerin, die in ihren Essays davon berichtet, dass sie ihres Denkens wegen in jüngerer Zeit als ›rechts‹ ausgegrenzt werde, obschon sich ihre Positionen kaum verändert hätten. In einem 2017, also drei Jahre vor dem Roman Artur Lanz erschienenen Essay unter dem Titel »Links bin ich schon lange nicht mehr« fragt Maron: Welche Achse hat sich gedreht, dass ich mich auf einer anderen Seite wiederfinde, ohne die Seite gewechselt zu haben? Doch die in meinem Kopf ? Oder hat jemand am Meinungskompass gedreht, sodass Osten, Westen, Norden und Süden, also rechts, links, liberal und ahnungslos, völlig durcheinandergeraten sind?25
Besonderes Augenmerk verdient das Gegensatzpaar »liberal und ahnungslos«. Maron deutet hier den Anspruch an, genuin freiheitliche (liberale) Standpunkte zu vertreten, die mit freiheitsfeindlichen Ideologien gleich welchen Zuschnitts unvereinbar seien. Letztere zeichneten sich durch mangelnde Durchdringung der staatsphilosophischen und moralischen Verhältnisse aus; sie verrieten, dass ihre Anhänger »ahnunglos« seien.26 Im Folgenden sollen drei kompositorische Reaktionen Monika Marons auf Fremdausgrenzung besprochen werden. Reaktion 1: Maron gestaltet ein gewolltes Ungleichgewicht zwischen der Rettung des Hundes durch die Titelfigur als groteskem und ironische Bemerkungen ermöglichendem Element auf der einen Seite und dem äußerst wichtigen, aber doch unbequemen Thema der Unverzichtbarkeit von Heldentum – oder, in ausgebauter, Marons liberalen Anspruch reflektierender Formulierung,
25 Maron, Monika: Was ist eigentlich los? Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021, S. 165. 26 In diesem Zusammenhang wirkt der Vorwurf bemerkenswert, Maron lege in jüngerer Zeit »a rigid Enlightenment fundamentalism« an den Tag; vgl. Gramling, David: The Oblivion of Influence: Mythical Realism in Feo Aladag˘’s When We Leave. In: Hake, Sabine/Mennel, Barbara (Hg.): Turkish German Cinema in the New Millennium. Sites, Sounds, and Screens. New York: Berghahn Books 2014, S. 32–43, hier S. 33.
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der Heldentumsfähigkeit einer ausreichenden Anzahl Einzelner als Bedingung der Möglichkeit dauerhaft freier Staatswesen – auf der anderen Seite. Der vorliegende Beitrag vertritt die These, dass das groteske und ironische Element das Gewicht des eigentlichen Themas gleichsam tarne und dadurch der Leserschaft verdaulich mache. Wie prominent Arturs Hund-Rettung als groteskes und ironisches Element im Erzähltext auftritt, sehen Sie an Tabelle 1. Die Tabelle gliedert den Erzähltext in Blöcke von 20 Seiten, um die Verteilung der Stellen über den Text zu visualisieren. Textblöcke à 20 Seiten 1–20
21–40 41–60
61–80 81–100
Nennungen, Rückbezüge 16–20: Artur rettet seinen Hund aus dem Rapsfeld: »[M]ich überkam […] ein wunderbares, ja, ein fast heiliges Gefühl. Ich hatte […] mein Leben riskiert. […] Für einen Hund, weil ich ihn liebte. […] Ich empfand nicht nur ein tiefes Glück, sondern etwas Unbeschreibliches, etwas sehr Großes. […] Sie [Arturs Ehefrau – K.D.] hat behauptet, ich würde den Hund mehr lieben als sie. Und als sie das sagte, wusste ich, dass sie recht hatte.« 23: »An Artus und Lancelot denke ich erst […] wieder, seit ich den Hund aus dem Rapsfeld gerettet habe.« 44: »Und alles hat mit dem Hund im Rapsfeld angefangen, sagte er, dann der Herzinfarkt, danach die Scheidung, und plötzlich fragt man sich, wo man eigentlich falsch abgebogen ist.« 51: »Dieses Gefühl, sagte er, das Glück, das ich empfunden habe, als ich atemlos und erschöpft neben dem Hund am Feldrain saß … […] Ich [Charlotte Winter – K.D.] versuchte mir vorzustellen, wer Artur Lanz gewesen war, ehe ihn Hunderettung, Herzinfarkt und Scheidung in die Lebenskrise geworfen hatten, in der er nun steckte.« 56: »Wahrscheinlich würde er sich eine andere Frau suchen, eine, die er nicht weniger liebte als seinen Hund […].« 65: »Jedenfalls hat er sie am Ende weniger geliebt als den Hund.« 81–83: »[I]ch [Charlotte Winter – K.D.] dachte, dass ich eigentlich nichts über Artur Lanz wusste, was nicht mit seinem Hund, seiner Frau und seiner Mutter zu tun hatte. […] So ähnlich sah mein Hund aus, sagte er [Artur – K.D.] und zeigte auf einen schwarzen Mischling […]. Sie haben mir von dem Glück erzählt, das Sie empfunden haben, als Sie erschöpft neben Ihrem geretteten Hund am Feldrain gesessen haben.« 92: »Als er sich entschloss, den […] für ihn selbst riskanten Kampf gegen das Rapsfeld um das Leben seines Hundes aufzunehmen […], […] ging [es] nur um ihn und den Hund, um Liebe und die Unmöglichkeit, die Liebe nicht zu retten.« 94: »Ich [Charlotte Winter – K.D.] fragte, ob er sich nicht wieder einen Hund anschaffen wolle. […] Dann doch lieber eine Frau, sagte er und lachte. Eine, die ich mehr liebe als einen Hund.«
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Nennungen, Rückbezüge 104: »verunsicherte Männer […] wie Artur Lanz, dessen verschüttete Sehnsucht nach einer […] heldenhaften Tat ein Hund freigegraben hatte.« 112 (implizit): »Ich erzählte ihm [Adam Bergmann – K.D.] also von […] Artur Lanz und der zufälligen Erweckung des Helden in ihm […], was bisher aber nur zur Scheidung seiner Ehe geführt hatte.« 127: »Über sein schicksalhaftes Erlebnis mit dem Hund aber hat er mit Gerald nicht gesprochen. Er sei sicher gewesen, dass Gerald nicht verstanden hätte, warum eine solche Geschichte lebensverändernd sein konnte, weil es für ihn selbstverständlich gewesen wäre, den Hund zu retten, egal wie.« 134–135: »Kann man jemanden nur verteidigen, wenn er recht hat? Ist es nicht auch ein Recht, unrecht zu haben? Welches Recht hatte Ihr Hund, mit der Leine am Hals in ein Rapsfeld zu laufen? Artur war empört. Ein Hund ist ein Hund. […] Außerdem ging es bei Ihrem Hund nicht um Recht, sondern um Liebe.« 159: »Denn die Hürde, die Artur nun zu überwinden hatte, um der Mann zu werden, der er zu sein wünschte, brauchte mindestens so viel Mut, wie er hatte aufbringen müssen, um seinen Hund aus dem Rapsfeld zu retten.« 166: »Und wenn wir schon die Helden nicht verehren wollten, […] sollten wir doch das Heldenhafte schätzen, das irgendwo in jedem von uns schlummerte, bis außergewöhnliche Umstände es weckten, so wie es in Artur Lanz aufgeflammt war, als sein Hund, den er liebte, im Rapsfeld zu verenden drohte.« 183: »Sie [Charlotte Winter – K.D.] wollen wissen, ob ich mich für Gerald ins Rapsfeld stürzen werde, sagte Artur und lachte.« 188–189: »Wie lächerlich es war, in einer Figur wie Artur Lanz nach Heldenmut zu suchen? […] Selbst in einem solchen Leben diese Art Mut zu finden, die, wenn schon nicht das Verbrechen, so doch das Hässliche streift? Nun wohnte Arturs Hunderettung weder das eine noch das andere inne. Für mich war sie ein kleines und ziviles Beispiel für Opfermut aus Liebe.«
201–220 Tab. 1: Sämtliche Nennungen der Hund-Rettung Arturs, inkl. Rückbezügen. Kursive ergänzt. Ziffern: Seitenzahlen des Romans.
Die Tabelle verdeutlicht fernerhin, wie die Hund-Ehe-Groteske genutzt wird, um den Begriff »Liebe« in die Diskussion des Heldischen einzuführen. Die grotesken und die ironischen Elemente des Textes erlauben der Erzählerin, ohne viel Pathos zu verdeutlichen, dass (für sie) wahres, wenigstens aber nicht-toxisches Heldentum darin bestehe, eine geliebte Person zu schützen und zu verteidigen, und
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im Nachhinein eine Antwort auf den antiheroischen Affekt in ihrer Umgebung – unter den Gästen der Bergmanns nämlich27 – zu formulieren. Reaktion 2: Die erwähnte Wirkung von Arturs Hund-Rettung als Effekt eines grotesken Elements, das zusammen mit den teils ironischen Rückbezügen darauf die ernsteren Inhalte des Erzähltexts verdaulich mache, ja gleichsam tarne, erstreckt sich nicht bloß auf die Diskussion von Heroismus und Antiheroismus. Sie betrifft auch Geralds Facebook-Post. Die ironische, teils groteske Einstimmung tarnt nämlich zusammen mit verschiedenen Schilderungen der Figur Gerald als Hitzkopf und Draufgänger28 den Umstand, dass der Inhalt jenes, wie Artur meint, »bekloppten«29 Social-Media-Eintrags keineswegs grotesk ist, sondern – von staatsphilosophischer und nationalökonomischer Warte gesprochen – Hand und Fuß hat. Hauschildts Facebook-Eintrag ist in zwei Versionen erschienen. Zunächst publizierte der Naturwissenschaftler eine semiprivate Fassung, die nur für seine Facebook-›Freunde‹ bestimmt war, jedoch von seiner Arbeitskollegin Franziska Schwarz öffentlich gemacht wurde, nachdem sie sich unter falschem Namen unter seine Facebook-›Freunde‹ gemischt hatte. Diese Version lautet: »Wir marschieren geradewegs ins Grüne Reich, diesmal nicht über die Autobahn, sondern über Stromtrassen!«30 Bald darauf veröffentlichte Gerald eine allgemein zugängliche Version folgenden Wortlauts: »Wir marschieren vorwärts ins Grüne Reich, aber heute nicht über Autobahnen, sondern über die Stromtrassen der Grünen.«31 Letztere Fassung wurde von Gerald auch in englischer Übersetzung veröffentlicht, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Die Behauptung, dass Gerald Hauschildts Facebook-Post in staatsphilosophischer und nationalökonomischer Hinsicht Hand und Fuß habe, lässt sich leicht belegen. Dazu will zunächst an die freiheitsverbürgende Funktion der Markt- und Unternehmerwirtschaft (vulgo Kapitalismus) erinnert sein; wie kein Geringerer als Wilhelm Röpke mahnt, muss es als unmöglich gelten, in staatsphilosophischen Dingen Freiheit zu wünschen, wo jene Freiheit in wirtschaftlichen, also vorderhand ›flacheren‹ Angelegenheiten nicht verteidigt wird.32 Mit jeglicher Form von »Kommandowirtschaft«33 wird »der demokratische Herr27 28 29 30 31 32
Vgl. Maron, Monika: Artur Lanz, S. 33–38. Vgl. ebd., S. 125–128; vgl. jedoch die Relativierung der Erzählerin ebd., S. 204. Ebd., S. 178. Ebd., S. 131. Ebd., S. 134. Vgl. Röpke, Wilhelm: Erziehung zur wirtschaftlichen Freiheit. In: Hunold, Albert (Hg.): Erziehung zur Freiheit. Erlenbach-Zürich/Stuttgart: Eugen Rentsch 1959, S. 281–299, bes. S. 282–286. D’accord Hayek, Friedrich August von: The Road to Serfdom (The Collected Works of F.A. Hayek, Bd. II). Chicago: The University of Chicago Press 2007, S. 100–103. 33 Röpke, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft. Erlenbach-Zürich/Stuttgart: Eugen Rentsch (10. Auflage) 1965, S. 311.
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scher ›Markt‹ durch den autokratischen Herrscher ›Staat‹ ersetzt«34 und damit jener dezentrale, spontane Informationsfluss verhindert, den freie Preise, ein (weitgehend) unbeeinträchtigtes Spiel von Angebot und Nachfrage ausmachen. Die Vertreter der Kommandowirtschaft prätendieren wider alle Vernunft, wie Friedrich August von Hayek anschließen würde, über ein höherwertiges und umfangreicheres Wissen zu verfügen, als in den Abermillionen individueller, formeller oder informeller Verträge (Kauf- und Karriereentscheidungen, Heiratspläne etc.) der gewöhnlichen Bürger vermittelt wird.35 Soweit die ordnungspolitischen Gegebenheiten. Aus diesen sehr rudimentären, doch hinreichenden Bemerkungen über den Gegensatz zwischen einer (weitgehend) freien Markt- und Unternehmerwirtschaft und den verschiedenen Ausprägungen dessen, was mit Röpke unter Kommandowirtschaft zu subsumieren wäre, ergibt sich: Gerald Hauschildt vertritt in seinem Facebook-Post die Auffassung, dass die ordnungspolitischen Vorstellungen der Energiewende in der Bundesrepublik Deutschland mit einer freiheitlichen und freiheitsverbürgenden Wirtschaftsordnung unvereinbar seien und daher den freiheitlichen (oder bürgerlichen) Charakter der Gesellschaft bedrohten. Sein Argument mag kritikwürdig sein, es mag sich sachlich widerlegen lassen, aber es ist nicht indiskutabel, da es jeden mit volkswirtschaftlichen Dingen auch nur oberflächlich Vertrauten an einschlägige Positionen des Ordoliberalismus (Röpke) und der Österreichischen Schule in der Nationalökonomie (Hayek) erinnert. Weniger ›akademisch‹ formuliert: Die von Gerald inkriminierte Energiewende ist de facto nur möglich, wenn Marktwirtschaft durch Kommandowirtschaft ersetzt wird. Kommandowirtschaft bleibt, und dies gilt m. E. für jede ihrer Ausprägungen, inkompatibel mit staatsbürgerlicher Freiheit. Darin liegen der Kern und die Motivation von Geralds Polemik gegen das »Grüne Reich«, wie auch der Grund für die Wortwahl »Wir marschieren«, einschließlich der Verschärfung von »geradewegs« zum stärker historische Reminiszenzen weckenden »vorwärts«. Reaktion 3: Maron versieht das Ende ihres Romans mit einer ironischen Brechung. Zwar gibt es, was als Happy End angesehen werden darf, nämlich die Versöhnung des Titelhelden mit sich selbst, da er den Mut aufbringt, seinem Freund Gerald gegen die weit überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter des Forschungsinstituts beizustehen. Doch ist das Happy End mit dem Problem geschlagen, eine Art Männerbund-Lösung zu zeichnen, also etwas nicht selten als 34 Röpke, Wilhelm: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch (5. Auflage) 1948, S. 147. 35 Vgl. Hayek, Friedrich August von: The Fatal Conceit. The Errors of Socialism (The Collected Works of F.A. Hayek, Bd. I). Chicago: The University of Chicago Press 1989, S. 66–88.
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reaktionär Angesehenes. Nachdem Gerald in Anwesenheit der Erzählerin (und ihrer engen Freundin Lady) seinem Freund Artur per Schulterklopfen – also per sehr männlicher Geste – für dessen Beistand Dank und Respekt gezollt hat, ziehen die beiden Naturwissenschaftler in die Schweiz, machen eine Art MännerWG auf und arbeiten dort an einem Forschungszentrum. Tabelle 2 veranschaulicht, wie die Hinweise auf den Männerbund-Topos im Text des Romans verteilt sind – unter Einschluss einer zweifelsohne korrespondierenden Passage, in der von »westdeutschen Frauenbuchhandlungen« die Rede ist. Textblöcke à 20 Seiten 1–20
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64–65: »Als ich zum ersten Mal von westdeutschen Frauenbuchhandlungen hörte, die Männer nicht einmal in weiblicher Begleitung betreten durften, schüttelte mich ein Lachen, so dass der Wein […] mir meine neue […] Bluse versaute.« 95: »Feuerwehrleuten ließ sich Heldentum schlecht absprechen, wenn sie auch der Verdacht von Männertümelei umgab.«
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165–167: »›[…] Und du warst der treueste Freund deinem Freund, der je ein Pferd bestieg. […]‹ […] Und mein [Charlotte Winters – K.D.] Freund Artur? Ob er seinem Freund der treueste Freund sein würde, musste sich erweisen.« 183: »Zum Abschied las ich ihm noch Sir Hectors Totenrede auf seinen Bruder Lancelot vor, vor der Zeile ›du warst der treueste Freund deinem Freund‹ machte ich eine kleine Pause und las sie besonders langsam.« 189: »Aber was liebte Leutnant Greeley? Seine ihm anvertrauten Gefährten? Sein Gewissen, also sich selbst?« 210: »Keine Sorge, der hat seinen Auftritt noch, sagte Gerald und klopfte dabei Artur anerkennend auf die Schulter.« 213: »Gerald genoss Arturs Darbietung von seinem grandiosen Auftritt, als höre er die Sätze zum ersten Mal. Wer hätte denn geahnt, dass so ein Kerl in ihm steckt, sagte er und tätschelte dabei Arturs Hinterkopf.« 220: »Liebe Charlotte, wir sind jetzt hier, in der schönen Schweiz, und arbeiten beide im CERN […]. Es geht uns gut, wir haben ein kleines Haus gemietet […].«
Tab. 2: Sämtliche Hinweise auf den Männerbund-Topos. Ziffern: Seitenzahlen des Romans. Ohne Kursive.
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Was eine mögliche Genese des Männerbund-Topos in Marons Roman Artur Lanz angeht, gibt ein Gespräch der Autorin mit dem Historiker David Engels einen Anhaltspunkt. Darin bemerkt Monika Maron, die Figur Lady als Leserin Oswald Spenglers dargestellt zu haben, weil sie von Engels, der ein Kenner Spenglers ist, darauf gebracht worden sei.36 Die Achse Maron-Engels könnte ebenfalls zur Einfügung der Männerbund-Lösung beigetragen haben, zumal Engels auf einer recht bekannten konservativen Website publiziert, von deren Redakteuren und Beiträgern sein Schaffen seit einigen Jahren rezipiert wird.37 Die Website, mit deren Inhalten Engels vertraut sein dürfte, empfiehlt ein christlich geprägtes »Dienstethos«38 auch und gerade männlicher Vereinigungen.39
Selbstbeschränkung Als Fälle kompositorischer Selbstbeschränkung sollen Stellen angesehen werden, an denen Monika Maron den Text bewusst nicht weiterführt, obwohl alle Voraussetzungen für eine Weiterführung im Text angelegt sind. Derartige Stellen überlassen es den Leserinnen und Lesern, den angedeuteten Schluss zu vollziehen. Wie hier verstanden, gereicht kompositorische Selbstbeschränkung zu einem Vertrauen der Schriftstellerin in ihr Publikum. Nachfolgend sollen zwei solche Fälle besprochen werden. Fall 1: Das im vorigen Abschnitt diskutierte Happy End ist nicht bloß mit dem Männerbund-Problem geschlagen, sondern auch damit, dass es für die Bundesrepublik Deutschland recht eigentlich kein Happy End bildet. Mit Lanz und Hauschildt verlassen zwei hochqualifizierte Naturwissenschaftler das Land, deren Ausbildung der deutsche Steuerzahler finanziert hat. Es handelt sich um einen gravierenden Fall von Brain Drain. Die Angelegenheit wird jedoch nicht deutlicher gemacht, als gegenwärtig beschrieben.
36 Vgl. Engels, David: Von »Flugasche« über »Pawels Briefe« bis Artur Lanz: Autorenlesung mit Monika Maron (auf dem Youtube-Kanal des Instytut Zachodni in Poznan´). URL: https:// www.youtube.com/watch?v=2v291crQlhU / letzter Zugriff am 13. November 2021. 37 URL: https://renovatio.org / letzter Zugriff am 13. November 2021. 38 URL: https://renovatio.org/fachgruppen/fachgruppe-1-christliches-dienstethos / letzter Zugriff am 13. November 2021. 39 Vgl. Wunder, Simon (verantwortlich): Der Männerbund. Träger und Wahrer des Gemeinwesens. Augsburg 2021. URL: https://renovatio.org/wp-content/uploads/Renovatio-Impulse -Nr.-3-Der-Maennerbund.pdf / letzter Zugriff am 13. November 2021. Die knapp 100 Seiten starke, mit über 680 Endnoten versehene Abhandlung erschien erstmals im August 2021, also nach der Publikation von Artur Lanz. Es darf jedoch davon ausgegangen werden, dass sie über längere Zeit entstanden ist – also in Überschneidung mit der abschließenden Fassung von Marons Roman.
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Maron rührt hier mit großer Wahrscheinlichkeit an die Theorien des Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlers Gunnar Heinsohn, der in ihrem 2018 erschienenen Roman Munin oder Chaos im Kopf wie folgt – das heißt: zwar anonymisiert, allein für das gebildete Publikum dadurch kaum unkenntlich gemacht – eingeführt wird: Vor einiger Zeit hatte ich den Artikel eines Wissenschaftlers gelesen, der die Gefahr gegenwärtiger Kriege vor allem in den überzähligen Söhnen armer, dafür bevölkerungsreicher Länder sah. Diese jungen Männer, obendrein sexuell frustriert, weil ohne berufliche Zukunft nicht heiratsfähig, würden wie Dynamit in einer Gesellschaft wirken, in der sie sich erobern müssten, was ihnen verwehrt sei. Entweder würden sie kriminell oder erfänden sich eine Theorie zu einer »gerechten« Gesellschaft, mit der sie das Töten aller, die sie zu Feinden erklären, rechtfertigen könnten. In Europa, schrieb der Professor, habe vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert eine ähnliche Situation geherrscht.40
Heinsohns Publizistik beschäftigt sich verschiedentlich mit den Gesetzmäßigkeiten von Brain Drain und Brain Gain, der Ab- bzw. Zuwanderung Hochqualifizierter. Deren Kern lässt sich wie folgt beschreiben: Wo minderqualifizierte oder gänzlich qualifikationslose Immigranten eingelassen werden, steigen die Ausgaben für Sozialprogramme. Diese Programme werden durch höhere Steuern, Staatsverschuldung und chronische Inflation finanziert. Das Land wird für Hochqualifizierte unattraktiv. Sie suchen sich in einem anderen Land Arbeit, wo die Abgabenlast geringer ist. Im Land der ›großzügigen‹ Sozialprogramme herrscht Brain Drain, in dem konkurrierenden Staat Brain Gain.41 Vor diesem Hintergrund nehmen sich Hauschildts Einlassungen zur Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland weit weniger radikal und ausländerfeindlich aus, als ihm von Kollegen seines Forschungsinstitutes vorgeworfen wird.42 Geralds Einwände gegen eine wahllose Einwanderungspolitik haben einen rationalen Kern. Außerdem, so ließe sich ergänzen, stellt die Sicherung von Hochtechnologie- und Wissenschaftsstandorten etwas dar, das auch den weniger gesegneten Gegenden des Planeten zugute kommt. Wo sonst sollen neue, bessere Gerätschaften, Dünge- und Arzneimittel entwickelt werden? Aber wie gesagt: Monika Maron vermeidet eine Beantwortung dieser Fragen in ihrem Erzähltext. Sie führt ihre Leserinnen und Leser bis an die Schwelle der 40 Maron, Monika: Munin oder Chaos im Kopf. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021, S. 86–87. Zu Krähen(gestalten) in verschiedenen Texten Marons, also ebenfalls der Krähe Munin, vgl. Klingenböck, Ursula: »Nun also die Krähen«. Krähen-Narrationen und Narrative bei MonikaMaron. In: »Studia theodisca« XXVII / 2020, S. 25–39. 41 Vgl. Heinsohn, Gunnar: Der Sozialstaat pumpt Geld und vermehrt die Armut (2010). URL: https://www.welt.de/debatte/article6305249/Der-Sozialstaat-pumpt-Geld-und-vermehrt-dieArmut.html / letzter Zugriff am 13. November 2021. 42 Vgl. Maron, Monika: Artur Lanz, S. 206–209.
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genannten Erkenntnisse, lässt ihr Publikum die Schlüsse ziehen oder setzt voraus, dass es die Antworten kennt. Fall 2: Während des Institutstribunals gegen Gerald Hauschildt wirft ihm seine Arbeitskollegin Franziska Schwarz vor, dass er »ungeniert wissenschaftliche Tatsachen leugne.«43 Ihr Vorwurf droht im Rauschen der vielen weiteren Anwürfe unterzugehen, da keine Figur sachlich auf ihn entgegnet. Das ist für einen Kreis von Naturwissenschaftlern bemerkenswert, ja bedenklich. Schwarz’ Vorwurf verdeutlicht nämlich, dass sie das Wesen der Wissenschaft nicht versteht. Jeder mit der Wissenschaftstheorie in der Nachfolge Karl Poppers und kritischer Entgegnung auf Popper oberflächlich Vertraute weiß, dass wissenschaftliche Sätze (Prüfsätze, Theorien, Forschungsprogramme) Hypothesen bilden, die an der Erfahrungswirklichkeit scheitern können,44 – und dass wissenschaftlicher Fortschritt nur deshalb möglich ist, weil man jene Hypothesen anzweifeln kann und darf.45 Natürlich darf nicht jedes Anzweifeln auf sachbedingten Erfolg hoffen, doch das tut den logischen Verhältnissen keinen Abbruch. Sätze, die man nicht anzweifeln darf, bewegen sich außerhalb der Wissenschaft. Der sprechende Nachname46 von Franziska Schwarz zielt also nicht nur auf die ideologisch befeuerte Verschlagenheit einer Person, die unter falschem Namen einen Kollegen auf Facebook ausspäht, sondern gleichfalls auf deren Wissenschafts- und Aufklärungsferne. Auch hier führt Monika Maron ihre Leserinnen und Leser bis an die Schwelle zur Einsicht und überlässt es ihnen, die Fäden zu verknüpfen.
Abschließende Bemerkungen Wie der vorliegende Aufsatz gezeigt hat, handelt es sich bei Monika Marons Artur Lanz um einen sorgsam komponierten Erzähltext, der in verschiedener Weise auf die Realien der Gegenwart und die jüngere politische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland reagiert. Dazu gehört Selbstbezüglichkeit, hier herausgearbeitet als der Fall eines Buches, das über seine eigene Entstehung berichtet, und das Beispiel einer mutigen und streitbaren Autorin, die eine (mehr 43 Ebd., S. 179. 44 Vgl. Popper, Karl: Logik der Forschung. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) (6. Auflage) 1976, S. 15. 45 Vgl. Popper, Karl: Falsifizierbarkeit, zwei Bedeutungen von. In: Seiffert, Helmut/Radnitzky, Gerard (Hg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. München: dtv Wissenschaft 1992, S. 82– 86. 46 Es versteht sich, dass »Schwarz« nicht der einzige sprechende (Nach-)Name in Marons Roman ist.
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oder minder) postheroische Erzählerin schafft, welche dennoch die Unverzichtbarkeit wohlverstandenen Heldentums einsieht. Der Roman Artur Lanz kreist nicht zuletzt um Fremdausgrenzung, wie er zugleich das Werk einer Verfasserin ist, die selbst Fremdausgrenzung erfahren hat. Als kompositorische Reaktionen auf solche Fremdausgrenzung mögen anzusehen sein: das wohlkalkulierte Ungleichgewicht zwischen dem grotesken und zu ironischen Rückbezügen Anlass gebenden Element von Arturs Hund-Rettung und dem ernsten, ja sperrigen Thema der Unverzichtbarkeit von Heldentum (oder der Fähigkeit einer ausreichenden Anzahl Einzelner zu heroischen Akten als Bedingung der Möglichkeit dauerhaft freier Gemeinwesen); ferner die ›Tarnung‹ des Umstands, dass Geralds Facebook-Post in staatsphilosophischer und nationalökonomischer Hinsicht keineswegs als indiskutabel gelten kann, durch den Hitzkopf-Charakter jener Figur und das bereits genannte grotesk-ironische Element der Hund-Rettung; schließlich die ironische Brechung des Happy End durch Männerbündisches. Als kompositorische Selbstbeschränkung einer (umstrittenen) Autorin, die auf ihre Leserinnen und Leser vertraut, dürfte anzusehen sein, wie Monika Maron in zwei Fällen ihr Publikum mit allen nötigen Hinweisen an einen Schluss heranführt, den sie ihm zu ziehen überlässt – so im Falle der Äußerungen Geralds zur Einwanderungspolitik und jener von Franziska Schwarz, der Mitarbeiterin eines naturwissenschaftlichen Forschungsinstituts, die das Wesen von Wissenschaft nicht versteht.
Literatur Bolz, Norbert: Der antiheroische Affekt. In: »Merkur« 724–725/2009, S. 762–771. Engels, David: Von »Flugasche« über »Pawels Briefe« bis Artur Lanz: Autorenlesung mit Monika Maron (auf dem Youtube-Kanal des Instytut Zachodni in Poznan´). URL: https://www.youtube.com/watch?v=2v291crQlhU / letzter Zugriff am 13. November 2021. Gramling, David: The Oblivion of Influence: Mythical Realism in Feo Aladag˘’s When We Leave. In: Sabine Hake, Sabine/Mennel, Barbara (Hg.): Turkish German Cinema in the New Millennium. Sites, Sounds, and Screens. New York: Berghahn Books 2014, S. 32–43. Hayek, Friedrich August von: The Fatal Conceit. The Errors of Socialism (The Collected Works of F.A. Hayek, Bd. I). Chicago: The University of Chicago Press 1989. Hayek, Friedrich August von: The Road to Serfdom (The Collected Works of F.A. Hayek, Bd. II). Chicago: The University of Chicago Press 2007. Heinsohn, Gunnar: Der Sozialstaat pumpt Geld und vermehrt die Armut (2010). URL: https://www.welt.de/debatte/article6305249/Der-Sozialstaat-pumpt-Geld-und-vermeh rt-die-Armut.html / letzter Zugriff am 13. November 2021.
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Hoffmann, Torsten: Ästhetischer Dünger. Strategien neurechter Literaturpolitik. In: »Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte«, 95/2021, S. 219– 254. Kipling, Rudyard: The Reeds of Runnymede. In: ders., Rudyard Kipling’s Verse. Definitive Edition. London: Hodder and Stoughton 1940, S. 715–716. Klingenböck, Ursula: »Nun also die Krähen«. Krähen-Narrationen und -Narrative bei Monika Maron. In: »Studia theodisca« XXVII / 2020, S. 25–39. Lewicki, Aleksandra/Shooman, Yasemin: Building a new nation: anti-Muslim racism in post-unification Germany. In: »Journal of Contemporary European Studies«, 28. Jg., Nr. 1/2020, S. 30–43. Maron, Monika: Artur Lanz. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2020. Maron, Monika: Munin oder Chaos im Kopf. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021. Maron, Monika: Was ist eigentlich los? Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021. Popper, Karl: Logik der Forschung. Tübingen J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) (6. Auflage) 1976. Popper, Karl: Falsifizierbarkeit, zwei Bedeutungen von. In: Seiffert, Helmut/Radnitzky, Gerard (Hg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. München: dtv Wissenschaft 1992, S. 82–86. Revesz, Eva B.: Changing Her Tune: Antihumanism in Monika Maron’s Munin oder Chaos im Kopf. In: Iván López (Hg.): Aftershocks: Globalism and the Future of Democracy. Zaragoza: Servicio de Publicaciones, Universidad Zaragoza 2021, S. 66–75. Röpke, Wilhelm: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch (5. Auflage) 1948. Röpke, Wilhelm: Erziehung zur wirtschaftlichen Freiheit. In: Hunold, Albert (Hg.): Erziehung zur Freiheit. Erlenbach-Zürich/Stuttgart: Eugen Rentsch 1959, S. 281–299. Röpke, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft. Erlenbach-Zürich/Stuttgart: Eugen Rentsch (10. Auflage) 1965. Wunder, Simon (verantwortlich): Der Männerbund. Träger und Wahrer des Gemeinwesens. Augsburg 2021. URL: https://renovatio.org/wp-content/uploads/Renovatio-Impulse-N r.-3-Der-Maennerbund.pdf / letzter Zugriff am 13. November 2021. URL: https://renovatio.org / letzter Zugriff am 13. November 2021. URL: https://renovatio.org/fachgruppen/fachgruppe-1-christliches-dienstethos / letzter Zugriff am 13. November 2021.
Arletta Szmorhun (Zielona Góra)
Grenzbestimmte Familienexistenzen in Fünf Kopeken von Sarah Stricker
Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen – Einleitung Grenzen und Grenzziehungen prägen menschliches Denken und Handeln, auch wenn sie nicht (immer) unmittelbar sichtbar oder spürbar werden. Während territoriale bzw. räumliche Grenzen durch eine klar definierte Trennungslinie leicht zu identifizieren sind, lassen sich symbolische Grenzen als ›Linien‹ oder ›Orte‹ viel schwieriger fassen, ohne dabei ihre Wirkmächtigkeit einzubüßen. Grenzen und Grenzziehungen beeinflussen das gegenseitige Verhältnis von Individuen, Kulturen und Staaten, so dass sie als ›Vorschriften‹ zu begreifen sind, die sozialen Handlungsbereich organisieren und dabei regeln, in welchem Ausmaß die Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen vereinbar ist. Grenzen können nicht nur durch Gesetze, Rechtsprechungen oder soziale Beziehungen, sondern auch durch gesellschaftliche Konventionen und kulturelle Wahrnehmungsmuster festgelegt und gefestigt werden. Charakteristisch für das semantische Profil der Grenze sind Ambivalenzen, denen der Grenzbegriff ein nicht geringes Potenzial an Eigendynamik verdankt. Sie generieren einen gewissen Spannungszustand, der die Grenze entweder als einen scharfen Einschnitt oder als einen dehnbaren Ort der Überschreitungen denken lässt: »Die Gegensätze im begrifflichen Radius der Grenze zeigen sich nicht zuletzt daran, dass Akte der Begrenzung sowohl positiv als auch negativ bewertet sein können. So stellen strikte Grenzziehungen im Sinne von Ausschlusspraktiken – sei es aufgrund der Religion, des Geschlechts oder der Hautfarbe – Formen der Gewaltausübung dar, während andererseits subkulturelle oder künstlerische Gruppenbildungen Freiräume eröffnen können, die dem Status der Abgrenzung einen positiven Stellenwert zusprechen.«1 Das Zusammenleben der Mitglieder einer Gemeinschaft ist also durch Grenzpraktiken geprägt, wobei hierunter nicht nur »das Ideal einer machtfreien Kommunikation gemeint ist, sondern im Gegenteil eine 1 Kleinschmidt, Christoph: Semantik der Grenze. In: »Aus Politik und Zeitgeschichte« Nr. 4–5/ 2014, S. 3–8, hier S. 4.
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auf Machtfaktoren begründete Übereinkunft, mit deren Hilfe sich eine Gemeinschaft nach außen abgrenzt und nach innen die Verhaltensweisen im Zusammenleben reguliert.«2 Da es den Menschen nicht nur darum geht, mit Hilfe von Grenzpraktiken soziale Beziehungen zu regeln und Voraussetzungen für gesellschaftliche Ordnungssysteme zu schaffen, sondern auch darum, ihre Bedürfnisse durch interessengeleitetes Handeln zu befriedigen und sich innerhalb der jeweiligen Ordnung einen sicheren Status zu verschaffen, sind symbolische und soziale Grenzziehungen so gut wie unvermeidbar. Ihre anthropologische Notwendigkeit und Universalität setzt jedoch keinesfalls voraus, dass jede kontextbezogene Grenzziehung notwendig oder gar berechtigt ist. Ganz im Gegenteil: Entlang welcher Merkmale symbolische und soziale Grenzziehungen vorgenommen werden, wie durchlässig sie sind und welche Bedeutung den grenzziehenden und grenzüberschreitenden Kategorien beigemessen wird, ist hochgradig variabel.3 Da Grenzen und Grenzpraktiken eine ordnungs- und identitätsstiftende Funktion haben, lassen sie sich selber nicht restlos einordnen und einer identifizierenden Begrifflichkeit unterwerfen. Stattdessen verweisen sie auf Grenzbilder, Grenzvisionen und Grenzsymbole, durch die Grenzordnungen bezeichnet und festgelegt werden. Die verschiedenen Grenzordnungen verweisen hingegen auf eine »fundamentale Fraglichkeit der Grenze, die keine endgültige Beantwortung zuläßt; denn damit wäre die Grenze wiederum eingemeindet. Stattdessen fordert sie zu Antworten heraus, in deren wechselnder Gestalt sich ein jeweils verschiedener Umgang mit Grenzen bekundet.«4 Für alle Grenzpraktiken gilt, dass sie als »Orientierungs- bzw. Ordnungsgehilfen im Umgang mit der Wirklichkeit«5 an das Kriterium der Wiederholung gebunden sind, so dass sie immer wieder Sichtbarkeit erlangen müssen, um Gültigkeit zu beanspruchen und die gesellschaftlichen Verhältnisse als ›strukturiert‹ auszuweisen. Jedem und allem schreiben sie mittels sozialer, kultureller oder nationaler Ab- und Eingrenzungen einen ganz bestimmten Platz in der Gesellschaft zu, indem sie die Wirklichkeit »in Sphären des Gleichen und des Anderen einteilen«6 und »Zugehörige von Nichtzugehörigen auf der Grundlage einer als bedeutsam wahrgenommenen und pointierten Unterschiedlichkeit von Kulturen, Sprachen, Lebenswelten, Lebensstilen oder Identitäten sondieren«7, was häufig leidvolle Auseinandersetzungen mit sich bringt. 2 Ebd., S. 8. 3 Vgl. Kroneberg, Klemens: Motive und Folgen sozialer Grenzziehungen. In: »Aus Politik und Zeitgeschichte« Nr. 4–5/2014, S. 9–14, hier S. 9. 4 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 38. 5 Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript Verlag 2002, S. 9. 6 Ebd. 7 Ebd.
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Dass verschiedene Formen der Grenzerfahrung über verschiedene Symbolregister laufen und durch wechselseitige »Resonanzen, Konsonanzen und Dissonanzen«8 geprägt sind, soll im Folgenden am Beispiel des Romans Fünf Kopeken (2013) von Sarah Stricker veranschaulicht werden, in dem das Zusammenleben der Mitglieder einer Familiengemeinschaft aufgrund eines überzogenen Machtanspruchs eines Familienvaters durch grenzziehendes und grenzüberschreitendes Verhalten destruiert wird. Seine autoritäre Familienpolitik speist sich nämlich aus dem Wunsch, durch die Einführung von Distinktionen, mit denen sich die familiäre Wirklichkeit perfekt ordnen und strukturieren lässt, seine Vormachtstellung im Familiensystem zu bekräftigen und nicht nur sich selbst, sondern vor allem seine eigene Tochter von Menschen mit entgegengesetzten Meinungen, Mentalitäten, Wertorientierungen und politischen Einstellungen abzugrenzen, so dass für Selbstbestimmung und Eigeninitiative kein Spielraum übrig bleibt. In den Blick gerät in diesem Zusammenhang einerseits grenzziehendes Diktum des Vaters, das auf Parzellierung, Disziplinierung und Reglementierung des familiären Raums abzielt und ihm in erster Linie dazu verhilft, sich mit seiner nicht nachlassenden Nazibegeisterung in der Nachkriegswelt zu orientieren und seinen Lebensraum mit vertrauten ideologischen Bedeutungen zu füllen, von denen er sich nicht verabschieden kann und will. Andererseits wird auf grenzüberschreitendes Verhalten seiner Tochter eingegangen, das Konflikte an den vom Vater festgelegten Grenzen hervorbringt und seine utopischen Vorstellungen von einer ›heilen‹ (Familien)Welt irritiert.
Familie als ›Exerzierplatz‹ In ihrem Debütroman Fünft Kopeken setzt Sarah Stricker einen autoritären Vater, Oskar Schneider, auf die Bühne, der seiner einzigen Tochter alles verbietet, außer hässlich zu sein. Das Einzige, was ihn am Äußeren seiner Tochter interessiert, sind die Spuren, die er darin hinterlassen hat. Von Schönheit hält er nichts. Er ist nämlich fest davon überzeugt, »dass einem jungen Menschen nichts Besseres passieren könne, als »ein bisschen Sand im Betriebe«, das bilde den Charakter, »vorausgesetzt natürlich, die Anlagen stimmen« […]«.9 Nach diesem Motto wird sie auch mit ›pädagogischen‹ Maßnahmen ihres Vaters in eine Rolle hineinerzogen, die er für sie vorgesehen hat. Die Geschichte wird aus der Perspektive seiner Enkelin – der angehenden Journalistin Anna – dargestellt, die das Leben ihrer im Sterben liegenden Mutter Revue passieren lässt und Licht auf die Figur ihres autoritären Großvaters wirft. Oskar Schneider ist ein ehemaliger 8 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, S. 38. 9 Stricker, Sarah: Fünf Kopeken. Köln: Eichborn Verlag 2013, S. 8.
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Wehrmachtsoffizier, der bereits im Alter von 19 Jahren den Rang eines Oberleutnants verliehen bekommen hat, und auch 50 Jahre später nicht bereit ist, sich diese Ehre wieder nehmen zu lassen. Seine ›Karriere‹ im Terror-Apparat des Hitlerreichs stört ihn jedoch keineswegs daran, sich reibungslos in die neuen politischen Verhältnisse einzuordnen und – falls es die Situation erfordert – zu beteuern, eine Tante gehabt zu haben, »die ein paar Juden im Keller versteckt hatte«10 und »ein glühender, wenn auch »der Mutter zuliebe« heimlicher Antifaschist gewesen»11 zu sein. Von solcherart ideologischen Bredouillen abgesehen, betrachtet Oskar die Jahre zwischen 1939 und 1945 doch als »«die besten seines Lebens«.«12 Seine Enkelin Anna geht in ihren familienbezogenen Überlegungen einen Schritt weiter und behauptet sogar, dass diese Zeit wie geschaffen für Männer wie ihn war: Männer, die eigentlich noch Jungs waren und das so schnell wie möglich ändern wollten. Die sich für so ziemlich alles begeisterten, was ihnen ein paar Abzeichen an die Uniform bringen konnte. Und mein Großvater war der Schlimmste von allen. Er sagte »Verantwortung« und meinte »Herausforderung«. Im Radio redeten sie von »Volk und Vaterland«. Er hörte »raus in die große, weite Welt«. Er brachte alles mit, was man damals suchte: Siegeswillen, Machthunger, Leidenschaft. Und völlige Blindheit für die eigenen Defizite. Andere mochten größer und stärker und vielleicht, »vieleeeicht«, sogar schlauer sein. Aber mein Großvater war einer von den Menschen, die sich ihrer selbst so sicher sind, dass sich ihrem Gegenüber jeder Zweifel verbietet. Er wirkte nicht, als halte er sich für etwas Besseres. Er tat es. Und das mit einer solchen Überzeugung, dass ihm die meisten glaubten.13
In ihrem Kommentar macht Anna keinen Hehl daraus, dass die militärische Karriere ihres Großvaters sich paradoxerweise nicht zuletzt seinen Schwächen, Komplexen und Defiziten verdankt, denen er unter kriegsbedingten Umständen einen positiven Dreh verleihen und sie als Stärken ausweisen kann. Eigenschaften, die Anna ihrem Großvater zuschreibt – Anerkennungsgier, Machthunger und Unfähigkeit, die ichstrukturellen Defizite zu erkennen und sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen – korrespondieren in der NS-Zeit mit den Voraussetzungen eines Massenprogramms, das darauf abzielt, junge Soldaten einer Leib-, Seelen- und Gehirnwäsche zu unterziehen und ihnen die Abneigung gegen Töten und Sterben auszutreiben. Es wird eine Haltung produziert, die sie dazu verpflichtet, Brutalität, Skrupel- und Rücksichtslosigkeit in ihr Selbstbild zu integrieren und untereinander mit ihren (Gewalt)Leistungen zu renommieren. Diesem ›Härte-Imperativ‹ leistet Annas Großvater übereifrig Folge. Er erweist sich in seinem Fall einerseits als ein innerer Unterdrückungsmechanismus, der 10 11 12 13
Ebd., S. 17. Ebd. Ebd. Ebd., S. 17f.
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ihn davor schützt, von menschlichen Emotionen und/oder Zweifeln an der Richtigkeit der staatlichen (Gewalt)Ordnung übermannt zu werden, die seine militärische Männlichkeit und Führungskompetenz in Frage stellen könnten. Andererseits verhilft ihm das ›Härte-Gebot‹ dazu, sich trotz intellektueller und körperlicher Defizite hervorzutun und schlauere Kameraden in den Schatten zu stellen. Dem Urteil der Enkelin, dass ihr Großvater der Schlimmste von allen wäre, ist zu entnehmen, dass seine Hemmschwelle, Grenzen des Menschlichen zu überschreiten, um sein Bedürfnis nach Anerkennung und Macht zu stillen, gering bzw. relativ gering ist. Die Erkenntnis, dass Gewalt kein Störfall der Zivilisation, sondern vielmehr ihr Normalfall ist, fließt auch in Oskars Privatleben ein. Die Familie, die er mit seiner Frau Hilde gründet, bringt dementsprechend ein Ordnungsmuster hervor, das der Herrschaftsstruktur seiner besten Jahre Rechnung trägt, so dass die beiden Sphären – das Politische und das Familiäre – zwangsvereinigt werden und zwar durch »ein männlich-väterliches Herrschaftskontinuum.«14 Oskar Schneider steht exemplarisch dafür, dass zwischen Männlichkeit und Staatlichkeit »ein strukturelles Äquivalenzverhältnis«15 besteht und zwar in dem Sinne, dass der Staat das Projekt männlicher (Gewalt)Dominanz aus der Öffentlichkeit in die Privatheit der Familie verbannt. Auf diese Weise bekommt das seiner Gewalt in der öffentlichen Sphäre enteignete männliche Subjekt die legitime Verfügungsgewalt und Macht über familiarisierte Personen zuerkannt und macht sie auch zu seinem Organisationsprinzip.16 Geprägt von der Dynamik der Kriegslehre, in der Stillstand und Tod auf dieselbe Stufe gestellt werden, entwickelt Oskar eine eigenständige kommunikative Binnenstruktur der familiären Interaktion, in der sowohl seine Frau als auch seine Tochter nicht als autonome Interaktionspartner, sondern als Drillobjekte wahrgenommen und nach seinen Regeln und in seinem Modus für den Alltag ›präpariert‹ werden. Seine Enkelin Anna scheint auch in diesem Zusammenhang weit davon entfernt zu sein, ihren Großvater mit Lobesworten zu honorieren. Ganz im Gegenteil, sie wirft ihm vor, im Privatbereich Strategien einzusetzen und Charakterattribute zu aktivieren, die in der Kriegszeit seine militärische Karriere beschleunigt und seine Stabilität als Soldat abgesichert haben, sich aber in familienbezogenen Strukturen als besonders destruktiv erweisen: Er ging nicht, er rannte. Er fuhr nicht, er raste. Er überlegte nicht, er wusste. Vor allem: es besser. In seinem Wortschatz gab es kein »Ich finde/glaube/würde sagen«, kein »Ich 14 Sauer, Birgit: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtstaatlicher Institutionalisierungen. Staatsbezogene Überlegungen einer geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Perspektive. In: Dackweiler, Regina-Maria/Schäfer, Reinhild (Hg.): Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Gewalt und Geschlecht. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002, S. 81–106, hier S. 91. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd.
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bin der Meinung, dass«, nur: »Es ist.« Bisweilen watete er so tief in Allgemeingültigkeit, dass ihm die erste Person vollends abhanden kam.17
Annas Bericht zufolge wächst ihre Mutter in einer Familienwelt auf, die im Macht- und Gewaltsystem ihres besserwisserischen, egozentrischen und hektischen Vaters gefangen ist und durch Verhinderung von Eigenständigkeit und (Selbst)Disziplinierung eine emotional-körperliche Belastung bedeutet. Überzeugt davon, dass Müßiggang ein Virus ist und der Mensch sich nur über seine Erfolge und harte Arbeit definieren kann, ist Oskar darauf bedacht, seiner einzigen Tochter Grenzen zu setzen, um sie einem hermetischen Prägungsprozess zu unterziehen, der auch seiner Biographie eingeschrieben ist und ihn – nach seiner Auffassung – zu einem anständigen, klugen, fleißigen und erfolgreichen Menschen geformt und dafür gesorgt hat, dass der von ihm geerbte Kurzwarenladen innerhalb einiger Jahre in ein blühendes Modeimperium verwandelt werden konnte. Diese Eigenschaften sollen nun seiner Tochter eingeimpft werden. Die durch Grenzziehungen geprägten Formungsmaßnahmen, die Oskars Tochter bereits im frühkindlichen Alter an Leib und Seele erfährt, veranschaulichen, inwiefern die systemische Gewalt in die Privatsphäre transportiert wird und dem Erziehungsverhalten des Vaters ein besonderes Gepräge gibt: Von Anfang an behandelte er meine Mutter wie Erwachsene in zu kurz geratenem Körper und jeder, der es nicht tat, musste sich solange vorhalten lassen, ihre Entwicklung zu gefährden, bis er sich zusammen mit dem »Wauwau? Ich geb dir Wauwau« kleinlaut trollte. In seinem Haus wurde nicht »Dada« gegangen oder »Kaka« gemacht, es gab kein Kinderprogramm, keine Kinderbücher, kein »dafür bist du noch zu klein«. Die Unschuld und Sorglosigkeit, von denen andere im Alter schwärmen, blieb meiner Mutter dank der unerschütterlichen Abwehr meines Großvaters fremd. […] Der Kontakt zu Gleichaltrigen, die mit dem ganzen Schund, den ihr Mund kundtat, meine Mutter hätte verwirren können, musste so weit wie möglich vermieden werden. An ihren Geburtstagen lud mein Großvater seine eigenen Gäste ein, Männer, die gut zu seinen Zigarren passten, Wirtschaftswundler wie er, ehemalige Kameraden, Anwälte, Professoren, die statt Geschenke ihre letzte Publikation mitbrachten.18
Annas Mutter wird von ihrem Vater von Anfang an nicht wie ein Kind, sondern wie eine Erwachsene behandelt und in einen von ihm kontrollierten Erziehungsprozess hineingezwängt, von dem sie sich erst am Sterbebett durch ›Reinigungsgespräche‹ mit ihrer Tochter Anna erholen kann. Als Wunderkind, das »zu hässlich [war], um dumm zu sein«19, mit fünf Jahren lesen und vier Fremdsprachen konnte, wird sie von Fremdeinflüssen – so gut es nur geht – isoliert, weil der Vater ihre geistige und soziale ›Verunreinigung‹ fürchtet. Oskar 17 Stricker, Sarah: Fünf Kopeken, S. 22. 18 Ebd., S. 29f. 19 Ebd., S. 28.
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ist von dem Gedanken besessen, seine Tochter durch eine Orientierung an dem von ihm bestimmten und anerkannten ›Kulturkreis‹ vor ›schädlichem‹ Geschmack ihrer AltersgenossInnen schützen zu müssen. Grenzziehungen, die er vornimmt, um dieses Ziel zu erreichen, kommt eine Doppelfunktion zu: Einerseits generieren sie durch moralisierende und diskriminierende Zuschreibungen Ein- und Ausschlussmechanismen, indem sie eine Trennlinie zwischen Norm und Abweichung herstellen und dadurch die Konstruktion kollektiver Zugehörigkeit regulieren. Andererseits dienen die den Grenzen innewohnenden Machtfaktoren dazu, den normativen Ordnungsvorstellungen des Vaters Nachdruck zu verleihen und seine Gewaltherrschaft zu stabilisieren. So lebt Annas Mutter – bis ins Erwachsenenalter – in einer Vater-Enklave, die nur von den dazu Berechtigten betreten werden darf. Wort- und tatbezogene Zärtlichkeiten sind verboten und werden sowohl intra- als auch extrafamiliär konsequent bekämpft. Das übliche Kinderprogramm mit Kinderspielen, Kinderbüchern, Kinderunschuld und Kindersorglosigkeit finden in Oskars erzieherisches Gesetzbuch keinen Eingang, weil er davon ausgeht, dass seine hochbegabte Tochter über derartige Gefühlsduseleien und ›Aufweichungsaktivitäten‹ erhaben ist. Selbst an ihren Geburtstagen darf sie nicht entscheiden, mit wem sie ihr Heranwachsen feiern möchte. Die ›Gästeliste‹ wird nämlich von ihrem Vater erstellt und orientiert sich ausschließlich an seinen beruflichen Interessen sowie an der geistigen bzw. ideologischen Ausprägung und dem Anerkennungsgrad der von ihm eingeladenen Gäste. So finden ihre Geburtstagspartys jedes Jahr im Männerkreis statt, den ehemalige Kameraden und intellektuelle ›Wirtschaftswundler‹ ausmachen. Ihre Qualitäten werden dabei in erster Linie daran gemessen, inwieweit es ihnen gelungen ist, die Grenzen zwischen beiden politischen Systemen zu überschreiten und sowohl im Dritten Reich als auch in der sich nach dem Krieg langsam etablierenden Demokratie Karriere zu machen. Sie gelten dementsprechend als Personenkreis, dessen Lebensführung, moralische Verfasstheit und Charakter den von Oskar festgelegten Normen entsprechen und somit die Grenzen des Sozialen abstecken, innerhalb deren sich seine Tochter bewegen soll. All jene, die seinen normativen ›Sollen-Vorstellungen‹ nicht gerecht werden, verdienen einen Abseitsstatus und werden von ihm als Gruppe betrachtet, die es zu pädagogisieren, zu disziplinieren, zu moralisieren, zu normalisieren oder – falls die genannten Maßnahmen keine Wirkung erzielen – zu exkludieren gilt. In der normativen Ordnung des Vaters, die bestimmte Seinsweisen als (il)legitim markiert und plausibilisiert, werden soziale, emotionale und motivationale Kompetenzen zwangsläufig durch die Unterdrückung der Selbstregulation beeinträchtigt. Die Fähigkeit, eigenes Erleben und Verhalten gemäß eigenen Zielen und situativen Bedingungen zu regulieren, kann nicht erworben werden, weil der Vater sich zur einzigen ›Regulierungsinstanz‹ stilisiert und die Laufbahn seiner Tochter so (vor)programmiert, dass die Ablösung von väterlichen Einflüssen
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nicht stattfinden kann. Sowohl die Berufsauswahl als auch der zukünftige Ehemann und Schwiegersohn müssen von Oskar akzeptiert und in sein Familienund Lebenskonzept reibungslos integriert werden. Auf Leistungen getrimmt, an denen der Vater zugleich sein Ego mästet, lernt die Tochter, Pflicht, Befehl und Gehorsam als Orientierungspunkte zu betrachten, ohne dabei ihr Handeln anhand eigener Prinzipien, Vorstellungen oder Bedürfnissen zu reflektieren und es an ihnen auszurichten. Verborgene Befreiungswünsche und seltene Versuche, die vom Vater gesetzten Grenzen zu überwinden und Entscheidungen zu treffen, die ihre eigene Persönlichkeit zur Geltung kommen ließen, scheitern an Oskars Unberechenbarkeit und seiner Neigung, in krisenhaften Situationen körperliche Gewalt einzusetzen. Gewalterfahrungen, die seine Tochter im Fall der Insubordination macht, erweisen sich als ein wirksames Hindernis, der Familienpolitik des Vaters in offener Auseinandersetzung zu begegnen und die Grenzen seiner (Gewalt)Ordnung als schädlich hinzustellen. Jeder Versuch, Oskars Regeln zu brechen und gegen seinen Willen zu handeln, wird bestraft: Mein Großvater schaute auf die Uhr. »Hätten wir nicht vereinbart, dass ich dich um elf abhole?« Er schob seine Gläser auf die Nase und faltete die Hände. […] Meine Mutter drückte die Hand auf den Mund. »Nun?« »Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten«, nuschelte sie durch die Finger. […] »Willst du etwa eine von denen werden, die bei jeder Kleinigkeit kneifen.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Will mir erzählen, sie hat es nicht ausgehalten, ein paar Stunden Musik zu hören und sich nett mit ihren Klassenkameraden zu unterhalten.« »Du kannst dir nicht vorstellen, wie hohl die alle waren«, flüsterte meine Mutter. »Ein Grund mehr, durchzuhalten!«, schrie mein Großvater. »Ins Gesicht hättest du denen lachen sollen!« Er riss den Arm in die Luft. […] Er schlug zu, so fest er konnte. Der kleine Kopf meiner Mutter flog zur Seite. […] Alles, was sie sah, war seine Hand, die gegen ihr Gesicht prallte, einmal, zweimal, viermal […].20
Oskars Kontrollverlust und der darauffolgende Gewaltausbruch, die keinen Einzelfall darstellen, resultieren einerseits daraus, dass seine Tochter es gewagt hat, autonom zu handeln und seine zeit- und transportbezogenen Anweisungen hinsichtlich ihrer Teilnahme an einer Party außer Acht zu lassen. Andererseits speist sich seine Brutalität daraus, dass sie einem so banalen Auftrag, mit Gleichaltrigen außerhalb der Schulzeit ein paar Stunden zu verbringen, nicht gerecht werden konnte. Obwohl Oskar selber »Zusammenrottungen Halbwüchsiger«21 hasst und im Erziehungsprozess eher darauf achtet, seine Tochter von der verwirrenden Welt der Altersgenossen abzugrenzen, zwingt er sie dazu, 20 Ebd., S. 70, 74, 75, 76. 21 Ebd., S. 49.
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an der Fete teilzunehmen, nur weil sie den Fehler macht, zu sagen: »mir graut davor.«22 Ihre Worte lassen alle Alarmglocken schrillen, so dass automatisch altbewährte Umgangsformen eingesetzt werden, die darauf abzielen, der sich abzeichnenden Charakterschwäche entgegenzuwirken. Feigheit ist nämlich eine der Eigenschaften, die in seinem ›Erziehungsprojekt‹ auf der schwarzen Liste stehen und die es spätestens zum Zeitpunkt ihrer Registrierung auszumerzen gilt. Seine Tochter hat hart zu sein, sich Herausforderungen zu stellen und alle Unannehmlichkeiten und Schicksalsschläge klaglos zu ertragen. Sozialisiert in der Welt der Erwachsenen, die von ihrem Vater nach klaren Kriterien und/oder Statusdimensionen – Macht, Einfluss, Einkommen, Prestige, Begabung etc. – sorgfältig ausgewählt werden, ist sie nicht in der Lage, sich in der Welt der Gleichaltrigen zu behaupten, die »einander unheimlich viel zu erzählen hatten, und ihr nicht. Die miteinander rauchten und tanzten und mit ihr nicht. Die alle völlig gleich aussahen, und anders als sie.«23 Aus Versehen eingeladen, »weil ihr Banknachbar den Packen mit den Einladungen einfach weitergereicht hatte«24, wird sie auf der Party von Anfang an in der Rolle eines ›Eindringlings‹ positioniert, mit dem der Dialog aufgrund seiner visuell-mentalen Andersheit nicht gelingen kann, so dass sie in der Party-Gruppe ein marginales Dasein auf Distanz fristet. Die Fete erweist sich dementsprechend als eine Fremd- und Grenzerfahrung, in der Bezug und Entzug, Verbindung und Trennung, Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit oder Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit ineinandergreifen und das Gefühl der Unheimlichkeit, des Schreckens und schließlich der Abwehr hochkommen lassen.25 Sie muss feststellen, dass sie in eine Welt eingetaucht ist, die mit dem Orientierungs- und Wertesystem, mit dem sie aufgewachsen ist, nichts zu tun hat, weil sie in Inkongruenz zum ›Normalen‹ und ›Fortschrittlichen‹ steht. Die Leitdifferenz ›hohl‹, die sich aufgrund ihrer PartyErfahrung aufdrängt und das Gefühl von Kompetenz und Überlegenheit erzeugt, veranlasst sie letztendlich dazu, die Vorschriften des Vaters zu missachten und vorzeitig den Ordnungsraum, der Unruhe auslöst und ihre Identität bedroht, zu verlassen. In der von Sarah Stricker entworfenen Familienwelt erlangt der Grenzbegriff nicht nur auf der Handlungsebene Geltung, indem »bestimmte Identitäten und Interessen präferiert oder aber marginalisiert und desartikuliert«26 und Handlungsgrenzen abgesteckt werden. Er zeigt sich auch in der Gestaltung der Figu22 23 24 25
Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 48. Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2002, S. 241f. 26 Sauer, Birgit: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßig rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen, S. 88.
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renkonstellationen, die durch Grenzziehung, Grenzachtung und Grenzverletzung gekennzeichnet sind. Es wird erstens eine Grenze zwischen Eltern und Kind gezogen, die sich an der autoritären Erziehungspolitik orientiert und nicht nur kindliche Unmündigkeit, sondern vielmehr soziale Impotenz hervorbringt. Zweitens wird eine hierarchisierende Grenze zwischen den Eltern gezogen, die geschlechtsspezifische Disparitäten innerhalb der Familie entblößt und der Enkelin Anna Anlass dazu gibt, die Haltung ihrer Großeltern einer scharfen Kritik zu unterziehen. Während Oskar vorgeworfen wird, den Familienraum in einen ›Exerzierplatz‹ verwandelt und seine Tochter jeglicher Autonomie und Entscheidungsfreiheit beraubt zu haben, wird Hilde unterstellt, sich in ihrer Nachrangigkeit eingenistet zu haben und durch ihre bedingungslose Unterordnung unter das Gesetz ihres Mannes selbst zu einem die Autorität reproduzierenden Moment geworden zu sein. Autoritäre Erziehungspolitik des (Groß)Vaters sowie die Unfähigkeit der (Groß)Mutter, Oskars Gewaltherrschaft kritisch zu hinterfragen und sich seinem Willen zu stellen, sorgen dafür, dass Annas Mutter selbst im Erwachsenenalter als erfolgreiche Ärztin nicht in der Lage ist, die destruktive Ordnungswelt des Vaters hinter sich zu lassen und ein eigenständiges Leben zu führen. Und drittens wird eine symbolische Grenze zwischen Gleichaltrigen gezogen, die Spannungen und Konflikte im Sinne mentaler Differenzen generiert und (Selbst)Ausschlussprozesse in Gang setzt, weil sich das Stigma der eigenen Ordnung nicht überwinden lässt. Als Rand- und Schwellenfigur gerät Annas Mutter aus der Welt der AltersgenossInnen in deren Peripherie und gewinnt erst in der Identifikation als Gegen-Bild eine Bedeutung: Ihre Partizipation am (Schul)Alltag und Freizeitleben der Gleichaltrigen nimmt die Form eines Spagats an, »der sich nie völlig in einen Gleichschritt verwandeln kann.«27
Grenzen der familiären (Gewalt)Ordnung – Fazit In ihrer Familienwelt unterliegen Strickers weibliche Figuren einem Machtund Gewaltsystem, das die Herausbildung von Individualität behindert, einem selbstbestimmten Leben im Wege steht und weibliche Verletzungsoffenheit erzeugt. Geformt durch staatlich-maskulinistische Gewaltstrukturen, die Ausschluss, Benachteiligung und Marginalisierung von Schwachen und Abweichlern generieren, ist Strickers männliche Figur – Oskar Schneider – darauf fixiert, den Unterwerfungs- und Gewaltvertrag, dem er sich auch nach dem Krieg verpflichtet fühlt, in der familiären Privatheit fortzusetzen. Der Kern seiner familienbezogenen Gestaltungsaufgaben besteht darin, seine Ehefrau Hilde herumzukommandieren und jede Form von Widerstand im Keim zu ersticken, seine einzige 27 Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung, S. 244.
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Tochter dagegen einem hermetischen Prägungsprozess zu unterziehen, der sie zu einem anständigen, klugen, fleißigen, erfolgreichen und resistenten Menschen formen soll. An seinen ›Formungsmaßnahmen‹ lässt sich ablesen, in welcher Form die systemische Gewalt in die Privatsphäre transportiert wird und sein Ehemann- und Vaterprofil infiziert. Das Drillmuster, das unter Kriegsumständen ›Früchte‹ getragen hat, wird auch im Familienraum erprobt und situationsbedingt weiterentwickelt. Die ›Normativität‹, die er seiner Frau und seiner Tochter aufbürdet, manifestiert sich in erster Linie darin, dass Grenzen, Grenzziehungen sowie Strafmaßnahmen im Fall von Grenzüberschreitungen wie ein Sachverhalt erscheinen, dessen Existenz man einfach hinnimmt, ohne sie in Frage zu stellen. Durch militärische Umgangsformen geprägt, positioniert sich Oskar auch im sozialen Nahraum in der Rolle eines Befehlshabers, der sich das Recht anmaßt, die Grenzen der intelligiblen Seins- und Verhaltensformen sowie die Möglichkeiten bzw. den Rahmen des Anders-Sein-Könnens zu gestalten. Sein Status, den er unter Einsatz von Gewalt oder Zwang zu stabilisieren pflegt, impliziert »ein Seinsollen, eine virtus, die sich im Modus des Fraglosen und Selbstverständlichen aufzwingt« und sein Handeln nach Art einer logischen Notwendigkeit leitet.28 Oskars (Gewalt)Ordnung wird durch Grenzen abgesichert, die komplex und vieldimensional sind. Neben kulturellen Grenzziehungen, die sich an solchen Kategorien wie Geschmack, Manieren, Intelligenz etc. orientieren, sind es auch moralische (mit solchen Koordinaten wie Integrität, Fleiß, Ehrgeiz und/oder Arbeitsethik) sowie sozioökonomische Grenzziehungen (sozialer Status, Macht, beruflicher Erfolg, Reichtum), mit deren Hilfe er soziale Kontakte reguliert und Handlungsoptionen bestimmt. Durch moralisierende Zuschreibungen und Drillmaßnahmen werden Grenzen zwischen »krisenhaftem Sein und idealem Sollen«29 gezogen und Hierarchieverhältnisse geregelt, die einen kompromisslosen Umgang mit fremden Lebensformen forcieren. Indifferenz, Ambivalenz und Autonomie erscheinen in seinen Ordnungsstrukturen nicht als Konstituenten bzw. Bestandteile der Ordnung, sondern als Bedrohung, Irritation und Störung, die es zu externalisieren gilt, wenn es sein muss auch mit Gewaltmitteln.
28 Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder, Hervorhebung im Original. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2005, S. 90f. 29 Heite, Catrin/Pomey, Marion/Spellenberg, Charlotte: Ein- und Ausschließungspraktiken als Konstituierung von Grenzen. In: »Soziale Passagen« Nr. 5/2013, S. 245–257, hier S. 245.
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Literatur Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2005. Heite, Catrin/Pomey, Marion/Spellenberg, Charlotte: Ein- und Ausschließungspraktiken als Konstituierung von Grenzen. In: »Soziale Passagen« Nr. 5/2013, S. 245–257. Kleinschmidt, Christoph: Semantik der Grenze. In: »Aus Politik und Zeitgeschichte« Nr. 4– 5/2014, S. 3–8. Kroneberg, Klemens: Motive und Folgen sozialer Grenzziehungen. In: »Aus Politik und Zeitgeschichte« Nr. 4–5/2014, S. 9–14. Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript Verlag 2002. Sauer, Birgit: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtstaatlicher Institutionalisierungen. Staatsbezogene Überlegungen einer geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Perspektive. In: Dackweiler, Regina-Maria/ Schäfer, Reinhild (Hg.): Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Gewalt und Geschlecht. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002, S. 81–106. Stricker, Sarah: Fünf Kopeken. Köln: Eichborn Verlag 2013. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2002.
Innerhalb und außerhalb (selbstbestimmter) Raum-Zeit-Grenzen: exzeptionelle Zustände in der aktuellen Literaturproduktion
Katarzyna Grzywka-Kolago (Warszawa)
Zum märchentypischen Prinzip der Isolation im Roman Das Kind, das nicht fragte von Hanns-Josef Ortheil
I
Isolation des Märchenhelden
Der Märchenheld fragt als Kind nicht. Er, oft der Jüngste, lebt zuerst in seiner nicht selbst gewählten, sondern von der Gattung aufgezwungenen Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit oder – um es noch krasser zu formulieren – vegetiert vor sich hin: in einem dunklen Versteck hinter dem Ofen, auf einem Baum inmitten der Waldeinsamkeit, in einer fremden Tierhaut – ausgestoßen, verleumdet, nicht geliebt, lediglich geduldet, von dem eigentlichen Leben, dem wirklichen Leben abgekapselt, auf Abstand gehalten, kurzum ›isoliert‹: innerlich und äußerlich. Denn »Isolation ist« nach Max Lüthi »ein das Volksmärchen beherrschendes Prinzip. Nicht nur die einzelnen Abenteuer bilden jedes eine Einheit für sich […], sondern auch die Figuren sind isoliert, sie wandern einzeln in die Welt hinaus.«1 So lösen sie sich von der vertrauten Umgebung und den bekannten Menschen und ziehen in die fremde Ferne los, um auf die Probe gestellt zu werden, sich zu bewähren und ihren richtigen Weg zum Glück zu finden und dabei sich und/oder andere zu erlösen – dank ihrer Ausdauer, den Helfern, denen sie in dem entsprechenden Moment begegnen, aber auch den außergewöhnlichen Gaben und Fähigkeiten, die man von ihnen – angesichts ihrer bisherigen Lebensweise – nie erwarten würde. Denn dies schreibt der »abstrakte« bzw. der »abstrakt-isolierende«2 Stil des Märchens vor, der auch dafür verantwortlich ist, dass der Märchenheld sich über nichts wundert und alle möglichen Schicksalsfügungen reflexionslos annimmt: ohne zu fragen, warum, und ohne darüber nachzudenken, wie es möglich war. Deshalb auch die Vorliebe des Märchens zu »Extremen« und »Kontrastpolaritäten«3, die sich unter anderem darin äußern, dass der anfänglich ›Isolierte‹ und ›Abgestoßene‹ zu guter 1 Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990, S. 55. 2 Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen: Form und Wesen. Tübingen/Basel: A. Francke Verlag 1997, S. 37, 41. 3 Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung, S. 109.
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Letzt zum ›Begnadeten‹ und ›Allverbundenen‹ wird: »Sichtbare Isolation, unsichtbare Allverbundenheit, dies darf als Grundmerkmal der Märchenform bezeichnet werden. Isolierte Figuren fügen sich, unsichtbar gelenkt, zu harmonischem Zusammenspiel. Beides bedingt sich gegenseitig«4, da [d]er ganze abstrakte Stil des Märchens […] unter dem Gesetz der Isolation und Allverbundenheit [steht]. Er arbeitet die einzelnen Elemente rein und klar heraus, trennt sie mit irrealer Deutlichkeit, verleiht den Körpern wie Bewegungen der Märchendinge Festigkeit und Linienschärfe […]. Erst diese Isolierung aber ermöglicht jenes mühelose, elegante Zusammenspiel aller Figuren und Abenteuer, womit uns das Märchen so sehr entzückt und das ebenso zu seinem abstrakten Stil gehört wie die Isolation,5
beteuert der Schweizer Märchenforscher.
II
Isolation des Protagonisten
Ist die Isolation – laut der Märchentheorie von Max Lüthi – mit dem Leben des Märchenhelden unzertrennlich verbunden, so bleibt sie nicht ausschließlich ihm vorbehalten und lässt sich ebenso als Prinzip der Heldenkreation in der Gegenwartsliteratur verwenden, wenn auch nicht ohne Vorbehalte. Exemplarisch möchte ich diese These am Beispiel des im November 2012 im Luchterhand Literaturverlag erschienenen Romans Das Kind, das nicht fragte von Hanns-Josef Ortheil (geb. 1951) unter Berücksichtigung der märchentheoretischen Ausführungen des gerade erwähnten Schweizer Wissenschaftlers unter Beweis stellen, was das Hauptziel des vorliegenden Beitrages ist. Den Protagonisten des Ortheilschen Werkes bringt bereits auf den ersten Blick nicht nur eines mit seinem märchenhaften Pendant in Verbindung. Denn erstens: Er ist einer, der als Kind nicht fragte, also schweigsam, scheu und zurückgezogen lebte, und so nach wie vor lebt. Er geht einsam spazieren, einsam verbringt er die Nächte und »verharrt« in einem »Einzelgängertum.«6 Und zweitens: Er heißt Benjamin Merz. Was diesen Benjamin in die Nähe des typischen Märchenhelden rückt, ist in erster Linie sein Alter, da er in der Tat »der jüngste Sohn«7 seiner Eltern ist und deswegen – wie der Märchenheld – »familien- wie gesellschaftssoziologisch gesehen in einer Extremposition, einer Randposition, also isoliert oder leicht isolierbar und gerade deshalb relativ leicht
4 Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen, S. 49. 5 Ebd., S. 49–50. 6 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte. München: Luchterhand Literaturverlag 2012, S. 22. 7 Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen, S. 37.
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in eine zentrale oder in die entgegengesetzte Extrem-Position«8 versetzbar. Ähnlich wie der Märchenheld wird auch er von seinen Eltern entsprechend behandelt, denn im Gegensatz zu dem biblischen Benjamin9 wird er von ihnen weder als Liebling noch als Schützling betrachtet, sondern als jemand, dem man nicht traut, den man nicht respektiert, mit dem etwas nicht stimmt, was im Endeffekt in seine Erfolglosigkeit mündet. Und diese steht im markanten Gegensatz zur raschen Entwicklung von glänzenden Karrieren seiner vier älteren Brüder: Georg besitzt eine große Anwaltskanzlei, Martin ist Arzt in Universitätskliniken, Josef führt eine Apotheke und Andreas hat es zum Studiendirektor an einem Gymnasium in Köln gebracht.10 Benjamin arbeitet lediglich als Privatdozent im Fach Ethnologie an der Universität in Köln, verdient nicht viel und ist auf die finanzielle Hilfe der Brüder angewiesen. So führt er sein Aschenputteldasein im Schatten seiner eloquenten Geschwister in demselben Kölner Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Seine Brüder heiraten und ziehen weg. Er nicht. Wie der typische Märchenheld bleibt er zuerst im vertrauten Ambiente seiner Kindheit bis zum Moment des Ausbruchs und der Prüfung, um dann »weg von zu Hause«11 auszuwandern und nicht zurückzukehren, da der Märchenheld – um wieder von Max Lüthis Vokabular Gebrauch zu machen – »kein Heimkehrer«, sondern ein »Ausziehende[r]«12 ist. Benjamin wird von den Geschwistern kontrolliert und beaufsichtigt – auch als Erwachsener, der von ihnen ständig als »Kleiner« bzw. »[ihr – K.G.-K.] Kleiner«13 bezeichnet wird. Auch wenn er aus diesem Grund wütend wird, ist er nicht fähig, seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Er schweigt. Im Kontrast zu dem Märchenhelden ist er sich seiner Gefühle bewusst, aber so wie die Figur des Märchens verschweigt er sie. Der Märchenheld drückt sie nicht aus, weil er sie nicht kennt, Benjamin unterdrückt sie, da niemand ihm beigebracht hat, sie zu artikulieren. Er ist nicht imstande, es zu tun, und verspürt Angst davor und »vor den anderen Menschen.«14 Und der Grund dieser »Urverletzung«15 ist womöglich in der Dysfunktionalität seiner Familie zu suchen.16 Benjamin spricht vorwiegend
8 Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung, S. 153. 9 Vgl. Kopalin´ski, Władysław: Słownik mitów i tradycji kultury. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1985, S. 90. 10 Vgl. Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 24. 11 Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung, S. 153. 12 Ebd., S. 154. 13 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 31. 14 Ebd., S. 50. 15 Krause, Tilman: Hanns-Josef Ortheil: Das Leben ist ein großes, zauberisches Fest. http://www. welt.de/kultur/literarischewelt/article112909974/Das-Leben-ist-ein-grosses-yauberisches-Fe st.html / letzter Zugriff am 27. Dezember 2019. 16 Vgl. Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 30.
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deswegen nicht, weil seine »großen Brüder« ihn »nicht zu Wort kommen«17 lassen. Sie stellen ihm keine Fragen, lassen ihn innerlich »langsam absterben«18 und erlauben, in den Zustand der »elende[n] Versteinerung«19, also der noch stärker isolierenden, schweigsamen Distanz der Umgebung gegenüber, zu versinken. Sie quälen ihn, lachen ihn aus und schüchtern ihn ein: skrupellos und ohne Rücksicht auf die Eltern zu nehmen, die ihn der Brutalität der älteren Geschwister überlassen: [S]ie schreien oft auf mich ein und nennen mich dann »einen elenden Versager« oder auch »eine Schande«, und das alles nur, weil ich weniger rede als sie und langsamer begreife und weil ich viel Zeit brauche für alles. Haben sie mich einmal gefasst, spielen sie mit mir Polizei und Verhör und Kontrolle, und dann muss ich Straf- und Bußarbeiten erledigen und die süßen Sachen abgeben […]. Meine Brüder wissen immer genau, wo ich meine Sachen verstecke, ich glaube, sie haben in mein Zimmer eine Kamera eingebaut, jedenfalls kennen sie jedes Versteck, und alles, was ich vor ihnen geheim halten will, zerren sie ans Licht und zeigen es dann herum.20
Benjamins Schweigen lässt sich somit als eine weitere Manifestation seiner Isolation interpretieren, zumal es in seinem Leben allgegenwärtig ist – in der Kindheit und im Erwachsenenleben. Als wäre es ein seine Existenz durchziehendes Leitmotiv. So, »[a]n einem sonnigen Aprilmorgen«21 in Catania auf Sizilien gelandet, stellt er den beiden Stewardessen keine Fragen, auch wenn er sie gerne stellen würde: Zurück nach Deutschland fliegen? In Catania übernachten? Dort irgendwo (aber wo und vor allem mit wem?) einen schönen Abend verbringen? […] Gerne wäre ich mit einer von ihnen einmal einen Abend zusammen und würde sie alles fragen, was ich mir in meinen Flugjahren an Fragen für sie notiert habe. Doch leider – ich schweige, meine Hemmungen sind zu stark, und so nicke ich nur blöde auf ihren Abschiedsgruß hin und greife schweigend nach einer der sizilianischen Begrüßungsorangen, die sie den Fluggästen beim Verlassen des Flugzeugs in einem Korb hinhalten.22
Auch wenn er selber schweigsam und zurückgezogen ist, bleibt er »[e]iner mit Visionen, Wünschen, Träumen«23 und zeichnet sich durch eine – angesichts seiner emotionalen Veranlagung – außergewöhnlich, ja märchenhaft anmutenden Begabung bzw. Fähigkeit24 aus, andere zum Sprechen zu veranlassen – jedoch 17 18 19 20 21 22 23
Ebd., S. 50. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 385. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Höhne, Britta: Anmache als ethnologische Kunst. http://www.belletristik-couch.de/hanns-jo sef-ortheil-das-kind-das-nicht-fragte.html / letzter Zugriff am 12. Januar 2015. 24 Vgl. Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung, S. 155.
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nur im beruflichen Kontext. Denn als Ethnologe befragt er »Menschen fremder Kulturen«25, damit »eine vorher noch weitgehend stumme oder verschwiegene Menschengegend mit einem Mal zu reden [beginnt]. So etwas ist wie ein Zauber.«26 Das ist auch das Hauptziel seiner Reise zu dem fiktiven Ort Mandlica, bei dessen literarischem Porträt die Geburtsstadt des Dichters und Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo, das sizilianische Modica, Pate stand.27 Er möchte die dortigen Bewohner zum Sprechen bringen und – wie der Märchenheld – ihnen Geheimnisse entlocken, die »das innerste Leben und Fühlen der Menschen und die Art und Weise, wie sie auf den Tiefenschichten dieser Geheimnisse ihr Leben und ihre Welt eingerichtet haben [betreffen].«28 Und im Grunde genommen verfolgt er dabei dasselbe Ziel wie der schwierige Rätsel ratende Märchenheld29: Er hilft anderen und sich selber. Denn er erscheint wie der Märchenheld als »ein Hilfsbedürftiger«, »ein Mangelwesen«30, dem geholfen werden kann und wird, dank der beinahe zauberhaften »Gabe« des präzisen Fragens, des gesammelten Zuhörens und der vorzüglichen Intuition: Die Gabe, selber eine in sich geschlossene isolierte Figur, repräsentiert bildhaft scharf unbekannte Seinssphären und die latente Verbindung des äußerlich isolierten Heden mit ihnen. Die Gabe, die der Held empfängt, ist wie dieser von normaler Gestalt […]; besitzt aber phantastische Wirkungsmöglichkeit. Damit ist sie selber reinster Ausdruck der äußeren Isoliertheit und potentiellen Allverbundenheit. Sie selber steht, so wie der Held durch sie, in unsichtbarem Kontakt mit dem ganzen Weltengewerbe.31
Dank der Intuition, die der Ethnologe als »Wissen, das aus dem Dunkel kommt, Dunkelwissen«32 definiert, weiß und spürt er mehr als die Mitmenschen und ist imstande, während seiner Forschungen auf Sizilien die Methode anzuwenden, die er »Psychische Landvermessung«33 nennt. Und er bezeichnet sie so, weil er durch seine Fragen zu einem sekreten Wissen über »die wichtigsten emotionalen Zonen der Stadt«34 gelangen und »die verborgene Landkarte der Umgebung«35 25 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 14. 26 Ebd. 27 Vgl. Stanzick, Winfried: Hanns-Josef Ortheil: »Das Kind, das nicht fragte«. http://www.san dammeer.at/rez12/ortheil-kind.htm / letzter Zugriff am 27. Dezember 2019. 28 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 15. 29 Vgl. z. B. ATU 407, ATU 812, ATU 850, ATU 851, ATU 875; Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013, passim; Uther, Hans-Jörg: The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography. Part I–III. Helsinki: Academia Scientiarum Fennica 2004, passim. 30 Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung, S. 154. 31 Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen, S. 5. 32 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 88. 33 Ebd., S. 74. 34 Ebd. 35 Ebd.
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konzipieren möchte. So hat er vor, die »topographischen Psychor[ä]um[e]«36 zu ergründen, die dann, nach der Befragung von mehreren Personen, »psychogrammatische Stadtpläne«37 ergeben. Es ist eine märchenhaft vorkommende, denn spezielle Gaben voraussetzende Aufgabe, die er großartig meistert und deren Bewältigung in ihm den »Magier des Fragens«38 erblicken lässt, der »Geheimnisse im Nu erkennt«39: Er befragt »lange und gründlich«40 und versetzt den Befragten in einen merkwürdigen Zustand, als wäre dieser »unter Narkose«: Der Befragte »verliert das Bewusstsein und bekommt doch irgendwie mit, dass er operiert wird, und nach der Operation wacht er auf, und es geht ihm besser.«41 Auch deswegen, weil der Befragende »geheime Dinge« weiß und weil nur er »diese Dinge«42 weiß. Benjamin lockt aus den Mandlicanern Worte heraus, lässt sie »Details und Geschichten«43 erzählen, »die sie seit langem nur für sich behielten«44, und lernt allmählich, sich von seinem eigenen Schweigen zu befreien.45 Aber es ist lediglich eine Etappe auf seinem Weg zur Befreiung und zum vollkommenen Ausbruch aus der Isolation, da Benjamin nach wie vor noch nicht vermag, über sich selbst zu sprechen. Ihm »[fehlt] der Mut zur Selbstbefragung«46 und er wird »aus dem Spiel der Befragungen«47 herausgehalten, was nur eine einzige, ihm bisher fremde Erfahrung, nämlich die Liebe, ändern kann. Diese findet er in der Tat auf Sizilien, sie wird ihn, den ›isolierten‹ Erzähler von fremden Geschichten, zum ›allverbundenen‹ Erzähler von seiner eigenen Geschichte aufsteigen lassen und seiner Isolation ein endgültiges Ende machen: »Ich erzähle, ich rede, ich schweige nicht mehr.«48 Dies ist jedoch schon ein anderes Thema, das im Kontext der Liebesmotivik im Oeuvre des Stuttgarters Romanciers und im Rahmen eines separaten Artikels aufgegriffen zu werden verdient.
36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Ebd., S. 207. Ebd. Ebd., S. 181. Ebd., S. 352. Ebd., S. 181. Ebd., S. 181–182. Ebd., S. 228. Ebd., S. 319. Ebd. Vgl. ebd., S. 325–326. Braun, Michael: Mehr als teilnehmendes Beobachten. Hanns-Josef Ortheil schickt in seinem Roman einen Ethnologen nach Sizilien. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php? rez_id=17471 / letzter Zugriff am 25. April 2022. 47 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 326. 48 Ebd., S. 399.
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Fazit: Isolation des Schriftstellers
Die im Roman geschilderte Vita von Benjamin endet mit dem märchenhaften Finale: Die Hindernisse werden überwunden, die Aufgaben bewältigt, der »Sumpf der Vergangenheit hinter sich«49 gelassen, die richtige Braut gefunden und das Happyend erscheint unumgänglich. Nicht ganz realistisch, aber um das Realistische geht es hier nicht vordergründig und auch nicht um das Preisen des süßlich und sentimental anmutenden Kitschigen. Denn das Ortheilsche Narrativ könnte Gefahr laufen, an Kitsch zu grenzen, ließe man den autobiographischen Hintergrund außer Acht, der dieses Werk grundiert und ihn in einem viel breiteren Kontext zu deuten erlaubt. Denn Das Kind, das nicht fragte kann sowohl als ein selbständiger »märchenhafte[r] Roman«50 mit der eigenen Dynamik als auch eine weitere Etappe in Ortheils Auseinandersetzung mit der traumatischen Vergangenheit seiner Familie und den daraus resultierenden eigenen Nöten und Kalamitäten aufgefasst werden, die er akribisch und gezielt seit vielen Jahren betreibt, um an dieser Stelle exemplarisch solche seiner Werke in Erinnerung zu rufen, wie Hecke (1983), Die Erfindung des Lebens (2009) oder Der Stift und das Papier (2015). Schaut man auf Das Kind, das nicht fragte aus dieser Perspektive, gewinnt es an Prägnanz und Ausdruckskraft. So ist es durchaus begründet, Benjamin als das Alter-Ego des Autors selber zu betrachten und somit nach Ähnlichkeiten und Affinitäten zwischen den beiden Figuren und den Gründen ihrer Isolation zu suchen. Nicht von ungefähr wuchsen beide in Köln auf und hatten vier ältere, »große Brüder«, die sie zu den »schweigsamen und spracharmen Menschen«51 gemacht haben und die ihnen »gegenüber sprachlos geblieben«52 sind, wenn auch in einem anderen Sinne und aus einem anderen Grund. Denn die Sprachlosigkeit der Geschwister Ortheils rührt davon her, dass er sie bereits vor seiner Geburt verloren hat, ohne sie richtig kennengelernt zu haben. Und trotzdem lebt er – so wie Benjamin – ständig in ihrem Schatten, der sein Leben wesentlich mitprägt und beeinflusst, von der Kindheit an bis auf den heutigen Tag. Es ist eine schwere familiäre Last, die der Schriftsteller mental mit sich schleppt und ständig in seinem literarischen Werk bearbeitet, um mit ihr zurecht zu kommen, um die mühsam zurückgewonnene Fähigkeit des Sprechens nicht wieder zu verlieren und somit in den Zustand der Isolation nicht wieder zu geraten. Kurzum: Die vier älteren Söhne hat Ortheils Mutter während des zweiten 49 Brandt, Sabine: Benjamin und seine übermächtigen Brüder. http://www.buecher.de/shop/itali en/das-kind-das-nicht-fragte/ortheil-hanns-josef/products_products/detail/prod_id/362723 38 / letzter Zugriff am 25. April 2022. 50 Moritz, Rainer: Der Gedankenleser. https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-gedankenle ser-100.html / letzter Zugriff am 25. April 2022. 51 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 50. 52 Ebd., S. 213.
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Weltkrieges oder kurz danach verloren. Als sie Hanns-Josef zur Welt brachte, glaubte sie nicht mehr daran, dass sie imstande wäre, einem gesunden Jungen das Leben zu schenken und dass er dann überleben wird. Aber er überlebte: Zum Zeitpunkt meiner Geburt war ich der Letzte und Erste zugleich. Ich war der Letzte einer ausgestorbenen Sippe, der Gemeinschaft meiner vier toten Brüder, von denen man erzählte, sie lebten im Himmel und blickten auf mich mit besonderer Freude. Und ich war der Erste, der meinen aus dem Himmel auf mich blickenden Brüdern zu beweisen hatte, dass sie weiterlebten in mir, dass sie wuchsen mit meinem Wachstum, dass ich sie wiedergebar,53
schreibt der Schriftsteller in dem 2019 publizierten Werk Im Westerwald. Da die makabren Erlebnisse tiefe Spuren in der Psyche von Ortheils Mutter hinterließen, hörte sie zu guter Letzt auf zu sprechen, was im Endeffekt dazu führte, dass der in einer engen Symbiose mit ihr lebende Hanns-Josef ca. mit vier Jahren auch dasselbe tat.54 Daher auch die Signifikanz des Schweigens, der Sprachlosigkeit und der dadurch bedingten Isolation im Leben des Schriftstellers und seines Alter-Ego. Auch wenn Ortheil schrittweise und langwierig die Fähigkeit des Sprechens wiedererlangte, bleibt sie nicht für immer zurückgewonnen und muss gepflegt und ›umsorgt‹ werden, zumal die »Angst«, dass »alles wieder verloren geht«55, sehr groß ist: »Dass mein Sprechvermögen, wie seinerzeit als Kind, wieder versagt, und das ich alles von vorne lernen muss«56, gibt der Romancier in einem Interview mit Tilman Krause zu. Deshalb die Strategie des beinahe immer währenden Notierens, die Ortheil mit seinem Alter-Ego auch verbindet57 und deren Ergebnis »wahrscheinlich jetzt schon das größte private Archiv einer je lebenden Person«58 ist: Nun, es spiegelt wahrscheinlich vor allem eine private Obsession von mir. Ich begleite alles, was ich tue, seit langer Zeit durch Notate. Drei-, viermal am Tag. Ich habe mehrere parallel laufende Systeme, mit denen ich aufzeichne, was ich sehe und erlebe, aber auch, was ich lese oder welche Musik ich höre. Diese Stichworte, die ich oft unterwegs, im Restaurant oder auf einer S-Bahnfahrt aufschreibe, überführe ich später zu Hause in die Aufzeichnungen für meine Großprojekte. Das sind riesige Kladden, in die auch Ausschnitte aus Zeitungen oder Zeitschriften Eingang finden. Und Fotos.59
53 Ortheil, Hanns-Josef: Im Westerwald. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2019, S. 31. 54 Vgl. ebd., S. 48. 55 Ortheil, Hanns-Josef/Krause, Tilman: Alles ist ein großes Fest. Mal was Schönes: Hanns-Josef Ortheil über Genuss, deutsche Genussfeindlichkeit und die Vollendung seiner »Liebes-Trilogie«. https://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article13790129/Alles-ist-ein-grossesFest.html / letzter Zugriff am 25. April 2022. 56 Ebd. 57 Vgl. Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 152–153. 58 Ortheil, Hanns-Josef/Krause, Tilman: Alles ist ein großes Fest. 59 Ebd.
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So lässt sich das »Schreiben«60, begriffen von Ortheil als »Aufhebung oder Zersetzung des Schweigens«61, im Falle von ihm so wie von Benjamin »als eine Notwehr gegenüber den Machtansprüchen«62 der älteren Brüder verstehen, als Abwehr gegen die Sprachlosigkeit und Isolation.63 Und noch eines: In dem vorliegenden Artikel habe ich lediglich einen Aspekt aus dem breiten Spektrum des Ortheilschen Dialogs mit dem Märchenstil und der Märchenmotivik unter die Lupe genommen.64 Diesen Dialog führt er auch in seinen anderen literarischen Texten, konsequent und geplant, ohne auf die möglichen Vorwürfe der Kritikerwelt zu achten: Er »bau[t] im Grunde eine Märchenwelt, anti-kritisch und sehr bewusst ausblendend, was der Entfaltung der Liebe hinderlich sein könnte«65, eine Welt also, die auf das märchenhafte Happyend der in ihr angesiedelten Geschichten zu hoffen erlaubt und das Glück nicht scheut. Denn in der Prosa des Stuttgarter Romanciers geht es auch oder vielleicht vordergründig um ein Preisen des Gelingens, das umso reicher orchestriert ausfällt, je mehr es dem schier unausweichlichen Scheitern abgetrotzt ist. Darum auch die große Bedeutung des Genießens in seinen Erzählwerken. Ob der Genuß sich nun als Liebesbegegnung, als exquisites Mahl, als musikalisch-theatralische Aufführung, als ›sacra conversazione‹ gleichgestimmter Seelen oder als hochgestimmtes Kunsterleben darstellt: Immer handelt es sich um ein dankbar empfundenes Strahlen vor einer Kulisse der steten Bedrohung durch das schwarze Nichts. Nach den Schicksalsschlägen, Aufschwüngen und abermaligen Rückschlägen, die dieses Leben in seiner Frühzeit rhythmisiert haben, sollte es wohl zu einem solchermaßen barocken Lebensgefühl kommen.66
60 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 396. 61 Ortheil, Hanns-Josef: Schauprozesse. Beiträge zur Kultur der 80er Jahre. München/Zürich: Piper 1990, S. 89. 62 Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte, S. 396. 63 Vgl. Grzywka, Katarzyna: »… als wären diese Räume mir nahe, als wären es auch meine eigenen Räume«. Studien zum Werk von Hanns-Josef Ortheil. Warszawa: Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego 2009; Grzywka, Katarzyna: »[E]in großes Schreibprojekt, das Projekt meiner Tagesmitschriften…«. Hanns-Josef Ortheil über das eigene Schreiben. In: Rzeszotnik, Jacek (Hg.): Schriftstellerische Autopoiesis. Beiträge zur literarischen Selbstreferenzialität. Darmstadt: Büchner-Verlag 2011, S. 45–61. 64 Mehr zu Ortheils Auseinandersetzung mit dem Märchenstil im Roman Das Kind, das nicht fragte siehe: Grzywka-Kolago, Katarzyna: Wie der Abgestoßene zum Auserwählten und der Isolierte zum Allverbundenen wird. Hanns-Josef Ortheils Spiel mit dem abstrakten Märchenstil im Roman »Das Kind, das nicht fragte«. In: Grzywka-Kolago, Katarzyna/Filipowicz, Małgorzata/Je˛drzejewski, Maciej (Hg.): Märchen und Spiel. Warszawa: Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego 2021, S. 266–283. 65 Ortheil, Hanns-Josef/Krause, Tilman: Alles ist ein großes Fest. 66 Krause, Tilman: Der Genießer aus dem Westerwald. https://www.welt.de/welt_print/kul tur/literatur/article5034846/Der-Geniesser-aus-dem-Westerwald.html / letzter Zugriff am 31. März 2020.
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Literatur Brandt, Sabine: Benjamin und seine übermächtigen Brüder. http://www.buecher.de/shop /italien/das-kind-das-nicht-fragte/ortheil-hanns-josef/products_products/detail/prod _id/36272338 / letzter Zugriff am 25. April 2022. Braun, Michael: Mehr als teilnehmendes Beobachten. Hanns-Josef Ortheil schickt in seinem Roman einen Ethnologen nach Sizilien. http://www.literaturkritik.de/public/rezensio n.php?rez_id=17471 / letzter Zugriff am 25. April 2022. Grzywka, Katarzyna: »… als wären diese Räume mir nahe, als wären es auch meine eigenen Räume«. Studien zum Werk von Hanns-Josef Ortheil. Warszawa: Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego 2009. Grzywka, Katarzyna: »[E]in großes Schreibprojekt, das Projekt meiner Tagesmitschriften…«. Hanns-Josef Ortheil über das eigene Schreiben. In: Rzeszotnik, Jacek (Hg.): Schriftstellerische Autopoiesis. Beiträge zur literarischen Selbstreferenzialität. Darmstadt: Büchner-Verlag 2011, S. 45–61. Grzywka-Kolago, Katarzyna: Wie der Abgestoßene zum Auserwählten und der Isolierte zum Allverbundenen wird. Hanns-Josef Ortheils Spiel mit dem abstrakten Märchenstil im Roman »Das Kind, das nicht fragte«. In: Grzywka-Kolago, Katarzyna/Filipowicz, Małgorzata/ Je˛drzejewski, Maciej (Hg.): Märchen und Spiel. [Warszawskie Rozprawy Bajkoznawcze – Warschauer Beiträge zur Märchenforschung – Warsaw Folk- and FairyTale Studies, hg. v. Katarzyna Grzywka-Kolago, Małgorzata Filipowicz, Maciej Je˛drzejewski, Bd. 1]. Warszawa: Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego 2021, S. 266–283. Höhne, Britta: Anmache als ethnologische Kunst. http://www.belletristik-couch.de/hann s-josef-ortheil-das-kind-das-nicht-fragte.html / letzter Zugriff am 12. Januar 2015. Kopalin´ski, Władysław: Słownik mitów i tradycji kultury. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1985. Krause, Tilman: Der Genießer aus dem Westerwald. https://www.welt.de/welt_print/kul tur/literatur/article5034846/Der-Geniesser-aus-dem-Westerwald.html / letzter Zugriff am 31. März 2020. Krause, Tilman: Hanns-Josef Ortheil: Das Leben ist ein großes, zauberisches Fest. http:// www.welt.de/kultur/literarischewelt/article112909974/Das-Leben-ist-ein-grosses-yaub erisches-Fest.html / letzter Zugriff am 27. Dezember 2019. Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen: Form und Wesen. Tübingen/Basel: A. Francke Verlag 1997. Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990. Moritz, Rainer: Der Gedankenleser. https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-gedanken leser-100.html / letzter Zugriff am 25. April 2022. Ortheil, Hanns-Josef: Das Kind, das nicht fragte. München: Luchterhand Literaturverlag 2012. Ortheil, Hann-Josef: Der Stift und das Papier. Roman einer Passion. München: Luchterhand Literaturverlag 2015. Ortheil, Hanns-Josef: Die Erfindung des Lebens. München: Luchterhand Literaturverlag 2009. Ortheil, Hanns-Josef: Hecke. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1987.
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Ortheil, Hanns-Josef: Im Westerwald. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2019. Ortheil, Hanns-Josef: Schauprozesse. Beiträge zur Kultur der 80er Jahre. München/Zürich: Piper 1990. Ortheil, Hanns-Josef/Krause, Tilman: Alles ist ein großes Fest. Mal was Schönes: Hanns-Josef Ortheil über Genuss, deutsche Genussfeindlichkeit und die Vollendung seiner »LiebesTrilogie«. https://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article13790129/Alles-ist-ei n-grosses-Fest.html / letzter Zugriff am 25. April 2022. Stanzick, Winfried: Hanns-Josef Ortheil: »Das Kind, das nicht fragte«. http://www.sandam meer.at/rez12/ortheil-kind.htm / letzter Zugriff am 27. Dezember 2019. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013. Uther, Hans-Jörg: The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography. Part I–III. Helsinki: Academia Scientiarum Fennica 2004.
Monika Blidy (Katowice)
Einsamkeit, die vernichtet. Zu Verwandlungen eines Weltflüchtigen in Kevin Kuhns Roman Hikikomori
Global auferlegte Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, der sozialen Kontakte oder des Aufenthalts an öffentlichen Orten, bedingt durch die seit 2019 anhaltende SARS-CoV2-Pandemie, bewirken fortwährend erhebliche Veränderungen in der Wahrnehmung virtueller Räume, die sich von einer Plattform für Unterhaltung und Informationskonsum zu einem wichtigen Umfeld für Arbeit oder Studium entwickeln. Die weitgehende Verlagerung wichtiger Lebensbereiche ins Internet legt die Frage nahe, inwieweit soziale Kontakte durch das digitale Medium vermittelt werden können, ohne dass persönliche, familiäre und berufliche Beziehungen an ihrer Qualität einbüßen. Der um diese Fragestellung breit angelegte pandemische Diskurs geht dabei von der Notwendigkeit der räumlichen Distanzierung aus, die samt dem als fremd und aufgezwungen empfundenen Mund-Nasen-Schutz mittlerweile zur Denkfigur der angeordneten Isolation geworden ist: Diese Optik bestätigt bereits ein flüchtiger Blick auf die vom Leibnitz-Institut für deutsche Sprache zusammengestellte Liste1 mit dem Corona-Vokabular, in dem Begriffe wie »Regelung«, »Gebot«, »Maßnahme«, »Gesetz«, »Pflicht«, »Verbot«, »Vorgabe«, »Vorkehrung« o. ä. als Grundwörter zahlreicher neuer Komposita fungieren. Die ansonsten durchaus berechtigte Schlussfolgerung, dass Beschränkungen auferlegt werden, um der Ausbreitung der Pandemie entgegenzuwirken, scheint Situationen, in denen die Isolation eine individuelle Entscheidung der betroffenen Person ist, völlig unberücksichtigt in den Hintergrund zu drängen. Inzwischen weisen Psychologen und Soziologen immer deutlicher darauf hin, dass es Menschen gibt, die bereits vor Corona sehr zurückgezogen lebten und sich nun durch die eingeführten Kontaktbeschränkungen in ihrer bisherigen Lebensführung bestätigt fühlen. Das Virus lieferte
1 Vgl. Neologismenwörterbuch: Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie URL: https:// www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp# / letzter Zugriff am 1. Februar 2022.
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Monika Blidy
ihnen einen ausgezeichneten Vorwand, das eigene Einsiedler-Dasein zu rechtfertigen.2 Der Trend, sich in eigenen vier Wänden einzuigeln, war allerdings noch längst vor dem Ausbruch der Corona-Krise sichtbar, wenn er auch keine so radikale Formen annahm. Bereits in den späten 80er Jahren feierte »Cocooning«, gefolgt von »Homing«, die Wiederentdeckung des Heimes als einer privaten Sphäre jenseits der durch Wandel und Instabilität gekennzeichneten Gesellschaft. Der als Zufluchts- und Entspannungsort imaginierte »Kokon« versteifte aber bei einigen, insbesondere jüngeren Betroffenen derart, dass ein Austausch mit der Außenwelt nicht mehr möglich war und zu einer radikalen Isolation führte. Während im westlichen Diskurs, hauptsächlich in den Massenmedien und in der Popkultur, ein solcher Trend oft mit einer früher oder später vorübergehenden Krise der Adoleszenz assoziiert und daher als etwas beunruhigender aber doch verzeihlicher Jugendfehler abgetan wurde, und solche modernen Einsiedler zum Teil scherzhaft, und zum Teil ernsthaft als Drinnies, Stubenhocker oder Nerds bezeichnet wurden, nahmen japanische Forscher das Phänomen der Selbstisolation mit all ihren Begleiterscheinungen genauer unter die Lupe und prägten dafür den Begriff »Hikikomori« (aus dem Japanischen: »nach innen gewandt, im sozialen Rückzug«3). Das Phänomen mag zwar nicht nur auf Japan beschränkt sein, aber dort ist es bisher am gründlichsten beschrieben und untersucht worden, auch das erschreckende Ausmaß4 des Phänomens in diesem Land ist mit der Situation in anderen Ländern nicht vergleichbar. Laut dem symptomatischen Bild des Syndroms ist der soziale Rückzug als dauerhaft zu betrachten (länger als 6 Monate Selbstisolation), unter den Betroffenen überwiegen meistens relativ junge Männer (im Alter von ca. 15–35 Jahren), häufig aus vermögenden Familien, die ein Großstadtleben führen bzw. in Ballungsgebieten wohnhaft sind. Gründe für die Weltflucht liegen meistens in der Unfähigkeit oder teilweise auch in dem mangelnden Willen, sich den Anforderungen des Lebens zu stellen (gesellschaftlicher Beitrag, Partnersuche, Familiengründung usw.), da diese als frustrierend und überfordernd empfunden werden. Der unmittelbare Anstoß, sich in Abgeschiedenheit zu begeben, ist oft ein schulischer, beruflicher oder privater Miss2 Vgl. Hartl, Thomas: Das Hikikomori-Syndrom – Menschen im Dauerrückzug. Juni 2020 URL: https://www.meinegesundheit.at/cdscontent/?contentid=10007.859121&portal=meinegesund heitportal / letzter Zugriff am 1. Februar 2022. 3 Gross, Rainer: Allein oder einsam? Die Angst vor der Einsamkeit und die Fähigkeit zum Alleinsein. Wien / Köln: Böhlau Verlag 2021, S. 32. Als »Hikikomori« werden sowohl Betroffene als auch das Phänomen bezeichnet. 4 Offiziellen Angaben zufolge lebten 2010 in Japan über 700.000 Hikikomori, wobei der japanische Psychiater Tamaki Saito, der als einer der ersten das Phänomen beschrieb, bereits 1998 die Zahl der Betroffenen auf eine Million schätze. Vgl. Gross, Rainer: Allein oder einsam?, S. 32–33.
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erfolg. Der soziale Kontakt wird zugunsten der virtuellen Welt auf ein Minimum reduziert oder radikal abgebrochen, ebenso stark eingeschränkt werden die alltäglichen Tätigkeiten, die kaum über das Essen und Schlafen hinausgehen. Charakteristisch ist auch die Umkehr des üblichen Tag-Nacht-Rhythmus, da der Betroffene meistens nur noch nachts aktiv ist, während er Tage schlafend oder vor sich hin dösend verbringt. Diese von Außenstehenden schwer nachvollziehbare, irrationelle oder gar als Ausdruck der Faulheit wahrgenommene Verhaltensweise wird allgemein als peinlich angesehen, so dass sich Angehörige genötigt sehen, die Illusion der Normalität so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und die Abwesenheit des Sohnes oder der Tochter durch Reisen oder Krankheit zu rechtfertigen. Die Familie nimmt dabei nicht selten eine passive und abwartende Haltung ein und beschränkt ihre Hilfe auf die Versorgung des hinter der Zimmertür Verschwundenen mit Lebensmitteln, in der Hoffnung, dass der Betroffene eines Tages seine Schwierigkeiten selbst überwindet und in sein früheres Leben zurückkehrt. Die Situation in Japan zeigt allerdings, dass Hikikomori in Extremfällen manchmal mehrere Jahre auf sich warten lassen, bis sie für die Welt zurückgewonnen werden können. Vor diesem Hintergrund werden Betroffene oft als eine verlorene Generation bezeichnet, zumal ihre angewohnte asoziale Lebensführung folgerichtig zur lähmenden Passivität und Unselbständigkeit führt und die erwartete Wiedereingliederung in die Gesellschaft in Frage stellt: [D]ieser (…) parasitäre Lebensstil verursacht tiefgreifende psychologische Veränderungen. (…) [D]er Mangel an sozialen Kontakten und die anhaltende Isolation führen zu Störungen im mentalen, emotionalen und verhaltensbezogenen Bereich. Junge Menschen verlieren ihre sozialen Kompetenzen – die virtuelle Welt wird zu ihrer Welt, und Bilder aus dem Fernsehen und Computerspielen zu der wichtigsten Informationsquelle.5
Bisher wurden in Europa nur wenige Untersuchungen zum Hikikomori-Syndrom durchgeführt, die Forscher sind sich jedoch einig, dass das Phänomen bereits Menschen in der ganzen Welt betrifft, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Ausprägung. Auch die Literatur registriert diese sozialen Probleme seismographisch und gewährt neuen Protagonisten, den Hikikomori, den Einzug in erzählte Welten einer totalen Einsamkeit. Bereits 2012 bot der debütierende Kevin Kuhn mit Hikikomori6 eine eingehende Fallstudie, in der er die Mechanismen des Syn5 Gutowska, Anna: Hikikomori – samotnos´c´ w XXI wieku. In: Domeracki, Piotr/Tyburski, Włodzimierz (Hg.): Zrozumiec´ samotnos´c´. Studium interdyscyplinarne. Torun´: Wydawnictwo Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2006, S. 217–228, hier S. 222 – aus dem Polnischen M.B. 6 Im selben Jahr erschien ein zweiter Hikikomori-Roman von Milena Michiko Flasˇar Ich nannte ihn Krawatte.
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droms aufdeckt und den fortschreitenden psychischen wie körperlichen Verfall eines Betroffenen beschreibt. Abgesehen von dem eindeutigen Titel des Buches entspricht die Konzeption des Protagonisten weitgehend den klassischen medizinischen Beschreibungen des Hikikomori-Syndroms: Der Protagonist ist ein etwa 19-jähriger junger Mann aus einer wohlhabenden Familie, der mehrere Monate in seinem Zimmer eingeschlossen verbringt, mit dem Handy und Computer als einziger Begleitung. Sein Entschluss, sich vollständig aus dem sozialen und familiären Leben zurückzuziehen, wird durch seinen Schulverweis kurz vor dem Abitur diktiert, ein Ereignis, das seine Zukunft, die bereits festzustehen schien, in Frage stellt: Nach den Erwartungen der Eltern und seinen eigenen Vorstellungen sollte Till nach erfolgreichem Schulabschluss in die Welt hinausziehen, um Erfahrungen zu sammeln, den eigenen Horizont zu erweitern und sich als Erwachsener zu entwickeln. Die Reise würde in seinem erwarteten Eintritt in die Berufswelt gipfeln, wo er offensichtlich so erfolgreich werden sollte wie sein Vater, ein weltbekannter Chirurg, oder seine Mutter, eine renommierte Innenarchitektin. Till verlässt die Außenwelt jedoch nicht, weil ihn sein Versagen in der Schule und sein somit nicht realisierter Lebensentwurf mit Scham erfüllen, sondern – zumindest deklarativ – aus dem Wunsch heraus, zu sich selbst zu finden und einen neuen, alternativen Lebensweg zu planen. Ähnlich wird die Situation von Tills Eltern interpretiert, die in ihrer perfekten Luxus-Blase leben und die drohenden Gefahren und Konsequenzen des mehrmonatigen Rückzugs anfangs vollständig verkennen. Von der Einzigartigkeit ihres Sohnes überzeugt, begrüßen sie seine Isolation, da man sich doch »bei besonderen Kindern […] keine Sorgen machen«7 muss, weil sie einfach »ihren Weg« gehen und »etwas Größeres«8 vorhaben. Die Idee, in radikaler Abgeschiedenheit »[sich] selbst klarer zu sehen, den Willen zu stärken, bewusster zu werden«9, geht Till tatkräftig an, indem er sein Zimmer bis auf einzelne Möbelstücke ausräumt und in die Rolle eines modernen Eremiten schlüpft. Die Aufnahme der neuen Existenz eines Weltflüchtigen stärkt offenbar Tills Selbstwertgefühl, mit dem er über seinen schulischen Misserfolg hinwegschauen und neue Identitätsprojekte entwickeln kann. Mit dieser so konzipierten Ausgangssituation initiiert Kuhn eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Sinn und Ziel der selbstgewählten Weltabkehr, die scheinbar eine einsame aber dafür freie Entfaltung des menschlichen Ichs jenseits der an hohen Ansprüchen orientierten Gesellschaft sicherstellen sollte. Die Darstellung der Identitätsbildung des Hauptprotagonisten legt die Vermutung nahe, dass der Autor zu diesem Zweck mit dem althergebrachten, bereits in der frühzeitlichen 7 Kuhn, Kevin: Hikikomori. München: Berlin Verlag 2012, S. 82. 8 Ebd., S. 104. 9 Ebd., S. 44.
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und mittelalterlichen Literatur gut etablierten Motiv des Einsiedlers spielt und die Möglichkeiten seiner Vergegenwärtigung und Umsetzung erprobt. Als Bezugstexte können hierfür beispielsweise Vitae patrum des heiligen Hieronymus herangezogen werden, die mehrere Parallelen erkennen lassen: In den Mittelpunkt der Darstellung rückt die kontemplative Verzicht auf die Welt und ihre Güter10, die Weltabkehr von der Welt ist durch einen freiwilligen Entschluss motiviert11, auch der szenische Rahmen in Hikikomori wird entsprechend stilisiert, indem der enge Wohnraum eines karg ausgerüsteten Zimmers einer Grotte oder Einsiedler-Hütte ähnelt und der Protagonist, der bisher im Überfluss schwelgte, auf der Matratze oder gar auf bloßem Fußboden schläft. Darüber hinaus artikuliert die Hauptfigur an mehreren Textstellen ihren Wunsch zur Entsagung, da der bisher konsumierte Wohlstand, regellose Lebensführung, durch jugendliche Exzessen überreizte Wahrnehmung nun als befremdend und sogar als widerlich empfunden werden. Die Frage der Askese wird im Roman Kevin Kuhns in scheinbar zeit- und gesellschaftskritischen Äußerungen des Protagonisten aufgeworfen, zumal dieser »anders« sein möchte als seine »Fernsehgeneration«12, die sich »durch die Kanäle zappt«, sich »eine der vorgefertigten Welten« aussucht, »sich selbst gegen bloße Figuren« eintauscht und ein durch TV-Shows designiertes Leben führt. Die Gedanken an die von Gleichaltrigen begehrten Auslandsreisen und den beruflichen Erfolg im künftigen Leben weichen der Erkenntnis, dass all dies ein bloßes Nacherleben von Schablonen ist: und es wird immer enger auf der welt. nicht nur, weil wir von tag zu tag mehr werden. vielmehr, weil wir alles durchdenken, weil alles, was wir erobern wollen, bereits erobert wurde. jeder raum, den wir meinen, als erster zu betreten, ist bereits übervölkert und seine luft schon lange abgestanden13.
Diese Einsicht bekräftigt Till in seiner Entscheidung, der Welt den Rücken zu kehren und in eigenen vier Wänden ein schlichtes, möglicherweise »naturnahes« Leben zu führen: Er geht sparsam mit Wasser um und schaltet das Licht aus. Während der mittelalterliche Einsiedler damit beschäftigt war, einen Garten anzulegen oder Tiere der Wildnis zu füttern14, widmet sich Till tagelang der Beobachtung der Vögel und teilt seine Behausung und Nahrung mit einem extra aus Mexiko bestellten Leguan. Die Kontemplation und Versenkung in innere Zustände unterbrechen aufdringliche Erinnerungen und nicht selten wollüstige
10 Vgl. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. 6. überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2008, S. 125. 11 Ebd., S. 126. 12 Kuhn, Kevin: Hikikomori, S. 43. 13 Ebd., S. 111. Kleinschreibung von Substantiven sowie Hervorhebung durch Kursivschrift folgen in allen Zitaten dem Originaltext. 14 Vgl. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur, S. 127.
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Bilder, die den Protagonisten wie eine Art Versuchung von seinem höheren Ziel abzulenken versuchen. Sein früheres »sündiges« Leben wird, entsprechend den überlieferten Eremiten-Legenden15, kontrastiv zu seiner gegenwärtigen Existenz in Rückblenden aufgedeckt: Jugendliche Experimente mit Drogen und Sex sowie die Vergötzung hochwertiger Luxuswaren sollen anscheinend nun in der Einsamkeit seines leeren Zimmers »gesühnt« werden. Diese motivverwandte Darstellung der neuen Lebensführung von Till, die ihn quasi als modernen Einsiedler erscheinen lässt, entpuppt sich im Laufe der Handlung jedoch als ein Zerrspiegel, in dem die Weltabkehr skurril und befremdend anmutet. Das mythisierte Einsiedler-Dasein wird allmählich dekonstruiert, indem Kuhn die einzelnen Aspekte der weltabgewandten Lebensführung grotesk überhöht oder in ihr Gegenteil verkehrt. Die Nahrung für den »neuen Eremiten« wird also nicht wundersam zubereitet und auf eine übernatürliche Weise gebracht16, sondern landet auf Bestellung aus der Küche direkt vor der Tür des Hikikomori. Während das Aufsuchen von Einsiedlern, um von ihnen Rat zu holen, eine lange literarische Tradition hat17, statten Tills Angehörige und Bekannte ihm regelmäßige Besuche ab, um seine wahren Absichten zu erkunden bzw. ihn zur Vernunft zu bringen. Der Betroffene lässt sich hingegen von der Vorstellung verführen, dass in seinem Inneren etwas Besonderes verborgen ist, das nur durch vertiefte Introspektion und in physischer Entfernung vom Lebensfluss zutage gefördert werden muss. Allmählich verfällt Till in eine Art Größenwahn und sieht sich durch seinen besonderen »Einsiedler«-Status über anderen »schwebend« und daher zu »höheren« Zielen berufen: Es ist etwas in mir, das Raum braucht, einen großen, etwas, das niemals in vorgefertigte Boxen passen wird. Und ich muss es sein, der diesen Raum erschafft18 ich mache es [erkunde die Welt] ja auf meine weise. ich werde beweisen, dass im kleinen detail die ganze welt stecken kann und dass man bei der betrachtung des kleinsten in ungeahnte höhen gerät.19
Die Wunschvorstellungen des Protagonisten stehen bald in einem krassen Gegensatz zu seiner wirklichen Lage. Die erstrebte Askese erweist sich als unmöglich, da der Protagonist von seiner Mutter regelmäßig mit Leckereien versorgt wird, die kontemplative Meditation verwandelt sich in einen lähmenden Müßiggang und die erwartete Selbsterkenntnis bleibt aus. Stattdessen beschreibt Till sich selbst als »die fleischgewordene Langeweile«20 und bemerkt kaum, »wie die 15 16 17 18 19 20
Ebd., S. 128. Ebd., S. 127. Ebd., S. 126. Kuhn, Kevin: Hikikomori, S. 29. Ebd., S. 112. Ebd., S. 78.
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einzelnen Tage vorbeirasen.«21 Folglich nimmt der Protagonist sein EinsiedlerDasein als eine Falle wahr, in die er ahnungslos hineingeraten ist: Das ist kein Gefängnis, in das ich mich eingesperrt habe, es gibt keine Gitter, keine Stahltür, keine Wächter – und es steht keine Entlassung in Aussicht. Stattdessen bin ich mittlerweile zum Gast eines Wellnesshotels geworden.22
Einen scheinbaren Ausweg aus dieser kuriosen Situation bietet Till das Internet und Online-Spiele, mit denen er sich eine neue Welt nach eigenem Gutdünken erschaffen kann, was ihm wiederum die Illusion gibt, sein Leben endlich in den Griff zu bekommen. Mit einer Vorahnung der bevorstehenden Katastrophe beobachtet der Leser nun sein Eintauchen in das virtuelle Universum, was noch bedrohlicher ist, als das physische Verschwinden hinter der Zimmertür und das den unaufhaltsamen Prozess von Tills raschem körperlichem und geistigem Verfall einleitet. Die Assoziationen mit Kafkas Verwandlung (1915) stellen sich unwillkürlich ein, verstärkt durch die eindringlichen Beschreibungen der »parasitären« Lebensweise der Hauptfigur, wie sie von Tills Vater diagnostiziert wird: Junge Menschen brauchen ihre Zeit, das heißt aber auch, sie müssen sich irgendwann abkapseln, nicht wie Parasiten an einem Wirt kleben, sich so lange von diesem ernähren, bis der Wirt krepiert […] der Parasit kann ohne Wirt nicht überleben. Der Parasit ist von Essenszufuhr und Zuneigung des Wirts abhängig. Und der Wirt wird dadurch koabhängig, weil er das Essen stellt und dadurch das parasitäre Leben erst ermöglicht!23
Die erschütternde Verwandlung eines Weltgeflohenen in einen auf Kosten der anderen lebenden Parasiten und folglich seine Entmenschlichung vollzieht sich auf mehreren Ebenen, und betrifft die Wahrnehmung Tills durch seine Familie, seine physische Verwandlung und schließlich seine Selbstwahrnehmung. Mit wachsendem Befremden und Entsetzen müssen Angehörige des Protagonisten feststellen, dass ihr Sohn und Bruder verschwunden ist und seinen Platz ein tierähnliches Wesen eingenommen hat, was explizit von Tills Vater ausgedrückt wird: »er hat geschrien und Laute wie ein Tier von sich gegeben […] und gleichzeitig, ich weiß nicht, wie er das macht, hat er begonnen, an der Tür zu scharren. Als ob er eingesperrt wäre, ihm Krallen gewachsen seien und er hinauswolle, aber nicht könne.«24 Diese unnatürliche Verhaltensweise verfestigt sich, der Protagonist verlernt das Sprechen, vernachlässigt die Hygiene, gibt allmählich alle Aktivitäten auf, die das tägliche Leben eines normalen Menschen bestimmen, und lebt in völliger Dunkelheit zwischen Essensresten und anderen 21 22 23 24
Ebd., S. 91. Ebd., S. 93. Ebd., S. 143–144. Ebd., S. 143.
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Abfällen. Parallel zum physischen Herunterkommen vollzieht sich der psychische Wandel, der erzählerisch verstärkt wird, indem die Handlung fast vollständig in die Online-Welt verlagert wird. Auch hier, in virtuellen Räumen, wird die Parasiten-Metapher aufgegriffen und in imaginierten, wie Alpträume anmutenden Szenen weitergesponnen, in denen sich Ungeziefer unter die Haut des Protagonisten »bohren« und »Eier absetzen«, und »die Larven zu schlüpfen« beginnen, um ihn »innerlich auszuhöhlen.«25 Dabei nimmt Till seine radikale Weltabkehr wortwörtlich als »Verwandlung«26 wahr, die sich in seinem »Kokon«27, seinem Zimmer, vollziehen soll.28 Im Laufe der Handlung enthüllt der Kokon seinen Inhalt und zeigt das Ergebnis der Verwandlung – ein hybrides Computer-Ungetüm, das den ganzen Raum einnimmt: wenn ich über mir schwebe, sehe mein zimmer da unten nun als meinen körper. die bildschirme wie augen, die ich öffnen und schließen kann, die tür: ein mund. der rechner: das gedächtnis. die wände sind mit bildern behangen, wie ein archiv von all dem, was mich berührt hat. ich bin das herz dieses körpers, ich bin es, der diese bilder macht und an die wand pinnt, der das gedächtnis mit erinnerungen speist, der über diesen raum bestimmt, mauern zieht, gegen wind und wetter.29
In seinem Roman Hikikomori deckt Kevin Kuhn die verschiedenen Stufen der Einsamkeit und Isolation auf, die unweigerlich in den Abgrund der menschlichen Psyche führen. Der Autor verdeutlicht, dass die Wiederbelebung des EinsiedlerTopos durch die radikale Weltflucht nicht möglich ist, weil der moderne Mensch in zweifacher Hinsicht verstrickt ist: im Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen und im Netzwerk des Internets. Die Zerreißung der primären sozialen Bindungen kann zu einem vollständigen Aufgehen in einer fiktiven Online-Welt führen, da diese unendliche Möglichkeiten des Probehandelns bietet und diverse Handlungsalternativen per Mauseklick ausführen oder abbrechen lässt. In Tills Computer-Universum gibt es unendliche Treppen und Dunkelheit, in die sich der Protagonist kopfüber stürzt. Dass die Selbstausgrenzung aus der realen Welt zur Selbstzerstörung führen kann, machen die letzten Romanszenen deutlich, in denen jener Abstieg in Virtual Reality sich in Wirklichkeit als Sprung aus dem Fenster erweist.
25 26 27 28
Ebd., S. 132. Ebd., S. 128. Ebd., S. 128. Vgl. Nowotny, Joanna/Jossen, Bettina: Gregor Samsa als Bug Boy. Eine japanische KafkaAdaption unter den Vorzeichen des Hikikomori-Diskurses. In: Trabert, Florian/StuhlfauthTrabert, Mara/Waßmer, Johannes (Hg): Graphisches Erzählen: Neue Perspektiven auf Literaturcomics. Bielefeld: Transcript Verlag 2015, S. 171–188, hier S. 187. 29 Kuhn, Kevin: Hikikomori, S. 110.
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Literatur Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/ Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2007. Daemmrich, Horst/Daemrich, Ingrid (Hg.): Themen und Motive in der Literatur, 2. Auflage. Tübingen/Basel: Francke Verlag 1995. Flasˇar, Milena Michiko: Ich nannte ihn Krawatte. Taschenbuchausgabe. München: btb Verlag, 2014. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. 6. überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2008. Gross, Rainer: Allein oder einsam? Die Angst vor der Einsamkeit und die Fähigkeit zum Alleinsein. Wien/Köln: Böhlau Verlag, 2021. Gutowska, Anna: Hikikomori – samotnos´c´ w XXI wieku. In: Domeracki, Piotr/Tyburski, Włodzimierz (Hg.): Zrozumiec´ samotnos´c´. Studium interdyscyplinarne. Torun´: Wydawnictwo Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2006, S. 217–228. Hartl, Thomas: Das Hikikomori-Syndrom – Menschen im Dauerrückzug. Juni 2020 https:// www.meinegesundheit.at/cdscontent/?contentid=10007.859121&portal=meinegesund heitportal. Konopka, Barbara: Fobia społeczna, hikikomori, kokonizm – o potrzebie odosobnienia w społeczen´stwie informacyjnym. In: »Media – Kultura – Komunikacja Społeczna« 2020, Nr. 3 (16), S. 33–50. https://doi.org/10.31648/mkks.6610. Kuhn, Kevin: Hikikomori. München: Berlin Verlag, 2012. Minois, Georges: Historia samotnos´ci i samotników. Übers. von Wanda Klenczon. Warszawa: Aletheia 2018. Nowotny, Joanna/Jossen, Bettina: Gregor Samsa als Bug Boy. Eine japanische Kafka-Adaption unter den Vorzeichen des Hikikomori-Diskurses In: Trabert, Florian/StuhlfauthTrabert, Mara/ Waßmer, Johannes (Hg): Graphisches Erzählen: Neue Perspektiven auf Literaturcomics. Bielefeld: Transcript Verlag 2015, S. 171–188. Tamaki, Saito: Hikikomori: Adolescence without End. Übers. von Jeffrey Angles. Minneapolis: University of Minnesota Press 2013.
Zbigniew Feliszewski (Katowice)
Roland Schimmelpfennigs poetische Annäherungen an das Reale
In der deutschsprachigen Theaterlandschaft, die sich seit den 1990er Jahren durch eine enorme Vielfalt auszeichnet, kommt Roland Schimmelpfennig eine Ausnahmestellung zu.1 Nicht nur die inhaltliche Substanz seiner Texte machte ihn zu einem der meist diskutierten und meist gespielten Theaterautoren, sondern gerade deren originelle poetische Sprache. An Reichtum der intertextuellen Bezüge kann er mit manchem Autor der Postmoderne Schritt halten. Schon ein flüchtiger Überblick über sein Werk erlaubt Assoziationen mit antiken und biblischen Motiven, sowie mit Film-, Literatur- und Theatertradition ins Spiel zu bringen. In seinen Stücken hallen die Lektüren Ovids und Euripides nach, aber auch Ibsens, Strindbergs, Tschechows; es räsonieren dort sowohl Shakespeare als auch Büchner, Beckett, Brecht und Dürrenmatt, mitunter auch die Fabel von Jean La Fontaine und die Geschichten aus Tausend und einer Nacht. Dabei ist er kein geistiges Kind der Postmoderne.2 Im Gegensatz dazu bewendet er es nicht bei ihrem übergreifendem Prinzip des anything goes, er behandelt die Postmoderne nicht nur im Sinne von »Exploitation, Destruktion oder Überwindung gängiger Formen«3, sondern er nutzt sie für die Suche nach einer verlorenen bzw. verstreuten Ganzheit. Zu Recht stellt Peter Michalzik fest, Schimmelpfennig vermeide in seinem Texten »Verständlichkeit als Wert an sich anzuerkennen, direkte Heutigkeit als Maxime zu akzeptieren, Anschlußfähigkeit als künstlerischen Imperativ zu begreifen«.4 Die Verrätselung der Sprache, die Absage an jegliche Folgerichtigkeit in 1 Vgl. Birgfeld, Johannes: Nachwort. In: Schimmelpfennig, Roland: Ja und nein. Vorlesungen über Dramatik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Berlin: Theater der Zeit 2014, S. 96–109, hier S. 99. 2 Vgl. Schimmelpfennig, Roland: Ja und nein. Vorlesungen über Dramatik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Berlin: Theater der Zeit 2014, S. 33. 3 Fischer, Ulrich: Roland Schimmelpfennig. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur KLG 6/11, S. 4. 4 Michalzik, Peter: Vorwort. In: Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. Stücke 1994– 2004. Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 7–16, hier S. 9.
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der Handlungskomposition und vor allem feine Raum- und Zeitkonstruktionen lassen sich nicht einfach als neuartige Verfremdungseffekte begreifen, da er – um noch einmal Michalzik zu zitieren – indem er »Transzendentes im Hiesigen sichtbar [macht]«5 an das Ideal herankommt, »das Tschechow für die gesamte Moderne markiert hat.«6 So Tschechow wie Schimmelpfennig zeigen die Welt in ihrer Unverständlichkeit und Bruchstückhaftigkeit, in der der Mensch vergebens nach einem Sinnzusammenhang sucht, ohne dabei der Resignation bzw. dem Zynismus zu verfallen. Im Gegenteil: in ihrem Schaffen räsoniert stets das unermüdliche Suchen nach Ganzheit. Beide realisieren es auf unterschiedliche Weise: Tschechow durch den Einsatz der Tragikomik, Schimmelpfennig durch die Negierung gängiger Narrative, die hauptsächlich in der Poetisierung gesellschaftlicher Phänomene und menschlicher Geschichten besteht, wobei mit Poetisierung weniger Ausschmückung der Gegenstände bzw. Verleihung alltäglichen Ereignissen einer magischen Bedeutung gemeint ist, sondern eine Komprimierung des Stoffes zur Erreichung eines größeren Grades der Dichte, die eine Perspektive eröffnet, in der das Zeitlose und Überzeitliche im Aktuell-Heutigen sichtbar werden. So führt er in einer der Vorlesungen im Rahmen der »Saarbrückener Poetikdozentur für Dramatik« in einer beinahe poetischen Weise seine künstlerische Absicht aus: Verdichtet man ein Stück Kohle, entsteht ein Diamant. Verdichtet man die Wirklichkeit, entsteht Kunst. Bläst man die Wirklichkeit auf, entstehen ein paar Illusionen. Kunst legt den Finger in die Wunde. Illusionen tun es nicht, sie betäuben den Schmerz.7
Die Wirklichkeitsverdichtung erreicht er durch das Extrahieren der Geschichten von Menschen, die in einer Zeitschleife festsitzen oder wider die Regeln der Physik wie des gesunden Menschenverstandes alle zeitlichen, räumlichen und Vernunftgrenzen aufheben, ohne dass ihnen eine eigenständige Realität abgesagt wird. Seine Poetik nivelliert die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Traum und Bewusstsein und zwischen den tradierten Genres und fördert die Kunst der Auseinandersetzung sowohl mit der gegenwärtigen Realität, als auch mit ihrer szenischen Umsetzung.8 Das Ausbleiben gewohnter kausal-logischer Zusammenhänge betont das Missverhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz, versetzt den Leser/Zuschauer in Staunen und legt paradoxerweise Zusammenhänge nahe: Strukturen werden sichtbar, Unzulänglichkeit
5 6 7 8
Ebd. S. 11. Ebd. Schimmelpfennig, Roland: Ja und nein, S. 17. Vgl. Fischer, Ulrich: Roland Schimmelpfennig, S. 11.
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menschlicher Erkenntnisfähigkeit wird offengelegt. In der 2004 für »Die Zeit« verfassten Kritik konstatiert Peter Kümmel: Schimmelpfennig wagt […] Minutenhüpfer in die Vergangenheit und Tagessprünge in die Zukunft. Im »filmischen« Zugriff aufs Geschehen will er unsere Erinnerungsmuster untersuchen, unseren Hunger nach Kontinuität. Schimmelpfennig zerstört diese Kontinuität. Bei ihm ist der Mensch ein Gefangener seiner Zeit, die Marionette des Moments.9
Diese Kritik betrifft das 2004 im Wiener Burgtheater (Akademietheater) uraufgeführte Stück Die Frau von früher in der Regie von Stephan Müller, das im selben Jahr zusammen mit 14 anderen Dramen in einer Anthologie veröffentlicht wurde.10 Der Handlungsrahmen des genannten Dramas gehört zumindest auf den ersten Blick zu den klassisch-konventionellen und baut auf dem Spannungsverhältnis zwischen dem Fremd-Bedrohlichen und Heimelig-Bekannten auf. Die von einem nicht näher bestimmten Außen kommende Fremde sucht das Eigene buchstäblich heim, stiftet Unruhe, entlarvt tief verborgene Probleme und Reibungen und macht jede weitere friedliche Existenz im Rahmen der bestehenden Ordnung unmöglich. Romy – die ›Fremde‹, dringt eines Tages in das Haus ihres einstigen Liebhabers Frank ein. Ein knappes Vierteljahrhundert zuvor hatte ihr Frank in einer sommerlichen Liebesnacht ewige und unbedingte Liebe versprochen. Nun lebt er seit über 20 Jahren mit seiner Ehefrau Claudia und ihrem gemeinsamen Sohn Andi zusammen. Ein Aufbruch steht bevor – die Familie will nach Übersee ausreisen. So sehr die Familie den Eindringling auch loswerden will, ihre Versuche bleiben vergeblich. Die Frau lässt sich nicht hinausbitten, auch Gewaltanwendung führt nicht zum Ziel, da sich die Tür nicht abschließen lässt, und als sie schließlich das Haus verlassen soll, wird sie von Andi mit dem Stein beworfen und muss zurück zu Frank und Claudia, diesmal als Opfer einer kindischen Spielerei. Am Ende bringt Romy seiner Frau und seinem Sohn den Tod und lässt den verstörten Frank sprachlos, entsetzt und allein zurück. Als ihm das Ausmaß der Tragödie bewusst wird, ist er nicht imstande, das Haus zu verlassen. Nun ist die Tür, die früher nicht schließen wollte, überraschenderweise verkeilt. Das zentrale dramaturgische Ereignis der ersten Szene bildet ein linkischer Betrug, den Frank an seiner Frau vornimmt, indem er leugnet, mit jemandem gesprochen zu haben und die Stimmen, die sie beim Duschen hörte, aus den Rohren oder aus anderen Stockwerken kommen würden. Die Lüge kommt ans Tageslicht, als Claudia die Tür öffnet und die noch immer davor stehende Romy 9 Kümmel, Peter: Schatz, Medea ist da! In: DIE ZEIT 16. 09. 2004 Nr. 39 URL: https://www.zei t.de/2004/39/Frau_v_fr_9fher / letzter Zugriff am 15. Dezember 2021. 10 Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004. Mit einem Vorwort von Peter Michalzik. Frankfurt am Main: Fischer 2004.
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sehen kann. Darauf folgt die nächste Szene, in der Schimmelpfennig dieselbe Geschichte mit identischem Dialog spielen lässt, jedoch mit dem beiläufigen Gespräch zwischen Frank und Romy, das zehn Minuten vor der genannten Duschszene begonnen hatte. Auch andere Passagen – Dialoge, Monologe, Erzählfragmente – überlappen und verzahnen sich teilweise. Die mehrspurige Darstellung eines Ereignisses lässt die wichtigsten ›Momente‹ zur besseren Hervorhebung ihrer Relevanz ausklingen. Diese Technik, die in zeitgenössischen Fernsehdokumentationen und Kompilationsfilmen verbreitet ist, beeinflusst wesentlich die Art des Sehens und des Interpretierens. Durch Wiederholung, Überlappung, Verzahnung der Ereignisse, Parallelität, durch Zeitlupen, konsequenten Tempowechsel, Ausdehnung und Multiplizierung wird zufälligen Gesprächen, gewöhnlichen Gegenständen und Gesten eine Stringenz verliehen. Die genauen Zeitangaben potenzieren zusätzlich diese parallel stattfindenden Ereignisse, die entweder aufeinander Einfluss haben oder die es erlauben, die Figuren- und Handlungsmotivation besser nachzuvollziehen. Der Kausalnexus wird offengelegt. Schimmelpfennig radikalisiert diese Erzählweise. Der Mensch bei ihm ist nicht nur gezwungen, seine Vergangenheit immer wieder auf deren Einfluss auf die Gegenwart zu überprüfen, sondern er scheint entgegen den Gesetzen der Physik in jedem Moment sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft konfrontiert zu sein. Der Absturz in die dunkle Vergangenheit wird mit prophetischen Sprüngen in die Zukunft in Verbindung gesetzt: »Wiederholung soll jede Tat, jedes Ding ins Magisch-Verhängnisvolle erheben; der beliebige Theatermoment spitzt sich zum Wendepunkt, zur Peripetie. Die Szenen hängen aneinander wie ein filmischer cliffhanger am anderen.«11 Lediglich eine einzige Szene hat Schimmelpfennig in kleinere Einheiten unterteilt. Es handelt sich um den Liebesakt zwischen Romy und Andi, also dem Sohn ihres einstigen Geliebten. Als sie erfährt, dass Andi in den Fußstapfen des Vaters getreten ist, indem er seiner Freundin Tina Liebe erklärt, ohne das Wort einhalten zu können, erwürgt sie ihn mit einer Plastiktüte. Diese Szene ist die zentrale im Drama, weil sich in ihr die Wiederholbarkeit des Fatalen manifestiert. Gut verfeinert wird diese Geschichte, die wir nicht zuletzt nur von Euripides’ Drama kennen, durch den komplexen Umgang mit der Zeit, der hauptsächlich in einem konsequenten Tempowechsel und in einer diskontinuierlichen Gestaltung besteht. Antiker Ernst stößt auf postmoderne Beliebigkeit, die sich lediglich als eine Spielmaske erweist, hinter der eine ernsthafte Tragödie lauert. Wenn man nach André Bazin annimmt, das filmische Bildfeld unterhalte stets eine intensive Beziehung zu seinem Außerhalb und dieses Außerhalb erweise sich von ele-
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mentarer Relevanz für das Sichtbare12, so konstruiert Schimmelpfennig ein Bild, das seine Kraft außerhalb des Jetzt schöpft. Die Zeitform des Stücks ist seine eigentliche Trägersubstanz. Erstens kommt die Frau aus ferner Zeit. Zweitens kommt sie, um ein zeitlich entlegenes Versprechen entgegenzunehmen. Und drittens taucht sie wie eine überzeitliche Gottesbeauftragte/Gottgesandte (oder auch die des Teufels) auf, um den Bann zu brechen bzw. das Orakel zu erfüllen. Diese verrät Schimmelpfennig, der Tradition des antiken Dramas zuwider, nicht. Es befindet sich quasi ›außerhalb des Bildfeldes‹. Im Hinblick darauf stellt sich die Frage, wie sich das ›Konzept des Realen‹ in diesem Zusammenhang nutzbar machen lässt. Aus dem 2015 erschienen Essay des französischen Philosophen Alain Badiou ergeben sich einige wesentliche Konstatierungen. Allem voran ist das Reale, das Badiou in Anlehnung an die Theorie Jacques Lacans entwickelte, »in keiner umfassenden rationalen Konstruktion«13 sichtbar. Es entzieht sich jeglicher Selbstverständlichkeit.14 Jedwede rationale Versuche, das Reale zu offenbaren sind von Grund auf zum Scheitern verurteilt und können höchstens als »Inszenierung eines winzigen Stücks des Realen selbst in der Rolle einer Ausnahme vom Realen«15 betrachtet werden. Wenn das Reale im Gegenteil zu dem konstruierbaren Imaginären und Symbolischen, unfassbar, unsagbar und nicht kontrollierbar, und nur durch »das Niederreißen des Scheins«16 möglich ist, ist es notwendig, sich einen anderen Blick zu verschaffen, der eine Öffnung entstehen ließe, die den Zugang zum Realen zuwege bringen kann: »Man muss sich im Krebsgang fortbewegen oder Diagonalen ziehen, um sich dem Realen jedes Mal einzigartig zu nähern.«17 Die Notwendigkeit »aus dem gewöhnlichen Leben herauszutreten«18, aus der platonischen Höhle zu kommen19, setzt einen Gewaltanteil voraus, das nicht zuletzt in einem performativen Akt zum Ausdruck kommt. Wie Judith Butler nahelegt, ist das Reale »im sich wiederholenden Akt enthalten […] Handeln (an act), wirk-
12 Vgl. Ries, Marc: Zur Topologie des Kinos – und darüber hinaus. In: Günzel, Stephan (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript 2007, S. 297–308, hier S. 303. 13 Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen. Aus dem Fanzösischen von Paul Maercker. Wien: Passagen 2016, S. 17. 14 Vgl. Butler, Judith: Lacans Initiation. Melodramatische Wiederholung und das Performativ des Geschlechts. Aufsätze. Transgression und Medialität. In: Bettinger, Elfi/Ebrecht, Angelika (Hg.): Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung. Band 5. Transgression: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts. URL: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-476-017 16-1_2 / letzter Zugriff am 15. Dezember 2021. 15 Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, S. 20, Hervorhebung im Original. 16 Ebd., S. 31. 17 Ebd. 18 Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, S. 47. 19 Vgl. ebd. S. 37.
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liches Handeln bezieht sich seiner Struktur nach immer auf ein Reales, das allerdings nicht bedingt von ihm erfaßt wird.«20 Schimmelpfennig treibt das Symbolische und Imaginäre, jene Zerstreuungselemente, die vom Realen entfernen, bis ins Unmögliche, so dass sie ihre Kraft verlieren. Die Masken fallen herunter. Der Schein ist aufgerieben. Erreicht wird das durch die Anhäufung bzw. Bloßstellung mitunter auch groteske Darstellung des Symbolischen und Imaginären. Die Hauptfigur trägt den Namen Romy Vogtländer. Es ist auch der Name einer aus dem deutsch-tschechischen Grenzgebiet stammenden robusten, winterharten Hühnerrasse, die aufgrund ihrer mausgrauer Farbe und Zeichnung durch Raubzeug nicht gefährdet ist. Ganz wie die Vogtländer in den Hühnerzuchthäusern, ist auch Romy gestählt, beständig gegen alle Versuche, sie zu vernichten. Während andere Figuren mit menschlichen Eigenschaften versehen sind, etwa Zerrissenheit, Wankelmut, Unschlüssigkeit, Labilität, Eitelkeit, Schwäche oder Naivität, tritt Romy immer entschlossen und zielgerichtet auf, als wäre sie von einer anderen Welt. Eine Instanz, die wir von vielen literarischen Werken gut kennen: der Teufel, der Peter Schlemihl in Adalbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813) seinen Schatten abkaufte, um ihn in die endlose Einsamkeit zu stürzen, oder die Teufel-Figur in Der Student von Prag, dem expressionistischen Film aus dem Jahre 1913, die den Doppelgänger des Studenten ins Leben rief und letztendlich dem Studenten den Tod brachte. Schimmelpfennig reduziert das Symbolische auf die Rolle eines Gadgets. In einer Szene, die das Ehepaar beim Packen von Kisten zeigt, fallen aus einem Karton Plastiktüten voller »Hühnergötter«. Hühnergott, auch Hexenstein genannt, ist ein Stein mit einem natürlich entstandenen Loch. Einem alten slawischen Volksglauben nach hatten die Lochsteine die Fähigkeit, böse Kräfte abzuwehren, vor denen in erster Line das Geflügel (!) geschützt werden sollte. Im Laufe der Zeit verbreitete sich dieser Glauben auch in westeuropäischen ländlichen Kulturen, in denen dieser Stein als Amulett auch zum Schutz von Pferden und Vieh eingesetzt wurde. Von dem Reichtum des alten ostslawischen Glaubens ist im Drama jedoch keine Spur mehr zu finden. Schimmelpfennig stattet die Steine mit einer neuen Bedeutung aus: »Wer durch das Loch im Hühnergott sieht, schaut in die Zukunft, heißt es«, sagt Claudia, worauf ihr Mann Frank erwidert: »Oder in die Vergangenheit – je nachdem, wie rum du ihn hältst.«21 Schimmelpfennig verrät nicht, welche Zukunft Claudia – die sich im weiteren Verlauf der Handlung als Todesopfer erweisen wird – durch das Loch im Stein gesehen hat. Der symbolische Gehalt der Hühnergötter potenziert den Bruch einer Verbin20 Butler, Judith: Lacans Initiation. 21 Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. In: Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004. Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 652.
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dungslinie zwischen dem alten Aberglauben und dem bloßen Erinnerungsbedürfnis des Menschen, der darin nur noch Urlaubssouvenirs sehen will. Die darauf folgenden Ereignisse rücken die Handlung in Richtung magischen Realismus. Nachdem Claudia und Frank durch das Loch des Steines gesehen haben, kommt es zu einer radikalen Veränderung: Die ›böse Kraft‹ wird durch den Untergang der Familie neutralisiert, Vogtländer kommt unbeschadet davon. Schimmelpfennig treibt die Figuren in zweierlei Formen des Exils, von denen die eine die scheinbare und die andere die wirkliche Herangehensweise an das Reale ermöglicht. Frank und Claudia planen einen Umzug ans andere Ende der Welt, vermutlich um ›ein neues Leben‹ anfangen zu können. Die bloße Trennung vom Bisherigen kann jedoch bei weitem keine wesentlichen Veränderungen in ihrer Existenz bewirken. Neu wären nur Landschaften, Nachbarn, Sitten und Bräuche, da im Grunde genommen nur Kulissen gewechselt würden. Darüber hinaus handelt es sich hier nur um eine freiwillige Emigration, hinter der – die Gründe dieser Entscheidung bleiben dem Leser unbekannt – sich weder Zwang noch ein starkes Wahrheitsbedürfnis verbirgt. Dagegen ist die zweite Art des Exils seine radikalste Form – das Exil in den Tod, eine extreme Lebensentfernung, bei der alle Masken fallen und das Real-Wahre sich im Augenblick selbst manifestiert. Die extremen, ungewollten Erfahrungen eröffnen den Zugang zum Realen. Auf das Wirkungspotenzial der Aufführung übertragen, korrespondiert es mit der Forderung Brechts, im Theater sowohl vom Schauspieler als auch vom Zuschauer eine Entfernung zu verlangen, anderenfalls – wie er in seinem Dialog über Schauspielkunst postuliert – »fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.«22 Der Knalleffekt, sei es Gewalt oder Schrecken, oder vielleicht Beides, sind hier als Mittel zum Zweck zu begreifen, ohne dass sie darüber, was und wie das Reale ist, Auskunft zu geben vermögen würden. Dabei macht die Verschränkung von grotesken, surreal-magischen Elementen und trivialisierten Verklärungen aus dem Drama eine Tragödie, der man nicht glauben will. Jene poetische Widersprüchlichkeit, wo sowohl Dürrenmatt, absurdes Theater als auch Surrealismus miträsonieren, lässt den Leser/Zuschauer nie ausruhen und das Dargestellte/Erzählte stets auf seine Wahrhaftigkeit überprüfen. Die Strategie eines Bis-ins-Unmögliche-Herantreibens der Handlung kennen wir aus vielen literarischen Werken. Ein gutes Beispiel ist Franz Kafkas Miniatur Eine kaiserliche Botschaft aus dem Jahr 1917. Eine einfache Geschichte, die Kafka auf eine surreale Weise darstellt, so dass die Begebenheiten das Unmögliche erreichen. Rätselhaftigkeit erzeugt Spannung, Magisch-Surreales lässt Unverständlichkeit entstehen und lädt zur Suche nach einer Lösung. Dabei ist jede Lösung nur unter der Einbeziehung dessen möglich, was sich »außerhalb des Bildes« befindet. Schimmelpfennig führt den Leser von der Dar22 Brecht, Bert: Dialog über Schauspielkunst. Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Sign. 1150/22.
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stellung möglicher Geschichten, die Menschen aus Fleisch und Blut erleben, bis hin zu grotesk-absurden Konstrukten und Sonderlichkeiten, die sich in einem sich dem Erkenntnisvermögen entziehenden und jegliche Verstandesmöglichkeiten übersteigenden Bereich abspielen. Und daraus entwickelt er die dramaturgische Verschränkung des Aktuellen und Überzeitlichen oder, nochmals mit Peter Kümmel gesprochen, »antiken Ernstes mit dem Vulgär-Heutigen.«23 Diese Verschränkung reißt den literarischen Text aus seiner Funktion als Repräsentation heraus und verlegt ihn in den Bereich der Präsenz, die erst durch Hinterfragung, Überspitzung und nicht zuletzt poetisch-formelle Gestaltung mitkonstituiert wird. Repräsentation hat mit dem »realen Leben« wenig zu tun. Nach Roland Barthes bestehe literarische Signifikation in einem Austausch zwischen Alltag und Kunstraum. Literatur sei ein »vestibulärer Zustand.«24 Wie der traditionelle Vor-Ort des Theaters bedeutet sie vornehmlich einen Durchgang und eine Schnittstelle vom künstlerisch-Erfundenen und dem Alltag-Erlebten. Um also zum Realen zu gelangen, treibt sie die dargestellte Wirklichkeit an den Punkt der Unmöglichkeit und wirkt über die Grenzen der Fiktionalität hinaus in Richtung Auswirkung auf diese Wirklichkeit, deren Reales sie zu enthüllen versucht. Sie schafft fiktive Welten, die das Reale der realen (nicht-fiktiven) Welt durch das Herunterreißen der Maske zu erreichen vermag. Verschiedene ästhetische Praktiken zielen auf denselben Effekt ab. Um das zu veranschaulichen, sei ein Stück Schimmelpfennigs aus dem Jahr 2001 herbeigerufen, das ganz anderen formellen Mitteln verpflichtet ist: Die arabische Nacht. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich Die arabische Nacht von Die Frau von früher sowohl durch die Handlungskomposition als auch Thematik und Symbolik. Schimmelpfennig verzichtet hier auf die einlinige Geschichtsführung zugunsten der Multiplizierung von gleichwertigen Ereignissen. Er baut weniger auf Dialog und mehr auf der epischen Darstellung der Ereignisse, wobei der Einbettung der Didaskalien in den Sprechtext der Figuren eine besonders große Bedeutung zugeschrieben werden muss. Zwischen dem Bühnengeschehen und der Regieanweisung verschwindet die Grenze, genauso wie zwischen dem Alltag in einem Hochhaus und der Märchenphantastik, die er zu einem eigenartigen Geflecht von Sehnsucht, Begierde und Rache kumuliert. Das 2001 im Staatstheater Stuttgart in der Regie von Samuel Weiss uraufgeführte Stück zeigt die Bewohner eines Hochhauses, in dem die Wasserversorgung unerklärlicherweise nur bis zum siebten Stock reicht. Der Hausmeister Lomeier begibt sich auf die Suche nach der Panne, um letzten Endes zu seiner Vergangenheit und zu sich selbst zu finden. Da ist auch Franziska, eine von einer Art Amnesie befallene einstige arabische Prinzessin, die sich weder an ihre Herkunft noch an einen der 23 Kümmel, Peter: Schatz, Medea ist da! 24 Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Hamburg: Claasen 1959, S. 48.
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vergangenen Tage erinnern kann. Nach der Arbeit nimmt sie eine Dusche und fällt in einen bewusstlosen Schlaf. Jedes Mal, wenn sie einen Wachkuss bekommen soll, gerät der Küssende ins Unheil: Der heimliche Beobachter aus dem benachbarten Wohnblock findet sich verzwergt in einer Cognacflasche, der zweite – der Freund ihrer Mitbewohnerin, wird von der eifersüchtigen Partnerin erstochen. Erst der Kuss des Hausmeisters bewirkt die Befreiung vom Fluch, den die eifersüchtige Frau eines Scheichs vor Jahren über Franziska verhängt hatte. Und damit findet sich auch das fehlende Wasser, und zwar in Übermengen. Es fließt in Strömen in der Wüste wie in den Röhren des Hauses. »Roland Schimmelpfennig steht seit seiner Arabischen Nacht im Ruf, das Genre des Alltagsverzauberungsstücks zu beherrschen«25, heißt es in der Kritik des eingangs erwähnten Peter Kümmel. Intertextuelle Bezüge zu der Schachtelgeschichte aus Tausendundeiner Nacht liegen auf der Hand. Die Bedeutung des Stücks erschöpft sich jedoch nicht im spielerischen Umgang mit der morgenländischen Vorgabe, wie es oft in der postmodernen Schreibweise der Fall war. Zumal Schimmelpfennig hier nicht versteckt andeutet, sondern deutlich mit dem Zaunpfahl winkt, ohne sich allzu sehr im erklärenden Detail zu ergehen. Wider die Lesererwartungen platziert er in Franziska und nicht in Fatima die arabische Prinzessin und die ehemalige Frau des Scheichs und macht den Hausmeister Lomeier zu ihrem Vater und im Endeffekt Erlöser. Das Stück speist sich von Sonderlichkeiten. Es spielt am wärmsten Tag der Jahres, an dem nicht nur die Wasserleitung außer Betrieb gerät, sondern auch jede Rationalität sich im QuasiSomnambulen auflöst. Die Figuren handeln nicht, sie werden gehandelt. Die Handlung wird über den Handelnden Herr.26 Wenn man dem Gedankengang Badious folgt, der das Reale über die abstrakte Unmöglichkeit erschließt, kommt man zum Schluss, dass es eben die vereinnahmende Abstraktheit ist, die sich des Realen zu bemächtigen versucht, um an die Wahrheit zu gelangen. Eine ominöse Atmosphäre durchzieht das ganze Drama. Unerklärlichkeiten, Unbestimmtheiten und Absurditäten entfremden den Zuschauer vom Dargestellten. Darin steckt der methodische Zugriff. Wenn die gewohnte Wirklichkeit, wie sie Hans-Georg Gadamer deutet, immer »in einem Zukunftshorizont erwünschter und gefürchteter, jedenfalls noch unentschiedener Möglichkeiten«27 steht, ist ihre vollkommene Verwandlung als Wesenstransformation eine unab25 Kümmel, Peter: Unbehagen! In: DIE ZEIT, 49/2001, URL: https://www.zeit.de/2001/49/UNBE HAGEN / letzter Zugriff am 13. Dezember 2021. 26 Dies korrespondiert mit Gadamers Feststellung, die er in Wahrheit und Methode als das Wesen des Spiels formuliert, »Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird«. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1990, S. 112. 27 Ebd. S. 118.
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dingbare Voraussetzung, das Reale an den Tag treten zu lassen. Aus der Routine herausgerissen öffnet der Zuschauer sich hin zur Erkenntnis, stellt Fragen, sucht nach Antworten, wird scharfsinnig. Die erkenntnisfördernde Distanz entsteht nicht zuletzt durch die Sprachgestaltung. Schimmelpfennig lässt die Figuren viel reden, ohne dass sie eigentlich Dialoge (aber auch keine eigentlichen Monologe) führen würden. Stattdessen berichten sie davon, was sie gerade erleben, denken, tun oder vorhaben. Jeder ist Gefangener in einer Sprechblase, als hätten sich zufällig Leute an einem Ort getroffen, wo sie ihren Traum träumen, in dem andere Traumbeteiligte als ebenfalls Träumende erscheinen. Und wieder rückt die Komposition des Stücks die Interpretation in Richtung Zerstreuung und Individualisierung, die jegliche Gemeinschaft unmöglich macht. Die arabische Nacht und Märchen aus Tausend und einer Nacht verbindet das gemeinsame Grundprinzip – die Notwendigkeit des Erzählens. So wie Scheherezade, die durch geschicktes und spannendes Erzählen, das jeweils immer mit einem cliffhanger endet, wodurch ihr Tod aufgeschoben wird, um nach Tausendundeiner Nacht die Rachsucht des Königs zu brechen, sprechen die Figuren Schimmelpfennigs, indem sie erzählen. Sie erzählen allerdings hauptsächlich von sich selbst. Aus diesen endlosen Narrativen geht die Notwendigkeit hervor, die Wirklichkeit immer wieder aufs Neue zu schaffen, indem diese »erzählt« wird. Der Mensch existiert somit nur in den Augenblicken, in denen er quasi ›zur Sprache kommen kann‹, als wollte er sich vor dem In-Vergessenheit-Geraten schützen, als wäre sein Ziel und Sinn, in Erinnerung zu bleiben. Dabei ist es oft die eigene Erinnerung, die den Menschen vor dem Sturz in Vergessenheit retten kann. Schimmelpfennig thematisiert das Verschwinden des kulturellen Gedächtnisses, den Mangel jeglicher Ursache-Wirkung-Kompetenz, indem er – ähnlich wie in Die Frau von früher – das Kulturerbe auf eine oberflächlichskurrile, auf die stark reduzierte Bildhaftigkeit reduziert. Das Ziel einer solchen Strategie erschöpft sich allerdings nicht in einem Gejammer über die conditio humana des Menschen in der Zeit der Agonie der Postmoderne. Im Gegenteil: Schimmelpfennig richtet die Aufmerksamkeit auf die Art der Sich-In-Die-WeltVermittlung des Menschen. Die ominöse Atmosphäre des Stücks und seine »erzählende Form« schaffen eine Distanz zum Gezeigten, die sich beim Enthüllen des Versteckten, Verborgenen, mehrschichtig Verkleideten als notwendig erweist. Die Figuren spielen sich selbst. Es ist ein Spiel im Spiel. Ihre künstlerisch anmutenden Handlungen werden zur Gadamerschen »Erfahrung […], die den Erfahrenden verwandelt.«28 Wenn Badiou den Punkt der Unmöglichkeit (die implizit vorausgesetzte Existenz dessen […], was sich selbst in diese Art Möglichkeit nicht einschreiben kann29) als die unabdingbare Notwendigkeit auf der 28 Ebd., S. 108. 29 Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, S. 35.
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Suche nach dem Realen definiert, so kann die Gadamersche Verwandlung im Grunde genommen dieselbe Funktion erfüllen. Verwandlung heißt Erschütterung, Infragestellung der bisherigen Existenz, Umformung, die aufs Ontologische zurückgreift. Verwandlung […] meint, daß etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist, so daß dies andere, das es als Verwandeltes ist, sein wahres Sein ist, dem gegenüber sein früheres Sein nichtig ist. […] Es kann hier keinen Übergang allmählicher Veränderung geben, die von einem zum anderen führte, da das eine die Verneinung des anderen ist. So meint die Verwandlung im Gebilde, daß das, was vorher ist, nicht mehr ist. Aber auch daß das, was nun ist, was sich im Spiel der Kunst darstellt, das bleibende Wahre ist.30
Gadamer und Badiou verbindet die These von der Unvermeidlichkeit des Radikalen. »[K]ein […] Übergang allmählicher Veränderung«, wie es bei Gadamer heißt, wäre Badious’ »Knalleffekt« oder »Revolution« gleichzusetzen. Diese bestehen im radikalen Perspektivenwechsel, der gleichermaßen die Figuren wie die Zuschauer umfasst. So findet sich Karpati plötzlich in einer Cognacflasche, aus der heraus er nun ums Überleben kämpfen muss, Franziska entdeckt ihre unheilvolle, jedoch reizende Vergangenheit und Fatima wird nun von einer Amnesie befallen, die bisher ihrer Mitbewohnerin zum Verhängnis wurde. Auch die feine Redegestaltung fördert die Verwandlung: Dem Zuschauer wird die Trennlinie zwischen Figuren und ihrer Inszenierung genommen: »eine Verdoppelung, die dem Stück die Leichtigkeit des Traums, die die Fabel nahelege, wieder nähme.«31 Darin steckt das, was Badiou »›Unmöglichkeitspunkt‹ einer bestimmten Formalisierung«32 nennt. Der Zuschauer muss als Axiom etwas annehmen, was sich jeglicher rationaler Erläuterung entzieht. Auf eine ähnliche Aussage läuft die Konstatierung Gadamers hinaus: Wenn sich nun im besonderen Falle ein Sinnzusammenhang im Wirklichen so schließt und erfüllt, daß all dies Im-Leeren-Enden von Sinnlinien entfällt, dann ist solche Wirklichkeit selbst wie ein Schauspiel. Ebenso wird, wer das Ganze der Wirklichkeit als einen geschlossenen Sinnkreis zu sehen vermag, in dem sich alles erfüllt, von der Komödie und Tragödie des Lebens selbst reden. An diesen Fällen, in denen die Wirklichkeit als Spiel verstanden wird, tritt heraus, was die Wirklichkeit des Spieles ist, das wir als das Spiel der Kunst auszeichnen. […] Die Welt des Kunstwerks, in der ein Spiel sich derart in der Einheit seines Ablaufs voll aussagt, ist in der Tat eine ganz und gar verwandelte Welt. An ihr erkennt ein jeder: so ist es.33
Die Wirklichkeit, die erstmals als »Spiel« verstanden werden muss, damit das Reale sich offenbaren kann, bedarf einer Verwandlung: Als »Knall-Effekt« auf der 30 31 32 33
Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I, S. 116–117. Fischer, Ulrich: Roland Schimmelpfennig, S. 7. Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, S. 35. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I, S. 118.
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Bühne, sei es hinsichtlich der erzählten Geschichte oder als eine verfremdende Form, die den Betrachtenden in eine ausweglose Position zwängt, um unter Umständen einen »Aha-Effekt« zu bewirken. Schimmelpfennigs Umgang mit herkömmlichen Stoffen und Symbolen dient der Bloßstellung der gängigen Vorstellungen, die durch feine Komposition seiner Stücke außer Kraft gesetzt werden und jenen Spalt zum Realen öffnen können. Die Mittel und Wege, mit denen er Probleme sichtbar macht, sind unter anderem auf seine Erfahrung als Regisseur und auf die Zusammenarbeit mit Jürgen Gosch zurückzuführen, der mehrere seiner Dramen inszeniert hatte. Gosch besetzte die Rollen gegen die Erwartungen, die die im Text enthaltenen Informationen implizierten, und »spannte die Distanz zwischen Dargestelltem und Darsteller sehr viel weiter als üblich«.34 In der Zusammenarbeit mit Gosch nahm Schimmelpfennig dessen Erwartungen vorweg und schrieb sie bereits in der Entstehungsphase in den Text des Dramas ein. Sein Ziel war es, insbesondere viel Freiraum für eine distanzierte Schauspielkunst zu schaffen. Seine »Verfremdung« rührt also aus der Vorwegnahme des Bühnenbildes und der Möglichkeit seiner Beeinflussung schon auf der Ebene des Textes. Im Zusammenhang damit verwendet er den Begriff »bildsamer Stoff«, also Material, das mit eigenen, für jeden Betrachter individuellen Referenzmatrizen dargestellt, und reflektiert werden kann: Wir alle sind auf der Suche nach zwei Arten von Bildern, den bekannten Bildern, den Bildern, die sich mit den Bildern decken, die wir schon kennen, und nach dem Niezuvor-Gesehenen. Wir wollen Bilder abgleichen mit bereits anderswo gemachten Erfahrungen – und daraus werden neue »Bilder« entstehen, denn die Erinnerung speichert Bilder und die Phantasie lebt von ihnen. Die Erinnerung, befeuert von Bildern, ist die Rakete der Utopie, die Erinnerung ist der Antrieb der Erfindung von wieder neuen Bildern […].35
Beschreibbarkeit bedeutet Vorstellbarkeit, und Vorstellbarkeit ist die Voraussetzung für das Verständnis. Um die eigene Welt mit jemandem teilen zu können, muss diese Welt zunächst beschrieben werden – »durch Sprache geschaffen«. Die Sprache im Kommunikationsprozess ist ein Werkzeug, um Bilder, Skizzen zu entwerfen, die so präsentiert werden, dass der Empfänger ihnen folgen kann. Dazu bemerkt Schimmelpfennig: Neulich hat mir jemand Batman. Der dunkle Ritter komplett nacherzählt, und seitdem hatte ich eine bildhafte Vorstellung von einem Film, den ich erst später – und dann natürlich zu meiner Enttäuschung – gesehen habe. Die Nacherzählung des Films wurde zu so etwas wie einer Übermalung. Und solche Übermalungen sind kostbar, sie zeigen letztendlich die Mündigkeit des Zuschauers. 34 Fischer, Ulrich: Roland Schimmelpfennig, S. 4. 35 Schimmelpfennig, Roland: Ja und Nein, S. 53.
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Dasselbe gilt für die Nacherzählung der Wirklichkeit. Im Moment des Sprechens wird sie für den Zuhörer – und auch für den Sprechenden – neu erfunden.36
Somit fällt die nächste Grenze: die Grenze zwischen Original und Übermalung bzw. zwischen Geschichte und ihrer Präsenz in der Gegenwart. Sowohl Die Frau von früher als auch Die arabische Nacht speisen sich von einer erbarmungslosen Infragestellung der alten Kultur und Geschichte, die souverän höchstens als museale Konstrukte fungieren und erst durch eine Kette von Neuerzählungen ihre eigentliche Präsenz erfahren können. Dass diese Übermalungen mit dem Original wenig zu tun haben, spielt keine Rolle. Wichtig hingegen ist, dass jede solche Übermalung sich dem Original wie der Vorstellung vom Original äußerst widersetzt. Dadurch kann sie auf der Suche nach dem Realen eine beinahe prophetische Wirkung haben: Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es eigentlich nur zwei menschliche Tätigkeiten gibt, die prophetisch sind: die Poesie und die Mathematik. Die Mathematik, weil sie auf formale Weise die Existenz von Objekten und Beziehungen beschreibt oder sogar beweist, deren Existenz man sich vor den mathematischen Formalismen nicht einmal vorstellen konnte. Diese Beziehungen und Strukturen erweisen sich aber später als absolut unerlässlich, um die geringste Bewegung des geringsten Teils Materie zu denken. Und die Poesie, weil jedes große Gedicht der sprachliche Ort einer radikalen Konfrontation mit dem Realen ist. Ein Gedicht trotzt der Sprache einen realen, unmöglich sagbaren Punkt ab. […] Mathematik und Poesie [bezeichnen] die beiden Extreme der Sprache […]: die Mathematik im Bereich des transparentesten Formalismus, die Poesie dagegen im Bereich der tiefschöpfendsten und oftmals undurchsichtigsten Kraft.37
Literatur Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Wien: Passagen 2016. Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Hamburg: Claasen 1959. Birgfeld, Johannes: Nachwort. In: Schimmelpfennig, Roland: Ja und nein. Vorlesungen über Dramatik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Berlin: Theater der Zeit 2014, S. 96–109. Brecht, Bert: Dialog über Schauspielkunst. Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Sign. 1150/22. Fischer, Ulrich: Roland Schimmelpfennig. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur KLG 6/11. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1990.
36 Ebd., S. 59. 37 Badiou, Alain: Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, S. 45–46.
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Michalzik, Peter: Vorwort. In: Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. Stücke 1994– 2004. Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 7–16. Ries, Marc: Zur Topologie des Kinos – und darüber hinaus. In: Günzel, Stephan (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript 2007, S. 297–308. Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. In: Schimmelpfennig, Roland: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004. Frankfurt am Main: Fischer 2004. Schimmelpfennig, Roland: Ja und nein. Vorlesungen über Dramatik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Berlin: Theater der Zeit 2014.
Internetquellen Butler, Judith: Lacans Initiation. Melodramatische Wiederholung und das Performativ des Geschlechts. Aufsätze. Transgression und Medialität. In: Bettinger, Elfi/Ebrecht, Angelika (Hg.): Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung. Band 5. Transgression: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts. URL: https://link.springer.com/chapter/10.1007 /978-3-476-01716-1_2/. Kümmel, Peter: Schatz, Medea ist da! In: DIE ZEIT 16. 09. 2004 Nr. 39 URL: https://www.zei t.de/2004/39/Frau_v_fr_9 fher. Kümmel, Peter: Unbehagen! In: DIE ZEIT, 49/2001, URL: https://www.zeit.de/2001/49/UN BEHAGEN / letzter Zugriff am 13. Dezember 2021.
Literarische Grenzdiskurse in (trans-)nationaler und interkultureller Perspektive
Anna Rutka (Lublin)
Literatur – Gedächtnis – nationale Abgrenzungen: Erinnerungshandlungen an der Grenze zwischen Ost und West in der Literatur der Enkel*innengeneration im Roman Anna Baars Die Farbe des Granatapfels (2015)
Die Ereignisse der Jahre 1989/1990, die den demokratischen Umbruch in Ostmitteleuropa markierten, leiteten, wie es Aleida Assmann 2006 diagnostizierte, das Ende der bipolaren Ordnung ein und hatten zur Folge, dass »[…] die Klammer der Nation als Bezugsgröße kollektiver Identität an vielen Orten in eine Krise geraten [ist], weshalb man heute die Konstruktion neuer kollektiver Identitäten sowohl unterhalb wie auch oberhalb der Nation ansetzt.«1 Für die Staaten des ehemaligen politischen Ostblocks bedeutete der Umbruch einerseits euphorisch begrüßte Befreiung vom kommunistischen Regime, andererseits initiierte er eine Reihe von Unruhen, politischen Konflikten und sozialen Unsicherheiten. Für den Kontext der deutschen und deutschsprachigen Literatur nach 1989/1990 erscheint der Zusammenbruch des Kommunismus in Ostmitteleuropa unter vielen anderen Aspekten insofern relevant, als dadurch eine neue Einwanderungswelle von Autor*innen aus dem Osten ausgelöst wurde und damit eine »Osterweiterung«2 der deutschen und deutschsprachigen Literatur ins Rollen gebracht wurde, die bis heute andauert. Diese als »Eastern turn«3 apostrophierte Tendenz markiert eine neue literarische Entwicklung im deutschsprachigen Kulturraum. Wie dies Irmgard Ackermann bemerkt: »Erst um die Jahrtausendwende treten junge Autoren hervor, die ihr Land erst nach der Öffnung, also in den neunziger Jahren, verlassen haben. […] Eine neue Generation deutlich jüngerer Autoren rückt damit in die literarische Szene, die neue The-
1 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2006, S. 250. 2 Dazu vgl. den Band Bürger-Koftis, Michaela (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens Verlag 2009 und darin insbesondere den Beitrag von Ackermann, Irmgard: Die Osterweiterung der deutschsprachigen »Migrantenliteratur« vor und nach der Wende, S. 13–22. 3 Vgl. Haines, Brigid: The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature. In: »Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe« Volume: 16, Issue: 2/2008, S. 135–149.
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men, neue Sichtweisen und vor allem auch neue Lebensformen vertreten.«4 Es ist äußerst bezeichnend, dass diese seit den 1990er Jahren andauernde Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur keineswegs als ein ›Sonderfall‹ zu verstehen ist, sondern in einem breiteren Zusammenhang mit den globalen Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte steht, die um 2000 generell als ein Lebensmodus zeitgenössischer Mobilität zu bezeichnen sind. Die Phänomene der Einwanderung und grundsätzlich die Mobilität der gegenwärtigen Lebensentwürfe stellen eine große Herausforderung an die Literaturwissenschaft dar. Der seit den 1990er Jahren eingeführte Begriff der ›interkulturellen‹ Literatur löste die in den 1980er Jahren populären Termini ›Migrationsliteratur‹/›Migrantenliteratur‹ ab und bezeichnet »die sich verändernde Situation von Migrantinnen und Migranten der ›ersten‹ und ›zweiten‹ Generation«, die Helmut Schmitz folgendermaßen charakterisiert: Diese interkulturelle Literatur wird mittlerweile akademisch begrüßt als eine Herausforderung an Konzepte homogener nationaler Identitäten, als Form des Schreibens nach der Auflösung von festen nationalen Kulturbegriffen nach dem Ende der ost/ westlichen Machtblöcke, als Literatur jenseits eines bürgerlichen Literaturbegriffs mit seinem Hintergrund in Nationalismus und Imperialismus, als Literatur, die die Gegensätze von ›Fremd‹ und ›Eigen‹, Einheimischem und Fremden unterläuft, als Literatur der Hybridität und der Patchwork-Identitäten, die sowohl den Gegebenheiten der Globalisierung angemessen sei als auch der multikulturellen Situation in Deutschland selbst.5
Obwohl die Diskussionen über eine adäquate Bezeichnung der Literatur von Autor*innen mit Migrationshintergrund keineswegs als abgeschlossen gelten dürfen,6 unterliegt es keinem Zweifel, dass die deutschsprachige Literatur seit Anfang der 1990er Jahre wohl zum ersten Mal in solchem Ausmaß die Entgrenzung des eigenen, innenkulturellen Blicks erlebt hatte, dadurch, dass neue 4 Ackermann, Irmgard: Die Osterweiterung der deutschsprachigen »Migrantenliteratur«, S. 19. Zu den Autoren und Autorinnen dieser »neuen Generation« zählen auch solche, die bereits vor der Wende als Kinder mit ihren Eltern in den Westen kamen, wie z. B. Ilija Trojanow, Marica Bodrozˇicˇ, Radek Knapp, Igor Bauersima, Magdalena Sadlon, Vladimir Vertlib, Catalian Dorian Florescu, Julya Rabinowych, Theresia Mora. Diese Reihe lässt sich erweitern um diejenigen, die nach 1990 emigrierten und als sog. »Sprachwechsler« ihre Literatur publizieren, wie etwa: Wladimir Kaminer, Olga Grjasnowa, Melina Naddj Abonji, Alina Bronsky, Marjana Galopenko, Lena Gorelik, Katja Petrowskaja, Tanja Malartschuk, Sasˇa Stanisˇicˇ, Marina Frenk, Dimitrij Kapitelman. 5 Schmitz, Helmut: Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Schmitz, Helmut (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam/New York: Editions Rodopi 2009, S. 7–17, hier S. 8. 6 Vgl. die Besprechung und Analyse von begrifflichen Problemen bei Schmitz, Helmut: Einleitung, S. 7–10.
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Perspektiven und Schauplätze in die Gegenwartsliteratur eingeführt worden sind. Die mit der ›inter‹-Perspektive eingeleitete Dynamik bezeichnet sowohl den »Zwischenraum ›zwischen‹ den Kulturen« als auch »eine besondere Form von Beziehungen und Interaktionen, die innerhalb einer Kultur zu finden sind.«7 Es gehört mittlerweile zum Gemeinplatz der interkulturell ausgerichteten Analyseansätze, dass Autor*innen mit Migrationserfahrung »einen anderen Blick auf die Geschichte Europas […], ein anderes kulturelles Gedächtnis, andere Erinnerungsorte – lieu de mémoire – und Zeitmarken«8 in die Literatur der Zielländer und ihre Öffentlichkeit einbringen. Im vorliegenden Beitrag soll der Debütroman von Anne Baar Die Farbe des Granatapfels aus dem Jahre 2015 im Zentrum der Analyse stehen. Baar ist Vertreterin der sog. dritten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus und gleichzeitig gehört sie der »Schriftstellergeneration der Kinder der Einwanderer«9 an. Als Angehörige von zwei verschiedenen kulturellsoziologischen Kohorten ist Anna Baar eine »Grenzgängerin«10 im doppelten Sinne: Als memoriale Grenzgängerin steht die Autorin – wie auch ihre autodiegetische Protagonistin – an der Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. auch Zukunft, und als zwischenkulturelle Grenzgängerin verhandelt sie in ihrer Literatur die Ost-West-Konfrontationen. Die 1973 in Zagreb geborene Schriftstellerin ist Tochter eines österreichischen Vaters und einer kroatischen Mutter aus Dalmatien. Sie wuchs zweisprachig in Wien, Klagenfurt und in der Heimat ihrer Mutter auf der Insel Bracˇ auf. Somit gehört Baar einer Kategorie von Autor*innen an, die eigentlich nicht ganz eindeutig der Sparte der ›Zugewanderten‹ zuzurechnen sind, so wie etwa Olga Grjasnowa, Lena Gorelik oder Sasˇa Stanisˇicˇ, um nur einige wenige der sog. »Sprachwechsler«11 aus dieser 7 So vgl. Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman »Selim und die Gabe der Rede«. In: Blioumi, Aglaia (Hg.): Migration und Interkulturalitäten in neueren literarischen Texten. München: Iuditium 2002, 28–41, hier S. 29. 8 So Günther Stocker in Bezug auf die österreichische Literatur vgl. Stocker, Günther: Neue Perspektiven. Osteuropäische Migrationsliteratur in Österreich. In: LebensSpuren. Begegnung der Kulturen. URL: http://www.lebensspuren.net/medien/pdf/Guenther_Stocker.pdf / letzter Zugriff am 5. Mai 2020. 9 Vgl. die Einteilung der Generationen der Schriftsteller mit Migrationserfahrung von Chiellino, Carmine: Zur Entwicklung der interkulturellen Literatur in Deutschland bzw. in deutscher Sprache. In: Grugger, Helmut/Lengl, Szilvia (Hg.): Fragen an die interkulturelle Literatur in Deutschland und in Europa. Würzburg: Könighausen & Neumann 2015, S. 11–26, hier S. 19. 10 Vgl. die Einleitung von Cathani, Stephani/Marx, Friedhelm: Über Grenzen – Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Cathani, Stephani/Marx, Friedhelm (Hg.): Über Grenzen – Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Göttingen: Wallstein 2015, S. 7–12, hier S. 7. 11 Carmine Chiellino schreibt in diesem Zusammenhang von einer »ankommende[n] Generation von Sprachwechslern«, d. h. von Autorinnen und Autoren, die nach der Einwanderung
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Altersgruppe zu nennen. Anna Baar ist gleichzeitig im österreichischen und im kroatischen bzw. ehemals jugoslawischen Kulturraum aufgewachsen und sozialisiert, weshalb ihr Lebens- und Literaturprojekt als eine Sowohl-als-AuchPerspektive12 im Sinne der Kultursynthese zu verstehen ist.13 Der zur Analyse herangezogene Debütroman der Autorin Die Farbe des Granatapfels ist stark autobiographisch geprägt und kann als ein Aushandlungsort von Bedeutungen in der Kontaktsphäre zwischen den Kulturen gelesen werden. Inhaltlich und sprachlich reflektiert Baars Erzähltext interkulturelle, in dem Falle österreichisch-kroatische (bzw. postjugoslawische) Verwicklungen und ihre Auswirkungen auf das Familiengedächtnis wie auch auf die Positionierung der Enkelgeneration im und angesichts des Ost-West-Gedächtnistransfers an den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Das literarische Projekt der kroatisch-österreichischen Schriftstellerin wurde als exemplarisches Beispiel der Interkulturalität im memorialen Diskurs der Enkelgeneration ausgewählt,14 um die Besonderheiten in der literarischen Verhandlung der Erinnerung von Zeitzeugen (in dem Falle der Großeltern) wie auch die daraus resultierende Kontextualisierung des Gedächtnisses in Bezug auf Gegenwart und Zukunft in der dritten Generation aufzuzeigen. Des Weiteren erscheint auch im Kontext der Frage nach Ein-/Be-/Abgrenzungen die Verhandlung des Gedächtnisses an der Grenze der antagonistischen ost- und westeuropäischen Diskurse beachtenswert. Die Protagonistin der Erinnerungsgeschichte Anna – von ihrer kroatischen Großmutter Anuschka genannt – lebt zwar als Vertreterin der »Generation Global« (Ulrich Beck) in einer offenen, transnationalen, europäischen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts, ihre Erfahrungen mit dem Familiengedächtnis und damit zusammenhängend ihre identitäre Positionierung sind von widersprüchlichen, dichotomen und stark hegemonial-nationalen Abgrenzungen der Gedächtnissemantik beeinflusst, was schmerzlich aufreibende innere und äußere Konflikte im Leben der jungen Frau nach sich zieht. Paradoxerweise sind es die »nationalen Container«, deren Auflösung nach den Umbrüchen 1989/1990 in der nach Deutschland oder Österreich zu Deutsch als Literatursprache gewechselt haben. Vgl. Chiellino, Carmine: Zur Entwicklung der interkulturellen Literatur in Deutschland, hier S. 23. 12 So die Antwort Baars in einem Fernsehgespräch auf die Frage, wo sich ihre Figur eigentlich zu Hause fühlt. Vgl. Anna Baar & Christoph Hein: ORF2 les.art 14. 03. 2016. URL: https://www.yo utube.com/watch?reload=9&v=xnnsYsLPBvk / letzter Zugriff am 21. Mai 2020. 13 Andere Autorinnen, die aus ost-west-Mischfamilien stammen, sind z. B. Sabrina Janesch (Jahrgang 1985), Sibylle Lewitscharoff (Jg. 1954), Kolja Mensing (Jg. 1971) oder Maja Haderlapp (Jg. 1961). 14 Andere Beispiele literarischer Erinnerungsbücher aus der Perspektive der dritten Generation der interkulturell lebender und schreibender Autorinnen und Autoren, die aus Ost-WestMischfamilien stammen, sind z. B. Sabrina Janeschs Die Katzenberge (2010), Kolja Mensings Die Legenden der Väter (2015).
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Gedächtnisforschung verkündet wurde, die im Werk der jungen Schriftstellerin mit großer Vehemenz zum Ausdruck kommen. Die am Anfang des neuen Jahrtausends als überwunden geglaubte memoriale Eingrenzung, die im Deutungsmuster ›Nation‹ zum Ausdruck kam, wird in der Literatur der dritten Nachkriegsgeneration erneut als akutes Problem ins Spiel gebracht,15 stellt Fallen und Tücken im Umgang mit der erinnerten Geschichte und erweist sich als Quelle des Unmuts und Leidens auf der Ebene der transgenerationellen Beziehungen. Im Fokus der auf den Roman von Anna Baar bezogenen Analysen sollen folgende Fragen stehen: Wie wird der Ost-West-Gedächtnistransfer in der familiären Kommunikation fiktiv konstruiert und welche Konsequenzen machen sich in diesem Zusammenhang für den Identitätsentwurf der Protagonistin als Vertreterin der Enkelgeneration kenntlich. Da Die Farbe des Granatapfels, wie oben angedeutet, sowohl von der Problematik wie auch von der ästhetischen Form her ein interkulturell angelegter Erzähltext ist, erscheint es legitim, nach einem textintern konstruierten Ost-West-Gedächtnis zu fragen: Welche Differenzen, Grenzen und Hierarchisierungen werden im Roman im Hinblick auf die Übergangsbereiche zwischen ost- und westeuropäischen Memoriaschranken im Fiktionalen entworfen? Welche Sachverhalte erscheinen als tabuisiert oder marginalisiert und wirken im Bewusstsein der dritten Generation weiter? Welche narrativen Modi müssen angesichts der schmerzlichen, ›national‹ (de)formierten, durch die Klammer ›Nation‹ eingegrenzten Erinnerungshandlungen in der privat-familiären aber auch öffentlichen Kommunikation entwickelt werden? Baars Roman problematisiert in vielerlei Hinsicht die typische Kondition der postmemorialen Generation wie etwa das vom Sterben der Zeitzeugen herbeigeführte Bewusstsein vom Ende des kommunikativen Gedächtnisses und in Konsequenz vom Übergang zu einer vermittelten, quasi sekundären Geschichte.16 Der Roman weist darüber hinaus einen (selbst)reflexiven Modus auf, in dem sowohl Bedenken der eigenen Position in der generationellen Kette wie auch die
15 Die Idee der Nation im Sinne von Nationalstaat und nationaler Kultur scheint in den letzten Jahren weltweit als maßgebliche Einheit weltpolitischer Organisation und Deutungsmuster immer mehr an Popularität zu gewinnen: vgl. in Frankreich Front National, in Deutschland die AfD, in Polen die nationalkonservative PiS, in Amerika die populistisch-nationalen Ideen des Präsidenten Donald Trump, in Ungarn die Politik von Viktor Orban, in England der 2018 vollzogene Brexit. 16 Diesen für die dritte Generation spezifischen Übergang erfasst Jessica Lang in Bezug auf das Gedächtnis an den Holocaust wie folgt: »[A]nother remove from the eyewitness: the first transition from eyewitness to a recounting by the witness now becomes, as the Holocaust enters history, an indirect relation tot he original eyewitness.« Vgl. Lang, Jessica: The History of Love, the Contemporary Reader, and the Transmission of Holocaust Memory. In: »Journal of Modern Literature« Nr. 33:1/2009, S. 43–56, hier S. 46.
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Gedächtnisreflexion an sich zu zentralen Anliegen gehören.17 Der interkulturell angelegte Erzähltext hinterfragt die Gemeinplätze der Gedächtniskultur, die im Zuge der »Globalisierung der Schemata« »eingeebnet werden müssen«,18 er zeigt Reibungsflächen im Ost-westlichen Gedächtnistransfer, den Widerstreit konkurrierender Erinnerungsdiskurse, antagonistische familiäre und sprachliche Loyalitäten in Erinnerungshandlungen und die daraus resultierende innere Spaltung der Vertreterin der Enkelgeneration.
Innwendige Erinnerungskämpfe zwischen Kroatien und Österreich Anna Baars Gedächtnis-Roman Die Farbe des Granatapfels wird aus der Perspektive einer weiblichen Erzählerin dargestellt, die zwischen einem autodiegetischen Ich-Modus und einem distanzierten heterodiegetischen Kind-Erzählblick oszilliert. In dieser gespaltenen Erzählform wird die Familiengeschichte einer kroatisch-österreichischen Protagonistin vom Kleinkind bis ins Erwachsenenalter dargeboten. Im narrativen Zentrum steht die dominante kroatische Großmutter Nada, die eine Position als Matriarchin und Herrscherin über das Familiengedächtnis inne hat. Die Enkelin verbringt jeden Sommer auf der kroatischen Insel bei der besitzergreifenden Nada (so die kroatische Bezeichnung für Großmutter), die sie liebevoll umsorgt, gleichzeitig jedoch selbstherrisch-egoistisch nach kroatischer Art zurechtbiegt. Die Großmutter zieht das Kind ganz in ihre Bann, indem sie es mit Kriegserzählungen, manisch wiederholten »Beschwörungsformeln«19, Warnungen, Geboten, Verboten, Sprichwör17 Meike Hermann erfasste bereits 2004 ein »Dominantwerden von Metaperspektiven« als das Spezifikum der Literatur der dritten Generation. Die Metaperspektiven, die in den Texten dieser Autorinnen und Autoren artikulieren »Fragen von Erinnerung, medialer Repräsentation und der Weitergabe historischen Wissens«. Vgl. Hermann, Meike: Spurensuche in der dritten Generation. Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust in der jüngsten Literatur. In: Fröhlich, Margit/Lapid, Yariv/Schneider, Christian (Hg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2004, S. 139–157, hier S. 140. 18 So Dominik Zink in seiner Definition »interkulturellen Gedächtnisses«, die er dem »transkulturellen Gedächtnis« gegenüberstellt: »Wo die transkulturelle Forschung zeigen will, wie erfolgreich und mächtig die globalen Schemata sind, wollen die interkulturellen Texte zeigen, welche Differenzen um der Globalisierung der Schemata willen eingeebnet werden müssen. Während es der transkulturellen Forschung darum geht, zu zeigen, wie sich Verständnis und Verstehen der Kulturen hinweg vollzieht, wollen die interkulturellen Texte zeigen, dass es Grenzen gibt, die durch die Erzeugung eines vermeintlichen Verständnisses, die Tatsache verdecken, dass es Dinge gibt, die im globalen Verständnis aufgehen.« Vgl. Zink, Dominik: Interkulturelles Gedächtnis. Ost-westliche Transfers bei Sasˇa Stanisˇicˇ, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Richard Wagner, Aglaja Veteranyi und Herta Müller. Würzburg: Könighausen & Neumann 2017, S. 35. 19 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels. Göttingen: Wallenstein 2015, S. 36.
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tern, volkstümlichen Sagen und Lebensweisheiten überschüttet und regelrecht erdrückt. Das der Macht der Großmutter schutzlos ausgelieferte Kind wird mit Ängsten erfüllt und emotional in Schach gehalten. Anuschka reagiert mit Abscheu und Ekel. Sie wehrt sich gegen die matriarchale Dominanz, indem sie sich für die omnipräsenten Kriegserinnerungen Nadas taub stellt und sich in einer Trotz- und Abwehrreaktion in eine gespielte Sprachlosigkeit flüchtet.20 Den zweiten Schauplatz der Kindheit des Mädchens stellt die wohlhabende Welt in Österreich (Kärnten) dar, wo sie die Herbst- und Winterzeit mit ihrer kroatischen Mutter und dem österreichischen Vater verbringt. Die beiden Erzählräume Kroatien (im ehemaligen Jugoslawien) und Österreich teilen die Welt der Protagonistin entzwei und stehen sich als antagonistische Weltenräume gegenüber. Erst als Erwachsene bricht Anna das Schweigen gegenüber der kroatischen Großmutter durch. Angesichts ihres nahenden Todes besinnt sich die Enkelin auf den drohenden Gedächtnisverlust und registriert fasziniert die in der Kindheit abgelehnten Erinnerungen an den Krieg. Die traumatischen Ereignisse aus der Zeit des antifaschistischen, jugoslawischen Widerstandskampfes kommen an die Erzähloberfläche. Im Laufe von Nadas Erzählungen schälen sich nach und nach die Gründe für ihre angsterfüllte, besitzergreifende Liebe für die Enkelin sowie ihre nie überwundene Verachtung für Deutsche und Österreicher, die zum zentralen Element ihrer Erziehungsmaßnamen wurde. Was Anna Baars Debütroman aus der Reihe von Erinnerungsbüchern von Autor*innen mit dem sog. ›Migrationshintergrund‹ hervorhebt, ist die ästhetische Übertragung der konfliktären Verhandlung von Zeitgeschichte auf die innwendigen Schauplätze der Erzählfigur. Die Protagonistin stammt, um es mit den Erinnerungskategorien zu erfassen, aus einer gemischten Täter-Opfer-Familie, was ihr Selbstverständnis zur Austragungsfläche für memoriale Konflikte macht.21 Der vom jugoslawischen kommunistischen Staat fundierte Erinnerungsdiskurs der Großmutter kategorisiert Österreich und Deutschland eindeutig als Länder der Nazis und der Täter. Annas »Vaterland«, von Nada verächtlich als »Esterreich«22 stigmatisiert, wird gegenüber der Enkelin stets als ein unwürdiger Lebensraum abgewertet. Die österreichischen Großeltern hüllen sich im Gegensatz zum überschwänglichen Rededrang der kroatischen Großmutter ins Schweigen. Sie verbergen vor dem Kind konsequent ein Geheimnis aus ihrer 20 Ebd., S. 35. 21 Eine vergleichbare Konstellation bietet der Roman von Mirna Funk Winternähe (2015) an, in dem die Protagonistin Enkelin der Holocaust-Überlebenden und Tochter eines deutschen Juden und einer deutschen Mutter ist. Vgl. dazu Rutka, Anna: »Annehmen. Akzeptieren. Damit leben. Nicht vergessen. Sich erinnern.« Subversive Erinnerungsverschiebungen der PostShoah-Generation in Mirna Funks Roman »Winternähe« (2015). In: »Tematy i Konteksty« Nr. 7(12)/2017, S. 372–385. 22 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 43.
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Vergangenheit, welches erst im Erwachsenenalter von der Erzählerin rezipiert wird. Der Gedächtniskonflikt der Großelterngeneration wird von der Enkelin als komplizierte Erbschaft übernommen, wirkt in ihrem Leben nach und wird als ein aufreibender Erinnerungsschlachtplatz im Inneren literarisch ästhetisiert.23
Im Widerstreit konkurrierender Erinnerungsnarrative zwischen Ost und West Die kroatische Großmutter spielt die führende Rolle gleichermaßen in der narrativen Konstruktion des erinnerungshandelnden Textes24 wie auch im Hinblick auf den Einfluss auf das Bewusstsein der Enkelin. Die Großmutter verstummt nie und selbst nach ihrem Tod ertönt ihre Stimme mit Brisanz, dadurch dass die Enkelin Kriegsgeschichten Revue passieren lässt, die in der Stimme der Großmutter erzählt werden. Nada beherrscht vollständig das kommunikative Gedächtnis der kroatischen Familie. Ihr kommt die kulturell tradierte, typisch weibliche Rolle einer Gedächtnishüterin zu.25 Sie verwahrt und distribuiert die zahlreichen Kriegsgeschichten über ihren kommunistisch motivierten Widerstandskampf gegen die Faschisten im Zweiten Weltkrieg und hütet das große Familientrauma – das Wissen über den gewaltsamen Tod ihrer Lieblingsschwester Vesela, die von den Deutschen erschossen wurde. Auch Nadas Mann Beppe wird in ihren Erzählungen als heldenhafter, unerschrockener Partisan dargestellt, der im Kampf gegen deutsche Faschisten einen 23 Jene Übertragung der zeitgeschichtlichen Konflikte auf den innwendigen Schauplatz des individuellen weiblichen Bewusstseins weist Parallelen zum literarischen Projekt Ingeborg Bachmanns auf, wie es in ihrem Roman Malina (1971) realisiert wurde. Die weibliche Figur Bachmanns verhandelt die kulturell-historischen Konflikte wie etwa die Nachwirkung des Nationalsozialismus im Denken und Handeln der Nachkriegsgesellschaft oder den faschistoid anmutenden Geschlechterkampf auf dem innwendigen Schauplatz, d. h. in der Psyche der weiblichen Figur. 24 Kirstin Frieden schlägt in Bezug auf die Texte der dritten, postmemorialen Generation den Begriff »Erinnerungshandlungen« vor: »Dem Wortsinn nach kann es kein Erinnern mehr geben; weder ein Erinnern, noch die Erinnerung sind in diesen Altersgruppen rein biologisch und kognitiv möglich. […] In der Inanspruchnahme des Begriffs ›Erinnernungshandeln‹ geht es explizit um den aktiven Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um ›Memory Work‹. In der jungen Generation und allen nachkommenden Generationen werden Rückbezüge, Reflexionen, Partizipationen (an) der Vergangenheit nur unter ›bewussten Anstrengungen‹ möglich […]«. Vgl. Frieden, Kirstin: Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas. Bielefeld: transcript 2014, S. 19. 25 Vgl. Jansen, Odile: Women as Storekeepers of Memory: Christa Wolf ’s Cassandra Project. In: Neubauer, John/Geyer-Ryan, Helga (Hg.): Gendered Memories. Amsterdam/Atlanta 2000, S. 35–43, hier S. 35. Zur kulturellen ›Prädestinierung‹ der Frau als Hüterin und Trägerin von Erinnerung vgl. auch Rutka, Anna: Erinnern und Geschlecht in zeitgenössischen Familienund Generationenromanen. Lublin: Wydawnictwo Naukowe KUL 2011, S. 35.
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Lungenschuss erlitten hatte. Beppe wird zwar in den Erinnerungsgeschichten seiner Ehefrau als Partisanenheld und »Träger des Orden narodnogo heroja«26 geehrt, jedoch spielt er im innenfamiliären Gedächtnistransfer keine aktive Rolle und wird auch im privaten Alltag von der dominanten Nada völlig marginalisiert. Das Groß der Erzählung beherrscht die nicht explizit artikulierte Ahnung der traumatischen Kriegserlebnisse Nadas, denen das Kind allerdings kein Gehör schenken möchte. In den frühen Kindheitserinnerungen Annas dominieren Nadas omnipräsenten Ermahnungssprüche und Angst schürende Warnungen vor banalsten alltäglichen Gefahren wie auch vor einem ominös anmutenden, existenziellen Zusammenbruch der behüteten Welt der Enkelin, der eines Tages durch das Sterben der Großmutter herbeigeführt werden sollte: »Errät sie [Nada – A. R.] meine Angst, sie entbehren zu müssen? Was bliebe ohne sie von unserer Welt«27; »Eines Tages, wenn ich nicht mehr bin, wirst du schon sehen, wie gut du es hattest.«28 Die Enkelin empfindet Nadas paradoxe Rabenmutterliebe29 und ihren Drang zum Beschützen des Kindes »vor allem Übel der Welt«30 als unerträgliche Last, weshalb sie die Großmutter mit einer Basiliskus-Figur31 und mit der slawischen Hexe-Figur Baba Roga32 vergleicht. Nadas aufdringliche Geschichten »von Typhus, Hunger, Krieg und Entbehrung, Lobreden auf die großen Männer, den Marschall und das ruhmreiche Land«33 werden von der Enkelin als nur »sachte angedeutete Begebenheiten, mit dem Unerhörten, das nicht mitzuteilen war«34, größtenteils überhört oder ignoriert. Erst im Angesicht der »Angst vor dem unwiderruflichen Verlust der Geschichten« entwächst in Anna »die Neugier«.35 Durch die »drohende Endgültigkeit«36 gewinnt die »Zwiesprache«37 mit Nada existenzielle und ästhetische Gültigkeit. Im Roman kommt dieses für die dritte Nachkriegsgeneration charakteristische Bewusstsein der Verantwortung für das Erinnern und die Geschichte dadurch zum Ausdruck, dass im letzten Kapitel die Fokalisierung auf die Großmutter verschoben wird und die in ihrer Stimme erzählten Geschichten über »Krieg, Sterben, Gewalt, Krankheit, Not und Gräu26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, 126. Ebd., S. 7. Ebd., S. 21. Die Enkelin erwähnt in diesem Zusammenhang die Bezeichnungen »Nadas Rabenflügel« und »Nesselliebe«, vgl. Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 22, 36. Ebd., S. 22. Ebd., S. 9. Ebd., S. 136. Ebd., S. 115. Ebd., S. 286. Ebd. Ebd., S. 287. Ebd., S. 286.
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el«38 direkt in den Erzählfluss eingeschoben werden.39 Die in der Kindheit verdrängten bzw. vorsätzlich überhörten Erinnerungen erhalten erst zum Schluss des Romans einen gleichrangigen Status mit der Position der IchErzählerin. Somit zerfällt das Textgefüge in zwei entgegengesetzte Teile: Die Kapitel Die Zunge des Basilisken und Die Lieben der anderen werden in der dritten Person, aus dem Blickwinkel des Kindes verfasst. Erst in den darauf folgenden Kapiteln Minderjahre und Atemlauern kommt die Stimme der IchErzählerin ans Wort, emanzipiert sich von der Narration der Großmutter und übernimmt die alleinige Verantwortung für die Tradierung und Reflexion der Erinnerungen. Die aus der Kind-Perspektive dargebotenen Erinnerungen an Nadas Erinnerungen vermitteln ein Bild der gleichermaßen im Sieges- wie auch Leidens- und Opfermodus vorgetragenen Geschichte. Großmutters Erzählungen, wie sie von dem Kind erinnert werden, sind sichtlich von der kommunistischen Gedächtnisdoktrin des jugoslawischen Staates geprägt. Nada, die sich ganz offen als Marschall-Tito-Verehrerin präsentiert und nach dem Umbruch dem kommunistischen Jugoslawien nachtrauert, stilisiert sich zu einer triumphierenden Partisanin und antifaschistischen Widerstandskämpferin. In der memorialen Metaperspektive des Kindes werden die Siegesgeschichten selektiv und verzerrt wahrgenommen. Es wimmelt in ihnen von Signalworten in kroatischer Sprache, mit denen das Mädchen nichts anzufangen weiß: »Brigada, Divizija, Metak, Komitet, Bratstwo i jedinstwo«40 waren »die großen Worte«, die »das Kind nur vom Hörensagen kannte und niemals selbst in den Mund nahm, weil sie auf nichts passten.«41 Nadas Kriegserinnerungen weisen allerdings noch eine andere, stark emotional aufwühlende Dimension auf, die für das Selbstverständnis der Enkelin weitreichende Konsequenzen hat. Der antifaschistische Siegesnarrativ ist aufs Engste mit dem explizit ausgedrückten Hass der kroatischen Großmutter auf »Nijemci«42 und »Fasˇisti«43 gekoppelt. Der Kalte Krieg als offizielle europäische Nachkriegsdoktrin findet seinen Niederschlag im Privat-Familiären der Großmuttererinnerung. Nada extrapoliert ihren Hass auf »Nijemci« – wobei sie mit dieser Bezeichnung gleichermaßen Deutsche wie auch Österreicher meint – auf das »Vaterland« der Enkelin. Verächtlich beschimpft sie in Annas Gegenwart 38 Ebd., S. 213. 39 Desselben Kunstgriffs bedient sich auch Sabrina Janesch in ihrem Roman Die Katzenberge, indem sie den polnischen Großvater ›in seiner Stimme‹ über die Geschichte der Vertreibung aus dem polnischen Osten nach Schlesien erzählen lässt. 40 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 123. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 241, 244. 43 Ebd.
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Deutsche und Österreicher als »Ibermenschen«44, die ihr Land »in Asche gelegt haben.«45 Immer wieder verflucht sie Deutsche/Österreicher für ihre »Dünkel«, »das breitbeinige Stolzieren.«46 Manisch flicht sie in den aktuellen Alltag Rekurse auf die nationalsozialistische Vergangenheit ein: »Und trugen nicht all die heutigen die Verächtlichkeit in ihrem Blick und das Getöse und Gebrüll in jedem Wort?«47 Selbst die begehrten deutschen Touristen, für die sie jeden Sommer »Fremdenzimmer« einrichtet, schilt sie als »Nachkommen der Stechschrittschächer.«48 Deutsch ist für sie eine verhasste Sprache, die sie als »Mörderzunge«, »Banditensprache«, »kvi jezik«49 oder als »die grobe Maulart«, »die Zunge der Fasˇisti«50 verunglimpft. In diesem von der Rhetorik des Kalten Krieges gezeichneten Gedächtnisnarrativ erscheinen die Deutschen bzw. Österreicher als die ewig Schuldigen und Bösen, als »Nijemci« d. h. »die Stummen, die nicht verstummen wollen.«51
»Nada zuliebe, […] dem Vater zuleide«52 Die von Nadas Erinnerungen stark beeinflusste Enkelin gerät in eine widersprüchliche Lebenslage, die in eine schmerzliche Ich-Zerrissenheit mündet. Als Tochter des österreichischen Vaters und der kroatischen Mutter lebt und fühlt sich Anna gleichermaßen in Österreich wie auch in Kroatien heimlich und beherrscht beide Sprachen, wobei sie Deutsch als »Vatersprache« und Kroatisch als »Muttersprache« bezeichnet. Infolge der einflussreichen Liebe Nadas gerät das Kind ins Spannungsfeld widerstreitender Erinnerungsdiskurse und Loyalitäten. Anna denkt und schreibt auf Deutsch, was sie jedoch vor der eifersüchtigen und Deutsch hassenden Großmutter verbirgt.53 Dem Kind ist es schmerzlich bewusst, dass der ausgeprägte Hass auf »Nijemci« auch den österreichischen Vater und die österreichischen Großeltern trifft und betrifft. Den verwirrenden Konflikt der antagonistischen Erinnerungsdiskurse veranschaulicht ausdrucksstark die Episode, in der Nada ihrer Verachtung für Deutsche/Österreicher Ausdruck verleiht 44 45 46 47 48 49 50 51
Ebd., S. 60, 61. Ebd., S. 65. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Ebd., S. 241. Ebd., S. 203. Ebd., S. 241. Ebd., S. 244. Im Kroatischen wie auch in anderen slawischen Sprachen, etwa im Polnischen, Tschechischen, Slowenischen, bedeutet das Wort »Nijemiec« der Stumme. 52 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 65. 53 Für Nada bedeutet zusätzlich die »Vatersprache« des Kindes seine »Fahnenflucht«. Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 156.
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und das »Grölen« und den »Befehlston« des Deutschen vor der Enkelin quasi spaßeshalber nachahmt: Mörderzunge, zischt Nada, wenn sie allein mit dem Kind ist und sich dazu herablässt, ihre Zinnoberlippen zum Deutschen zu verzerren, weil die die Vatersprache ins Lächerliche ziehen oder ihre Abneigung in einem Grölen, einem Befehlston breitreden kann, der jedem Begriff den Anschein des Unanständigen gibt, mit einer ganz anderen Betonung als der gewohnten, Cuuuriik! und Aahtung! und Dubissˇwain!, und das klingt – nach einem Kläffen, nach schlagenden Türen, Mordundtotschlag Wort für Wort.54
In dem Verwirrspiel gerät die Protagonistin zwischen die Fronten familiärer Loyalitäten, was sie in folgender Reflexion zum Ausdruck bringt: »[…] also lacht das Kind, lacht Nada zuliebe, lacht dem Vater zuleide, weil man ihn damit verrät, auch wenn man im Geheimen die Treue hält, im Wissen, dass er kein Kläffer ist und niemals Türen schlägt und keiner Fliege was zuleide täte.«55 Die ambivalente Gemütslage der Enkelin zwischen widersprüchlichen sprachlichen, familiären und erinnerungsdiskursiven Loyalitäten führt bei ihr eine schizophrene IchSpaltung herbei und potenziert das Gefühl der Unvereinbarkeit der beiden, in den jeweiligen ›nationalen Containern‹ eingeschlossenen Lebenswelten: »Es schien unmöglich, beiden Welten angehörig zu werden, aber man konnte tun als ob, und das Lachen gelang mühelos, selbst wenn es einmal nichts zu lachen gab […]. Da wie dort lautete der Auftrag, nur ja nicht nach dem anderen zu geraten, obwohl man da wie dort stets anders blieb.«56 Der Roman verhandelt noch eine andere tragische Konsequenz des Lebens mit der Erinnerungserbschaft. Anna lebt unter ständigem Druck der Vergangenheit und erbt die ominöse Angst, die auch die Großmutter von ihrer »Mame« ins Herz gedrückt bekam.57 Als Kind und später als Erwachsene fühlt sie sich in die Pflicht der Geschichte genommen und hat den unabweisbaren Eindruck, dass es vom Erinnern kein Entrinnen gibt: Es sind ihre [Nadas – A. R.] Maßstäbe für mein Leben. Es sind ihre Ängste, die in mir nisten. Sie: die Heldin, ich: ein brennender Lampion, eine Nachgeborene mit einer Vergangenheit am Hals, die nicht die meine ist, mit Bildern, die ich nicht will, denn ihr Krieg wirkt in mir nach, satter und schärfer, als er dem eigenen Auge je erschienen wäre, angereichert noch von Fantasie und Wahn, die Karstwüsten und Schratten und Karren und der knietiefe Schnee eines bosnischen Winters, darin Sprenkel – die Farbe des Granatapfels […].58
54 55 56 57 58
Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 65. Ebd. Ebd., S. 159. Ebd., S. 85. Ebd., S. 268.
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Auch als Erwachsene bleibt die Protagonistin weiterhin im Banne Nadas. Sie gibt Rechenschaft über die eigenartige Einschreibung des Kriegsleidens der kroatischen Großmutter ins »eigene Leib«: »als hätte sich dein Schicksal in mir fortgepflanzt, als säße mir deine Angst in den Knochen […] als hieltest du mich im Würgegriff deiner Geschichten.«59 Es ist sehr aufschlussreich, dass die Elterngeneration im literarischen Fokus der dritten Generation von diesen aufreibenden Vererbungsbewegungen fast unberührt bleibt. Die kroatische Mutter und der österreichische Vater werden im Kontext des transgenerationellen Gedächtnistransfers nur am Rande erwähnt und treten als aktive Gestalten nicht auf.60
»Esterraich«61 – unausgesprochene Erinnerung Im interkulturellen Vergleich des Umgangs mit Erinnerung fällt auf, dass die österreichische Familie sehr wortkarg mit ihrer Vergangenheit umgeht. Im Gegensatz zur emotionalen und vergangenheitsbesessenen kroatischen Großmutter, die ihre Opfer- und Widerstandserlebnisse in vielfältigen Formen alltäglicher Kommunikation latent oder explizit zum Ausdruck bringt, hüllen sich die österreichischen Großeltern in einem für die Zeitzeugengeneration typischen Gestus ins Schweigen. Dass beide Großelternteile Juden sind und in der nationalsozialistischen Diktatur unter Verfolgungen litten, wird in den retrospektiven Passagen der Enkelin gleichsam ›nebenbei‹, im Kontext der seltsamen Esskultur im österreichischen Elternhaus erwähnt. Anna ruft die für sie als Kind eigentümliche Disziplinierung beim gemeinsamen Essen in Erinnerung. Als Kind wurde sie stets ermahnt, dass man bei Mahlzeiten nicht mehr als notwendig essen sollte. Die Reglementierung des Essens, verknüpft mit einem regelrechten sprachlichen Drill am Tisch in Form von diversen Verboten und Geboten62 erscheint in der Rückschau als ein unverständliches und peinigendes Spektakel. Erst aus der Zeitdistanz werden die latenten Gründe für diese befremdendverstörenden Essensrituale und Unterdrückung jeglicher kulinarischer Lust ersichtlich: Wie hätte man sie auch erraten sollen, die Gründe und Nöte, die Lagerhaft der Großeltern? Man kriegte doch nichts zusammen mit dem vorwurfsvollen Blick – Du hattest doch schon drei Brote, dass einem der Bissen im Halse stecken blieb. Man nimmt nur so 59 Ebd., S. 272. 60 Dies scheint in vielen Erzähltexten der dritten Generation eine bestätigte Regel zu sein, so z. B. in Sabrina Janeschs Die Katzenberge, Mirna Funks Winternähe, Channah Trzebiners Die Enkelin. Oder wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste. 61 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 43. 62 Vgl. ebd., S. 62.
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viel Butter, dass die Brotporen als weiße Punkte zu erkennen bleiben, man nimmt die Serviette auf den Schoß, bevor man das Besteck in die Hand nimmt […] man bleibt verdammt nochmal sitzen, bis alle aufgegessen haben, auch wenn die Launen unabsehbar sind und jedes Tischgespräch ein Haufen Kiefernnadeln – wie läuft sich’s weich darauf, bis man sich an jener einzigen emporragenden sticht! […]63
Das Geheimnis der jüdisch-österreichischen Großeltern wird über die Fokalisierung der kroatischen Großmutter gefiltert und nur in solcher, quasi ›sekundärer‹ Form in der Narration des Romans dargeboten. Auf der Metaebene des Textes wird diese Überlagerung der ›kroatischen‹ und ›österreichischen‹ Erinnerungserzählung folgendermaßen ausgedrückt: »Sie [Nada – A. R.] weiß, dass der Großvater um ein Haar als Volksverderber durch den Rost gefallen wäre. Sie weiß, dass die Großmutter seinetwegen im Gefängnis war. Sie hält sie dennoch für gesegnet, alle beide. Wie sonst ist zu erklären, dass sie selbst im Herabschauen noch missbilligend zu ihnen aufblickt?«64 Diese durch Nada vermittelte Erinnerung an die Leidensgeschichte der österreichischen Großeltern ruft bei der Enkelin kein Mitleid hervor. Im Gegenteil zeigt sich Anna in ihrem Verhältnis zu den österreichischen Vorfahren stets emotional gleichgültig und empfindet auch sie im Gegenzug bar jeglicher Innigkeit und Sinnlichkeit: »Sie waren anders, durchaus, waren wie in Schneekugeln eingeschlossen, bauten schöne Worte um ihr großes Schweigen, freundlich, besonnen, immer um Einklang bemüht.«65 Es ist bezeichnend, dass selbst der Tod der österreichischen Großeltern von der Enkelin mit Gleichgültigkeit als ein »Totentanzt« und »Schweigekarussell«66 wahrgenommen wird. Der Ost-West-Erinnerungstransfer, zu dessen Projektionsfläche die Protagonistin wird, fördert signifikante Verschiebungen und Verkomplizierungen etablierter Narrative zutage. Im interkulturellen Gedächtnis der Familie, das von Anna reflektiert und verinnerlicht wird, gelten die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus paradoxerweise als »Verlästerte[…].«67 Im Blick der dem antifaschistischen Siegesnarrativ des kommunistischen Staates treuen Nada geraten die österreichischen Großeltern ins Kreuzfeuer der anschuldigenden Kritik und fallen der Verachtung anheim. Ihre Verfolgungsgeschichte wird in dieser verwirrenden Optik stillschweigend übergangen und an ihre Stelle tritt ihre Zugehörigkeit zum vermeintlichen Täterkollektiv, die durch die Zugehörigkeit zum nationalen österreichische Kollektiv legitimiert wird. Diese manipulierte Sichtweise wird von der stimmmächtigen kroatischen Matriarchin der Enkelin oktroyiert, was eine zusätzliche Identitätsverwirrung nach sich zieht, weil das Kind 63 64 65 66 67
Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 158. Ebd., S. 170. Ebd., S. 158.
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als Tochter österreichischen Vaters nolens volens auch zu den »Verlästerten« gehört. Der Text birgt noch eine andere Verunklarung der Positionen. Aus dem Verwirrspiel der Retrospektiven geht hervor, dass auch die kroatischen Großeltern Nada und Beppe jüdischer Herkunft sind. Aus den vom Partisanenmythos und Heldennarrativ überwucherten Erinnerungen schälen sich andeutungsweise Signalzeichen des Judentums aus: »Fünfzack«68 auf den Grabplatten kroatischer Großeltern werden am Ende des Romans erwähnt sowie die Tatsache, dass Nada im hohen Alter erwägt, in ein jüdisches Altersheim zu ziehen.69 Es ist äußerst signifikant, dass Nadas hegemonial-kommunistisch geprägter Erinnerungsdiskurs, das Gedächtnis an eigene jüdische Herkunft völlig außer Acht lässt und die Shoah-Geschichte der österreichischen Großeltern marginalisiert. Die Frau geht sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter. In ihren Erinnerungen verschmelzen Annas verfolgte Großeltern mit einem imaginären Täterkollektiv, die sie alle als »Ibermenschen« und paradoxerweise als »die österreichische Misˇpoche«70 verflucht. Dass von dieser Verachtung des deutschen/österreichischen Täterkollektivs auch ihre eigene, überaus geliebte Enkeltochter mitbetroffen ist, wird stillschweigend ignoriert und liefert einen weiteren Beweis für die unüberbrückbaren Antagonismen und Ambivalenzen, die diesem interkulturellen Familiengedächtnis eigen sind. Ebenso problematisch erscheint Nadas lebenslange Verehrung für den kommunistischen Diktator Tito. Die Frau zeigt sich unkritisch der verbrecherischen Täterschaft des kommunistischen Regimes gegenüber und reflektiert bis zuletzt die innenstaatlichen und ethnisch-religiösen Konflikte kaum, die im Balkankrieg eruptiv ans Tageslicht gekommen waren. Jene Verschiebungen der Opfer-Täter-Schemata wie auch die Konkurrenz der Erinnerungstraditionen und Familienloyalitäten stellen die Integrität des Kindes schlicht als unmöglich aus. Das Ich des Kindes und der Heranwachsenden gerät zum innwendigen Schauplatz des Erinnerungskrieges zwischen Ost und West. Die verstörende Macht des interkulturellen Gedächtnisses drückt sich unter anderem in der konsequenten Verwendung der dritten Person in Form der heterodiegetischen kindlichen Erzählinstanz im ersten Romankapitel aus. Erst mit dem Wechsel zur Ich-Perspektive deutet sich der mühselige Prozess einer emanzipatorischen Entgrenzung an.
68 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 273. 69 Ebd., S. 306. 70 Ebd., S. 157.
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Ausbruchsversuche aus den Fängen der Baba Roga und des Erlkönigs Die abgegrenzten kulturellen Gedächtnisdiskurse werden in Baars Roman mit Hilfe von fantastisch-magischen Semantiken kodiert. Ein interessantes Spezifikum der Interkulturalität des Romans äußert sich im ästhetischen Einsatz von fantastischen Elementen und Figuren. Die Welt der kroatischen Großmutter stellt einen fantastisch-übernatürlichen Kosmos aus Klängen, Farben, Gerüchen und Geschmäcken dar, die für Sinnlichkeit, volkstümlichen Aberglauben und Vitalität stehen, die dem österreichischen Erlebnisraum völlig fehlen. Nada ähnelt in den Rückerinnerungen des Kindes einer Bachtinschen karnevalesken Gestalt; Sie erscheint der Enkelin als »Eulenspiegelin, Stimmimitatorin, Feuerschluckerin«71 sowie eine »Zorngängerin von unstillbarer Lebensenergie.«72 Eine Gestalt, die eng mit den Kindheitserlebnissen der Protagonistin verknüpft bleibt, ist Baba Roga. Baba Roga – in anderen slawischen Kulturen auch als Baba Jaga bekannt – ist eine Märchenfigur, die widersprüchliche Eigenschaften aufweist: Sie kann als Weise, Jungfrau, Alte, Retterin, Helferin oder auch bösartige Verführerin und Seelenfängerin auftreten.73 Baba Roga spielt im Roman als symbolische Figur eine prominente Rolle. Sie taucht als Schreckensfigur in Nadas Erzählungen auf.74 Zugleich identifiziert die Enkelin auch ihre Großmutter als Hexe und Baba Roga, da diese mit ihrer besitzergreifenden Rabenliebe das Kind gleichermaßen beschützt wie auch bedroht.75 Als das der Großmutter zugeordnete Mittel der magischen Verführung fungiert im Roman die kroatische Sprache. Kroatische Wörter, Ausdrücke, Redewendungen und manchmal ganze Passagen werden ohne deutsche Übertragung in den Text einbezogen. Beim Lesen entsteht dadurch das Gefühl einer besonderen Bedeutung, Fremdheit und Hybridität. Das Kroatische ist eine Geheimsprache, die die Enkelin mit der Großmutter symbiotisch verbindet. Es hat die Funktion einer Auralisierung der Kindheitswelt und versinnbildlicht die stellenweise übernatürlich anmutenden, hexenhafte Anziehungskraft Nadas und ihrer Erinnerungen. Die im Text konsequent eingesetzte Parallelität der deutschen und kroatischen Sprache kann auch als Kritik am Kulturkonzept gedeutet werden, das von der historisch zugeschriebenen Hierarchisierung der Kulturen fundiert ist. Die Farbe des Gra71 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 79. 72 Ebd., S. 85. 73 Zu der ambivalenten Natur der Baba Jaga vgl. Schönbacher, Petra: Das Feuer der Baba-Jaga. Matriarchales Urwissen als Chance… oder die geheimen Botschaften in russischen Märchen. Krems an der Donau: Edition Roesner 2006. 74 Nada erzählt dem Kind, dass Baba Roga den Neugeborenen die Seele aussaugt und die Jungfrauen ins Meer zum Ertrinken verführt. Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 23. 75 Vgl. Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 233.
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natapfels erscheint somit als eine neue Literatur mitteleuropäischer Mischung, in der der als fremd geltende Osten samt seiner ›fremden‹ Gedächtnisnarrative in die Tradition des deutschen Kulturraumes (wieder) eingebunden wird. Jene wiedergefundene Vertrautheit markiert auch die bewusste Annäherung der Erzählerin an die »Muttersprache«, die sich als Folge des Balkankrieges und des Zerfalls Jugoslawiens vollzieht. Durch den Zustrom von Flüchtlingen aus dem postjugoslawischen Raum nach Österreich erlebt Anna eine »Gewissheit der Beheimatung in der Muttersprache«76 und entschließt sich für das Slawistikstudium. Damit durchbricht sie die dichotomische Sprachenordnung, in der Deutsch als Antithese des Kroatischen verstanden wurde. Beide Sprachen und die mit ihnen transportierten Gedächtnisinhalte werden als gleichwertig ausgestellt, was nicht zuletzt durch das Nebeneinander des Deutschen und Kroatischen auf der Narrationsebene des Romans konsequent umgesetzt wird. Eine komplementäre Figur, die symbolisch die Quintessenz der österreichischen Lebenswelt der Erzählerin bezeichnet, stellt der an mehreren Stellen intertextuell eingeschobene Erlkönig dar. Diese Figur wird durch die Travestie von Goethes naturmagischer Ballade und durch die vom Vater gespielte Klaviersonate (Franz Schuberts Vertonung der Ballade) in die Empfindungswelt des Kindes eingeführt. Anna, die Vaters Klaviermusik für ihre eigentliche Sprache hält, fühlt sich verführt von der »Todesmelancholie«77 und mitgerissen in die »Dunkelkammer der anderen Kinderseele, die des unrettbaren Kindes.«78 Das Faszinosum der lockenden, bezaubernden und tötenden Natur verschmilzt im Blick des Mädchens mit der slawischen Märchengestalt der Baba Roga in der Travestie des Gedichtes Erlkönig: Die Baba Roga pustet mich an! Das ist nichts, Anuschka! Es ist nur der Wind. Aber wer flüstert da? Horch doch, horch! Es ist nur das Rascheln der Blätter.79
Die Synthese des Erlkönigs mit der Baba Roga reflektiert ästhetisch die Zwischenräume des Unheimlichen zwischen Ost und West. Das Kind kann weder die unheimliche Wirkungsmacht des Erlkönigs noch die der Baba Roga begreifen. Es bleibt deshalb in einer Übergangszone zwischen beiden Kulturtraditionen mit den ihnen inhärenten Traumata haften. Die wohl letzte Stufe der emanzipativen Bewegung und Versöhnungsversuche der polarisierten und polarisierenden Gedächtnisnarrative vollzieht sich durch die Geburt von Annas Tochter. Die auf den jüdischen Namen Rahel getaufte 76 77 78 79
Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 221. Ebd., S. 52. Ebd., S. 125. Ebd., S. 136.
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Urenkelin Nadas erscheint als eine Hybride aus verfeindeten Familien- und Gedächtnistraditionen: Rahel ist »das blonde, blauäugige, das Mörderzünglein, dessen Namen sie [Nada – A. R.] so mag, weil er nicht vaterländisch klingt.«80 Die Urenkelin vereinigt in sich die verdrängte jüdische Familientradition, die im jüdischen Namen Rahel ausgedrückt wird und die im großmütterlichen Narrativ nicht überwundene Klassifizierung des Deutschen als Mördersprache samt dem darin involvierten Diskurs des nationalsozialistischen Erbes. Das neugeborene Kind – Vertreterin der vierten Generation – verkörpert eine Synthese der im Roman verhandelten Paradoxien, ohne sie allerdings als überwunden zu erklären. Rahel steht eher für das Hybride der Zukunft im Sinne einer Neuschöpfung und Umgestaltung von ost- und westeuropäischen Traditionen. Anna Baars Erzähltext kann deshalb als ein moderner, memorialer Entwicklungsroman gelesen werden. Seine Botschaft erschöpft sich nicht im Aufruf zur Überwindung der immer noch virulenten Gedächtnisdifferenzen. Baars Romandebüt versucht eher die Geltung der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft zu erarbeiten, indem er auf das notwendige Aushalten und Aushandeln von ambivalenten, memorialen Diskursen und auf den Vorgang der Verständigung, wo kein Verstehen möglich ist, verweist. Die Erinnerungshandlungen der dritten Generation werden in diesem Kontext als Prozesse der Hybridisierung und des andauernden Überquerens von Kultur- und Gedächtnisräumen kenntlich, ohne Aussicht auf Abschluss oder endgültige Lösung.
Literatur Ackermann, Irmgard: Die Osterweiterung der deutschsprachigen »Migrantenliteratur« vor und nach der Wende. In: Bürger-Koftis, Michaela (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens Verlag 2009. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2006. Baar, Anna/Hein, Christoph: ORF2 les.art 14. 03. 2016. URL: https://www.youtube.com/wa tch?reload=9&v=xnnsYsLPBvk / letzter Zugriff am 21. Mai 2020. Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels. Göttingen: Wallenstein 2015. Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman »Selim und die Gabe der Rede«. In: Blioumi, Aglaia (Hg.): Migration und Interkulturalitäten in neueren literarischen Texten. München: Iuditium 2002, S. 28–41. Bürger-Koftis, Michaela (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens Verlag 2009.
80 Baar, Anna: Die Farbe des Granatapfels, S. 307.
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Małgorzata Dubrowska (Lublin)
Zwischen Eingrenzung und Transnationalität. Dmitrij Kapitelmans Eine Formalie in Kiew und Lena Goreliks Wer wir sind
Die aktuellen Romane Eine Formalie in Kiew Dmitrij Kapitelmans (2021) und Wer wir sind Lena Goreliks (2021) beschäftigen sich mit dem Problem der Identität im Zwiespalt zwischen Fremdsein und Dazugehören, Ausgrenzung und Ankommen, Eigensinn und Empathie, Mehrsprachigkeit und (Ver)schweigen. Beide Stimmen schreiben sich in den postmigrantischen Diskurs ein, in dem die von Max Czollek postulierte desintegrative Praxis1 sowie die »Prozesse von Entortung und Neuverortung, Mehrdeutigkeit und Grenzbiographien ins Blickfeld [rücken].«2 Kapitelmans und Goreliks Erzählerfiguren absolvieren einen langwierigen Prozess: Der Weg zu sich selbst führt von der Ein/Ausgrenzung zum Transnationalen. Die transnationale Perspektive, in der das Postulat der Selbstbestimmung3 und Selbstermächtigung4 angestrebt wird, ist bestimmend für die Narrative der zu untersuchenden Romane. Im Folgenden wird versucht, den Schreib- und Lebensentwürfen der beiden Ich-Erzähler_instimmen nachzugehen.
1 Max Czollek schlägt mit dem Konzept der Desintegration der deutschen Jüdinnen und Juden sowie der Postmigrant_innen ein Gesellschaftsmodell vor, in dem die Kategorien der Integration, Leitkultur und der ethnischen Homogenität – als »neovölkische Vorstellungen« – durch das Paradigma der Desintegration und radikalen Vielfalt abgelöst werden. Vgl. Czollek, Max: Desintegriert euch! München: Hanser 2018, S. 15, 72. 2 Yildiz, Erol: Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit. In: Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: Transcript 2014, S. 19–36, hier S. 21. 3 Czollek, Max: Gegenwartsbewältigung. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein 2019, S. 167–181, hier S. 181. 4 Czollek, Max: Desintegriert euch! München: Hanser 2018, S. 133.
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Eine Formalie in Kiew Mit dem autofiktionalen Roman Eine Formalie in Kiew schreibt der Autor an der Geschichte (s)einer ukrainisch-jüdischen Familie fort. In dem Debütroman Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016), der in Deutschland und Israel spielt, sind die Vaterfigur sowie die Frage nach der jüdischen Identität zentral. Der Handlungsort des zweiten Buches ist Kiew, die Heimatstadt Dimitrij Kapitelmans, die der Ich-Erzähler Dima im Jahr 2019 besucht, weil er ukrainische Urkunden braucht, um deutscher Staatsbürger werden zu können. Der Ich-Erzähler – 1986 geboren – ist der Altersgenosse und das Alter Ego des Autors: Dima kommt 1994, im Alter von acht Jahren, mit seiner Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Nach 25 Jahren fliegt der Ich-Erzähler in die Ukraine. Der Flug nach Kiew führt aber zu keiner Verklärungsreise in die Welt der Kindheit, bewegt den Erzähler vielmehr zur Reflexion über die Gegenwart, auch wenn Episoden aus der Vergangenheit wie Schnappschüsse in die Gedankenrede des Protagonisten eingeflochten werden. Die Geschichte, die etliche komische Episoden, aber auch viele dramatische Elemente enthält, wird von Dima im autoironischen Ton erzählt. Die Handlung kulminiert in der Krankheit des Vaters, der einen Schlaganfall erleidet und von der Ehefrau nach Kiew zur Behandlung geschickt wird. Da sich der Ich-Erzähler des kranken Vaters annehmen muss, wird der bereits geplante Rückflug nach Leipzig verschoben. Zu Beginn der Handlung befindet sich der Ich-Erzähler am Scheidewege: Da er wegen Mutters unkontrollierter Katzen-Manie und Vaters Passivität mit seinen Eltern in Konflikt gerät, d. h. den direkten und telefonischen Kontakt abgebrochen hat, zeigt er sich entschlossen, eine, wie er vorgibt, aus Faulheit unterlassene Tat zu vollbringen und die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Der Ich-Erzähler gesteht, die NS-Vergangenheit Deutschlands sowie der aggressive Rechtsradikalismus der Leipziger Nachbarn dienten ihm als Vorwand, keinen Antrag zu stellen. Als wahren Grund nennt er die Solidaritätsbekundung mit seinen Eltern: »Vielleicht wollte ich allein deshalb all die Jahre lang niemals Deutscher werden. Um meinen Eltern zu beweisen, dass ich ganz und gar zu ihnen gehöre.«5 Mit dem Entschluss, den deutschen Pass zu beantragen, rebelliert der Ich-Erzähler gegen seine Eltern, die ihn (u. a. wegen seiner perfekten Deutschkenntnisse) ohnehin einen Deutschen nennen. Die Figur fühlt sich doppelt entfremdet und ausgegrenzt, als Familienmitglied und Migrant. Er sagt: »Migration hört eigentlich nie auf, auch fünfundfünfzig Jahre später wandere ich noch immer nach Deutschland ein – allein, ohne meine Eltern.«6 Das »zweite
5 Kapitelman, Dimitrij: Eine Formalie in Kiew. Berlin: Hanser 2021, S. 23. 6 Ebd., S. 25.
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Staatsfamilienleben«7, wie Dima die Auswanderung nach Deutschland aus der Distanz bezeichnet, bedeutete für den Heranwachsenden vor allem das Gefühl der Exklusion und Einsamkeit. Da sich die Eltern »in der Dystopie vom Leben für die Arbeit«8 verloren hatten, war er in der Schule und im Alltag auf sich selbst gestellt. »Bei den Deutschhausaufgaben konnten sie mir nicht helfen und bei den Nazis auch nicht.«9 Hinzu kommt, dass die ausreisewilligen Eltern, die die unbekümmerte Kiewer Kindheit Dimas gegen »[d]as Schreckgespenst vom faulen Einwanderer […]«10 auszuspielen versuchten, in Deutschland die Ukraine zu glorifizieren begannen. Im Gespräch mit dem Jungen nennt die Mutter ihre neue Heimat »dein stinkendes Leipzig«11, als wäre der Sohn für die Emigration verantwortlich gewesen. Für die Eltern hat die Emigration verheerende Folgen, bringt Depression, Ratlosigkeit und das Gefühl der Entwurzelung mit sich. Da die von der Krankheit der Tochter überforderte Mutter und der von finanziellen Misserfolgen gezeichnete Vater dem Erzähler fremd geworden sind, hält er Distanz. Sie manifestiert sich im Roman an etlichen Wortneuschöpfungen, derer sich der Ich-Erzähler bedient, um auf Veränderungen hinzuweisen, die im Eltern-Sohn-Verhältnis eingetreten sind. Den passiv gewordenen Vater, der – in sich versunken und schweigsam – das Gegenbild des in der ehemaligen Sowjetunion beruflich erfolgreichen Mathematikers ist, nennt Dima einen »VatiShabbati.«12 Mit dieser bitterironischen Bezeichnung knüpft er auf das Stereotyp eines belesenen, aber lebensuntauglichen orthodoxen Juden an, der seiner Familie keinen Unterhalt sichern kann, für den die Ehefrau aufkommen muss. In dem Porträt von Erzählers Mutter zeichnen sich ebenfalls Veränderungen an: Sie wird als eine starke, aber durch Schicksalsschläge verunsicherte und abgehärtete Figur dargestellt, die die Zärtlichkeit ihren Nächsten gegenüber einzubüßen scheint. Diesen Wandel im Charakter markiert der Ich-Erzähler, indem er zwei unterschiedliche Bezeichnungen für seine Mutter anführt: »Damals-Mama in Kiew war die Liebe selbst. Heute-Mutter ist ein anderer Mensch […].«13 Zwischen Eltern und Sohn entsteht, wie der Ich-Erzähler schreibt, eine Grenzmauer des Schweigens. Von dieser Grenzziehung im privaten Raum erhofft er sich eine Möglichkeit der Selbstfindung, zumal er – in der retrospektiven Schilderung der ersten Jahre in Leipzig – sich an seine Desillusionierung und die damals gewonnene Erkenntnis erinnert, dass ein Aufbruch mit dem Ankommen
7 8 9 10 11 12 13
Ebd., S. 17. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 12. Ebd.
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nicht identisch sei.14 Der Prozess, sich die »deutsche« Fremde anzueignen, ist nicht abgeschlossen. Zum anderen aber gehört dieses Gefühl – paradoxerweise – zu einer den Erzähler beruhigenden Gewissheit, bildet einen der wichtigsten Grundsätze seines Lebens. Er sagt: »Sicher, es gibt Momente der Fremdheit. Aber die Fremdheit in Deutschland ist die heimischste Fremdheit, die ich hatte.«15 Sein »erstes Staatsfamilienleben« verbindet er nicht mehr mit Geborgenheit, sondern mit Entwurzelung: Die Ukraine sieht er mit dem fremden Blick, betrachtet die alte Heimat von außen: Kiew bringt mit sich nicht nur die Begegnung mit dem kriegsversehrten Land, sondern auch ein sich des Erzählers bemächtigendes Gefühl der Fremdheit und des Dazwischens: Dima sagt: »Je vertrauter etwas in dieser Stadt scheint, desto fremder wird es zugleich, weil die Vertrautheit eine gebrochene ist.«16 Der Aufenthalt in Kiew ist eine »Zeitreise durch den Stillstand«17, mit der »eine verlorene Heimeligkeit«18 und die Vorliebe für Birken19 verbunden sind. »Der Basar schläft, das Viertel schläft, nur die Birken nicht.«20 Mit dem intertextuellen Verweis auf verpasste Birkenbewegungen nimmt Kapitelman Bezug auf Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012), der zum einem das Stereotyp von sentimentalem Osteuropäer zu bestätigen scheint, zum anderen aber auf die unterschwellig-ephemere Verbundenheit mit der Stadt der Kindheit hinweist. Der Ich-Erzähler gibt zu, »Heidenangst«21 vor Kiew zu haben, zumal er Sowjetrussisch spricht und des Ukrainischen nicht mächtig ist. Die Verunsicherung wird im Ukraine-Narrativ durch etliche russische Ausdrücke, vor allem aber durch eine ironische Brechung subvertiert, stilistisch auch mit Neologismen (»eingevorurteilt«) und Alliteration (»korrekt korrupt«) unterlaufen. In ironischer Selbstdefinition zeigt sich der Ich-Erzähler als perfekter Kandidat für einen deutschen Bürger und sagt: »Berufstätig, steuerpünktlich, verfassungspatriotisch. Nicht zu vergessen hellhäutig, das bürgert hierzulande besonders verlässlich ein.«22 Er fügt hinzu, er werde in Deutschland »geheim« für einen Deutschen gehalten, zumal er nicht nur des Hochdeutschen mächtig ist, sondern auch »spiegelsächseln«23 kann. In dem bitteren Humor Dimas schwingt 14 15 16 17 18 19 20
Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 49. Ebd., S. 38. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. In Lena Goreliks Wer wir sind bezieht sich die Ich-Erzählerin ebenfalls auf ihre Vorliebe für die Birken, die, wie sie schreibt, auf das von der deutschen Dominanzkultur entworfene klischeehafte Bild eines sentimentalen Russen zutreffen würde. Es heißt im Roman: »Wie ungern ich diese Liebe zugebe, die zu den Birken. Als wäre ich damit ein deutsches Klischee.« Gorelik, Lena: Wer wir sind. Roman. Berlin: Rowohlt 2021, S. 136. 21 Kapitelman, Dmitrij: Eine Formalie in Kiew, S. 77. 22 Ebd., S. 8. 23 Ebd., S. 11.
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aber der ernste Ton mit: Der deutsche Pass bedeutet für den Protagonisten nicht nur das Wahlrecht, sondern auch die Freizügigkeit, auch bei der Entscheidung, Deutschland zu verlassen. In der von der Mehrheitsgesellschaft aufgestellten Hierarchie der Migranten ist er, wie Grjasnowa schreibt, »ein guter Migrant«, erst am Namen erkennbar24, der aber – wegen seines ukrainischen Ausweises – im Alltag der Diskriminierung und Herabsetzung begegnet. Im sächsischen Dialekt, also in der scheinbar freundlich gemeinten Geste der Leipziger Beamtin, die Dimas Einbürgerungseintrag bearbeitet, wird ihm die Erfahrung der Fremdzuschreibung und Abgrenzung zuteil. Sie sagt zu ihm, ohne den situativen Kontext zu berücksichtigen: »›Un jetzt noch der Köhmikar bei euch als Präsidend …‹«25 In der alten Heimat angekommen, reagiert der Ich-Erzähler mit Widerwillen gegen die gesetzliche Abhängigkeit von der Ukraine. Überdies fühlt er sich in Kiew fehl am Platz, fürchtet, »[…] in einem Netz von Unwissen wie eine Fehlerfliege«26 zu kleben. Trotz des Entwurzelungsgefühls wird er aber für seine Eltern zum Kiewer »Schutzdeutschen«27, der den Vater in die Behandlung bringt und sich um die verunsicherte Mutter kümmert. Dima findet zu sich selbst und zu seinen Eltern – paradoxerweise – in der Ukraine, von der er entbunden zu sein hofft. Die Geschichte beginnt und endet an einem Nicht-Ort28, dem Leipziger Flughafen. Der Transitraum wird dem Vater zum Verhängnis: Er bricht zusammen in der Warteschlange, die wegen der Unfreundlichkeit der Beamten entstanden ist. Im Epilog plädiert der Ich-Erzähler, ein Deutscher moldawischukrainisch-jüdischer Herkunft, der auf die ukrainische Ausbürgerung wartet, für die transnationale Perspektive, setzt sich für Vielfalt und Offenheit ein. In der letzten Passage appelliert er an die Leser: »Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. Wollen wir wirklich an etwas so Gleichgültigem zu Grunde gehen, liebe Landsleute?«29
24 Grjasnowa schreibt dazu: »[…] ich bin weiß, durchschnittlich in jeder Hinsicht, an meine Migration erinnert nur noch mein Name.« Grjasnowa, Olga: Privilegien. In: Aydemir, Fatma/ Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein 2019, S. 130–139, hier S. 130. 25 Kapitelman, Dmitrij: Eine Formalie in Kiew, S. 14. 26 Ebd., S. 116. 27 Ebd., S. 168. 28 Augé, Marc: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München: C.H. Beck 2019, S. 83. 29 Kapitelman, Dmitrij: Eine Formalie in Kiew, S. 176.
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Wer wir sind Bereits im Titel des autofiktionalen Romans Lena Goreliks manifestiert sich das zentrale Thema des schonungslos verfassten Familienporträts: Wer wir sind erzählt die Geschichte einer jüdisch-russischen Familie, die 1992 die sowjetische Metropole Leningrad verlässt und in einer deutschen Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart mit dem Status der »Kontingentflüchtlinge« ihr Emigrantenschicksal zu bewältigen versucht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Figur der IchErzählerin Lena Gorelik, die auf ihren Lebensweg mit rückhaltloser Ehrlichkeit blickt. Die Identitätsfrage, die für die Ich-Erzählerin, das Alter Ego der Autorin, zur absoluten Referenz wird, rückt in den Vordergrund der Familiensaga. Der lange Weg von der Ausgrenzung zur Selbstbestimmung wird im Roman als Zeichen der Selbstfindung und Selbstermächtigung verhandelt. Die Erzählerin hebt an mehreren Stellen des Textes ihre Souveränität als Erzählerin und Frau hervor: Sie verfügt über ihren Stoff und erzählt die Geschichte aus der IchPerspektive, obwohl sie, wie sie schreibt, nicht dazu erzogen wurde, »ich« sagen zu dürfen und es erst in der deutschen Sprache gelernt habe.30 Dabei verweist sie auf den autoritär-konservativen Erziehungsstil ihres Leningrader Zuhauses, der mit der oppressiven Form des sowjetischen Schulsystems einherging. In der Eingangspassage heißt es dazu:«›Я – последняя яуква в алфавите‹ Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet. Das hat dann jedes ich will/ich mag/ich muss/ ichichich/mit einer Faust erschlagen.[…] Ich will aber: diese Geschichte erzählen. Ich wünsche, dass diese Geschichte mir gehört.«31 Die Eingrenzungen, die im Roman thematisiert werden, betreffen den Schreibprozess, die Sprache des Textes sowie die Hauptfigur selbst. Die Ich-Erzählerin, die mit schonungsloser Offenheit ihr eigenes Schicksal preisgibt, geht behutsam mit der Familiengeschichte um, lässt zwischen den Zeilen Platz, »[f]ür alles, was wir beschweigen, für den Respekt. Für alles was uns zusammenhält.«32 Sie hat Angst, ihre Familienangehörigen, vor allem die Eltern, zu verletzen. Dafür schildert sie diverse Episoden aus ihrem eigenen Leben, in denen sie von der glücklichen Kindheit in Leningrad und von dem Trauma der ersten Jahre in Deutschland berichtet. Einen alten Arzneischrank aus England, den sie in Amsterdam gekauft hat und in dem sie Artefakte des kulturellen Gedächtnisses aufbewahrt, nennt sie »[e]in[en] Altar, der [ihr] Leben erzählt.«33 Sie schreibt: »Die meisten [Gegenstände] habe ich aus meiner Kindheit mitgebracht. Als sei danach nichts mehr viel passiert. Alles, was später kommt, ist ein Danach, ein 30 31 32 33
Vgl. Gorelik, Lena: Wer wir sind. Roman. Berlin: Rowohlt 2021, S. 86. Ebd., S. 9. Ebd., S. 78. Ebd., S. 26.
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Daraus.«34 Somit deutet sie an, dass ihr Leben in Deutschland kein Kontinuum ist. Es bedeutet nicht nur einen räumlichen, sondern auch einen zeitlichen Bruch. Die Erzählerin, die mit den Eltern Russisch spricht und ihre Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, auf Russisch tröstet, schreibt ihre Geschichte auf Deutsch, »[…] in der Sprache, die [ihr] am besten gehorcht.«35 Im Schreibprozess ordnet und sortiert sie treffende Worte, ist sich aber eigener Begrenzungen bewusst. Da ihre Welt, wie sie schreibt, aus Buchstaben besteht36, hört sie nicht damit auf, deutsche Wörter zu notieren, die sie sich merken will.37 In der Metaebene des Textes thematisiert sie die Eingrenzungen ihrer Zweisprachigkeit. Die Ich-Erzählerin gibt zu, dass sie an manchen thematischen Bereichen, z. B. an den Bezeichnungen der Pflanzenwelt scheitert. Sie zitiert russische Redewendungen, die keine Entsprechung im Deutschen haben und führt viele Wörter aus ihrer Muttersprache im kyrillischen Alphabet an, die sie für die deutschen Leser ins Deutsche übersetzt. Darüber hinaus hebt sie im Roman etliche Sprachunterschiede zwischen dem Russischen und Deutschen hervor, weist auf Übersetzungsschwierigkeiten und fehlende Äquivalente hin. Da die von ihr erzählte Historie nicht nur das intime Porträt der Ich-Erzählerin Lena Goreliks, sondern ein fester Bestandteil des Familiengedächtnisses ist, das vornehmlich im kommunikativen Gedächtnis der Zeitzeugen aber auch im kulturellen Depot, in Fotographien, Erinnerungstücken und Briefen präsent bleibt, wird die Ich-Erzählerin zur Depositärin und Übersetzerin dieser Geschichten. Sie weiß, dass die Übersetzung auch eine Begrenzung bedeutet, weil etliche Details und Stimmungen unübersetzbar sind und Vieles zwischen den Sprachen und Wörtern, als eine nicht zu schließende Lücke, unausgesprochen, existiert. Sie schreibt: Für mich sind die Geschichten übriggeblieben. Sie werden auf Russisch erzählt, da fehlt jeglicher jiddischer Akzent und ich bin es, die die Geschichte in deutsche Sätze kleide. Ich weiß nicht, wie viel zwischen den Sprachen verloren geht, wie viele zarte Andeutungen ich übermale, wie viele Fragen hindurchrieseln zwischen den lateinischen Buchstaben.38
Die Erzählerin nimmt es hin und weiß es zu schätzen: Der Roman ist eine Liebeserklärung an ein Leben zwischen den Sprachen. »Ich muss diese Leerstelle zwischen den Sprachen lieben.«39 Zugleich ist die für den Roman charakteristische Polyglossie ein Zeichen des transnationalen Narrativs, dessen sich die IchErzählerin bedient. Die Geschichte der Hauptfigur, die als Postmigrantin, Frau, 34 35 36 37 38 39
Ebd. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 242. Vgl. ebd., S. 243. Ebd., S. 289. Ebd., S. 139.
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Autorin, Jüdin, Tochter und Mutter zu sich findet, wird zum transnationalen Lebensentwurf, der im Roman als ein langer Prozess dargestellt wird, der von der Ausgrenzung zur Selbstermächtigung führt. Im Rückblick auf die ersten Jahre in Deutschland, die sie und ihre Familie hinter dem Stacheldrahtzaun, in einer Baracke des Asylantenwohnheims, verbrachten, dominiert die Erinnerung an die Erfahrung des Fremdseins und an die Scham des Nichtdazugehörens: »Zu Hause ist, wo wir nicht mehr sind. Ich erzähle nicht vom Wohnheim.«40 Als die Ich-Erzählerin das Wohnheim-Gelände als erwachsene Frau besucht, begegnet sie in der Küche einem schwarzem Mann, dessen Schicksal ihr mythisch41 anmutet. Es heißt dazu: »[…] er könne seit damals hier stehen, ich nicke ihm zu, ich bin damals […].«42 In der retrospektiven Schilderung der Emigrationserfahrung geht das omnipräsente Gefühl der Exklusion mit der Perspektive des Andersseins einher. Die Ich-Erzählerin, eine Musterschülerin und Migrantin, von den Altersgenossen mit der Bezeichnung »Streberin« abgestempelt, führt es dem Leser drastisch vor Augen, indem sie es mit der eigenen Unsicherheit und dem Minderwertigkeitskomplex in Verbindung bringt: »[…] bin anders, bin nichts.«43 Aus der Erinnerung ruft sie das Bild einer unmodisch gekleideten Heranwachsenden auf, das für die pubertierende Protagonistin mit dem Alteritätsgefühl identisch ist. Es heißt im Roman dazu: »Das Anderssein ist beige, ist hässlich, ist ich.«44 Darüber hinaus erinnert sich die Ich-Erzählerin an den hegemonialen Anspruch der Mehrheitsgesellschaft, die sie als Jüdin und Russin kolonisieren möchte: Als Vorzeige-Jüdin wird sie in der Schule nach dem Nahostkonflikt gefragt und über die Perestroika aufgeklärt: »Ich lerne über mich, über das, woher ich komme.«45 Die Ich-Erzählerin, eine erfolgreiche Autorin, die während einer Lesung mit dem Spruch »Sie müssen sich schon überlegen, was sie in unserer Sprache schreiben […]«46 konfrontiert wird, lässt sich aber weder die deutsche Sprache noch ihre Art, zu leben, wegnehmen: Sie ist geschieden, lebt in einer Patchwork-Familie mit ihrer Freundin, von der sie in subtilen Andeutungen berichtet, besucht Petersburg, Israel und die USA und schämt sich für ihre Scham, die sie als Heran40 Ebd., S. 152. 41 Nach Franz Fühmann bildet der Mythos ein Modell, in dem der Mensch mit seiner widersprüchlichen Existenz aufgehoben werden kann. Der Dichter sieht in dem Mythos eine Kategorie, die es »[…] möglich [macht], die individuelle Erfahrung, mit der man ja wiederum allein wäre, an Modellen von Menschheitserfahrungen zu messen.« Vgl. Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur. In. Ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock: Hinstorff, 1986, S. 82–140, hier S. 91. 42 Gorelik, Lena: Wer wir sind, S. 267. 43 Ebd., S. 218. 44 Ebd., S. 159. 45 Ebd., S. 188. 46 Ebd., S. 252.
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wachsende wegen des Emigrantenstatus ihrer Eltern empfunden hatte. In der Widmung bedankt sich die Autorin bei den Eltern auf Russisch »für absolut alles.« Goreliks Ich-Erzählerin findet zu sich selbst, indem sie sich jedem ihr oktroyierten Lebensentwurf verweigert und nach ihrer Art zu leben versucht.
Schlussgedanken Die transnationale Perspektive manifestiert sich bei Kapitelman und Gorelik nicht nur in der Polyglossie der beiden Romane. Das Narrativ des AnkommenWollens bedeutet keineswegs die Abwendung von dem Herkunftsland, es ist vielmehr ein Plädoyer für Souveränität, Toleranz und Desintegration, d. h. das Recht auf Selbstbestimmung und Vielfalt. Das Transnationale ist ebenfalls an etlichen Brüchen der beiden Geschichten sowie der Brüchigkeit der beiden Identitätskonstruktionen erkennbar. Sie manifestiert sich, um mit Eva Hausbacher zu sprechen, in »[den] (inner)literarischen Kennzeichen [der] poetics of displacement«47, einer Ästhetik des Fragmentarischen, den Figurationen der Marginalität und Doppeldeutigkeit48 sowie dem Modell der kulturellen Hybridität49 und der Grenz- und Zwischenräume (the third space).50
Literatur Augé, Marc: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München: C.H. Beck 2019. Czollek, Max: Desintegriert euch! München: Hanser 2018. Czollek, Max: Gegenwartsbewältigung. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein 2019, S. 167–181. Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur. In: Ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock: Hinstorff, 1986, S. 82–140. Gorelik, Lena: Wer wir sind. Roman. Berlin: Rowohlt 2021. Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman. München: Carl Hanser 2012. Grjasnowa, Olga: Privilegien. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein 2019, S. 130–139.
47 Hausbacher, Eva: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg 2009, S. 136. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd., S. 132. 50 Vgl. ebd., S. 139. Die Autorin nimmt vornehmlich das ästhetische Potenzial der behandelten Literatur ins Visier, weist ebenfalls auf thematisch-kontextuelle Paradigmen hin, etwa die Brüchigkeit der Identitätskonstruktionen oder den Topos der Ortslosigkeit.
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Hausbacher, Eva: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg 2009. Kapitelman, Dimitrij: Eine Formalie in Kiew. Berlin: Hanser 2021. Kapitelman, Dimitrij: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. Berlin: Hanser 2016. Yildiz, Erol: Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit. In: Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: Transcript 2014, S. 19–36.
Poetische Verhandlungen geschlechtsbedingter, ideologischer und territorialer Grenzziehungen
Nina Nowara-Matusik (Katowice)
»ein Bote von dort […], der mich wieder lebhaft in die alten Fesseln zieht.« Zur Frage der Begrenzungen im Roman Amanda und Eduard (1803) von Sophie Mereau-Brentano
Die Kategorie der Begrenzung auf die deutsche Literatur von Frauen um 1800 zu applizieren, scheint naheliegend und gerechtfertigt zu sein, zumal sich gerade die weibliche Literaturproduktion als eine immerzu zwischen fremdbestimmten, geschlechts-, klassen-, kultur- und epochenbedingten Grenzziehungen und selbstbestimmten Ausbruchsversuchen oszillierende lesen lässt, zumindest jene, die am Anfang einer Literaturgeschichte des weiblichen Schreibens steht und gerade in der klassisch-romantischen Zeit aus dem Schatten des Mannes herauszutreten bemüht ist. Dies ist in der feministischen Literaturforschung ausreichend nachgewiesen worden, man denke hier etwa an die Metapher des schielenden Blicks von Sigrid Weigel, mit welcher die Forscherin bereits in den 1980er Jahren ein grundsätzliches Dilemma der Literatur von Frauen zum Ausdruck brachte: Die schreibende Frau bewege sich nämlich einerseits innerhalb einer durch den Mann erschaffenen, also nicht ihrer, Ordnung, andererseits versuche sie, diese zu überschreiten. Um sich selbst auszudrücken, ist sie so, paradox, auf eine Selbsteingrenzung angewiesen.1 Diesem Interpretationsansatz sind viele feministisch orientierte Arbeiten verpflichtet, um hier etwa auf Ewa Jurczyks Habilitationsschrift hinzuweisen, welche einen überzeugenden Nachweis liefert, dass sich die als trivial abgestempelten Dramenautorinnen des 17. Jahrhunderts einer populären Form des Dramas bedienten, um an der bestehenden, die Frau begrenzenden Ordnung zu rütteln, auch wenn sie dies in Fesseln tun mussten.2 Den Vorwurf des Kitsches oder einer minderwertigen Unterhaltungsliteratur erhob man in Bezug auch auf andere schreibende Frauen, zumal der Maßstab, an dem ihre Werke meist gemessen wurden, immer an einem männlichen Wer1 Vgl. Weigel, Sigrid: Der schielende Blick: Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Stephan, Inge/Weigel, Sigrid (Hg.): Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin: Argument-Verlag 1983, S. 83–137. 2 Vgl. Jurczyk, Ewa: Die Frau auf der Suche nach der neuen Identität. Zur Frauenfigur im dramatischen Schaffen von Johanna Franul von Weissenthurn und Charlotte Birch-Pfeiffer. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2005.
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tekanon orientiert war, was Barbara Becker-Cantarino in ihrem grundlegenden Aufsatz Geschlecht und Kanonbildung am Beispiel der »Autorinnen der Romantik« überzeugend herausgestellt hat.3 Der Fall Sophie Tieck-Bernhardi, einer »Trivialautorin«, die lange Zeit im Schatten ihres Bruders Ludwig Tieck, des »Königs der Romantik«4, stand, mag hierfür Pate stehen. Die Begrenzungen, auf die schreibende Frauen in der Literaturgeschichte stießen und immer noch stoßen, waren selbstverständlich nicht bloß genuin literaturästhetischer Art, sondern lassen sich vor allem sozial- und mentalitätsgeschichtlich erklären und erforschen, was eine Allianz der Literaturwissenschaft mit verwandten Disziplinen der Humanwissenschaften, wie etwa der Kulturwissenschaft oder Mentalitätsforschung, geradezu herausfordert. Meines Erachtens kann es sich aber ebenso fruchtbar zeigen, den Begriff der Begrenzung nicht im Sinne einer umfassenden, disziplinübergreifenden Analysekategorie, sondern als eine textanalytische Kategorie zu verwenden. Dies soll am Beispiel des Werkes Amanda und Eduard erprobt werden, eines 1803 publizierten Briefromans von Sophie Mereau-Brentano, einer schreibenden Frau, die sich einerseits in die Literaturgeschichte als eine »Dilettantin« eingeschrieben hat (so die bekannte Formulierung Friedrich Schillers, in dessen »Horen« der Roman zunächst anonym abgedruckt wurde), andererseits aber eine der ersten Berufsschriftstellerinnen war, die ihre eigene Zeitschrift herausgab, fremdsprachige Literatur übersetzte und erfolgreich mit Verlegern verhandelte.5 Solch ein Forschungsvorhaben scheint mir umso interessanter zu sein, als der Briefroman Amanda und Eduard bisher meist im Zeichen einer umfassenden Kategorie der Entgrenzung gelesen wurde, was daraus resultiert, dass darin eine jegliche gesellschaftlichen Tabus überschreitende Liebe zum Vorschein kommt, welche von der Forschung häufig als das Hauptthema des Romans anvisiert wird.6 Hingewiesen wird in diesem Interpretationskontext ganz konkret auf weibliche Entgrenzungsphantasien, die sich einerseits in eine Ästhetik der romantischen Entgrenzung überhaupt einschreiben lassen, andererseits ganz konkret das sinn3 Becker-Cantarino, Barbara: Geschlecht und Kanonbildung am Beispiel der »Autorinnen der Romantik«. In: Caemmerer, Christiane/Delabar, Walter/Schulz, Marion (Hg.): Autorinnen in der Literaturgeschichte. Konsequenzen der Frauenforschung für die Literaturgeschichtsschreibung und Literaturdokumentation. Kongressbericht der 2. Bremer Tagung zu Fragen der literaturwissenschaftlichen Lexikographie, 30.9 bis 2. 10. 1998 in Bremen. Zeller Verlag: Osnabrück 1999, S. 11–28. 4 Günzel, Klaus: König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten. Verlag der Nation: Berlin 1981. 5 Für eine grundlegende, epochenorientierte Beschäftigung mit Mereaus Leben und Werk siehe vor allem: Bürger, Christa: Leben schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Metzler: Stuttgart 1990. 6 Siehe hierzu etwa Kremer, Detlef/Kilcher, Andreas B.: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Springer-Verlag: Stuttgart 2015, wo der Titel des Romans konsequent falsch angeführt wird (als Eduard und Amanda, sic!).
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liche Begehren einer Frau artikulieren,7 was eine deutliche Transgression der epochentypischen Weiblichkeitsvorstellungen und Geschlechterrollen markieren soll, die sich wohl am besten mit dem Stichwort »schöne Seele« veranschaulichen lassen. Mereaus Roman wird daher sehr gerne als ein (autobiographischer) Liebesroman etikettiert,8 wobei andere Lesarten eher selten, wenn überhaupt, wahrgenommen werden. Katharina von Hammerstein, die Autorin einer ersten umfassenden Monographie zu Mereaus Gesamtwerk und Herausgeberin ihrer Schriften, stellt hierfür resümierend fest: Das Hauptthema in Sophie Mereaus Werken und Leben ist neben der Sehnsucht nach Freiheit ohne Zweifel Hoffnung auf Erfüllung in der Liebe, die sie nicht nur als Gefühl zwischen Liebenden und Geliebten versteht, sondern ähnlich den Romantikern schlechthin zur Religion erhebt, zum Medium, das dem Menschen Einblick in die Natur- und Seinszusammenhänge gewährt.9
Neben diesen offensichtlichen und dominierenden Narrativen sind aber in Mereaus Roman auch sehr wohl solche Passagen zu finden, die Eingrenzungen explizit thematisieren oder sie eher in latenten Zusammenhängen durchschimmern lassen. Aus dieser Perspektive heraus soll nun dem Roman nachgegangen werden, wobei die Kategorie der Begrenzung vor allem auf den Liebesdiskurs verwendet werden soll; aus Platzgründen lasse ich hier andere Aspekte aus, wie etwa die Gattungsfrage, und will nur andeuten, dass der Roman nicht nur als Liebesroman, sondern auch sehr wohl als ein versteckter Künstler(in)roman gelesen werden kann, in dem Begrenzungen thematisiert werden, denen ein weibliches Ich ausgesetzt wird, das sich einem schöpferischen Genie ähnlich gebärt, wie es allen voran von Stürmern und Drängern konzeptualisiert und poetisch umgesetzt wurde. Da Mereaus Lieblingslektüre Wilhelm Meister war, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass ihr Briefroman sich zwar nicht als ein offensichtliches Pendant zu Goethes Werk lesen lässt, immerhin aber eine interessante Auseinandersetzung mit den Begriffen der (ausgebliebenen) ästhetischen Bildung und des Genies bzw. Naturgenies darstellt.10 7 Vgl. Treder, Uta: Sophie Mereau: Montage und Demontage einer Liebe. In: Gallas, Helga/ Heuser, Magdalene (Hg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Max Niemeyer Verlag: Tübingen 1990, S. 172–183. 8 Vgl. etwa: Treder, Uta: Sophie Mereau. 9 Hammerstein, Katharina von: Sophie Mereau-Brentano: Freiheit – Liebe – Weiblichkeit. Trikolore sozialer und individueller Selbstbestimmung um 1800. Winter Verlag: Heidelberg 1994, S. 213. 10 Übrigens scheinen mir das Liebesnarrativ und das Künstlerinnarrativ des Romans in einem interessanten Wechselverhältnis zu stehen, wobei ich sogar die These wagen würde, dass Amandas verhindertes bzw. begrenztes Künstlertum gerade aus der Übermacht des Liebesdiskurses resultiert, dem sie sich als eine Frau ihrer Zeit fügen muss. Nebenbei sei angemerkt, dass der Liebesdiskurs des Romans von einer die Liebe fast unerträglich hyperbolisierenden Rhetorik getragen wird, die sich selbst als ein Kunstgriff demonstrativ zur Schau stellt und
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Amanda und Eduard ist ein Briefroman, in dem die Liebesgeschichte der beiden Titelfiguren grundsätzlich aus ihrer Perspektive nacherzählt wird, wodurch ein hoher Grad an extremer Subjektivität erreicht wird. Erst am Ende des Romans meldet sich ein fiktiver Herausgeber zu Wort, der sich direkt an den Leser wendet, um die Publikation der von ihm angeblich entdeckten Briefe zu rechtfertigen.11 Auf der thematischen Ebene zeigt sich jene Liebesgeschichte als äußerst konventionell: Dem Rat ihres sterbenden und verarmten Vaters folgend heiratet Amanda, eine junge und schöne Frau, den viel älteren, dafür aber wohlhabenden Albret. Wie vorauszusehen ist, ist sie in der Ehe unglücklich, zumal der Mann ein Geheimnis hütet und sich im Umgang mit ihr meistens abweisend und schroff zeigt. Als sie daher eines Tages den schönen Sänger Eduard kennenlernt, findet sie Gefallen an ihm, zumal sie sich mit ihm ebenfalls geistig verschwistert fühlt. Auch Eduard fühlt sich von ihr angezogen, sodass sie eine Zeitlang ungestört ihrem Liebesglück nachgehen können. Aufgrund einer Intrige Albrets werden die Liebenden aber getrennt, wobei sie erst nach vielen Jahren und Abenteuern mit anderen Partnern wieder zu sich finden und sogar heiraten. Überraschenderweise wird aber gerade jetzt, nach der Überwindung aller Hindernisse, Amanda krank, und schlussendlich gibt es kein zu erwartendes Happyend, sondern ihren Tod. Wie dieser Inhaltsskizze zu entnehmen ist, geht die Liebe in diversen Konfigurationen und Facetten im ganzen Roman voran, scheint aber beinahe organisch an Amanda gebunden zu sein, welche ihrer Freundin Julie u. a. das Foldaher nicht bloß als eine thematische Konstante von Mereaus Werk abzutun wäre. Auffallend ist darüber hinaus, dass sich Amanda und Eduard bei ihrer ersten Begegnung auch (oder vor allem) als Künstler wahrnehmen: Während sie in seinen Augen einer Grazie gleichkommt, stellt er für sie das Ideal des harmonischen Künstlers dar. Kennzeichnenderweise wird aber die Kunst als solche nicht der Gegenstand ihrer Gespräche; übrigens ist es frappierend, dass die beiden Figuren im Grunde nur wenig miteinander sprechen und ihre Gefühle quasi auf Umwegen artikulieren, indem sie sich zu ihnen in ihren Briefen an ihre Freunde bekennen. Amandas Briefe wären daher auch als Kunstprodukte zu verstehen, nicht als bloßes Mitteilungsmedium, wie es für eine Frau ihrer Zeit vorprogrammiert war. 11 Der fiktive Herausgeber schließt den Roman mit dem folgenden, in diesem Kontext vielsprechenden Kommentar ab: »Diese Briefe kamen in meine Hände, und ich hielt sie für interessant genug, sie, nach einigen vorhergegangenen, nöthigen Abänderungen, der lesenden Welt mitzutheilen; sie mag verzeihen, wenn ich in meinem Urtheile zu voreilig gewesen bin.« Mereau, Sophie: Amanda und Eduard. Ein Roman in Briefen. (1803). Prose Fiction. 101, S. 156. https://scholarsarchive.byu.edu/sophiefiction/101 / letzter Zugriff am 19. März 2022. Hier schwingt das bereits in der Einleitung zu diesem Beitrag angedeutete Problem der möglichen ästhetischen Abwertung einer weiblichen Literaturproduktion mit, wie sie Mereau nicht selten selbst im Umgang mit Schiller erfahren hatte. Daher ist auch mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass sie ihre Schreibstrategie an den geschlechts- und epochenspezifischen Erwartungen orientierte, wenn sich nicht weitgehend an sie anpasste, um als schreibende Frau überhaupt an die Öffentlichkeit treten zu dürfen und ihren eigenen Ort innerhalb der patriarchalisch geprägten Geschlechterordnung zu bewahren.
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gende klagt: »aber warum erinnert mich denn Alles daran, daß Liebe das höchste Glück des Lebens ist, warum muß ich allenthalben sehn, wie sie die niedrigste Lage veredeln, und der Dürftigkeit und Abgeschiedenheit selbst ein zauberisches, beneidenswerthes Ansehen leiht?«12 Die Liebe scheint sogar die Voraussetzung von Amandas Leben zu sein, was eine andere Klage an ihre Freundin besonders deutlich veranschaulicht: »Mein Herz, das in Liebe zerschmilzt, gleicht einer reifen Frucht, die über einen Strom hängt. Bricht sie nicht irgend ein Kühner, wenn auch mit Lebensgefahr, so sinkt sie und begräbt sich in die Fluth; denn brechen muß sie.«13 Man könnte sogar meinen, Amanda selbst verkörpert das Prinzip Liebe als solche, wobei man dies allerdings nicht nur ihrer Selbstdarstellung, sondern auch der Perspektive Eduards entnehmen kann. Symptomatisch ist es in diesem Zusammenhang, dass Eduard Amanda derart vergöttert, dass er ihr sogar eine Art Tempel errichten will, in dem sie nun als Liebesgöttin thronen darf und soll: »Ein Plätzchen habe ich hier gefunden, heimlich zwischen Bergen und Gesträuch, dem Garten ähnlich, wo einst Engel zu mir herabstiegen. Hier will ich mir eine kleine Kapelle bauen, einfach, prunklos und mit weichem Boden, daß man leise geht, wie der verstohlne Tritt der Liebe. Ueber dem Altar hängt Dein Bild«.14 Mit seinen Phantasien zielt also Eduard darauf hin, Amanda quasi in einem Gemälde festzuhalten, sie als ein statisches Anbetungs- und Kultobjekt in einem festgelegten Rahmen zu platzieren, wo sie sich nun als ein sprachloses15 Kunstwerk damit begnügen darf, eine Art Projektionsfläche für seine Gebete darzustellen und seine Liebe widerstandslos aufzunehmen. Damit erlangt zwar der Liebesdiskurs des Romans eine zusätzliche ästhetische Dimension, reiht sich aber auch in eine »Bildergalerie des Weiblichen, die mit den ästhetischen Objektivationen und den Trivialmythen bestückt ist«16, ein. Innerhalb von diesen erstarrten Weiblichkeitsmythen bewegt sich die Autorin auch dann, wenn sie die nicht nur für die deutsche Literatur der Romantik typische Vorstellung von der befreienden bzw. transgressiven Kraft des Liebesgefühls beschwört. So erfährt ebenfalls Amanda die höchste Entgrenzung dank und durch die Erfahrung der Liebe: Hab’ ich bis jetzt geträumt? oder sendet eine höhere Sonne nur zuweilen einen flüchtigen, aber göttlichen Blick auf unser düstres Leben? – Was für Stunden sind mir geworden! Das erste goldne Alter der Menschheit ist zurückgekehrt, alle Mißverhält12 13 14 15
Mereau, Sophie: Amanda und Eduard, S. 62. Ebd., S. 34. Mereau, Sophie: Amanda und Eduard, S. 80. Auf die frappierende »Sprachlosigkeit« zwischen den beiden Geliebten, die sich in ihrem direkten Kontakt bemerkbar macht, wurde bereits hingewiesen. 16 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1979, S. 42.
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nisse sind verschwunden, alle Fesseln zerbrochen, und ungehindert folgen die Herzen dem süßen Zug der Harmonie. Ich trage in meiner Seele ein hohes Bild; ich denke an nichts, kein Mensch hat Recht auf meine Theilnahme, ich lebe jetzt nur mir, nur meinem Himmel. Zu welcher Höhe von Glück bin ich auf einmal emporgestiegen?17
Dieser Rhetorik einer vollkommenen Erfüllung in der Liebe und durch die Liebe, die übrigens auch hier typisch romantisch metaphysisch überhöht und als ein Mythos vom universellen Ursprung der Menschheit gedeutet wird, scheint zunächst keine Gegenperspektive beizuwohnen. Doch diese schleicht sich beinahe unbemerkt ein, ohne dass indes der Glückseligkeitszustand der Hauptfigur hinterfragt wird: »Die Gegenwart begränzt meine Wünsche, ich erwarte, ich verlange nichts. Und wenn ich mich frage, woher diese Stimmung, weiß ich es? – woher – doch ich kann dies nicht verschweigen – ja! ich habe ihn heute gesehen«18, teilt wie beiläufig die verliebte Protagonistin mit. Halten wir aber bereits hier fest: Sobald sich der Traum von der Liebe erfüllt und in Eduard verkörpert, fühlt sich Amanda in ihren Wünschen begrenzt – die innige Sehnsucht nach etwas Unbegreiflichem und Höherem scheint gestillt bzw. zum Stillstand gekommen zu sein. Würde man Katharina von Hammerstein folgen, so müsste auch in diesem Fall die Liebe – verstanden zwar als Erfüllung, aber auch eine Eindämmung des Begehrens – ein Mittel darstellen, das den Einblick »in die […] Seinszusammenhänge gewährt.«19 Davon kann aber gerade hier nicht die Rede sein: Das weibliche Ich, durch die Liebe in seinen Wünschen beschränkt, erhebt nun vielmehr keine faustischen Ansprüche mehr und gibt sich mit seiner momentanen Existenzform zufrieden. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in einer anderen Textpassage. Diesmal aber beziehen sich Amandas Wünsche nicht nur auf das Liebesempfinden als solches, sondern auch auf einen anderen, nicht bloß sinnlichen bzw. emotionalen Erfahrungsbereich; es eröffnet sich hier nämlich paradoxerweise trotzt der explizit verbalisierten Begrenzungserfahrung auch eine andere, jene Erfahrung transzendierende Perspektive. Auf einem Spaziergang in den Bergen, mitten in der freien Natur, konstatiert die Hauptfigur das Folgende: »ich fühlte mich angenehm beschränkt, meine Wünsche überflogen diese Höhen nicht; ich hatte alles was ich wünschte – denn ich liebte. Da sah ich auf, und die schöne Gestalt die in meinem Herzen wohnte, stand lebendig vor mir.«20 Und es ist ebenfalls wohl kein Zufall, dass eine ähnliche Konstellation, begleitet von einer ähnlichen emphatischen Stimmung, einige Zeilen später wiederholt erscheint:
17 18 19 20
Mereau, Sophie: Amanda und Eduard, S. 135. Ebd., S. 121. Hammerstein, Katharina von: Sophie Mereau-Brentano, S. 213. Mereau, Sophie: Amanda und Eduard, S. 142.
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Ach, Julie! was war es, was mich, verloren in diesen Anblick, ganz von der Erde hinwegzog, in ein unbekanntes Land, von fremden seligen Gefühlen, und mein Auge mit unnennbaren Thränen erfüllte? – Nur dunkel, dachte ich: O! dort in dem strahlenden Wolkenland, von Menschen entfernt, und von der Unendlichkeit umgeben, mit dem Geliebten zu sein in ewiger Jugend und Liebe! – Da blickte ich auf, und sah Eduard, der in einiger Entfernung von mir stand. Ich kehrte aus meiner wunderbaren Entzückung zurück, und fühlte mich wieder freundlich an die Erde gefesselt.21
Amandas Sehnen und Streben nach dem »strahlenden Wolkenland«, welchem sie im Moment einer »wunderbaren Entzückung« nahekommt, werden wieder einmal durch das Erscheinen des geliebten Mannes gleichsam Schranken gesetzt. Man könnte es vielleicht auch so formulieren: Die Kontinuität einer die irdische Wirklichkeit transzendierenden Absolutheitserfahrung erfährt beim Auftauchen des Geliebten einen unverkennbaren Bruch. Dem Erlebnis der Unendlichkeit, die Amanda in spezifisch romantischer Manier vermisst, werden somit durch die (irdische) Liebe Grenzen gesetzt: Die Rückbesinnung auf das Gefühl entfremdet das Ich beinahe von dem ersehnten »Wolkenland«, das Begehren nach dem Absoluten versiegelt, und ein Moment der Entgrenzung geht in ein Moment der Begrenzung über. Das Entgrenzungsparadigma wird, wie es für eine hermeneutisch-ganzheitliche Sinndeutung des Romans grundlegend ist, so durch einzelne, mehr episodenhafte als motivisch eigenständige und erzähltechnisch umfassend ausgeführte Begrenzungsnarrative unterlaufen, welche mit dem Grundnarrativ der Entgrenzung eher interagieren, als dass sie sich ihm im Sinne einer kontrapunktischen Erzählstruktur22 entgegenstellen. Es ließe sich demnach vielmehr von einem poetischen ›Aufweichen‹ eines festen Erzählmusters sprechen als von einer eindeutigen Dekonstruktion bzw. Destruktion. Diese Strategie macht sich u. a. auch in dem folgenden Zitat bemerkbar: »mich trieb das Streben, das hohe, was ich kannte, in Einem vereinigt zu finden, rastlos im Gebiet des Lebens umher, und als es mir ward, als ich kaum das harmonische Dasein fühlte, das alle Wünsche begränzte – ach! da verschwand der Himmel, und einsam und verlassen fand ich mich auf der Erde wieder!«23 Dieser Bekenntnis Amandas wohnt eine unübersehbare Doppelbödigkeit inne: Den Verlust des Himmels könnte man zwar ohne Weiteres als den Verlust des Geliebten interpretieren, gemeint mag ja aber noch ein anderer Rückschlag sein, und zwar der auf einmal ausgebliebene 21 Ebd., S. 159. 22 Ein kontrapunktisch orientiertes Erzählverfahren ist dagegen für Mereaus Erzählung Die Flucht nach der Hauptstadt charakteristisch. Siehe hierzu meinen Artikel: Das Prinzip der kontrapunktischen Verfremdung in »Die Flucht nach der Hauptstadt« von Sophie MereauBrentano. In: Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł (Hg.): Fremdes zwischen Teilhabe und Distanz. Teil 2. V&R: Göttingen 2021, S. 303–315. 23 Mereau, Sophie: Amanda und Eduard, S. 77.
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Kontakt zur Transzendenz, die gleichsam visionäre und durchaus romantische Fähigkeit des Zugangs zu einer anderen, jenseitsorientierten Grenzerfahrung. Dem bereits beschworenen, ersehnten »Wolkenland«, das in dem obigen Zitat als »Himmel« herbeigesehnt wird, gesellt sich im Textverlauf schließlich auch noch ein »Zauberland«. Auch diesmal wird es als ein Objekt einer innigen Sehnsucht evoziert, wodurch alle drei Metaphern die gleiche Referenz erlangen und so in eine auffallende gedankliche Nähe gerückt werden: Ja, Julie, was auch die Zeit an den glänzenden Farben jener Vergangenheit verwischen mag, so glücklich ich mich jetzt durch Antonios Gegenwart fühle, so viele schöne Beziehungen ich um mich vereine; so kann sich mein Herz doch nie ganz von jenem Zauberlande losreissen, und selbst jedes fröhlichere Gefühl, das mein Herz bewegt, scheint mir nur ein Bote von dort zu sein, der mich wieder lebhaft in die alten Fesseln zieht. –24
Es ließe sich zwar sagen, dass die Erinnerung an Eduard Amanda in ihrer Vergangenheit gefangen hält, interessanter ist es aber zu bemerken, dass sich gerade das Gefühl als ein Medium des »Zauberlandes« offenbart, auch wenn es durch das einschränkende Adverb »nur« (»nur ein Bote von dort«) an seiner Wirkungsmacht einzubüßen scheint. Der »Bote« steht in diesem Sinne metonymisch für eine näher nicht bestimmte Größe bzw. umfassendere Idee, die die Hauptfigur gerade in dieser Lebensetappe nur noch als eine Art Abglanz wahrzunehmen im Stande ist. Folgendes kann hier vermutet werden: Solange das Gefühl in dem »Zauberlande« verweilt, gleich einer ursprünglichen, absoluten Idee, die ihre höchste Daseinsform erreicht hat, scheint es dazu prädestiniert zu sein, sich als Mittel einer transzendentalen Erfahrung dienstbar zu machen. Sobald es aber eine durch die irdische Form begrenzte und somit fassbare Gestalt annimmt, zerreißt der Faden der geheimnisvollen Verständigung mit dem Jenseits. Irdische Liebe sei demzufolge im Platons Sinne nur ein Reflex der himmlischen Liebe, es kommt ihr folglich nicht die gleiche Relevanz zu. Einerseits räumt also Amanda dem Gefühl die höchste Priorität zu, weil es das Mittel darstellt, durch welches der Mensch mit dem ersehnten »Zauberland« in Berührung treten kann, andererseits ist es aber nicht übersehbar, dass jenes Gefühl das weibliche Ich zugleich »in die alten Fesseln zieht«. Versteht man unter dem »Zauberlande« ein Fantasiegebilde, ein dank der Vorstellungkraft Amandas erschaffenes Bild der (vergangenen) Glückseligkeit, dann kommt man nicht umhin, daraus den Schluss zu ziehen, dass ja auch durch das Gefühl – die ersehnte Liebe – Amandas Phantasie Grenzen gesetzt werden. Amandas Schwärmerei lässt sich in diesem Sinne nicht bloß als Liebesschwärmerei abtun: Ihre Phantasie entzündet sich zwar an der Liebessehnsucht, sie erlischt ja aber gerade dann, wenn die Liebessehnsucht gestillt wird 24 Mereau, Sophie: Amanda und Eduard, S. 122.
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und konkrete Konturen annimmt. Die reziproke Bedingtheit der beiden Sphären ist folglich unverkennbar. Amandas Liebesbedürfnis und Liebesempfänglichkeit werden in diesem Sinne als ein äußerst ambivalentes Phänomen gestaltet: Einerseits ist ihr die Liebe lebensnotwendig und im Sinne einer Naturgabe immanent (was den epochentypischen Weiblichkeitsdiskurs, wie er allen voran von Rousseau geprägt wurde, nur noch bekräftigt), andererseits stellt die Liebe eine Art begrenzenden Faktor dar, der das jenseits orientierte Aufbegehren und die sich ins Transzendentale hinausschwingende Imaginationskraft des weiblichen Ich in Schranken hält oder zumindest beeinträchtigt. So gesehen sind die Liebesfähigkeit und Liebesbedürftigkeit Segen und Fluch zugleich, sie befreien und halten gefangen, ohne jedoch – das soll hier akzentuiert werden – einen Zwischenraum zu schaffen, in dem die beiden Gegenpole zu einer neuen – lebbaren – Existenzform verschmelzen würden. Amanda stirbt: jung, glücklich, mit ihrem Geliebten an der Seite, weil sie sterben muss, ähnlich wie die in der klassisch-romantischen Zeit weit verbreitete Idee, die etwa Friedrich Schlegels Luzinde exemplarisch zu veranschaulichen vermochte, dass sich das Wesen der Frau auf das bloße Liebesempfinden begrenzen ließe.
Literatur Becker-Cantarino, Barbara: Geschlecht und Kanonbildung am Beispiel der »Autorinnen der Romantik«. In: Caemmerer, Christiane/Delabar, Walter/Schulz Marion (Hg.): Autorinnen in der Literaturgeschichte. Konsequenzen der Frauenforschung für die Literaturgeschichtsschreibung und Literaturdokumentation. Kongressbericht der 2. Bremer Tagung zu Fragen der literaturwissenschaftlichen Lexikographie, 30.9 bis 2. 10. 1998 in Bremen. Zeller Verlag: Osnabrück 1999, S. 11–28. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1979. Bürger, Christa: Leben schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Metzler: Stuttgart 1990. Günzel, Klaus: König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten. Verlag der Nation: Berlin 1981. Hammerstein, Katharina von: Sophie Mereau-Brentano: Freiheit – Liebe – Weiblichkeit. Trikolore sozialer und individueller Selbstbestimmung um 1800. Winter Verlag: Heidelberg 1994. Jurczyk, Ewa: Die Frau auf der Suche nach der neuen Identität. Zur Frauenfigur im dramatischen Schaffen von Johanna Franul von Weissenthurn und Charlotte Birch-Pfeiffer. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2005. Kremer, Detlef/Kilcher, Andreas B.: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Springer-Verlag: Stuttgart 2015.
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Mereau, Sophie: Amanda und Eduard. Ein Roman in Briefen. (1803). Prose Fiction. 101. https://scholarsarchive.byu.edu/sophiefiction/101 / letzter Zugriff am 20. Januar 2022. Nowara-Matusik, Nina: Das Prinzip der kontrapunktischen Verfremdung in »Die Flucht nach der Hauptstadt« von Sophie Mereau-Brentano. In: Szmorhun, Arletta/Zimniak Paweł (Hg.): Fremdes zwischen Teilhabe und Distanz. Teil 2. V&R: Göttingen 2021, S. 303–315. Treder, Uta: Sophie Mereau: Montage und Demontage einer Liebe. In: Gallas, Helga/ Heuser, Magdalene (Hg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Max Niemeyer Verlag: Tübingen 1990, S. 172–183. Weigel, Sigrid: Der schielende Blick: Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Stephan, Inge/Weigel, Sigrid (Hg.): Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin: Argument-Verlag 1983, S. 83–137.
Hannelore Scholz-Lübbering (Berlin)
Mascha Kaléko: Die Dichterin der Großstadt Berlin und ihre Jahre im Exil
Stimmen über Mascha Kaléko Mascha Kaléko ist eine der bekanntesten Lyrikerinnen, die aber dennoch unzureichend in den deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskursen präsent ist. Einige ihrer Texte sind erst in den letzten Jahren neu aufgelegt worden.1 Nach ihrem Tod 1975 nennt der Berliner Kritiker Friedrich Luft sie in der Zeitschrift »Die Welt« die wahrscheinlich einzige »deutsche Großstadtdichterin«2 und hebt die Originalität ihrer Poesie hervor. Sehr rasch hatte die junge Mascha Kaléko in den zwanziger Jahren in Berlin Aufnahme in die literarischen Zirkel und auch Publikationsmöglichkeiten gefunden. Ein weiterer Rezensent schreibt über sie: Nicht leicht unter der Menge von Talentlosigkeit eine Begabung zu entdecken. Aber da ist Mascha Kaléko, ein apartes Persönchen, mit eigenen Berliner Gedichten. Darin liegt eine spezielle Note: Mischung aus Drollerie, Liebenswürdigkeit und anmutiger Persiflage. Plaudernd zeichnet die junge Künstlerin trefflich charakterisierend Berliner Typen in ihren Sächelchen, so ein bißchen Spitzweg in Brandenburg.3
Auch im Ausland findet sie ihre Leserinnen und Leser. Hermann Hesse schreibt für eine schwedische Zeitschrift in Neue Deutsche Bücher 1935–1933: Eine ganz junge großstädtische Dichterin ist Mascha Kaléko. Es sind zwei kleine Büchlein von ihr erschienen, mit Versen und kleinen Prosastücken: Das lyrische Stenogrammheft und Kleines Lesebuch für Große (beide Verlag E. Rowohlt). Es ist eine aus Sentimentalität und Schnoddrigkeit großstädtisch gemischte, mokante, selbstironi1 Erschienen sind: Kaléko, Mascha: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. und kommentiert von Jutta Rosenkranz, unter Mitarbeit von Eva-Maria Prokop, übersetzt von Britta Mümmler/Efrat Gal-Ed. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2012; Meyer, Julia: »Zwei Herzen wohnen, ach, in mir zur Miete«. Inszenierungen von Autorschaft im Werk Mascha Kalékos. Dresden: Thelem Universitätsverlag 2019. 2 Luft, Friedrich. In: »Die Welt« vom 23. Januar 1975. 3 Zit. nach Rosenkranz, Jutta: Mascha Kaléko. Biographie. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2007, S. 41.
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sierende Art der Dichtung, launisch und spielerisch, direkt von Heinrich Heine abstammend, eine Art, die in der deutschen Dichtung neuerer Zeit nicht sehr häufig war und heute in Deutschland, nach dem Ausscheiden der Juden, eigentlich ganz verschwunden ist. Die Verse und Prosaskizzen der jungen Dame entsprechen in ihrer ganzen Weltanschauung – vielmehr in ihrer ganzen Lebensstimmung trotzdem einem großen Teil der großstädtischen Jugend und finden bei ihr ein starkes Echo. Es ist eine Stimmung voll Jugend und zugleich voll Ernüchterung, eine verfrühte Enttäuschung und heimliche Verzweiflung liegt im Kampf mit den starken Instinkten der Jugend, man ist voll Gefühl und Sehnsucht, weiß damit aber wenig anzufangen, als darüber zu spotten, man möchte gern an etwas glauben und weiß nicht an was. Das ist nichts Neues, es ist ein Stück romantischer Tradition und auch die Verse der Kaléko haben ihren Bau und ihre Melodie von dort her, von Heine, es ist eher eine epigone als eine moderne Art von Dichtung. Aber diese kleinen Dichtungen haben dennoch einen echten Liebreiz, sie sind auf eine graziöse und sympathische Weise verspielt und tändelnd, sie sind von echter Jugendlichkeit, und so sind sie uns willkommen in ihrer Anmut und Spielerei, hinter der so viel Traurigkeit und Sehnsucht nach einem echteren und edleren Leben steckt.4
Das sind drei Äußerungen zu der Entdeckung einer jungen Lyrikerin, es ließen sich noch viele finden. Mascha Kaléko soll im Weiteren in ihren Lebens- und Schreibphasen näher betrachtet werden. Deutlich gemacht werden soll, wie Inhalte und Strukturen ihrer Texte von den jeweiligen Aufenthaltsorten determiniert sind. Diese Herangehensweise ergibt sich aus der Tatsache, dass bisher zu wenig über Leben und Werk der Autorin bekannt ist. Dabei wird deutlich, dass sie als Jüdin ständig Begrenzungen hinnehmen musste und mehrmals in ihrem Leben die Grenzen von Ländern überschritt.
Kindheit (1907–1918) Wer ist diese begabte Autorin? Golda Malka Aufen, später Mascha genannt, wurde am 7. Juni 1907 in Schidlow in West-Galizien geboren. Heute heißt der Ort Chrzanów und liegt in Polen. Zeitlebens wird sie sich fünf Jahre jünger machen. Ihr Vater Fischel Engel war russischer Jude und Kaufmann. Die Mutter Rozalia Chaja Reisel Aufen stammte aus Mähren in Österreich. Die Herkunft der Eltern wird Mascha verschweigen. Sie galt als unehelich, da die Eltern nur durch einen Rabbi getraut wurden, später werden sie heiraten und der Vater das Kind anerkennen. Wir wissen wenig über ihre Kindheit, nur durch Verse und Prosatexte lässt sich Einiges erschließen.
4 Ebd., S. 55.
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Mein meistgesprochenes Wort als Kind war »nein«. Ich war kein einwandfreies Mutterglück. Und denke ich an jene Zeit zurück. Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.5
Schon als Kind lernte sie das Emigrantendasein kennen. 1914 flohen die Eltern, um den Pogromen zu entkommen nach Frankfurt am Main. Der Vater wurde als russischer Bürger, also als feindlicher Ausländer interniert. 1916 übersiedelte die Mutter mit beiden Mädchen nach Marburg an der Lahn. Die Schwester Lea war zwei Jahre jünger als Mascha. Sie erlebten in den ersten zehn Jahren ihres Lebens drei Ortswechsel. Heimatlosigkeit, Verlassenheit und Vaterlosigkeit sind prägende Eindrücke ihrer frühen Kindheit. »Früh schon gefiel mir das Anderswo«6 wird sie in ihrem Text Auto(r)biographisches7 schreiben. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kam der Vater frei und die Familie zog nach Berlin. Sie wohnte im sogenannten »Scheunenviertel«, einem Armenviertel ostjüdischer Einwanderer. Erst in dieser Stadt fühlte sich Mascha für kurze Zeit heimisch. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Berlin die größte jüdische Gemeinde in Deutschland, weil seit 1871 den Juden und Christen die gleichen Rechte eingeräumt wurden. Allerdings gab es zwischen den Westjuden und den orthodoxen Juden aus Polen, Russland und Galizien kaum Gemeinsamkeiten. Die Ostjuden wurden abgewertet und diskriminiert wegen übertriebener Religiosität, Armut und ihrem auffälligen Äußeren. Genau deshalb verschwieg Mascha ihre Herkunft. Sie wird später immer wieder hervorheben, dass sie der »Welt deutsch-jüdischer Hochkultur«8 sehr nahe stand. Das ist erstaunlich, denn der Vater, der aus einer alten Rabbiner-Familie stammte und eine Talmud–Schule besucht hatte, scheint nach Jutta Rosenkranz orthodox gewesen zu sein. Er verbietet seinen Töchtern am jüdischen Feiertag, dem Sabbat, zur Schule zu gehen und Mascha besuchte auch aus diesem Grunde die Mädchenschule der Jüdischen Gemeinde in der Kaiserstraße in Berlin-Mitte. Sie gehörte zu den besten Schülerinnen ihrer Klasse. Gern hätte sie studiert, doch der Vater war dagegen. Ihre Zukunftsaussichten waren nicht rosig. »Mit 16 Jahren lebensmüde suchte ich in den Büchern nach der Antwort. Da fand ich Schopenhauer. […] Sein Pessimismus rettete mir das Leben«.9 5 Ebd., S. 17. 6 Kaléko, Mascha: Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte. Ausgewählt und herausgegeben von Gisela Zoch-Westphal. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2007, S. 13. 7 Kaléko, Mascha: In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Zoch-Westphal. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1977. 8 Engel, Chaja an Mascha Kaléko, 03. 08. 1962, in: Nachlass Deutsches Literaturarchiv Marburg (DLA Marburg). 9 Rosenkranz, Jutta: Mascha Kaléko, S. 128, auch Nachlass DLA Marburg.
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Für das meist assimilierte emanzipierte Westjudentum waren die Ostjuden Fremdlinge. Viele deutsche Juden hatten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und fühlten national. Besonders in Berlin bereicherten sie das gesellschaftliche Leben nicht nur durch die jüdische Kultur. Viele traten zum Protestantismus über und sie prägten die deutsche Literatur, Musik, Wissenschaft und die Wirtschaft. Es wirkten z. B. so bedeutende jüdische Künstler*innen wie die Schriftsteller*innen Alfred Döblin, Ernst Blass, Else Lasker-Schüler, Georg Hermann, der Komponist Leo Blech, der Dirigent Otto Klemperer, der Kritiker Alfred Kerr, die Maler Max Liebermann, Lesser Ury, (Else Ury) die Schauspieler*innen Elisabeth Bergner, Ernst Deutsch und die Verleger Paul Cassirer und Samuel Fischer. Mit der Stadtentwicklung ist auch die Geschichte der Juden in Berlin verbunden. Sie ist charakterisiert von immer wieder vorgenommenen Aus- und Ansiedlungen. Erst seit 1671 gibt es eine ständige jüdische Bevölkerung in Berlin. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung auf 173.000. Zu dieser Zeit spielten sie eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Durch die Eingliederung der umliegenden Gemeinden wird Berlin zu Groß-Berlin zusammengefasst. Mit fast vier Millionen Einwohnern ist Berlin nun die zweitgrößte Stadt nach London in Europa. In kurzer Zeit entwickelte sie sich zu einem geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum. Die Währungsreform 1923 begünstigte die wirtschaftliche Konjunktur. Während des Nationalsozialismus wurden 55.000 Juden von Berlin Opfer der Shoa. Die Stolpersteine in den Berliner Straßen geben Auskunft über ihre früheren Wohnungen und Häuser.
Die Berliner Jahre (1918–1938) Es war Fischel Engel trotz der schwierigen Nachkriegsjahre mit den sozialen und politischen Problemen gelungen, durch verschiedene Arbeiten seine Familie notdürftig zu versorgen. Im Oktober 1923 verließ Mascha die jüdische Mädchenschule mit dem Zeugnis der Mittleren Reife. Im gleichen Jahr begann sie eine Bürolehre im Arbeiter-Fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands. Die Büroarbeit war für sie unbefriedigend, aber sie musste Geld verdienen. Mascha war eine attraktive, lustige, junge Frau und wurde von den Männern, die sie in den Cafés traf, umschwärmt. In ihrer Freizeit besuchte sie Abendkurse in Philosophie und Psychologie an der Lessing-Hochschule und an der FriedrichWilhelm-Universität. Wahrscheinlich hier lernte sie den Philologen und Sprachlehrer Dr. Saul Kaléko kennen. Zwei Jahre später 1928 heirateten der 30-jährige Journalist Saul Aron Kaléko und die 21-jährige Kontoristin Golda Malka Engel. In dieser Zeit fand Mascha im »Romanischen Café« in Berlin Anschluss an die literarische Bohéme der Hauptstadt. Das »Romanische Café« war ein wichtiger
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Ort, um literarische und journalistische Nachrichten zu diskutieren. Hier lernte sie u. a. Joachim Ringelnatz und Else Lasker-Schüler kennen. Sie wird diese Zeit als »ein paar leuchtende Jahre«10 bezeichnen. Mit zweiundzwanzig Jahren wurde ihr erstes Gedicht veröffentlicht. Im Heft Nr. 9 der Zeitschrift Der Querschnitt erschienen 1929 die Gedichte Spießers Frühlingserwachen (später Piefkes Frühlingserwachen) und Zwischen zwei Fenstern (später Tratsch im Treppenhaus) im Berliner Dialekt. Diese Anfänge verheimlichte die Autorin später. Für sie waren die Veröffentlichungen in den führenden Blättern Berlins, z. B. Berliner Tageblatt wichtiger. Die Straßen gähnen müde und verschlafen Wie ein Museum stumm ruht die Fabrik. Ein Schupo träumt von einem Paragraphen, Und irgendwo macht irgendwer Musik. Die Stadtbahn fährt, als tät sie’s zum Vergnügen. Und man fliegt aus durch Wanderkluft verschönt. Man tut, als müßte man den Zug noch kriegen. Heut muß man nicht. – Doch man ist’s so gewöhnt. Die Fenster der Geschäfte sind verriegelt Und schlafen sich wie Menschenaugen aus – Die Sonntagskleider riechen frisch gebügelt. Ein Duft von Rosenkohl durchzieht das Haus.11
Kurze Zeit später druckt das »Berliner Tageblatt« regelmäßig Gedichte von ihr, auch in anderen Zeitschriften wie »Tempo«, »Berliner Morgenpost« und »Simplicissimus« werden nun Gedichte von ihr publiziert. Was charakterisiert diese Verse? Es sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, ihre Konflikte und Reibungen. Vor allem aber sind sie inspiriert von der Großstadt Berlin. Sie sind eine Art von »Gebrauchslyrik«, die sie in den dreißiger Jahren in Berlin berühmt machten und die den Reiz bis heute nicht verloren haben. Die Motivation ihres Schreibens war die Alltagsbewältigung in der Großstadt zur eigenen Lebensbewältigung. Entsprechend waren die Themen: Genaue Beobachtungen, Situationen im Alltag, eine lockere, fast wehmütige, melancholische Stimmung, aber auch die Brechungen in eine kecke, heitere Tonlage sind das Besondere ihrer Lyrik. In ihren Texten fließen die Reime mühelos und locker. Die Autorin beherrschte die klassischen Strophen- und Reimformen, hat aber auch die in der deutschen Dichtung beliebte Volksliedstrophe durch ungewöhnliche Reime verwendet. Spott und Ironie wird immer wieder in Szene gesetzt und nicht selten wird aus der Alltagspoesie Sozialkritik. Die Frauenfi10 Es ist auch der Titel eines Bandes des Münchener Taschenbuchverlages von 2003. 11 Kaléko, Mascha: Das lyrische Stenogrammheft. Verse vom Alltag. Berlin: Rowohlt 1933, S. 34.
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guren gerieten nicht von ungefähr in den Mittelpunkt der poetischen Gestaltung. In Mascha Kalékos Kurzgeschichte Ein Abschied tauchte ein neuer Frauentypus auf. Seit die Frauen 1919 das Wahlrecht erkämpft hatten, emanzipierten sie sich in den Folgejahren mehr und mehr. Ein Symptom war die steigende Zahl der weiblichen Angestellten in Deutschland, die die Millionengrenze überschritt. Die Frauen waren unabhängiger und selbstbewusster geworden. Äußere Zeichen waren Hosen, kürzere Röcke, Bubikopffrisuren, sie rauchten in der Öffentlichkeit, saßen zwanglos in den Cafés. Auch die Autorin Mascha Kaléko verkörperte die emanzipierte neue Frau. Mascha Kalékos Selbstbewusstsein wuchs, sie hatte Erfolg. Immer mehr Zeitungen, auch überregionale, druckten gern ihre Großstadtminiaturen. Nicht nur die heiteren auch die kritischen Verse fanden Anklang bei ihren Leser*innen, z. B. das Gedicht Chor der Kriegerwaisen. 1931 bekam sie von der Berliner Wochenzeitschrift Welt am Morgen das ehrenvolle Angebot, jeden Montag ein Gedicht zu liefern und dadurch Erich Kästner abzulösen. Es sind die kleinen Leute, die Arbeiter und Angestellten, die ihre Sympathie haben und deren Alltagssorgen und Begebenheiten sie schildert. Für Mascha und ihren Ehemann verbesserte sich die finanzielle Lage, da sie immer mehr Erfolg hatte. Sie las ihre Gedichte im Rundfunk und im Kü-Ka, dem Berliner Künstlerkabarett. Dort war sie in anerkannter Gesellschaft. Texte von Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz wurden rezitiert und die Kritiker saßen am Pressetisch. Sie wurde als »Tochter Morgensterns« und »eine Schwester von Ringelnatz«, »weiblicher Kästner« bezeichnet. Nur sehr schwer überwand sie ihre Scheu und ließ ihre Gedichte lieber von anderen wie Claire Waldoff oder Rosa Valetti lesen. In den Jahren ihres Erfolges verreiste sie oft allein, bisweilen auch mit ihrem Mann: Hiddensee, Kopenhagen, Salzburg, Wien, Paris, Marseille – um nur einige Stationen zu nennen. Die Reisen waren Inspirationsquellen für sie. Innerhalb weniger Jahre gehörte die junge Mascha Kaléko zur literarischen Szene Berlins. 1933 erschien ihr erstes Buch Das lyrische Stenogrammheft. Der Zeitpunkt konnte ungünstiger nicht sein. 1932 gab es sechs Millionen Arbeitslose. Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 erreichte die NSDAP mehr als dreizehn Millionen Stimmen und wurde damit stärkste Partei. Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht. Viele hatten zunächst diese Wahl nicht so ernst genommen, schon bald aber zeigte sich, dass der Druck auf politische Gegner, linke Intellektuelle und Juden zunahm. Bereits Mitte Februar wurden Heinrich Mann und Käthe Kollwitz aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen. Ricarda Huch, die 1930 als einzige Frau in die Akademie berufen wurde, sollte sich zur Loyalität mit dem Regime bekennen. Sie erklärte ihren Austritt mit den Argumenten: »Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den
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Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.«12 Mascha Kaléko war Mitglied im SDS, dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller. Die Treffen wurden geheim gehalten. An einem Nachmittag des 27. Februar 1933 sollte Walter Mehring sprechen. Als er ankam, warnte ihn Mascha: »Mehring, Sie müssen sofort verschwinden! Da oben ist die Hakenkreuz-Hilfspolizei mit einem Haftbefehl für Sie.«13 Mehring gelang noch am selben Abend die Flucht nach Paris. In der Nacht danach brannte der Reichstag und viele kritische Autoren und Künstler wurden verhaftet: Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Egon Erwin Kisch. Nachdem auch der Schutzverband Deutscher Schriftsteller aufgelöst wurde, emigrierten viele Schriftsteller*innen aus Deutschland, z. B. Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Bruno Frank, Annette Kolb, Walter Benjamin, Hermann Kersten, Erika und Klaus Mann, Alfred Polgar, Gabriele Tergit14 u. a. Es waren nicht nur die unliebsamen Kritiker des Regimes gefährdet, sondern auch die jüdische Bevölkerung insgesamt. Am 1. April wurde zum Boykott aller jüdischen Geschäfte aufgerufen. Mascha unterschätzte die Gefahr wie auch viele andere Deutsche. Eine der wenigen Ausnahmen war Else Lasker-Schüler. Sie emigrierte als ihr Theaterstück Arthur Aronymus und seine Väter noch vor der Generalprobe im Schiller-Theater in Berlin abgesetzt wurde. Am 10. Mai 1933 fand auf dem Opernplatz in Berlin die spektakuläre Bücherverbrennung statt. Viele namhafte Autoren sahen ihre Werke in den Flammen untergehen. Noch waren Maschas Texte nicht auf der »schwarzen Liste«. Schon bald wendete sich das Blatt. Im Dezember teilte der Rowohlt-Verlag seinen Autor*innen mit, dass sie bis zum 15. Dezember der Reichsschrifttumskammer beitreten müssen. Was bedeutete das für Mascha Kaléko? Obwohl sie wusste, dass Bücher verbrannt, Kollegen verfolgt wurden und emigrieren mussten, fühlte sie sich nicht in Gefahr. Sie trat der Reichsschrifttumskammer bei, gab ihren Beruf auf und widmete sich nur noch der Schriftstellerei. Wie sie war auch ihr Ehemann sehr erfolgreich. Aber ab 1933 druckten keine Zeitschriften mehr Gedichte von ihr. Sie suchte nach neuen Verdienstmöglichkeiten. Der wirtschaftliche Aufschwung verdeckte für die Deutschen die Gefahren der Nazi-Diktatur. Die jüdischen Bürger*innen mussten seit 1933 immer mehr Einschränkungen hinnehmen. Sie wurden aus Turn- und Sportvereinen ausgeschlossen und durften das Berliner Strandbad Wannsee nicht mehr besuchen. Ab 1935 wurden Eheschließungen und außerehelicher Verkehr zwischen Staatsangehörigen »deutschen Blutes« und Juden 12 Huch, Ricarda an den Präsidenten der Akademie der Künste, 09. 04. 1933. Zit. nach: Rosenkranz, Jutta: Mascha Kaléko, S. 49. 13 Ebd. 14 Tergit, Gabriele war ein Pseudonym für Elise Reichenberg, geb. Hirschmann, auch Cristian Thomasius. Sie war Jüdin und schrieb Reportagen, z. B. über den Abtreibungsparagraphen § 218.
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mit Zuchthaus bestraft.15 Die jüdischen Partner oder Partnerinnen waren in großer Gefahr. Der bewegende Briefwechsel zwischen der jüdischen Ärztin Lilli Jahn mit ihren fünf Kindern während ihrer Haft und ihrem Aufenthalt im Konzentrationslager Auschwitz sind eine ergreifende Dokumentation über eine private Katastrophe in den Zeiten der Nazi-Diktatur. Ihr protestantischer Ehemann konnte als Arzt nach der Scheidung weiter praktizieren. In den Folgejahren wurden Berufsverbote für jüdische Schauspieler*innen, Musiker und Autor*innen erlassen. Die Gefahr für Mascha Kaléko wuchs. Sie genoss den Erfolg, ihre Bücher waren Bestseller. Doch als der Verlag Neuauflagen drucken ließ, wurden sie vor Auslieferung beschlagnahmt. Mascha Kaléko wurde als Jüdin enttarnt, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot. Fortan konnte sie nur noch in jüdischen Blättern publizieren und erwog mit ihrem Ehemann nach Palästina auszuwandern. Doch im gleichen Jahr 1935 lernte sie den Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver kennen und verliebte sich in ihn. Dieses Ereignis ließ alle Auswanderungspläne stocken. Nun hatte sie auch noch private Probleme, zunächst führte sie ein Doppelleben. Ihr Mann tolerierte ihre Abwesenheiten. Als am 28. Dezember 1938 der Sohn Avitar Alexander geboren wurde, verschwieg sie den wirklichen Vater. Sie litt unter der »Lebenslüge.«16 Am 22. 01. 1938 wird die Ehe in gegenseitigem Einvernehmen geschieden. Das Sorgerecht für den Jungen blieb bei der Mutter. Sechs Tage später heiratete sie Chemjo Vinaver, nannte sich aber als Autorin weiterhin Mascha Kaléko. Das eheliche Glück war in Deutschland nur von kurzer Dauer. Die Gesetze und Verordnungen gegen Juden wurden immer restriktiver. 1938 mussten Juden ihre Vermögensverhältnisse offen legen, jüdische Ärzte durften nicht mehr praktizieren und alle männlichen Juden mussten den Namen »Israel«, alle Jüdinnen »Sara« als zusätzlichen Vornamen führen. Eine Reise nach Palästina war für Mascha Anlass ihre Familie zu besuchen, aber auch die Möglichkeiten des Exils zu erkunden. Die Aussichten in den USA schienen vorteilhafter zu sein. In wilder Hast bereiteten sie die Ausreise vor. Im September 1938 verließ die Familie Berlin, gerade noch zur rechten Zeit, denn im Oktober wurden die Reisepässe von Juden eingezogen, auf den neuen wurden die Stempel »J« gedruckt. Synagogen gingen in Flammen auf, jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe wurden verwüstet. Jüdische Verlage und Buchhandlungen wurden aufgelöst. Die Lage für jüdische Familien war bedrohlich. 1938 emigrierten ca. vierzigtausend Menschen, 1939 fast doppelt so viele. Ziele waren Palästina und die USA. Maschas Familie emigrierte über Hamburg, Paris, Le Havre nach New York. 15 Doerry, Martin: »Mein verwundetes Herz«. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2004. 16 Rosenkranz, Jutta: Mascha Kaléko, S. 31.
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New York (1938–1959) Die große Stadt war überwältigend für die Neuankömmlinge. Für Mascha und ihre Familie standen zunächst viele organisatorische Aufgaben an. Die Nachrichten aus Deutschland waren nicht ermutigend. Sie hatte nicht nur ihre Heimat verloren, sondern auch ihre Leser*innen. Die deutsche Sprache war für Mascha ihre Ausdrucksform und Deutschland ihre geistig-kulturelle Heimat. Dieses Schicksal teilte sie mit ca. zweihunderttausend Österreichern und Deutschen, die zwischen 1933 und 1944 emigrierten. Darunter auch viele Schriftsteller wie Hermann Kesten, Kurt Pinthus, Berthold Viertel, Alfred Döblin, Wieland Herzfelde, Ernst Toller, Oskar Maria Graf u. a. Fast alle hatten Schwierigkeiten mit dem Verlust ihres Kulturkreises und ihrer Sprache. Nur wenigen berühmten Autoren wie Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, deren Werke bereits vor 1933 in den USA übersetzt waren, gelang es, auch im Exil zu publizieren. Mascha lernte schnell Englisch, aber ihr fehlten die Zwischentöne, um in dieser Sprache schreiben zu können. Sie suchte einen Ausweg und schrieb unter dem Pseudonym Marcia Vinaver Werbetexte für Parfüm und Büstenhalter. Ihr Mann konnte als Musiker arbeiten. Er komponierte z. B. für Stefan Zweigs Antikriegsstück Jeremiah die Musik. Das Stück hatte im Broadway-Theater Premiere. Der Kontrast zu ihrem Leben in Berlin war groß, auch wenn Vinaver einen Chor neu gründete. Es war der erste Chor in den USA, in dem jüdische Musik im Mittelpunkt stand. Für Mascha war die Umstellung schwieriger. Da Vinaver kein Englisch sprach, managte sie alle seine Verhandlungen und Auftritte. Sie litt darunter, nur ein Anhängsel ihres Mannes zu sein und das Leben mit dem widerborstigen Sohn machte ihr zu schaffen. Sie hatte Magenbeschwerden und klagte über Müdigkeit. Da war es nicht verwunderlich, dass die Inhalte ihrer Gedichte sich enorm veränderten. Die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat schwingt mit. Auf einer Bank In jenem Land, das ich einst Heimat nannte, Wird es jetzt Frühling wie in jedem Jahr. Die Tage weiß ich noch, so licht und klar, Weiß noch den Duft, den all das Blühen sandte, Doch von den Menschen, die einst dort ich kannte, ist auch nicht einer mehr so, wie er war. Auch ich ward fremd und muß oft Danke sagen. Weil ich der Kinder Spiel nicht hier gespielt, Der Sprache tiefste Heimat nie gefühlt
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In Worten, wie die Träumenden sie wagen. [… ]17
Ab 1939 erschienen Gedichte von ihr in der Zeitschrift »Aufbau«. Das Leben im Exil führte für sie zu neuartigen Ausdrucksformen in ihrer Lyrik. Der heiterwitzige Ton wich unter den neuen Lebensbedingungen einer kritischen Melancholie. Die Familie hatte jahrelang Geldsorgen und die einzige Freude im Exil war, das Heranwachsen des Sohnes zu erleben. »Der Junge ist die größte Freude unseres Lebens.«18 Das Kind und ihr Ehemann waren für Mascha der einzige Halt in der Fremde. Das Zusammenleben gestaltete sich oft schwierig, sie litt unter Stimmungsschwankungen und Heimweh. Emigranten-Monolog Ich hatte einst ein schönes Vaterland – So sang schon der Flüchtling Heine. Das seine stand am Rheine, das meine auf märkischem Sand. […] Mir ist zuweilen so, als ob Das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach.19
In der Hoffnung auf Besserung der finanziellen Lage übersiedelte die Familie nach Hollywood. Vinaver hoffte auf Aufträge für Filmmusiken. Nur für ein paar Monate waren sie in der Filmstadt. Mascha fühlte sich schwach und krank. »Ich bin auf Wanderschaft seit vielen Jahren. Gehetzt, unstet und flüchtig […].«20 Sie konnten dort nicht Fuß fassen und übersiedelten wieder zurück nach New York. Auch dort folgten entbehrungsreiche Jahre. Sie mussten Geld leihen und die Nachrichten aus Deutschland waren niederschmetternd. Aber sie waren in Sicherheit. Erst hier setzte sich Mascha Kaléko intensiv mit dem Judentum auseinander. So gibt sie ihrem Gedicht Nachtgedanken später den Titel Kaddisch (hebräisch für das jüdische Totengebet). In der Ausgrenzung und Verfolgung von Juden in Europa sah sie eine Parallele zu den Diskriminierungen von Schwarzen in den USA. In ihrem Gedicht Einer Negerin im Harlem-Express prangert sie Rassenhass und Verfolgung an. Zu diesen neuen Themen fand sie in den USA. Auffällig ist auch, dass sie sich in den Exilgedichten mit dem Begriff »Gott« auseinandersetzte. Ihr Gott ist an keine Konfession gebunden. »Ob Jud, ob 17 Kaléko, Mascha: In meinen Träumen läutet es Sturm, S. 47. 18 Tagebuch. 1940. In: Zoch-Westphal, Gisela: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko. Biographische Skizzen, ein Tagebuch und Briefe. Berlin: Rowohlt 1987, S. 114. 19 Kaléko, Mascha: Mein Lied geht weiter, S. 67. 20 Tagebuch, Anfang Oktober 1940. In: Zoch-Westphal, Gisela: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko, S. 117f.
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Christ: es gibt nur einen Gott. / Doch sucht der Mensch ihn unter vielen Namen.«21 1944 erhielten die Eheleute die amerikanische Staatsbürgerschaft und waren dadurch geschützte Bürger*innen der USA.
Jerusalem (1959–1971) 1945 war der Zweite Weltkrieg beendet. Die Bilanz ist erschreckend. 55 Millionen Tote, darunter sechs Millionen Juden, weltweit zerstörte Städte und die Aufteilung Deutschlands in vier Sektoren. Mascha Kaléko war erleichtert, dass sie und ihre Familie in letzter Minute dem schrecklichen Schicksal des Holocaust entronnen waren. Die Sehnsucht nach Europa hatte sie dennoch ein Leben lang begleitet. Da sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht auftreten konnte, wird die Familie immer wichtiger. »Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen, / Fror ich mich durch die finsteren Jahre. / Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.«22 Im Oktober 1958 übersiedelte Mascha ihrem Mann zuliebe nach Israel. Diese weitere Emigration nach 15 Jahren war für Mascha mit vielen neuartigen Problemen verbunden. Sie litt unter der Isolation. Ihr Mann hatte ein offizielles Visum, sie nur ein Touristenvisum, das sie regelmäßig verlängern musste. Beide wollten ihre amerikanische Staatsbürgerschaft auf keinen Fall aufgeben, auch ihre Wohnung in New York wollten sie für den Sohn behalten. Mascha hatte Verständigungsschwierigkeiten. Sie sprach kein Hebräisch, bzw. Ivrit. »So immerzu bloß Ivrit, kein Theater, kein Radio für mich, das ist für nen deutschen Barden schwer.«23 Ihre Stimmungen waren in der neuen Umgebung ambivalent. Das neu gegründete Stadtviertel erinnerte sie an Berlin, weil hier Bäume wachsen. Sie wandelte auf den Spuren von Else Lasker-Schüler, die sie sehr verehrte. Die Autorin war schon früh nach Israel emigriert und starb verarmt und einsam in Jerusalem. 1959 lehnte Mascha Kaléko den Fontane-Preis der Akademie der Künste Berlin (West) mit folgender Begründung ab: Von dem Direktor der Sektion für Dichtung und Jury-Mitglied Hans Egon Holthusen, der von 1933 bis 1945 Mitglied der SS war, wolle sie keinen Preis entgegennehmen. Sie wurde aber in das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autor*innen im Ausland aufgenommen. Im gleichen Jahr übersiedelten Mascha und ihr Ehemann nach Jerusalem. Schon bald, 1961, tritt sie allein eine erste Europareise nach der Übersiedelung an. Sie 21 Kaléko, Mascha: Es werde jeder selig nach seiner Konfession. In: Kaléko, Mascha: In meinen Träumen läutet es Sturm, S. 154. 22 Kaléko, Mascha: Mein Lied geht weiter, S. 9. 23 Chaja Engel an Mascha Kaléko, 03. 08. 1962. In: Nachlass DLA Marburg.
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besuchte Hamburg, Berlin, Hannover, Frankfurt/Main, Zürich, London und Edinburgh. Auch 1964 ist sie wieder in Europa. Sie hatte Lesungen in Hamburg, Berlin, Hannover, Frankfurt/Main, Zürich, London und Edinburgh. Das war für sie auch eine Gelegenheit, ihren Sohn in London zu besuchen. Sie wird ihn nicht mehr wiedersehen. 1968 starb nach langer schwerer Krankheit ihr musikalisch hochbegabter Sohn in Pittsfield, Massachusetts. Sein Tod stürzte die Eltern in eine schwere Krise. Im Gedicht Memento drückte sie ihre Ängste aus: »Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muß man leben.«24 Sie dachte darüber nach, neben ihrer Wohnung in Jerusalem auch eine kleine Wohnung in Berlin zu beziehen. Jerusalem war ihr fremd geblieben. Obwohl ihre Mutter und ihre Schwestern hier lebten, pflegte sie wenig Kontakt zu ihnen. Ihr Sehnsuchtskontinent war Europa. Hierhin wollte sie reisen, vor allem im Sommer, wenn es unerträglich heiß in Israel ist. Die Reisen nach Deutschland und in die Schweiz machten ihr Mut und sie war wieder voller Pläne. Im Herbst 1967 erschien ihr Band Verse in Dur und Moll und ein Jahr später Das himmelgraue Poesiealbum der Mascha Kaléko. 1973 ereilte sie ein weiterer schwerer Schicksalsschlag. Vinaver starb nach einem langen schweren Leiden. Sie war danach eine gebrochene Frau, verließ kaum noch die Wohnung. 1974 besuchte sie ein letztes Mal Berlin, um am 16. September in der AmerikaGedenkbibliothek ihre Gedichte vorzutragen. Sie war zuvor in Zürich erkrankt und musste ins Krankenhaus. Die Ärzte hatten ihr von der Reise abgeraten. Sie wagte es dennoch. Der Schriftsteller und Journalist Horst Krüger war von der Lesung sehr beeindruckt: Sie saß neben mir. Sie veränderte sich dabei etwas. Das Mädchenhaft-Kindliche ging jetzt verloren. Sie wurde bewußter, ernster, strenger. Sie ließ sich viel Zeit zwischen den einzelnen Gedichten, machte größere Pausen, scheinbar suchend, scheinbar unschlüssig blätternd. […] Sie wußte genau, was sie jetzt tat und wollte: vortragen, das feine Gespinst ihrer Verse zum Klingen bringen.25
Nicht nur die Ironie und spielerische Leichtigkeit ihrer früheren Gedichte verloren sich, auch die klassische, strenge Reim- und Strophenform war ihr nun zu eng. Sie reimte nur noch selten. Ihre neuen Verse konzentrierten sich auf die Inhalte, die wichtiger schienen als die Form. Nach dem Tod der für sie wichtigsten Menschen war ihre Einstellung zum Leben stark erschüttert. An Ingeborg Drewitz schrieb sie: »[…] mir hat man wohl ein bischen reichlich ‹Schicksalsschläge‹ zugemutet. Ich sage mir jeden Morgen, wenn ich aufstehen soll: Ich bin geschlagen – aber nicht besiegt. Das ist meine Frühstückspille, die ich mir selber
24 Kaléko, Mascha: Verse für Zeitgenossen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Verlag 1958, S. 7. 25 Krüger, Horst in: Zur Heimat erkor ich mir die Liebe, Fernsehfilm, ZDF 1985.
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drehe.«26 Der Besuch ihrer alten Heimatstadt wirkte sich positiv auf ihre Stimmung und das Schreiben aus. Auf dem Weg zurück nach Jerusalem machte sie einen Zwischenhalt in Zürich. Hier erkrankte sie schwer und starb am 21. 01. 1975 an Magenkrebs. Von ihrer Kindheit an bis zum Leben in Jerusalem prägten Heimatlosigkeit, Einsamkeit, Isoliertheit ihr Dasein. Sie konnte bis auf die wenigen Jahre in Berlin ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit nicht stillen, deshalb blieb ihr nur »zur Heimat erkor ich mir die Liebe.«27 Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Zürich-Friesenberg. Die Gestaltung des Grabsteins hat sie selbst vorgenommen. In hebräischen Buchstaben steht: »Hier wurde begraben«, gefolgt von einem Segenswunsch aus der hebräischen Bibel: »Möge ihre Seele geborgen sein im Bündel der Lebendigen: Mascha Kaléko / Dichterin 1907–1975 / Gattin des / Musikologen / Chemjo Vinaver«. Ihr Tod wurde in vielen deutschen und Schweizer Zeitungen angezeigt und auch Nachrufe erschienen. Im Nachruf von Ingeborg Drewitz nannte sie ihre Emigrationslyrik »mutig, heimwehkrank und beinahe frech. Dieses Beinahe ist Mascha Kalékos Trick – oder ihre große Kunst; […] beinahe-glücklich-beinahetraurig. Ihr Spott trifft die Schwachheiten und Schwächen eines jeden, aber ihr Spott hat Mitleid.«28 In Berlin kann man ihre Spuren verfolgen.
Literatur Mascha Kalékos Bücher (Auswahl) Das lyrische Stenogrammheft. Verse vom Alltag. Berlin: Rowohlt 1933, Neuauflage 1956. Kleines Lesebuch für Große. Gereimtes und Ungereimtes. Berlin: Rowohlt 1935. Verse für Zeitgenossen. Cambridge, Mass.: Schoenhof Verlag 1945 USA; erweiterte Neuauflage: Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1958; Neuauflage Düsseldorf: Eremiten-Presse 1978. Verse in Dur und Moll. Mit Illustrationen von Bele Bachem. Olten und Freiburg: Walter Verlag 1967. Das himmelgraue Poesiealbum der Mascha Kaléko. Illustriert von Bele Bachem. Berlin 1968, Blanvalet.
26 Akademie der Künste Berlin, Ingeborg Drewitz –Archiv: Mascha Kaléko an Ingeborg Drewitz, 05. 06. 1974. 27 Kaléko, Mascha: Mein Lied geht weiter, S. 9. 28 Drewitz, Ingeborg: »Beinahe traurig, beinahe frech«. In: »Der Tagesspiegel« vom 23. Januar 1975, S. 4.
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In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Zoch-Westphal. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1977. Die paar leuchtenden Jahre. Herausgegeben, eingeleitet und mit der Biographie Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko von Gisela Zoch-Westphal. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2003. Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte. Herausgegeben und eingeleitet von Gisela ZochWestphal. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2007.
Sekundärliteratur Doerry, Martin: »Mein verwundetes Herz«. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2004. Drewitz, Ingeborg: Die Kaléko postum. In: »Der Tagesspiegel« vom 21. Dezember 1980. Hesse, Hermann: Neue deutsche Bücher. Literaturberichte für Bonniers Litterära Magasin (1935–1936). Herausgegeben von Bernhard Zeller. Marbach a. N.: Schiller-Nationalmuseum 1965. Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. Düsseldorf/Zürich: Artemis &Winkler Verlag 1998. Zoch-Westphal, Gisela: Begegnung mit Mascha Kaléko. In: »Die Begegnung« Nr. 16/1980– 1981, S. 188–191. Zoch-Westphal, Gisela: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko. Biographische Skizzen, ein Tagebuch und Briefe. Berlin: Rowohlt 1987. Rosenkranz, Jutta: Mascha Kaléko. Biographie. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2007.
Marek Krisch (Katowice)
Die Angst vor einer neuen Grenze in Hugo Hartungs Gewiegt von Regen und Wind
Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte bekanntlich eine Verschiebung der Grenzen in Mittel- und Osteuropa mit sich, Deutschland verlor dadurch seine Ostgebiete, wovon Polen profitieren sollte, das für die Gebietsverluste an die UdSSR im Osten entschädigt wurde. Dieser Prozess begann mit der Flucht der deutschen Bevölkerung, die aus durch die NS-Propaganda verstärkter Angst vor den Soldaten der Roten Armee erfolgte und in Schlesien mit der Zeit um den Einmarsch der Russen am 19. Januar 1945 (Überschreiten der Reichsgrenze durch die Sowjetarmee bei Guttentag und Kreuzburg O.S.) gleichzusetzen ist.1 Darauf folgte eine mehrmonatige Periode der Ungewissheit, in der die neue polnische Verwaltung vollendete Tatsachen zu schaffen versuchte, indem sie die Deutschen ohne Rechtsgrundlage, im Zuge der sog. »wilden« Vertreibungen aus ihrer Heimat entfernte.2 Die endgültige Grenzziehung und in der Konsequenz die Übertragung der Gebiete östlich der Oder und Lausitzer Neiße an Polen sowie die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung wurde erst während der Potsdamer Konferenz beschlossen, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof bei Potsdam stattfand. Zu den wohl am wenigsten bekannten Aspekten dieses Prozesses gehört die Tatsache, dass in dieser Zeit ungeklärter Zuständigkeiten viele Personen, die zunächst geflohen waren, nach dem Ende der Kampfhandlungen versuchten, in ihre Heimat zurückzukehren.3 Im Umfeld von Menschen, die ihre nieder- oder oberschlesische Heimat verließen, sich aber noch in der Nähe der einstweilig provisorischen Grenze aufhalten, in Hoffnung, 1 Vgl. Rogall, Joachim: Krieg, Vertreibung und Neuanfang. Die Entwicklung Schlesiens und das Schicksal seiner Bewohner von 1939–1995. In: Bahlcke, Joachim: Schlesien und die Schlesier. München: Langen Müller 2005, S. 156–223, hier S. 164. 2 Vgl. Borodziej, Włodzimierz: Ucieczka – wype˛dzenie – wysiedlenie przymusowe. In: Lawaty, Andreas/Orłowski, Hubert (Hg.): Polacy i Niemcy. Historia – kultura – polityka. Poznan´: Wydawnictwo Poznan´skie 2003, S. 98–106, hier S. 98–100. 3 Vgl. Rogall, Joachim: Krieg, Vertreibung und Neuanfang…, S. 165–166; Hryciuk, Grzegorz/ Ruchniewicz, Małgorzata/Szaynok, Boz˙ena/Z˙bikowski, Andrzej: Wysiedlenia, wype˛dzenia i ucieczki 1930–1959. Atlas ziem Polski. Warszawa: Demart 2008, S. 171.
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bald nach Hause zurückkehren zu dürfen, spielt die Handlung des Romans Gewiegt von Regen und Wind. Sein Autor, Hugo Hartung, gehört zu den Schriftstellern, die sich mit Schlesien befassten, ohne dort geboren zu sein. Er kam am 17. September 1902 in Netzschkau im sächsischen Vogtland als Sohn eines Gaswerkdirektors zur Welt. Seine Mutter war Sudetendeutsche. Hartung studierte in Leipzig, Wien und München Theaterwissenschaften sowie Literaturgeschichte, 1928 promovierte er. Von da an arbeitete er als Schauspieler und Dramaturg (an der Bayerischen Landesbühne) sowie freier Mitarbeiter literarischer Zeitschriften (unter anderem »Simplicissimus« und »Querschnitt«). Ab 1931 schrieb er dramatische Texte und Hörspiele. 1940, nachdem er vier Jahre zuvor mit dem Schreibverbot belegt wurde, kam Hartung als Dramaturg ans Breslauer Theater, wo er bis zum Ende des Krieges blieb und als Soldat am Festungskampf teilgenommen hatte. Von diesen Erfahrungen sind die ersten größeren epischen Arbeiten Hartungs geprägt, neben dem Roman Gewiegt von Regen und Wind aus dem Jahre 1954 auch die Novelle Der Deserteur oder die große Belmontische Musik (1948) und der Roman über die Verteidigung Breslaus Der Himmel war unten (1951).4 Die Besonderheit seiner Beziehung zu Schlesien schilderte der Schriftsteller folgendermaßen: Hier fühlte ich mich vom ersten Tage an wunderbar daheim. Da war Vaterland in den anmutigen Waldbergen und den goldenen Felderbreiten, doch auch im dunklen Fachwerk mittelalterlicher Häuser und Mühlen – da war Mutterland im Glatzer Bergland mit seinen barocken Kirchen, und das Barocke noch gesteigert zu köstlicher Vollendung in der Architektur der Breslauer Kirchen und Kapellen. Und es gab so viele echte Behaglichkeit und herzliches Gutsein unter einfachen Menschen, daß man Schlesien zur Wahlheimat machen mußte. Noch enger aber band das Leid des Untergangs, der Zerstörung und der Austreibung mich an dieses Land, daß es vollends geliebte, verlorene, unvergessene Heimat geworden ist.5
Nach dem Krieg lebte Hartung in West-Berlin und München. Ruhm erlangte er mit dem 1954 erschienenen Roman Ich denke oft an Piroschka, dessen »eigentümliche Mischung aus Sentiment, Autobiographie und behäbiger Bonhomie […] den Nerv des inzwischen wieder selbstbewußten, restaurativ-bürgerlichen Lesepublikums der Wiederaufbauzeit«6 traf. Zwar konnte Hartung 1957 mit dem Roman Wir Wunderkinder an seinen Erfolg anknüpfen, doch wirkte die 1972
4 Vgl. Lubos, Arno: Die schlesische Dichtung im 20. Jahrhundert. München: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1961, S. 51. 5 Zit. nach ebd., S. 51–52. 6 Sikora, Friedhelm: Hartung, Hugo. In: Kühlmann, Wilhelm (Hg.): Killy Literaturlexikon, Band 5, Har – Hug. Berlin: Walter de Gruyter 2009, S. 51.
Die Angst vor einer neuen Grenze in Hugo Hartungs Gewiegt von Regen und Wind
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erschienene Fortsetzung, Wir Meisegeiers, anachronistisch und versetzte den Schriftsteller in den Stand der Trivialautoren.7 Hugo Hartung starb am 2. Mai 1972 in München. Auch wenn 1982 eine Gesamtausgabe seiner Texte erschien, bleibt Hartungs Werk heute weitgehend vergessen. Die literaturwissenschaftliche Erforschung der Flucht-und-Vertreibungsliteratur, der die schlesischen Werke Hartungs zuzurechnen sind, hat sich vor allem seit den 1980er Jahren stark entwickelt. Zu den älteren, aber immer noch ausführlichsten Analysen dieser Strömung gehört die 1988 erschienene Monographie Der ungeheure Verlust: Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit von Louis Ferdinand Helbig. In den 1990er und 2000er Jahren folgten einige Sammelbände8, eine Anthologie9 sowie zahlreiche Studien, die sich dem Flucht-und-Vertreibungsdiskurs im Schaffen eines Autors10 bzw. in Bezug auf ein Vertreibungsgebiet11 widmeten. In der neuesten Monographie aus dem Bereich der Erforschung von Flucht-und-Vertreibungsliteratur beschäftigt sich Frauke Janzen mit der Problematik der Opferkonstruktion.12 Das biographische Forschungsparadigma ist in den meisten Studien insofern von Bedeutung, als bis in die 1970er Flucht-und-Vertreibungsliteratur fast ausschließlich von Autoren mit persönlichen Fluchterfahrungen geschaffen wurde, von denen die meisten wiederum, anders als Hartung, aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten auch stammten. Das Schaffen von Hugo Hartung spielt in den obengenannten Werken nur eine Nebenrolle. Bei Helbig werden seine Bücher beispielsweise lediglich in der Bibliographie aufgelistet,13 ohne dass sie der Autor einer eingehenden Analyse unterziehen würde. Arno Lubos, Verfasser der dreibändigen Geschichte der Literatur Schlesiens, sieht Hartungs Verdienst vor allem darin, die Ereignisse um 7 Vgl. ebd. 8 Siehe z. B. Kroll, Frank-Lothar (Hg.): Flucht und Vertreibung in der Literatur nach 1945. Berlin: Gebr. Mann 1997; Feuchert, Sascha (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001; Mehnert, Elke (Hg.): Landschaften der Erinnerung: Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001. 9 Siehe Helbig, Louis Ferdinand u. a. (Hg.): Verlorene Heimaten – neue Fremden. Literarische Texte zu Krieg, Flucht, Vertreibung, Nachkriegszeit. Dortmund: Forschungsstelle Ostmitteleuropa 1995. 10 Siehe z. B. Beyersdorf, Hermann Ernst: Erinnerte Heimat. Ostpreußen im literarischen Werk von Arno Surminski. Wiesbaden: Harrassowitz 1999. 11 Siehe z. B. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław: ATUT, Dresden: Neisse Verlag 2007. 12 Siehe Janzen, Frauke: Flucht und Vertreibung im literarischen Diskurs der BRD. Rhetoriken der Opferkonstruktion. Göttingen: V & R unipress 2021. 13 Vgl. Helbig, Louis Ferdinand: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesbaden: Harrassowitz 1988, S. 280.
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die Verteidigung der Festung Breslau »einem großen Lesekreis nahegebracht zu haben.«14 Es sind somit die mit der niederschlesischen Metropole verbundenen Werke Hartungs, insbesondere der Roman Der Himmel war unten, die auch heutzutage Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung im Bereich der Flucht-und-Vertreibungsliteratur werden.15 Auch die Grenze ist nicht unbedingt ein wichtiges Motiv dieser Strömung, was auf den ersten Blick vielleicht überraschen mag. Für die Zeitzeugen (der Flucht bzw. Vertreibung) wird sie, vor allem im damaligen Osten Deutschlands, insofern kaum eine Rolle gespielt haben, als ihr Verlauf mit den Fortschritten der alliierten Armeen ständig gewechselt haben wird. Möglicherweise werden die Autoren, die diese Zeit später literarisch umgesetzt haben, diese zur Sichtweise gewordene Gefühlslage später übernommen haben, indem sie also den Einmarsch der Roten Armee mit dem endgültigen Verlust der jeweiligen Gebiete gleichsetzten. Abgesehen von der Motivation bleibt festzuhalten, dass die Grenze weder im Allgemeinen noch im Besonderen ein bedeutendes Motiv der Flucht-und-Vertreibungsliteratur darstellt. Auch die von Hartung beschriebenen Ereignisse, die partielle Flucht, das erfolglose Warten auf die Rückkehr, finden in kaum einem anderen Werk dieser Strömung Niederschlag, jedenfalls nicht in der Länge. Auf Grund dessen wird im Folgenden, teilweise unter Bezugnahme auf die Mittel des Close reading, versucht, die von Hugo Hartung dargestellte Welt einer Analyse zu unterziehen und festzustellen, welche Dynamiken die Entwicklung der Handlung maßgeblich beeinflusst haben. Um den einstweiligen, chaotischen Charakter der von Hartung dargestellten Welt besser nachvollziehen zu können, erfolgt im Weiteren eine Inhaltsangabe. Die Handlung von Gewiegt von Regen und Wind spielt im Sommer 1945. In einem Haus auf der westlichen Seite der Neiße bereiten sich vier Schwestern: Leonore (genannt Leo), Siddy, Gitta und Agnes Jernach auf das Begräbnis ihres Vaters vor, Prof. Dr. med. Günther Jernach, der im Alter von 62 Jahren an einem Herzversagen starb. Während des Trauerzuges, an dem viele Dorfbewohner teilnehmen, denen der aus Breslau geflüchtete Doktor auch als Zahn- und sogar Tierarzt diente, kommt ihnen ein Mann auf einem Fahrrad entgegen. Es ist die Hauptfigur der Geschichte, der aus Oberschlesien stammende Pastor Paul Kendcinsky, der auf dem Weg in den Westen ist. Am nächsten Tag schlägt er den Schwestern vor, ihn zu begleiten. Doch für sie kommt es nicht in Frage, da die schwangere Gitta ihren Freund, Schauspieler Kurt Dörrberg, erwartet, der im Herbst 1944 einge-
14 Vgl. Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens. III. Band. München: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1974, S. 350. 15 Siehe z. B. die Dissertation von Bär, Julia: Zwischen »Festung Breslau« und »verlorener Heimat«. Erinnerungen an Breslau im Nachkriegsroman der BRD und der DDR aus dem Jahr 2016 (Frankfurt/Oder: Europa-Universität Viadrina Frankfurt).
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zogen wurde und ihre neue Adresse kennt. Der Pastor kann unterdessen nicht weiterfahren, da sein Fahrrad gestohlen wurde. Inzwischen werden in Breslau vierzig Invaliden, die an der Verteidigung der Festung Breslau tätig waren, wieder entlassen. Unter ihnen ist Kurt Dörrberg, der sich mit einigen anderen auf den Weg zuerst nach Hirschberg macht. Nach einigen Tagen kommt die Gruppe an eine Brücke, die momentane Grenze. Beim Versuch, diese zu überqueren, wird Dörrberg erkannt. Der russische Soldat bemerkt etwas in seiner Hand und schießt, Dörrberg fällt in den Abgrund. Unter den Geflüchteten kreist das falsche Gerücht von der baldigen Öffnung der Brücken. Viele Menschen machen an diesem Tag den Weg zur Brücke und dann wieder zurück. Das Gerücht gibt den Menschen Kraft zum Leben und lässt sie die alltäglichen Sorgen vergessen: So gab es an diesem Tag allenthalben ein verstohlenes Sichzulächeln unter Fremden, die einander begegneten, das stille Einvernehmen von Wissenden und ihrer Sache Gewissen. Niemand wußte, wer das Gerücht aufgebracht hatte: bald, sehr bald schon würden die Brückenposten eingezogen und man dürfe wieder hinüber in die alte Heimat. Es gelte nur, die Augen offenzuhalten und rechtzeitig bereit zu sein.16
Hunderte von Menschen bereiten sich auf den Rückweg vor, auch Agnes möchte mitgehen. Der Pastor entscheidet sich, sie zu begleiten, in der Hoffnung, die Menschen zur Umkehr bewegen zu können. Die Menschenschar zählt ein bis zwei Tausend. An der Brücke angekommen, bleibt die Menge stehen. Der Pastor geht den mit gestreckten Maschinenpistolen stehenden Rotarmisten entgegen, obwohl er sich des Misserfolgs sicher ist. Die Verhandlungen mit dem Kommandanten bringen nichts. Die müde, enttäuschte und hoffnungslose Gruppe kehrt um. Der Pastor entscheidet sich, auf die andere Seite des Flusses hinüberzuschwimmen, um die Vorräte einer Frau, die ihn einst darum bat, mitzubringen. In der Nacht macht sich Kendcinsky auf den Weg, doch jemand folgt ihm: überrascht stellt er fest, dass es Leonore ist, die ihm damit danken will. Sie gehen den von der Hausbesitzerin beschriebenen Weg und träumen schon von ihren Vorräten. Da der Tag anbricht, warten sie. Doch das Haus ist im Innern verwüstet, selbst die Möbel liegen zerhackt auf einem Haufen. Kendcinsky bemerkt zwei draußen angelehnte Fahrräder und versteckt sich mit Leo im Keller, von dem aus ein stickiger Geruch ausgeht. Zwei junge Männer kommen ins Haus und schimpfen (auf Polnisch, das der Pastor versteht) auf die Umstände, ziehen dann aber weiter. Kendcinsky, der trotz des Zustandes noch daran glaubte, die gut
16 Hartung, Hugo: Gesamtausgabe in 8 Bänden. Band 2: Gewiegt von Regen und Wind. Schlesien 1944/45. München: Schneekluth 1982, S. 124.
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getarnte Kammer sei unversehrt geblieben, wird brutal enttäuscht: auf dem Boden liegen in Saftpfützen Topfscherben und verfaulende Fleischreste. Unterwegs hören der Pastor und Leo die Aufforderung, alle Flüchtlinge hätten zu den ihnen zugewiesenen Aufnahmegebieten zurückzukehren. Am nächsten Morgen bricht die sechsköpfige Gruppe, bestehend u. a. aus den Schwestern und dem Pastor, auf. Am gleichen Tag wollen sie dreißig Kilometer zurücklegen und schon in Sachsen ankommen, doch ihre Kräfte schwinden schneller als erwartet. Unterwegs essen sie im protestantischen Pfarrhaus, auch wenn sie dort wie Bettler empfangen werden.17 Zwischendurch regnet es, so dass sie langsamer vorankommen und im Wald übernachten müssen. Kendcinsky erwacht in der Nacht und entschließt sich, die Gruppe zu verlassen. Er nimmt seinen Rucksack und geht weg. Wenige Deutsche sind noch westlich der Neiße geblieben, unter ihnen ein Mann, der jeden Tag mit einem Fernrohr nach seinem Haus auf der anderen Seite des Flusses Ausschau hält. An dem Tag bemerkt er zum ersten Mal einen Steg neben der Eisenbahnbrücke und sieht sich schon auf dem Nachhauseweg. Er bricht zusammen, sein Fernrohr verschwindet im Wasser. Hugo Hartung schildert in seinem Roman den Untergang des deutschen Schlesiens. Das Buch ist als Momentaufnahme zu betrachten, Dokument einer Zeit voller Ungewissheit, wiederkehrender und immer utopischer werdender Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu dürfen, sowie Angst vor der Zukunft. Die Grenze, die hier der Fluss bildet, hat zwar nur provisorischen Charakter, trennt die Figuren aber sowieso von ihrem bisherigen Leben, und das für immer – wie sie später erfahren werden. Der Verlust der Heimat verändert jedoch nicht nur den Besitzstand der Menschen, er prägt ihre ganze Weltanschauung. Der so zustande kommende Wandel ist am Beispiel der Hauptfigur am deutlichsten. Der aus einer oberschlesischen Arbeiterfamilie und zuletzt in einem Dorf tätige Pastor sieht sich vor Fragen und Probleme gestellt, die seinen Glauben an Gott auf eine harte Probe stellen. Er, der anfangs Bedenken hatte, als Protestant das Begräbnis eines Katholiken zu halten, verzweifelt mehr und mehr. Als er von Leonore hört, alles sei »[…] Dreck. Die Kameradschaft […], die Liebe – alles!«18, weiß er nichts darauf zu erwidern. Der Erzähler meint, Kendcinsky wäre in dieser Situation »hilflos wie nie zuvor in seinem Leben und Beruf.«19 Sein Versagen, »vielleicht auch das des eigenen Standes und seiner geheiligten, geglaubten Institution«,20 wird ihm aber 17 Zur Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in Ost- und Westdeutschland siehe: Kossert, Andreas: Kalte Heimat. die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler Verlag 2008. 18 Hartung, Hugo: Gesamtausgabe in 8 Bänden. Band 2: Gewiegt von Regen und Wind…, S. 110. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 113.
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immer offensichtlicher. Der Erzähler sieht ihn als einen »nur noch müden, enttäuschten und hoffnungslosen Menschen.«21 Ähnliche Probleme plagen nicht nur den Pastor. Leonore formuliert dies in folgenden Worten: »Ich glaube, er ist kein Pastor mehr, so wie du kein Bauer mehr bist und ich keine Leonore Jernach. Er ist auch heimatlos in allem, verstehst du – auch in seinem früheren Beruf …«.22 In dieser Heimatlosigkeit, deren sich Kendcinsky bewusst ist, sieht er eine große Gefahr auch für die Zukunft. Im Gespräch mit Leonore meint er: […] vielleicht igeln sie [die Vertriebenen] sich eines Tages in ihre Heimatlosigkeit ein – und vergessen die Millionen anderer Heimatloser in aller Welt. Oder sie vergessen die eigene Heimatlosigkeit und die ewige Gefangenschaft, sobald es ihnen wieder gut geht. Aber es genügt wohl, wenn es ein paar unter ihnen gibt, die in ihrer Fremdheit – in ihrer Verlorenheit – in all ihrem Elend zum Grundstein eines Neuen werden, zum ›Eckstein‹, wie der Psalmist sagt …23
Doch dieser Fall kann nur dann eintreten, wenn die Menschen allein mit ihrer Lage zurechtkommen. Denn der Pastor hält auch eine andere Situation – das Überlassen des Mitleids an eine Organisation – für gefährlich. Er meint: »Das entlastet unser Gewissen […] und die meisten denken, wenn sie möglichst viel Lärm und Betrieb machen, sei das eine Arznei gegen ihre Einsamkeit. Aber sie spüren sie dadurch um so mehr …«.24 Diese Worte lesen sich wie ein Verweis auf die kurz nach dem Krieg entstandenen Vertriebenenverbände, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches (1954) eine bedeutende Rolle im westdeutschen politisch-öffentlichem Leben spielten.25 Man könnte daraus schlussfolgern, dass sich der Erzähler gegen die Ausbeutung des Leids der Vertriebenen zu politischen Zwecken wendet. Der Erzähler deutet immer wieder darauf hin, dass dieses Schicksal nicht nur den Reichen, auch nicht nur den Armen oder irgendeiner Gruppe allein, sondern allen Schlesiern zuteil wurde: »Da gab es verhuschte Kleinbürger neben Großstädtern, denen man ansah, daß sie sich verwegen getarnt hatten, um nicht im allgemeinen grauen Elendsstrom durch ihre Kleidung oder ihr Benehmen aufzufallen.«26 Auch so ist die Herkunft der Jernach-Schwestern zu erklären: obwohl aus reichem Hause stammend, teilen sie das Schicksal aller Vertriebenen.
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Ebd., S. 169. Ebd., S. 134. Ebd., S. 209. Ebd., S. 208. Vgl. Stickler, Matthias: Vertriebenenverbände. Publiziert am 19. 08. 2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vertriebenen verbände / letzter Zugriff am: 13. 12. 2021. 26 Hartung, Hugo: Gesamtausgabe in 8 Bänden. Band 2: Gewiegt von Regen und Wind…, S. 40.
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Die Periode, in der die Handlung spielt, ist vom Warten und von der Hoffnung gekennzeichnet. Die meisten Menschen glauben an jedes kleinste, undenkbar erscheinende Gerücht von der Rückkehr. Wenn sie von ihrem Zuhause erzählen, wollen sie es fast mit bloßen Augen sehen. Nachdem erneut ein Gerücht in Umlauf gebracht wird, stellt der Erzähler fest: Sie träumten zurück und sie träumten voraus –, und eine alte Frau holte in ihren vorauseilenden Gedanken schon die großen Steintöpfe aus dem Versteck. Und eine andere Frau, die gar nicht mehr jung war, sah sich in einer weißen Hochzeitskutsche über die Oder fahren, mit schönen Girlanden künstlicher Röschen vor den Fenstern.27
Diese Träume gehen also oft ins Utopische, Märchenhafte. Jeder, der, wie der Pastor, die Lage vernünftig zu sehen versucht, wird schnell als Verräter abgestempelt. Doch mit der Zeit werden die Hoffnungen immer kleiner: »Mit dem Schwinden der Lichtminuten schwanden auch die Hoffnungen der Schlesier auf baldige Heimkehr. Ihre Gedanken waren, über den Herbst hinweg, schon beim Winter. Sie fürchteten sich vor dem Winter und wußten, daß sie ihn nicht mehr an der Neiße würden verleben dürfen; denn von Tag zu Tag wurden die Nahrungsmittel knapper […].«28 Nachdem die Schwestern, der Pastor und andere Protagonisten die Gegend verlassen haben, zeichnet der Erzähler am Ende des Buches das folgende Bild: Die Schlesier, welche einst an diesem Ufer zu Zehntausenden gesessen und auf den Tag ihrer Rückkehr gewartet hatten, waren längst abgewandert, eine Menschenflut, die in zahllosen kleinen Rinnsalen im Westen oder in der Mitte Deutschlands versickert war. Zurückgeblieben waren nur ein paar Einsame und Sterbende, die völlig Hoffnungslosen und jene, welche den Verlust ihrer Heimat nicht glauben konnten.29
In einigen Passagen dienen dem Erzähler Naturereignisse als direkter oder indirekter Kommentar. Sie spiegeln die Stimmung der Menschen wider oder werden mit ihrem Verhalten verglichen, obgleich der Erzähler die Einschränkungen dieser Vergleiche erkennt und benennt: Es waren aber Wetter und Klima im Lande Schlesien während dieses Sommers 1945 so rasch wechselnd und unbeständig wie die Stimmung der Menschen, ohne daß deren wetterwendische Sprunghaftigkeit vom hohen oder tiefen Druck der Atmosphäre bestimmt gewesen wäre. Der Mensch selbst schuf sich schlimmere Qual, als ihm je die Natur bereiten konnte. Hätte sonst nicht der vorausgegangene Frühling, der gesegnet war mit Sonnenglanz und einer rauschhaften Blütenfülle, nur Glückliche kennen müssen, statt der
27 Ebd., S. 161. 28 Ebd., S. 171. 29 Ebd., S. 234–235.
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Verzweifelten in den untergehenden Städten, in den vielfältig gequälten Dörfern und auf den Schienenstraßen und Waldpfaden der Flucht […]?30
Noch deutlicher wird dieser Kommentar im folgenden Fragment: »In den schwärzer werdenden Wolkentürmen jenseits des Flusses leuchteten Blitze auf, denen kein Donner nachfolgte. ›Wetterleuchten‹, sagte Kendcinsky. ›Wetterleuchten…‹ ›Aber es wird wohl nicht zu uns kommen.‹ ›Es wird auch über uns kommen!‹ antwortete das Mädchen.«31 Ähnlich furchterregend und unheimlich, sogar apokalyptisch, wirkt die Beschreibung eines Kirchenbrands auf der anderen Seite der Neiße: Der Mitternachtsblitz fuhr im toten Land in einen Kirchturm, der zu brennen begann. […] Der Kirchturm durfte brennen, niederbrennen bis auf die Pfarrherrngräber zu seinen steinernen Füßen; denn kein Brandhorn vermochte die einzigen Schläfer dieses Dorfes je zu wecken. Aber es ertönte auch kein Horn. Kein angstvolles Hundejaulen, kein unruhiges Muhen aus den Ställen begleiteten die Melodie seines Untergangs: das leise Stöhnen der kleinsten Betglocke, das Fauchen und Prasseln im feurigen Treppenschacht. ›Dem HERRN zur Ehre in Ewigkeit, errichtet im Jahre des Heils 1587‹ wurde der Kirchturm in heilloser Zeit vernichtet, 1945, in einer Julimitternacht …32
Die Erzählweise ist konventionell, wie an den Beispielen zu sehen, der Text beinhaltet zahlreiche Elemente der Erzählerrede: neben dem Erzähler- und Gedankenbericht auch Redewiedergabe und Beschreibung sowie Kommentare. An manchen Stellen wendet sich der Erzähler an seine Figuren: »Wäre es Treulosigkeit, wenn du jetzt gingest, Paul Kendcinsky? Du mußt sogar gehen […]. Du hast das Deine getan und vielleicht ist manches gut gewesen!«33 Der Erzähler versucht, was an den bereits angeführten Beispielen deutlich werden sollte, das Schicksal der vertriebenen Schlesier zu verallgemeinern und mit dem Leid anderer Menschen auf der ganzen Welt in Verbindung zu bringen. Er bleibt seinem Vorhaben treu, auch im folgenden Satz: »Tausende, Hunderttausende mochten so zu dieser Stunde in Wäldern liegen, gewiegt in Regen und Wind – in anderen Ländern auch, in anderen Kontinenten.«34 Diese Verallgemeinerung scheint jedoch nicht nur die Leiden der Menschen zu betreffen, vielmehr sieht der Erzähler in seiner Erzählung nur die Variante einer Geschichte, die sich zur gleichen Zeit auf der ganzen Welt abspielt. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass gerade im ersten Kapitel, welches der eigentlichen Handlung vorausgeht und den Titel Die Brücke trägt, Brücken auf der ganzen Welt aufgezählt werden, im Zusammenhang mit verschiedenen Er30 31 32 33 34
Ebd., S. 123. Ebd., S. 61. Ebd., S. 119. Ebd., S. 233. Ebd.
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eignissen, nicht nur militärischer Art, z. B. mit einem Verkehrsunfall in San Franzisko oder mit dem Treffen eines Liebespaares bei Sion. Es heißt darin auch: »In den gleichen Stunden, Tagen und Wochen des Sommers 1945 […] entschieden sich viele Schicksale auf den Brücken der Welt: in Nacht und Einsamkeit, in Mond- und Sternenlicht, in Lärm und praller Mittagssonne – auf Brücken aus Holz und Stein, aus Eisen und Beton, regenübersprüht, schneeüberweht, hitzeglühend und eisglatt.«35 Die »Neißebrücke, ein wenig flußabwärts von Görlitz«36 hat im Buch insofern eine große Bedeutung, als sie die Grenze und das symbolische Tor zur Heimat auf der einen sowie den buchstäblichen Ort des Geschehens (der Tod Kurt Dörrheims) auf der anderen Seite bildet. Der Erzähler will den gegenwärtigen Charakter einer trennenden Brücke nicht akzeptieren und träumt sich in eine bessere Zukunft: Denn es ist nicht der Sinn einer Brücke, daß darauf geschlagene Soldaten ziehen, daß man Frauen und Kinder über sie verjagt, daß auf ihr ein Mann den andern würgt oder mit einer Maschinenpistole abschießt – es ist ihre Bestimmung, daß Reis über sie getragen werde, daß Liebende sich auf ihr begegnen oder einander in hellen Zügen umarmen …37
Hugo Hartungs leistet mit Gewiegt in Regen und Wind einen aufschlussreichen Beitrag zur langen Reihe der Vertreibungsromane. Helbig schlägt in seiner umfassenden Studie eine vorwiegend chronologische Einteilung der belletristischen Vertreibungsliteratur in Phasen vor.38 Folgt man ihm dabei, wäre Hartungs Roman sowohl der Erlebnisphase (ca. 1945–1955), als auch der Dokumentationsphase (ca. 1950–1960er) zuzurechnen. Ästhetisch gesehen ist das Buch durchaus als ein Vertreibungsroman zu identifizieren, inhaltlich lassen sich ohnehin Vergleiche zu Werken aus den 1950er Jahren (Ernst Wiecherts Missa sine nomine, 1950; Hanna Stephans Engel, Menschen und Dämonen, 1951) als auch späteren (Hajo Knebels Jahrgang 1929, 1962; Monika Taubitz’ Durch Lücken im Zaun, 1977) ziehen. Hervorzuheben ist Gewiegt in Regen und Wind vor allem wegen des einstweiligen Charakters der von Hartung erschaffenen Welt, der Darstellung einer nur wenige Wochen bestehenden Gemeinschaft. Die Neiße und die Neißebrücke sollten bald ihren einstweiligen Charakter einbüßen und zur permanenten Grenze werden, womit jede Hoffnung der Geflüchteten auf die Rückkehr in die Heimat zunichte war. Es mussten noch Jahrzehnte vergehen, bis die vom Erzähler
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Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Ebd. Vgl. Helbig, Louis Ferdinand: Der ungeheure Verlust, S. 65.
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geäußerte Hoffnung auf die andere, die verbindende Funktion der Brücke, in Erfüllung gehen durfte.
Literatur Bahlcke, Joachim: Schlesien und die Schlesier. München: Langen Müller 2005. Hartung, Hugo: Gesamtausgabe in 8 Bänden. Band 2: Gewiegt von Regen und Wind. Schlesien 1944/45. München: Schneekluth 1982. Beyersdorf, Herman Ernst: Erinnerte Heimat. Ostpreußen im literarischen Werk von Arno Surminski. Wiesbaden: Harrassowitz 1999. Feuchert, Sascha (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001. Helbig, Louis Ferdinand: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesbaden: Harrassowitz 1988. Helbig, Louis Ferdinand, u. a. (Hg.): Verlorene Heimaten – neue Fremden. Literarische Texte zu Krieg, Flucht, Vertreibung, Nachkriegszeit. Dortmund: Forschungsstelle Ostmitteleuropa 1995. Hryciuk, Grzegorz/Ruchniewicz, Małgorzata/Szaynok, Boz˙ena/Z˙bikowski, Andrzej: Wysiedlenia, wype˛dzenia i ucieczki 1930–1959. Atlas ziem Polski. Warszawa: Demart 2008. Janzen, Frauke: Flucht und Vertreibung im literarischen Diskurs der BRD. Rhetoriken der Opferkonstruktion. Göttingen: V&R unipress 2021. Kossert, Andreas: Kalte Heimat. die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler Verla 2008. Kroll, Frank-Lothar (Hg.): Flucht und Vertreibung in der Literatur nach 1945. Berlin: Gebr. Mann 1997. Kühlmann, Wilhelm (Hg.): Killy Literaturlexikon, Band 5, Har – Hug. Berlin: Walter de Gruyter 2009. Lawaty, Andreas/Orłowski, Hubert (Hg.): Polacy i Niemcy. Historia – kultura – polityka. Poznan´: Wydawnictwo Poznan´skie 2003. Lubos, Arno: Die schlesische Dichtung im 20. Jahrhundert. München: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1961. Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, III. Band. München: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1974. Mehnert, Elke (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001. Stickler, Matthias: Vertriebenenverbände. Publiziert am 19. 08. 2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vertriebe nenverbände / letzter Zugriff am 13. Dezember 2021. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław: ATUT, Dresden: Neisse-Verlag 2007.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes
Monika Blidy, Schlesische Universität in Katowice, Dr. phil. 2013 Promotion zum Spätwerk des sorbisch-deutschen Schriftstellers Jurij Breˇzan. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Minderheitenliteraturen, deutsch-slavische Kulturund Literaturbeziehungen, Raum-Repräsentationen in der Literatur / Geopoetik, intermediale Verflechtungen zwischen Literatur und Kunst. E-Mail-Adresse: [email protected]. Karsten Dahlmanns, Schlesische Universität in Katowice, Dr. phil. habil., Univ.Prof. Forschungsschwerpunkte: Grundlagen des freiheitlichen Staates, Kritik des Antiliberalismus; ausgewählte Aspekte deutschsprachiger Literatur 1890–1945, Literatur und Publizistik der Gegenwart. E-Mail-Adresse: karsten.dahlmanns@ us.edu.pl. Małgorzata Dubrowska, Katholische Universität Lublin, Dr. phil. habil., Univ.Prof. Forschungsschwerpunkte: Exilliteratur, Literatur und Gedächtnis, deutschjüdische Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Post-Shoah-Generation, DDR-Literatur. E-Mail-Adresse: [email protected]. Zbigniew Feliszewski, Schlesische Universität in Katowice, Dr. phil. habil., Univ.Prof. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachiges Gegenwartsdrama, Drama und Theater Bertolt Brechts, Theaterpraxis und Theatertheorie im Kulturtransfer, Literatur in der Konsumtheorie, Spannungsfeld von Film und Literatur. E-Mail-Adresse: [email protected]. Clemens Fuhrbach, Universität zu Köln, M.A. Forschungsgebiete: Dialogische Theorie und polyphone Autorschaft, Politik und Literatur; Heinrich Böll, Hannah Arendt, Jürgen Habermas; Digitalisierung. E-Mail: mail@clemensfuhr bach.com.
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Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes
Katarzyna Grzywka-Kolago, Universität Warschau, Prof. Dr. habil. Forschungsschwerpunkte: Märchenforschung, Korrespondenz der Künste, insbesondere Literatur-Musik-Beziehungen, Salonkultur, Raumproblematik in der Literatur und Kultur, Werk von Hanns-Josef Ortheil. E-Mail-Adresse: [email protected]. Marek Krisch, Schlesische Universität in Katowice, Dr. phil. Promotion zum Bild Oberschlesiens in der deutschen Nachkriegsprosa. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur Oberschlesiens, Spannungsfeld von Film und Literatur. E-Mail: [email protected]. Nina Nowara-Matusik, Schlesische Universität in Katowice, Dr. phil. habil., Univ.Prof. 2008 Promotion über Frauenbilder im Prosawerk Ina Seidels. Habilitation 2017 über Künstlerproblematik bei Eberhard Hilscher. Seit 2019 hauptverantwortliche Redakteurin der Open-Access-Zeitschrift »Wortfolge. Szyk Słów«. Forschungsschwerpunkte: Leben und Werk von Eberhard Hilscher, Künstlerproblematik in der Literatur, deutschsprachige Literatur von Frauen, Phantastik, Imagologie, Literatur in Oberschlesien. E-Mail-Adresse: [email protected]. Anna Rutka, Katholische Universität Lublin, Dr. phil. habil., Univ.-Prof. Forschungsgebiete: Literatur von deutschen und österreichischen Autorinnen nach 1945, Gender Studies, Ökonomie als Thema der Literatur, literarische Krisenund Katastrophennarrative in der Prosa des 21. Jahrhunderts, literarischer Erinnerungsdiskurs, Shoah-Gedächtnis in neuester deutschsprachiger und polnischer Literatur. E-Mail-Adresse: [email protected]. Ralf Schnell, Professor em. für Germanistik / Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, Rektor der Universität Siegen von 2006 bis 2009. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literaturgeschichte und Medienwissenschaft. Mitherausgeber der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (1999–2010), Sprecher des Kulturwissenschaftlichen DFG-Forschungskollegs »Medienumbrüche« (2002–2006) sowie Mitherausgeber und Sprecher des Herausgebergremiums der Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls (27 Bde.). Hannelore Scholz-Lübbering, Prof. Dr. habil. Promotion zum Thema Zur Herausbildung romantischer Kunstauffassungen von August Wilhelm Schlegel an der Humboldt-Universität zu Berlin. Habilitationsschrift: Widersprüche im bürgerlichen Frauenbild. Zur poetischen Praxis und theoretischen Reflexion bei Lessing, Schiller und Friedrich Schlegel. Von 1976 bis 2006 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gastprofessuren u. a. in Providence/Rhode Island (USA), Columbus (USA), Wrocław, Sofia, Veliko Tarnovo, Tokyo, Amsterdam, Katowice und Stettin. Berufung als Professorin in die Akademie in Gorzόw Wielkopolski. Pu-
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blikationsschwerpunkte: Deutsche Literatur der Aufklärung, Klassik, Romantik, Deutsche Frauenliteratur, feministische Literaturtheorie, Kulturwissenschaft im Ost-West-Vergleich, Literatur und Multimedia, deutsch-polnische Regionalliteratur. Arletta Szmorhun, Universität Zielona Góra, Dr. phil. habil., Univ.-Prof. Forschungsschwerpunkte: neueste deutschsprachige Literatur im Kontext aktueller Diskurse von Macht und Gewalt, Körper und Sexualität sowie Fremdheit und Andersheit. Paweł Zimniak, Universität Zielona Góra, Prof. Dr. habil. 1984–1989 Germanistik-Studium in Zielona Góra und Berlin, 1995 Promotion; 2007 Habilitation an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Direktor des Instituts für Germanistik der Universität Zielona Góra; Forschungsschwerpunkte: Literatur und Gedächtnis, Macht- und Kriegsdiskurse, literarischer Regionalismus.