Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970) 3515108866, 9783515108867

Eine integrale Verbindung von Universitäts-, Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte ist nach wie vor ein Desiderat,

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German Pages 381 [386] Year 2014

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Inhalt
Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland 1945 bis ca. 1970: Einleitung
Wissenschaft, Öffentlichkeit und die Rolle der Medien: Problematik, Konzepte und
Forschungsfragen
„Die Aristokratie des Geistes soll jedem offenstehen nach dem Maße seiner Begabung und freien Selbsterziehung“. Die soziale Öffnung der Universitäten als politisches Reformziel nach 1945
Technik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit: Darmstädter Ingenieure zwischen
Reformrhetorik und Wirklichkeit
Des Einen Image ist des Andren Propaganda:
Der Dokumentarfilm Eine Freie Universität (1949)
Universität und Öffentlichkeit in der Expansions- und Reformphase des deutschen Hochschulwesens (1955–1967)
Liberalisierung der Gesellschaft durch Bildungsreform: Ralf Dahrendorf zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeitin den 1960er Jahren
Der politische Gebrauchswert der Hochschulforschung. Zum Verhältnis von Hochschulforschung und Hochschulpolitik in den Jahren von Bildungsboom und Hochschulexpansion (1960 bis 1975)
Aufstieg und Niedergang der Demokratisierung: Der Bund Freiheit der Wissenschaft und die Hochschulreform der frühen 1970er Jahre
Wissenschaft als öffentliches Anliegen. Das nationalpädagogische Sendungsbewusstsein des Literaturhistorikers Hermann August Korff (1882–1963)
Arnold Bergstraesser als Vermittler zwischen Wissenschaft, Politik, Militär und Öffentlichkeit in den 1950er Jahren
„Das akademische Glashaus zertrümmern“? Medienrepräsentationen, Medienwirkungen und Medienstrategien in der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre
Neuigkeiten für „Lieschen Müller“ – Innovationen der Medizin im Stern 1948 bis 1955
Vertrauensbildende Maßnahmen: Die Medizinische Fakultät Freiburg und ihr Verhältnis zur
Öffentlichkeit in den 1950er Jahren am Beispiel der Poliomyelitis-Impfung
Wandel medi(k)aler Öffentlichkeiten? Standespresse als Gestaltungsraum intraprofessioneller und gesellschaftspolitischer Diskurse in der frühen Bundesrepublik
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Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970)
 3515108866, 9783515108867

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SebaStian brandt / ChriSta-irene Klein / nadine Kopp / Sylvia paletSCheK / livia prüll / olaf SChütze (hg.)

Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970) Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag

Sebastian Brandt / Christa-Irene Klein / Nadine Kopp / Sylvia Paletschek / Livia Prüll / Olaf Schütze (Hg.) Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland

Sebastian Brandt / Christa-Irene Klein / Nadine Kopp / Sylvia Paletschek / Livia Prüll / Olaf Schütze (Hg.)

Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970)

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung: Studentendemonstration gegen Bildungsnotstand, Universität Freiburg 1. Juli 1965, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 134 Nr. 072616d.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10886-7 (Print) ISBN 978-3-515-10889-8 (E-Book)

Inhalt Christa-Irene Klein, Olaf Schütze, Sylvia Paletschek, Livia Prüll und Sebastian Brandt Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland 1945 bis ca. 1970: Einleitung ..................................................................................................

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Sybilla Nikolow Wissenschaft, Öffentlichkeit und die Rolle der Medien: Problematik, Konzepte und Forschungsfragen ................................................... 39 Barbara Wolbring „Die Aristokratie des Geistes soll jedem offenstehen nach dem Maße seiner Begabung und freien Selbsterziehung“. Die soziale Öffnung der Universitäten als politisches Reformziel nach 1945 ........................................... 59 Isabel Schmidt Technik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit: Darmstädter Ingenieure zwischen Reformrhetorik und Wirklichkeit................. 77 Charlotte A. Lerg Des Einen Image ist des Andren Propaganda: Der Dokumentarfilm Eine Freie Universität (1949) .......................................... 97 Sebastian Brandt Universität und Öffentlichkeit in der Expansions- und Reformphase des deutschen Hochschulwesens (1955–1967) ................................................... 115 Franziska Meifort Liberalisierung der Gesellschaft durch Bildungsreform: Ralf Dahrendorf zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in den 1960er Jahren ........................................................................................... 141 Wilfried Rudloff Der politische Gebrauchswert der Hochschulforschung. Zum Verhältnis von Hochschulforschung und Hochschulpolitik in den Jahren von Bildungsboom und Hochschulexpansion (1960 bis 1975) .......................................................... 161

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Inhalt

Nikolai Wehrs Aufstieg und Niedergang der Demokratisierung: Der Bund Freiheit der Wissenschaft und die Hochschulreform der frühen 1970er Jahre ...................................................................................... 195 Anna Lux Wissenschaft als öffentliches Anliegen. Das nationalpädagogische Sendungsbewusstsein des Literaturhistorikers Hermann August Korff (1882–1963) ................................................................. 219 Christa-Irene Klein Arnold Bergstraesser als Vermittler zwischen Wissenschaft, Politik, Militär und Öffentlichkeit in den 1950er Jahren............................................................. 243 Stephan Petzold „Das akademische Glashaus zertrümmern“? Medienrepräsentationen, Medienwirkungen und Medienstrategien in der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre ................................................................ 277 Livia Prüll Neuigkeiten für „Lieschen Müller“ – Innovationen der Medizin im Stern 1948 bis 1955............................................. 301 Nadine Kopp Vertrauensbildende Maßnahmen: Die Medizinische Fakultät Freiburg und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit in den 1950er Jahren am Beispiel der Poliomyelitis-Impfung................................ 323 Sigrid Stöckel Wandel medi(k)aler Öffentlichkeiten? Standespresse als Gestaltungsraum intraprofessioneller und gesellschaftspolitischer Diskurse in der frühen Bundesrepublik ........................ 343 Autoren ............................................................................................................... 369 Register ............................................................................................................... 373

Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland 1945 bis ca. 1970: Einleitung1 Christa-Irene Klein/Olaf Schütze/Sylvia Paletschek/Livia Prüll/Sebastian Brandt Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte nach 1945 sind ein integraler Bestandteil deutscher Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Der populäre Mythos vom universitären Elfenbeinturm suggeriert den Eindruck, dass Wissenschaft losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen, gewissermaßen „außen vor“, als Selbstzweck und gelenkt vom idealistischen Erkenntnisinteresse der Forschenden betrieben würde. Eine solche esoterisch anmutende Gesellschaftsferne als herausragendes Merkmal von Universität und Wissenschaft zu bezeichnen, verkennt die Verhältnisse. Universitäten standen nie außerhalb der Gesellschaft: So dienten sie in der frühen Neuzeit vornehmlich der Ausbildung und Rekrutierung von Staatsdienern, im 19. Jahrhundert trat neben der akademischen Ausbildung der Eliten die wissenschaftliche Forschung als zunehmend dominierende Aufgabe hinzu. Die Finanzierung der immer teurer werdenden Universitäten und Wissenschaften sowie die gesellschaftliche Relevanz ihrer Erträge gerieten seit den Jahrzehnten um 1900 verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses. Die Durchdringung aller Lebensbereiche durch Wissenschaft war ein neuartiges Phänomen, das sich seit Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnete und in den Jahren nach 1945 eine neue Qualität und Quantität erreichte. Die durch wissenschaftliche Wissensproduktion entstandenen Anwendungsmöglichkeiten erwuchsen nicht nur aus den Natur-, Medizinund Technikwissenschaften, sondern ebenso aus den Geisteswissenschaften. Im Zuge der wachsenden Demokratisierung und Medialisierung der westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mussten sich Universitäten und Wissenschaften in Westdeutschland neuen Herausforderungen stellen und sich, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Zeit, gesellschaftlich neu positionieren. In den 1950er Jahren sticht besonders das „demographische Erdbeben“ an den Universitäten hervor,2 d. h. der bis dahin ungekannte Anstieg der Studierendenzahlen und die zunehmende Akademisierung der gesellschaftlichen Eliten. Diese Bildungsexpansion erschütterte institutionelle Organisationsstrukturen und traditionelle Selbstbilder, sie brachte spätestens mit den Studentenunruhen der 1960er Jahre auch gesamtgesellschaftliche Grundfesten ins Wanken.

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Die Herausgeber und Herausgeberinnen danken Mirjam Höfner für die Unterstützung bei der Redaktion dieses Bandes. Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: dtv, 201211, S. 380.

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Universität, Wissenschaft und Gesellschaft Die historische Bearbeitung von Hochschulen und Universitäten bildete lange Zeit kein systematisch oder nachhaltig bearbeitetes Forschungsfeld, sondern war in der Regel an konkrete Anlässe gebunden – und ist es durchaus auch heute noch. Insbesondere Jubiläumsfeiern stellen weiterhin einen entscheidenden Antrieb für universitätsgeschichtliche Forschung dar.3 Trotz der noch immer engen Verbindung zeichnete sich in den vergangenen Jahrzehnten eine langsame Ablösung der Universitätsgeschichte vom „Verwertungskontext“ Jubiläum ab, sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene.4 Übergreifende Darstellungen, die zentrale Entwicklungen im Hochschulwesen der Bundesrepublik identifizieren und den aktuellen Forschungsstand zusammenfassen, sind bislang weitgehend Mangelware geblieben. In den epochenübergreifenden Synthesen und „Meistererzählungen“ zur deutschen und europäischen Universitätsgeschichte wird die westdeutsche Nachkriegszeit meist nur kursorisch oder beispielhaft abgehandelt.5 Einführende Skizzen stammen meist aus dem Umfeld der Erziehungswissenschaften sowie der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Bildungs- und Hochschulforschung.6 Die Geschichte der Universitäten ist in

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Vgl. Sylvia Paletschek: Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichtsschreibung, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 19 (2011), S. 169–189; Notker Hammerstein: Alltagsarbeit. Anmerkungen zu neueren Universitätsgeschichten, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 102–125; Ders.: Jubiläumsschrift und Alltagsarbeit. Tendenzen bildungsgeschichtlicher Literatur, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 601–633. Alleine in den letzten zehn Jahren feierten z. B. die Universitäten in Greifswald, Gießen, Freiburg, Jena, Leipzig und die HU Berlin ihr Jubiläum. Im Umfeld von Universitätsjubiläen sind immer wieder Forschungsprojekte, wie etwa die Erstellung von Professorenkatalogen, angestoßen worden, so jüngst etwa in Leipzig, Rostock und Kiel, siehe http://www.deutscher-professorenkatalog.uni-kiel.de, Zugriff am 22.03.2014. Rüdiger vom Bruch: Methoden und Schwerpunkte der neueren Universitätsgeschichtsforschung, in: Werner Buchholz (Hg.): Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner, 2007, S. 9–26; vgl. Paletschek: Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichtsschreibung, S. 169–172 sowie Hammerstein: Alltagsarbeit, S. 103f. Vgl. Thomas Ellwein: Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt/M.: Hain, 1992; Hartmut Boockmann: Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin: Siedler, 1999; Wolfgang Weber: Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart: Kohlhammer, 2002; Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band IV: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, München: Beck, 2010. Christoph Oehler: Die Hochschulentwicklung nach 1945, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998, S. 412–446. Einen knappen Überblick über die Geschichte der westdeutschen Hochschulen und Universitäten nach 1945 bieten auf der Grundlage von Bildungsstatistiken auch die Bände des Datenhandbuchs zur deutschen Bildungsgeschichte: Peter Lundgreen/Jana Scheunemann: Berufliche Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–2001, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008 u. Peter Lundgreen/Gudrun Schwibbe/Jürgen Schallmann:

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der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verglichen mit der Zeit des Nationalsozialismus, dem 19. Jahrhundert oder gar dem Mittelalter, wo sie einen etablierten Forschungsgegenstand darstellt, schlechter erforscht. Dies hat sich durch die in den letzten Jahren anlässlich der Universitätsjubiläen erschienenen Schriften etwas gebessert, was insbesondere für die Geschichte der Universitäten in der DDR gilt.7 Im Vordergrund der vorliegenden Studien stehen meist das Fortwirken und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, dezidiert politische Aspekte der Studierendengeschichte8 oder Studien zu einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bzw. Disziplinen. Weitere thematische Schwerpunkte der Geschichtsschreibung zu westdeutschen Universitäten nach 1945 sind der „Humboldt-Mythos“, der in der zweiten Jahrhunderthälfte ein wichtiger Bezugspunkt für akademische Selbstverständigungs- und Reformdiskurse war9 sowie die Hochschulpolitik und Hochschulreform.10 Vor allem die Universitätsreform während Das Personal an den Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland: 1953–2005, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. 7 Peer Pasternack: Hochschule in der DDR als Gegenstand der Forschung und Erinnerung. Die DDR-hochschulgeschichtliche Literatur seit 1990, in: Uwe Hoßfeld et al. (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), Bd. 2, Köln: Böhlau, 2007, S. 2257–2267. 8 Vgl. Helge Kleifeld: „Wende zum Geist?“. Bildungs- und hochschulpolitische Aktivitäten der überkonfessionellen studentischen Korporationen an Westdeutschen Hochschulen 1945– 1961, Köln: SH-Verlag, 2002; Boris Spix: Abschied vom Elfenbeinturm? Politisches Verhalten Studierender 1957–1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, Essen: KlartextVerlag, 2008 oder Uwe Rohwedder: Kalter Krieg und Hochschulreform. Der Verband Deutscher Studentenschaften in der frühen Bundesrepublik (1949–1969), Essen: Klartext, 2012; Christian Schmidtmann: Katholische Studierende 1945–1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn: Schöningh, 2006; Waldemar Krönig/Klaus-Dieter Müller: Nachkriegs-Semester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart: Steiner, 1990; Ute Scherb: „Ich stehe in der Sonne und fühle, wie meine Flügel wachsen“. Studentinnen und Wissenschaftlerinnen an der Freiburger Universität von 1900 bis in die Gegenwart, Königstein/Taunus: Helmer, 2002. 9 Vgl. u. a. Konrad Jarausch: Das Humboldt-Syndrom. Die westdeutschen Universitäten 1945– 1989, in: Mitchell G. Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien: Böhlau, 1999, S. 58–79; Sylvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205; Olaf Bartz: Bundesrepublikanische Universitätsleitbilder. Blüte und Zerfall des Humboldtianismus, in: Die Hochschule 14 (2005), S. 99–113; Peter Uwe Hohendahl: Humboldt Revisited. Liberal Education, University Reform, and the Opposition to the Neoliberal University, in: New German Critique 38 (2011), S. 159–196; Martin Eichler: Die Wahrheit des Mythos Humboldt, in: Historische Zeitschrift 294 (2012), S. 59–78. 10 Andreas Franzmann/Barbara Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie Verlag, 2007; George Turner: Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Zur Geschichte der Hochschulreform im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, Berlin: Duncker & Humblot, 2001; Michael Grüttner et al. (Hg.): Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010; Rainer Pöppinghege/Dietmar Klenke (Hg.): Hochschulreformen früher und heute. Zwischen Autonomie und gesellschaftlichem Gestaltungsanspruch, Köln: SH-Verlag, 2011.

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der Besatzungszeit und in den frühen Jahren der Bundesrepublik (ca. 1945–1955) ist gut aufgearbeitet.11 Als in der deutschen Geschichtswissenschaft um 2000 eine verstärkte Auseinandersetzung mit den „dynamischen Zeiten“ der Bundesrepublik einsetzte, stießen hochschulpolitische Entwicklungen und die weit verzweigte Reformdebatte der „langen“ 1960er Jahre auf größeres Interesse in der Forschung.12 Dabei sind Studien zur Bildungs- und Hochschulplanung im Zeitalter 11 Manfred Heinemann (Hg.): Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1981; Corine Defrance: Deutsche Universitäten in der Besatzungszeit zwischen Brüchen und Traditionen 1945–1949, in: Dietrich Papenfuß (Hg.): Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln: Böhlau, 2000, S. 409–428; Andreas Malycha: Hochschulpolitik in den vier Besatzungszonen Deutschlands. Inhalte und Absichten der Alliierten und der deutschen Verwaltungen 1945 bis 1949, in: Sabine Schleiermacher/Udo Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945, Stuttgart: Steiner, 2009, S. 29–48 sowie jüngst ausführlich Barbara Wolbring: Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945–1949), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. Zu den einzelnen Besatzungszonen siehe David Phillips: Pragmatismus und Idealismus. Das „Blaue Gutachten“ und die britische Hochschulpolitik in Deutschland seit 1948, Köln: Böhlau, 1995; Stefan Paulus: Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976, München: Oldenbourg, 2010; Konstantin von Freytag-Loringhoven: Erziehung im Kollegienhaus. Reformbestrebungen an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone 1945–1960, Stuttgart: Steiner, 2012; Corine Defrance: Les Alliés occidentaux et les universités allemandes: 1945–1949, Paris: CNRS Editions, 2000; Stefan Zauner: Demokratischer Neubeginn? Die Universitäten in der französischen Besatzungszone (1945–1949), in: Cornelia RauhKühne/Michael Ruck (Hg.): Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie: Baden und Württemberg, 1930–1952, München: Oldenbourg, 1993, S. 333–361; Wolfgang Fassnacht: Universitäten am Wendepunkt? Die Hochschulpolitik in der französischen Besatzungszone (1945–1949), Freiburg: Alber, 2000. Speziell die Anstrengungen der Besatzungsmächte zur Entnazifizierung der Universitäten sind häufig behandelt worden, siehe z. B. Mitchell G. Ash: Verordnete Umbrüche – konstruierte Kontinuitäten: Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903–924; Schleiermacher/Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik; Silke Seemann: Die politische Säuberung des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1957), Freiburg i. Br.: Rombach, 2002. Als Quellenbände siehe Rolf Neuhaus: Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, Wiesbaden: Steiner, 1961; Manfred Heinemann (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945–1952, 3 Bände, Hildesheim: Lax, 1990–1991; Ders. (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Deutschland 1945–1949. Die sowjetische Besatzungszone, Berlin: Akademie Verlag, 2000; Ders.: Vom Studium generale zur Hochschulreform. Die „Oberaudorfer Gespräche“ als Forum gewerkschaftlicher Hochschulpolitik 1950– 1968, Berlin: Akademie Verlag, 1996; Manfred Heinemann/Klaus-Dieter Müller (Hg.): Süddeutsche Hochschulkonferenzen 1945–1949, Berlin: Akademie Verlag, 1997. 12 Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Christians, 2000. Vgl. zum Überblick Turner: Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit; sowie Alfons Kenkmann: Von der bundesdeutschen „Bildungsmisere“ zur Bildungsreform in den 1960er Jahren, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten, S. 402–423. Das Jahrbuch der Universitätsgeschichte von 2005 widmete seinen thematischen Schwerpunkt der Hochschulpolitik und Hochschulreform in den 1960er Jahren: Ralph Jessen/Jürgen John (Hg.): Universität im

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der „Planungseuphorie“,13 zum deutschen-deutschen Modernisierungsvergleich,14 zu einzelnen Wissenschaftsinstitutionen wie dem Wissenschaftsrat,15 der DFG16 oder der Humboldt-Stiftung17 entstanden. Die Bedeutung der 68er-Bewegung für Hochschulpolitik und Universitätsreform wurde in ersten empirischen Studien untersucht.18 Wissenschaftsgeschichte meint bislang in der Regel Naturwissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte und ist als solche im nationalen wie internationalen Rahmen institutionalisiert.19 Die Wissenschaftsgeschichte wird in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften aus den entsprechenden Disziplinen heraus geschrieben. Dies hat zur Folge, dass die Wissenschaftsgeschichte der

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geteilten Deutschland der 1960er Jahre (= Themenheft. Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8), Stuttgart: Steiner, 2005. Wilfried Rudloff: Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, in: Matthias Frese (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn: Schöningh, 2003, S. 259–282; Ders.: Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform in der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Studienreform und Gesamthochschule, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 71–90; Ders.: Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens. Leitbilder neuer Hochschulen zwischen Wissenschaftspolitik, Studienreform und Gesellschaftspolitik, in: Franzmann/Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung, S. 77–102; Stefanie Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik. Das Beispiel des Wissenschaftsrats in den 1960er Jahren, in: Franzmann/Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung, S. 103–120; Dies.: Der Planungsbeirat für die Entwicklung des Hochschulwesens – (k)ein ineffektives „Professorenparlament“?, in: Geschichte im Westen 23 (2008), S. 119–147; Olaf Bartz: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, Stuttgart: Steiner, 2007. Siehe z. B. die Beiträge von Middell, Ash, Kaiser und Jessen zu Tradition und Modernisierungsversuchen im deutsch-deutschen Vergleich 1945–1990, in: Grüttner et al. (Hg.): Gebrochene Wissenschaftskulturen, S. 209–302. Bartz: Der Wissenschaftsrat. Siehe u. a. Mark Walker et al. (Hg.): The German Research Foundation 1920–1970. Funding Poised between Science and Politics, Stuttgart: Steiner 2013 (= Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd. 6); Karin Orth: Autonomie und Planung der Forschung. Förderpolitische Strategien der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1949–1968, Stuttgart: Steiner 2011 (= Studien zur Geschichte der DFG, Bd. 8); Corinna Unger: Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (1945–1975), Stuttgart: Steiner, 2007. Christian Jansen: Exzellenz weltweit. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zwischen Wissenschaftsförderung und auswärtiger Kulturpolitik (1953–2003), Köln: DuMont, 2004. Vgl. Anne Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München: Oldenbourg, 2010; Nicolai Wehrs: „Tendenzwende“ und Bildungspolitik. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ (BFW) in den 1970er Jahren, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (2008), S. 7–17; Ders.: Protest der Professoren. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ in den 1970er Jahren (= Geschichte der Gegenwart, Bd. 9), Göttingen: Wallstein, 2014 sowie sein Beitrag in diesem Band. Die Fachwissenschaftler der jeweiligen naturwissenschaftlichen Disziplinen verfügen in der Regel nicht über das entsprechende historische Methodenarsenal, um ihre Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. WissenschaftshistorikerInnen weisen daher in der Regel eine Doppelqualifikation in einer natur- wie kulturwissenschaftlich-historischen Disziplin auf.

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Geisteswissenschaften weniger institutionalisiert und systematisch als in Medizin, Natur- und Technikwissenschaften betrieben wird und dass Forschungsergebnisse zu naturwissenschaftlichen nicht mit denen zu geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammengedacht werden.20 In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte ist eine verstärkte Ausrichtung auf die materiale, soziale und kulturelle Praxis sowie den Kontext der wissenschaftlichen Wissensproduktion feststellbar. Dennoch kennzeichnet den derzeitigen Forschungsstand immer noch eine partielle gegenseitige Nichtwahrnehmung von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte.21 Hinsichtlich des Forschungsstandes lässt sich also – jenseits der generell konstatierten geringeren Erforschungen von Universitäten und Wissenschaften in der Nachkriegszeit – aus systematischer Perspektive ein dreifaches Desiderat festhalten: die Einbindung von Ergebnissen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in eine Gesellschaftsgeschichte, die Verzahnung von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie die Zusammenschau wissenschaftshistorischer Ergebnisse zur Entwicklung sowohl von Medizin, Technik- und Naturwissenschaften wie auch von Geistes- und Sozialwissenschaften. Es liegen allerdings mittlerweile vielversprechende weiterführende Ansätze vor, die diesen Desideraten entgegenwirken können, allerdings empirisch erst in Ansätzen eingelöst sind. Dies sind zum einen die an soziologische Theoreme und an Diskursgeschichte anschließenden Konzepte, die dafür plädieren, Zeitgeschichte als Geschichte der Wissensgesellschaft bzw. als Geschichte von Verwissenschaftlichungsprozessen zu schreiben.22 Sie historisieren die soziologischen Ansätze zur Wissensgesellschaft und rücken anhand der qualitativ neuartigen Verwissenschaftlichungsprozesse seit der Jahrhundertwende die verstärkte Durchlässigkeit der Systemgrenzen der gesellschaftlichen Teilbereiche in den Vordergrund. Die empirischen Arbeiten hierzu konzentrieren sich vorwiegend auf Anwendungsfelder und Interventions20 Vgl. ausführlich Paletschek: Universitätsgeschichte, S. 175f.; Jakob Vogel: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der ‚Wissensgesellschaft‘, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639–660, hier S. 649. 21 Dies liegt auch daran, dass in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte häufig epistemische Fragestellungen im Zentrum standen und sich hier Verbindungslinien eher zu den Kulturwissenschaften oder zur Philosophie als zur Universitätsgeschichte und der „allgemeinen“ Geschichte ziehen ließen. 22 Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 275–311; Vogel: Von der Wissenschaftsgeschichte zur Wissensgeschichte; Peter Weingart: Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225– 241; Gernot Böhme: Wissenschaftliches und lebensweltliches Wissen am Beispiel der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe, in: Nico Stehr/Meja Volker (Hg.): Wissenssoziologie, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1982, S. 445–463; Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172; Daniel Speich Chassé/David Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse 1 (2012), S. 85–100.

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formen wissenschaftlicher Forschung sowie außeruniversitäre Forschungs- und Großforschungseinrichtungen.23 Die Intensivierung der Kooperationsverhältnisse von Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, insbesondere Staat, Militär und Wirtschaft, werden von Margit Szöllösi-Janze als bestimmendes Kennzeichen moderner Gesellschaften und eine Grundkonstellation, aus der das 20. Jahrhundert möglicherweise seine Dynamik gewinnt, betrachtet: Dies bedeutet, daß einerseits die Regeln und Werte wissenschaftlichen Forschens auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten eine Rolle spielen, daß andererseits die Wissensproduktion selbst zunehmend unter gesellschaftliche Legitimationszwänge gerät. Massenmedien und Öffentlichkeit in ihrem Verhältnis zu Wissenschaft und Politik avancieren damit zum sensiblen Punkt von Wissensgesellschaften. All dies hat schließlich Rückwirkungen auf Inhalte, Strukturen und epistemische Orientierung von Wissenschaft selbst.24

An diesen Wechselwirkungen von Medien, Politik und Wissenschaft setzt ein zweiter Ansatz an, der Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander betrachtet. Er öffnet ebenfalls die Flanken zwischen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte und lässt potenzielle Schnittmengen von Wissenschafts- und Universitätsgeschichte im Rahmen von Gesellschaftsgeschichte hervortreten. Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander Grundlegende Entwürfe zur Struktur und zum Charakter des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Neuzeit wurden in jüngster Zeit zunächst von der Wissenschaftssoziologie vorgelegt.25 Im Mittelpunkt des Interesses standen dementsprechend Analysen der rezenten Situation und gegenwärtig relevante Themen, z. B. Politikberatung und die Konstruktion eines neuen Wissenschaftlertypus. Zudem waren diese Ansätze vielfach historisch-empirisch nur schwach unterfüttert. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden aus der wissenschaftshistorischen Forschung heraus jüngst unter dem Stichwort „Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander“26 neue Überlegungen in Gang gesetzt, um 23 Raphael: Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. 171. Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Die Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen – Identitätsfindung und Selbstorganisation, 1958–1970, in: Dies./Helmuth Trischler (Hg.): Großforschung in Deutschland, Frankfurt/M.: Campus, 1990, S. 140–160; Dies.: Der Wissenschaftler als Experte. Kooperationsverhältnisse von Staat, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft, 1914–1933, in: Doris Kaufmann (Hg.): Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. I, Göttingen: Wallstein, 2000, S. 46–64. 24 Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland, S. 282, siehe auch S. 297. 25 Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück, 2001; Ders.: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essay zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist: Velbrück, 2005. 26 Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus, 2007; Mitchell G. Ash: Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) als Ressourcen füreinander.

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das Wechselverhältnis der beiden Sphären in seiner historischen Bedingtheit verstehen zu können. Diese Ansätze fußten auf der neueren Wissenschaftsforschung, die Wissenschaft als soziale Praxis mit Rekurs auf ihre materiellen und mentalen Ressourcen analysiert; sie berücksichtigen aber auch die neuere Popularisierungsforschung. Diese geht nicht mehr von einem unidirektionalen, diffusionistischen Top-down-Modell und klaren Grenzen, sondern von einer Interaktion von Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie Rückkopplungseffekten aus. Ferner stellte jüngst Carsten Reinhardt strukturelle Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlichem Kontext an, die sich aber doch bevorzugt auf die spezifischen sozialen Machtträger in Politik und Wirtschaft in ihrem Verhältnis zu wissenschaftlicher Innovation beziehen. Die „Öffentlichkeit“ selbst blieb weitgehend ausgeklammert.27 Unter „Öffentlichkeit“ werden gesellschaftliche Schauplätze verstanden, auf denen Meinungsbildungsprozesse in Gang gesetzt werden, die bestimmte Interessen und Aktionen legitimieren und aushandeln. Es gibt nicht „die“ Öffentlichkeit, sondern diese wird durch verschiedene „Teilöffentlichkeiten“28 unterschiedlichster Reichweite gestaltet. Teilöffentlichkeiten sind medial konstruierte Räume bestimmter sozialer Gruppen mit jeweils spezifischen Interessen. Das Spektrum dieser Teilöffentlichkeiten reicht von politischen Parteien, Kirchen, Gewerkschaften über verschiedenste zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche, militärische und wissenschaftliche Organisationen, Berufs- und Lobbygruppen bis hin zu Jugend-, Sport-, und Musikvereinen oder subkulturellen Gruppierungen. Man kann verschiedene Teilöffentlichkeiten mit jeweils unterschiedlichen Medien und Plattformen unterscheiden, in die Universitäten oder Wissenschaften eingebunden sind und die unterschiedliche Grade der gesellschaftlichen Verzahnung aufweisen: die Vollversammlung der Studierenden einer Universität, die öffentliche Rektorenrede, der wissenschaftliche Fachvortrag auf einer Tagung, die Aktionen akademischer Berufs- oder Wissenschaftlerverbände, die Verhandlungen des Universitätsund Wissenschaftsetats in einem Parlament, die wissenschaftliche Berichterstattung in einer populären Zeitschrift oder einer Wissenssendung, der Fernsehauftritt Weiterführende Bemerkungen zur Beziehungsgeschichte, in: Schirrmacher/Nikolow (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander, S. 349–364. 27 Carsten Reinhardt: Historische Wissenschaftsforschung, heute. Überlegungen zu einer Geschichte der Wissensgesellschaft, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), S. 81–99. 28 In der aktuellen Forschung wird der Begriff zunehmend durch das Synonym der Bezugsgruppe ersetzt, vgl. Peter Szyska: Teilöffentlichkeiten, in: Ders./Günter Bentele/Romy Fröhlich (Hg.): Handbuch der Public Relations. Wissenschaftliche Grundlagen und berufliches Handeln. Mit Lexikon, Wiesbaden: VS, 2005, S. 607; Ders.: Bezugsgruppen, in: ebd., S. 578f. Zu Teilöffentlichkeiten siehe auch Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–23; vgl. hierzu auch Schirrmachers Modell der gestuften Öffentlichkeit bezüglich von Wissenschaft in Arne Schirrmacher: Nach der Popularisierung: Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34.1 (2008), S. 73–95; siehe hierzu auch den Beitrag von Anna Lux in diesem Band, die dieses Modell auf das Beispiel Hermann August Korff anwendet.

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eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin etc. In allen diesen und weiteren Teilöffentlichkeiten werden Funktion und Aufgabenbestimmung von Universitäten und Wissenschaft verhandelt. Die jeweils kommunizierten Botschaften in einer oder zwischen Teilöffentlichkeiten laufen nicht direkt oder linear von Sender zu Empfänger, sondern verwandeln sich unter dem Einfluss einer Vielzahl von Faktoren. Das Mediensystem ist der wichtigste Umschlagspunkt, Filter und Durchlauferhitzer von Meinungsbildungsprozessen. Ebenso wie Universität und Wissenschaft sind Presse, Rundfunk und Fernsehen als Transmitter und Produzenten auf dem Schauplatz der Öffentlichkeiten von politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig. Sie verfolgen mit den sie kennzeichnenden populären Medialisierungsstrategien und durch die Orientierung an bestimmten Zielgruppen oder einer größeren „Allgemeinheit“ jedoch neben sicher auch vorhandenen „aufklärerischen“ und meinungsbildenden dezidiert ökonomische Interessen. Anschaulichkeit, Aktualität und Spektakularität sind Kriterien, die den Wert einer Nachricht bestimmen. Im Wissenschaftssystem sind dagegen Kriterien für die Validität seiner Wissensproduktion entscheidend, unter anderem deren methodische Genese, intersubjektive Überprüfbarkeit, plausible Argumentation auf der Grundlage des als gesichert angesehenen Wissens sowie die Anerkennung durch die scientific community. Das Mediensystem kennzeichnet eine kurzfristig-punktuelle Arbeitsweise, während das wissenschaftliche System zur Produktion von Ergebnissen auf eine längere Zeitdauer und die Reflexion des Zustandekommens von methodisch kontrolliertem Wissen abhebt. Die Systemgrenzen zwischen Wissenschaft und Medien verschwimmen jedoch auch, wenn z. B. investigative Recherchen einer verwissenschaftlichten Medienbranche neue Forschungsfragen anregen oder Wissenschaftler in Medienprojekten mitarbeiten. Neuere Arbeiten zur Geschichte der Öffentlichkeit und zur Mediengeschichte29 gehen in der Regel nicht auf Universität und Wissenschaft ein. Vor dem Hintergrund allgemeiner Überlegungen zur Geschichte der Medien30 wurden unter Betrachtung einzelner Zeitschriften und Tageszeitungen die Entwicklung der Medienlandschaft in Westdeutschland nach 1945 analysiert31 sowie Detailanalysen zu den Medienmachern und Journalisten und zur Frage der Funktion der Medien für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Politik und für die Geschichte der Bun29 Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen: Wallstein, 2006; Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland, Paderborn: Schöningh, 2004; Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. 30 Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Wiesbaden: Westdt. Verl., 1997; Jürgen Wilke (Hg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln: Böhlau, 1999; Albert Kümmel/Leander Scholz/Eckhard Schumacher (Hg.): Einführung in die Geschichte der Medien, Paderborn: Fink, 2004; Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte, Konstanz: UVK-Verl.-Ges., 20052. 31 Z. B. Nils Minkmar: Die doppelte Wundertüte. Wie Henri Nannen den „Stern“ erfand, in: Lutz Hachmeister/Friedemann Siering (Hg.): Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München: Beck, 2002, S. 185–195.

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desrepublik angefertigt.32 Verschiedene Recherchen liegen mittlerweile für die Journale Der Stern und Der Spiegel vor.33 Universität und Öffentlichkeit Ebenso wie Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander fungieren, trifft dies auf Universität und Öffentlichkeit zu. Allerdings sind diese Beziehungen von Seiten der Universitätsgeschichte nur im Ansatz erforscht.34 Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit sind in den letzten Jahren einige kulturgeschichtliche Studien zu akademischen Ritualen und speziell zur akademischen Festkultur entstanden, die seit jeher eine wichtige „Brücke“ zwischen Hochschule und öffentlichem Raum bildeten.35 Aufgegriffen wurde das Thema für die Nachkriegszeit vor allem in Arbeiten zur Universitätsreformdiskussion,36 zur akademischen Festkultur sowie in verschiedenen Publikationen zu Rektoratsreden.37 Die 32 Sigrun Schmid: Journalisten der frühen Nachkriegszeit. Eine kollektive Biographie am Beispiel von Rheinland Pfalz (= Medien in Geschichte und Gegenwart 16), Köln: Böhlau, 2000; Hachmeister/Siering: Die Herren Journalisten; Hodenberg: Konsens und Krise. 33 Hermann Schreiber: Henri Nannen: drei Leben, München: Bertelsmann, 1999; Dieter Just: Der Spiegel. Arbeitsweise, Inhalt, Wirkung, Hannover: Brawand, 2007; Peter Merseburger: Rudolf Augstein, München: DVA, 2007. 34 Vorschläge finden sich bei Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Universität im öffentlichen Raum, Basel: Schwabe, 2008. 35 Marian Füssel: Die inszenierte Universität. Ritual und Zeremoniell als Gegenstand der frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 19– 33; Dies.: Akademische Solennitäten. Universitäre Festkulturen im Vergleich, in: Michael Maurer (Hg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierung des Religiösen und Politischen, Köln: Böhlau, 2010, S. 43–60; Richard Kirwan: Scholarly Reputations and Institutional Prestige. The Fashioning of the Public Image of the University of Helmstedt, 1576–1680, in: History of Universities 25 (2011), S. 51–79. Zu Universitätsjubiläen Winfried Müller: Erinnern an die Gründung. Universitätsjubiläen, Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 79–102; Thomas Becker: Jubiläen als Orte universitärer Selbstdarstellung. Entwicklungslinien des Universitätsjubiläums von der Reformationszeit bis zur Weimarer Republik, in: Schwinges (Hg.): Universität im öffentlichen Raum, S. 77–107; Sylvia Paletschek: Festkultur und Selbstinszenierung deutscher Universitäten, in: Ilka Thom/Kirsten Weining (Hg.): Mittendrin. Eine Universität macht Geschichte. Ausstellung anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin: Akademie-Verlag, 2010, S. 88–95. 36 Franzmann/Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung; Stefanie Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik. Das Beispiel des Wissenschaftsrates in den 1960er Jahren, in: Franzmann/Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung, S. 103–120; Christina Schwartz: Erfindet sich die Hochschule neu? Selbstbilder und Zukunftsvorstellungen in den westdeutschen Rektoratsreden 1945–1950, in: ebd., S. 47–60; Rudloff: Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens, in: ebd., S. 77–102. 37 Siehe das von Rainer Schwinges und Dieter Langewiesche geleitete Forschungsprojekt zu Rektoratsreden: Dieter Langewiesche: Rektoratsreden – Ein Projekt in der Abteilung Sozialgeschichte, in: Jahrbuch der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (2006), S. 47–60; Schwartz: Erfindet sich die Hochschule neu?, S. 47–60;

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Entwicklung von Öffentlichkeitsarbeit an den Hochschulen ist dagegen bisher nur skizzenhaft bearbeitet worden.38 Eine weitere Schnittstelle zwischen Hochschule und Öffentlichkeit eröffnet die Architektur- und Baugeschichte. Allerdings konzentrieren sich die in diesem Feld publizierten Beiträge häufig auf technische oder kunsthistorische Fragen, auf Planungsprozesse oder städtebauliche Aspekte des Hochschulbaus.39 Nur selten wird die Bedeutung der baulichen Entwicklung für Selbstdarstellung und Wahrnehmung von Universitäten im öffentlichen Raum explizit thematisiert.40 Bisher steht also eine Geschichte der Universität als Kommunikationsgeschichte in ihrer Verschränkung mit dem öffentlichen Raum, wie etwa von Rainer Schwinges vorgeschlagen, noch aus.41 Wissenschaft und Öffentlichkeit exemplarisch: Geisteswissenschaften und Medizin als Beispiel Empirische Studien von Seiten der Wissenschaftsgeschichte zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit existieren erst in Ansätzen, wie im Folgenden am Beispiel der Geisteswissenschaften und der Medizin gezeigt werden soll. Zur Entwicklung der Geisteswissenschaften nach 1945 liegen bislang kaum disziplinübergreifende Studien vor; gleiches gilt für ihre Verschränkung mit verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen und damit auch für das Verhältnis von Geisteswissenschaften und Öffentlichkeit.42 Es gibt aber Arbeiten zur Geschichte der einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Hier wird insbesondere den Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus und den personellen und ideellen

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Mathias Kotowski: Die öffentliche Universität. Veranstaltungskultur der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart: Steiner, 1999. So bspw. in Walter Rüegg: Die Sprengung des Elfenbeinturms, in: Schwinges (Hg.): Universität im öffentlichen Raum, S. 469–485; Paulus: Vorbild USA?, S. 438–448 oder Henning Escher: Public Relations für wissenschaftliche Hochschulen. Systemtheoretische Grundlegung und exemplarische Modellierung im Wettbewerbsumfeld, München: Hampp, 2001. Mit starkem kunsthistorischen Fokus Hans-Dieter Nägelke: Hochschulbau im Kaiserreich. Historistische Architektur im Prozess bürgerlicher Konsensbildung, Kiel: Ludwig, 2000; außerdem Klaus Gereon Beuckers (Hg.): Architektur für Forschung und Lehre. Universität als Bauaufgabe, Kiel: Ludwig, 2010. Vgl. Marc Schalenberg: Zum größeren Ruhme der Wissenschaft oder der Fürsten? Universitätsbauten und Urbanistik in deutschen Residenzstädten im 19. Jahrhundert, in: Schwinges (Hg.): Universität im öffentlichen Raum, S. 175–195; Astrid Hansen: Die Frankfurter Universitätsbauten Ferdinand Kramers. Überlegungen zum Hochschulbau der 50er Jahre, Weimar: VDG, 2001 sowie für die Frühe Neuzeit Richard Kirwan: Empowerment and Representation at the University in Early Modern Germany: Helmstedt and Würzburg, 1576–1634, Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. Rainer Christoph Schwinges: Universität im Öffentlichen Raum. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.): Universität im öffentlichen Raum, S. 1–14, hier S. 6–8. Siehe als knappen Überblick Jan Eckel: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008; Ders.: Deutsche Geisteswissenschaften 1870–1970. Institutionelle Entwicklungen, Forschungskonzeptionen, Selbstwahrnehmung, in: Neue politische Literatur 51 (2006), S. 353–395, hier S. 390.

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Kontinuitäten nach Kriegsende nachgegangen.43 Disziplingeschichten einzelner geisteswissenschaftlicher Fächer liegen z. B. zur Germanistik,44 zur Geschichte45 oder zur Politikwissenschaft46 vor, wobei hier meist einzelne herausragende Wissenschaftler oder Seminare einzelner Universitäten47 untersucht wurden. Das Verhältnis von Geisteswissenschaften und Öffentlichkeit verspricht Ergebnisse hinsichtlich der Frage, welche konkreten öffentlichen Nachfragen an die Geisteswissenschaften gestellt wurden und wie diese wiederum die Disziplinentwicklung bestimmten. Bislang kann davon ausgegangen werden, dass sich nach 1945 zunächst kein konzeptioneller oder inhaltlicher Bruch in den Geisteswissenschaften vollzog, sondern diese verstärkt auf Ansätze aus den 1920er Jahren zurückgriffen. Erst die Jahrzehnte zwischen den frühen 1960er und frühen 1980er Jahren können als eine weitere Achsenzeit – nach den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende – begriffen werden.48 Diese Periodisierung wird mit den Beiträgen dieses Bandes empirisch bestätigt; es wird aber auch gezeigt, wie bereits Mitte der 1950er Jahre 43 Vgl. z. B. Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, München: Oldenbourg, 2002; Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004. Siehe dazu den Literaturüberblick in Eckel: Deutsche Geisteswissenschaften 1870–1970; Ash: Verordnete Umbrüche – konstruierte Kontinuitäten, S. 903–924; Bernd Weisbrod (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein, 2002. 44 Wilfried Barner/Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/M.: Taschenbuch-Verlag, 1996; Petra Boden/Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin: Akademie-Verlag, 1997; Klaus-Michael Bogdal/Oliver Müller (Hg.): Innovation und Modernisierung. Germanistik von 1965 bis 1980, Heidelberg: Synchron, 2005; Hans Peter Hermann: Die Widersprüche waren die Hoffnung. Eine Geschichte der Reformen am Institut für Neuere deutsche Literaturgeschichte der Universität Freiburg im Breisgau 1956 bis 1977, in: Bogdal/Müller (Hg.), Innovation und Modernisierung, S. 67–107. 45 Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München: dtv, 1993; Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf: Droste, 2001; Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die westdeutsche Geschichtswissenschaft, München: Oldenbourg, 2001; Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein, 2005; Mario Daniels: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Institutionalisierungsprozesse und Entwicklung des Personenverbandes an der Universität Tübingen 1918– 1964, Stuttgart: Steiner, 2009. 46 Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München: Beck, 2001; Hans J. Lietzmann (Hg.): Politikwissenschaft. Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa, München: Oldenbourg, 1996; Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Weg zur Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Bochum: Brockmeyer, 1988. 47 Vgl. z. B. Eckhard Wirbelauer (Hg.): Die Philosophische Fakultät der Universität Freiburg 1920–1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen, Freiburg i. Br.: Alber, 2006. 48 Eckel, Deutsche Geisteswissenschaften 1870–1970, S. 390–393. Dieser Periodisierungsvorschlag greift Thesen zur Liberalisierung und Modernisierung Deutschlands im 20. Jahrhundert auf, siehe Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Ein Skizze, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 7–49.

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neue Disziplinen wie die Politikwissenschaft durch ihre Interaktion mit Politik, Militär und Medien neue gesellschaftliche Legitimationsangebote und Anwendungsmöglichkeiten von Geisteswissenschaften bereitstellten und die massenmediale Öffentlichkeit – so z. B. durch die Fischer-Kontroverse in der Geschichtswissenschaft – eine nicht unbeträchtliche Rückwirkung auf die Durchsetzung innerfachlicher Neukonzeptionen hatte. Mehr noch als in den Geisteswissenschaften waren Medizin und Öffentlichkeit verschränkt. Die Medizin, die sich im 19. Jahrhundert im Rahmen der Anlehnung an die Naturwissenschaften zu einem Renommierfach der Universitäten entwikkelte, kann auch als ein Gradmesser für die gesellschaftliche und öffentliche Präsenz der Universitäten angesehen werden. Die Arbeiten zur Geschichte der Medizin in der BRD nach 1945 sind nicht sehr zahlreich und weit davon entfernt, einen soliden Überblick liefern zu können. Die bisherigen Untersuchungen beziehen sich im Wesentlichen auf vier Themenkomplexe: Erstens wurde die Medizin und ihr Beitrag zur westdeutschen Gesundheitspolitik nach 1945 behandelt, teilweise auch im Vergleich mit der Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR.49 Zweitens gibt es Studien zur Vergangenheitsbewältigung der westdeutschen Medizinerschaft nach 1945.50 Drittens finden sich vereinzelte Arbeiten zur institutionellen Verankerung des Ärztestandes nach 1945.51 Viertens schließlich werden vorwiegend mit Bezug auf die USA Innovationen in der Medizin nach 1945 dargestellt. Diese zum Teil fortschrittsorientierten Publikationen liefern wichtige Bausteine zum Verständnis einer naturwissenschaftlichen Medizin, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt unter dem Einfluss von Biochemie

49 Dagmar Ellerbrock: „Healing Democracy“ – Demokratie als Heilmittel. Gesundheit, Krankheit und Politik in der amerikanischen Besatzungszone 1945–1949, Bonn: Dietz, 2004; Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 57), München: Oldenbourg, 2004; Schleiermacher/Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik; Sabine Schleiermacher: Prävention und Prophylaxe in BRD und DDR. Eine gesundheitspolitische Leitidee im Kontext verschiedener politischer Systeme, in: Alfons Labisch/Norbert Paul (Hg.): Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin, Wiesbaden: Steiner, 2004, S. 171–178; Winfried Süß: Gesundheitspolitik, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Drei Wege Deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München: Oldenbourg, 1998, S. 55–100; Ders.: Der westdeutsche Wohlfahrtsstaat in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Perspektiven eines Forschungsfelds, in: Jörg Calließ (Hg.): Die Reformzeit des Erfolgsmodells BRD, Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 2004, S. 325–342. 50 Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart: Steiner, 2007; Sigrid Oehler-Klein (Hg.): Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart: Steiner, 2007; Seemann: Die politische Säuberung des Lehrkörpers der Freiburger Universität (1945–1957). 51 Robert Jütte (Hg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 1997.

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und Zellbiologie erheblich gewandelt hat.52 Insgesamt bleiben aber in allen vier Bereichen Synergieeffekte und Wechselwirkungen der genannten Faktoren auf die Medizin sowie die sozial- und kulturgeschichtlichen Umstände der (Neu-) Etablierung der Medizin in der westdeutschen Gesellschaft weitgehend unklar. Neuere Forschungsinitiativen gehen daher z. B. der Frage nach, welche Rolle der Umgang mit Gesundheit und Krankheit im Prozess des Übergangs von der Zusammenbruchs- zur Modernisierungsgesellschaft gespielt hat.53 Eine empirische Einlösung derartiger struktureller Überlegungen steht noch ganz am Anfang, bisher liegen lediglich kleinere Fallstudien vor, die sich zudem meist auf naturwissenschaftliche und technische Wissensbestände konzentrieren.54 Dementsprechend ist auch das Thema Medizin und Öffentlichkeit nach 1945 in Westdeutschland insgesamt ein Desiderat der Forschung. Trotz neuerlichen verstärkten Interesses an diesem Thema von Seiten der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte gibt es keine umfassende Studie zum Verhältnis der allgemeinen öffentlichen Medien und der Medizin in Westdeutschland nach 1945. Die gegenwärtige Literatur zu diesem speziellen Thema beschränkt sich einerseits auf Teilaspekte wie das Arztbild in spezifischen Disziplinen oder Perioden.55 Andererseits befasst sie sich nur allgemein mit dem Wissenschafts- und Medizinjournalismus. Zwei medizinpublizistische Arbeiten, die sich mit der Diskussion über Krebs in der Öffentlichkeit anhand der Analyse von Beiträgen zum Thema in Journalen und Tageszeitungen befassen, können an dieser Stelle genannt werden, wobei doch letztlich aktuelle Probleme im gegenseitigen Umgang von Medizinern und Journalisten den Ausgangspunkt und Fokus der Darstellung bilden.56 Viele medizinhistorische Arbeiten aus dem Themenkomplex „Medizin und Gesellschaft“ behandeln das Image der Medizin in der Öffentlichkeit mehr oder weniger randständig mit, ohne aber eine exakte Analyse von Transferprozessen zu liefern. Einige wenige Fallstudien gehen auf die öffentlichen Debatten über einzelne Innovationen ein oder widmen sich der Entwicklung einzelner Wissensgebiete bzw.

52 James Le Fanu: The Rise and Fall of Modern Medicine, London: Little, Brown and Co., 2000; beispielhaft Jürgen Schüttler (Hg.): 50 Jahre Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Tradition und Innovation, Berlin: Springer, 2003. 53 Hans-Georg Hofer: Medizin und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1970: Koordinaten, Kontexte, Korrelationen, in: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), S. 1–23. 54 Z. B. Stefan Krebs: „Leben heißt ein Kämpfer sein“ – Zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit am Beispiel der modernen Eisenhüttenkunde an der Technischen Hochschule Aachen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 215–229. 55 Heike Höger-Schmidt: Berufsbild des Anästhesisten in der Öffentlichkeit. Ergebnisse einer Befragung, Leipzig: Univ. Diss., 2007; Nico Stehr (Hg.): Society and Knowledge. Contemporary Perspectives in the Sociology of Knowledge, New Brunswick: Transaction Books, 1984; Michael Maciejewski: Arzt und Medizin im Spiegel der Tagespublizistik. Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung – ein Vergleich, Düsseldorf: Univ. Diss., 1985. 56 Detlev Wende: Über die medizinische Berichterstattung von Krebs in Tageszeitungen und deren kritische Bewertung, Bochum: Univ.-Verlag Brockmeyer, 1990; Joachim Pietzsch: Lesestoff Krebs. Die Darstellung der „Krankheit des Jahrhunderts“ in ausgewählten Printmedien, Bochum: Brockmeyer, 1991.

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Disziplinen nach 1945.57 Mediale Aspekte, wie beispielsweise die Verwendung des Bildes durch Mediziner, werden meist nur im medizinischen Binnenraum untersucht.58 Andere Arbeiten analysieren die Medizin in einzelnen Zeitschriften,59 wobei diese Studien bisher nur Schneisen in ein Gebiet geschlagen haben, dessen grundlegende Erarbeitung noch eine Aufgabe der Zukunft ist. Die Beiträge des Bandes Eine integrale Verbindung von Universitäts-, Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte ist nach wie vor ein Desiderat ebenso wie die Forderung, Zeitgeschichte auch als Wissen(schaft)sgeschichte zu schreiben. Hier setzt der vorliegende Sammelband an.60 Sein Ziel ist es, neuere Forschungen zu dem Themenfeld Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 vorzustellen.61 Es geht nicht nur darum, die Fruchtbarkeit universitäts- und wissenschaftsgeschichtlicher Befunde für die Zeitgeschichte herauszustellen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Zusammenschau von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, die in unserem Falle auf exemplarische Analysen ausgewählter Geisteswissenschaften (Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft) sowie die Medizin beschränkt ist. Anhand dieser Disziplinen kann für unseren Untersu57 Z. B. Eva-Marie Sillies: Verhütung als Mittel gegen Bevölkerungswachstum. Expertendiskussion und öffentliche Debatten in Westdeutschland in den 1960er Jahren, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), S. 246–262; Anne Cottebrune: Der planbare Mensch. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die menschliche Vererbungswissenschaft, 1920–1970, Stuttgart: Steiner, 2008. 58 Frank Stahnisch/Heijko Bauer (Hg.): Bild und Gestalt: Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften?, Berlin, Hamburg: LIT, 2007. 59 Cay-Rüdiger Prüll: Die Zeit der großen Pioniere? – Dienstleistungen der westdeutschen Medizin im Journal „Der Spiegel“ 1947–1955, in: Praxis. Schweizerische Rundschau für Medizin (97) 2008, S. 1085–1088; Ders.: Ärzte, Journalisten und Patienten als Akteure von Teilöffentlichkeiten in Westdeutschland. Eine Analyse am Beispiel des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ (1947–1955), in: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), S. 102–133. 60 Der vorliegende Band geht auf eine von der DFG finanzierte Tagung zurück, die von den Leiterinnen und BerarbeiterInnen des DFG-Projekts „Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Universität Freiburg, ihre Mediziner und Geisteswissenschaftler (ca. 1945– 1970)“ organisiert wurde. Neben den Tagungsbeiträgen wurden weitere Beiträge eingeworben. 61 Abgesehen vom Beitrag von Anna Lux, in dem das Verhältnis von Germanistik und Öffentlichkeit am Beispiel des Leipziger Germanisten Korff über den Zeitraum von der Weimarer Republik bis zur DDR untersucht wird, konzentrieren sich die Beispiele auf die Entwicklung westdeutscher Universitäten und Wissenschaften im Zeitraum von 1945 bis 1970. Diese Konzentration auf die Entwicklung in der BRD hing damit zusammen, dass das Konzept von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander für diktatorische Regime anders greift und die dem Sammelband zugrunde liegende Tagung auf die Entwicklung in der BRD beschränkt war. Nichtsdestotrotz wäre eine deutsch-deutsch vergleichende Perspektive ebenso wie nationale Vergleiche und transnationale Perspektiven auch im Hinblick der Tragweite des Ansatzes ein weiteres Forschungsdesiderat.

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chungszeitraum beispielhaft und vergleichend verfolgt werden, wie Wissenschaft und Öffentlichkeit einander als Ressourcen dienten. Sybilla Nikolow umreißt in einem systematischen Eingangsbeitrag Konzepte und Forschungsfragen. Sie führt eindrücklich vor Augen, wie sehr sich das Verhältnis von Wissenschaft und Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte. In den 1950er Jahren war es noch von einem traditionellen elitären Selbstverständnis der Professoren und einer fundamentalen Skepsis der Wissenschaftler gegenüber der Öffentlichkeit geprägt. Eine kritische mediale Öffentlichkeit, wie sie in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahren entstand, begehrte gegen diese Autonomie-Setzung und das elitäre Selbstverständnis der Wissenschaft auf, forderte Mitspracherechte ein und akzeptierte Wissenschaftler nicht länger unhinterfragt als Wahrheitsgaranten. An die Stelle überkommener Repräsentationsmodelle traten mehr und mehr partizipatorische Modelle der Wissenschaftskommunikation, die sich jedoch erst in den 1990er Jahren endgültig durchzusetzen vermochten. Für die Gegenwart und die immer engere Verkopplung von Wissenschaft und Medien konstatiert Nikolow eine Verschiebung der Problematik. Der Anspruch, größtmögliche mediale Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit herzustellen, gerät in Konflikt mit den wissenschaftliche Wissensproduktion kennzeichnenden, zum Teil langwierigen Validierungsprozessen. Mit diesen Veränderungen lösen sich ältere Vorstellungen von medialer Öffentlichkeit als passiver Wissensempfänger und -vermittler sowie die Vorstellung einer autonomen scientific community, die über ein wissenschaftliches Wahrheitsmonopol verfügt, auf. Wissenschaft und mediale Öffentlichkeit stehen in einer engen Wechselbeziehung, teilweise sogar in einem Abhängigkeitsverhältnis und generieren unterschiedliche Ressourcen füreinander. Den Medien wird auch für die Forschungs- und Validierungsprozesse von Wissen die Rolle eines aktiven Akteurs zugeschreiben. Die folgenden Beiträge konzentrieren sich in einem ersten Block stärker, wenn auch nicht ausschließlich, auf das Verhältnis von Universität, Politik und Öffentlichkeit. Wie Fragen des Universitätszugangs eine Scharnierstelle im Verhältnis von Universität und Gesellschaft bzw. Universität und Öffentlichkeit darstellen, zeigt Barbara Wolbring in ihrer Untersuchung der Reformdiskussion zur sozialen Öffnung der Universitäten in den 1940er und 1950er Jahren. Anhand der Bildungsreformdiskurse in den westlichen Besatzungszonen stellt sie heraus, dass die soziale Frage des Universitätszugangs nicht erst in den 1960er Jahren zu einem Kernthema in der Bildungsdiskussion avancierte, sondern schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Hochschulreformdiskurs prägte. Als prominenter Referenzpunkt dieser Reformziele kann das 1948 vom deutsch-britischen Studienausschuss für Hochschulreform vorgelegte „Blaue Gutachten“ gelten. Im Gegensatz zu Maßnahmen der staatlichen Umverteilung von Bildungschancen in der sowjetischen Besatzungszone wurde im Westen in der Frage der sozialen Öffnung auf die Überwindung finanzieller Schwierigkeiten fokussiert. Die Gründung von Studienstiftungen, die Einrichtung von Studentenwerken und die spätere Einführung öffentlicher Unterstützungs- und Darlehensmodelle waren Konsequenzen dieser Anstrengungen. Während die bisherige Forschung das weitgehende Schei-

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tern dieser Hochschulreformimpulse hervorhob und auf die Widerstände der Professorenschaft zurückführte, argumentiert Wolbring, dass sich die geistesaristokratischen Vorbehalte der Professoren nicht gegen eine soziale Öffnung der Universitäten per se, sondern vielmehr gegen die mangelnde intellektuelle Vorbildung der Studienanfänger wandten. Mit dem Festhalten am Abitur als Grundlage für die Hochschulreife verlagerten die Universitätsprofessoren die soziale Frage und die Reformanstrengungen von den Universitäten zum größten Teil auf die Schulen und die Politik. Isabel Schmidt demonstriert am Beispiel der Technischen Hochschule Darmstadt, wie die Ingenieure in der Nachkriegszeit in ihrer öffentlichen Rhetorik die Selbstmobilisierung während des Nationalsozialismus auf das „Fachspezialistentum“ und die mangelnde Vermittlung von kritischer Reflexion und Allgemeinbildung zurückführten. Die „Missbrauchsformel“ (Herbert Mehrtens) von Technik als der Gesellschaft dienende, schöpferische, jedoch vom NS-System missbrauchte Kraft und die Pathosformel von Technik als ethischer und kultureller Aufgabe waren Argumentationsstrategien, um ein den neuen politischen Verhältnissen adäquates Image zu entwerfen. Einen wichtigen institutionellen Schritt in den politischen Bemühungen der reeducation stellte an der TH Darmstadt die Einführung eines der ersten Lehrstühle für politische Wissenschaft und universalbildender Lehrveranstaltungen dar. Der Verbreitung eines neuen Selbstbildes in der Öffentlichkeit und der Verbesserung des Verhältnisses zwischen Stadt und Technischer Hochschule dienten populärwissenschaftliche Vorträge. Diese waren aber nicht darauf ausgerichtet – und hier zeigte sich das elitäre Selbstverständnis auch der Techniker und ihre Distanz zu einer breiteren Öffentlichkeit –, aktuelle Forschungen zu kommunizieren, denn die Ingenieure sprachen dem Laienpublikum die Einsicht in technische Forschungen ab. Dass universitäre Öffentlichkeitsarbeit bereits in der Nachkriegszeit professionalisiert und keineswegs frei von politischen Implikationen war, zeigt Charlotte A. Lerg in ihrem Beitrag über einen Dokumentarfilm der Freien Universität Berlin von 1949. Dieser erste Imagefilm der Freien Universität Berlin ist ein Beispiel für eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit, die eine universitäre corporate identity mit kommerzieller Werbung und politischen Anforderungen amalgamierte. Der Film wurde in vielfältigen Funktionen eingesetzt: zur Einwerbung von (US-amerikanischen) Spendengeldern, zur Imagepflege der Universität nach innen und außen sowie als politischer Propagandafilm, der Westorientierung und den „Freiheitskampf Berlins“ im beginnenden Kalten Krieg demonstrieren sollte. Die Intentionen der Produzenten spiegeln sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in den formalen Gestaltungsmitteln des Dokumentarfilms, die sich an Wirtschafts-, Werbe- und Propagandafilmen orientierten. Das universitäre Selbstverständnis als ideologieferne Institution konnte wirksam für Werbe- und Propagandazwecke verfügbar gemacht werden. Nach 1949 zeichnete sich mit der Verschärfung des Ost-West-Konfliktes, der Gründung der DDR und der Souveränität der BRD eine zunehmende Politisierung von Universität und Wissenschaft ab, die auch im untersuchten Dokumentarfilm deutlich wird.

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Auseinandersetzungen mit der Presse betrafen seit Ende der 1950er Jahre die Universitäten insgesamt. Sebastian Brandt beobachtet, wie in dieser Phase an den Hochschulen vermehrte Anstrengungen unternommen wurden, um die öffentliche Kommunikation durch den Ausbau universitärer Pressestellen zu verbessern. Bereits in der Zeit um 1960 wurden in der überregionalen Presse (so z. B. ZEIT und FAZ) Missstände des Universitätssystems angeprangert und die nicht zuletzt von den Universitäten selbst ausgehenden Reformforderungen als Krisendiagnosen skandalisiert. Universitäre Hilferufe angesichts der „Überfüllungskrise“, ob elitär-kulturpessimistisch oder strukturreformerisch durchsetzt, zielten auf Planung und Entlastung des Hochschulwesens ab. Der Wissenschaftsrat orientierte sich in seinen Empfehlungen in den 1960er Jahren nicht nur an universitätsinternen, sondern auch an den öffentlichen Diskussionen und griff hier Forderungen nach einer stärkeren Strukturierung, Didaktisierung und Rationalisierung des Studiums auf, was Widerstände innerhalb der Professorenschaft auslöste. Deren Blockade veranlasste wiederum die Presse, ein reformunwilliges Image der Universität zu verbreiten. Die Universitäten reagierten darauf mit einer verstärkten Zusammenarbeit mit Presse, Hörfunk und Fernsehen und suchten auf diesem Wege mit öffentlichkeitswirksamen Mitteln den massenmedialen Krisenszenarien entgegenzutreten. Damit sollten aber auch staatliche Investitionen in die Universitäten gerechtfertigt und weitere Finanzierungsquellen mobilisiert werden. Die Medienpräsenz der Universitäten war nicht direkt und ursächlich für den massiven Ausbau der Universitäten, der mit Beginn der 1960er Jahre einsetzte, verantwortlich, doch erzeugte sie eine symbolische Ressource. Nach US-amerikanischem Vorbild sollten public relations und Hochschulmarketing fortan zum festen Bestandteil deutscher Universitäten werden. Seit den frühen 1960er Jahren vollzogen sich nicht nur eine Medialisierung der Hochschulpolitik und eine Professionalisierung der universitären Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch eine Verwissenschaftlichung und Politisierung der Hochschulreformdiskurse. Diese „Verwissenschaftlichung der Verwissenschaftlichung“62 mündete auch in dem Anspruch von Wissenschaftlern, Hochschulpolitik aktiv mitzugestalten. Dies zeigt Franziska Meifort am Beispiel von Ralf Dahrendorf, einem prominenten Protagonisten der Verbindung von Bildungsforschung, Hochschulreform und Politik. Der Tübinger Bildungsforscher machte ein deutsches Demokratiedefizit an der mangelnden Konfliktfähigkeit und der unrepräsentativen Herkunftsschichtung deutscher Führungsgruppen fest. Ungleichheiten im Bildungszugang führte Dahrendorf – anders als noch die Reformer des „Blauen Gutachtens“ von 1948 – nicht auf finanzielle, sondern auf soziale Ursachen zurück. Um Demokratie und bürgerliche Gleichheitsrechte nicht nur formal, sondern auch praktisch umzusetzen, strebte er eine enge Verknüpfung von Bildungsforschung, Bildungsplanung und Bildungspolitik an. Mit den Planungen für die Reformuniversität Konstanz entwickelte er ein an US-amerikanischen Colleges orientiertes Modell, das sich durch seine innovative interdisziplinäre und gesellschaftskritische Lehr- und Forschungsumgebung von der traditionellen Ordinari62 Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik, S. 119.

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enuniversität abgrenzte. Diese 1966 vorgestellten Pläne einer integrierten Gesamthochschule und einer Rationalisierung des Studiums wurden nicht umgesetzt, sondern zeitigten eher langfristig Wirkungen. Franziska Meifort erkennt in der durchgehend positiven öffentlichen Resonanz, auf die Dahrendorf stieß, das gesellschaftliche Potenzial seines liberalen „dritten Wegs“ zwischen Adenauers Konsensdemokratie und radikaldemokratischer Protestbewegung. Wilfried Rudloff untersucht in seinem Beitrag die sozialwissenschaftliche Hochschulforschung, die in den 1960er und 1970er Jahren Steuerungswissen für den Hochschulausbau zur Verfügung stellte. Er zeigt, wie sehr diese neue Hochschulforschung an die jeweiligen Verwertungschancen gebunden war und das neue Wissen höchst polyvalent genutzt wurde. Erste vom Wissenschaftsrat in den frühen 1960er Jahren in Auftrag gegebene Forschungen legitimierten dessen Forderungen, z. B. nach Einführung von Zwischenprüfungen, ebenso wie die von studentischer Seite geforderte Hochschuldidaktik. Ein neuer Forschungszweig entwickelte sich mit der regionalen Bildungsforschung, deren Verwertbarkeit als „Standortforschung“ z. B. in der Auswahl neuer Hochschulstandorte zum Tragen kam. Mit dem „Hochschulinformations-System“, kurz HIS, einer von der Stiftung Volkswagenwerk finanzierten, 1969 initiierten GmbH zur Planungs- und Verwaltungsrationalisierung, trat auch ein wirtschaftliches Unternehmen in die Hochschulforschung ein. Das fortschrittsoptimistische Programm des HIS sah vor, ein Datensystem zu etablieren, das auf wissenschaftlicher Basis umfassende Planungssicherheit gewähren sollte. Ab Beginn der 1970er Jahre beschränkte sich das HIS jedoch auf die Entwicklung EDV-gestützter Verwaltungs- und Planungssysteme zur Rationalisierung und Verbesserung der hochschulinternen Informationsstruktur. Die Verwissenschaftlichung diente der Ökonomisierung und Rationalisierung der Verwaltung. Die Hochschulforschung büßte Anfang der 1970er Jahre aufgrund der Unsicherheit der Prognosen ihre Relevanz für politische Entscheidungsprozesse ein. Sie erlebte ab Mitte der 1970er Jahre einen erneuten Aufschwung, als eine restriktive Bildungspolitik sich nun wieder durch Bedarfsschätzungen legitimieren musste, d. h. ihre Forschungsergebnisse wurden entsprechend der relevanten politischen Zwecke eingesetzt. Nikolai Wehrs untersucht den 1970 von Professoren und Bildungspolitikern gegründeten Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW), der als ein hochschulpolitisches Defensivbündnis verstanden werden kann. Führende Vertreter des BFW gehörten der Generation der sogenannten „1945er“ an. Wie Dahrendorf unterstützten sie Anfang/Mitte der 1960er Jahre zusammen mit kritischen Studierenden das Anliegen einer Hochschulreform und gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung. Als sich 1968 die Studentenproteste radikalisierten, brach diese Allianz auf. Der BFW machte in den studentischen Aktionen und den Mitbestimmungsforderungen nun eine Bedrohung der Universität sowie der liberaldemokratischen Grundordnung aus. In seinem öffentlichen „Professorenprotest“ eignete sich der BFW in den 1970er Jahren moderne Mittel der Öffentlichkeitsarbeit an. Mit seiner offensiven Öffentlichkeitsarbeit wurde der Bund zum Motor eines öffentlichen Meinungsumschwungs gegenüber der Hochschuldemokratisierung, der von Wehr

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indirekt für das Scheitern der Hochschuldemokratisierung und Strukturreformen in den 1970er Jahren verantwortlich gemacht wird. Die folgenden Beiträge thematisieren in einem zweiten Block exemplarisch das Verhältnis von Geisteswissenschaften und Medizin zu verschiedenen Teilöffentlichkeiten in seinen Folgen für Wissenschaften und Universität, aber auch für die diesen Disziplinen zukommenden gesellschaftlichen Funktionen. Am Beispiel des Germanisten Hermann August Korff, der 1925–1954 als Ordinarius in Leipzig lehrte, analysiert Anna Lux dessen Interaktionen mit verschiedenen Teilöffentlichkeiten und seine Vermittlungsstrategien in der Popularisierung der Goethe-Forschung. Überraschend sind am Beispiel Korff die großen Kontinuitäten über die politischen Systembrüche hinweg: Goethe und der damit verbundene nationalpädagogische Anspruch hatte in der Weimarer Republik wie im NS und der DDR Konjunktur in der Bildungsvermittlung (ebenso wie in der BRD der Nachkriegszeit). Korff konnte sich gut vermarkten, vor allem Stil und Sprache erleichterten dem Publikum die Zugänglichkeit zu seinen Werken. Neben der Ausrichtung seiner Publikationen an einer bildungswilligen, nicht-akademischen Öffentlichkeit betont Lux Korffs Orientierung an seinem studentischen Zielpublikum als wichtigem Multiplikator seiner nationalpädagogischen Sendung. Sein Fokus richtete sich auf diese Teilöffentlichkeit der künftigen Lehrer und Erzieher, die er durch seine besondere Rhetorik zu gewinnen suchte. Der renommierte Germanist Korff ist ein Beispiel für die gesellschaftliche Verwertung geisteswissenschaftlichen Wissens und den gezielten Umgang mit bestimmten Teilöffentlichkeiten. Nicht nur in der BRD, sondern auch in der DDR war Goethe und die Weimarer Klassik ein bildungs- und kulturpolitisches Sujet, das im Vergangenheitsrekurs identitätsstiftende und legitimierende Funktionen erfüllte, humanistisches Gedankengut vermitteln und gegen den Nationalsozialismus immunisieren sollte. Wie die noch junge Disziplin Politikwissenschaft in den 1950er Jahren eng mit Politik, Militär und Öffentlichkeit verflochten war, ist Thema des Aufsatzes von Christa-Irene Klein. Anhand der intensiven Kooperationsverhältnisse des Freiburger Nestors der Politikwissenschaft Arnold Bergstraesser mit Militär und Verteidigungspolitik weist sie nach, dass politische Bildung in den 1950er Jahren auch militärpolitische Zielsetzungen verfolgte und bewusst für Verteidigungszwecke eingesetzt werden sollte. Dem Konzept der Erziehung mündiger Bürger lag ein für die 1950er Jahre typisches Demokratieverständnis zugrunde, in dem die Bundeswehr als wichtiger Teil der institutionellen Ordnung galt. In der geplanten Demokratisierung der Bundeswehr sollte die politische Bildung der Soldaten zu „Staatsbürgern in Uniform“ ein wichtiger Teilaspekt sein, der das Primat der Politik in der Bundeswehr stützte. Die universitäre Politikwissenschaft erfüllte hierbei eine wichtige Funktion in der öffentlichen Meinungsbildung und wirkte daran mit, die einstmals wehrwiderwillige Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass ein Wehrbeitrag in der Demokratie notwendig sei. Mit der Legitimation und Durchsetzung einer antitotalitaristischen, westorientierten Wertehaltung wurde, wie am Beispiel Arnold Bergstraessers gezeigt werden kann, das von der jungen

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Disziplin Politikwissenschaft entworfene Konzept der politischen Bildung zu einem wichtigen Mittel geistiger Rüstung im Ost-West-Konflikt. Mit der Mitsprache der Medien in Bereichen, die vorher der academic community vorbehalten waren, wurde auch die Geschichtswissenschaft in den frühen 1960er Jahren konfrontiert. Stephan Petzold untersucht die Interaktionen von wissenschaftlichen und massenmedialen Akteuren in der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre. Er argumentiert, dass die Debatte mitnichten von der brisanten These Fritz Fischers und deren geschichtspolitischen Implikationen, sondern von ihrer Stilisierung zum Medienereignis ausgelöst wurde. Fischers Thesen zur Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg wichen nicht nur inhaltlich vom vorherrschenden fachwissenschaftlichen wie politischen Konsens ab. Fischer beschritt auch kommunikationstechnisch einen neuen Weg, indem er nicht konventionell über die Fachöffentlichkeit an die mediale Öffentlichkeit herantrat, sondern sich über die massenmediale Anerkennung einen Weg in die Fachwissenschaft zu bahnen suchte. Diese Strategie wählte Fischer nicht nur aufgrund seiner relativen Isolation in der konservativen Geschichtswissenschaft, deren Ablehnung er befürchtete, sondern auch aufgrund guter Kontakte und gemeinsamer Interessen mit kritischen Journalisten. Das durchweg positive Echo, auf das Fischer in den Blättern der Zeitkritik stieß, stellte das Deutungsmonopol der wissenschaftlichen Zunft über die deutsche Geschichte in Frage. Die Fachwissenschaft, die den Machtzuwachs des liberal-demokratischen Gesellschaftsverständnisses und der kritischen Medienberichterstattung unterschätzt hatte, sah sich national und international mit dem Vorwurf undemokratischer Mentalitäten und Praxen konfrontiert. Dieser öffentliche Imageverlust führte schließlich im Lager der Fischer-Kritiker dazu, die Medienstrategien zu revidieren und auf eine moderat-räsonierende Kritik umzuschalten. Livia Prüll untersucht in ihrem Beitrag die Darstellung medizinischer Innovationen in der populären Zeitschrift Stern im Zeitraum von 1948 bis 1955. Sie zeigt wie die Zeitschrift entsprechend ihrer Medienlogik medizinische Neuigkeiten als Unterhaltung für „Lieschen Müller“ und „den kleinen Mann“ aufbereitete. Die Sujets sollten schockierend und skandalträchtig sein, sich aber auch zur Personalisierung und Emotionalisierung eignen. Die Reportagen standen sowohl in Einklang wie auch in Differenz zum Selbstverständnis der Universitätsmediziner. So knüpfte das in der Nachkriegszeit deutschnational-konservativ orientierte Blatt an die Heroenverehrung von Medizinern und das autoritär geprägte Ärztebild an. Doch zeigte sich Anfang der 1950er Jahre, dass sich dieses tradierte Image auch erschöpft hatte – nicht zuletzt wegen der Publikumserfolge investigativer und kritischer Berichterstattung. Der Stern skandalisierte medizinische Missstände in der NS-Zeit ebenso wie ärztliches Fehlverhalten oder kurzfristiges Kostendenken der Krankenkassen. Die an den Bedürfnissen des Publikums ausgerichteten Reportagen sensibilisierten für Patientenrechte und trugen medizinkritisches Potenzial in die Öffentlichkeit, das, so Prüll, die späteren Demokratisierungsprozesse der 1960er und 1970er Jahre vorbereitete. Nadine Kopp zeigt am Beispiel der Freiburger Medizinischen Fakultät, wie sich die Mediziner in den 1950er Jahre herausgefordert sahen, über ihre Kampa-

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gne zur Poliomyelitis-Impfung ihre Öffentlichkeitsarbeit zu intensivieren und ein neues Selbstbild zu entwerfen. Durch die bekannt gewordenen Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen in der NS-Zeit war die Freiburger Medizinische Fakultät bei der lokalen Bevölkerung nach 1945 in Misskredit geraten. Diese Legitimationskrise potenzierte sich, als 1953 illustrierte Zeitschriften die in der Kinderklinik durchgeführten Toxoplasmose-Nachweisverfahren als Menschenexperimente skandalisierten. Die Medizinische Fakultät antwortete auf diese Vertrauenskrise mit einer Verbesserung der städtischen Gesundheitsversorgung und einer Kampagne für die Impfung gegen Kinderlähmung, die den entstandenen Imageschaden gleichermaßen wie die Impfskepsis der Freiburger Bevölkerung zu überwinden suchte. Über die regionale Presse, Vortrags- und Informationsveranstaltungen, Kurzfilme sowie die öffentliche Impfung der eigenen Kinder wurde die Bevölkerung gezielt aufgeklärt und versucht, Vertrauen zu schaffen. Diese mediale Impfkampagne wurde gleichzeitig von den Medizinern dazu genutzt, ein neues Selbstverständnis in die Öffentlichkeit zu transportieren, das durch die Patientenaufklärung demokratischere Züge annahm, freilich ohne den traditionellen Paternalismus gänzlich zu überwinden. Sigrid Stöckel untersucht den „Wandel medi(k)aler Öffentlichkeiten“ anhand der von der Ärztekammer herausgegebenen Wochenschrift Ärztliche Mitteilungen/Deutsches Ärzteblatt im Zeitraum zwischen 1950 und ca. 1970. In der ärztlichen Standespresse erkennt Sigrid Stöckel ein Medium, das zunächst nicht auf Transparenz, Partizipation, Debattenkultur oder öffentliches Gemeinwohl ausgelegt war, sondern den konsensorientierten Selbstverständigungsdiskursen der Ärzteschaft diente. Erst sukzessive öffneten sich die Ärztlichen Mitteilungen seit den 1950er Jahren einem kritischen, innerprofessionellen Austausch und seit den 1960er Jahren auch gesellschaftlichen Diskussionen. Während die von anderen Medien seit Mitte der 1950er Jahre vorgebrachte Ärztekritik bis in die 1970er Jahre hinein nahezu konstant abgewehrt wurde, fand auf der Ebene der innerprofessionellen Öffentlichkeit durch kontrovers-kritische Diskussionen ein partieller Bruch mit dem traditionellen autoritären ärztlichen Selbstverständnis statt, so dass die Ärztepresse auf diesem Weg einen Beitrag zur Demokratisierung der Ärzteschaft leistete. Befunde und Tendenzen Die hier versammelten Beiträge können noch keinen systematischen Überblick über das Beziehungsgeflecht Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit im Zeitraum von ca. 1945–1970 geben. Dazu bleiben zu viele thematische wie methodische Lücken: So blieben Genderaspekte universitärer Öffentlichkeitsarbeit oder in der Universitäts- und Wissenschaftsberichterstattung der Medien und Hochschulpolitik unberücksichtigt. Es steht noch aus zu klären, wie eine mediale Öffentlichkeit die wachsende Zahl der Studentinnen oder Diskriminierungen und fehlende Karrierechancen von Wissenschaftlerinnen an deutschen Universitäten wahrnahm. Schon zu Beginn der 1950er Jahre führte unter anderem die Kritik von

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Frauenverbänden dazu, dass sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Situation von Wissenschaftlerinnen an deutschen Universitäten angestellt wurden.63 Zu fragen wäre hier z. B., wie bzw. ob die Interaktion von Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse stabilisierte oder liberalisierte. Die vorliegenden Beiträgen fokussieren auf die Bundesrepublik, deutsch-deutsche oder transnational vergleichende Untersuchungen – etwa die wechselvolle Beziehungsgeschichte des gegenseitigen ‚Wissens-Transfers‘ im internationalen Hochschuldiskurs – kommen nicht in den Blick, wenn auch der Einfluss des anglo-amerikanischen Bildungssystem und US-amerikanischen Colleges-Modell in einer Reihe von Beiträgen thematisiert werden. Weiter bildet vor allem die Verschränkung von Universität und Wissenschaft mit der Wirtschaft als einer immer wichtiger werdenden Teilöffentlichkeit ein wesentliches Desiderat. Ob sich eine kritische Öffentlichkeit gegenüber den Naturwissenschaften ähnlich wie gegenüber der Medizin und einigen Geisteswissenschaften seit den späten 1950er Jahren formierte und welche neuen naturwissenschaftlichen Disziplinen vielleicht ähnlich wie die Sozialwissenschaften dem „Zeitgeist“ entsprachen und entsprechend institutionalisiert und ausgebaut wurden, wäre ein weiterer lohnender Untersuchungsgegenstand. Dennoch geben die Beiträge des Bandes einen instruktiven Einblick in die intensiven Kooperationsverhältnisse zwischen Universität, Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen im Zeitraum von ca. 1945 bis 1970. Dabei zeichnen sich grob zwei Phasen ab, die sich auch in etwa mit dem von Arne Schirrmacher64 und Sybilla Nikolow ausgemachten Befund eines neuen Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit, das sich in den Jahren zwischen 1957 und 1968 entwickelte, decken. In den empirischen Untersuchungen treten allerdings die Kontinuitäten zu Aufbrüchen bereits in der Nachkriegszeit und in der ersten Hälfte der 1950er Jahre sowie zu Beginn der 1960er Jahre schärfer hervor: Die Jahre zwischen 1945 und ca. 1955 kennzeichneten Kooperationsverhältnisse mit anderen elitären Teilöffentlichkeiten im Sinne einer repräsentativen, nicht einer partizipativen Öffentlichkeit. Die Geisteswissenschaften behaupteten sich als kritische Reflexionsinstanz anderer Wissenschaften (Technik, Medizin) und der gesellschaftlichen Entwicklung sowie als nationalpädagogische Instanzen. Neue Disziplinen wie die Politikwissenschaft oder die Soziologie lieferten Legitimations- und Steuerungswissen für gesellschaftliche und politische Veränderungen – wie etwa am Beispiel der Wiederbewaffnung gezeigt werden konnte; sie entwerten in der öffentlichen Diskussion ältere, etablierte Disziplinen wie z. B. 63 Vgl. Charlotte Lorenz: Entwicklung und Lage der weiblichen Lehrkräfte an den wissenschaftlichen Hochschulen Deutschlands, Berlin: Duncker & Humblot, 1953; Wanda von Baeyer: Die Frau in der Wissenschaft, in: Edith Oppens: Die Frau in unserer Zeit. Ihre Wandlung und Leistung, Hamburg: Stalling, 1954, S. 203–236. Siehe auch Sylvia Paletschek: Berufung und Geschlecht. Berufungswandel an bundesrepublikanischen Universitäten im 20. Jahrhundert, in: Christian Hesse/Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas, Basel: Schwabe, 2012, S. 307–352. 64 Schirrmacher: Nach der Popularisierung, S. 95.

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die Geschichtswissenschaft als gesellschaftliche Deutungsinstanzen. Am Beispiel der Universitätsmedizin ließ sich zeigen, wie die Wissenschaft bestrebt war, ihre Indienstnahme im Nationalsozialismus und den damit einhergehenden Vertrauensverlust in der Bevölkerung wieder wett zu machen. Sie wandte sich offensiv mit (gesundheitspolitischen) Anwendungsangeboten an eine (lokale) Öffentlichkeit, thematisierte dabei ihre Rolle im Nationalsozialismus aber nicht weiter – was ansatzweise aber populäre Medien, wie z. B. der Stern, in den 1950er Jahre schon durchaus unternahmen. Forderungen nach Chancengleichheit, Partizipation und Hochschulreformen waren wichtige Themen schon der unmittelbaren Nachkriegszeit und der frühen 1950er Jahre; diese Probleme wurden keineswegs erst von der Studentenbewegung der 1960er Jahre aufgebracht, sondern waren bereits phasenweise zuvor äußerst virulent. Sie führten zu einem Bröckeln der hergebrachten Autorität von Universität und Wissenschaft, das vor allem durch die Massenmedien vorangetrieben wurde. Die sogenannte 1945er-Generation konnte sich in diesem Feld früher als in anderen gesellschaftlichen Sektoren etablieren. Kommerzielle Massenmedien wie z. B. ZEIT, FAZ oder der Stern und seine populären Skandalisierungsstrategien trugen zur Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit bei,65 die nun auch Universitäten und Wissenschaften erreichte. Im Falle der Medizin, aber etwa auch der Geschichtswissenschaft in der Fischer-Kontroverse, führte dies zu einer Abwehr der Angriffe in einem autoritären Gestus, doch in Ansätzen auch zu Demokratisierungsprozessen und mehr Transparenz innerhalb der Wissenschaft sowie zu moderateren Kommunikationsformen nach außen. In vielen der Beiträge wurde deutlich, wie wichtig der Kalte Krieg als diskursive und materielle Ressource für Universität und Wissenschaft war, ebenso wie umgekehrt der Kalte Krieg auch über Universitäten und Wissenschaft in die Gesellschaft getragen wurde. Ähnliches galt für politische Demokratisierung und gesellschaftliche Liberalisierung: Sie stellten eine große strukturelle und mentale Herausforderung für Universität und Wissenschaften dar, die hier gleichermaßen Widerstandsbastion, Experimentierfeld und Träger bzw. gesellschaftliche Multiplikatoren dieser Prozesse waren. Ab Mitte der 1950er Jahren zeichnete sich eine zweite Phase ab, die durch liberalisierende Um- und Aufbrüche im Verhältnis von Universität, Wissenschaft und Gesellschaft gekennzeichnet war: Der allmähliche Aufstieg der „Zeitkritik“ fiel zusammen mit einer Strukturkrise der Universitäten durch Überfüllungserscheinungen und Reformbedarf, der Gegenstand von Medienberichterstattung wie universitärer Selbstinszenierung wurde. Der massive Ausbau der Universitäten, der in den 1960er Jahren einsetzte, wurde durch die kritische mediale Berichterstattung ebenso wie durch ökonomische, soziale und politische Forderungen vorangetrieben. Es entstanden neue Kooperationsverhältnisse entlang der Achse der „Kritik“ zwischen einer nun partiell auch in der Wissenschaft Fuß fassenden kritischen Generation und den Medien – wie sich etwa am Medienereignis der Fischer65 Hodenberg: Konsens und Krise, S. 448–450.

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Kontroverse oder dem Aufstieg der kritischen Sozialwissenschaften zeigte. Mit Beginn der 1960er Jahre verknüpften sich, ähnlich wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, doch durch die nun einsetzende Expansion der Universitäten in einer gesteigerten und nachhaltigeren Dimension, hochschulpolitische Reformdiskurse und gesamtgesellschaftliche Demokratisierungsanliegen: Universitäten wurden, vorangetrieben auch durch die Interaktion mit den Medien, ein Experimentierfeld gesellschaftlicher Liberalisierung bei gleichzeitiger Verwissenschaftlichung der Hochschulpolitik, deren Umsetzung von ihrer politischen Verwertbarkeit abhing und die von neuen Institutionen wie dem Wissenschaftsrat vorangetrieben wurde. Damit einher ging seit den frühen 1960er Jahren eine Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit der Universitäten – vereinzelte Ansätze dazu hatte es an politisch herausgehobenen Institutionen wie der FU Berlin schon Ende der 1940er Jahre gegeben. „1968“ führte dann zu einer weiteren Professionalisierung und endgültigen Etablierung der Öffentlichkeitsarbeit in Universität und Wissenschaft. Die Radikalisierung der Studentenbewegung ab ca. 1967 brachte eine zunehmende Verhärtung der Fronten an den Universitäten mit sich und bedingte – wie sich etwa am Bund Freiheit der Wissenschaft zeigen lässt – ein Abrücken der 1945er Generation von weiteren Demokratisierungsforderungen im Wissenschaftsbetrieb. In den 1970er Jahren blieb mit den verabschiedeten neuen Hochschulgesetzen trotz verankerten Mitbestimmungsrechten weiterer Statusgruppen eine durchgreifende strukturelle Modernisierung der Universität stekken (was sich z. B. an der weiter bestehenden hierarchischen Lehrkörperstruktur zeigte) und beschränkte sich vornehmlich auf Rationalisierungsprozesse der Verwaltung. Eine gewisse Leerstelle betrifft die „Chiffre 1968“, denn die meisten Beiträge thematisieren Entwicklungen der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre. Geht man von deren Befunden aus, so schwächt sich die Zäsur „1968“, die angesichts der spektakulären Ereignisse an den Universitäten und ihren lange nachwirkenden, lebensgeschichtlichen Polarisierungen gemeinhin gemacht wird, ab und die Kontinuitätslinien in den strukturellen Veränderungen seit 1945 treten stärker hervor: Vieles was „1968“ an Veränderung und Reformpotenzial unhinterfragt zugeschrieben wird, setzte schon schubweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit und Ende der 1950er sowie zu Beginn der 1960er Jahre ein. Wie „1968“ diese Prozesse dynamisierte, aber auch zum Stocken brachte, bleibt eine offene Frage und weiteren Untersuchungen vorbehalten.66

66 So kommt Anne Rohstock zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Studentenbewegung am hochschulpolitischen Aufbruch der späten 1960er wie am „reformerischen Abbruch“ wenige Jahre später geringer war als „bisher angenommen“ und der studentische Protest von mächtigeren Akteuren „geschickt zur Durchsetzung oder Abwehr von Neuordnungsmaßnahmen“ benutzt wurde. Viel wichtiger für die hochschulpolitische Entwicklung war in ihren Augen der sich seit den späten 1950er Jahren formierende Reformdiskurs, Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“?, S. 415.

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Wissenschaft, Öffentlichkeit und die Rolle der Medien: Problematik, Konzepte und Forschungsfragen1 Sybilla Nikolow Wissenschaft ist eine öffentliche Angelegenheit, die in den Massenmedien kommentiert wird und damit zur öffentlichen Meinungsbildung beiträgt, wie Friedhelm Neidhardt anhand einer Studie von Pressekommentaren der überregionalen Zeitungen in den 1990er Jahren gezeigt hat.2 Neben den Nachrichtensendungen und Magazinen in Funk und Fernsehen berichten die Zeitungen regelmäßig über neueste Entwicklungen und deren Bedeutung für unser Weltbild und unseren Alltag. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung begleitet über Monate die Kernforscher am CERN auf ihrer Suche nach den kleinsten Teilchen, lässt seitenlang Zukunftsforscher über die digitale Revolution zu Wort kommen, zitiert aus wissenschaftlichen Konferenzen und beteiligt sich an der wissenschaftspolitischen Debatte um exzellente Forschung und Lehre an den Universitäten. Die Spiegel-Bestsellerliste führt in der Rubrik Sachbuch populärwissenschaftliche Fachbücher3 wie selbstverständlich neben Selbsterfahrungsberichten und Lebensratgebern auf. Und die Regionalzeitungen verbuchen im Verbund mit den lokalen Pressestellen der Universitäten Gewinne im Exzellenzwettbewerb als Standortvorteil. Neben Neidhardt hat vor allem Peter Weingart schon länger auf die wachsende Bedeutung professionalisierter Öffentlichkeitsarbeit für wissenschaftliche Institutionen hingewiesen.4 Mit Beginn des Exzellenzwettbewerbs der Bundesregierung ist die Rolle der Pressestellen nochmals gestiegen. Sie heißen heute Referate für Kommunikation und sind für die Außendarstellung zuständig. Diese Entwicklung verdeutlicht zum einen, welche Schlüsselrolle die Massenmedien inzwischen in der Kommunikation von Wissenschaft für eine breitere Öffentlichkeit einnehmen, und zum anderen, dass die Initiative dazu unvermindert von den Wissenschaftlern und nun häufig auch von ihren Institutionen selbst ausgeht, die mit medialer Unterstützung ein größeres Publikum erreichen und die öffentliche Meinung mitbestimmen wollen. Der Weg vom Elfenbeinturm ins Rampenlicht, in 1 2 3

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Ich danke Martina Franzen, Simone Rödder und Christian Sammer für ihre hilfreichen Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. Friedhelm Neidhardt: Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit. WZB-Vorlesungen 3, Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, 2002. Wie etwa gerade das neueste Werk des Theoretikers des New Historicism und Pulitzerpreisträgers Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann, München: Siedler, 2012 (http://www.spiegel.de/kultur/charts/spiegel-bestseller-hardcover-a-458991.html, Zugriff am 22.07.2012). Zusammenfassend dazu Peter Weingart: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2005.

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der Nachkriegszeit noch unerwünscht und noch weitgehend undenkbar, ist inzwischen attraktiver und üblicher geworden.5 Sogar die großen Förderorganisationen erwarten inzwischen, dass die von ihnen unterstützten Forscher und Forscherinnen ihre Ergebnisse nach außen vermitteln. Sie bieten Unterstützung für entsprechende Maßnahmen an6 und prämieren gelungene Beispiele.7 Damit wird anerkannt, dass Zeitung, Funk und Fernsehen eigenen Regeln folgen, die erst beherrscht werden müssen, um die jeweilige Botschaft erfolgreich lancieren zu können. Die Wissenschaft ist aufgerufen, sich die Aufbereitung ihrer Erkenntnisse für ein breites Publikum nicht von den Journalisten aus der Hand nehmen zu lassen. Doch wenn sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an die Massenmedien wenden, dann ist der Zielkonflikt meist schon vorprogrammiert, denn dort interessiert Wissensvermittlung nur insofern sie einen Aktualitäts- oder Unterhaltungswert besitzt oder der Meinungsbildung dienen kann.8 Es wäre ein Irrtum, den Medien zu viel Bildungsarbeit abzuverlangen, denn sie haben andere Selektionskriterien als die Wissenschaft für ihre Themenwahl und deren Aufbereitung. Hier zählen Neuigkeit und Meinungsdifferenz und nicht unumstößliche Wahrheiten und Konsens.9 Wissenschaftsvermittlung in möglichst umfassendem Sinne findet sich nur in Lehrbüchern und ist Gegenstand des klassischen Unterrichts der verschiedenen Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Universität. Sie kann nicht durch den Konsum der Massenmedien – auch nicht der digitalen – ersetzt, sondern, wenn überhaupt, nur ergänzt werden. Es wäre von den Großinitiativen zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit viel zu erwarten, wenn das Argument stimmte, dass der Einsatz von Massenmedien die Hoffnung erfüllen könnte, potentiell jeden zu erreichen. Diese Initiativen gehen inzwischen nicht mehr nur von

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Vgl. zuletzt Beatrice Dermbach (Hg.): Vom Elfenbeinturm ins Rampenlicht. Prominente Wissenschaftler in populären Massenmedien, Wiesbaden: Springer VS, 2012. So etwa die VW-Stiftung mit einem eigenen Förderangebot, vgl. http://www.volkswagenstiftung.de/foerderung/wissenschaftsvermittlung-und-kommunikation.html, Zugriff am 14.11.2012. Beispielsweise der „Communicator-Preis-Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 2000 ausschreibt (http://www.dfg.de/gefoerderte_projekte/wissenschaftliche_preise/communicator-preis/index.html, Zugriff am 14.11.2012) und der Klaus-Tschira-Preis für verständliche Wissenschaft, deren Schirmherr der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Peter Gruss ist und der für die Darstellung der Ergebnisse „exzellenter“ naturwissenschaftlicher Doktorarbeiten in einem „allgemeinverständlichen und spannenden Artikel“ vergeben wird (http://www.klaus-tschira-preis.info/, Zugriff am 14.11.2012). Die gegenseitigen Missverständnisse werden interessanterweise von alle interviewten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Dermbach: Elfenbeinturm thematisiert. Vgl. zur Nachrichtenwerttheorie etwa Hans Mathias Kepplinger: Der Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren, in: Christina Holtz-Bacha/Helmut Scherer/Norbert Waldmann (Hg.): Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 19–38.

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der Wissenschaft, sondern zunehmend auch von der Politik aus.10 Die Bilanz hingegen fällt eher nüchtern aus, wie unter anderem eine Studie zur Evaluation der Wissenschaftsjahre belegt, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegeben hat. Danach erreichen, die im Unterschied zur Schule auf freiwillige Teilnahme setzenden Maßnahmen eher die ohnehin bereits Bekehrten als die Unentschiedenen und Uninteressierten.11 Hinzu kommen der starke Eventcharakter der Großveranstaltungen und die geringe Nachhaltigkeit der Wissensangebote. Viele Initiativen kranken auch an der meist seitens der Politik artikulierten falschen Erwartung, dass die Verringerung von Unkenntnis auf Seiten der Nichtexperten automatisch zu Zustimmung und Verständnis führen.12 Das Gegenteil zeigt sich am Beispiel der engagierten Laien in Patientengruppen13 und Bürgerkonferenzen.14 Dort werden der freie Zugang zu Information und die Expertenanhörungen von den Laien dazu genutzt, um mit den Fachleuten über Chancen und Risiken umstrittener Technologien auf einer Augenhöhe zu debattieren. Im Folgenden soll diese aktuelle Problematik in der Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit aus beiden Richtungen reflektiert werden und nach Möglichkeiten zur Beschreibung dieser wichtigen Facette der modernen Wissensgesellschaft gefragt werden. Meine Ausführungen verstehen sich als Beitrag zur Aufarbeitung des Forschungsstands und zur Anregung weiterer Untersuchungen. Dabei ist bereits viel geleistet worden, um die Motive und Wege zur Popularisierung und Öffentlichkeitsarbeit von Seiten der Wissenschaft zu bestimmen. Viele dieser Initiativen lassen sich als Politik für die eigene Disziplin beschreiben. Mehr Forschungsbedarf gibt es dagegen noch in drei anderen Dimensionen des Verhältnisses: erstens zur wachsenden Bedeutung der Massenmedien als öffentliche Meinungsmacher, zweitens zur Rolle des Publikums, das noch weitgehend undifferenziert in diesem Zusammenhang beschrieben wird und schließlich drittens zu den Kommunikationsformen und -produkten. Letztere können mitnichten, wie lange pauschal behauptet wurde, als Verflachungen eines höheren Wissens angesehen werden.

10 Vgl. 10 Jahre Wissenschaft im Dialog. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2009 (www.wissenschaft-im-dialog.de/fileadmin/redakteure/dokumente/091509_WiD_Druck.pdf., Zugriff am 20.07.2012). 11 Simone Rödder/Miriam Voss: PUSH 2.0. Erreicht die Wissenschaftskommunikation das, was sie soll?, in: Anita Hermannstädter/Michael Sonnabend/Cornelia Weber (Hg.): Wissenschaft kommunizieren. Die Rolle der Universitäten, Essen: Edition Stifterverband, 2008, S. 40–45. 12 Siehe zur internationalen Debatte dieses Themas bereits Bruce V. Lewenstein: Editorial. A Decade of Public Understanding, in: Public Understanding of Science 11 (2002), S. 1–4. 13 Steven Epstein: Patient Groups and Health Movements, in: Edward J. Hackett et al. (Hg.): The Handbook of Science and Technology Studies, Cambridge, Mass.: MIT Press, 20083, S. 499–539. 14 Vgl. zur ersten bundesweiten Bürgerkonferenz Silke Schicktanz/Jörg Naumann (Hg.): Bürgerkonferenz: Streitfall Gendiagnostik. Ein Modellprojekt der Bürgerbeteiligung am bioethischen Diskurs. Hg. im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Opladen: Leske + Budrich, 2003.

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Das erste Forschungsdesiderat verwundert, weil gerade für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits verschiedene Studien vorliegen.15 Sie zielen zwar vornehmlich auf die Rolle der Massenmedien für die politische Kommunikation, liefern aber gute Einblicke in ihre Geschichte und Praxis sowie in deren Öffentlichkeitskonzeptionen. Die Ergebnisse bieten sich für den Vergleich mit der medialen Behandlung von Wissenschafts- und Bildungsfragen förmlich an. Dass wir zudem so wenig über das Publikum der Wissenschaftskommunikation wissen, ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass sich diesem Thema die Wissenschaftsforschung bisher allein verpflichtet gefühlt und aus ihrem Selbstverständnis heraus die Beziehungsgeschichte zunächst eher einseitig betrachtet hat. Wie allgemein in diesem Forschungsfeld hat sich erst langsam, wie weiter unten näher ausgeführt wird, die symmetrische Sichtweise zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit durchgesetzt. Diese Umorientierung hat letztlich auch zu einer Neubetrachtung des popularisierten Wissens geführt, das nun vielmehr als Grenzobjekt zwischen verschiedenen Interessen und Wissensformen betrachtet wird. Öffentlichkeitsorientierung der Wissenschaften als Politik der Disziplinen Dank vieler Einzelstudien wissen wir inzwischen ziemlich gut über die Entwicklungen in den Wissenschaften Bescheid, sowohl im historischen Verlauf als auch international vergleichend. So ist das Drängen ihrer Akteure in die Öffentlichkeit ebenso wie die zahllosen Versuche zur Popularisierung von Forschungsergebnissen seit dem Zeitalter der Aufklärung mit der Einbeziehung immer breiterer Schichten sowie der Eroberung neuer sozialer Räume für die Wissensvermittlung umfassend untersucht.16 Während die naturwissenschaftlichen Disziplinen in den letzten 25 Jahren bereits sehr intensiv untersucht wurden, sind systematische Studien zur Popularisierungsgeschichte der geisteswissenschaftlichen erst neueren Datums.17 Viele wissenschaftliche Meinungsführer sind uns nun auch über ihre populären Werke besser bekannt. Es ist jetzt eine anerkannte Tatsache, dass diese Art von Öffentlichkeitsarbeit die Wissenschaftsentwicklung entscheidend mitge15 Vgl. etwa Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen: Wallstein, 2006 und Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit der Politik, Göttingen: Wallstein, 2003. 16 Vgl. dazu bereits Terry Shinn/Richard Withley (Hg.): Expository Science. Forms and Functions of Popularization, Dordrecht: Kluwer, 1985; die Beiträge zum Themenheft von History of Science 32 (1994) und zum Themenheft „Populäres Wissen” der Zeitschrift Werkstatt Geschichte 23 (1999). Siehe außerdem die bahnbrechende Studie von Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, München: Oldenburg, 1998. Das Forschungsfeld ist seitdem enorm gewachsen. 17 Vgl. Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.): Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript, 2009, S. 11 sowie Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript, 2011, S. 15.

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prägt hat. Insofern kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass spätestens seit dem 20. Jahrhundert die Entscheidung, ob etwas zur Wissenschaft gehört oder nicht, nicht mehr nur von dieser allein, sondern im Verbund mit der Öffentlichkeit entschieden wird.18 Zunächst waren es vornehmlich Einzelpersonen, welche die Initiative ergriffen hatten und seit dem 19. Jahrhundert Vereine, Bildungseinrichtungen und Medien als Plattformen für ihre Vermittlungsarbeit nutzten.19 Dies unternahmen sie trotz beziehungsweise aufgrund weitverbreiteter elitärer Bedenken gegen eine mögliche Profanisierung der Wissenschaft durch die Popularisierung.20 Dass Universitäten und Forschungseinrichtungen über Rektoratsreden hinausreichende institutionalisierte Beziehungen zur Öffentlichkeit pflegen, ist erst ein vergleichsweise junges Phänomen, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam.21 Heute betrachten wissenschaftliche Einrichtungen und ihre Vertreter die Kommunikation mit der Öffentlichkeit als einen gesellschaftlichen Auftrag, zu dem sie sich gegenüber dem Steuerzahler, der sie alimentiert, verpflichtet sehen. Alle Universitäten und Forschungseinrichtung haben inzwischen professionelle Presseabteilungen. Gemeinsam ist den Initiativen, die von den Wissenschaften selbst ausgehen, dass die Öffentlichkeit adressiert wird, um Politik für die eigene Disziplin zu betreiben. Unabhängig davon, wie verschieden die verfolgten Ziele im Einzelnen sind, geht es nicht nur um die vermeintliche Unwissenheit des Restes der Welt, sondern auch um die Abwehr alternativer Deutungsangebote der Kollegen. Das Motiv zur Popularisierung besteht hier in der öffentlichen Anerkennung des eigenen Ansatzes und seiner Ergebnisse. Gesucht wird die öffentliche, meist vorbehaltlose Unterstützung des eigenen Anliegens. Seltener wird die größere Öffentlichkeit adressiert, weil eine kritische Debatte über die Ergebnisse der Forschung für nötig erachtet wird. In diesem Sinne sind viele Einzelbestrebungen nicht nur als außenpolitische, sondern auch als innenpolitische Maßnahmen zu verstehen, die sich als Machtkämpfe um größeren Einfluss beschreiben lassen.22 Beispielhaft dafür war der wissenschaftliche Wettlauf zwischen der privaten Firma von Craig Venter und dem öffentlich geförderten Humangenomprojekt bei der Entzifferung 18 Simon Schaffer: What is Science, in: John Krige/Dominique Pestre (Hg.): Science in the Twentieth Century, Amsterdam: Harwood Academic, 1997, S. 27–41. 19 Zum 19. Jahrhundert vgl. Daum: Wissenschaftspopularisierung; zum 20. Jahrhundert u. a. Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus, 2007. 20 Dabei hat Kritik, gerade aus bildungsbürgerlichen Kreisen, alle Initiativen begleitet. Bestimmte Argumente finden sich noch heute. Der Diskurs über zulässige, unzulässige, gute oder schlechte Popularisierung ist noch nicht systematisch untersucht worden. 21 Zur öffentlichen Funktion von Rektoratsreden zuletzt Dieter Langewiesche: Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 15–37. 22 Vgl. die Fallstudien in diesem Band zu einzelnen Akteuren, wie Professoren, aber auch wissenschaftlichen Einrichtungen, die als Experten in den Medien auftreten, um die öffentliche Meinung zu kritischen Fragen der Zeit mitzubestimmen.

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des menschlichen Erbguts. Da Venter professionell mit den Medien zusammengearbeitet hatte, musste das öffentliche Programm nachziehen, wollten deren Vertreter nicht den Anschluss an die öffentliche Meinung verlieren. Letztlich wurde der Wettstreit zwischen den beiden Forschungsvorhaben über die Medien ausgetragen, und er gipfelte schließlich in der Bekanntgabe der jeweiligen Ergebnisse in einer gemeinsamen Pressekonferenz vor der versammelten politischen Prominenz im Juni 2000 zur besten Sendezeit.23 Die Öffentlichkeit(en) der Wissenschaft Wer ist die Öffentlichkeit der Wissenschaft und was erwartet sie von der Wissenschaft? Wie eignet sie sich deren Produkte an und wie verarbeitet sie das erworbene Wissen? Diese Fragen, die sich erst stellen, wenn der Öffentlichkeit eine Relevanz für die Produktion, Zirkulation und Validierung von Wissenschaft zugestanden wird, lassen sich nicht für die Wissenschaft oder die Öffentlichkeit als monolithische Ganzheiten pauschal, überzeitlich und überall gültig beantworten, denn jeder Fall ist kontextabhängig und an spezielle Bedingungen gebunden. Was allgemein gesagt werden kann, ist, dass sich die relevanten Öffentlichkeiten, seitdem Wissenschaft ein Beruf geworden ist, grundlegend verändert haben. Der wichtigste Unterschied zwischen dem frühneuzeitlichen, höfischen Patronagesystem und dem modernen Staat, der Wissenschaftlern ermöglicht hat, ihren eigenen Betrieb aufzubauen, besteht darin, dass der Staat die Wissenschaften vornehmlich wegen ihres Nützlichkeitsversprechens fördert und als Vertreter der öffentlichen Interessen seiner Bürger auftritt. Quer durch alle politischen Lager besteht neben den ganz konkreten technischen Umsetzungen wissenschaftlicher Forschungsergebnisse ein wichtiges Motiv in der Nutzung von Beschreibungsmodellen zur Deutung sozialer Ordnungen. Darwinismus, Eugenik und Sozialbiologie sind nur die offensichtlichsten Beispiele dafür, wie wissenschaftliche Denkweisen mit naturalisierender Funktion zur Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse herangezogen wurden.24 Ein späteres Beispiel ist die Kybernetik, ein aktuelles wäre die Gentrifizierung der Gesellschaft.25 In all diesen Fällen dienen wissen23 Simone Rödder: Wahrhaft sichtbar. Humangenomforscher in der Öffentlichkeit, BadenBaden: Nomos, 2009. 24 Vgl. Steven Shapin: Science and the Public, in: Robert C. Olby et al. (Hg.): Companion to the History of Science, London: Routledge, 1990, S. 1002–1006 sowie Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen im 20. Jahrhundert als methodische und konzeptuelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Doris Kaufmann: Eugenik-Rassenhygiene-Humangenetik. Zur lebenswissenschaftlichen Neuordnung der Wirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Richard van Dülmen (Hg.): Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Köln: DuMont, 1998, S. 347–365. 25 Vgl. Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.): Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008; Regine Kollek/Thomas Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt/M.: Campus, 2008.

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schaftliche Sichtweisen zur Erklärung sozialer und politischer Konflikte sowie der Legitimierung bestimmter Maßnahmen. Die Öffentlichkeit als äußerer Einflussfaktor In demokratischen Massengesellschaften können auch die Wissenschaften keinen arkanen Bereich mehr darstellen, der den Augen der Öffentlichkeit verborgen bleibt. Das war auch den Funktionseliten der Wissenschaft nach 1945 in Deutschland schon klar. Die meisten von ihnen befürchteten jedoch, dass auf diese Weise die wertvollen wissenschaftlichen Erkenntnisse in die falschen Hände geraten würden. So riet etwa Albert Betz,26 langjähriger Direktor des Max-PlanckInstituts für Strömungsforschung, 1956 anlässlich des 65. Geburtstags des gerade entnazifizierten ehemaligen Generalsekretärs der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und aktuellen Generaldirektors der Max-Planck-Gesellschaft, Ernst Telschow,27 sich an den Mathematikern und Philosophen zu orientieren. Bei diesen sei es üblich, eine Sprache zu verwenden, die nur der Fachmann verstünde, denn: „die Erfahrung lehrt, daß die Ergebnisse dieser Wissenschaften weit weniger dem Mißbrauch unterworfen sind als die vieler anderer Forschungsgebiete“.28 Die Laien, die durch die Verwendung von Fachsprachen aus dem Austausch zwischen den Spezialisten ausgeschlossen bleiben sollten, gehörten für Betz zu den Massen, für die der Großteil der Bildungselite nur Verachtung übrig hatte. Betz bescheinigt ihnen vor der Erfahrung des Nationalsozialismus niedere Motive wie Machthunger, Ehrgeiz und Geldgier, welche die Diktatur der Massen, d. h. der unteren Schichten, erst ermöglicht hatten. Dieser Elitismus der 1950er-Jahre verschwieg und verheimlichte mit diesem Konstrukt die bildungsbürgerliche Beteiligung an und die Unterstützung von Krieg und Holocaust.29

26 Zur militärisch-industriellen Auftragsforschung unter seiner Leitung im Nationalsozialismus siehe Moritz Epple: Rechnen, Messen, Führen. Kriegsforschung an Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung, 1937–1945, in: Helmut Maier (Hg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften, Wallstein: Göttingen, 2002, S. 305–356. 27 Zur seiner Entnazifizierung siehe Alexandra Przyrembel: Friedrich Glum und Ernst Telschow. Die Generalsekretäre der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Handlungsfelder und Handlungsoptionen der „Verwaltenden“ von Wissen während des Nationalsozialismus, in: Vorabdruck der Ergebnisse aus dem Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus“, Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 2004 (http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/Ergebnisse/Ergebnisse20.pdf, Zugriff am 21.07.2012). 28 Albert Betz: Der Mißbrauch von Wissenschaft und Technik, in: Boris Rajewski/Georg Schreiber (Hg.): Aus der Forschung der letzten Dezennien. Dr. Ernst Telschow zum 65. Geburtstag gewidmet, Stuttgart: Thieme, 1956, S. 59. 29 Vgl. Herbert Mehrtens: „Mißbrauch“. Die rhetorische Konstruktion der Technik in Deutschland nach 1945, in: Walter Kertz (Hg.): Technische Hochschulen und Studentenschaft in der Nachkriegszeit, Braunschweig: Universitätsbibliothek der TU Braunschweig, 1995, S. 33–50.

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Da kein vollständiger Ausschluss der Öffentlichkeit mehr möglich war und Betz den Medien nur Sensationsgier zugestand, sah er allein die Wissenschaftler aufgrund ihrer qua Berufung attestierten moralischen Integrität dazu befähigt, die geistige Führerschaft über die Masse auszuüben, die – aus seiner Sicht – vom wissenschaftlichen Fortschritt zwar den Nutzen zöge, aber selbst nichts dazu beitragen würde.30 Die Interessen der Laien spielten noch keine Rolle, weil man sie in der Sache als irrelevant einstufte. Erst langsam rückte der kritische Verbraucher im Verein mit den Medien ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit und sorgte für Risse im bis dahin vorherrschenden Bild des göttergleich allmächtigen und unfehlbaren Schöpfers der Wissenschaft.31 Das Publikum musste sich sein Mitspracherecht erst erstreiten. So dauerte es bis in die 1990er Jahre hinein, bis partizipatorische Modelle auch in der Wissenschaftskommunikation zur Anwendung kamen.32 Inzwischen richten sich die Fragen weniger auf die moralische Befähigung der Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, sondern darauf, wie die Funktionsweisen beider Bereiche unter den Bedingungen einer medialen Dauerbeobachtung und Wechselwirkung erhalten werden können. Sie gehen deshalb in zwei Richtungen: Erstens, wie viel Öffentlichkeit braucht die Wissenschaft, um sozial robustes Wissen liefern zu können, das auch vor der Gesellschaft Bestand hat?33 Und zweitens: Wie kann trotz größter Transparenz nach außen gesichert werden, dass die Wissenschaft im Forschungsprozess ihren eigenen Dynamiken und Wertmaßstäben folgen und ihnen treu bleiben kann?34 30 Betz: Mißbrauch, S. 59–63. Zum breiteren Diskurs der geistigen Führerschaft durch Wissenschaft und Technik nach 1945 mit weiteren Beispielen siehe Mehrtens: Mißbrauch. 31 Beigetragen haben zur Demokratisierung der Gesellschaft gegenüber der vorherrschenden Expertenkultur viele Faktoren, u. a. die Medialisierung von Arznei- und Lebensmittel- sowie Umweltskandalen, vgl. u. a. Heiko Stoff: Hexa-Sabatt. Fremdstoffe und Vitalstoffe, Experten und der kritische Verbraucher in der BRD der 1950er und 1960er Jahre, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 55–83; Andrea Westermann: Plastik und politische Kultur in Westdeutschland, Zürich: Chronos, 2007; Willibald Steinmetz: Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre, in: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit der Politik, Göttingen: Wallstein, 2003, S. 195–228. 32 Massiamo Bucci/Federico Neresini: Science and Public Participation, in: Hackett et al. (Hg.): The Handbook of Science and Technology Studies, S. 449–472. 33 Zum Begriff des sozial robusten Wissens siehe Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge: Polity Press, 2001 und Helga Nowotny: Der imaginierte Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Vom imaginierten Laien zur sozialen Robustheit des Wissens, in: Priska Gisler et al. (Hg.): Imaginierte Laien. Die Macht der Vorstellung in wissenschaftlichen Expertisen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2004, S. 171–195. 34 Auf die eigentümliche Dynamik von Forschungsverläufen, die keinesfalls linearen Fortschrittslinien folgen, haben die sogenannten Laborstudien vielfach hingewiesen. Siehe in diesem Zusammenhang beispielsweise Hans-Jörg Rheinberger: Partikel im Zellsaft: Bahnen eines wissenschaftlichen Objekts, in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/M.: Fischer, 2001, S. 299–334. Zur Frage der wissenschaftlichen Werte siehe Martin Carrier/Alfred Nordmann (Hg.): Science in the Context of Application. Meth-

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Inzwischen ist es ein Gemeinplatz geworden, darauf hinzuweisen, dass die Wissensproduktion nicht im luftleeren Raum gedeiht, sondern der Wissenschaftsbetrieb Teil einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist, der von seinen vielfältigen Beziehungen zu anderen Bezugssystemen wie Öffentlichkeit, Medien, Politik, Staat oder Wirtschaft mitbestimmt wird. Gleichzeitig unterscheidet sich die Wissenschaft von anderen Bereichen dadurch, dass ihre Vertreter nach eigenen Regeln vorgehen. Wie die Beispiele des Wissenschaftswandels in diktatorischen Gesellschaften gezeigt haben, bedurfte es häufig nur weniger Anreize, um ideologiekonforme beziehungsweise systemloyale Wissenschaft hervorzubringen.35 Solche Anpassungen an politische Erwartungen bedeuteten aber nicht, dass der Erkenntnisprozess damit vollständig vorher bestimmbar wäre. Wissenschaft ist prinzipiell nicht planbar, und es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, dem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang Grenzen zu setzen. Öffentlichkeitskonzepte Seit der Formierung der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert und der bis heute anhaltenden Ausdifferenzierung und Fragmentierung der Gesellschaft ist das wissenschaftliche Publikum breiter und vielfältiger geworden. Während in soziologischen Theorien die Öffentlichkeit als zentrale gesellschaftliche Kategorie behandelt wird, der meist relativ undifferenziert Akteursqualitäten zugesprochen werden, hat es sich aus historischer und empirischer Sicht als sinnvoll erwiesen, die Öffentlichkeit als einen Raum zu beschreiben, der vom Bereich des Privaten abgetrennt ist. Im Zentrum der Forschung stehen in dieser Konzeption die Kommunikationsstrukturen, derer sich in der Öffentlichkeit bedient wird, die aber auch geschaffen werden, um Anliegen zu artikulieren und Aufmerksamkeit herzustellen.36 Dabei macht es inzwischen wenig Sinn, von der Öffentlichkeit in der Einzahl zu sprechen. Statt dessen haben sich in den modernen Gesellschaften verschiedene Formen von Öffentlichkeit beziehungsweise von einander im konkreten Fall unterscheidbare Teilöffentlichkeiten herausgebildet, die von der kleinen, noch halbprivaten Gesprächsöffentlichkeit über die Versammlungs- bis hin zur massenmedialen Öffentlichkeit reichen können. Wie in diesen öffentlichen Räumen odological Change, Conceptual Transformation, Cultural Reorientation, Dordrecht: Springer, 2010. 35 Vgl. Mark Walker (Hg.): Science and Ideology. A Comparative History, London: Routledge, 2003; Mitchell G. Ash: Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert. Was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner, 2006, S. 19–37. 36 Vgl. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–32; Axel Schildt: Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 177–206.

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Menschen zueinander in Beziehung treten und sich austauschen, wird durch die jeweiligen Kommunikationsformate mitbestimmt. Arne Schirrmacher hat aus diesem Grund nach einer Typologie von Ludwik Fleck zum wissenschaftlichen Publikationswesen ein Schichtenmodell für die in den Wissenschaften relevanten und von ihr adressierten Öffentlichkeiten vorgeschlagen. Er unterscheidet zwischen der Fachwissenschaft, den Fachkreisen außerhalb des engeren Forschungsgebiets, der Fachöffentlichkeit, der gebildeten und interessierten Öffentlichkeit, der gelegentlich interessierten Öffentlichkeit und der sogenannten breiten Öffentlichkeit.37 In dieser Unterteilung sortieren sich die jeweiligen Teilöffentlichkeiten danach, wie nah oder weit entfernt sie sich von den Orten der Wissensproduktion befinden. Das Modell ist hilfreich, zum einen, um über unterschiedliche Motive und Interessen am Zugriff auf wissenschaftliche Informationen aufzuklären, und zum anderen, um die Frage nach den jeweiligen Verarbeitungen von Wissen konkret stellen zu können.38 Abgesehen davon, dass dem Publikum die Suche nach Bestätigung bereits vorher bestehender Meinungen, aber auch Unterhaltung oder Erbauung als Motiv unterstellt werden kann, liegen seine Interessen nicht weit weg von denen der Wissenschaftler. So erwartet es anwendbare Produkte zur Orientierung und Verbesserung seiner aktuellen Lebenslage. Kontroversen sind weniger beliebt wie auch alles, was den Wissenschaftsbetrieb weniger unterscheidbar von der eigenen Alltagswelt macht. Lässt sich das angebotene Wissen nicht ins eigene Weltbild einbauen, so kann es auch zur Ablehnung desselben kommen. Deshalb wäre es vermessen, davon auszugehen, dass die Wissensaneignung durch die Laien in jeder Situation willkommen sei. Dass dies nicht automatisch der Fall sein muss, hat Brian Wynne mit seinen Kollegen anhand der Störfälle in der englischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield gezeigt.39 Dort haben die Arbeiter bewusst Informationen über die Strahlengefahr ignoriert, weil sie befürchteten, dass dieses Wissen ihre Ängste nur vergrößern und den eigenen Arbeitsplatz gefährden würde. Zudem interpretierten sie das Strahlungswissen als eine Gefahr für das soziale Gefüge im Betrieb. Sie befürchteten, dass das wissenschaftliche Personal diesen selbstbestimmten Aneignungsprozess als Vertrauensverlust hätte auslegen können. Das Beispiel zeigt, dass die Rezeption von Wissenschaft weniger vom Stand des Vorwissens als von den institutionellen Kontexten abhängt, in denen sie zur Anwendung kommt. Danach scheinen möglicherweise soziale Faktoren, wie die Zugänglichkeit und das Vertrauen in die kommunikative Situation, eine wichtigere Rolle für die Akzeptanz von Wissen zu spielen als kognitive Gründe. 37 Arne Schirrmacher: Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 73–95. 38 Siehe hierzu auch den Beitrag von Anna Lux in diesem Band, die dieses Differenzierungsmodell auf das Beispiel des Leipziger Germanisten Hermann August Korff anwendet. 39 Brian Wynne/Claire Waterton/Robert Grove-Whit: Public Perceptions and the Nuclear Industry in West Cumbria, Lancaster: Centre for the Study of Environmental Change, 1993. Eine leicht veränderte Version ist 2007 nochmals erschienen und online zugänglich unter http://www.csec.lancs.ac.uk/docs/Public%20Perceptions%20Nuclear%20Industry.pdf, Zugriff am 21.07.2012.

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Beschreibungsmodelle Das traditionelle, eindimensionale und hierarchische Bild des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, wie es in der Nachkriegszeit von Vertretern der Zunft wie Betz vertreten wurde, gilt in der Forschung schon seit Mitte der 1980er Jahre als überholt.40 Um aber zu verstehen, auf welchen Ebenen neuere Versuche zur Beschreibung ansetzen können, ist es hilfreich, sich die Implikationen des älteren Modells nochmals zu vergegenwärtigen. Mit diesem grundsätzlichen Blick soll es auch gelingen, die angesprochene Problematik vieler Popularisierungsbemühungen in Bezug auf ihre jeweiligen Wissenschafts- und Öffentlichkeitskonzeptionen zu systematisieren. Das traditionelle Bild Typischerweise wird dabei von einem Wissensgefälle zwischen beiden Bereichen ausgegangen. Auf der einen Seite verfügt die Wissenschaft über das Wahrheitsmonopol der Gesellschaft. Wissenschaft stellt Wissen in völliger Unabhängigkeit her. Den Vermittlern – wie den Medien – wird nur eine untergeordnete und passive Funktion zugestanden. Wenn sie die Ergebnisse der Wissenschaft in allgemein verständliche Formen bringen, geschieht dies auf der Grundlage der Annahme, dass sie diese dabei zwar vereinfachen, aber nicht verändern. Bisweilen wird sogar angenommen, dass das Wissen auf diese Weise verflacht werden würde und seine wissenschaftliche Qualität abnähme. Auf der anderen Seite wird die Öffentlichkeit als passiver Empfänger des popularisierten Wissens wahrgenommen. Entsprechend wird erwartet, dass sich bei den ungebildeten Laien nach erfolgter Belehrung quasi automatisch Verständnis und Zustimmung für die vermittelte Sache einstellt. Eine eigene Meinung wird ihnen jedoch nicht zugestanden. Dieses Modell weist eine zentrale Schwäche auf: die Vorstellung eines passiven, inkompetenten und unmündigen Publikums. Dies hängt erstens mit der Annahme zusammen, der Prozess der Kommunikation verliefe nur in eine Richtung, wobei das Publikum von der Produktion und Validierung des Wissens ausgeschlossen sei. Dies passt sich zweitens auch ein in das Bild von der Popularisierung als minderwertiger, nachgeordneter Tätigkeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Und drittens wird den Vermittlungen, ob diese nun von den Wissenschaften selbst ausgehen oder durch professionelle Medien geleistet werden, keine eigenständige Funktion zugebilligt. Es wird den Vermittlern und Vermittlerinnen weder zugestanden, eigene Interessen zu vertreten noch eigene Maßstäbe der Verarbeitung und Darstellung von Wissen und Information zu besitzen.

40 Vgl. als früheste Kritik Shinn/Withley: Expository Science sowie Stephen Hilgartner: The Dominant View on Popularisation. Conceptual Problems, Popular Uses, in: Social Studies of Science 29 (1990), S. 519–539.

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Die Rolle der Medien Im Rahmen der Kritik an dieser ungleichen Betrachtungsweise der Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit und der passiven Rolle der professionellen Vermittler, wurden in der soziologischen Wissenschaftsforschung Modelle entwickelt, in denen beispielweise die Eigenständigkeit der Medien stärker berücksichtigt wird.41 In diesen wird erstens in Betracht gezogen, dass Journalisten den Nachrichtenwert einer Meldung nach impliziten Kriterien wie Aktualität, Sensation, Personalisierung und Lokalbezug beurteilen und aufbereiten. Zweitens wurde darauf hingewiesen, dass diese Praxis stark davon abweicht, wie Kommunikation innerhalb der Wissenschaft funktioniert. Für den Konstruktionscharakter des in den Medien vermittelten Wissens ist weiterhin zu bedenken, dass neueste Erkenntnisse unter medienspezifischen Bedingungen Eingang in Nachrichtensendungen, Filme oder Pressemitteilungen finden und dann auf diese Weise die Öffentlichkeit in ihrer Meinungsbildung unterstützen. Was in der Wissenschaft erarbeitet wird und nicht in diese Formate passt, fällt tendenziell durch das Raster der medialen Berichterstattung und erreicht nicht das Massenpublikum. Aufgrund ihrer zentralen Rolle im Kampf um die begehrte öffentliche Aufmerksamkeit nehmen die Medien eine Schlüsselfunktion in modernen Gesellschaften ein. Nach Niklas Luhmann besitzen sie das Kommunikationsmonopol zwischen ausdifferenzierten Teilbereichen der Gesellschaft und fungieren häufig als Stellvertreter der Öffentlichkeit. Seit dem 20. Jahrhundert konfrontieren sie die Arbeit der Wissenschaftler auch mit den Erwartungen der Öffentlichkeit. Mit anderen Motiven als die public intellectuals, die die sich als Sprachrohre der Zeitkritik verstehenden Medien nutzen, um sich in öffentliche Gegenwartsdebatten einzumischen, gehen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen heutzutage mit Vorveröffentlichungen ihrer Forschungsergebnisse an die Presse. Sie wollen den öffentlichen Meinungsbildungsprozess bei strittigen Fragen zu Gunsten einzelner Disziplinen beeinflussen, wie am Beispiel der Stammzellforschung zu sehen war.42 Dabei hat sich gezeigt, dass die Kommunikationsprobleme zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit durch die Zwischenschaltung der Medien nicht gelöst, sondern vielmehr verkompliziert werden. So hatte der Münsteraner Stammzellforscher Hans Schöler im Sommerloch 2008 für eine „begrenzte Schweigepflicht“ von Wissenschaftlern und Journalisten plädiert, wenn auf Fachtagungen in besonders dynamischen Forschungsgebieten Ergebnisse diskutiert werden, die noch nicht geprüft waren.43 Damit erschien die Originalität der wissenschaftlichen Publikation, die das wertvollste Gut für die Reputation des Wis41 Vgl. Weingart: Öffentlichkeit sowie auch hierzu Ders.: Die Stunde der Wahrheit. Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2001, S. 232–283. 42 Dies trifft auch auf die führenden wissenschaftlichen Zeitschriften wie Science and Nature zu, vgl. Martina Franzen: Breaking News. Wissenschaftliche Zeitschriften im Kampf um Aufmerksamkeit, Baden-Baden: Nomos, 2011. 43 Hans Schöler: Begrenzte Schweigepflicht ist noch lange keine Zensur. Nicht alles muss sofort öffentlich werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.07.2008.

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senschaftlers ausmacht, gefährdet. Die Medien interpretierten die Forderung nach Tabuzonen in der Berichterstattung erwartungsgemäß als Zensur und Angriff auf ihr Recht zur freien Berichterstattung. Der Konflikt entzündete sich an einem gegenseitigen Missverständnis: Aus der Sicht der Wissenschaft muss nicht jedes Forschungsergebnis sofort öffentlich werden, für die Medien ist Aktualität aber eine Währungseinheit. Medienpräsenz ist zudem in der eigenen Fachgemeinschaft umstritten und gilt als Gefahr für die Reputation.44 Wenn alles sofort öffentlich würde, könnte ein wesentlicher Aspekt der Wissensproduktion, nämlich die Validierung von Forschungsergebnissen durch die Kollegen und Kolleginnen, nicht mehr gewährleistet werden. In funktional differenzierten Gesellschaften, in der die Wissenschaft ein Funktionssystem unter anderen ist, sieht Weingart entsprechend eine immer enger werdende Kopplung zwischen Wissenschaft und Medien am Werk, in der beide Seiten systemspezifische Leistungen füreinander bereit halten.45 So bieten die Medien der Wissenschaft öffentliche Aufmerksamkeit und Prominenz, an der sich auch die Politik in ihren Entscheidungen zunehmend orientiert. Die Medien beziehen ihrerseits aus der Wissenschaft Stoff für ihre Berichterstattung. Wissenschaft unterliegt auf ihrem Weg zur Öffentlichkeit einem Prozess der Medialisierung. Dieser Prozess ist auch mit Rückwirkungen für das eigene System verbunden. Schölers Verteidigung der Embargopolitik für noch ungeprüfte Forschungsergebnisse hat wie der Fall der gefälschten Klonexperimente des Südkoreaners Hwang gezeigt, dass das hohe Gut der Reputation des Wissenschaftlers auf dem Spiel steht.46 Es kann in Gefahr geraten, wenn Wissenschaftler sich durch die Medien zu Versprechungen genötigt fühlen, die sie dann nicht erfüllen können. Ein weiteres Beispiel für die hohen öffentlichen Erwartung an die Wissenschaft, die durchaus auch von den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geweckt werden können, war das Versprechen, das weltweite Energieproblem durch die kalte Fusion lösen zu können. Es hat sich als Flop herausgestellt, nachdem bereits enorme Forschungsmittel verbraucht worden waren. Auch die Fälle der gefälschten Doktorarbeiten, zeigen, dass es in solchen Prozessen nicht notwendigerweise zum Reputations- und Glaubwürdigkeitsverlust der Wissenschaft als Institution kommt, sondern immer nur einzelne ihrer Vertreter an Ansehen verlieren. Das Publikum als Konsument von Wissen Eine andere Revision am einseitigen Bild der Wissenschaftskommunikation setzt beim Publikum an, das nun stärker als Konsument von Wissen in den Blick genommen wird. Im Zuge des oben bereits skizzierten neuen Verständnisses der 44 Vgl. das Interview mit Peter Weingart in Dermbach: Elfenbeinturm, S. 35–49. 45 Vgl. Weingart: Öffentlichkeit sowie Ders.: Die Stunde. 46 Vgl. Martina Franzen/Simone Rödder/Peter Weingart: Fraud: Causes and Culprits as Perceived by Science and the Media, in: EMBO reports 8.1 (2007), S. 3–7.

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wissenschaftlichen Öffentlichkeit wird danach gefragt, wie der Rezeptionsprozess auf Seiten der Laien konkret abläuft. Wie das Beispiel der Arbeiter in Sellafield illustriert, ist das Informationsbedürfnis der jeweiligen Laien sehr kontextabhängig. Dabei spielt die Frage nach der eigenen Betroffenheit eine Rolle. Dies zeigt sich ganz besonders beim Thema Gesundheit, wo die eigenen Lebensumstände den Wunsch nach Wissen steigern aber auch zunichtemachen können. Auch hier sollte das Recht auf Nichtwissen nicht mit einer generellen Ignoranz gegenüber Wissenschaft verwechselt werden. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Grenzen dessen, was mitgeteilt werden soll, noch allein von den Medizinern bestimmt wurden, sind es heute die Laien, die sich mit guten Gründen einem Zuviel an Information verweigern. Der aufgeklärte Laie, der die Arztpraxis bereits mit einer Selbstdiagnose betrat, wurde lange von den Medizinern als Angriff auf ihre Autorität betrachtet. Deshalb achteten sie peinlich darauf, dass Aufklärungsmaßnahmen über die Erkennung von Krankheitssymptomen nicht hinausgingen, um nicht zur Selbstheilung zu animieren, was ihren Berufsstand überflüssig machen könnte. Wenn aber heute Experten keine oder keine eindeutigen Handlungsoptionen geben können (wie im Fall von genetisch festgestellten Krankheitsdiagnosen, die nur prognostiziert werden können, für die es aber keine Heilung gibt wie bei einigen Krebsarten), mag es selbst den Wissenschaftsoptimisten unter den Betroffenen sinnvoll erscheinen, sich einem Wissen zu entziehen, das ihre Zukunft nur mit Angst und Ungewissheit erfüllen würde.47 Ressourcenbeziehungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit Als ein dialogisches Modell der Wissenschaftskommunikation habe ich gemeinsam mit Arne Schirrmacher das Ressourcenmodell von Mitchell Ash genutzt und entsprechend weiterentwickelt.48 Danach können beide Seiten der Beziehung verschiedenartige Ressourcen – kognitiver, apparativer, personeller, institutioneller oder rhetorischer Art – gegenseitig füreinander mobilisieren. Damit kann das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit simultan aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Öffentlichkeitsarbeit von Wissenschaftlern kann so etwa außerwissenschaftlich als Bedeutungszuwachs und innerwissenschaftlich als Zeichen für einen Autonomiegewinn betrachtet werden. Die gleiche kommunikative Maßnahme trifft möglicherweise auf das Interesse einer Teilöffentlichkeit und kann ihr zur Legitimation einer in anderen Zusammenhängen bereits erfolglos vorgebrachten Forderung dienen. Es geht hier darum, die Dichotomie der älteren Modelle aufzubrechen und die Kommunikation als einen kontinuierlichen Aus-

47 Vgl. Werner Bartens: Wo bleibt die Fürsorge in der Vorsorge? Im Streit um die KrebsFrüherkennung dominiert die Statistik – die Ängste der Patienten werden vernachlässigt, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.09.2010. 48 Vgl. Nikolow/Schirrmacher: Wissenschaft.

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tauschprozess zu beschreiben, dessen konkrete Ausgestaltung von räumlichen, zeitlichen und medialen Kontexten abhängig ist.49 Wissenschaft, Öffentlichkeit und die Rolle der Universitäten. Weiterführende Forschungsfragen Wird die Universität als Austragungsort der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gewählt und soll es darum gehen, über die Sichtweise der wissenschaftlichen Akteure hinaus das Beziehungsgeflecht zu analysieren, dann lassen sich mindestens drei Perspektiven unterscheiden, mit denen auf die kommunikativen und medialen Bedingungen des Austauschverhältnisses zugegriffen werden kann. Es können erstens die Kommunikationsanlässe, zweitens die Frage nach der Darstellung von Wissen und drittens der Aneignungsprozess selbst als Ausgangspunkt genommen werden. Um Kommunikationsereignisse der Universitäten aus symmetrischer Sicht zu untersuchen und als Ressourcenaustausch zu beschreiben, böten sich als Beispiele hochschul- und bildungspolitische Debatten wie auch die Standort- und Fächerpolitik einzelner Einrichtungen an. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, sich stärker mit den Kommunikationsformen und -medien auseinanderzusetzen. Hierher gehört die Pressepolitik der Universität, aber es wäre auch denkbar, einzelne Medienformate oder Themen als Ausgangspunkt zu nehmen und nach den spezifischen Vermittlungsproblemen und Lösungsansätzen zu fragen.50 Hier würden die medialen Eigenheiten des jeweiligen Kommunikationsprozesses interessieren. Es wäre danach zu fragen, wer wo auf welche Art und Weise Wissen öffentlich macht. Inwieweit kommen wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Darstellungsformen zum Tragen? Welche Kommunikationsmodelle werden bedient und welche Vorstellungen vom Aneignungsprozess durch die Laien gehen in die Darstellung ein, wenn das Wissen in verschiedenen sprachlichen und nichtsprachlichen Transformationen dann in Form von Vorträgen, Radiobeiträgen, Interviews, Filmen, Handbüchern oder Pressemitteilungen die inner- und außeruniversitäre Öffentlichkeit erreicht? Die Darstellungen von Wissenschaft im öffentlichen Raum erscheinen dabei in einem größeren Bild als Vehikel für die Zirkulation und Validierung von Wissen von dem Ort der Produktion zu dem seiner Aneignung und zurück. Wenn die Kommunikation glückt, kann man sich die kommunizierten Wissensbestände als Grenzobjekte vorstellen, mit denen sich Interessen und Fachsprachen überbrücken lassen.51 Gelingt die Kommunikation jedoch nicht und entzünden sich stattdessen 49 Siehe die Fallstudien und ihre vergleichende Diskussion in den Kommentaren in: ebd. 50 Vgl. beispielsweise zu populären Geschichtsdarstellungen Korte/Paletschek: Repräsentation. 51 Zum Begriff der Grenzobjekte am Beispiel eines naturhistorischen Museums siehe Susan Leigh Star/James Griesemer: Institutional Ecology, Translations and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley‘s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39, in: Social Studies of Science 19 (1989), S. 387–423; siehe auch Sybilla Nikolow/Lars Bluma: Die Zirkulation der Bilder zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ein historiographischer Essay,

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Kontroversen, so handelt es sich um Streitobjekte zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die dritte Perspektive ist die Frage nach der Nutzung und Wirkung veröffentlichter Wissenschaft und damit nach dem Aneignungsprozess auf Seiten des Publikums innerhalb und außerhalb der Universität und den Forschungseinrichtungen. Wie wird Wissen neu interpretiert und in bestehende, auch nichtwissenschaftliche Kontexte eingeordnet? Das ist vielleicht die spannendste, aber auch die am schwierigsten zu beantwortende Frage, weil sich der Aussagewert diesbezüglicher Quellen selten auf die Wirkung einzelner spezifischer Maßnahmen zurückführen lässt. Mit einer flächendeckenden Überlieferung aus Laiensicht ist auch nicht zu rechnen. Zudem handelt es sich meist um mehrfach vermittelte Wahrnehmungen. Eintrittskarten, verkaufte Bücher und Zeitschriften und Klicks auf einem Online-Portal können zwar etwas darüber aussagen, wer erreicht worden ist, aber verraten noch nichts über die tatsächliche Wirkung einer Maßnahme der Wissenschaftskommunikation bei den Einzelnen. Die Vermittlungsbemühungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit bleiben ein kommunikatives Experiment und sind bei allem guten Willen mit einem Restrisiko behaftet. Zum einen ist die Öffentlichkeit gut beraten, nicht von den Experten zu erwarten, dass sich Debatten zu einem für immer und jeden gültigen Abschluss bringen lassen. Denn dies stünde im Widerspruch zum System der Wissenschaft, das von Meinungsvielfalt und Streit lebt. Zum anderen rät Neidhardt bei allem Anspruch der Öffentlichkeit auf Information den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen schließlich dazu, sich nicht blindlings dem Wunsch nach allzu schnellen und eindeutigen Lösungen zu unterwerfen, sondern eine kritische Distanz zu diesen an sie herangetragenen Anforderungen und damit auch ihre eigene Glaubwürdigkeit zu bewahren.52 Laien empfiehlt er, ebenfalls ihre gesunde Skepsis zu behalten und sich niemals nur auf ein Expertenurteil zu verlassen.

in: Bernd Hüppauf/Peter Weingart (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medien der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld: transcript, 2009, S. 45–78. 52 Vgl. Neidhard: Wissenschaft, S. 30.

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„Die Aristokratie des Geistes soll jedem offenstehen nach dem Maße seiner Begabung und freien Selbsterziehung“. Die soziale Öffnung der Universitäten als politisches Reformziel nach 1945 Barbara Wolbring „Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts.“ – Mit einem gesellschaftlichen Argument begründete Bundesbildungsministerin Anette Schavan (CDU) im Herbst 2011 die Dringlichkeit von Bildungspolitik, verstanden als eine Politik, die mehr Menschen Zugang zu höherer Bildung und qualifizierter Ausbildung bietet.1 Fast gleichlautend nannte knapp 10 Jahre zuvor der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in einer Regierungserklärung „Bildung eines der zentralen Themen moderner Gesellschaftspolitik“. Der „Zugang aller zu den Bildungschancen“ sei eine der wichtigsten Fragen des beginnenden 21. Jahrhunderts.2 Solche Aussagen, die sich fast gleichlautend auch bei den anderen im Bundestag vertretenen Parteien finden,3 klingen, als sei das Thema eben erst entdeckt und in seiner Dringlichkeit erkannt worden. Tatsächlich ist die Parallelisierung von Bildungspolitik und Sozialpolitik und selbst die Herstellung der Verbindung zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts ein Thema des 20. Jahrhunderts, jedenfalls von dessen zweiter Hälfte. Geändert haben sich die Schlagworte. Ist heute von „Bildungsgerechtigkeit“ die Rede, sprach man um 1970 von „Chancengleichheit“.4 Den Begriff hat Ralf Dahrendorf geprägt mit seinem „Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik“, das 1965 unter dem Titel Bildung ist Bürgerrecht erschien. Darin bezeichnete er Bildungspolitik als den Hebel zur Gesellschaftspoli1 2 3

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tik, deren Aufgabe es sei, Unterschiede im Zugang zu Bildung verschwinden zu lassen.5 Weniger griffig formuliert, aber inhaltlich vergleichbar zielten Reformanstrengungen der Besatzungszeit auf eine „soziale Öffnung“ von Bildung und insbesondere der Universitäten. Die soziale Gebundenheit des Zugangs zur Bildung, also die soziale Frage des Bildungszugangs, war bereits in der Nachkriegszeit ein Kernthema der Bildungsdiskussion – auch derjenigen über die Universitäten. Dies wird von der Forschung kaum wahrgenommen oder sogar bestritten. Reformbestrebungen der britischen und amerikanischen Besatzungsbehörden seien vielmehr, so jüngst Sabine Schleiermacher und Udo Schagen, am Widerstand der Deutschen und insbesondere am „Beharrungswillen der Professorenschaft“6 oder an deren „Widerstand gegen Veränderung“7 gescheitert. Bei der Darstellung der Hochschulpolitik in den westlichen Besatzungszonen wird in der Regel ein Reformwille bei den Besatzungsmächten und in den neu entstehenden deutschen Kultusverwaltungen einer konservativen Verweigerungshaltung der Professoren gegenübergestellt.8 Am professoralen Widerstand seien die Reformbemühungen der Besatzungszeit im Westen dann auch gescheitert, denn sie seien nicht gegen den Willen der Universitätsvertreter durchgesetzt worden. Gleiches gilt für das Urteil über Bildungspolitik insgesamt. Ludwig von Friedeburg, der als Soziologe am Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Direktor er lange war, und als hessischer Kulturminister der Jahre 1969 bis 1974 eine Zentralfigur der Bildungsreform der 1960er und 70er Jahre ist, hat in seiner 1989 erschienenen Geschichte der Bildungsreform in Deutschland die Nachkriegszeit als „versäumten Neubeginn“ bezeichnet.9 Dieses auf alle Aspekte einer Reform der Universitäten bezogene Urteil soll im Folgenden in Bezug auf einen Teilbereich überprüft werden, auf das Ziel, den Zugang zur Universität und zum Studium auch jungen Leuten aus finanzschwachen bzw. unterbürgerlichen Schichten möglich zu machen. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass in der Nachkriegszeit im Rahmen der engen materiellen Spielräume eine Reihe von Initiativen und Maß5 6

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Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg: Nannen, 1965, S. 24. Sabine Schleiermacher: Hochschule in den politischen Umbrüchen. Eine vergleichende Perspektive, in: Dies./Udo Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945 (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Bd. 3), Stuttgart: Steiner, 2009, S. 7–18, hier S. 12. Udo Schagen: Wer darf studieren? Ausgrenzung und Chancengleichheit 1933 und 1945, in: Ders./Schleiermacher (Hg.): Wissenschaft macht Politik, S. 49–51, hier S. 56. Corine Defrance: Les Alliés occidentaux et les universités allemandes. 1945–1949, Paris: CNRS, 2000; Rainer Maaß: Die Studentenschaft der Technischen Hochschule Braunschweig in der Nachkriegszeit, Husum: Matthiesen, 1998, S. 83ff.; Ludwig von Friedeburg: Die deutsche Universität zwischen Wissenschaft und Politik, in: Universität Heidelberg (Hg.): Die Universität. Idee und Wirklichkeit. Vorträge im Wintersemester 1993/94. Sammelband der Vorträge des Studium Generale an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg: Heidelberger Verlags-Anstalt, 1994, S. 111–127. Ludwig von Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, insbes. S. 304.

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nahmen begonnen und in den 1950er Jahren fortgeführt wurden, die auf eine soziale Öffnung der Universitäten zielten. Positionen, Argumente und Reformen sind dabei auch im Zusammenhang der politischen Frontstellungen des beginnenden Kalten Kriegs zu sehen, die in der Bildungspolitik zu Grundsatzfrage gerannen. Die Forderung nach sozialer Öffnung der Universitäten Ein zentrales Ziel der Bildungs- und insbesondere der Hochschulpolitik bestand für die Vertreter der Besatzungsmächte zunächst übereinstimmend darin, neben der Entnazifizierung der Universitäten und der Umerziehung der Studierenden den Zugang zu den Universitäten sozial zu öffnen. In der Direktive 54 des Kontrollrats vom Juni 1947 bekannten sich alle vier Besatzungsmächte dazu, den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Elternhauses zu entkoppeln. Die Forschungen von Corine Defrance,10 James F. Tent,11 David Phillips12 und anderen haben die Bemühungen der Besatzungsmächte herausgearbeitet, unterprivilegierten Schichten den Zugang zu höherer Bildung zu erleichtern. Eine amerikanische Kommission zum deutschen Bildungswesen unter der Leitung von George F. Zook kam 1946 zu dem Ergebnis, dass das bisherige deutsche Bildungssystem und insbesondere das dreigliedrige Schulwesen die gesellschaftlichen Klassenunterschiede verstärke und deshalb reformbedürftig sei.13 In der Neuen Zeitung, der von der amerikanischen Besatzungsmacht herausgegebenen überregionalen Tageszeitung, stellte der Chefredakteur Hans Wallenberg im gleichen Jahr das Abitur als Zugangsvoraussetzung zum Studium in Frage, denn es bewirke die „weitgehende Ausschaltung der Arbeiterschaft vom Universitätsstudium“.14 Ganz ähnlich lautete die Forderung im Aufbau, der in der sowjetischen Zone erscheinenden, von Johannes R. Becher herausgegebenen kulturpolitischen Zeitschrift. Es dürfe „auf keinen Fall so bleiben“, dass „die Bildungsmöglichkeiten praktisch nur den besitzenden Schichten des Volkes“ offenstünden. Statt eines „Bildungsmonopols“ eines relativ kleinen Teils der Bevölkerung müssten „den Begabten aller Schichten, und nur diesen, […] die Pforten unserer höch10 Defrance: Les Alliés occidentaux et les universités allemandes. 11 James F. Tent: Mission on the Rhine. Reeducation and Denazification in American Occupied Germany, Chicago: Chicago Univ. Press, 1982; Ders.: Amerikanische Bildungspolitik im besetzten Deutschland 1945–1949, in: Bildung und Erziehung 36 (1983), S. 5–19. 12 David Phillips: Britische Initiativen zur Hochschulreform in Deutschland. Zur Vorgeschichte und Entstehung des „Gutachtens zur Hochschulreform“, in: Manfred Heinemann (Hg.): Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1981, S. 172–189; Ders.: Zur Universitätsreform in der britischen Besatzungszone 1945–1948, Köln: Böhlau, 1983. 13 George F. Zook: Der gegenwärtige Stand der Erziehung in Deutschland. Bericht der Amerikanischen Erziehungskommission, München: Die Neue Zeitung, 1946. 14 H.W. [Hans Wallenberg]: Umbau des Studiums? Eine lebenswichtige Debatte II, in: Die Neue Zeitung vom 18.02.1946.

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sten Bildungsstätten offenstehen“.15 Politisch formuliert wurde das Reformziel in der Alliierten Kontrollratsdirektive Nr. 54 vom 25. Juni 1947, die gleiche Ausbildungsmöglichkeiten für alle forderte.16 Ein Studium sollte nicht mehr weitgehend exklusiv Kindern aus wohlhabenden bzw. aus bürgerlichen Schichten vorbehalten bleiben. Wenn sich die Alliierten auch im Grundsatz über dieses Ziel einig waren, wurde es doch in den jeweiligen Zonen unterschiedlich umgesetzt. In der sowjetischen Zone wurde schnell die traditionell föderale Struktur der Hochschulverwaltung zugunsten zentraler Strukturen aufgegeben.17 So wurde es möglich, dirigistische Maßnahmen durchzusetzten, die die „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“, so der propagandistische Leitspruch, bewirken sollten. Bereits im Juli 1946 wurden Vorstudienanstalten eingerichtet, die Vorgängerinstitutionen der 1949 eröffneten Arbeiter- und Bauernfakultäten. Hier wurden Studierwillige mit Volksschul- oder Mittelschulbildung jeweils entweder auf ein geistes- oder ein naturwissenschaftliches Studium vorbereitet.18 Im März 1947 beschlossen die Volksbildungsminister der Länder der sowjetischen Zone zudem, die Absolventen der Vorstudienanstalten solange bevorzugt zum Studium zuzulassen, bis „ein gerechter sozialer Ausgleich in der Zusammensetzung der Studentenschaft erfolgt ist“.19 Die Vergabe der Studienplätze erfolgte damit nicht mehr primär nach Leistungskriterien. Eine positive Diskriminierung bevorzugte statt dessen Arbeiterkinder. Dies bewirkte umgekehrt, dass Abiturienten bürgerlicher Herkunft teilweise keinen Studienplatz erhielten und so das erhoffte und in der eigenen und familiären Lebensplanung fest verankerte Studium nicht absolvieren konnten bzw. hierfür in die westlichen Zonen fliehen mussten. Hierin sahen die Verantwortlichen Ende der 1940er Jahre noch kein Problem, sondern vielmehr eine Chance, den angestrebten Elitenwechsel im sozialistischen Staat leichter vollziehen zu können. Das Instrument, das diesen Elitenwechsel bewirken sollte, waren die Ar15 Alfons Kauffeldt: Zurück zum deutschen Bildungsideal, in: Aufbau 2.1 (1946), S. 31–36, hier S. 35. 16 Vgl. United States of America, Department of State (Hg.): Germany 1947–1949. The Story in Documents, Washington, D.C.: U.S. Government Print Office, 1950, S. 550. 17 Vgl. John Connelly: The Administration of Higher Education in East Germany, 1945–1948. Centralization of Confused Competences and Lapse of Denazification into Political Repression, in: Manfred Heinemann (Hg.): Zwischen Restauration und Innovation. Bildungsreformen in Ost und West nach 1945, Köln: Böhlau, 1999, S. 163–197; Herbert Stallmann: Hochschulzugang in der SBZ/DDR 1945–1959, St. Augustin: Richarz, 1980. 18 Vgl. Ingrid Miethe: Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR. Möglichkeiten und Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik, Opladen: Budrich, 2007; Jana Woywodt: Die DDR. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Zur Geschichte der Arbeiter-undBauern-Fakultät Jena (1949–1963), in: Uwe Hoßfeld/Tobias Kaiser/Heiz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990). Bd. 1, Köln: Böhlau, 2007, S. 172–190. 19 Beschluss der Konferenz der Volksbildungsminister in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone, zitiert nach Andreas Malycha: Hochschulpolitik in den vier Besatzungszonen Deutschlands. Inhalte und Absichten der Alliierten und der deutschen Verwaltungen 1945– 1949, in: Schleiermacher/Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik, S. 29–47, hier S. 45.

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beiter- und Bauernfakultäten. Michael C. Schneider hat auf ihre hieraus resultierende Bedeutung für die Systemlegitimation der DDR und ihre Stellung im öffentlichen Bewusstsein hingewiesen.20 Der sozialistischen Ideologie zufolge ist demgegenüber das Bildungsprivileg der herrschenden Klassen ein konstitutives Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft. Hieran ändere auch eine Hebung des Bildungsstandes der Arbeiter im Grundsatz nichts. Solche Maßnahmen dienten vielmehr lediglich der Verschleierung, denn im Kapitalismus erhielten die Arbeiter stets nur eine rein funktionale Bildung, die eine bessere Ausbeutung ermöglichen und nicht zu Teilhabe an der gesellschaftlichen Machtführen solle.21 In den westlichen Besatzungszonen waren die treibenden Persönlichkeiten einer sozialen Öffnung der Universitäten ebenfalls in der Regel sozialistisch bzw. sozialdemokratisch geprägt. Zu denjenigen, die sich besonders intensiv um eine soziale Öffnung der Universitäten bemühten, gehörten der niedersächsische Kultusminister Adolf Grimme (SPD) und sein hessischer Amtskollege Erwin Stein, der dem linkskatholischen Flügel der CDU angehörte. Für Sozialdemokraten und für Linkskatholiken war die Schaffung von mehr sozialer Durchlässigkeit im Bildungswesen ein zentrales Reformanliegen, das sie mit Energie, wenn auch nicht mit der Vehemenz und ideologischen Aufladung verfolgten, die das Thema in der sowjetischen Besatzungszone hatte. Adolf Grimme war als Kultusminister in Hannover eine Zentralfigur der Bildungspolitik der ersten Nachkriegsjahre.22 In seiner Person wird zudem die Verbindung von den Reformbemühungen der Nachkriegszeit zu denjenigen der Weimarer Republik deutlich. Bereits in seiner Zeit im preußischen Kultusministerium, zunächst als Mitarbeiter Carl Heinrich Beckers, dann von 1930 bis zur Absetzung der preußischen Regierung 1932 selbst als Kultusminister, war Grimme bestrebt,

20 Michael C. Schneider: Grenzen des Elitentausches. Zur Organisations- und Sozialgeschichte der Vorstudienanstalten und frühen Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZ/DDR, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 134–176, hier S. 135f.; vgl. Ders.: Bildung für neue Eliten. Die Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZ/DDR, Dresden: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 1998; Ders.: Chancengleichheit oder Kaderaustausch? Zu Intention, Tradition und Wandel der Vorstudienanstalten und Arbeiterund Bauernfakultäten in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1952, in: Zeitschrift für Pädagogik 41.6 (1995), S. 959–983. Der hohe Stellenwert der Arbeiter- und Bauernfakultäten findet seine Entsprechung in der DDR-Historiographie. Vgl. Hubert Laitko: Befreiung – Besinnung – Neubeginn, in: Ders. (Hg.): Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin: Dietz, 1987, S. 592–692; Siegfried Schmidt (Hg.): Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena, Köln: Böhlau, 1983, S. 311–345. 21 Vgl. Sonja Haeder: „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“? Zur Auswahl und sozialen Struktur von Oberschülern am Beispiel Ost-Berlins (1945–1955), in: Helga Gotschlich (Hg.): „Links und links Schritt gehalten…“. Die FDJ. Konzepte, Abläufe, Grenzen, Berlin: Metropol-Verlag, 1994, S. 170–186. 22 Zu Grimme vgl. Kai Burckhardt: Adolf Grimme (1889–1963). Eine Biografie, Köln: Böhlau, 2007; Walther G. Oschilewski: Grimme, Adolf, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 7, Berlin: Duncker & Humblot, 1966, S. 88f.

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begabten Kindern aus der Arbeiterschaft eine höhere Schulbildung und ein Studium zu ermöglichen. Ähnlich engagiert wie Grimme war der hessische Kultusminister von 1947 bis 1951, Erwin Stein.23 1933 hatte er seine Stelle im hessischen Justizdienst verloren, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Es gelang ihm nicht, ihr zur Emigration zu verhelfen. Sie entzog sich 1943 der unmittelbar bevorstehenden Deportation, indem sie Selbstmord beging. Nach 1945 begann Stein eine politische Tätigkeit, um zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft beizutragen. Bereits in seiner ersten Rede im hessischen Landtag betonte er, dass eine umfassende Hochschulreform als Teil einer Gesellschaftsreform erforderlich sei: „Die Universität muß ein Spiegelbild des ganzen Volkes werden und darf nicht ein Bild der traditionellen Schicht sein.“24 Künftig müssten „alle Glieder des Volkes“ am Staat teilnehmen, also gleichermaßen Leitungs- und Elitepositionen als Lehrer, Richter, Ärzte, Politiker und Verwaltungsbeamte ausfüllen.25 Damit war eine konkrete Zielvorgabe formuliert: dass die soziale Zusammensetzung der Studenten derjenigen der gesamten Bevölkerung entsprechen solle. Stein nahm an, dass es bislang vor allem finanzielle Hürden waren, die Arbeiterkindern den Weg in die Universität verstellten. Eine soziale Öffnung der Hochschulen befürworteten grundsätzlich auch die Franzosen, die in ihrer Besatzungszone sehr viel stärkeren direkten Einfluss auf die Erziehungs- und Bildungspolitik ausübten und diese Eingriffs- und Zustimmungsrechte auch nur ungern und zögernd deutschen Stellen übertrugen.26 Zentralfigur der Bemühungen im Bildungswesen war Raymond Schmittlein, der Leiter der Direction d’Éducation Publique (DEP).27 Er maß sozialen Aspekten geringere Bedeutung bei als der Bildungswirkung, die er von der französischen Sprache und Literatur ausgehen sah. Soziale Gerechtigkeit sah er am besten verwirklicht, wenn nach französischem Vorbild das Leistungsprinzip mit strengen, als Wettbewerb organisierten Eingangsprüfungen konsequent durchgeführt wür23 Gerhard Menk: Erwin Stein. Politischer Wegbereiter des Neuanfangs, in: Carl Horst et al. (Hg.): Panorama. 400 Jahre Universität Gießen. Akteure. Schauplätze. Erinnerungen, Frankfurt/M.: Societäts-Verlag, 2007, S. 136–141. 24 Rede des Kultusministers Erwin Stein (CDU) am 19.03.1948, in: Drucksachen des Hessischen Landtags. 1. Wahlperiode, 1. Dezember 1946–30. November 1950, Abt. III Nr. 5. Stenographischer Berichte über die 5. Plenarsitzung vom 19.03.1947, Wiesbaden: Landtag, S. 52–58, hier S. 54. 25 Ebd., S. 54. 26 Vgl. Stefan Zauner: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945–1949 (= Studien zur Zeitgeschichte, 43), München: Oldenbourg, 1994, S. 78ff.; Wolfgang Fassnacht: Universitäten am Wendepunkt? Die Hochschulpolitik in der französischen Besatzungszone (1945–1949) (= Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte, 43), Freiburg i. Br.: Alber, 2000, bes. S. 54f. 27 Zu Schmittlein siehe Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904–1974). Leben und Werk eines Gründungsvaters der Universität Mainz, in: Michael Kißener/Helmut Mathy (Hg.): Ut omnes unum sint (Teil 1). Gründungspersönlichkeiten der Johannes Gutenberg-Universität (= Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, N. F., Bd. 2), Stuttgart: Steiner, 2005; Zauner: Erziehung und Kulturmission, bes. S. 19ff.

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de.28 Eine generelle Öffnung der Universitäten für Arbeiter- und Bauernkinder ohne Abitur lehnte Schmittlein ab, befürwortete aber Begabtenprüfungen als Alternative zum Abitur. Auch bedauerte er, dass die deutschen Landesregierungen die Einführung der Schulgeldfreiheit für höhere Schulen abgelehnt hatten. Hierin sah er ein taugliches Mittel, um Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien ein Studium zu ermöglichen.29 Einen Markstein in der Diskussion über eine Reform der deutschen Hochschulen bildete das im Mai 1947 veröffentlichte Gutachten einer Delegation der britischen Association of University Teachers (AUT).30 Die Diagnose der klassenmäßigen Abschließung der Universität wurde hier in der Form eines von Wissenschaftlern erstellten Gutachtens formuliert. Nicht zuletzt deshalb wurde es über die britische Besatzungszone hinaus zu einem Referenzpunkt in den Hochschulreformdebatten der kommenden Jahre und blieb auch für die Debatten der Bundesrepublik prägend. Als Ziel einer Universitätsreform bezeichneten die Gutachter die Veränderung der Sozialstruktur der Universität und der sie tragenden Gesellschaft. Das Gutachten betont das Wechselverhältnis zwischen beiden: Die konservative, nationalistische und sogar reaktionäre Haltung, die heute an vielen der deutschen Universitäten zu bemerken ist, und die von linksgerichteten Kreisen und Gewerkschaftlern leidenschaftlich angeklagt wird, ist ein Spiegelbild der sozialen Schichtung des deutschen Volkes und der Mentalität gewisser sozialer Klassen; sie kann nicht völlig beseitigt werden, bis diese Schichtung und diese Mentalität eine Änderung erfahren haben.31

Damit wird in dem Gutachten eine Frontstellung von Bürgertum und Arbeiterklasse beklagt, die die deutsche Gesellschaft präge und bei der den Universitätsvertretern eine wichtige Rolle zugewiesen wird. Wenngleich der Begriff „Bildungsprivileg“ nicht wörtlich auftaucht, so ist doch dieser Sachverhalt gemeint. An der Argumentation wird deutlich, dass die Gutachter, worauf David Phillips hingewiesen hat, von sozialdemokratischen bzw. sozialistischen oder kommunistischen Ideen geleitet waren,32 ohne jedoch eine explizit sowjetische Position zu vertreten. Um auch Angehörigen unterer sozialer Schichten Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, setzten sie primär auf eine Reorganisation des Schulwesens. Zugleich schlugen sie vor, solange ein Kontingent von zehn Prozent der Studienplätze Bewerbern vorzubehalten, die statt einer höheren Schule lediglich neu einzurichtende, ein- oder zweijährige Sonderkurse besucht hätten, bis eine Schulreform Auswirkungen zeigen könne.33 Der Vorschlag entspricht damit den in der sowjetischen Zone eingeführten Vorstudienanstalten. Sie wandten sich 28 Vgl. Zauner: Erziehung und Kulturmission, bes. S. 141ff. 29 Vgl. ebd., bes. S. 149f. 30 Die Universitäten in der Britischen Zone Deutschlands. Bericht der Delegation der britischen Association of University Teachers. Übersetzt aus The Universities Review 19.3 (1947), in: Die Sammlung 3.2 (1948), S. 1–31. 31 Ebd., S. 11. 32 Vgl. David Phillips: Zur Universitätsreform in der britischen Besatzungszone 1945–1948, Köln: Böhlau, 1983. 33 Die Universitäten in der Britischen Zone, S. 22.

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jedoch dagegen, dieses Verfahren gegen den Willen der Universitäten einzuführen, denn im Zwang, mit dem in der sowjetischen Zone vorgegangen wurde, sahen sie den Grund für die Ablehnung und damit die Gefahr, „das Gegenteil des Gewollten zu bewirken“.34 Zugleich führten sie das Scheitern dieser Reformmaßnahme damit letztlich auf den Widerstand der Professoren zurück. Eine unmittelbare Folge des Gutachtens war die Einsetzung des deutschbritischen Studienausschusses für Hochschulreform. Durch den Studienausschuss sollten die Deutschen in den Reformprozess eingebunden werden. Der Ausschuss legte im Herbst 1948 das „Gutachten zur Hochschulreform“ vor, das als das „Blaue Gutachten“, so benannt nach der Farbe seines Einbandes, zu einem Zentraldokument der Hochschulreformdebatte wiederum über die britische Besatzungszone hinaus wurde.35 Auch Stimmen in den anderen westlichen Zonen, insbesondere in der amerikanischen, diskutierten die Reformen der sowjetischen Besatzungszone mit zustimmendem Grundton. Alfred Andersch zeigte sich 1947 in der von ihm gemeinsam mit Hans Werner Richter als „unabhängige Blätter der jungen Generation“ begründeten Zeitschrift Der Ruf sehr interessiert an den „Experimenten“ des Arbeiterstudiums in der Ostzone, die „sehr fruchtbar werden können, wenn man sie nur der totalitären Vorzeichen entkleidet, die sie aus dem Lager der SED erhalten“.36 In den Frankfurter Heften warnte Walter Dirks, dass eine Ausschaltung finanzieller Faktoren nicht reichen würde, sondern das Beharren auf Leistung und Begabung als Auswahlkriterien unweigerlich „ein bürgerliches Übergewicht […] fixieren“ würde. Auch er befürwortete dennoch nicht die in der sowjetischen Zone praktizierten Auswahlmethoden nach primär sozialen und politischen Kriterien.37 In den westlichen Zonen bestand Einigkeit darüber, dass der Zwangscharakter der Reformen, wie sie in der sowjetischen Zone durchgeführt wurden, kontraproduktiv und abzulehnen sei. Als typischer für die von der Mehrheit des deutschen bildungsbürgerlichen Publikums vertretene Ablehnung der in der sowjetischen Zone eingeführten Maßnahmen darf wohl die Position von Benno Reifenberg gelten. Der ehemalige Redakteur der Frankfurter Zeitung publizierte die Zeitschrift Die Gegenwart seit Dezember 1945 in der französischen Zone, da ihm die französische Militärregierung – anders als die amerikanische – zugesichert hatte, das Blatt unzensiert erscheinen zu lassen.38 Reifenberg forderte, dass Schulbildung grundsätzlich allen

34 Ebd. 35 Gutachten zur Hochschulreform. Vom Studienausschuß für Hochschulreform. Manuskriptdruck, Hamburg: Office of the Educational Adviser, 1948. 36 Alfred Andersch: Die Zukunft der deutschen Hochschulen, in: Der Ruf 1.10 (1946/1947), S. 3f., hier S. 4. 37 WD [Walter Dirks]: Wer wird studieren dürfen?, in: Frankfurter Hefte 2 (1947), S. 435–437, hier S. 437. 38 Zu Reifenberg und der Gegenwart zuletzt Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg 1892–1970. Eine Biographie, Göttingen: Wallstein, 2011.

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offenstehen solle.39 Die „Auswahl der Tüchtigen“ müsse in der Schule organisch von Klasse zu Klasse, also im Laufe der Jahre erfolgen. So könne deutlich werden, wer sich für den Besuch einer Universität eigne, „deren Besuch kein anderes Privileg als das des Geistes bedingt“. Ein konsequent durchgeführtes Leistungsprinzip sah Reifenberg als das geeignete Instrument an, um soziale bzw. finanzielle Faktoren auszuschalten, was auch er forderte: „Kein Stand, kein Besitz darf das Erklimmen dieser Stufenleiter erleichtern.“ Das entsprach dem Grundsatz französischer Auswahlpolitik, war aber vor allem eine deutliche, wenn auch indirekte Absage an die in der sowjetischen Zone durchgeführten Maßnahmen. Reifenberg machte deutlich, dass er eine nicht durch Leistung gedeckte, sondern allein auf sozialer Herkunft beruhende Auswahl der Studienbewerber ablehnte. Die Bedeutung des Abiturs Als wichtigstes Reformhindernis wurde nicht nur von den Gutachtern der britischen AUT der Widerstand der Professoren bezeichnet. Gleichwohl findet sich jedenfalls in öffentlichen Äußerungen von Universitätsvertretern und insgesamt von Professoren kein Widerstand bzw. offener Widerspruch gegen das Ziel, Kindern aus sozial oder finanziell benachteiligten Elternhäusern den Zugang zur Universität zu erleichtern. Allerdings betonten diejenigen, die sich zum Thema äußerten, dass es sich bei der Erhöhung des Anteils von Arbeiterkindern an der Studentenschaft um ein politisches Ziel handelte, dem die Universitäten letztlich indifferent gegenüberstünden. Der Rektor der Universität Frankfurt, der Jurist Walter Hallstein, brachte diese Position in einer Stellungnahme zum AUTGutachten auf den Punkt: Die Universität habe ein Interesse an den „Begabtesten“, deren Herkunft sei den Universitäten gleichgültig. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Begabten aus jeder sozialen Schicht den Weg zur Universität fänden, sei nicht die Aufgabe der Universitäten, sondern diejenige der Schulen.40 Ähnlich äußerte sich der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers, eine der bedeutendsten Stimmen in der Universitätsreformdebatte jener Jahre. Dass „für begabte Jugend“ das Studium möglich sein solle „ohne Rücksicht auf Herkommen und Vermögen“, nannte er schlicht „selbstverständlich“. Auch er sah die Verantwortung hierfür bei den Schulen, nicht bei der Universität. Diese fordere lediglich „Vorbildung, ohne die das Studium keinen Sinn hat“.41 Jaspers stimmte einer Auswahl der Besten ohne Ansehen des sozialen Herkommens zu, doch er wehrte

39 Benno Reifenberg: Wege der Bildung, in: Die Gegenwart 1.16/17 (24.08.1946), S. 12–14, hier S. 13. 40 Walter Hallstein: Deutsche Universitäten in englischer Sicht. Bemerkungen zu dem Bericht der Delegation des britischen Hochschullehrerverbandes, in: Göttinger Universitäts-Zeitung 3.7/8 (1948), S. 15–18 und 3.9 (1948), S. 10–12. Zitat 3.7/8, S. 17. 41 Karl Jaspers: Volk und Universität, in: Ders.: Erneuerung der Universität. Reden und Schriften 1945/46, Heidelberg: Lambert Schneider, 1986, S. 275–288, hier S. 286.

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sich dagegen, das soziale Ziel zum Maßstab der Universität zu machen. In einem Artikel für die Neue Zeitung schrieb er: Wir stehen gegen die Privilegierungen durch Stand, Klasse, Besitz, Partei zugunsten des Rechts aller auf gleiche Chancen. Das heißt nicht, dass wir abschaffen könnten oder wollten: die Aristokratie des Geistes, die jedem offen steht nach dem Maße seiner Begabung und seiner freien Selbsterziehung.42

In Jaspers Forderung nach „gleichen Chancen“ klingt der Begriff „Chancengleichheit“ bereits an, der, von Ralf Dahrendorf geprägt, zum Schlüsselbegriff der Debatte in den 1960er Jahren werden sollte.43 Dabei betonte er wie die Mehrzahl seiner Kollegen, dass für ein Studium neben Begabung und Leistungsbereitschaft auch eine solide schulische Vorbildung unabdingbar sei. Für diese stand das Abitur, idealerweise dasjenige eines humanistischen Gymnasiums. Typisch für die Meinung eines Großteils der Hochschullehrer44 formulierte der Heidelberger Nationalökonom Alfred Weber dies bei den Marburger Hochschulgesprächen. Die Marburger Hochschulgespräche kamen auf Initiative des amerikanischen Hochschuloffiziers Edward Y. Hartshorne zustande und fanden erstmals im Sommer 1946 statt. Sie stellten ein informelles Forum für Fragen der Hochschulreform dar.45 Weber bezeichnete das humanistische Abitur als Ausweis und Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung mit den antiken Grundlagen der abendländischen Kultur.46 Es sei damit eine unerlässliche Voraussetzung für ein Universitätsstudium gleich welchen Faches. Um eine soziale Privilegierung zu verringern, sei nicht eine Senkung, sondern im Gegenteil eine Erhöhung der Leistungsanforderungen erforderlich, regte er an. Es sei die Aufgabe der Politik, nicht diejenige der Universitäten, hier Lösungen zu finden. Die Politik der SBZ war als Folie und abgelehnte Alternative auch Weber präsent. Er warnte explizit vor dem dort beschrittenen Weg, den Hochschulzugang stärker von Kriterien sozialer Herkunft als von Leistungskriterien abhängig zu machen. Auf diese Weise würde es unmöglich, 42 Karl Jaspers: Verantwortlichkeit der Universitäten, in: Die Neue Zeitung vom 16.05.1947. 43 Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. 44 Vgl. etwa das Gutachten der Universität München zur Schulreform vom 14.06.1947, in: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.): Dokumente zur Schulreform in Bayern, München: Pflaum, 1952, S. 82–87. In diesem spricht sich die Universität vehement für die Beibehaltung des gegliederten Schulsystems aus; vgl. das Gutachten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Schulreform vom 13.06.1947, in: ebd., S. 77–80. Vgl. auch Heinz-Elmar Tenorth: Hochschulzugang und gymnasiale Oberstufe in der Bildungspolitik von 1945–1973. Zur Genese und pädagogischen Kritik der „gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“, Bad Heibrunn: Klinkhardt, 1975, S. 84ff. 45 Hier u. i. Folgenden Alfred Weber: Forschung, Lehre und Berufsausbildung, in: Marburger Hochschulgespräche. 12. bis 15. Juni 1946. Referate und Diskussionen, Frankfurt/M.: Klostermann, S. 87–92, hier S. 91f. 46 Zum Abendland-Diskurs zuletzt Axel Schildt: Zur Hochkonjunktur des christlichen Abendlandes in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Ulrich Pfeil (Hg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München: Oldenbourg, 2008, S. 49–70; besonders Ders.: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München: Oldenbourg, 1999.

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international wissenschaftliche Reputation zurückzugewinnen. Es würde das Ende der Universität in ihrer bisherigen Form bedeuten, warnte Weber.47 Grundsätzlich stimmten damit auch die Professoren der politischen Forderung zu, dass der Zugang zur Universität nicht von der sozialen Schichtzugehörigkeit oder der Finanzkraft des Elternhauses abhängen dürfe, allerdings beharrten sie darauf, dass eine ausreichende allgemeine Vorbildung für das Studium unerlässlich sei. Diese Vorbildung werde durch das Abitur nachgewiesen. Es sei mithin Aufgabe der Politik, allen Kindern gleichermaßen den Schulbesuch und damit den Weg zum Abitur zu ermöglichen. Das Beharren auf dem Abitur wurde allerdings von Kritikern der Universitäten als Abwehrmechanismus gegen Reformen angesehen. Sie hielten dagegen, dass das humanistische Bildungskonzept, die auf Ideen gründende Bildungsidee insgesamt ihre Gültigkeit verloren hätte.48 Das „Ende des Bildungszeitalters, unter das der Nationalsozialismus einen Schlußstrich gezogen hat“, konstatierte etwa 1949 Werner Picht.49 Die Abwertung der mit dem Abitur verbundenen Bildungsinhalte ging einher mit der Betonung der materiellen Bedingungen, die zu seinem Erwerb erforderlich waren. Das Abitur sei kein Ausweis intellektueller Fertigkeiten, sondern ausschließlich Ergebnis der Bereitschaft und der materiellen Fähigkeit der Eltern, die Kinder für die Dauer eines neunjährigen Schulbesuch zu unterhalten, höhnte beispielsweise Nikolaus Sombart, der als Sohn des berühmten Ökonomen Werner Sombart selbst dem privilegierten Bildungsbürgertum entstammte. Durch das Beharren auf dem Abitur sei die Universität faktisch eine Institution zur Absicherung des gesellschaftlichen Suprematieanspruchs des Bürgertums. Die Hochschulen seien, so Sombart, „mehr oder weniger das, was eine bourgeoise Elite aus ihnen gemacht hat, um sich ihren Nachwuchs heranzubilden“.50 Die Kritik am humanistischen Bildungskonzept hatte für die Franzosen eine zusätzliche Bedeutungsebene. Raymond Schmittlein sah in der Privilegierung von Bildungsinhalten der klassischen Antike, in Latein und Griechisch den Ausdruck borussischen Staatskults und Größenwahns.51 Die Bezeichnung „Gymnasium“ wurde daher bereits zu Schuljahresbeginn 1946 auf alle Sekundarschulen ausgedehnt, die zum Abitur führten, und war nicht mehr exklusiv den Schulen mit humanistischem Bildungsgang vorbehalten. Diese hätte er ohnehin am liebsten abgeschafft, konnte dies allerdings nicht durchsetzen. Erste Fremdsprache hatte immer Französisch zu sein, erst im vierten Gymnasialjahr (8. Klasse) bestand die Wahlmöglichkeit zwischen einem altsprachlichen und einem neusprachlichen 47 Weber: Forschung, Lehre und Berufsausbildung, S. 92. 48 So z. B. Clemens Münster: Zum Aufbau der geistigen Bildung, in: Frankfurter Hefte 1.8 (1946), S. 703–714. 49 Werner Picht: Zur Neubegründung der deutschen Volksbildung, in: Merkur 3 (1949), S. 1062–1077, hier S. 1069. 50 Nikolaus Sombart: Studenten in der Entscheidung, in: Der Ruf 1.7 (1946), S. 6f., hier S. 6. 51 Raymond Schmittlein: Die Umerziehung des deutschen Volkes. Bericht vom 27.01.1948, in: Jérôme Vaillant (Hg.): Französische Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949. Berichte und Dokumente, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1984, S. 161–185, hier S. 166.

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Zweig. Als dritte Fremdsprache sollten die Schüler in der Untersekunda Griechisch oder Englisch wählen können oder alternativ eine Naturwissenschaft.52 Reformen zur sozialen Öffnung der Universitäten Reformen wurden von Seiten der Universitäten nicht grundsätzlich abgelehnt, allerdings beharrten Universitätsvertreter darauf, dass gymnasiale Vorbildung notwendig sei. Selbst diejenigen, die im Abitur primär den Ausweis von sozial privilegierter Herkunft sahen, lehnten das Vorgehen in der sowjetischen Besatzungszone ab, wo Studierwilligen mit Abitur und trotz guter Noten aufgrund ihrer sozialen Herkunft ein Studienplatz verweigert wurde. In den Westzonen setzten Universitäten und Politik gleichermaßen darauf, durch den Abbau finanzieller Barrieren den Zugang zur höheren Schule und zur Universität für alle zu erleichtern. Dies sollte vor allem durch die Senkung oder besser Abschaffung der Schul- und Studiengebühren geschehen. Gelegentlich wurden auch Zweifel angemeldet, ob die allgemeine Schulgeldfreiheit der richtige Weg sei, weil auf diese Weise auch denjenigen Wohltaten gewährt würden, die sie nicht benötigten.53 Diese Bedenken setzten sich jedoch nicht durch. Vielmehr entwickelte sich die Forderung nach Schulgeld- und Hörergeldfreiheit zur griffigen Formel und zu einem konkreten politischen Reformprojekt, das zum Ziel einer sozialen Öffnung des Bildungswesens passte. Als erstes Bundesland hat Hessen bereits 1946 die Unterrichtsgeldfreiheit an Schulen und auch an Universitäten verkündet, und dies sogar – als einziges Bundesland – in der Verfassung verankert. Im Laufe der 1950er Jahre wurden die Schulgebühren an höheren Schulen in allen Bundesländern abgeschafft: in Bayern und – mit Einschränkungen – in Hamburg 1949, in Württemberg-Baden 1951, in Berlin 1952, in Niedersachsen 1954, in Nordrhein-Westfalen 1956, im Saarland 1959 und zuletzt 1961 in Rheinland-Pfalz. Die Studien- bzw. Hörergebühren an den Universitäten blieben vor allem aus finanziellen Gründen zunächst bestehen. Sie wurden seit 1970 nicht mehr erhoben. Die Ausnahme war Hessen. Der Hessische Staatsgerichtshof hatte 1949 entschieden, dass nach der Verfassung die Erhebung von Hörergeld an den hessischen Universitäten grundsätzlich nicht zulässig sei. In den anderen Bundesländern sollte die finanzielle Hürde von Hörergebühren dadurch verringert werden, dass finanziell schwächere Studierwillige mit Gebührenerlassen und Stipendien unterstützt wurden. Die an der Reformdiskussion Beteiligten gingen davon aus, dass eine Senkung der Bildungskosten unmittelbar die Bildungsbeteiligung finanziell und sozial 52 Zauner: Erziehung und Kulturmission, S. 89; vgl. Defrance: Les Alliés occidentaux et les universités allemandes, S. 204. 53 Gelegentlich wurde dies sogar aus Gewerkschaftskreisen geäußert, hier bildete dieser Standpunkt allerdings die Ausnahme. Vgl. Erika Vogel: Brechung des Bildungsprivilegs, in: Gewerkschafts-Zeitung. Organ der Bayerischen Gewerkschaften 4.10 (1949), S. 11.

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Unterprivilegierter erhöhen werde. Implizit werden damit weitere Grundannahmen deutlich. Sie wurden kaum je explizit formuliert, weil sie als Selbstverständlichkeit galten: vor allem die Annahme, dass Bildung und Ausbildung, der Besuch einer höheren Schule und möglichst auch der Universität von allen gleichermaßen angestrebt würden. Dass es also externe Faktoren, vor allem finanzielle Hürden, seien, die Arbeiter und Arbeiterkinder von Bildung fernhielten. Neben der Verminderung und Abschaffung von Gebühren galten Stipendien für Bedürftige als weitere Möglichkeit, finanzielle Eintrittshürden in die Universität zu verringern. Adolf Grimme betrieb deshalb die Wiederbegründung der Studienstiftung des Deutschen Volkes54 und konnte hierfür eine Reihe von ehemaligen Mitarbeitern, von Kultusministern und Professoren gewinnen. Am 6. März 1948 erfolgte die Neugründung, mit der man an die Tradition der alten Studienstiftung anknüpfte. Anders als in der Weimarer Republik war allerdings die soziale Bedürftigkeit kein Aufnahmekriterium mehr. Das mochte angesichts der allgemeinen Not zunächst nicht als wesentlich erscheinen, doch es veränderte langfristig den Charakter der Studienstiftung von einer Einrichtung zur Förderung sozial Benachteiligter zu einem Förderinstrument für die Begabtesten und Besten, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.55 Bayern richtete ein eigenes Förderinstrument ein, um „in wirksamer Weise den Begabten aus den sozial und wirtschaftlich weniger begünstigten Volksschichten den Zugang zu den höher führenden Bildungswegen zu erleichtern“.56 Das Kultusministerium dekretierte am 25. Mai 1948, dass aus jedem Jahrgang 100 Abiturienten oder Absolventen der Begabtenprüfung nach Leistung und Bedürftigkeit ausgewählt werden und Hörgeldbefreiung und Stipendien für die Dauer ihres Studiums erhalten sollten. Mit den wachsenden Staatseinnahmen wurden die staatlichen Leistungen und Unterstützungsmaßnahmen ausgeweitet. 1957 wurde das zwei Jahre zuvor beschlossene Honnefer Modell eingeführt, mit dem Studiendarlehen an Bedürftige vergeben wurden.57 Diese Form der finanziellen Unterstützung wurde 1971 durch das sogenannte BAFöG abgelöst, eine nicht zurückzuzahlende Unterstützung nach Bedürftigkeit, die im Bundesausbildungsförderungsgesetz als Anspruch festgelegt wurde. Die Einrichtung weiterer Stipendienprogramme durch gesellschaftliche Gruppen und Parteien, für die Adolf Grimme ebenfalls warb, kam so schnell nicht zustande. Zunächst war hier nur die Friedrich-Ebert-Stiftung aktiv, die bereits von ihrer Gründung 1925 bis zur Zerschlagung durch die Nationalsozialisten 1933 54 Rolf-Ulrich Kunze: Die Studienstiftung des deutschen Volkes seit 1925. Zur Geschichte der Hochbegabtenförderung in Deutschland, Berlin: Akademie-Verlag, 2001. 55 Kunze: Die Studienstiftung, S. 272f. 56 Bekanntmachung des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 25.05.1948, Nr. VIII 28 613, in: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.): Dokumente zur Schulreform in Bayern, bearb. von Hans Merkt, München: Pflaum, 1952, S. 231. 57 Hierzu Gerda Stephany: Das Honnefer Modell (= Schriften zum Öffentlichen Recht, 77), Berlin: Duncker & Humblot, 1968. Die Initiative war von einer Hochschultagung ausgegangen, die 1955 in Bad Honnef stattgefunden hatte.

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Studienbeihilfen an junge Arbeiter gegeben hatte. Auf der Gründungsversammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am 6. September 1946 wurde die Friedrich-Ebert-Stiftung wiederbegründet und vergab seit 1947 auch wieder Studienstipendien.58 1954 wurde die gewerkschaftsnahe Stiftung Mitbestimmung, die heutige Hans-Böckler-Stiftung, gegründet, die 1955 mit der Förderung von studierwilligen jungen Arbeitern begann. Das Cusanuswerk als Einrichtung zur Begabtenförderung der deutschen katholischen Bischöfe wurde 1958 gegründet. Zu den Unterstützungsangeboten, die die Universitäten entwickelten und ausbauten, gehörten Studentenwerke, die bedürftigen Studenten verschiedene Hilfen anboten: günstiges Mensaessen, Wohnheimplätze, beheizte Lesehallen, medizinische Versorgung, die Vermittlung von Studentenjobs, Gebührenerlass bei Bedürftigkeit und ein Stipendien- und Darlehenswesen. Eine wichtige Reformanstrengung bezog sich darauf, denjenigen den Zugang zur Universität zu ermöglichen, die zunächst keine höhere Schule besucht hatten. Eine Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, des (humanistischen) Gymnasiums und des Abiturs war trotz heftiger Kritik an dessen sozialer Selektionswirkung nicht durchzusetzen.59 Auch das Blaue Gutachten bezeichnete den Verzicht auf das Abitur als Zugangskriterium zu den Universitäten als „unmöglich“.60 Stattdessen wurde darin angeregt, zusätzliche Möglichkeiten zum Erwerb der Hochschulreife zu schaffen. Neben dem „Begabtenabitur“, einer Abiturprüfung für Externe ohne vorhergehenden Besuch eines Gymnasiums, wurde auch der Ausbau der Abendgymnasien empfohlen.61 Die Nennung der Abendgymnasien an dieser Stelle macht deutlich, dass sie als integraler Bestandteil der Reformbemühungen um eine soziale Öffnung des Bildungswesens anzusehen und bislang zu Unrecht in diesem Zusammenhang vernachlässigt worden sind. In ihrer Funktion entsprechen sie den Arbeiter- und Bauernfakultäten der DDR, denn sie sollten denjenigen, die auf dem ersten Bildungsweg als Kinder nicht durch das Gymnasium gegangen waren, einen „zweiten Bildungsweg“ zum Abitur und in die Universitäten eröffnen. Der Schulbesuch sollte zudem neben einer Berufstätigkeit erfolgen können und fand deshalb am Abend statt. Wiederum war Adolf Grimme ein wichtiger Initiator. Er erreichte, 58 Klaus Neuhoff/Horst Vinken: Deutsche Stiftungen für Wissenschaft, Bildung und Kultur, Baden-Baden: Nomos, 1969. 59 Vgl. Torsten Gass-Bolm: Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen: Wallstein, 2005, S. 127ff., S. 225ff. u. S. 343ff.; Beate Rosenzweig: Erziehung zur Demokratie? Amerikanische Besatzungs- und Schulreformpolitik in Deutschland und Japan, Stuttgart: Steiner, 1998, S. 160ff.; Winfried Müller: Schulpolitik in Bayern im Spannungsfeld von Kultusbürokratie und Besatzungsmacht 1945– 1949, München: Oldenbourg, 1995. 60 Gutachten zur Hochschulreform. Vom Studienausschuß für Studienreform, Hamburg, 1948, S. 8.Vgl. David Phillips: Pragmatismus und Idealismus. Das „Blaue Gutachten“ und die britische Hochschulpolitik in Deutschland 1948, Köln: Böhlau, 1995; Ders.: Britische Initiativen zur Hochschulreform in Deutschland, S. 172–189. 61 Gutachten zur Hochschulreform, S.75.

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dass der Zonenbeirat der britischen Zone ihre Einrichtung beschloss,62 nachdem die Hochschulkonferenz in Bünde sich im Sommer 1946 für sie ausgesprochen hatte.63 In der amerikanischen Zone wurden ebenfalls, oftmals in privater oder gewerkschaftlicher Initiative, Abendgymnasien eingerichtet.64 In allen Bundesländern entstanden seit den 1940er Jahren verschiedene Schulformen, die Erwachsene mit abgeschlossener Berufsausbildung zum Abitur führten. Grundsätzlich können die meist „Kolleg“ genannten Vollzeitschulen, teilweise mit Internat, unterschieden werden von Abendschulen, die neben einer Berufstätigkeit besucht werden konnten. Während die Abendgymnasien durch die Kommunen oder in privater Trägerschaft gegründet wurden, sich im Lehrplan an den Gymnasien orientierten und eine Art Nachholschule waren mit inhaltlich und didaktisch der Lebenssituation von Erwachsenen angepasstem Lehrplan, verfolgten die von den Bundesländern getragenen Kollegs das Ziel, eine Alternative zu den Gymnasien zu schaffen. Sie sollten stärker berufsbezogen sein, das Aufstiegsmonopol der weiterführenden Schulen brechen und damit eine größere soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems erreichen. Fazit Betrachtet man zusammenfassend die Reformforderungen und die eingeleiteten und durchgeführten Reformmaßnahmen, so muss man zunächst feststellen, dass eine Reihe von Maßnahmen begonnen wurde, die sozial und finanziell Schlechtergestellten den Besuch einer höheren Schule und ein Universitätsstudium ermöglichen sollten. Zu nennen sind Schulgeld- und Lernmittelfreiheit, die Gründung der Studienstiftung des Deutschen Volkes und weiterer Studienstiftungen, die Einrichtung von Studentenwerken an den Universitäten und die Einführung öffentlicher Unterstützungs- und Darlehensmodelle. Heftigen Widerstand, der nicht allein aus den Universitäten kam, erregte die Forderung nach einer Abschaffung des Abiturs als Hochschulzugangsvoraussetzung. Die Universitäten beharrten auf der Notwendigkeit, dass Studienanfänger über eine ausreichende schulische Vorbildung verfügen müssten. Denn die Mehrheit der Professoren befürwortete zwar eine soziale Öffnung der Universitäten, maß dem politischen Ziel einer Aufhebung der Klassengegensätze, Klassenunterschiede oder -barrieren aber keine Priorität gegenüber dem universitären Selbst62 Walter Vogel (Bearb.): Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945– 1949. Bd. 1. September 1945–Dezember 1946, München: Oldenbourg, 1976, S. 468; Zonenbeirat, Zonal Advisory Council: 1946–1948. Protokolle und Anlagen 1.–11. Sitzung 1946 u. 1947, bearb. v. Gabriele Stüber. 2 Bde., Düsseldorf: Droste, 1993 u. 1994, hier Bd. 2, S. 346; vgl.: Burkhardt: Adolf Grimme, S. 228f. 63 Hochschulkonferenz Bünde i. W. (16.08.1946), in: Manfred Heinemann (Hg.): Nordwestdeutsche Hochschulkonferenzen 1945–1948. Teil I, Hildesheim: Lax, 1990, S. 191–218, hier S. 201. 64 Klaus Schiller: Fünfzig Jahre Abendgymnasium I in Frankfurt am Main. Eine Schule für Erwachsene 1946–1996, Frankfurt/M.: Jassmann, 1996, S. 15f.

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verständnis zu, sondern argumentierten auf der Grundlage universitärer Eigenlogik und intellektueller Anforderungen der Wissenschaft. Sie verlangten Studenten mit ausreichender Vorbildung und stimmten ansonsten selbstverständlich zu, dass Begabte nicht wegen mangelnder Finanzkraft der Eltern der Universität fernbleiben dürften. Dies zu erreichen, sahen sie jedoch nicht als Aufgabe der Universität, sondern als Aufgabe des Schulsystems an. Statt das Abitur abzuschaffen, wurde eine Öffnung der Schule und eine Erhöhung der Abiturientenquote das politische Ziel. Daneben wurde Studierwilligen ohne Abitur ein „Zweiter Bildungsweg“ eröffnet. Abendgymnasien und Kollegs ermöglichten es Erwachsenen, das Abitur nachzuholen und eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bildung damit als gesellschaftspolitische Frage verhandelt. Literatur Burckhardt, Kai: Adolf Grimme (1889–1963). Eine Biografie, Köln: Böhlau, 2007. Bussiek, Dagmar: Benno Reifenberg 1892–1970. Eine Biographie, Göttingen: Wallstein, 2011. Connelly, John: The Administration of Higher Education in East Germany, 1945–1948. Centralization of Confused Competences and Lapse of Denazification into Political Repression, in: Heinemann, Manfred (Hg.): Zwischen Restauration und Innovation. Bildungsreformen in Ost und West nach 1945, Köln: Böhlau, 1999, S. 163–197. Defrance, Corine: Les Alliés occidentaux et les universités allemandes. 1945–1949, Paris: CNRS Editions, 2000. Dies.: Raymond Schmittlein (1904–1974). Leben und Werk eines Gründungsvaters der Universität Mainz, in: Kißener, Michael/Helmut Mathy (Hg.): Ut omnes unum sint (Teil 1). Gründungspersönlichkeiten der Johannes Gutenberg-Universität (= Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, N. F., Bd. 2), Stuttgart: Steiner, 2005, S. 11–30. Fassnacht, Wolfgang: Universitäten am Wendepunkt? Die Hochschulpolitik in der französischen Besatzungszone (1945–1949) (= Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte, Bd. 43), Freiburg i. Br.: Alber, 2000. Friedeburg, Ludwig von: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989. Ders.: Die deutsche Universität zwischen Wissenschaft und Politik, in: Universität Heidelberg (Hg.): Die Universität. Idee und Wirklichkeit. Vorträge im Wintersemester 1993/94. Sammelband der Vorträge des Studium Generale an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg: Heidelberger Verlags-Anstalt, 1994, S. 111–127. Gass-Bolm, Torsten: Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen: Wallstein, 2005. Haeder, Sonja: „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“? Zur Auswahl und sozialen Struktur von Oberschülern am Beispiel Ost-Berlins (1945–1955), in: Gotschlich, Helga (Hg.): „Links und links Schritt gehalten…“. Die FDJ. Konzepte, Abläufe, Grenzen, Berlin: Metropol-Verlag, 1994, S. 170–186. Kunze, Rolf-Ulrich: Die Studienstiftung des deutschen Volkes seit 1925. Zur Geschichte der Hochbegabtenförderung in Deutschland, Berlin: Akademie-Verlag, 2001. Laitko, Hubert: Befreiung – Besinnung – Neubeginn, in: Ders. (Hg.): Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin: Dietz, 1987, S. 592–692. Maaß, Rainer: Die Studentenschaft der Technischen Hochschule Braunschweig in der Nachkriegszeit, Husum: Matthiesen, 1998.

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Malycha, Andreas: Hochschulpolitik in den vier Besatzungszonen Deutschlands. Inhalte und Absichten der Alliierten und der deutschen Verwaltungen 1945–1949, in: Schleiermacher, Sabine/Udo Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945 (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, 3), Stuttgart: Steiner, 2009, S. 29–47. Menk, Gerhard: Erwin Stein. Politischer Wegbereiter des Neuanfangs, in: Horst, Carl et al. (Hg.): Panorama. 400 Jahre Universität Gießen. Akteure. Schauplätze. Erinnerungen, Frankfurt/M.: Societäts-Verlag, 2007, S. 136–141. Miethe, Ingrid: Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR. Möglichkeiten und Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik, Opladen: Budrich, 2007. Müller, Winfried: Schulpolitik in Bayern im Spannungsfeld von Kultusbürokratie und Besatzungsmacht 1945–1949, München: Oldenbourg, 1995. Neuhoff, Klaus/Horst Vinken: Deutsche Stiftungen für Wissenschaft, Bildung und Kultur, BadenBaden: Nomos, 1969. Oschilewski, Walther G.: Grimme, Adolf, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 7, Berlin: Duncker & Humblot, 1966, S. 88f. Phillips, David: Britische Initiativen zur Hochschulreform in Deutschland. Zur Vorgeschichte und Entstehung des „Gutachtens zur Hochschulreform“, in: Heinemann, Manfred (Hg.): Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1981, S. 172–189. Ders.: Zur Universitätsreform in der britischen Besatzungszone 1945–1948, Köln: Böhlau, 1983. Ders.: Zur Universitätsreform in der britischen Besatzungszone 1945–1948, Köln: Böhlau, 1983. Ders.: Pragmatismus und Idealismus. Das „Blaue Gutachten“ und die britische Hochschulpolitik in Deutschland 1948, Köln: Böhlau, 1995. Rohstock, Anne: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München: Oldenbourg, 2010. Rosenzweig, Beate: Erziehung zur Demokratie? Amerikanische Besatzungs- und Schulreformpolitik in Deutschland und Japan, Stuttgart: Steiner, 1998. Schagen, Udo: Wer darf studieren? Ausgrenzung und Chancengleichheit 1933 und 1945, in: Ders./Sabine Schleiermacher (Hg.): Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945 (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Bd. 3), Stuttgart: Steiner, 2009, S. 49–51. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München: Oldenbourg, 1999. Ders.: Zur Hochkonjunktur des christlichen Abendlandes in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Pfeil, Ulrich (Hg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München: Oldenbourg, 2008, S. 49–70. Schiller, Klaus: Fünfzig Jahre Abendgymnasium I in Frankfurt am Main. Eine Schule für Erwachsene 1946–1996, Frankfurt/M.: Jassmann, 1996. Schleiermacher, Sabine: Hochschule in den politischen Umbrüchen. Eine vergleichende Perspektive, in: Dies./Udo Schagen (Hg.): Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945 (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Bd. 3), Stuttgart: Steiner, 2009, S. 7–18. Schmidt, Siegfried (Hg.): Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena, Weimar: Böhlau, 1983. Schneider, Michael C.: Chancengleichheit oder Kaderaustausch? Zu Intention, Tradition und Wandel der Vorstudienanstalten und Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1952, in: Zeitschrift für Pädagogik 41 (1995), S. 959–983. Ders.: Bildung für neue Eliten. Die Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZ/DDR, Dresden: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 1998.

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Ders.: Grenzen des Elitentausches. Zur Organisations- und Sozialgeschichte der Vorstudienanstalten und frühen Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZ/DDR, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 134–176. Stallmann, Herbert: Hochschulzugang in der SBZ/DDR 1945–1959, St. Augustin: Richarz, 1980. Stephany, Gerda: Das Honnefer Modell (= Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 77), Berlin: Duncker & Humblot, 1968. Tenorth, Heinz-Elmar: Hochschulzugang und gymnasiale Oberstufe in der Bildungspolitik von 1945–1973. Zur Genese und pädagogischen Kritik der „gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“, Bad Heibrunn: Klinkhardt, 1975. Tent, James F.: Mission on the Rhine. Reeducation and Denazification in American Occupied Germany, Chicago: Chicago Univ. Press, 1982. Woywodt, Jana: Die DDR. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Zur Geschichte der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Jena (1949–1963), in: Hoßfeld, Uwe/Tobias Kaiser/Heinz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-SchillerUniversität Jena (1945–1990). Bd. 1, Köln: Böhlau, 2007, S. 172–190. Zauner, Stefan: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945– 1949 (= Studien zur Zeitgeschichte, 43), München: Oldenbourg, 1994.

Technik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit: Darmstädter Ingenieure zwischen Reformrhetorik und Wirklichkeit Isabel Schmidt Mit dem Ende des „Dritten Reiches“ stand für die Wissenschaft und damit auch das Berufsumfeld der Ingenieure eine umfassende Neuverortung in Staat und Gesellschaft auf der Tagesordnung. Die Technische Hochschule Darmstadt und ihre Ingenieure waren wie die anderen Hochschulen und Universitäten außerdem mit einer sich neu formierenden hochschulpolitischen Landschaft konfrontiert, in der die Militärregierungen als neue Akteure und damit zunächst unberechenbare Faktoren ins Spiel gekommen waren. Um ihre gesellschaftlichen Führungsansprüche aufrechterhalten zu können, mussten die Ingenieure, wie andere Berufsgruppen auch, ihre Rolle in einer neuen, demokratischen Ordnung aushandeln.1 Dieser Prozess fand für die Ingenieure – anders als für den Rest der akademischen Eliten – im Spannungsfeld zwischen dem zurückliegenden, mit technischen Mitteln geführten Krieg, den neuen Aufgaben im Wiederaufbau und dem eigenen Selbstverständnis als junge und „unpolitische“ gesellschaftliche Elite statt. Um sich moralisch vom Nationalsozialismus zu distanzieren und den eigenen Führungsanspruch aufrechtzuerhalten, mussten die Ingenieure nach 1945 das Reden über Technik neu justieren. Es begann eine Suche nach neuen Leitbildern und Selbstdefinitionen, die den aktuellen Bedingungen des nachkriegsdeutschen Systems angepasst waren. Eine Schlüsselstellung bei der Bestimmung der Rolle des Ingenieurs kam dem Verhältnis von Technik und Gesellschaft zu. Der Soziologe Gerd Hortleder konstatiert in seiner Studie zum Gesellschaftsbild des Ingenieurs: „Die Integration der Technik ist, wie sich gezeigt hat, eine der Voraussetzungen für die Integration des Ingenieurs in die bestehende Gesellschaft.“2 Für die Analyse des Verhältnisses von Technik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit erweist es sich demnach als lohnenswert, danach zu fragen, wie sich diese Schlüsselfunktion auf das Verhalten der Ingenieure in der Nachkriegszeit ausgewirkt hat. Haben sie die Möglichkeit erkannt, über eine Integration der Technik ihr eigenes Verhältnis zur Gesellschaft zu verbessern? Dieser Frage will der Aufsatz durch eine Analyse des öffentlichen Auftretens der Darmstädter Ingenieure in der Nachkriegszeit nachgehen.3 1 2 3

Bernd Weisbrod: Dem wandelbaren Geist. Akademisches Ideal und wissenschaftliche Transformation in der Nachkriegszeit, in: Ders. (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 11–35. Gerd Hortleder: Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Zum politischen Verhalten der Technischen Intelligenz in Deutschland, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 19743, S. 143. Wenn im Folgenden von „Darmstädter Ingenieuren“ die Rede ist, sind damit die ordentlichen und außerordentlichen Professoren der TH Darmstadt gemeint, wohlwissend, dass sich unter

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Da dies nach 1945 vor dem Hintergrund stattfand, dass die Zerstörungen durch den technisierten Krieg allgegenwärtig waren und die Besatzungsmächte die Gräueltaten der systematischen Vernichtung der Juden in ihrem vollen Umfang aufdeckten, stand die Frage nach der eigenen Verantwortung und Beteiligung für die Ingenieure scheinbar unausweichlich im Raum. Die Ingenieure reagierten mit rhetorischen Umwidmungen, auf die im Folgenden der Blick gerichtet sein soll. Um diese Umwidmungsprozesse besser nachvollziehen zu können, wird es in einem ersten Abschnitt zunächst um die Rolle und die Entwicklung der Hochschule während des „Dritten Reiches“ sowie um das Selbstverständnis der Ingenieure gehen.4 Daran anschließend wird analysiert, auf welchen verschiedenen Ebenen von Öffentlichkeiten Ingenieure der Technischen Hochschule Darmstadt nach dem Ende des „Dritten Reiches“ über Technik sprachen: Wie und vor wem redeten die Darmstädter Ingenieure über Technik, welche Formeln wurden im Umgang mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus gefunden und an welchen Stellen wurde geschwiegen? Die mit den gesellschaftlichen Veränderungen parallel verlaufenden akademischen Wandlungsprozesse in der Nachkriegszeit sind für Universitäten mittlerweile ins Interesse der Forschung gerückt.5 Für die Technischen Hochschulen und die spezifischen Themen der Ingenieursausbildung ist dies weniger der Fall.6 So gibt es für die Technische Hochschule Darmstadt, seit 1997 Technische Universität Darmstadt, weder eine Geschichte des „Dritten Reiches“ noch der Nachkriegszeit.7

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ihnen neben den klassischen Ingenieurswissenschaftlern auch Professoren der Naturwissenschaften befanden. Diese Zuordnung hat aber für das Fallbeispiel durchaus eine Berechtigung, besaßen und besitzen doch die Naturwissenschaften an einer Technischen Hochschule immer einen zuarbeitenden Charakter und verfügen in diesem Sinne nicht über die ureigenen Fächertraditionen wie an den Universitäten. Zwischen dem Selbstverständnis der Ingenieure auf der einen Seite und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung auf der anderen bestand von jeher eine erhebliche Differenz. So bekamen die Technischen Hochschulen erst nach langem Emanzipationskampf 1899 bzw. 1900 das Promotionsrecht verliehen. Vgl. dazu Karl-Heinz Manegold: Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins, Berlin: Duncker & Humblot, 1970. Einen detaillierten Überblick zur Forschungsliteratur bietet Wolfgang Woelk/Frank Sparing: Forschungsergebnisse und -desiderate der deutschen Universitätsgeschichtsschreibung: Impulse einer Tagung, in: Karen Bayer/Frank Sparing/Wolfgang Woelk (Hg.): Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart: Steiner, 2004, S. 7–32. Bislang liegt mit der Dissertation von Frauke Steffens eine einzige Monografie zur Geschichte einer TH in der Nachkriegszeit vor, Frauke Steffens: „Innerlich gesund an der Schwelle einer neuen Zeit“. Die Technische Hochschule Hannover 1945–1956, Stuttgart: Steiner, 2011. Unlängst wurde vom Präsidium der Technischen Universität zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte ein Forschungsprojekt „Technische Hochschule Darmstadt und Nationalsozialismus“ ins Leben gerufen, aus dem zwei Doktorarbeiten hervorgehen werden. Als Vorschau auf die beiden Arbeiten vgl. Christof Dipper/Melanie Hanel/Isabel Schmidt: Die TH Darm-

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Die Entwicklung der TH Darmstadt während des „Dritten Reiches“ Die Nachkriegsrhetorik der Ingenieure und ihre Formeln sind nicht ohne die Entwicklung der TH Darmstadt während des „Dritten Reiches“ verständlich. Melanie Hanel hat nachgewiesen, dass parteiideologische Faktoren für die Hochschulpolitik im Nationalsozialismus in Darmstadt eine eher untergeordnete Rolle spielten.8 Das gilt vor allem für die Berufungspolitik, wo das Selbstergänzungsrecht nahezu ungeschmälert aufrechterhalten werden konnte. Die meisten Eintritte in die Partei scheinen auf opportunistischen Gründen beruht zu haben. Trotzdem stellten sich die Darmstädter Professoren in ‚vaterländischer Pflichterfüllung‘ im Krieg bedingungslos in den Dienst des „Dritten Reiches“. Durch die Bearbeitung kriegswichtiger Forschungsaufträge, beispielsweise bei der Entwicklung der V2 Rakete im Rahmen des „Vorhabens Peenemünde“, in drei Darmstädter Vierjahresplaninstituten oder in etlichen vom Reichsforschungsrat finanzierten Einzelprojekten, engagierten sich die Professoren intensiv für die Kriegsforschung. Dass dies eine unzweideutige politische Entscheidung für das „Dritte Reich“ war, bedarf nur deshalb der Erwähnung, weil die Betroffenen selbst das – jedenfalls später – so nicht verstanden wissen wollten. Ein Blick in die Statistik zeigt, wie sich dieses Engagement auf das Erscheinungsbild der TH auswirkte. Im Wintersemester 1935/36 waren 1.200 Studenten eingeschrieben, die Anzahl der Lehrenden betrug 121. Im Wintersemester 1944/45 dagegen waren kriegsbedingt nur noch 190 Studenten eingeschrieben; das Forschungspersonal allerdings hatte sich auf 280 Personen vergrößert. Diese Zahlen machen deutlich, dass sich die TH Darmstadt während des Kriegs weg von ihrer eigentlichen Rolle als Lehranstalt und hin zu einer militärischen Forschungseinrichtung entwickelt hat. Die Darmstädter Ingenieure profitierten von den damit verbundenen Privilegien und erhielten zusätzliche Haushaltsmittel für neues Personal und Forschung. Es ist offensichtlich, dass sich die Einbindung der Wissenschaftler in die Rüstungsforschung weniger unter Zwang oder Druck von oben, sondern aus eigenem Bestreben heraus vollzogen hatte. In diesem Kontext erscheint der 1974 von Karl-Heinz Ludwig eingeführte Begriff der „Selbstmobilisierung“ angemessen, denn er betont, dass sich die Forscher dem Regime als Kooperationspartner andienten, dabei aber ihre eigenen Ziele verfolgten.9 Selbst wenn die These der Wissenschaftsfeindlichkeit der Nationalsozialisten mittlerwei-

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stadt 1930–1950. Eine erste Erkundung, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 87–124. Die Dissertation, die sich mit der Geschichte der TH Darmstadt während des Nationalsozialismus beschäftigt, befindet sich in Bearbeitung. Vgl. Melanie Hanel: Die Technische Hochschule Darmstadt im „Dritten Reich“, Manuskript Darmstadt, 2012. Vgl. Karl-Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf: Droste, 1974. Zur Selbstmobilisierung der Technischen Hochschulen während des „Dritten Reiches“ siehe Noyan Dinckal/Christof Dipper/Detlev Mares (Hg.): Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009.

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le als widerlegt gelten kann,10 haben die Fakten, die Hanel ermitteln konnte, in ihrer Eindeutigkeit doch sehr überrascht: Die Darmstädter Ingenieure bekamen aufgrund ihrer Kriegswichtigkeit Personal und Material im Wert von mehreren Millionen Reichsmark von staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt. Selbstverständnis der Ingenieure und Nationalsozialismus Doch nicht nur das. Der Nationalsozialismus stellte für die technische Intelligenz eine Art Emanzipationsversprechen dar.11 Seine militärischen Ziele konnte er nur durch die soziale Aufwertung der Techniker erreichen, was diesen für viele von ihnen attraktiv machte. Die Forderung nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe, besonders im Hinblick auf die Organisation von Technik, ist 1933 keine Neuheit – bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich der Aufstiegswunsch der Technischen Intelligenz in den Kreis der traditionellen akademischen Schichten zurückverfolgen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde in den zeitgenössischen Diskursen der Kulturwert der Technik hervorgehoben, den aber ihre „gesellschaftlichen Antagonisten“ aus Adel, Militär, Beamtenschaft und Bildungsbürgertum beharrlich leugneten.12 Die Folge war eine Missstimmung unter den meist aus der Mittelschicht stammenden Ingenieuren nicht nur im Kaiserreich, sondern auch noch in der Weimarer Republik. Dies war ein Grund für die Bereitschaft vieler Ingenieure und besonders des Vereins Deutscher Ingenieure zu enger Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus, obgleich dies im Widerspruch zu dem sonst erhobenen Anspruch der unpolitischen Technik stand. Soziale Anerkennung und Durchsetzung des technischen Primats waren auch den Darmstädter Ingenieuren wichtiger als moralische Bedenken, wie man an den aus pragmatischen Gründen erfolgten Parteieintritten sehen kann. Im TechnikDiskurs des NS-Systems bot man sich als „Helden des Fortschritts“13 an, um die Ziele des totalitären Staates zu verwirklichen. So sprach anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes des Instituts für Technische Physik im Jahr 1943 der Rektor der TH Darmstadt, der gleichzeitig auch der Architekt des Gebäudes war, 10 Beispielsweise durch das Forschungsprojekt zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus dem die 17-bändige von Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder herausgegebene Reihe Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus hervorgegangen ist. Zur Widerlegung der Wissenschaftsfeindlichkeit vgl. auch: Margit Szöllösi-Janze: National Socialism and the Sciences. Reflections, Conclusions, and Historical Perspectives, in: Dies. (Hg.): Science in the Third Reich, Oxford: Berg, 2001, S.1–35. 11 Vgl. Frauke Steffens: Innerlich gesund, S. 240. 12 Burkhard Dietz/Michael Fessner/Helmut Maier: Der „Kulturwert der Technik“ als Argument der Technischen Intelligenz für sozialen Aufstieg und Anerkennung, in: Diess. (Hg.): Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik, Münster: Waxmann, 1996, S. 1–32, hier insbes. S. 1. 13 Alexander von Plato: Helden des Fortschritts? Zum Selbstbild von Technikern und Ingenieuren im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, in: Wilhelm Füßl/Stefan Ittner (Hg.): Biographie und Technikgeschichte, Opladen: Leske + Budrich, 1998, S. 127–165.

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den Wunsch aus: „Möge das neue Glied unserer Hochschule reiche Wirksamkeit entfalten zur Erziehung deutschen akademischen Nachwuchses und zur Geltung deutscher Wissenschaft in der Mitarbeit an der Sicherung der deutschen Zukunft.“14 Entnazifizierung der Darmstädter Ingenieure: Kein Sprechen über Technik Besonders bei der Entnazifizierung spielte es für die Ingenieure eine große Rolle, sich und die eigene Tätigkeit zu legitimieren, da die anstehenden Überprüfungen die ohnehin schon vorhandenen Statusängste verstärkten. Im Fall der Entnazifizierung handelt es sich auf den ersten Blick im eigentlichen Sinne nicht um ein öffentliches Verfahren. Vielmehr bezeichnet der Begriff Maßnahmen der Alliierten zur Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus und zur Sanktionierung der aktiven Nationalsozialisten. Ein Großteil der Deutschen musste sich vor gerichtsähnlichen Kammern, den sogenannten Spruchkammern, verantworten.15 Die Äußerungen der Ingenieure vor diesen Kammern erfolgten demnach nicht aus freiem Willen, sondern es bestand ein gewisser Rechtfertigungsdruck. Die Verfahren wurden außerdem nicht immer öffentlich, viele auch nur in schriftlicher Form geführt. Die Ingenieure bekamen hier die Möglichkeit, ihre Interpretation der eigenen Vergangenheit während des Nationalsozialismus zu präsentieren und sich auf gemeinsame Argumente zu verständigen, ohne gezwungen zu sein, genauere Angaben über ihre eigentlichen Forschungen machen zu müssen. Insgesamt ergaben die bisherigen Auswertungen zur Entnazifizierung an der TH Darmstadt, dass das Verfahren für die Hochschule zwar eine zeitaufwendige Bearbeitung unzähliger Listen, Fragebögen und Arbeitsblätter bedeutete, aber keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle während des Nationalsozialismus verlangte.16 Die Vorgehensweise der Amerikaner bei der Entnazifizierung hatte für die Ingenieure besonders vorteilhafte Konsequenzen, ebnete sie doch den Weg in die Nachkriegszeit, ohne weitere Selbstreflexionen anstellen zu müssen. Da im Entnazifizierungsverfahren allein die Zugehörigkeit zur Partei und ihren Gliederungen ausschlaggebend war, um zum engeren Kreis der „Nationalsozialisten“ gerechnet zu werden, war die Folge, dass die Rolle der Professoren für Aufrüstung und Kriegsforschung ausgeklammert blieb und somit die eigentliche Bedeutung gerade einer Technischen Hochschule während des Nationalsozia14 Karl Lieser: Zum Geleit!, in: Die Technische Hochschule Darmstadt (Hg.): Das Institut für Technische Physik, Darmstadt: o. A., 1943, S. 1f. 15 Zum Thema der Entnazifizierung siehe Lutz Niethammer: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin: Dietz, 19822; Cornelia Rauh-Kühne: Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 35–70; Carola Sachse: „Persilscheinkultur“. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der KaiserWilhelm/MaxPlanck-Gesellschaft, in: Bernd Weisbrod (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 217–247. 16 Vgl. Dipper/Hanel/Schmidt: Die TH Darmstadt, S. 117.

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lismus nicht thematisiert werden musste. Was die Ingenieure konkret an der Hochschule geforscht hatten, spielte zu keinem Zeitpunkt eine Rolle. Zentrale Bedeutung hatte stattdessen die Selbstkonstruktion als unpolitische Hochschule. Das war umso einfacher, als tatsächlich – wie oben angeführt – auch bei den während des „Dritten Reiches“ berufenen Personen die wissenschaftliche Qualifikation den Ausschlag gegeben hatte. Oftmals hieß es deshalb, dass die Parteimitgliedschaft rein formal und in der Hochschule bekannt, der Betreffende aber eigentlich oppositionell zum Regime eingestellt gewesen sei. Beispielhaft ist die Erklärung eines Professors, der seine Parteimitgliedschaft damit begründete, „dass die Technische Hochschule ihren geraden Kurs – Pflege der Wissenschaft – nur durchhalten konnte, wenn genügend viele Professoren bereit waren, durch ihren Eintritt in die Partei die äusseren Anhaltspunkte der Kritik zu beseitigen.“17 Den Darmstädter Ingenieuren wurde beides geglaubt und so konnten sie sich in einem weiteren Schritt als regelrechte Opfer des Nationalsozialismus stilisieren. Dem überwiegenden Teil der Professoren gelang es nämlich, durch Nachweis von sogenannten Widerstandshandlungen – darunter fiel beispielsweise das Beweismittel, dass man nur unter Druck Parteimitglied geworden sei oder dass man ausländische oder als „Mischlinge“ geltende Studenten unterstützt habe – eine Einstufung in die Kategorie der „Entlasteten“ zu erreichen. Erleichtert wurde dies dadurch, dass parallel zum Prozess der Entnazifizierung mehrere Darmstädter Ingenieure – fünf Professoren und eine unbekannte Zahl an Assistenten – von der amerikanischen Militärregierung unter Vertrag genommen wurden und teilweise sogar ohne Spruchkammerverfahren ihre Forschungen im Ausland fortsetzten. Technik und Hochschulöffentlichkeit nach 1945: Die THD auf der Suche nach „neuen“ Leitbildern Damit war das Problem der Selbstexkulpation noch nicht vollständig gelöst, denn irgendwie musste auch gezeigt werden, dass man aus der Geschichte gelernt hatte. Dies geschah vorzugsweise in öffentlichen Reden bei den Hochschulveranstaltungen.18 Bei der Betrachtung des Themas Technik in öffentlichen Hochschulreden – insbesondere vor Studenten, aber auch der Militärregierung – wird deutlich, was in Bezug auf die eigene nationalsozialistische Vergangenheit im Rahmen des Sagbaren lag und was gesagt werden musste in Bezug auf die anstehenden Aufgaben. Die „Studenten sind die Aufgabe“, lautete die Devise der Darmstädter Ingenieure.19 Und da der studentische Nachwuchs als gefährdet galt, wenn nicht rundheraus als infiziert – hatte er sich doch in der NS-Zeit, namentlich in der Phase der 17 Schreiben Otto Scherzer vom 24.07.1946 an die Spruchkammer Darmstadt, Hessische Hauptstaatsarchiv, Abt. 520 F (A-Z). 18 Zur Analyse von Rektoratsreden in der Nachkriegszeit vgl. Eike Wolgast: Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46), Heidelberg: Winter, 2001. 19 Eröffnungsrede des ersten Nachkriegsrektors Reuleaux, Universitätsarchiv Darmstadt (UAD), 105/186.

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Machtübernahme, als in höchstem Maße anfällig für die „braune“ Ideologie gezeigt –, wurde nun, wohl als Antwort auf den amerikanischen Gedanken der reeducation, einerseits dem Professor stärker als zuvor die Rolle des Erziehers zugewiesen, andererseits auf einen Ausbau der Geisteswissenschaften gesetzt. So wurden beispielsweise im Rahmen der vor der offiziellen Wiedereröffnung im Herbst 1945 stattfindenden Vorkurse für Bauingenieure und Architekten als ergänzendes Element zum ersten Mal allgemeinbildende Einzelvorträge eingeführt. Diese sollten laut einem Schreiben an die amerikanische Militärregierung dezidiert von Professoren „known for their Anti-Nazi convictions“ vorgetragen werden und den Beginn einer „positive denazification“ und somit einen Beitrag zur Reorientierung der Studenten leisten.20 Auch im Rahmen des Antrags auf die Wiedereröffnung sprach man die Ausbildung der Ingenieure an. Das Leitungsgremium der Hochschule legte im November 1945 sogenannte „Thesen zu den Zielen der Technischen Hochschule Darmstadt“ vor.21 Darin hieß es: „Um ihren alten Platz als Stätte echter Bildung und als Träger wahrer Kultur nach wie vor zu behaupten“, müsse die Hochschule sich nun auch der Pflege der „Randgebiete“, wie in diesem Rahmen die Geisteswissenschaften genannt wurden, annehmen und so die Studenten vom „phrasenhaften und gedankenlosen Nachbeten sogenannter Weltanschauungen“ abhalten. Hier wird deutlich, dass man auf der Suche nach neuen Leitbildern auch auf das Erbe verschiedener Selbstbilder und Zuschreibungen aus der Vergangenheit zurückgriff: Nicht nur, dass eine Kontinuität der Betonung der Technik als Kulturwert sichtbar wird, man räumte nun auch wie zu Zeiten der kulturkritischen Debatten der Zwischenkriegszeit der Persönlichkeitsbildung einen höheren Stellenwert ein.22 Als im Januar 1946 die Wiedereröffnung der Hochschule auf betont schlichte Weise gefeiert wurde, wiederholte sich dieses Muster. Der Rektor machte anonyme Kräfte für das ‚Verhängnis‘ verantwortlich und konnte deshalb in seiner Eröffnungsrede eine scharfe Trennung zwischen Hochschule und Nationalsozialismus herstellen: Unmässigkeit verbunden mit verblüffender Unkenntnis hatte die Geister verwirrt und auch in dem Ringen unseres Volkes um sein Schicksal falsche oder zu spät gezeigte Ziele gesteckt. Hier stehen die Technischen Hochschulen für die kommende Friedensarbeit vor einer gewaltigen Säuberungsarbeit positivsten Charakters, durch die die Sünde wider den Geist der Technik wieder gutgemacht werden muss.23

Implizit reihte die Hochschulleitung durch diese Formulierung die Technik in die Kategorie der durch den Nationalsozialismus pervertierten Gesellschaftsbereiche ein. Technik diente jetzt nicht mehr, wie zu Zeiten des Nationalsozialismus und beispielhaft 1943 in der Rede des damaligen Rektors, nur der Sicherung der deut20 Antrag vom 30.08.1945, Institut für Zeitgeschichte, OMGUS-Akten, 5/298-2/17. 21 Schreiben vom 17.10.1945, UAD, 105/186. 22 Dies hat Frauke Steffens auch für die TH Hannover nachweisen können, vgl. Steffens: Innerlich gesund, S. 255. 23 Eröffnungsrede des ersten Nachkriegsrektors Reuleaux, UAD, 105/186.

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schen Zukunft, sondern stand nun im „Dienst der Menschheit“. Durch diese Umdeutung sollte ein möglichst problemloser Übergang in die Nachkriegszeit ermöglicht werden. Man verschwieg das eigene Versagen zwar nicht rundheraus, redete es aber klein, indem man die konkreten Tätigkeiten ausließ und stattdessen von Technik in abstraktem und nicht angreifbarem Sinne sprach. Der Nationalsozialismus als „Gegner“ wurde ins Irrationale gehoben, um die eigene Ohnmacht zu unterstreichen. Eine Strategie, die sich durch nahezu alle Rektoratsreden der Universitäten nach 1945 zog.24 Auch der Darmstädter Rektor Reuleaux folgte, wie das obige Zitat belegt, diesem Muster. Gleichzeitig versäumte er es nicht, auf die Bedeutung der Technischen Hochschulen und Ingenieure für den Wiederaufbau sowie als Brücke zum Ausland hinzuweisen, wobei diesem „fehlendes Verständnis“ und so ein Teil der Schuld an der Notsituation der Nachkriegszeit zugesprochen wurde: Sie bedürfen zur Wiederaufrichtung der Friedensindustrie in Deutschland des hochwertigsten Rüstzeugs, da sie vor neue noch nie gestellte Aufgaben gestellt sind. Darüber hinaus sollen sie unser Land wieder exportfähig machen, damit es wieder mit den anderen Völkern in den Dienst der Menschheit eintrete. Ihnen obliegt der grosse Brückenschlag auch in geistiger Beziehung über jene Grenzen, die jetzt noch – nicht zum mindesten durch fehlendes Verständnis – gesperrt sind.25

Zuletzt mahnte er, dass der Erfolg der Ingenieure abhänge „von unseren Fähigkeiten und unseren Leistungen, aber auch davon, dass uns der Weg nicht verbaut wird“, d. h. die Ingenieure sollten, um den „Kulturwert der Technik“ entfalten zu können, selbstbestimmt arbeiten können.26 Die Eröffnungsrede steht repräsentativ für das Reden über Technik in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wie Frauke Steffens anhand des Beispiels der TH Hannover herausgearbeitet hat, konnten die während des Nationalsozialismus geläufigen Leitbilder, d. h. die Identifikation der Technik mit dem deutschen bzw. völkischen Geist, so unschwer modifiziert und innerhalb einer Suche nach unbeschädigten Leitbildern im abendländischen Kontext neutralisiert bzw. ‚westernisiert‘ werden.27 Dies war insbesondere für die unmittelbare Nachkriegszeit symptomatisch, als mit der besonderen Aufmerksamkeit der Militär- und der Landesregierungen gerechnet werden musste. Eine Bühne für die Formeln der Ingenieure: Der „Internationale Kongress für Ingenieursausbildung“ 1947 Vor der internationalen Öffentlichkeit wurden andere Formeln gefunden. Mit der Beschreibung der Ereignisse rund um den Internationalen Kongress für Ingenieursausbildung (IKIA) wird es nun um das Reden der Darmstädter Ingenieure 24 25 26 27

Vgl. Wolgast: Wahrnehmung. Eröffnungsrede des ersten Nachkriegsrektors Reuleaux, UAD, 105/186. Ebd. Zum Technikdiskurs nach 1945 vgl. Steffens: Innerlich gesund, S. 226–289.

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über Technik vor einer internationalen Fachöffentlichkeit gehen. Ende November 1946 entstand unter den Professoren der Technischen Hochschule die Idee, einen internationalen Kongress in Darmstadt auszurichten. In einem zweiten Schritt einigte man sich auf Inhalt und Form der Veranstaltung. Der Kongress fand schließlich unter dem Namen Internationaler Kongress für Ingenieursausbildung vom 31. Juli bis 9. August 1947 statt. Die Hauptthemen waren „Technik als ethische und kulturelle Aufgabe“, „Stand der Ingenieursausbildung in der Welt“ sowie die „Auslese der Studenten und soziale Fragen“.28 Die TH Darmstadt hatte Ingenieure aus aller Welt eingeladen, um eine internationale Bühne für das angestrebte Programm und gleichzeitig die Möglichkeit eines Anschlusses an die scientific community zu finden. Dabei wurde mit den altbekannten Pathosformeln die Verantwortung des Ingenieurs als internationale Aufgabe beschworen. So versicherte der IKIA-Mitorganisator und TH-Rektor, Professor Vieweg, im Vorfeld des Kongresses: Es steht außer Zweifel, welche beglückende, das Leben des einzelnen und der Völker segensreich fördernde Rolle die Technik spielen kann. Dazu gehört aber, dass das geistige Gesicht des Ingenieurs als des schöpferischen Trägers technischen Schaffens eine Prägung erhält, die neben der fachlichen Ausbildung die charakterliche Entwicklung zur Erkenntnis seiner Verpflichtung als Mensch gewährleistet. Dieses Problem bewegt die ihre Verantwortung empfindenden Ingenieure in allen Ländern.29

Auch wenn die Träger vorgaben andere Intentionen zu verfolgen, in der Rückschau überwog jedenfalls der Charakter einer Alibiveranstaltung. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Braunschweiger Wissenschaftshistoriker Herbert Mehrtens. Im Rahmen seiner Diskursanalyse des 500seitigen Kongressbandes macht er hinter den rhetorischen Selbstkonstruktionen der vortragenden Ingenieur eine, wie er sie nennt, „Missbrauchsformel“ aus.30 Diese ziehe sich durch den Großteil der gehaltenen Vorträge. Mit Aussagen wie: „Die Tragik unserer Zeit liegt darin, dass der Mensch die Werke der Technik, die so unendlich viel Segensreiches stiften könnten, zum Fluche der Menschheit missbraucht“, wurde die Neutralität der Technik und damit eine Schuldunfähigkeit ihres Schöpfers, also des Ingenieurs, postuliert. Neben die politische Formel, der „Führer“ habe das Volk „teuflisch missbraucht“, wurde die Verantwortungsformel des Ingenieurs als „Schöpfer“ wertfreier Technik gestellt. Ingenieur und Technik konnten so positiv konnotiert bleiben. In Überkreuzung der beiden Formeln stand der „Führer“ dem Volk und der Technik als Vergewaltiger gegenüber. Nach Mehrtens erschien damit die 28 Aus der Veranstaltung ging ein Tagungsband hervor. Siehe Walther Brecht (Hg.): IKIA, Internationaler Kongress für Ingenieur-Ausbildung. Darmstadt 31. Juli bis 9. August 1947. Ansprachen, Vorträge, Zusammenfassungen, Darmstadt: Roether, 1949. 29 Richard Vieweg: Internationaler Kongress für Ingenieursausbildung IKIA, Darmstadt 1947, in: Darmstädter Hochschulblatt 9 (April 1947), S. 1. 30 Herbert Mehrtens: „Missbrauch“. Die rhetorische Konstruktion der Technik in Deutschland nach 1945, in: Walter Kertz (Hg.): Technische Hochschulen und Studentenschaft in der Nachkriegszeit. Referate beim Workshop zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina am 4. und 5. Juli 1994, Braunschweig: Universitätsbibliothek der Technischen Universität Braunschweig, 1995, S. 33–50, S. 40ff.

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Technik als ein eigentlich gutes Wesen, das aber „dämonische“ Kräfte besaß. Gleichzeitig blieb der Ingenieur Schöpfer von etwas Höherem, mit eigentlich guten Absichten und Anspruch auf gesellschaftliche Bedeutung.31 Das Schweigen über wissenschaftliche Tätigkeiten für das NS-System, so Mehrtens, wurde mit dieser Formel überdeckt und diente zur reinen Abwehr von konkreten Schuld- und Verantwortungsfragen. Die Zusammenfassung des Kongresses begann mit dem feierlichen Bekenntnis der Teilnehmer: „Wo immer der Einzelne auch stehen mag, wir sind alle von der Erkenntnis tief durchdrungen, dass Technik niemals mehr etwas anderes sein darf als eine ethische und kulturelle Aufgabe, für deren Erfüllung insbesondere jeder Ingenieur verantwortlich ist.“32 Da es sich dabei jedoch vornehmlich um bloße Formeln zur Verdeckung des Gewesenen handelte, verwundert es nicht, dass trotz feierlicher Beschwörungen eine Umsetzung der abstrakten Zielvorstellungen des Kongresses ausblieb. Anfang Oktober 1947 berief man, um, wie es hieß, den „IKIA-Geist in die Realität umzusetzen“, eine Rektorenkonferenz der Technischen Hochschulen nach Darmstadt ein.33 Doch das hier erklärte Ziel, einheitlich an allen Technischen Hochschulen die Wochenstundenzahl des Fachstudiums auf 30 herabzusetzen und fünf bis sechs Stunden auf allgemeinbildende Fächer zu verwenden, um so „die Studienpläne universeller zu gestalten“, verlief im Sand.34 Einzig und allein die nicht prüfungsrelevanten allgemeinbildenden Vorträge setzten sich als Institution an der TH Darmstadt durch. Auch in den folgenden Semestern wurden diese Veranstaltungen über Staatsbürgerkunde, Wirtschaftskunde, Rechtskunde, Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte weitergeführt. Außerdem wurden jedes Semester Ringvorlesungen gehalten. „Die Welt des Ingenieurs“, „Das Gesicht des Auslands“ und „Persönlichkeiten des Ingenieurwesens und der Naturwissenschaften“ waren die Titel der ersten dieser Veranstaltungsreihen. Betrachtet man die Themen, so lässt sich ein großes Bedürfnis nach Orientierung und Bilanzierung herauslesen, sind doch historische Rückblicke und die Heroisierung von Individuen wichtige Charakteristika der berufsständischen, von sozialen Emanzipationswünschen getragenen Selbstbeschreibung der Ingenieure.35 Die Vorträge sollten neben der Implementierung des Führungsanspruches der Ingenieure aber noch eine weitere Funktion erfüllen.

31 32 33 34 35

Mehrtens: „Missbrauch“, S. 48f. Brecht: IKIA, S. 498. Protokoll vom 24.02.1948, UAD, 105/233. Protokoll vom 17.09.1947, UAD, 105/231. Vgl. von Plato: Helden.

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Allgemeinbildende Vorträge als Brücke zur Öffentlichkeit: Die Ingenieure und die Stadt Die öffentlichen Vorträge sollten nämlich, wie sich aus den Protokollen der Senatssitzungen ergibt, zugleich eine Brücke zur lokalen städtischen Öffentlichkeit herstellen. Das erlaubt den Blick darauf, wie vor einem Laienpublikum über Technik gesprochen wurde. Diese Frage ist im Fall der Technischen Hochschulen insgesamt von besonderer Bedeutung, da sie als Gründungen der Landesregierungen in den Residenzstädten, d. h. in den städtischen Zentren erbaut wurden.36 Besonders im Wiederaufbau und den Erweiterungen nach 1945 wird es eine Rolle spielen, dass den Hochschulen in der Stadt für das weitere Wachstum Grenzen gesetzt waren. Die Auseinandersetzungen um ihre Entwicklung und Ausbreitung innerhalb der vorgegebenen Grenzen beeinträchtigte das Verhältnis zur Stadt. Während man sich mit traditionellen akademischen Feiern stark zurückhielt, dienten die allgemeinbildenden Vorträge dazu, „das weitere Publikum Darmstadts in ‚populär-wissenschaftlicher‘ Form mit den Arbeitsgebieten vertraut“ zu machen, wie es gönnerhaft in einem Rektoratspapier heißt.37 Obwohl es in den allgemeinbildenden Vorträgen weniger um die eigentlichen Arbeitsgebiete der Ingenieure ging, sollten diese, für Laien nachvollziehbar, eine Vertrautheit zur Technischen Hochschule erzeugen. Zu Beginn eines jeden neuen Semesters wurde außerdem, und das war neu, in der Darmstädter Presse auf das Vorlesungsprogramm in den unterschiedlichsten geisteswissenschaftlichen Disziplinen, so in Philosophie, Psychologie, Kunst, Kulturgeschichte, Religion, Literaturgeschichte, Musik, Recht, Politik, Landeskunde sowie Sprachen, hingewiesen, da diese „das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit finden dürften.“38 Das Verhältnis von Stadt und technischer Intelligenz an der Hochschule gestaltete sich in den ersten Nachkriegsjahren zunächst unproblematisch. Da die Stadt während des Kriegs zu fast 80% zerstört worden war und nach 1945 auch noch ihre Hauptstadtfunktion verloren hatte, bildete die Technische Hochschule, im Herzen der Stadt gelegen, eine wichtige Instanz für deren zukünftige Gestaltung. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit war in Darmstadt gleichwohl in gewissem Maße gestört. Was genau an der Hochschule während des „Dritten Reiches“ passiert war, war den Darmstädtern nicht bekannt. Die zahlreichen Auslagerungsstätten und die Geheimhaltungsvorschriften während des Nationalsozialismus sorgten für erheblichen Spekulationsspielraum. So hielt sich bis Ende der 1940er Jahre das Gerücht, die Hochschule mit ihren Forschungen zur V2 sei verantwortlich für die umfangreiche Bombardierung der Stadt gewesen.39

36 Vgl. Helmut Böhme: Darmstadts Weg zur Hochschulstadt, in: Jahrbuch Technische Hochschule Darmstadt 13 (1980), S. 7–26, S. 23. 37 Betätigungsbericht der THD vom 25.02.1946, UAD, 105/186. 38 Repräsentativ dafür vgl. Oeffentliche Vorlesungen der TH, in: Darmstädter Tagblatt vom 30.05.1951. 39 Vgl. Leserbrief von Hanna Fink, in: Darmstädter Echo vom 30.12.1950.

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Im Sommer 1950 schließlich wagte sich die Hochschule unter einem neuen Rektor etwas weiter in die städtische Öffentlichkeit. Zur „Aufnahme von Beziehungen und Bindungen zwischen Hochschule und Bevölkerung“ wurde erstmals ein größeres Sommerfest organisiert.40 Auch hier begnügte man sich zur inhaltlichen Eigendarstellung mit der Abhaltung von allgemeinbildenden Vorträgen. Mitte der 1950er Jahre schließlich führte das Rektorat der TH Darmstadt monatliche Pressekonferenzen ein, da man gegenüber früher ein erhöhtes Maß an Interesse von Seiten der Stadt am Hochschulgeschehen feststellte.41 Imagepflege hatte man nun auch bitter nötig, da sich innerhalb der Stadt Widerstände auftaten. Im Rahmen des Wiederaufbaus der Hochschulgebäude war nämlich eine großangelegte Erweiterung der Hochschule auf dem Gelände der ehemaligen Altstadt geplant, was die Beziehungen zur Stadt für die nächsten Jahre erheblich verschlechtern sollte. Nicht weniger als 184 Parzelleneigentümer wurden enteignet, um großzügig Platz für Institutsgebäude zu schaffen. Zunächst sorgte vor allem die Gestaltung der Hochschulbauten im Zentrum der Stadt für Konfliktpotenzial, da sich die Stadt um ihr Mitspracherecht betrogen fühlte. Immer öfter äußerte sich die lokale Presse kritisch zu den Hochschulerweiterungen und es kam zu negativen Schlagzeilen wie: Stadt ohne Einfluss auf Hochschulbau. Nur die Klinker fallen,42 Industrieviertel hinter dem Schloß. Der Staat baut TH ohne Rücksicht auf Wünsche der Stadt,43 Eine große Narbe inmitten der Stadt44 oder Soll der Herrengarten noch kleiner werden?.45 Als weitere Vergrößerungen der Hochschule innerhalb der Stadt geplant wurden, führte dies unter anderem dazu, dass sich die betroffenen Darmstädter Bürger zusammenschlossen und sich erfolgreich gegen die geplanten Enteignungen wehrten. Erneut folgte eine Welle kritischer Berichterstattung in der lokalen Presse.46 Die Hochschule musste sich schließlich damit abfinden, dass eine weitere Ausdehnung nur auf außerhalb der Stadt gelegenem Gelände stattfinden konnte. Die Beziehung der TH Darmstadt zur städtischen Öffentlichkeit war in diesen Jahre durch eine auffällig große Distanz geprägt. Die Ingenieure machten zum ersten Mal die Erfahrung, dass sich dies nachteilig auf ihre Möglichkeiten der Ausbreitung auswirken konnte und sie versuchten diesem Gefälle durch „populärwissenschaftliche“ Themenvorträge und dem Aufbau einer professionell gestalteten positiven Imagepflege entgegenzuwirken. Interessant ist dabei, dass es Uni40 41 42 43 44 45 46

Protokoll vom 15.06.1950, UAD, 105/187. Bestimmung vom 02.12.1954, UAD, 105/211. Darmstädter Echo und Darmstädter Tagblatt vom 27.03.1956. Darmstädter Echo vom 28.03.1956. Darmstädter Echo vom 28.07.1956. Darmstädter Tagblatt vom 04.10.1957. So berichteten die lokalen Zeitungen, siehe Protest aus dem Martinsviertel, in: Darmstädter Tagblatt vom 21.08.1958; Hochschule wünscht Ausdehnungsmöglichkeiten. Stürmische Debatte mit Grundstücksbesitzern am 29.04.58 in der Technischen Hochschule, in: Darmstädter Echo vom 01.05.1958; Dreißig Hausbesitzer bangen um ihre Existenz. Werden über 50 Wohnungen abgerissen? TH Darmstadt beansprucht Gelände für Bauten, in: Frankfurter Rundschau vom 09.04.1958.

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versität und Professoren vor einem Laienpublikum nicht für nötig oder angemessen hielten, über die eigentlichen Forschungen zu sprechen. Reformdruck in der Nachkriegszeit und das Beharren der THD auf akademische Freiheit Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ fehlte es nicht an Vorschlägen und Initiativen zur Umgestaltung des Hochschulsystems. In der Auseinandersetzung um eine Hochschulreform wurde über die zukünftige Rolle der Hochschulen ausgiebig debattiert. Dass die Bildungsinstitutionen bei einer demokratischen Umgestaltung eine bedeutende Aufgabe übernehmen würden, darüber war man sich einig. Doch ob sie dafür einer Erneuerung bedurften und wie diese auszusehen hatte, war umstritten.47 Von den Militärregierungen, im Falle der TH Darmstadt von der amerikanischen, gingen die ersten Reformanstöße aus. Zu Beginn gab es von Seiten der Amerikaner Überlegungen, mit rücksichtsloser Härte durchzugreifen und die Hochschulen und Universitäten in ihrer Besatzungszone für mindestens zwei Jahre zu schließen.48 Bereits nach wenigen Monaten stellte sich heraus, dass mit einer dauerhaften Schließung der Bildungsinstitutionen nicht zu rechnen war, und schon im Januar 1946 konnte die TH Darmstadt ihre Wiedereröffnung feiern. Statt einer geplanten harten Bestrafung waren die Amerikaner immer mehr zum Konzept der re-education übergegangen, dem eine tiefgreifende politische Säuberung als Grundlage vorausgehen sollte.49 Die amerikanische Bildungspolitik auf dem Gebiet der Hochschulen zeichnete sich durch indirekte Einflussnahme aus. Dem lagen ihr weiterhin bestehender Respekt vor dem deutschen Universitätssystem und die daraus resultierende Annahme zugrunde, dass die Hochschulen aus sich heraus Veränderungen anstreben würden. Doch dies scheiterte in Darmstadt wie überall

47 Vgl. Barbara Wolbring: „Ein wirklich neuer Anfang“. Öffentliche Kritik an den Universitäten und Reformforderungen in der Besatzungszeit (1945–1949), in: Andreas Franzmann /Barbara Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie Verlag, 2007, S. 61–74. 48 Karl-Ernst Bungenstab: Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945–49, Düsseldorf: Bertelsmann, 1970, S. 117. 49 Zur amerikanischen Bildungspolitik vgl. James F. Tent: Mission on the Rhine. Re-education and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago: University of Chicago Press, 1982, sowie Manfred Heinemann (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945–1952, Teil 2: Die US-Zone, Hildesheim: Lax, 1990. Zum Konzept der re-education vgl. Ellen Latzin: „Re-education“ – „Reorientation“: Theorie und Praxis zentraler Leitbegriffe der amerikanischen Besatzungspolitik nach 1945, in: Elisabeth Kraus (Hg.): Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze, Teil I, München: Utz, 2006, S. 609–635.

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an personellen Kontinuitäten und dem erfolgreichen Beharren der Ordinarien auf ihren akademischen Rechten.50 So kam es, dass das Darmstädter Rektorat den Ruf der Hochschule in der Öffentlichkeit zwar genau beobachtete und diesen pflegte, wo es ging, auf der anderen Seite aber einen erhöhten Einfluss der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit auf die Geschicke der Hochschule kategorisch ablehnte. Die von den Amerikanern im Rahmen einer versuchten Demokratisierung der Hochschulen angestrebten Reformen, nach amerikanischem Modell durch ein sogenanntes „Board of Trustees“ breitere gesellschaftliche Kreise und mehr Öffentlichkeit an der Hochschule teilhaben zu lassen, scheiterten. Lediglich die Möglichkeit der Errichtung eines Kuratoriums, das sich aus Angehörigen der „Vereinigung der Hochschulfreunde“ zusammensetzte, hielt der damalige Rektor für diskussionsfähig.51 Obwohl sich in der Tat die Zusammenarbeit mit dieser Organisation in der Nachkriegszeit verstärkte, da hier Forschungsgelder eingeworben werden konnten, mit denen man die nach dem Ende des Kriegs gerissenen Lücken zu schließen hoffte, wurde der Vorschlag des Rektors nicht weiterverfolgt.52 Eine schematische Übertragung des „Board of Trustees“ auf deutsche Verhältnisse sei, so die Meinung des Darmstädter Senats, nicht zu empfehlen.53 Obwohl die Hochschulen als „im Kern gesund“ galten, mangelte es auch von deutscher Seite nicht an Vorschlägen für eine Hochschulreform.54 Diese gingen besonders auf Initiativen einzelner Politiker zurück, die der Meinung waren, dass die Universitäten und Hochschulen dem Nationalsozialismus nicht hinreichend widerstanden hätten. In Hessen übernahm diese Rolle unter anderem der CDUPolitiker und Kultusminister von 1947 bis 1950 Erwin Stein.55 Auf seine Initiative hin entschied man sich im Jahr 1948 in Hessen als erstem Bundesland, Lehrstühle für Politische Wissenschaft einzuführen. Die TH Darmstadt kam dadurch schon sehr früh und wohl als erste Technische Hochschule überhaupt zu einem solchen Lehrstuhl. Doch die Darmstädter Ingenieure reagierten zunächst skeptisch auf die erzwungene Einführung des neuen Faches. Die Tatsache, dass der Lehrstuhl erst drei Jahre später besetzt wurde, kann als Ergebnis dieser Skepsis gelten. Die

50 Vgl. Falk Pingel: Wissenschaft, Bildung und Demokratie. Der gescheiterte Versuch einer Universitätsreform, in: Josef Foschepoth (Hg.): Die britische Deutschland- und Besatzungspolitik 1945–1949, Paderborn: Schöningh, 1985, S. 183–213. 51 Protokoll vom 29.11.1946, UAD, 105/231. 52 Aktenvermerk vom 20.03.1948, UAD, 105/414 53 Schreiben vom 13.06.1947, UAD, 105/413. 54 Die Formulierung „im Kern gesund“ wurde von den Zeitgenossen 1945 häufig verwendet, gleichwohl geht das Originalzitat auf die Feststellung des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker von 1919 zurück, der den Zustand der Hochschulen nach dem Ersten Weltkrieg mit den Worten „Der Kern unserer Universitäten ist gesund“ beschrieb, Carl Heinrich Becker: Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig: Quelle & Meyer, 1919, S. 17. 55 Vgl. Peter A. Döring (Hg.): Der Neubeginn im Wandel der Zeit. In Memoriam Erwin Stein (1903–1992), Frankfurt/M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, 1995.

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Hochschule wollte sich in keinem Fall das althergebrachte Recht auf Selbstergänzung des Lehrkörpers nehmen lassen.56 Insgesamt verlief die Hochschulentwicklung in Darmstadt nach 1945 und bis zu Beginn der 1960er Jahre letztlich angesichts der Beharrlichkeit der Institution wie überall ohne einschneidende Veränderungen, zumal die praktischen Problemlagen, wie der materielle Wiederaufbau und die Lehrkörperkapazitäten, im Vordergrund standen. Bis Mitte der 1960er Jahre bestimmte die „kulturstaatlich verfasste Ordinarienuniversität“ das Hochschulwesen.57 Erst dann setzte eine Phase der Strukturreform ein.58 Doch obwohl auch in Darmstadt die akademischen Traditionen mit Vehemenz erfolgreich verteidigt werden konnten, war der Reformdruck Ende der 1940er Jahre nicht zu unterschätzen und blieb gerade für die Technischen Hochschulen nicht ohne Folgen. Zwar erfolgte aufgrund des Beharrens der Ordinarien keine Strukturreform im Inneren, es wurden aber zumindest nach außen Prozesse in Gang gesetzt, die Wirkung zeigten und eine nicht unbedeutende Umgestaltung nach sich zogen. Die Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften der TH Darmstadt erfuhr durch die Einführung des neuen Lehrstuhls für politische Wissenschaft von Seiten der Landesregierung und durch die öffentlichkeitswirksamen allgemeinbildenden Vorträge nach 1945 einen enormen Ausbau. Nicht zuletzt um anderen, schwerwiegenderen Eingriffen zuvorzukommen, forcierte die Hochschulleitung selbst frühzeitig diesen Ausbau. Im Laufe der Auseinandersetzungen um eine allgemeine Hochschulreform kam es für die Technischen Hochschulen zu geradezu existenzbedrohenden Vorschlägen. In der zeitgenössischen Debatte über die „Idee der Universität“ (Jaspers) wurde eine mögliche Eingliederung der Technischen Hochschulen als neue Fakultäten in die Universitäten überlegt.59 Diese Diskussion war keineswegs neu; seit sich die Technischen Hochschulen Ende des 19. Jahrhunderts emanzipiert hatten, mussten sie sich immer auch mit ihrer Stellung zu den Universitäten beschäftigen. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg war von verschiedenen Seiten die Wiederangliederung der Technischen Hochschulen an die Uni56 Im Jahre 1951 wurde der Lehrstuhl an der THD mit Eugen Kogon besetzt. Näheres bei Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Bochum: Studienverlag Brockmeyer, 1988, S. 135ff. 57 Andreas Keller: Hochschulreform und Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts, Marburg: BdWi-Verlag, 2000, S. 19. 58 Christoph Oehler/Christiane Bradatsch: Hochschulen. Die Hochschulentwicklung nach 1945, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998, S. 412–446, S. 412. 59 Zum Rückgriff auf die neuhumanistische Universitätsidee nach 1945 siehe Mitchell Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien: Böhlau, 1999 sowie Sylvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205.

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versitäten gefordert worden. Unter anderem hatte der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker die Abspaltung der Technischen Hochschulen einen Fehler genannt und sich für eine solche Wiederangliederung ausgesprochen.60 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg mischten sich diese Stimmen wieder in die allgemeine Auseinandersetzung um eine Hochschulreform. Wichtige Bezugs- und Referenzgröße innerhalb der Reformdebatte in der Nachkriegszeit war der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers.61 Er hielt für die Gesundung der Universitäten eine Eingliederung der Technischen Hochschulen für bedeutsam. Ebenso wurde 1948 im „Blauen Gutachten“ vom Studienausschuss für Hochschulreform – „um die dämonischen Kräfte der Technik binden zu helfen“ – unter anderem vorgeschlagen, die Technischen Hochschulen als Technische Fakultät an die Universitäten anzugliedern.62 Dies veranlasste die Leitung der TH Darmstadt dazu, von Anfang an in öffentlichen Stellungnahmen ihre Position als Technische Hochschule zu verteidigen.63 Die Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften avancierte in diesem Zusammenhang von der Verwalterin anfangs noch als „Randgebiete“ wahrgenommener Wissenschaften zu einem angesehenen Bestandteil der Hochschule. Die im Laufe der Nachkriegszeit erfolgten Umbenennungen der Technischen Hochschulen in Technische Universitäten können als Folge dieses Prozesses und „Entproblematisierung des Verhältnisses zwischen Technik und Gesellschaft“ angesehen werden.64 Fazit Die Ingenieure, so Gerd Hortleder, können im Vergleich zu anderen Berufsgruppen „als Sieger der Niederlage“ bezeichnet werden. Sie wurden durch den Nationalsozialismus stärker denn jemals zuvor in die Gesellschaft integriert und sie konnten in der Nachkriegszeit von Zerstörung und Aufbau gleichermaßen profitieren.65 Doch dieser Sieg war nicht ohne das Zusammenspiel der oben beschriebenen diskursiven Strategien möglich. Nur über eine Selbstkonstruktion, die Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement verband, wurden semantisch die notwendigen Brüche erzeugt, um Kontinuitäten zu rechtfertigen und den eigenen 60 Vgl. Becker: Gedanken zur Hochschulreform, S. 5 u. S. 8. 61 Vgl. Karl Jaspers: Die Idee der Universität, Berlin: Springer, 19462. 62 Rolf Neuhaus: Dokumente zur Hochschulreform 1945–1949, Wiesbaden: Steiner, 1961, S. 351. 63 In mehreren Vorträgen und Aufsätzen äußerten sich die Rektoren der TH Darmstadt öffentlich zum Unterschied zwischen Universitäten und Technischen Hochschulen. Siehe dazu repräsentativ den bei den Marburger Gesprächen gehaltenen Vortrag des TH-Rektors: Erich Reuleaux: Wissenschaftliche Lehre an der Technischen Hochschule, in: Marburger Hochschulgespräche 12. bis 15. Juni 1946. Referate und Diskussionen, Frankfurt/M.: Klostermann, 1947, S. 93–105. 64 Hortleder: Gesellschaftsbild, S. 142f. 65 Ebd., S. 139f.

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Führungsanspruch aufrechtzuerhalten. Personelle Kontinuitäten konnten dadurch, ähnlich wie bei anderen Berufsgruppen, gesichert werden. Eine persönliche Verantwortung für das Geschehene wurde abgewiesen: Für den Einsatz von Wissenschaftlern in einem mit technischen Mitteln geführten Krieg wurde allein die Politik verantwortlich gemacht.66 Während der Entnazifizierung gelang es den Darmstädter Ingenieuren, semantisch die eigene wissenschaftliche Arbeit im Dienste des Nationalsozialismus umzudeuten und sich als neutrale, unpolitische Wissenschaftler zu präsentieren. Durch diese Strategie konnten zentrale Merkmale der Selbstmobilisierung von Wissenschaft, Industrie und Militär im „Dritten Reich“ ausgeblendet und der Weg freigemacht werden, um als Technische Hochschule der Schuldfrage und der Reflexion des eigenen Handelns aus dem Weg zu gehen. Da für die Ingenieure von ihrer Selbstmobilisierung die Gefahr ausging, zur Verantwortung gezogen zu werden, wurde innerhalb der Auseinandersetzung um eine Hochschulreform jede Diskussion über die eigene Rolle während des Nationalsozialismus vermieden. Die Ingenieure trugen mit diesem Verhalten dazu bei, das Bild des wissenschaftsfeindlichen Nationalsozialismus für Jahrzehnte zu prägen. Dem besonders großen Reformdruck, der in der ersten Nachkriegszeit auf der TH Darmstadt lag, konnten die Ingenieure erfolgreich durch rhetorische Konstruktionen und punktuell eingesetztes Schweigen begegnen. Wo es nötig war, wurde Eigeninitiative gezeigt, um einer drohenden Einverleibung durch die Universitäten auszuweichen. Der besonderen Betonung der zukünftigen Pflege der Persönlichkeitsbildung folgten bis auf den sukzessiven Ausbau der Kultur- und Staatswissenschaften keine konkreten Taten. Inwieweit dieses Angebot von den Studenten überhaupt angenommen wurde und sich dadurch Erfolge eingestellt haben, kann anhand der überlieferten Akten nicht rekonstruiert werden und wäre ein lohnendes Thema für weitere Forschungsarbeiten. Die Bedeutung der Technik als Integrationsmoment für den Stand der Ingenieure kann damit für die ersten Jahre der Nachkriegszeit, als die Entnazifizierung und die Diskussion um eine Hochschulreform ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Elite entgegenstanden, nicht unterschätzt werden. Die aufgezeigten rhetorischen Strategien machen dies deutlich. Neben diesen Strategien nahmen freilich andere, weitgehend außerhalb der Kontrolle der Ingenieure liegende Momente Einfluss auf das Verhältnis von Technik und Gesellschaft nach 1945. Die Themen Wiederaufbau, Wirtschaftswachstum und Technisierung konnten in diesem Beitrag nicht im Einzelnen dargestellt werden, sie spielten für die Integration der Ingenieure in der Nachkriegszeit aber eine nicht minder bedeutende Rolle. Durch das spätere Wirtschaftswachstum und den Einzug der Technik als Symbol des Wohlstands in die Haushalte der Bundesrepublik waren bald schon Voraussetzungen für ein anderes Reden über Technik gegeben.

66 Vgl. Walter Kaiser: Wissenschaft und Technik nach 1945, in: Helmut König/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NSVergangenheit der deutschen Hochschulen, München: Beck, 1997, S. 241–256, S. 246f.

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Literatur Ash, Mitchell (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien: Böhlau, 1999. Becker, Carl: Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig: Quelle & Meyer, 1919. Böhme, Helmut: Darmstadts Weg zur Hochschulstadt, in: Jahrbuch Technische Hochschule Darmstadt 13 (1980), S. 7–26. Brecht, Walther (Hg.): IKIA, Internationaler Kongress für Ingenieur-Ausbildung. Darmstadt 31. Juli bis 9. August 1947. Ansprachen, Vorträge, Zusammenfassungen, Darmstadt: Roether, 1949. Bungenstab, Karl-Ernst: Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945–49, Düsseldorf: Bertelsmann, 1970. Dietz, Burkhard/Michael Fessner/Helmut Maier: Der „Kulturwert der Technik“ als Argument der Technischen Intelligenz für sozialen Aufstieg und Anerkennung, in: Diess. (Hg.): Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik, Münster: Waxmann, 1996, S. 1–32. Dinckal, Noyan/Christof Dipper/Detlev Mares (Hg.): Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009. Dipper, Christof/Melanie Hanel/Isabel Schmidt: Die TH Darmstadt 1930–1950. Eine erste Erkundung, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 87–124. Döring, Peter A. (Hg.): Der Neubeginn im Wandel der Zeit. In Memoriam Erwin Stein (1903– 1992), Frankfurt/M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, 1995. Hanel, Melanie: Die Technische Hochschule Darmstadt im „Dritten Reich“, Manuskript Darmstadt, 2012. Heinemann, Manfred (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945–1952, Teil 2: Die US-Zone, Hildesheim: Lax, 1990. Hortleder, Gerd: Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Zum politischen Verhalten der Technischen Intelligenz in Deutschland, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 19743. Jaspers, Karl: Die Idee der Universität, Berlin: Springer, 19462. Kaiser, Walter: Wissenschaft und Technik nach 1945, in: König, Helmut/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NSVergangenheit der deutschen Hochschulen, München: Beck, 1997, S. 241–256. Keller, Andreas: Hochschulreform und Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts, Marburg: BdWi-Verlag, 2000. Latzin, Ellen: „Re-education“ – „Reorientation“: Theorie und Praxis zentraler Leitbegriffe der amerikanischen Besatzungspolitik nach 1945, in: Kraus, Elisabeth (Hg.): Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze, Teil I, München: Utz, 2006, S. 609–635. Lieser, Karl: Zum Geleit!, in: Die Technische Hochschule Darmstadt (Hg.): Das Institut für Technische Physik, Darmstadt: o. A., 1943, S. 1f. Ludwig, Karl-Heinz: Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf: Droste, 1974. Manegold, Karl-Heinz: Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins, Berlin: Duncker & Humblot, 1970. Mehrtens, Herbert: „Missbrauch“. Die rhetorische Konstruktion der Technik in Deutschland nach 1945, in: Kertz, Walter (Hg.): Technische Hochschulen und Studentenschaft in der Nachkriegszeit. Referate beim Workshop zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina am 4. und 5. Juli 1994, Braunschweig: Universitätsbibliothek der Technischen Universität Braunschweig, 1995, S. 33–50.

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Mohr, Arno: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Bochum: Studienverlag Brockmeyer, 1988. Neuhaus, Rolf: Dokumente zur Hochschulreform 1945–1949, Wiesbaden: Steiner, 1961. Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin: Dietz, 19822. Oehler, Christoph/Christiane Bradatsch: Hochschulen. Die Hochschulentwicklung nach 1945, in: Führ, Christoph/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998, S. 412–446. Paletschek, Sylvia: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S.183–205. Plato, Alexander von: Helden des Fortschritts? Zum Selbstbild von Technikern und Ingenieuren im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, in: Füßl, Wilhelm/Stefan Ittner (Hg.): Biographie und Technikgeschichte, Opladen: Leske + Budrich, 1998, S. 127–165. Prahl, Werner: Sozialgeschichte des Hochschulwesens, München: Kösel, 1978. Rauh-Kühne, Cornelia: Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 35–70. Reuleaux, Erich: Universität und Technische Hochschule, in: Darmstädter Hochschulblatt 6 (1946), S. 1–3. Ders.: Wissenschaftliche Lehre an der Technischen Hochschule, in: o.A.: Marburger Hochschulgespräche 12. bis 15. Juni 1946. Referate und Diskussionen, Frankfurt/M.: Klostermann, 1947, S. 93–105. Sachse, Carola: „Persilscheinkultur“. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der KaiserWilhelm/MaxPlanck-Gesellschaft, in: Weisbrod, Bernd (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 217–247. Schildt, Axel: Im Kern gesund? Die deutschen Hochschulen 1945, in: König, Helmut/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NSVergangenheit der deutschen Hochschulen, München: Beck, 1997, S. 223–240. Steffens, Frauke: „Innerlich gesund an der Schwelle einer neuen Zeit“. Die Technische Hochschule Hannover 1945–1956, Stuttgart: Steiner, 2011. Szöllösi-Janze, Margit: National Socialism and the Sciences. Reflections, Conclusions, and Historical Perspectives, in: Dies. (Hg.): Science in the Third Reich, Oxford: Berg, 2001, S.1–35. Tent, James F.: Mission on the Rhine. Re-education and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago: University of Chicago Press, 1982. Vieweg, Richard: Internationaler Kongress für Ingenieursausbildung IKIA, Darmstadt 1947, in: Darmstädter Hochschulblatt 9 (1947), S. 1. Weisbrod, Bernd: Dem wandelbaren Geist. Akademisches Ideal und wissenschaftliche Transformation in der Nachkriegszeit, in: Ders. (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 11–35. Woelk, Wolfgang/Frank Sparing: Forschungsergebnisse und -desiderate der deutschen Universitätsgeschichtsschreibung: Impulse einer Tagung, in: Bayer, Karen/Frank Sparing/Wolfgang Woelk (Hg.): Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart: Steiner, 2004, S. 7–32. Wolbring, Barbara: „Ein wirklich neuer Anfang“. Öffentliche Kritik an den Universitäten und Reformforderungen in der Besatzungszeit (1945–1949), in: Franzmann, Andreas/Barbara Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie Verlag, 2007, S. 61–74. Wolgast, Eike: Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46), Heidelberg: Winter, 2001.

Des Einen Image ist des Andren Propaganda: Der Dokumentarfilm Eine Freie Universität (1949) Charlotte A. Lerg „Dieser Film wird in seiner schlichten Wahrhaftigkeit Bedeutung für den Berliner Freiheitskampf gewinnen“ prophezeite Der Tagespiegel am 17. Juli 1949 nach der Premiere von Eine Freie Universität am Tage zuvor.1 Im Sommer 1949, kurz nach dem Ende der Berlin-Blockade, ging die neue Universität im Westsektor der geteilten Stadt in ihr zweites Semester. Als Krönung der Immatrikulationsfeierlichkeiten im prestigeträchtigen Marmorhaus am Kurfürstendamm zeigte man erstmals den 14-minütigen Film über die weniger als ein Jahr zurückliegende Gründung. So stolz war man auf die Kurzdokumentation, dass Professor Emil Dovifat, der selbst mit seinen Studenten am Drehbuch gearbeitet hatte, seinen eigenen Festvortrag an diesem Abend überspitzt als „Vorspann“ zur eigentlichen Attraktion bezeichnete.2 Aber ging es hier wirklich allein um den „Berliner Freiheitskampf“? Ein Film – viele Ziele Die Analyse der stilistischen und narrativen Inhalte von Eine Freie Universität wird im Folgenden mit einer genauen Untersuchung der Planungs- und Vermarktungsphase des Films in Bezug gesetzt. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Produktion kaum von vergleichbaren Projekten jener Zeit, die zum größten Teil unter der Ägide des Motion Picture Branch und der Documentary Film Unit in der amerikanischen Militärregierung entstanden. Diese sogenannten reorientation-Filme folgten einem klaren Muster und im beginnenden Konflikt zwischen Ost und West bot es sich geradezu an, die Gründungsgeschichte der Freien Universität Berlin 1948/49 auf diese Weise medial aufzugreifen.3 In der Analyse des Films mit seiner Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte wird jedoch deutlich, dass es sich um eine komplexere Verquickung von unterschiedlichen Motiven und Funktionen handelte. Die Initiative war von der Universität selbst ausgegangen und erst später hatte die Militärregierung den Film für den Verleih übernommen. Auch wenn eine solche nachträgliche Übernahme keine Ausnahme 1 2 3

O. E. Becker: Zukunft und Tradition, in: Der Tagesspiegel vom 17.07.1949. Ebd. Jeanpaul Goergen: Blick nach vorne: Re-Orientation-Filme unter HICOG 1949–1952, in: Ursula Heukenkamp (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961), Amsterdam: Rodopi, 2001, S. 416. Ich danke Dr. Jeanpaul Goergen für seine hilfreichen Hinweise bei meinen Recherchen zu diesem Artikel.

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war, gilt es vor diesem Hintergrund die inhaltliche Schwerpunktsetzung, die gewählten Darstellungsaspekte und die unterschiedlichen Aussageebenen genauer zu betrachten. Die Ausdifferenzierung des Mediums Dokumentarfilm während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete, dass es in diversen Feldern zum Einsatz kam; in Industrie und Unterricht ebenso wie in Wirtschaft und Politik. Tatsächlich lässt sich anhand der unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Eine Freie Universität gezeigt wurde, nachzeichnen, wie dieser Film zwischen Werbung – für ein konkretes Projekt – und Propaganda – für eine übergeordnete Idee oder Ideologie – oszilliert; wo sich die Motivation der jeweils Beteiligten überschnitt und wo sie auseinander ging. Anhand dieses konkreten Beispiels lassen sich die verschiedenen Bereiche ausleuchten, in denen Dokumentarfilme während der Nachkriegszeit Anwendung fanden. Von der ersten schriftlichen Konzeption Ende 1948 bis zum Ablauf der Verleihrechte im Sommer 1954 wurde Eine Freie Universität zur Spendenwerbung, zur Re-Orientierung, zur universitären Selbstdarstellung nach innen wie nach außen und als amerikanisches Informations- beziehungsweise Propagandamaterial eingesetzt. Wichtig ist hier, dass es sich bei all diesen Bezeichnungen nicht um nachträglich zugewiesene Interpretationskategorien handelt, sondern dass sie schon damals etablierten Genretraditionen folgen, die zum Teil durch explizite Absichtserklärungen von Zeitgenossen gestützt werden. Die Universität als inhaltlicher Schwerpunkt eines Filmes zwischen Werbung und Politik wirft darüber hinaus zusätzliche Fragen auf. Wie positionierte sich eine neu gegründete Hochschule in Westberlin zwischen deutscher Tradition und amerikanischer Innovation? Was bedeutete es, sich gerade vor diesem Hintergrund für eine filmische Repräsentation zu entscheiden? Angesichts der Dichotomie vom Ideal der ideologiefreien Wissenschaft einerseits und der Geschichte einer propagandageladenen Blockbildung im frühen Kalten Krieg andererseits wird der Dokumentarfilm Eine Freie Universität zu einem besonders reizvollen Forschungsobjekt. Eigeninitiative und Freiheitswille – Inszenierung eines Spendenaufrufs Als die Freie Universität im Dezember 1948 offiziell eröffnet wurde, hatten die Lehrveranstaltungen schon seit einigen Monaten begonnen sowie intensive Bemühungen, die neue Institution über die Grenzen Berlins hinaus bekannt zu machen. Primär ging es um die materielle Absicherung des täglichen Betriebs, der nicht nur während der Blockade von Berlin unmöglich allein von den lokalen Regierungseinrichtungen getragen werden konnte. Spendenaufrufe in westdeutschen Zeitungsartikel und Radiosendungen waren ein Anfang und an einigen anderen Universitäten, zum Beispiel in München, bildeten sich studentische Unterstützungskomitees für die Berliner Studenten.4 Durch die Vermittlung des Emigranten 4

Hans Ströter: Berliner Studenten in München, in: Colloquium 3.5 (1949), S. 14.

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Fritz Epstein an der University of Stanford etablierte sich im Laufe des Jahres 1948 auch dort eine Initiative, die ab dem Folgejahr regelmäßig Bücher- und andere Sachspenden schickte. Dennoch erschien eine gezieltere Öffentlichkeitsarbeit der Freien Universität dringend notwendig, nachdem die Bemühungen um Spenden in der zweiten Jahreshälfte 1948 immer wieder von Rückschlägen gezeichnet waren. Die westdeutschen Rektoren reagierten auf Hilfsanträge reserviert bis gleichgültig.5 Parallel wurde eine groß angelegte Spendenveranstaltung der National Student Association (NSA) in Amerika abgeblasen, weil Stimmen laut geworden waren, die FU sei nichts als eine „anti-Sovjet propaganda mashine“. Diese zu fördern widerspreche der akademischen, überparteilichen Verständigung.6 Nicht zuletzt auf Grund dieser Erfahrungen hatte es noch vor den Eröffnungsfeierlichkeiten Überlegungen gegeben, einen Film in Auftrag zu geben, um die Freie Universität gerade dem amerikanischen Publikum in einem günstigeren Licht zu präsentieren. Die Kosten für dieses Projekt wurden in Absprache mit dem Kuratoriumsvorsitzenden Ernst Reuter unter „Unvorhergesehenes“7 verbucht und Ende Dezember lag Rektor Edwin Redslob ein erster schriftlicher Konzeptentwurf von Ikaros Film Berlin vor. Ihr Produktionsdirektor Wolfgang Kiepenheuer formulierte zu Beginn seiner Ausführungen die Zielgruppe und Aussageabsicht des Films: Der Kurzfilm [...] ist in erster Linie für die Vorführungen in den Vereinigten Staaten von Amerika gedacht. Zweck dieser Vorführungen soll es sein, Verständnis für die Notwendigkeit der Freien Universität zu wecken und zu demonstrieren wie wichtig jede Hilfe von außen ist.8

Das Einwerben von Spendengeldern war folglich erklärtes Ziel bei der Ausarbeitung des Drehbuchs, auch wenn Kiepenheuer am Ende seines Exposés vorschlug, nach einer dokumentarischen Schilderung, aus der die Armut der Stadt und der Freien Universität hervorgeht, nicht mit einer direkten Bitte oder einem Apell an das amerikanische Volk heranzutreten, sondern einfach die Hilfsbereitschaft durch die Schilderung [...] zu wekken.9

In der Umsetzung lassen sich Kiepenheuers Anregungen deutlich erkennen. Der erste Teil des Films konzentriert sich auf die desolate wirtschaftliche Lage im Nachkriegsberlin mit Bildern von Trümmerstraßen, ärmlichen Wohnverhält-

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James F. Tent: The Free University of Berlin. A Political History, Bloomington: Indiana Univ. Press, 1988, S. 203. Ebd., S. 202. Bergmann an Redslob, 04.03.1949. Die Kosten beliefen sich auf 22.285,- DM (west) und nochmals 2.395,- DM (west) für die englische Übersetzung. Vgl. Rechnung Kiepenheuer (15.07.1949), Kostenaufstellung für die englische Version (22.09.1949), Universitätsarchiv der FU Berlin (UAFU), Best. Außenamt: Universitätsfilm. Das Konvolut „Universitätsfilm“ im UAFU gehört zu den bislang noch nicht erschlossenen Beständen des Außenamts. Deshalb können an dieser Stelle keine Signaturen angeführt werden. Kiepenheuer an Redslob, 30.12.1948, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. Ebd.

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nissen, Schwarzmarkthändlern und Hamsterfahrten.10 Gleichzeitig aber suggeriert der optimistische Off-Erzähler mit seinen aufheiternden Scherzen, dass man nicht resigniert und tatenlos auf Hilfe von außen warte. Dieser Aspekt wird im zweiten Teil des Films, in dem es um den tatsächlichen Aufbau der Universität in Dahlem geht, noch deutlicher. Die Gründung wird als allen Widrigkeiten trotzende Erfolgsgeschichte präsentiert, in der eher Anekdoten von Unterricht bei Kerzenschein oder von der Notwendigkeit, Stühle von Veranstaltung zu Veranstaltung zu tragen, weil nicht für jeden Raum Möbel vorhanden sind, auf Mängel hinweisen.11 Diese Schilderungen, die sich bis heute in Erinnerungen an die Universitätsgründung finden, entbehren nicht einer gewissen Romantisierung von Provisorium, Erfindungsgabe und Pioniergeist, wie sie dem amerikanischen Publikum gefiel. Nur einmal wird die Not der Studierenden explizit thematisiert. Szenen einer Kleidersammlung und einer Suppenküche werden begleitet von den Worten „Aber es fehlte uns, und fehlt noch heute an vielem, trotz der Hilfe von außen“.12 Dies ist im ganzen Film die direkteste Formulierung eines Spendenaufrufs. Kurz ist auch ein Plakat mit der Aufschrift „Rettet Berlin“ im Bild. Gleich im Anschluss aber scheint sich der Erzähler wieder auf das höhere Ziel zu besinnen: „Im Anfang aber ist der Wille zum Lernen, die Möglichkeit zu Forschen wichtiger als die Vollkommenheit der Mittel.“13 Der „Wille zum Lernen“ ist auch schon im ersten Teil des Films ein widerkehrendes Motiv. Die aktive Mithilfe der Studienanwärter 1945/46 beim Wiederaufbau der Universität unter den Linden kommentiert der Erzähler mit den Worten: „Ich hatte schon viel Zeit verloren. Darum stand ich schon wenig später mit der Maurerkelle vor der Berliner Universität.“14 Jeder, der sich 1945/46 einschreiben wollte, war verpflichtet, beim Aufräumen der Trümmer und dem Wiederaufbau des Universitätsgebäudes zu helfen.15 Dass also dieses anpackende Engagement nicht vollkommen freiwillig war, wird im Film nicht deutlich. Der Erzähler erklärt dazu nur: „So hatte ich mir das Studieren zwar früher nicht vorgestellt, aber jetzt gab es mir ein gutes Gefühl unsere Universität wieder mit auf die Beine zu stellen.“16 Bei der Ausarbeitung des Drehbuchs war es besonders den Studentenvertretern wichtig gewesen, deutlich zu machen, dass sie sich nicht leichtfertig zu einem endgültigen Bruch mit der alten Berliner Universität unter den Linden hatten hinreißen lassen. Ihre Protestaktionen sollten unter keinen Umständen als jugendliche Auflehnung gegen die gesellschaftliche Ordnung missverstanden werden. In ei10 Eine Freie Universität (Deutschland 1949, Regie: Wolfgang Kiepenheuer), 0:01:30 [digitalisierte Version des Films im UAFU]. 11 Ebd., 0:10:48-50. 12 Ebd., 0:11:11. 13 Ebd., 0:11:24. 14 Ebd., 0:01:53. 15 Anschlag der Studentischen Arbeitsgemeinschaft o. D. (ca. Januar 1946), abgedruckt in: Helmut Klein (Hg.): Humboldt Universität zu Berlin. Dokumente 1810–1985. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1985, S. 73. 16 Eine Freie Universität, 0:02:00.

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nem Schreiben des Allgemeinen Studentenausschusses hieß es mit Blick auf den ersten Drehbuchentwurf Kiepenheuers: Es sollte bedacht werden, dass der Film für das Ausland gedacht ist! Und eine Relegation von drei Studenten ist noch kein Grund, eine neue Universität zu gründen. Vielleicht könnte das noch besser herausgearbeitet werden.17

Diesem Wunsch entsprechend präsentierte der Film die Zuspitzung der Ereignisse in vielen einzelnen Schritten. Angesichts der Einflussnahme der SED auf die alte Berliner Universität im Ostsektor wird pointiert die Freiheit von Forschung und Lehre gefordert und fast plakativ die Parallelen zum Schreckbild der unmittelbaren Vergangenheit gezogen. Es sollte deutlich werden, dass nicht die Relegation dreier Studenten den Ausschlag gegeben hatte, sondern die grundlegende Bedrohung einer erneuten Ideologisierung der deutschen Universität: Wir wollten uns nicht in eine bestimmte politische Richtung drängen, lassen nicht schon wieder mit Hilfe eines Abzeichens eines Pateiabzeichens zum Studium zugelassen werden, wir wollten uns nicht mit Kartoffeln kaufen lassen [...]. Wir wollten endlich in Ruhe studieren.18

Das Crescendo der Ereignisse beginnt mit den politischen Pflichtvorlesungen, die man noch widerwillig akzeptiert, gefolgt von der Kontroverse um das Hissen der roten Fahne auf der Universität am 1. Mai 1946 und den Verhaftungen von Studentenvertretern wie Georg Wradzidlo und Gerda Roesch. Als Nächstes werden die Einflussnahmen der SED beim Zulassungsverfahren und Angst vor Spitzeln in den eigenen Reihen thematisiert und erst dann kommt die „politische Relegation“ der drei Herausgeber des Colloquium Otto Hess, Joachim Schwarz und Otto Stolz. „Da war es mit unserer Geduld zu Ende“,19 erklärt der Erzähler bestimmt, und Wochenschauaufnahmen von der Protestversammlung im Hotel Esplanade bilden den dramatischen Wendepunkt genau in der Mitte des Films.20 Sie sind unterlegt mit O-Ton-Ausschnitten der Reden für eine neue, „eine freie Universität“. Die Grundstimmung und Dynamik der Darstellung wird nun optimistischer und das Unternehmen erscheint als großes Abenteuer, das in der feierlichen Eröffnungszeremonie gipfelt „kaum ein halbes Jahr nachdem die Idee dazu geboren wurde“.21 Wirtschafts- und Industriefilme: Zwischen Außenwerbung und Corporate Identity Nach der Premiere zu Semesterbeginn im Sommer 1949 wurde die Dokumentation auch für folgende Studienanfänger ein fester Bestandteil der Immatrikulationsfeierlichkeiten. Es galt nicht nur den neuen Erstsemestern die Entstehungs17 18 19 20

Knust an Kennert, 09.02.1949, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. Eine Freie Universität, 0:05:15-17. Ebd., 0:06:32. Zu den Wochenschauaufnahmen vgl. Ikaros-Film: Manuskript (Rohfassung) zum Film Eine Freie Universität (12.01.1949), S. 5, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. 21 Eine Freie Universität, 0:12:12.

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geschichte ihrer Institution nahezubringen, sondern sie dem Geist, den man damit verbunden sah, zu verpflichten. Die Initiative und Überzeugung jener Studierenden der ersten Stunde sollte als inspirierendes Beispiel dienen und zur Schaffung einer institutionellen Identität beitragen. Der leicht trotzig-triumphierende Unterton des studentischen Erzählers unterstreicht seinen jugendlichen Charakter und schafft so Sympathien innerhalb einer der wichtigsten Zielgruppen. Gleichzeitig aber reflektiert diese Stimmung die Atmosphäre des insularen Berlin – eine Identität, die nicht allein die Universität, sondern West-Berlin als Ganzes mit einbezog. Auch der Tagesspiegel erkannte: „Ein Teil des nun fast vierjährigen Widerstandskampfs der Berliner Bevölkerung spiegelt sich in dieser Bildfolge.“ So war es möglich, um Sympathien von außen zu werben und Gruppenidentitäten nach innen zu festigen. Damit weist Eine Freie Universität in der repräsentativen Anwendung sowohl nach außen als auch nach innen Parallelen zum Genre des Wirtschaftsfilms auf.22 In den Werken und Fabriken der Großindustrie waren Werbefilme, die ursprünglich für Außendarstellungen und Auslandsvertretungen gedacht waren, während des Ersten Weltkriegs zur Stärkung der Heimatfront gezeigt worden. Zunehmend verwandten große Unternehmen wie Krupp, Thyssen oder Hoesch in der Weimarer Zeit Industriefilme auch, um eine klar definierte Firmenidentität zu schaffen, indem sie bei Filmabenden für die Belegschaft und deren Familien gezeigt wurden oder in der Lehrlingsausbildung Anwendung fanden.23 Diese Praxis wurde nach dem Zweiten Weltkrieg intensiviert, nicht zuletzt weil sie sich vorzüglich in amerikanische Marketingstrategien einfügte, die von vielen deutschen Firmen in ihre Öffentlichkeitsarbeit integriert wurden.24 Das besondere Potenzial des Mediums Dokumentarfilm, Informationen und Emotionen zu verflechten, machte den Industrie- und Wirtschaftsfilm zu einem wirkungsvollen Instrument für Werbung, Selbstdarstellung und die Schaffung einer corporate identity.25 Seit den 1970er Jahren verfeinerte sich das Konzept und wurde zunehmend auch außerhalb der Industrie angewandt. So entstand der Imagefilm, der für viele Unternehmen und Organisationen auch im Non-Profit-Bereich – obgleich interessanterweise nur bedingt für Universitäten – inzwischen wichtiger Bestandteil ihres öffentlichen Auftritts ist.26 22 „Wirtschaftsfilm“ ist eine zeitgenössische Klassifikation. Obgleich sich schon damals der Terminus „Informationsfilm“ durchzusetzen begann, wird hier der Begriff „Wirtschaftsfilm“ verwandt. Auf diese Weise gilt es noch einmal zu verdeutlichen, dass er nicht allein Informationszwecken diente, sondern wie speziell in diesem Fall, auch eine wirtschaftliche und eine identifikatorische Komponente aufwies. 23 Manfred Rasch: Zur Geschichte des Industriefilms und seines Quellenwertes. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.): Industriefilm – Medium und Quelle. Beispiele aus der Eisen- und Stahlindustrie, Essen: Klartext, 1997, S. 15. 24 Martin Jammer: Der Industriefilm, Berlin: Freie Univ. Diss., 1986, S. 9. 25 Friedrich Mörtzsch: Deutung und Aufgabe des Wirtschaftsfilms, in: Deutsches Industrieinstitut (Hg.): Der deutsche Wirtschaftsfilm, Köln: Deutscher Industrieverlag, 1959, S. 13. 26 Vgl. Julia Gerhard: Die Hochschulmarke. Ein Konzept für deutsche Universitäten, Lohmar: Eul, 2004; Robert Lange: Imagefilme für Archive. Neue Wege für die Öffentlichkeitsarbeit, Berlin: BibSpider, 2010.

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In Eine Freie Universität sind sowohl in der Ästhetik als auch in der Dramaturgie Traditionen des Wirtschaftsfilms erkennbar, die sich auch in heutigen Imagefilmen wiederfinden lassen.27 Die studentische Erzählperspektive ist der aus Sicht eines Arbeiters dargestellten Narration des klassischen Industriefilms vergleichbar. Der Sprecher ist explizit Mitglied einer Gruppe, beschreibt seinen Alltag und spricht ausschließlich in der Wir-Form. Die Eröffnungsszene beginnt mit dem morgendlichen Weg zur Arbeit und vermittelt eine beruhigende Regelmäßigkeit und Routine.28 Gedreht wird an Originalschauplätzen, hier vor allem in der Universität und im zerstörten Berlin. Das wiederholte in Szene setzen von typischem ‚Handwerkszeug‘ findet sich ebenfalls wieder: Bücher, oft Schmuckausgaben mit altdeutscher Schrift, Reagenzgläser oder andere Laborausstattung sowie schlicht Tafel und Katheder.29 Dokumentarfilme(-r) in der amerikanischen Besatzungspolitik In den USA hatte der Wirtschaftsfilm vor allem durch die Dokumentarfilmproduktionen des New Deal Auftrieb erhalten. Eine Tradition, die auch in der Arbeit des Motion Picture Branch der Militärregierung nachhallte. So waren die ersten Filme im Verleih beispielsweise Synchronfassungen der Tennessee Valley Authority (TVA) Filmreihe aus den 1930er Jahren oder Dokumentationen wie Autobiography of a Jeep (1943).30 Im Sinne der re-education war die Filmabteilung der amerikanischen Militärregierung in den ersten Jahren darauf bedacht, neben der Wochenschauproduktion Welt im Film der deutschen Bevölkerung die Schuld und Gräuel ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit vor Augen zu führen. In diesem Zusammenhang entstanden Produktionen wie Die Todesmühlen (1945) und Nürnberg und seine Lehre (1947/48). Filme wurden nicht nur in Kinos gezeigt, sondern auch in Schulen, Gemeindezentren, Amerikahäusern, Fabriken oder Berufsverbänden. Es gab darüber hinaus einige mobile Einheiten, die über Land fuhren und in Gasthäusern Filme vorführten. 1947 wurde eine eigene Abteilung, die Documentary Film Unit (DFU) mit Sitz in Berlin und München gegründet. In die gleiche Zeit fiel auch der Übergang von „Um-Erziehung“ (re-education) zur sogenannten „Um-Orientierung“ (re-orientation).31 Krieg und Schuld rückten in den Hintergrund und wurden bald kaum noch explizit erwähnt. Der neue Schwerpunkt lag auf Eigeninitiative, Wiederaufbau und zunehmend auf der Orientierung zum 27 Vgl. Lange: Imagefilme. 28 Eine Freie Universität, 0:01:12. 29 In Fabriken mussten zuweilen besondere Maßnahmen getroffen werden um das Filmen zu ermöglichen, da Maschinen schwer einsehbar oder die Lichtverhältnisse ungünstig waren. Vgl. Mörtzsch: Deutung und Aufgabe. 30 Sarah Nilsen: Projecting America, 1958. Film and Cultural Diplomacy at the Brussles World’s Fair, Jefferson: McFarland, 2011, S. 40. 31 Brigitte Hahn: Dokumentarfilm als Instrument amerikanischer Bemühungen um ReEducation im besetzten Nachkriegsdeutschland (1945–1949). Konzeption – Praxis – Filmbeispiel, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 4 (2002), S. 184.

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Westen sowie der damit verbundenen Auslegung von Schlagworten wie Freiheit, Demokratie oder Marktwirtschaft. Folglich änderte sich auch der Ton der Dokumentarfilme.32 Stuart Schulberg, erster Leiter der DFU, hatte zuvor geheime Ausbildungsfilme für das Office of Stategic Services (OSS) gedreht und war 1945 als Experte für filmische Beweismittel zu den Nürnberger Prozessen nach Deutschland gekommen, bevor er 1947 nach Berlin versetzt wurde. Im Hollywood Quarterly stellte er 1949 seine neue Dokumentarfilmeinheit vor: „designed primarily [...] for the political, social and economic reconstruction of the German people.“ Er trat explizit für re-orientation statt re-education ein, denn in seinen Augen war „soft focus and soft padling“ gerade bei der Filmproduktion notwendig, in der die Erfahrung der nationalsozialistischen Propaganda tiefe Spuren hinterlassen habe: the Nazi years have left them [German Film producers] with highest distrust of films with ‚Tendenz‘ or political tendencies, be they left-wing, right-wing or straight down the center.33

Bei der Arbeit der DFU ginge es, so Schulberg weiter, nicht allein um „outright production of orientation films“, sondern auch um „the encouragement of creative, politically healthy German producers“.34 Damit lag er genau auf der Linie des US-State Departments, das seine verschiedenen Informationsdienste wiederholt anwies, bei der Verbreitung von Informationen – wo es möglich sei – „indigenous chanels“ zu nutzen, die es natürlich zu unterstützen galt.35 Mit Projekten wie Braunkohle-Tagebau (1925), Wie ein Ziegelstein (1936) oder Dämmen einer Schornsteingruppe (1937) lag Kiepenheuers Erfahrung und Expertise im Bereich des Industriefilms. Obgleich er während des Nationalsozialismus als Kameramann auch an mehreren propagandistischen Großprojekten Leni Riefenstahls im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 mitgewirkt hatte, erhielt er bereits 1946 wieder eine Lizenz und profitierte von der amerikanischen Unterstützungspolitik für lokale Kulturunternehmen.36 Von Anfang an war er bei amerikanischen Produktionen der DFU dabei und dank dieser Erfahrungen bestens mit den zentralen Themen der re-orientation-Filme vertraut. Die Entstehungsgeschichte der Freien Universität war wie geschaffen in das Programm von Filmen der amerikanischen Militärregierung aufgenommen zu werden. Ähnliche Produktionen waren im Verleih bereits vorhanden, denn einzelne Projekte und Initiativen zu portraitieren, an denen größere Ideen verdeutlich werden konnten, war nicht unüblich.37 Eine Universität hatte zudem symbolischen Wert. Sie vereinte das Ideal eines freiheitlichen, politisch ungehinderten Gedan32 Vgl. Heiner Roß (Hg.): Lernen Sie diskutieren! Re-Education durch Film. Strategien westlicher Alliierter nach 1945, Berlin: CineGraph Babelsberg, 2005; Hahn: Dokumentarfilm. 33 Stuart Schulberg: Of all People, in: Hollywood Quarterly 4.2 (1949), S. 208. 34 Ebd., S. 206. 35 NSC 114/1 Annex 5 Information Program Report vom 08.08.1951, in: Foreign relations of the United States 1 (1951), S. 925. 36 Ikaros Film hatte Es liegt an Dir (Deutschland, 1947/48) produziert, das erste deutsche Projekt der Documentary Film Unit mit einem Drehbuch von Friedrich Luft. 37 Goergen: Blick nach vorne, S. 217.

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kenaustauschs mit der in Amerika besonders gepflegten Idee von Bildung als Grundlage für demokratische Partizipation. Das Potenzial dieser speziellen Geschichte hatte auch Kiepenheuer schnell erfasst und sich schon vor Drehbeginn die kommerziellen Vermarktungsrechte für den deutschsprachigen Raum gesichert, die er dann für 7.500 DM, noch vor der öffentlichen Premiere im Marmorhaus, an den Motion Picture Branch abtrat.38 Eine Freie Universität gehörte somit von Anfang an zum Verleih-Programm der Militärregierung, ohne ursprünglich eine direkte Auftragsarbeit gewesen zu sein. Motive der re-orientation in Eine Freie Universität Die Aufnahme des eigentlich zur Spendensammlung in den USA gedachten Films in das vorwiegend auf ein deutsches Publikum ausgerichtete Programm der USMilitärregierung war nicht nur auf Grund des dankbaren Themas naheliegend. In seiner Analyse der re-orientation-Filme identifiziert Jeanpaul Goergen mehrere immer wiederkehrende dramaturgische Schwerpunkte, die sich alle geradezu emblematisch auch in Eine Freie Universität finden lassen.39 Das „Vertrauen in die neuen demokratische Strukturen“ ließ sich effektvoll in die Dramaturgie der erzählten Geschichte einflechten.40 In der Darstellung der Studentenvertretung wie des Zulassungsverfahrens werden Transparenz und Parteilosigkeit gepriesen und in direktem Kontrast zu den Entwicklungen an der alten Universität unter den Linden inszeniert.41 Bilder einer Zulassungsprüfung werden hier mit FDJ- und SED-Abzeichen überblendet und eine nicht weiter identifizierte Hand streicht die Pfarrers-, Arzt- und Rechtsanwaltskinder aus der Anmeldungsliste.42 Im Gegensatz dazu führen an der neuen Universität eine sommersprossige Studentin und ein Basken-bemützter älterer Professor fröhlich Gespräche mit lächelnden Studienanwärtern. Hier, so betont es auch der Erzähler nochmal unmissverständlich, „waren Aufgeschlossenheit und Eignung für die Zulassung ausschlaggebend.“43 Die Darstellung demokratischer Ideale war eng verknüpft mit einer hohen Wertschätzung für offene Diskussionen – vor allem im Gegensatz zu einer Befehlsstruktur.44 Den studentischen Foren, wo ein solcher Gedankenaustausch stattfinden kann, werden im Film großzügig Platz eingeräumt. Sei es die dem basisdemokratischen townmeeting nachempfundene Studentenratssitzung: „Oft ging es in unseren Studen38 Vertrag Kiepenheuer mit OMGUS Motion Picture Branch, o. D.: „Gültigkeitsdauer [...] gerechnet vom Tage an dem der Film erstmalig im öffentlichen Lichtspieltheater eingesetzt wird“, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. 39 Goergen: Blick nach vorne, S. 421ff. 40 Ebd., S. 421ff. 41 Trotz der Umbenennung der Friedrich Wilhelms Universität in Humboldt Universität 1949 bleib sie weiterhin inoffiziell als Linden Universität oder Universität unter den Linden bekannt. 42 Eine Freie Universität, 0:06:06. 43 Ebd., 0:09:23. 44 Goergen: Blick nach vorne, S.421ff.

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tenratssitzungen stürmisch zu, oft waren die Meinungen so gegensätzlich, dass man kaum eine Einigung erwarten konnte“,45 oder die Berlin übergreifende Studentenzeitung Colloquium, „der Spiegel unserer Meinung – die Studenten schrieben es und die Studenten lasen es.“46 In den Aufnahmen von der Protestversammlung im Hotel Esplanade kommen beide Topoi zusammen. Die Bedeutung von verbaler Auseinandersetzung für den demokratischen Prozess wird zusätzlich unterstrichen, indem ein O-Ton zum Einsatz kommt und damit das wirkmächtige Potenzial von Authentizität voll ausgeschöpft werden kann.47 In der Inszenierung des Studentenlebens zwischen Bibliothek und Tanzclub konnten sich Studierende in aller Welt selbst wiedererkennen. Sorglos wirkende Aufnahmen an einem Badesee sollten vermitteln, dass auch in Deutschland die Jugend nach den Erfahrungen des Kriegs primär daran interessiert war, das Leben zu genießen und „Wissenslücken“ aufzuholen, wie der Erzähler schelmisch anmerkt als im Bild ein junges Paar zu sehen ist.48 Der Film präsentiert optimistische, erfinderische Studenten, eine Gemeinschaft, in der beherzt zugegriffen und alles mit Humor genommen wird. „Wir wussten oft nicht ein und aus, wir hatten noch keinen Tisch und keinen Stuhl in dieser Zeit, nur ein Telefon“, erinnert sich der Erzähler und lacht, „aber die Studenten kamen schon scharenweise um sich anzumelden, zu hören wann es losginge, ob sie helfen könnten und wann sie studieren könnten.“ Auch hier werden übliche Leitmotive der re-orientation-Filme bedient: Motivation und kooperative Zusammenarbeit.49 Diese wie auch die bereits oben ausführlich beschriebene Betonung des „Prinzip der Eigeninitiative“50 lagen auf der Hand. Sie waren im direkten Interesse der Universität, wenn es darum ging, die Spendenbereitschaft in den USA zu steigern. Darüber hinaus sollte ein Gefühl von Verbundenheit amerikanische Herzen und Geldbeutel öffnen. Die Gründungsfeier, bei der man die transatlantischen Beziehungen ohnehin vielfältig inszeniert hatte, wird im Film zusätzlich stilisiert, um die deutsch-amerikanische Freundschaft zu beschwören. Aus dem Originalmitschnitt der Zeremonie werden von den insgesamt neun Rednern nur Reuter, Redslob und die beiden prominenten Amerikaner gezeigt: Der Berliner Stadtkommandant Oberst Frank Howley und Thornton Wilder, „ein Gast aus den Vereinigten Staaten, der uns die Grüße der großen amerikanischen Universitäten überbrachte.“51 Auf die Großzügigkeit dieser „großen amerikanischen Universitäten“ hoffte man an der Freien Universität. Ein Schulterschluss mit den Schwesterinstitutionen jenseits des Atlantiks bedeutete aber auch eine letztlich überfällige Anerkennung des amerikanischen Hochschulwesens von deutscher Seite – auch wenn es möglicherweise zunächst nur ein Lippenbekenntnis war.

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Eine Freie Universität, 0:04:28-33. Ebd., 0:05:34. Ebd., 0:06:41. Ebd., 0:03:48. Goergen: Blick nach vorne, S. 421ff. Ebd., S. 421ff. Eine Freie Universität, 0:12:23-28.

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In der Nachkriegszeit besonders mit Blick auf die Kollaboration deutscher Hochschulen während des Nationalsozialismus musste Deutschland endgültig die Vorreiterrolle in der Wissenschaft, die es seit dem 19. Jahrhundert für sich beansprucht hatte, aufgeben. Lange hatte man vor allem auf die amerikanischen Universitäten abschätzig herabgeschaut. Wie ein Memento schwenkt die Kamera in Eine Freie Universität ehrfürchtig auf die in Stein gemeißelten HumboldtBrüder.52 Ihr Ideal von freier Wissenschaft, so die Aussage des Films, fordert einen Neuanfang an den (west)deutschen Hochschulen. In diesem geläuterten Selbstverständnis wurden selbst amerikanische Universitäten zu voll anerkannten oder gar bewunderten Partnern – ganz im Sinne der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Antikommunismus oder ideologiefreie Wissenschaft? Immer wichtiger wurde in den amerikanischen Propagandafilmen jener Jahre eine deutliche Positionierung gegen den Kommunismus.53 Dieser Grundtenor ist durch die historische Handlung von Eine Freie Universität fast selbstverständlich gegeben und wird durch die filmische Ausgestaltung etwa der Kontroversen vom 1. Mai 1946 zusätzlich verstärkt.54 Vergleicht man jedoch Kiepenheuers Drehbuchentwurf55 mit dem fertigen Film, fällt auf, dass ursprünglich eine viel ausführlichere Darstellung der geteilten Stadt vorgesehen war. Keine der Einstellungen von Sektorengrenzschildern und Stacheldraht wurden verwendet. Selbst die Berlin-Blockade, der Kiepenheuer eine ganze Szene gewidmet hatte, wird nur in einem Nebensatz erwähnt und mit einem Frame illustriert, in dem sich zwei Grenzschranken vor einem Lastwagen zu Boden senken.56 Hier zeigt sich, dass der Film trotz der ans Schablonenhafte grenzenden Erfüllung der DFU-Anforderungen ursprünglich als Selbstdarstellung der Universität gedacht war. Kiepenheuer musste das Drehbuch von Redslob und Dovifat genehmigen lassen57 und das Rektorat behielt sich alle Auslandsrechte vor. Die Freie Universität hoffte sich als Hochschule in der Welt zu positionieren. 1950 erinnerte sich Otto Hess, einer der Gründungsstudenten: Das größte Problem, vor das sich von Anfang an die Gründer der FU gestellt sahen, war die Bildung eines Lehrkörpers der ihr wissenschaftliches Ansehen sichern würde. Denn wir waren uns im klaren darüber, dass man nicht nur im Osten unser Werk zu diffamieren versuchen

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Ebd., 0:02:40-50. Goergen: Blick nach vorne, S. 421ff. Eine Freie Universität, 0:03:30. Ikaros-Film: Manuskript (Rohfassung). Eine Freie Universität, 0:10:01. Kiepenheuer an Redslob, 01.05.1949, UAFU, Best. Kuratoriumsverwaltung 1004); Kostenvoranschlag Ikaros-Film, 30.12.1948, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm.

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Nicht als antisowjetische Propagandainstitution wollte man gelten, sondern als vollwertige, seriöse Universität ernst genommen werden. Die abgeblasene Spendenaktion der NSA 1948 sowie ein damit verbundener Bericht in der Studentenzeitung der Harvard University zeigen beispielhaft die dominante Wahrnehmung im Ausland. The Harvard Crimson berichtete: „The University […] has been established in the Western sector of the city in competition with the old University of Berlin, which is in the Russian sector.“59 Das Image einer politischen Gegengründung zur Universität unter den Linden konfrontierte die FU mit einem Dilemma, besonders wenn es um die filmische Selbstdarstellung ging. Einerseits war der Bruch mit der alten Berliner Universität Dreh- und Angelpunkt des Gründungs-Narrativs, andererseits, so die idealisierte Vorstellung, waren politische Motivationen, selbst wenn es um Antikommunismus ging, in der Wissenschaft fehl am Platz. Die am Ende des Films als O-Ton zitierte Radioansprache des Gründungsrektors Friedrich Meinecke unterstreicht die Konzentration auf Forschung und Lehre, um die es bei der Freien Universität wie bei allen anderen Hochschulen auf der Welt – in Ost und West – gehen sollte: Fern bleibe daher der Gedanke an einen unmittelbareren Kampf der beiden Universitäten gegeneinander [...]. Nicht Kampf gegeneinander, sondern Wetteifer miteinander sei unsere Losung.60

Filmvorführungen auf beiden Seiten des Atlantiks Gleich nach der Premiere begann die Freie Universität ‚ihren‘ Film für repräsentative Zwecke einzusetzen. Stuart Schulberg persönlich bot sich schon im Sommer 1949 an, das Drehbuch kostenlos ins Englische zu übersetzen und den Text selbst zu sprechen. Noch am selben Tag wurde die Synchronisation des Films in die Wege geleitet. „Ich glaube, dass dadurch der Text in eine Form gebracht wird, wie er dem Publikum in den USA gefällig ist“, freute sich Kurator Fritz von Bergmann.61 Die ersten Austauschstudenten, wie Frau Doktor Edith Lindner, die selbst am Drehbuch mitgearbeitet hatte, konnten den Film mit in die USA nehmen.62 Auch Rektor Edwin Redslob hatte einen Abzug im Gepäck, als er im Dezember 1949 mehrere amerikanische Universitäten besuchte. Die deutsche Version wurde ebenfalls stark nachgefragt, so dass die ursprünglich angefertigten zwei Kopien nicht mehr ausreichten und mit der Einwilligung Kiepenheuers weitere produziert werden mussten. Ein Abzug ging an die Abteilung Hochschule und Forschung des 58 Otto Hess: Ich studiere im freien Berlin, in: Heute 111 (1950), S. 29. 59 Collection to Aid Free University in Berlin via N.S. A., in: The Harvard Crimson vom 04.11.1948. 60 Eine Freie Universität, 0:13:33. 61 Bergmann an Schulberg, 11.06.1949, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. 62 Lindener an Redslob, 16.08.1949, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm.

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Göttinger Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, ein anderer an das Schweizer Fernsehen. Vor allem die Mitglieder der Universität selbst wollten das Medium nutzen, um ihre Institution in Westdeutschland zu präsentieren. AStA-Vertreter nahmen den Film mit zu regionalen und überregionalen Studentenversammlungen und Prof. Dr. med. dent. Carl Ulrich Fehr zeigte ihn beim Nordwestdeutschen Zahnärztekongress 1949 in Kiel. Nach seiner Rückkehr merkte er allerdings an, dass er es ungeachtet des visuellen Potenzials der Dokumentation für sinnvoll halte, ein schriftliches „Exposé“ zu verfassen, das man akademischen Vertretern, die den Film etwa auf Kongresse mitnahmen, an die Hand geben könne.63 Die Ergänzung durch ein Manuskript war der Mediziner möglicherweise von technischen Lehrfilmen gewohnt. In der zeitgenössischen Wahrnehmung des Mediums findet sich folglich einmal mehr der Rückbezug auf die Wurzeln im Industriefilm – vor allem in Ermangelung eines modernen Konzepts wie dem ‚Imagefilm‘. Die Verwendung der Dokumentation im Interesse der Universität einerseits und im Sinne der amerikanischen Militärregierung in Deutschland andererseits lief zu einem großen Teil parallel. Neben Spendenwerbung, re-orientation und universitärer Selbstdarstellung kam jedoch im Sommer 1951 ein weiterer Anwendungsbereich hinzu. Innerhalb der amerikanischen Regierung hatte sich eine Diskussion über Effektivität und Zweckdienlichkeit der amerikanischen Propagandapolitik entsponnen. „Our present foreign policy has not been efficiently ‚packaged‘“, hieß es aus dem Weißen Haus.64 Dies galt sowohl für die Aktivitäten im Ausland als auch für die öffentliche Meinung im eigenen Land. Im Januar 1951 hatte Präsident Trueman daher in seiner Haushaltsrede vor dem Congress zusätzliche 115 Millionen Dollar für das US-Information Programm gefordert und die langwierige Debatte darüber zog sich bis in den Sommer. Sie war von harscher Kritik am Department of State gezeichnet, das daraufhin einen ausführlichen Bericht über die Leistungen und Herausforderungen der Propagandaarbeit vorlegte.65 Wie Radiosender und Bibliotheken, Austauschprogramme oder Flugblatt- und Poster-Kampagnen war die Distribution von Filmen ein zentraler Bestandteil der „overt actions“ überall in der Welt, wo die USA aktiv waren.66 Ein Ziel war es, Dokumentarfilme in 35 verschiedenen Sprachen zu produzieren, was jedoch an der Finanzierung und am Mangel ausreichend ausgebildeter Fachkräfte scheiterte.67 Stattdessen verlegte man sich auf die Synchronisation oder Untertitelung bereits existierender Filme. Hier waren besonders nicht-amerikanische Produktionen gefragt, da man hoffte, die eigene Glaubwürdigkeit lokal zu stärken. In diesem Zusammenhang wurde auch Eine Freie Universität „als geeignet für das Informationsprogramm des Department [of State]“ eingestuft und die Amerikaner 63 Fehr an Redslob, 11.11.1949, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. 64 Marshall D. Shulman: Memorandum to the Secretary of State (15.05.1951), in: Foreign Relations of the United States 1 (1951), S. 922. 65 NSC 114/1 Program Report, S. 923–933. 66 Ebd., S. 925. 67 Ebd., S. 930.

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kauften im Sommer 1951 zu einem Preis von einmalig $3.000 für fünf Jahre der neuen Berliner Hochschule die Auslandrechte ihres Films ab. Das Department of State erwarb damit die Lizenz, „Abzüge [...] sowohl in englischer, als auch in anderen Sprachen herzustellen [...] oder die Vorführung außerhalb von Filmtheatern in allen Ländern, außer Deutschland und Österreich, vorzunehmen“.68 Diese Art von internationaler Breitenwirkung hatte man sich wohl Anfang 1949 in Berlin nicht vorgestellt. In welchem Maße der Film tatsächlich in anderen Ländern zur Anwendung kam, ist schwer nachzuvollziehen, doch das Programm war keineswegs auf Europa beschränkt. Film als Medium universitärer Selbstdarstellung? Das US-State-Department verwandte die Kurzdokumentation letztlich aus einer ähnlichen Motivation heraus wie die amerikanische Militärregierung. Hier lag der Unterschied hauptsächlich in der Verbreitung. Die Universität selbst hingegen hatte ihre eigene Agenda, sei es Identität, Prestige oder konkrete finanzielle Unterstützung. Im Kontext der politischen Entwicklungen des frühen Kalten Kriegs war es möglich, auf eine neu florierende mediale Infrastruktur zuzugreifen, die neue, aussichtsvolle Wege der Selbstdarstellung eröffnete. Geprägt war dieses Umfeld vom Kanon der Schlüsselbotschaften aus Filmproduktionen der DFU und durch den Verleih des Motion Picture Branch, die jedoch für externe Produktionen keineswegs zwingend waren. So erklärt sich die enge Verschränkung der dramaturgischen Schwerpunktsetzung, die aber eben nicht komplett deckungsgleich ist. Während Eine Freie Universität fast den ganzen Kanon geradezu vorbildlich bedient, weicht der Film genau dann von der Schablone ab, wenn es darum geht, eben den Aspekt des universitären Images zu schützen, der Hochschulen als Projektionsfläche für öffentliche Botschaften so attraktiv macht: ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit. Als Universität kämpfte man ganz besonders mit einem inhärenten Widerspruch: Wie konnte ein „Werbefilm“ oder gar ein „Propagandafilm“ als ernst zu nehmende Selbstrepräsentation einer Universität bestehen, die ihrem institutionellen Selbstverständnis nach auf kritischem Denken und fundiertem Hinterfragen basierte?69 Nicht zuletzt liegt hier auch der Grund dafür, dass andere (west-)deutsche Universitäten das Medium Film erst viel später und nur vereinzelt – etwa ab den 1970er Jahren – in ihr Repräsentationsrepertoire aufnahmen.70 Bis heute schrek68 Vertrag US-Department of State mit der Freien Universität Berlin ,15.06.1951, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. 69 Dovifat an Redslob, 30.12.1948, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. Für eine genauere Ausführung des Dilemmas „mit unkritischen Filmen zur Kritik anregen wollen“, das in ähnlicher Weise viele Dokumentarfilme im Verleih der amerikanischen Militärregierung betraf vgl. auch Goergen: Blick nach vorne, S. 421. 70 Als Ausnahme könnte die Produktion Ein Experiment des Studentenwerks der LudwigMaximilians-Universität München gelten, Ein Experiment (Deutschland 1949, Regie: Ernst Niederreither). Allerdings handelte es sich hier um eine Studentenproduktion die auf Anre-

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ken deutsche Universitäten oft vor einem Imagefilm zurück. Er gilt vielen nach wie vor als oberflächlich, durchschaubar und der hehren Wissenschaft unwürdig. Gleichzeitig lässt sich immer häufiger ein Streben nach institutioneller Identität beobachten, das den Film zu einem willkommenen Medium für die Schaffung eines attraktiven Images und einer corporate identity werden lässt.71 In der frühen Wirtschafspsychologie sollte ein ‚Image‘ abstrakte Werte vermitteln, dem Produkt oder der Institution „Charakter“ oder „Persönlichkeit“ verleihen.72 Daniel Boorstin aber sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Anstieg von bildgesteuerten Massenmedien und der Entwicklung des Imagebegriffs sowie den damit verbunden Praktiken wie etwa der Imagepflege.73 So interpretiert, rückt das Konzept erneut in die Nähe des Scheinbilds, das meist kommerziellen oder politischen Motiven dient. Die Skepsis gegenüber der Vermarktung von Wissenschaft mit Mitteln der kommerzorientierten Werbeindustrie bleibt – besonders in Deutschland – wirkmächtig, denn Bildung soll nicht als Ware gelten. Der globale Wettbewerb aber stellt neue Anforderungen. Geschichte als Image Das Image der Freien Universität konsolidierte sich zusehends in den Jahren nach ihrer unsicheren Gründung und auch international erhielt sie schnell Anerkennung. Die wachsende Bedeutung von (West-)Berlin als Frontstadt des Kalten Kriegs machte die dortige Universität attraktiv für kulturdiplomatische Programme wie Fulbright, die nicht nur Studenten, sondern auch eminente Wissenschaftler auf den Campus nach Dahlem brachten. Das so rasch gesteigerte Selbstbewusstsein schlug sich 1956 in der Planung eines neuen Filmes nieder. Eine Freie Universität habe sich zwar als „sehr nützlich erwiesen“, sei aber „nach dem derzeitigen Stand der Dinge nicht mehr aktuell.“74 Nachdem die Institution in der wissenschaftlichen Welt weitgehend bekannt war, sollte sie nun auch „in weiteren Kreisen der in- und ausländischen Öffentlichkeit“ wahrgenommen werden. Doch ging es nicht mehr darum, Spenden einzuwerben, sondern „die Möglichkeiten der Universität ausgedehnt auf das gesamte kulturelle Leben der Stadt“ darzustellen.75 Zu diesem Zweck entwickelte man eine Kurzdokumentation, die bereits zentrale dramaturgische Elemente moderner universitärer Imagefilme enthielt. Ein Cam-

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gung der amerikanischen Militärregierung entstanden war. Thema war vor allem der Alltag in einem neuen Wohnheim, wo deutsche Studierende gemeinsam mit internationalen Austauschstudenten lebten. Vgl. Gerhard: Hochschulmarke. Burleigh Gardner/Sidney Levy: The Product and the Brand, in: Harvard business review 33.2 (1955), S. 33–39; York Kautt: Image. Zur Genealogie eines Kommunikationscodes der Massenmedien, Bielefeld: Transcript, 2008, S. 15. Daniel Boorstein: The Image: or What Happened to the American Dream, New York: Atheneum, 1962; Kautt: Image, S. 21. Konzeptpapier, 10.11.1956, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. Ebd.

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pusrundgang mit Peter, John und Madelaine – diese internationale Zusammensetzung ist natürlich nicht zufällig – dient als Rahmenhandlung für Ausblicke in Universitätsgeschichte, Studentenleben und Forschungsleistung.76 Trotzdem inszenierte auch dieser Film in einer elaborierten und mit neuester Technik animierten Eröffnungsszene den „Inselcharakter von Berlin“. Heute, über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, präsentiert sich die FU in ihrem aktuellen Imagefilm von 2009 verstärkt als international vernetzte Exzellenz-Institution.77 Die Gründungsgeschichte aber bleibt zentral. Viele Ausschnitte aus Eine Freie Universität werden eingeschnitten. Stanislaw Kubizki, einer jener Studenten der ersten Stunde, wird als Zeitzeuge inszeniert. Bei einem Rundgang über den Campus im Kreise der jungen Generation erzählt er von den stürmischen Anfängen. In der Tradition ihres ersten Films gehört der „Freiheitskampf Berlins“ bis heute zum Image der Freien Universität. Die Produktion des hier primär untersuchten ersten FU-Films fiel in eine Zeit, in der neue Einsatzmöglichkeiten für das sich zusehends diversifizierende Medium Dokumentarfilm erschlossen wurden. Strömungen und Formate der Zwischenkriegszeit wie der Industrie- und Wirtschaftsfilm wurden aufgegriffen, um ihre Anwendbarkeit auszuweiten. Sie flossen zusammen mit Erfahrungen aus der Propagandafilmindustrie des gerade zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs, die sich nun an neuen Feinbildern ausrichteten. Hinzu kamen Innovationen in Werbung und Marketing. Zwischen diesen Schnittstellen bewegte sich auch Eine Freie Universität, der wohl als erster Imagefilm einer deutschen Universität gelten kann – wohlgemerkt mit der gebotenen Umsicht bei der Verwendung einer nicht zeitgenössischen Kategorisierung.78 Die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte sowie Inhalt und Form der Produktion reflektieren jedoch gleichzeitig die Ausgestaltung der amerikanischen Besatzungspolitik, besonders der reorientation, sowie die historischen Umstände des beginnenden Kalten Kriegs. Der Film und seine Geschichte bieten somit ein frühes Beispiel für das komplexe Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit angesichts steigender Medienpräsenz und politischer Blockbildung.

76 Huttula-Schlüter-Film: Drehbuchentwurf, 07.11.1956, UAFU, Best. Außenamt Universitätsfilm. 77 Freie Universität Berlin (Deutschland 2009, Regie: Susanne Schmidt), (http://www.uv.tv/ film/detail/project/freie-universitaet-berlin/, Zugriff am 20.10.2012). 78 Im amerikanischen Kontext wird „der Image-Begriff in Bezug auf Institutionen, Personen, Produkte und Unternehmen“ Ende der 1950er Jahre gebräuchlich, in Deutschland gut zwanzig Jahre später, siehe Kautt: Image, S. 9 u. 11.

Der Dokumentarfilm Eine Freie Universität

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Universität und Öffentlichkeit in der Expansions- und Reformphase des deutschen Hochschulwesens (1955–1967) Sebastian Brandt Am 31. Dezember 1960 blickte die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einer Reihe von Artikeln auf die Kulturgeschichte der Bundesrepublik in den 1950er Jahren zurück. Neben Musik, Kunst, Architektur, Literatur und Film behandelte die historische Collage der FAZ auch die Entwicklung des Bildungswesens im zurückliegenden Jahrzehnt. Deutsche Bildungspolitik, behauptete die Verfasserin Brigitte Beer, war nach dem Krieg lange Zeit disparat und unsystematisch geblieben. Nur langsam hatte sich auf diesem politischen Feld der „Wille“ abgezeichnet, „zu ordnen, zu planen, in die Zukunft zu wirken“. Nun schien sich allerdings etwas zu bewegen. Erst wenige Wochen zuvor hatte der im Jahr 1957 gegründete Wissenschaftsrat einen umfassenden und detaillierten Plan zum Ausbau des deutschen Hochschulwesens publiziert. Gerade diese „Empfehlungen“ verstand Beer als Symbol, als „sichtbares Zeichen“ für einen bildungs- und vor allem hochschulpolitischen Aufbruch in der Bundesrepublik.1 Tatsächlich setzte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine erste große Expansions- und Reformphase im deutschen Hochschulwesen ein, die bis Mitte der 1970er Jahre andauerte.2 Vor diesem Hintergrund veränderte sich auch das Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Brigitte Beer sprach in ihrem Rückblick auf die 1950er Jahre davon, dass sich das öffentliche Interesse an „Fragen der Schule, der Hochschule, des gesamten Bildungswesens“ seit einiger Zeit „in erfreulicher Weise belebt“ habe. In der Tat fand die Diskussion um Erneuerung und Expansion des deutschen Hochschulwesens seit Mitte der 1950er Jahre keineswegs nur in akademischen Kreisen oder bildungspolitischen Expertenzirkeln, sondern zunehmend auch in den Massenmedien statt, insbesondere in den großen Tages- und Wochenblättern der Republik wie in der Zeit, im Spiegel oder in der FAZ. Im Schatten von „1968“ setzte sich dieser Diskurs durchaus fort, wurde aber zusehends durch die radikalen Studentenproteste, die militanten Konflikte an den Hochschulen und das Bild einer Universität im „Ausnahmezustand“ überlagert. Im ersten Teil des Beitrags werde ich 1 2

Brigitte Beer: Das Jahrzehnt hinter uns. Das Fundament der Bildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.12.1960. Vgl. Christoph Oehler: Die Hochschulentwicklung nach 1945, in: Führ, Christoph/CarlLudwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998, S. 412– 446; Anne Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München: Oldenbourg, 2010, S. 3–7 spricht von einer Epoche des „Bildungsbooms“.

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auf zentrale Themen der Ausbau- und Reformdebatte zwischen Mitte der 1950er Jahre und dem Beginn der Studentenrevolte 1967 eingehen und untersuchen, welche Bedeutung die neue massenmediale Öffentlichkeit für die Universitätsentwicklung in den 1960er Jahren besaß. Das mediale Interesse am Hochschulwesen wuchs in der Zeit um 1960 also erheblich an. Das Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit veränderte sich aber auch noch in anderer Hinsicht. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in der Presse setzten nun an den Hochschulen selbst Bemühungen zur Verbesserung der öffentlichen Kommunikation ein. Zu diesen Anstrengungen gehörte insbesondere ein Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit und der akademischen Pressestellen. Mit der Entwicklung von public relations im Hochschulbereich wird sich der zweite Teil des Aufsatzes befassen. Der Hochschuldiskurs in den Massenmedien Am 9. Oktober 1958 informierte die Zeit ihre Leserinnen und Leser über den Beginn einer neuen Artikelserie. Es ging um die deutschen Universitäten, genauer um die deutsche Germanistik. Nach Meinung von Rudolf Walter Leonhardt, Feuilletonchef beim Hamburger Wochenblatt, war es endlich „an der Zeit“, den Blick der Öffentlichkeit stärker als bisher auf die deutschen Hochschulen zu richten. Schließlich, so Leonhardt, handelte es sich bei der Universität um eine „Institution unseres öffentlichen Lebens“, nicht um eine „Tabu-Zone“, vor der ein „berechtigtes Informationsbedürfnis“ haltmachen müsste.3 Mit dem Wissensdrang, den ihr Feuilletonchef hier an den Tag legte, und der Forderung nach mehr Transparenz stand die Zeit in diesen Jahren ganz offensichtlich nicht alleine. Denn bereits seit Mitte der 1950er Jahre – und spätestens im letzten Drittel des Jahrzehnts – hatten sich die Hochschulen zum Gegenstand eines intensiven Diskurses in der überregionalen Presse der Bundesrepublik entwikkelt. Die gesteigerte Aufmerksamkeit der Massenmedien hing mit zeitgenössischen Diagnosen einer zunehmend wissensbasierten Gesellschaft zusammen, in der Wissenschaft und Bildung eine immer größere Bedeutung für sämtliche Lebensbereiche zukam.4 Das Schicksal des Hochschulwesens und die Schwierigkeiten, an denen Forschung und Lehre vielerorts laborierten – chronischer Massenbetrieb, überfüllte Hörsäle, zu lange Studienzeiten – entwickelten sich vor diesem Hintergrund zu entscheidenden Zukunftsfragen des Landes und damit auch zu beliebten Themen der Presse. 3 4

Rudolf Walter Leonhardt: Was treibt die deutsche Germanistik? Eine Zeit-Frage wird angeschnitten, in: Die Zeit vom 09.10.1958. Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft. Ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte?, in: Hans-Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München: Oldenbourg, 2004, insbes. S. 284–299; Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“, S. 18–23.

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Im Vergleich zur Berichterstattung in der Nachkriegszeit nahm die Zahl der einschlägigen Beiträge nun erheblich zu. Man setzte vermehrt auf Artikelserien und ausführliche Reportagen, um die Thematik – zum Teil über längere Zeiträume hinweg – eingehend durchleuchten und den Problemen der Universitäten auf den Grund gehen zu können. So publizierte die Zeit seit 1957 zwei parallel laufende, auf mehrere Jahre angelegte Artikelserien, die einzelne Hochschulen in der Bundesrepublik „porträtierten“ und die Studienbedingungen in verschiedenen Fächern wie Germanistik, Medizin oder Chemie unter die Lupe nahmen. Auf diese Art und Weise sollte im Lauf der Zeit eine umfassende „Dokumentation“, eine Art „Panorama“ über die Lage der Universitäten in Deutschland entstehen.5 Die wachsende Bedeutung der Hochschulthematik wurde durch die Platzierung der Beiträge im Blatt unterstrichen. Nach dem Krieg zunächst vor allem im Kulturteil oder im Feuilleton beheimatet, fanden sich Artikel zu den Universitäten nach 1955 immer häufiger im Politikressort, in den Kommentarspalten und auf den Titelseiten der Zeitungen.6 Journalisten traten jetzt immer häufiger als hochschulpolitische Experten in Erscheinung bzw. entwickelten einen Schwerpunkt in diesem Bereich. Neben Rudolf Walter Leonhardt von der Zeit, der für die besagten Artikelserien verantwortlich zeichnete, gehörte dazu unter anderem die eingangs zitierte Brigitte Beer von der FAZ, die als eine der Ersten „systematisch und kontinuierlich über Themen der Schulen und der Hochschulen berichtete“ und bald als „Nestor der Bildungsjournalisten“ in der Bundesrepublik galt.7 Journalisten übernahmen in zahlreichen Fällen die Rolle von hochschulpolitischen „Lobbyisten“. Aber auch Hochschullehrer, Studierende oder Politiker, die sich auf diesem Gebiet betätigten, konnten Zeitungen als öffentlichkeitswirksame Foren nutzen, um Anliegen vorzubringen, Ideen zu verbreiten und Unterstützung

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So die Einführung zu Wie man in Deutschland Landwirtschaft studiert…, in: Die Zeit vom 04.03.1960 und die Vorschau für das Jahr 1960. Die „Universitätsporträts“ begannen mit einem Beitrag zur Universität Freiburg, vgl. Rudolf Walter Leonhardt: Freiburgs Albertina Ludoviciana, in: Die Zeit vom 04.07.1957. Die Serie über das Studium in der Bundesrepublik setzte im Jahr 1958 mit einer Folge zur Germanistik ein: Was treibt die deutsche Germanistik, in: Die Zeit vom 09.10.1958. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Spiegel begannen um 1960 ebenfalls mit größeren Artikelserien. So erschien der Spiegel vom 22. August 1962 bspw. mit einem Titel über das Medizinstudium in Deutschland und am 1. Dezember 1965 über die neuen Universitäten in Deutschland. In der FAZ fungierten Beiträge zu Hochschulfragen vor allem seit Ende der 1950er Jahre häufig als Leitartikel der jeweiligen Ausgabe, so etwa bei Brigitte Beer: Noch Gelehrtenrepublik?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.01.1958; Dies.: Die Nöte der Hochschulen, in: ebd. vom 05.11.1959; Jürgen Tern: Für den Ausbau der Universitäten, in: ebd. vom 20.11.1959; Bruno Dechamps: Die Universität zehrt ihre Substanz auf, in: ebd. vom 19.01.1960; Brigitte Beer: Die Wissenschaft darf nicht darben, in: ebd. vom 19.04.1960 oder Michael Freund: Eine gewonnene Schlacht für die Wissenschaft, in: ebd. vom 28.11.1960. Brigitte Beer ausgezeichnet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.05.1989. Vgl.: Brigitte Beer 80, in: ebd. vom 18.08.1984. Einen Ruf als Expertin für Bildungs- und Hochschulpolitik erwarb sich im Lauf der 1960er Jahre bspw. auch Nina Grunenberg von der Zeit.

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zu generieren.8 Mediale Aufmerksamkeit setzte man häufig ganz bewusst dazu ein, um Handlungsdruck auf die Verantwortlichen an den Universitäten und in der Politik zu erzeugen. Öffentlichkeit wurde als hochschulpolitische „Ressource“ genutzt. Die Berichterstattung sollte ein großes Publikum für die schwierige Lage der deutschen Universitäten sensibilisieren und ihr die Notwendigkeit entschlossenen Gegensteuerns vor Augen führen.9 Inhaltlich war die Debatte überwiegend von Berichten über die schwerwiegenden Probleme des Hochschulwesens, von Krisendiagnosen und Katastrophenmeldungen geprägt: Der Anstieg der Studierendenfrequenz hatte vielerorts für Massenbetrieb und überfüllte Hörsäle gesorgt. Gleichzeitig wurde von allen Seiten der Ruf nach Fortsetzung und Beschleunigung der Bildungsexpansion laut. Der Hochschuldiskurs war aber auch durch eine ständige Suche nach möglichen Wegen aus der Krise gekennzeichnet. Viele Beiträge setzten sich für einen personellen und infrastrukturellen Ausbau der Universitäten, aber auch für eine tiefgreifende Erneuerung des akademischen Studiums ein. Zwar ist der Einfluss der massenmedialen Debatte auf die Universitätsentwicklung in den 1960er Jahren schwer zu beziffern. Aber der in den großen Presseorganen geführte Diskurs war mit Sicherheit ein Faktor, der Reform und Ausbau der Hochschulen nicht nur begleitet oder illustriert, sondern auch aktiv vorangetrieben hat. Das „akademische Gedränge“: Bildungsexpansion, Massenbetrieb und überfüllte Hörsäle In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich in Deutschland ein beispielloser Prozess der Bildungsexpansion. Neben den weiterführenden Schulen waren davon auch die lange Zeit einer kleinen geistigen Elite vorbehaltenen Hochschulen und Universitäten betroffen, die sich nach dem Krieg in regelrechte Masseneinrichtungen verwandelten.10 8

Einschlägige Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf oder der Verkünder der „deutschen Bildungskatastrophe“ Georg Picht mischten sich immer wieder in die Debatte ein. Zu den auffälligen Protagonisten zählten aber auch heute jenseits von Fachkreisen eher weniger bekannte Wissenschaftler wie der Münchner Anglist Wolfgang Clemen. 9 Rudolf Walter Leonhardt von der Zeit sprach beispielsweise von dem „Druck der informierten öffentlichen Meinung“, den seine Zeitung zum Nutzen der Universitäten auszuüben versuchte, vgl. Rudolf Walter Leonhardt: Was gehen uns die Universitäten an?, in: Die Zeit vom 22.02.1963. Ähnlich auch Ders.: Was gehen uns die Universitäten an?, in: ebd. vom 10.02.1961. 10 Vgl. Christoph Führ: Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945. Einleitung, in: Ders./ CarlLudwig Furck: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, S. 2; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2007, S. 241–246. Es handelte sich um eine Entwicklung, die allerdings nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Staaten bzw. in Industriestaaten weltweit zu beobachten war. Vgl. für das Hochschulwesen in Europa nach 1945 Guy Neave: Patterns, in: Walter Rüegg (Hg.): A History of the University

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Die Studierendenfrequenz hatte sich in den zehn Jahren nach Gründung der Bundesrepublik nahezu verdoppelt, wobei seit Mitte der 1950er Jahre eine deutliche Beschleunigung des Wachstums zu erkennen war. Im Jahr 1960 wurde die Marke von 200.000 Studierenden erreicht. Bis Mitte der 1960er Jahre wuchs diese Zahl noch einmal um ein Viertel an und lag jetzt bei ungefähr 250.000.11 Diese Entwicklung war zum einen auf demografische Faktoren zurückzuführen: Die geburtenstarken Jahrgänge der 1930er Jahre traten in die Universität ein. Zweitens war die Nachfrage nach weiterführender Bildung bis zu Abitur und Hochschulstudium unter anderem bedingt durch die wirtschaftliche Konsolidierung und Formierung eines „neuen Mittelstands“, durch die häufig diagnostizierte „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“, aber auch durch die gezielte Bildungswerbung in vielen Schichten der Bevölkerung gestiegen. Drittens manifestierten sich in der Zunahme der Studierendenfrequenz ein verstärkter Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften und eine „Akademisierung“ der Berufswelt.12 Der Prozess der Bildungsexpansion führte schon in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu einer „Überlastungskrise des gesamten Hochschulsystems“.13 Der Ausbau von Personalstellen und Infrastruktur konnte mit der Entwicklung der Studierendenfrequenz nicht Schritt halten. So war es im Laufe der 1950er Jahre wenigstens in „Massenfächern“ wie der Germanistik oder Medizin zu einem erheblichen Missverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden gekommen, das um 1960 seinen Höhepunkt erreichte und erst mit dem Beginn einer planvollen Expansion der Hochschulen in den 1960er Jahren zumindest ansatzweise korrigiert werden konnte.14 Die Entwicklung zur Massenuniversität wurde seit ungefähr 1955 immer häufiger in der Presse thematisiert, auf diesem Weg in eine große Öffentlichkeit vermittelt und dabei nicht selten dramatisierend zugespitzt, um eine möglichst große Mobilisierungswirkung zu erzielen. Unter dem Titel Das akademische Gedränge berichtete der Publizist Christian Lewalter am 4. Februar 1954 in der Zeit von einer bedrohlichen Situation an den Hochschulen in der Bundesrepublik. Das schnelle Wachstum der Studentenzahlen, betonte Lewalter, habe vielerorts einen Massenbetrieb ausgelöst, der nur noch wenig an das traditionelle akademische Studium und die deutsche Universität der

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in Europe. Volume 4: Universities since 1945, Cambridge: Cambridge University Press, 2011, S. 32–75, insbes. S. 42–48. Vgl. die Angaben zu „Unterricht und Bildung“ in Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart: Kohlhammer, 1952ff. und in Peter Lundgreen/Jana Scheunemann: Berufliche Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–2001, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. Vgl. Oehler: Die Hochschulentwicklung nach 1945, S. 414f. und Wilfried Rudloff: Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform in der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Studienreform und Gesamthochschule, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 71– 90, hier S. 72. Vgl. Führ: Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, S. 2. Vgl. Peter Lundgreen/Gudrun Schwibbe/Jürgen Schallmann: Das Personal an den Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland: 1953–2005, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 38.

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alten Zeit erinnere. Bei den ständig überbelegten Bibliotheken und Seminaren sei die für Deutschland so typische akademische Freiheit nicht viel mehr als eine „Freiheit der Karpfen im Bassin des Fischhändlers“. Professoren, fuhr Lewalter fort, fänden kaum noch Zeit für ihre Forschung, weil viel mehr Studierende zu unterrichten seien als früher. Nach Meinung des Publizisten war der ehrwürdige Ordinarius von einst zu einem „Verwaltungsbeamten“ und „Oberstufenlehrer“ mutiert. Mit der „personalen Einheit“ von Forscher und Lehrer, hieß es weiter, gehe mehr und mehr auch der „Stolz der deutschen Universitäten“ verloren. Lewalter zufolge hatte der Niedergang der deutschen Universitätstradition mit der Bildungsexpansion nach dem Krieg begonnen. Während die Studentenzahlen scheinbar unaufhörlich anwuchsen, ging es – wie er meinte – an anderer Stelle stetig bergab: mit der „Intensität und Zuverlässigkeit der Arbeit“, mit der Tradition der akademischen Bildung und mit der Funktion der Hochschule als „nährender Mutter“. Überall, behauptete Lewalter, herrsche eine „Dauerkalamität“, von der die Öffentlichkeit allerdings nur „ungern“ Notiz nahm, weil sonst „das Bild des Wiederaufstiegs getrübt“ würde.15 Davon, dass die Öffentlichkeit den Problemen der Hochschulen nicht genügend Aufmerksamkeit schenkte, konnte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nicht mehr die Rede sein. Immer häufiger war nun ganz unverhohlen von Notständen und Katastrophen die Rede. Der Münchner Anglist Wolfgang Clemen sprach in der Zeit vom 20. März 1958 beispielsweise von einer „Massenlawine“, die über die Hochschulen hereingebrochen war. Zumindest in einigen Massenfächern wie der Germanistik schien ihm das Studium so dermaßen „überflutet“, dass von „normalen Arbeitsbedingungen“ keine Rede mehr sein konnte. Nach dem Krieg, klagte der Anglist, habe man „Schleusen“ geöffnet, „durch die sich nun Fluten in ein nicht aufnahmefähiges und nicht vorbereitetes Strombett“ ergießen.16 Die Stuttgarter Zeitung veröffentlichte am Ende des Jahres 1959 gleich eine ganze Artikelfolge, die in ganz ähnlichem Ton vor einer „Sturzflut der Studierenden“ warnte.17 Der Zustand der deutschen Hochschulen, erklärte der Tübinger Jurist Ludwig Raiser zum Auftakt der Serie, sei für Studenten und Professoren „unerfreulich“ und für die Öffentlichkeit „beunruhigend“. Der „akute Notstand“ bestand demnach nicht mehr in den materiellen Auswirkungen des Kriegs – die im Großen und Ganzen behoben seien –, sondern darin, dass der „Zustrom der Studenten zur Hochschule in den letzten vier bis fünf Jahren wie ein Sturzbach jäh angeschwollen“ war. In diesem Zustand, behauptete Raiser, konnten die Hochschulen den Ansprüchen von „Staat und Gesellschaft“ ebenso wenig genügen wie

15 Christian E. Lewalter: Das akademische Gedränge. Woran es bei den Universitäten fehlt, in: Die Zeit vom 04.02.1954. 16 Wolfgang Clemen: Die Massenlawine über den Universitäten, in: Die Zeit vom 20.03.1958. 17 Abgedruckt in: Unter der Sturzflut der Studierenden. Eine Artikelfolge zum Thema der Hochschulreform und zur Situation der Studentenschaft. Sonderdruck aus der Stuttgarter Zeitung, Stuttgart, 1959.

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den Anforderungen, die sie selbst an die eigene Leistungsfähigkeit in Forschung und Lehre richteten.18 Begabungsreserven aktivieren: Bildungsexpansion trotz Massenbetrieb Die deutschen Universitäten waren mit dem Wachstum der Studierendenfrequenz und dem verbreiteten Massenbetrieb häufig überfordert. Dennoch äußerten viele Beobachter in der Zeit um 1960 die Überzeugung, dass der Prozess der Bildungsexpansion auch im Hochschulbereich noch weiter verstärkt und beschleunigt werden müsse. Gerade im internationalen Vergleich, so eine verbreitete Auffassung, blieben in der Bundesrepublik zu viele „Begabungsreserven“ in der Bevölkerung ungenutzt. Aus einem gesellschaftspolitischen Blickwinkel manifestierten sich in diesem Umstand soziale Ungerechtigkeit und ungleich verteilte Bildungschancen, während sich eine volkswirtschaftliche Position eher um die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft für die ökonomische Entwicklung eines Landes und seine internationale Konkurrenzfähigkeit sorgte. Wie bereits erwähnt, waren viele Zeitgenossen um 1960 davon überzeugt, in einer Gesellschaft zu leben, die sich immer mehr auf Wissen und Wissenschaft gründete. Begriffe wie „wissenschaftlich-technische Zivilisation“ oder „technisches Zeitalter“ avancierten zu gängigen Beschreibungen der Gegenwart. Der Wissenschaft, der Bildung und damit auch den Hochschulen wurde eine immer größere Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung des Landes, seine Konkurrenzfähigkeit im internationalen Vergleich und – nicht zuletzt im Kontext des OstWest-Konflikts – für die „Zukunft der Nation“ schlechthin zugeschrieben.19 Obwohl die Zahl der Studierenden in der Bundesrepublik während der vergangenen Jahre bereits enorm angewachsen war, schienen die Universitäten nicht fähig, den Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften zu decken, den eine solche „Wissensgesellschaft“ erforderte. Die Probleme des Bildungs- und Hochschulwesens ließen die Bundesrepublik nach Meinung zahlreicher Beobachter so auf eine nationale „Katastrophe“ zusteuern, wie es der Pädagoge Georg Picht im Jahr 1964 unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit in der Wochenzeitung Christ und 18 Ludwig Raiser: Die Hochschulen drohen vor ihrer Bildungsaufgabe zu versagen: Unter der Sturzflut der Studierenden. Eine Artikelfolge zum Thema der Hochschulreform und zur Situation der Studentenschaft. Sonderdruck aus der Stuttgarter Zeitung, Stuttgart, 1959, S. 3. Beiträge wie diese zogen sich auch durch die 1960er Jahre, vgl. Die Bundesrepublik – ein unterentwickeltes Land. Studenten ohne Universität, in: Der Spiegel vom 13.09.1961 oder Günther von Lojewski: Das Studium – ein paar graue Jahre? Eine kühl rechnende Generation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.12.1965, der auch Mitte der 1960er Jahre feststellen muss, dass die Universitäten „aus allen Nähten platzen“. 19 Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 277–313. Zeitgenössisch Joachim Schwelien: Die Wissenschaft, der Staat und das Geld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.02.1957; Hellmut Becker: Bildung in der modernen Industriegesellschaft, in: ebd. vom 14.03.1957.

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Welt formulierte. Nach Meinung von Picht gab es in der Bundesrepublik viel zu wenige Abiturienten und Studierende. In „allen Bereichen des öffentlichen Lebens“, prognostizierte der Pädagoge, war ein „beängstigender Mangel an Akademikern und höher qualifizierten Nachwuchskräften“ zu erwarten. Insbesondere im Bereich der Lehrer schien bereits zu diesem Zeitpunkt ein Notstand eingetreten zu sein. Der erstaunliche Wirtschaftsaufschwung in der Bundesrepublik werde ein „rasches Ende“ nehmen, warnte Picht, wenn die „qualifizierten Nachwuchskräfte“ fehlten, auf die man „im technischen Zeitalter“ nicht mehr verzichten könne. Versagte das Bildungswesen, sei „die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht“. In einem „Notstandsprogramm“ forderte Picht deshalb die Erschließung zusätzlicher „Begabungsreserven“ aus den Reihen der Landbevölkerung oder der Arbeiterschaft, um unter anderem die Zahl der Abiturienten verdoppeln und mehr Lehrer an den Hochschulen ausbilden zu können.20 Die Notwendigkeit solcher Schritte erschloss sich nicht allein aus ökonomischen Gründen. Neben die unter anderem von Georg Picht vertretene volkswirtschaftlich argumentierende Position trat ein gesellschaftspolitischer Ansatz, der vor allem in den Beiträgen des Soziologen Ralf Dahrendorf in der Zeit zum Ausdruck kam. Das deutsche Bildungswesen bot in dieser Perspektive vor allem deshalb ein krisenhaftes Bild, weil es an sozialer Ungerechtigkeit krankte. Noch immer, schrieb Dahrendorf im November 1965 in der Zeit, waren große Teile der deutschen Gesellschaft von den Möglichkeiten weiterführender Bildung praktisch abgeschnitten. Zu den unterprivilegierten Gruppen gehörten nach Auffassung des Soziologen in erster Linie Landkinder, Arbeiterkinder, Mädchen und Katholiken, die bei Abiturienten und Studierenden deutlich unterrepräsentiert waren.21 Ähnlich wie Picht trat Dahrendorf für „mehr Bildung“ ein, für eine Erhöhung von Abiturienten- und Studentenzahlen.22 Seine Motive unterschieden sich jedoch deutlich von den um 1960 weit verbreiteten „ökonomisierenden“ Vorstellungen. Dahrendorf wandte sich ausdrücklich von einer Denkweise ab, die Menschen, so seine Kritik, lediglich als „Material“ für vermeintlich höhere Zwecke vereinnahmte. Ihm ging es vielmehr darum, durch die „Ausbreitung effektiver Bürgerrechte“ – die Verwirklichung von Chancengleichheit im Bildungswesen – den „Grund für eine moderne Gesellschaft in der Verfassung der Freiheit“ zu legen. Bildung war für Dahrendorf, so seine bekannte Formulierung, ein „Bürgerrecht“, 20 Vgl. den ersten und vierten Beitrag der Artikelserie von Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten: Walter, 1964, S. 16–42 („Der Tatbestand“) und S. 65–87 („Entwurf eines Notstandsprogramms“). Pichts Artikelserie erfährt häufig – und zu Recht – besondere Beachtung in der Forschung. Allerdings war er keineswegs der erste, der solche Zusammenhänge herstellte und der Bundesrepublik wegen seines Bildungswesens eine düstere Zukunft prophezeite. Der Spiegel sah etwa schon 1961 den Abstieg zu einem „unterentwickelten Land“ voraus, siehe: Die Bundesrepublik, in: ebd. vom 13.09.1961. 21 Ralf Dahrendorf: Die Schulfeindlichkeit der Praktiker. Eine aktive Bildungspolitik für Deutschland (2), in: Die Zeit vom 19.11.1965. Auch Picht hatte die Frage der Chancengleichheit angesprochen. Allerdings stand in seinen Beiträgen die volkswirtschaftliche Problematik deutlich im Vordergrund. 22 Dahrendorf: Die Schulfeindlichkeit der Praktiker.

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ohne dessen Verwirklichung eine freie Gesellschaft auf Dauer nicht bestehen konnte.23 „Für den Ausbau der Universitäten“: Massenmediales Engagement für eine Expansion des deutschen Hochschulwesens Angesichts der krisenhaften Situation an den Universitäten – Massenbetrieb bei gleichzeitig mangelnder Ausschöpfung von Begabungsreserven – formierte sich seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine breite öffentliche Unterstützung für den infrastrukturellen und personellen Ausbau des deutschen Hochschulwesens. In den Massenmedien, insbesondere in den großen überregionalen Zeitungen, machten Journalisten, Hochschullehrer oder Politiker zum Teil schon ab 1955 immer wieder eindringlich auf die Notwendigkeit einer expansiven Bildungspolitik aufmerksam. Um die Zahl der Lehrenden wieder in ein „vernünftiges Verhältnis“ zur Zahl der Studierenden zu bringen, forderte der Frankfurter Jurist Helmut Coing in der FAZ vom 23. März 1956 beispielsweise eine Erweiterung des Lehrkörpers um „nahezu das Doppelte“. Neben dem Ausbau der Professuren war laut Coing auch eine „große Vermehrung der Assistenten- und Dozentenstellen“ geboten.24 Trotz des offensichtlichen Missverhältnisses zwischen Studierenden und Dozenten stellte die Einführung eines allgemeinen und dauerhaften numerus clausus keine ernsthafte Alternative dar. Die Etablierung von Zulassungsbeschränkungen zog man lediglich als Not- oder Übergangsmaßnahme in Betracht.25 Auf längere Sicht wurde eine Erweiterung der Hochschulen von praktisch allen Beteiligten für unumgänglich gehalten. Schließlich ging es nicht nur darum, die akute Überfüllungskrise der Hochschulen zu bewältigen, sondern auch für die veränderten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart gewappnet zu sein. Die Entwicklung zu einer „Wissensgesellschaft“ erforderte eine weitere Beschleunigung der Bildungsexpansion und damit auch einen Ausbau der Hochschulen. Die „technisierte Gesellschaft“ der heutigen Zeit erfordere die „Aktivierung“ aller verfügbaren „Intelligenzen“, vermerkte der Publizist Hans Schwab-Felisch in einem Beitrag, der am 5. September 1959 auf der Titelseite der FAZ veröffentlicht wurde. Dass einer „mittleren Intelligenz“ der Weg zum Studium aufgrund fehlender Studienplätze häufig versperrt blieb, stellte in seinen Augen ein „großes Übel“ dar. Obwohl gerade wieder eine Umfrage der Deutschen Presseagentur „schwarz auf weiß“ belegt hatte, dass die deutschen Hochschulen an hoffnungsloser „Über23 Ralf Dahrendorf: Eine aktive Bildungspolitik für Deutschland, in: Die Zeit vom 12.11.1965; Ders.: Die Schulfeindlichkeit der Praktiker. 24 Helmut Coing: Entwicklungsprobleme der deutschen Hochschule, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.03.1956. Ähnlich etwa Ein Rat am rechten Platz, in: Die Zeit vom 14.06.1956. 25 So bspw. Wolfgang Clemen: Das Dilemma des numerus clausus, in: Die Zeit vom 11.12.1959.

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füllung“ litten, gab es in seinen Augen nicht zu viele, sondern immer noch viel zu wenige Studenten. Ein numerus clausus kam für Schwab-Felisch nicht in Frage. Das einzig wirkungsvolle Mittel gegen die Misere bestand seiner Meinung nach darin, mehr Platz und zusätzliche Personalstellen an den Hochschulen zu schaffen. Der Staat sei unter allen Umständen dazu verpflichtet, den Ausbau von Universitäten und Instituten „kräftiger als bisher zu fördern“.26 Zu diesem Zeitpunkt steuerte der mediale Diskurs um eine Expansion des Hochschulwesens auf einen vorläufigen Höhepunkt zu. Im Oktober 1959, kurz nach Schwab-Felischs Artikel, erschien eine Denkschrift aus dem Bundesinnenministerium zur „Überfüllung“ der Universitäten, die sich unter anderem für die Einführung von Zulassungsbeschränkungen und das „Herausprüfen“ ungeeigneter Studenten aussprach. Der Text sorgte nicht nur dafür, dass der Universitätsbereich im Jahr 1960 noch stärker in den Mittelpunkt des massenmedialen Diskurses rückte, wobei die Vorschläge des Gutachtens in der Öffentlichkeit überwiegend kritisch aufgenommen wurden.27 Die Denkschrift mobilisierte vor allem auch die journalistischen Fürsprecher eines entschlossenen Hochschulausbaus, von denen sich einige nun ganz explizit dazu bekannten, die Möglichkeiten der Publizistik offensiv für eine Expansion der Universitäten einsetzen zu wollen.28 Statt eines öffentlichen Streits über Denkschriften forderte Jürgen Tern – Politikredakteur und Mitherausgeber der FAZ – in einem Kommentar auf der Titelseite des Blattes vom 20. November 1959 endlich „gemeinsame und gesammelte Bemühungen“. Nach den kontroversen Diskussionen um das Gutachten aus dem Innenministerium war es ihm selbst und seiner Zeitung ein wichtiges Anliegen, der Forderung nach einem Hochschulausbau den „ganzen Nachdruck der öffentlichen Meinung“ zu verleihen. Das, so Tern, sei zweifellos ein „mühseliges Werk“, bei dem immer wieder „geistige Trägheit“ und „moralische Indolenz“ überwunden werden müssten. Die FAZ sei jedoch bereit, sich diesen Hindernissen zu stellen, „unverdrossen, hartnäckig und gelegentlich unbekümmert um die Füße, auf die man dabei treten“ werde.29 26 Hans Schwab-Felisch: Das schwächste Glied. Zur Überfüllung der Hochschulen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.09.1959. Vgl. u. a: Beer: Die Wissenschaft darf nicht darben; Rudolf Walter Leonhardt: Siegt die Vernunft?, in: Die Zeit vom 13.05.1960 und Jürgen Tern: Ein Jahr für die Innenpolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.01.1964. 27 Vgl. etwa Das aktuelle Forum. Eine Studie … und ihr Echo, in: Deutsche Universitätszeitung 15 (1960), S. 7–33. Dort sind Reaktionen zusammengestellt. 28 Siehe die redaktionellen Einleitungen zu Günther Gillessen: Eine Universität voll Kraft und Leben. Freiburg unter dem Eindruck seiner aufstrebenden Hochschule, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.12.1959; Gerhard Ritter: Die Universität darf nicht Berufsschule werden. Ein Aufsatz zur Krisis des deutschen Universitätswesens, in: ebd. vom 19.10.1960 und Bruno Dechamps: Professoren sind keine Verwaltungsbeamten. Beobachtungen und Überlegungen an der überfüllten Heidelberger Universität, in: ebd. vom 12.12.1959. Außerdem: Aus dem Redaktionsprogramm der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in: ebd. vom 24.12.1959. 29 Tern: Für den Ausbau der Universitäten. Vgl. bspw. auch Hans Wenke: Überfüllung der Hochschulen, in: Die Zeit vom 27.11.1959. „Nur in der Richtung des weiteren Ausbaus“, schrieb Wenke, „liegt die mögliche Lösung der gegenwärtigen Schwierigkeiten“. Die Metho-

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Der massenmediale Einsatz für einen Ausbau des deutschen Hochschulwesens riss in den folgenden Jahren tatsächlich nicht ab, das galt nicht nur für Jürgen Terns FAZ.30 Allerdings fand die Diskussion seit 1960 unter veränderten Vorzeichen statt. Im November dieses Jahres hatte der Wissenschaftsrat sein lang erwartetes Gutachten veröffentlicht, auf dessen Grundlage jetzt erstmals ein systematischer, zentral geplanter Ausbau der Hochschulen in der Bundesrepublik in Angriff genommen wurde und das für die Hochschulentwicklung nach 1960 eine entscheidende Rolle einnahm. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats stießen bei großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit auf begeisterte Resonanz. Das Expertengremium wurde vielerorts als Hoffnungsträger und als „Retter“ des deutschen Hochschulwesens gepriesen. Der Plan von 1960 galt nicht nur als Orientierungshilfe und Diskussionsgrundlage, sondern vor allem auch als „Hebel“, mit dessen Hilfe die Politik auf eine verstärkte Förderung der Universitäten verpflichtet werden konnte. So feierte der Politikwissenschaftler Michael Freund die Publikation des Wissenschaftsrats in der FAZ pathetisch als „gewonnene Schlacht für die Wissenschaft“. Die Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen, schrieb Freund in einem Beitrag vom 28. November 1960, stellten ein „Manifest“ gegen die „tyrannische Tatenlosigkeit“ in der Bildungs- und Hochschulpolitik dar. Allein die Existenz des Wissenschaftsrats kam für ihn bereits einer „öffentlichen Anerkennung“ der Tatsache gleich, dass die „Förderung der Wissenschaft ein Anliegen des ganzen Gemeinwesens“ sei und dass sich bei den anstehenden Reformen Aufgaben stellten, für die der Bund „gerade noch groß genug“ war. Im Einzelnen, so Freund, schienen die Empfehlungen zwar eher „konservativ“. Von den Reformvorschlägen, die unter anderem in der FAZ diskutiert worden waren, sei dort nur wenig zu finden. Dennoch blieb ein „unverlierbares Verdienst“. Der Wissenschaftsrat, lobte Freund, habe das deutsche Universitätswesen mit seinen Empfehlungen „über den Abgrund gestoßen“ und dem dringend notwendigen Ausbau der Hochschulen wichtige Impulse verliehen.31 de des „Herausprüfens“ lehnte Wenke entschieden ab. Der damalige Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Hermann Jahrreiß, sprach sich in einem Interview mit dem Spiegel ganz ausdrücklich gegen numerus clausus und „Herausprüfen“ sowie für größere Anstrengungen des Staates zur Erweiterung der Hochschulen aus, siehe Hohe Schule oder Fachschule? Ein SPIEGEL-Gespräch mit dem Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Professor Hermann Jahrreiß, in: Der Spiegel vom 02.12.1959. 30 Siehe Hugo Moser: Universitäten mit Mammutinstituten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.04.1962; Tern: Ein Jahr für die Innenpolitik; Kurt Rudzinski: Griff nach den Forschungsmitteln. Gefährliche Kürzungen des Wissenschaftsetats, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.02.1964; Brigitte Beer: Schulen und Hochschulen müssen gleichzeitig ausgebaut werden, in: ebd. vom 26.03.1964; Rudolf Walter Leonhardt: Feierliches Weiterwurschteln, in: Die Zeit vom 12.06.1964; Forschungshilfe unter Druck, in: ebd. vom 19.02.1965; Überfüllung, Raumnot und Professorenmangel, in: Badische Zeitung vom 22.06.1965. 31 Freund: Eine gewonnene Schlacht. Ähnlich auch Hans Wenke: Die deutschen Hochschulen heute und morgen. Der große Plan des Wissenschaftsrates, in: Die Zeit vom 02.12.1960; Beer: Das Jahrzehnt hinter uns; Bruno Dechamps: Die Chance der Universitäten, in: Frank-

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Der durchschlagende Erfolg der „blauen Bibel“ – wie die Publikation wegen ihres farbigen Einbands bald respektvoll genannt wurde – begründete das hohe Ansehen, das der Wissenschaftsrat bei Hochschullehrern, Wissenschaftspolitikern und einem interessierten Publikum in den 1960er Jahren genoss.32 Dieser Vertrauensvorschuss, der nicht zuletzt durch die fast durchgängig positive Rezeption des Gutachtens in den Massenmedien entstanden war, erleichterte die Umsetzung der Ausbau-Empfehlungen nach 1960 ungemein. Das Gutachten des Wissenschaftsrats hatte mit einem Bedarf von ca. 1.200 zusätzlichen Lehrstühlen an den Hochschulen der Bundesrepublik gerechnet.33 Gemessen an diesem Programm verlief die Expansion des Hochschulwesens erfolgreich. Wie der Wissenschaftsrat in einer ersten Bilanz 1967 festhielt, hatte man die ursprünglichen Ziele sogar deutlich übertroffen. Zwischen 1960 und 1966 waren demnach mehr als 1.700 ordentliche Professuren entstanden. Das entsprach einem Wachstum von über 50 Prozent. Das wissenschaftliche Personal an den Hochschulen hatte sich nach den statistischen Angaben des Wissenschaftsrats insgesamt mehr als verdoppelt.34 Die Erweiterung der Universitäten machte in den ersten Jahren nach Beginn des planvollen Ausbaus also beachtliche Fortschritte. Trotzdem reichten die Maßnahmen nicht aus, um der „Überfüllungskrise“ gerade in den großen Massenfächern wirkungsvoll entgegensteuern zu können.35 Dass man „der Unordnung im Studienbetrieb unserer Hochschulen“ mit dem Expansionsplan von 1960 allein nicht angemessen begegnen konnte, hatte der Vorsitzende des Wissenschaftsrats Ludwig Raiser schon zu Beginn des Jahres 1964 erkannt. Um die Probleme in den Griff zu bekommen, formierte man zu diesem Zeitpunkt einen neuen Ausschuss, der sich – ganz entgegen der ursprünglichen Aufgabengebiete des Gremiums – mit den Möglichkeiten einer Studienreform beschäftigen sollte.36

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furter Allgemeine Zeitung vom 11.01.1961. Vgl. auch die bei Olaf Bartz: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957– 2007, Stuttgart: Steiner, 2007, S. 62–64 gesammelten Reaktionen der Presse. Zeitgenössisch Nina Grunenberg: Empfehlungen, von denen wir leben. Ein Porträt des Wissenschaftsrates, in: Die Zeit vom 01.07.1966. Ähnlich Leonhardt: Siegt die Vernunft und Brigitte Beer: Die nächsten Aufgaben des Wissenschaftsrates, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.10.1965. Vgl. Bartz: Der Wissenschaftsrat, S. 50. In den folgenden Jahren sollte sich die öffentliche Haltung gegenüber dem Wissenschaftsrat dann allerdings zum Schlechten verändern. Bartz: Der Wissenschaftsrat, S. 113–119 spricht für die Zeit um 1970 bspw. von einer „schweren Krise“. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil 1: Wissenschaftliche Hochschulen, Bonn: Bundesdruckerei, 1960, S. 157–160. Wissenschaftsrat: Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970, Tübingen: Mohr, 1967, S. 21–25 und die Tabellen auf S. 320–345. Ebd., S. 12f. u. S. 49. Bartz: Der Wissenschaftsrat, S. 82.

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Bildung und Ausbildung: Die Diskussion über eine Reform des Studiums Der Wissenschaftsrat hatte seine Empfehlungen aus dem Jahr 1960 fast ausschließlich dem quantitativen Ausbau des deutschen Hochschulwesens gewidmet. Zwar äußerte man sich zu einzelnen Reformaspekten. Mit der beabsichtigten Verstärkung des Mittelbaus bereitete das Erweiterungsprogramm außerdem durchaus einen Strukturwandel an den Universitäten vor. Trotzdem stellte das Gutachten keinen Reformplan im engeren Sinn dar. Der Wissenschaftsrat verzichtete ausdrücklich darauf, ein „eigenes System einer Hochschulreform zu entwickeln“, und konzentrierte sich zunächst ganz bewusst auf das, was in seinen Augen „machbar“ schien. Wie seine Vorgänger in der Nachkriegszeit hielt das Gremium an der hergebrachten Struktur der deutschen Universität und des akademischen Studiums fest.37 Nach dem Krieg waren Bemühungen um eine Hochschulreform von einer Suche nach „geistiger Rückbesinnung“ gekennzeichnet gewesen. Praktisch alle Beteiligten – Hochschullehrer, Studierende, Politiker – plädierten eindringlich für die Reaktivierung einer deutschen Universitätstradition, die man in der Regel auf die Berliner Universitätsgründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückführte und die – wie es hieß – im Nationalsozialismus verschüttet worden war. Ein wissenschaftliches Studium sollte demnach nicht nur fachliches Wissen vermitteln, sondern auch eine breit gefächerte Allgemeinbildung ermöglichen und zur charakterlichen Formung der Studierenden beitragen. Wissenschaftliche „universitas“, „Einheit von Forschung und Lehre“ oder „Bildung durch Wissenschaft“ waren Leitbegriffe dieser Rückbesinnungsdebatte.38 In den Jahren um 1960 geriet diese Konzeption eines allgemein- und menschenbildenden Studiums zunehmend unter Druck. Während der Wissenschaftsrat seine reformerischen Ambitionen vorerst noch zurückstellte, hatte das Problem der Studienreform in der Presse spätestens seit dem letzten Drittel der 1950er Jahre ein öffentlichkeitswirksames Forum erhalten. Neben den Redaktionsmitgliedern selbst kamen dabei immer wieder auch Hochschullehrer oder Politiker zu Wort. Ohne die Idee der „Humboldtschen Universität“ grundsätzlich in Frage zu stellen, setzten sich viele Beiträge in Blättern wie der Zeit, dem Spiegel oder der FAZ für eine – mal mehr, mal weniger radikale – Erneuerung des akademischen Studiums ein. In diesem Sinne fungierte die Presse durchaus als eine Art „Reformmotor“. Die Notwendigkeit einer Studienreform wurde auf der einen Seite mit der Überfüllung der Hochschulen begründet. So stellte der Frankfurter Jurist Helmut Coing am 23. März 1956 in der Zeit desillusioniert fest, dass die Entwicklung zur 37 Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil 1: Wissenschaftliche Hochschulen, S. 37f.; Bartz: Der Wissenschaftsrat, S. 62–69. 38 Zeitgenössisch bspw. Karl Jaspers: Die Idee der Universität, Berlin: Springer, 1946, S. 9–11. Vgl. Sylvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205.

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Massenuniversität das „Unterrichtssystem der deutschen Universitäten weitgehend gesprengt“ hatte. In den überfüllten Seminaren und Übungen ging der persönliche Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden – ein zentraler Baustein dieses „Systems“ – immer mehr verloren. An der anonymen Massenuniversität, wo nur noch „wenig persönliche Anleitung“ durch den Professor geboten wurde, schienen viele Studierende von der akademischen Freiheit der deutschen Hochschulen überfordert. Diese Symptome, insbesondere die oft beklagte „Orientierungslosigkeit“, resultierten nicht zuletzt in längeren Studienzeiten, was wiederum die Überfüllung der Hochschulen verschärfte.39 Die Bildungsexpansion seit Mitte der 1950er Jahre hatte den Universitäten allerdings nicht nur deutlich mehr, sondern vor allem auch „andere“ Studenten beschert, deren Erwartungen an das akademische Studium sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zunehmend veränderten. Statt eines allgemein- und menschenbildenden Studiums schien nun für eine immer größere Zahl von Studierenden der Aspekt der Berufsausbildung im Mittelpunkt zu stehen. Dieser Entwicklung, darüber herrschte in der massenmedialen Diskussion weitgehende Übereinstimmung, mussten Hochschulen zumindest bis zu einem gewissen Grad entgegen kommen. Es ging nicht darum, das Ideal der „Humboldtschen“ Universität vollends aufzugeben, sondern eher um eine Verschiebung der Gewichte. Reformvorschläge bemühten sich meist um einen Ausgleich zwischen dem traditionellen Bildungsideal und den Forderungen nach Berufsausbildung. So proklamierte Wolfgang Clemen am 12. Juni 1959 in der Zeit, dass die Universität zwar eine „schlechte Fachschule“ sei und das traditionelle Bildungsverständnis auch in Zukunft seine Berechtigung behalten würde. Allerdings, so Clemen, gehe ein großer Teil der Studierenden heute tatsächlich „mit anderer Zielsetzung“, aus anderen Motiven und mit anderen „geistigen Voraussetzungen“ an das Studium heran. So geriet die Universität nach Meinung des Anglisten immer mehr in einen „Zwiespalt“ zwischen unterschiedlichen Erwartungshaltungen, zwischen „Bildung“ und „Ausbildung“. Die große Aufgabe bestand in seinen Augen darin, diese verschiedenen Anforderungen miteinander in Einklang zu bringen. Laut Clemen ging es darum, die Ausbildung zu „verbessern“ und „neuen Gegebenheiten“ anzupassen, gerade „im Hinblick auf die Berufserfordernisse“.

39 So Coing: Entwicklungsprobleme der deutschen Hochschule. In der Diskussion über Studienzeiten erregten insbesondere die Beiträge des CDU-Bundestagsabgeordneten Hans Dichgans in Massenmedien und Parlamentsdebatten öffentliche Aufmerksamkeit, bspw. Hans Dichgans: Erst mit Dreißig im Beruf. Das Ärgernis der langen akademischen Ausbildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.10.1963. Vgl. Wilfried Rudloff: Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens. Leitbilder neuer Hochschulen zwischen Wissenschaftspolitik, Studienreform und Gesellschaftspolitik, in: Andreas Franzmann/Barbara Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung: Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie-Verlag, 2007, S. 80; Stefanie Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik. Das Beispiel des Wissenschaftsrats in den 1960er Jahren, in: ebd., S. 112–118.

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Trotzdem sollte auch im „jetzigen Universitätsbetrieb“ ein „Stück der echten Universität“ nicht nur „bewahrt“, sondern sogar „intensiviert“ werden.40 Die Auseinandersetzung über eine Erneuerung des Studiums in den 1960er Jahren berührte zweifellos auch inhaltliche oder didaktische Fragen. So klagten nicht wenige Beobachter über eine kaum mehr zu bewältigende „Stofffülle“ in vielen Disziplinen und mangelnden Praxisbezug des Studiums. Der didaktische Wert der Vorlesung wurde bereits Ende der 1950er Jahre immer wieder angezweifelt, bevor die hochschuldidaktische Debatte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend an Fahrt aufnahm.41 Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion standen allerdings zunächst eindeutig Probleme der Studienorganisation bzw. der „formalen Neuordnung der Studiengänge“.42 Die Reformvorschläge drehten sich meist um eine stärkere Strukturierung oder „Rationalisierung“ des Studiums, wobei man sich zum Teil ausdrücklich an den angelsächsischen Hochschulsystemen orientierte. Auf diese Art und Weise wollten Reformer nicht nur den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen Rechnung tragen, sondern auch eine Verkürzung der Studienzeit herbeiführen. Schon gegen Ende der 1950er Jahre setzte sich beispielsweise erneut Wolfgang Clemen in der Zeit für eine Gliederung des Studiums in verschiedene Phasen ein: Ein Grundstudium, das unter stärkerer „Anleitung“ stehen, festen Studienplänen folgen und durch eine Zwischenprüfung abgeschlossen werden sollte. In diesem Abschnitt des Studiums würde eine große „Mittelschicht“ von Lehrkräften mit Unterstützung sogenannter „Tutoren“ zudem für kleinere Unterrichtsgruppen und eine Linderung der Überfüllungserscheinungen sorgen. Danach sah Clemens Ansatz ein Hauptstudium vor, wo eine „selbständige Begegnung mit der Wissenschaft“ angestrebt wurde. Die „große Masse“ der Studenten sollte dabei vor allem den „zukünftigen Berufsnotwendigkeiten“ nachgehen und sich lediglich mit einem sehr begrenzten Teilgebiet ihrer wissenschaftlichen Disziplin befassen. Nur eine kleine geistige Elite erhielt demnach die Möglichkeit, an anspruchsvollen „Oberseminaren“ teilzunehmen und auf die Promotion hinzuarbeiten.43 40 Wolfgang Clemen: Universitäten sind schlechte Fachschulen. Was bei einer Hochschulreform nicht vergessen werden sollte (III), in: Die Zeit vom 12.06.1959 und Ders.: Welchen Ansprüchen können Universitäten genügen? Was bei einer Hochschulreform nicht vergessen werden sollte (IV), in: ebd. vom 19.06.1959. Ähnlich bspw. Helmut Schelsky: Die Universitäten als Berufsvorbereitungsanstalten, in: ebd. vom 24.10.1957; Ritter: Die Universität darf nicht Berufsschule; Wolfgang Clemen: Für und wider die akademische Freiheit, in: Die Zeit vom 26.10.1962; Der weiße Traum, in: Der Spiegel vom 22.08.1962; Hans Wenke: Er verbindet Theorie und Praxis. Ein Porträt des „Akademikers“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.05.1963; Georg Picht/Hartmut von Hentig/Heinz Fischer-Wolpert: Dauern Schule und Schulzeit zu lange? Eine Frage und ihre Beantwortung, in: ebd. vom 12.12.1964; Günther von Lojewski: Student auf Zeit, in: ebd. vom 29.07.1965; Lojewski: Das Studium. Vgl. Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik, S. 114. 41 Zur Hochschuldidaktik etwa Peter Hemmerich: Die akademische Vorlesung, in: Die Zeit vom 20.05.1966. 42 Rudloff: Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform, S. 74f. 43 Clemen: Welchen Ansprüchen können Universitäten genügen. Vergleichbare Ideen finden sich bei Raiser: Die Hochschulen drohen vor ihrer; Ritter: Die Universität darf nicht Berufs-

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Solche Gedanken, wie sie seit Ende der 1950er Jahre in der öffentlichen Diskussion zirkulierten, nahm der Wissenschaftsrat auf, als er sich gegen Mitte des Jahrzehnts intensiver mit dem Problem der Studienreform zu beschäftigen begann. Wie schon das Gutachten von 1960 stießen auch die folgenden Empfehlungen auf großes Interesse. Mit der Publikation des Wissenschaftsrats rückte die Debatte über eine Erneuerung des Studiums noch mehr als zuvor in den Fokus einer massenmedialen Öffentlichkeit. Im Juni 1966 legte der Wissenschaftsrat seine Ideen zur Studienreform nach mehrjähriger Arbeit der Öffentlichkeit vor. Auch im Zentrum dieser Reformvorschläge stand der Versuch, einen Mittelweg zwischen dem traditionellen allgemein- und menschenbildenden Studium auf der einen sowie der Universität als reiner „Berufsbildungsstätte“ auf der anderen Seite zu finden. Das „leitende Prinzip“ des Wissenschaftsrats bildete wie bei vielen anderen Diskussionsbeiträgen eine „Differenzierung des Ausbildungszieles in gestuften Studiengängen“.44 Das „Studium für alle Studenten“ sollte durch Studienpläne, Studienberatung oder Zwischenprüfungen stärker gegliedert sein, mit einer berufsqualifizierenden Prüfung abschließen und die Studierenden zu „selbständigen, kritischem Denken“ erziehen. Es ging dem Wissenschaftsrat also ausdrücklich nicht nur um „bloße Wissensvermittlung“ und „Einübung in die Berufsarbeit“. Das „Aufbaustudium“ orientierte sich an dem kleinen Teil der Studierenden, die „an der Forschung interessiert und für sie befähigt“ waren. Dieser Abschnitt entsprach dem bisherigen Anspruch des wissenschaftlichen Studiums. Ein sogenanntes „Kontaktstudium“ sollte Absolventen schließlich die Möglichkeit geben, ihre „wissenschaftliche Ausbildung in Abständen aufzufrischen“ und „entsprechend dem Stand der Forschung zu ergänzen“.45 Anders als die „Empfehlungen“ aus dem Jahr 1960 wurden die neuen Vorschläge des Wissenschaftsrats vor allem an den Hochschulen selbst durchaus kritisch aufgenommen. Teilweise kam es sogar zu polemischen Reaktionen. Insbesondere Geisteswissenschaftler wie – um nur zwei prominenten Namen zu nennen – Alfred Heuß oder Hans-Joachim Schoeps sorgten sich um die traditionellen Werte der „Humboldtschen Universität“, befürchteten eine Aushöhlung der akademischen Freiheit und eine gefährliche „Verschulung“ des Hochschulstudiums.46 schule; Für wen sind unsere Universitäten da?, in: Badische Zeitung vom 12./13.11.1960; Wolfgang Clemen: Warnung vor Fiktionen. Idee und Wirklichkeit auf der Universität, in: Die Zeit vom 08.12.1961; Heinz Theodor Jüchter: Der Einstieg in die Wissenschaft. Studienreform nach den Vorstellungen des Verbandes Deutscher Studentenschaften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.04.1963; Reform der Studien. Worüber zur Zeit debattiert wird, in: ebd. vom 21.03.1964; Karl Korn: Forschung und Lehre trennen? Vorstoß gegen ein geheiligtes Prinzip der deutschen Universitäten, in: ebd. vom 24.02.1965; Gerhard Weise: „Weltrekorde“ deutscher Bildungspolitik, in: Badische Zeitung vom 20.11.1965; Günther von Lojewski: Das Studium. 44 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen, Bonn: o. A., 1966, S. 13–15. 45 Ebd., S. 16. 46 Vgl. Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik, S. 115–118; Rudloff: Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform.

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Dennoch formierte sich gerade in journalistischen Kreisen auch in diesem Fall eine breite Unterstützerfront, die sich öffentlich für die Umsetzung der Reformvorschläge einsetzte. Nina Grunenberg lobte die Empfehlungen des Wissenschaftsrats in der Zeit als „aufsehenerregendes“ Dokument, als „Meilenstein“ der Hochschulreform. Und ihr Kollege Rudolf Walter Leonhardt forderte wider die kritischen Stimmen ausdrücklich dazu auf, am Wissenschaftsrat und seinen Vorschlägen zur Studienreform „festzuhalten“.47 Trotz der lebhaften Diskussion wurden von den Ideen zur Erneuerung des akademischen Studiums nach 1960 lediglich einzelne Elemente verwirklicht. Selbst nachdem sich mit dem Wissenschaftsrat eines der angesehensten wissenschaftspolitischen Gremien dem Problem der Studienreform angenommen hatte, blieb die Reformbilanz bescheiden.48 Wegen des schleppenden Erneuerungsprozesses erwarb sich die deutsche Universität in der breiten Öffentlichkeit sehr schnell den Ruf einer reformunfähigen und reformunwilligen Institution. „Eine Erneuerung der bestehenden Universitäten von innen her“, stellte Rudolf Walter Leonhardt von der Zeit am 22. Februar 1963 fest, halte er nicht mehr für realistisch.49 Auch Leonhardts Kollege Karl Korn von der FAZ hatte nur noch wenig Hoffnung, dass sich die Hochschulen „auf das Notwendige besinnen“, wie er in einem Beitrag vom 24. Februar 1965 bekannte. Schließlich seien nun schon „an die zwanzig Jahre“ ohne wirkliche Reform verstrichen. Nicht nur hatte man offenbar die Chance auf einen Neuanfang nach dem Krieg verpasst. Auch die jüngsten Diskussionen um eine Studienreform schienen wirkungslos zu verpuffen. Nach einigen hoffnungsvollen „Anläufen“ in der letzten Zeit drohte die „innere“ Erneuerung der Universitäten schon wieder zu „versanden“. Auf Vorschläge zur Studienreform, so Korn, reagierten nicht wenige Hochschullehrer mittlerweile mit einer beinahe reflexhaften Abwehrhaltung.50 Die Kritik an der eigenen „Reformunfähigkeit“, die nicht abreißenden Krisendiagnosen und das seit Mitte der 1950er Jahre insgesamt enorm gestiegene öffentliche Interesse gingen an den Hochschulen nicht spurlos vorbei. Der kritischen Beobachtung durch die Massenmedien versuchte man unter anderem mit einer Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit zu begegnen. 47 Grunenberg: Empfehlungen; Rudolf Walter Leonhardt: Am Wissenschaftsrat festhalten, in: Die Zeit vom 20.01.1967. Vgl. Karl Korn: Studienreform durch Planung. Zu den neuen Empfehlungen des Wissenschaftsrats, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.06.1966; Peter Hemmerich: Als nächstes die Prüfungsreform, in: Die Zeit vom 03.03.1967; Wolfram Henckel: Geordnetes Studium oder Paukschule?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.05.1967. 48 Vgl. Rudloff: Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform, S. 77; Olaf Bartz: Bundesrepublikanische Universitätsleitbilder. Blüte und Zerfall des Humboldtianismus, in: Die Hochschule 14 (2005), S. 99–113, S. 108f. 49 Leonhardt: Was gehen uns die Universitäten, Hervorhebung im Original. 50 Karl Korn: Forschung und Lehre trennen?; siehe auch Hans Dichgans: Die akademischen Tabus, in: Die Zeit vom 16.10.1964. Dichgans, Bundestagsabgeordneter für die CDU, attestierte Hochschullehrern einen „archaischen“, mit „emotionalen Tabus“ gespickten „Konservativismus“.

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Akademische Öffentlichkeitsarbeit Die Beziehungen zwischen Universität und Öffentlichkeit waren in Deutschland schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf der Agenda der Hochschulreform aufgetaucht. Dies war zu einem nicht geringen Teil dem Einfluss der Besatzungsmächte – insbesondere Briten und Amerikanern – zu verdanken. Neben „klassischen“ Instrumenten wie öffentlichen Vorträgen spielte unter anderem die Einführung sogenannter „Hochschulbeiräte“ nach angelsächsischem Vorbild eine große Rolle in den Überlegungen der Reformer.51 Das Problem der Öffentlichkeitsarbeit im engeren Sinne wurde zunächst nur sehr vereinzelt thematisiert. Hervorzuheben ist in erster Linie eine „Arbeitstagung“ in Hinterzarten unter Vorsitz des Freiburger Historikers Gerd Tellenbach, die im Jahr 1952 von Hochschulverband, Rektorenkonferenz und der amerikanischen Hohen Kommission in der Bundesrepublik organisiert worden war. Dort hatte sich die Arbeitsgruppe „Hochschule und Öffentlichkeit“ unter anderem für die Einrichtung von Pressestellen ausgesprochen.52 Erst nach 1960 stieg das Interesse an Öffentlichkeitsarbeit bei Universitäten und Wissenschaftsinstitutionen erkennbar an. Allein in der ersten Hälfte der 1960er Jahre hatten sich beispielsweise der Hochschulverband,53 der Verband Deutscher Studentenschaften54 und insbesondere die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) mit diesem Fragenkomplex auseinandergesetzt. In der WRK, der wichtigsten Interessenvertretung der deutschen Hochschulen, stand das Problem der Öffentlichkeitsarbeit zwischen 1963 und 1965 regelmäßig auf der Tagesordnung. Unter anderem konstituierten sich dort verschiedene Arbeitsgruppen, die sich mit den Beziehungen von „Universität und Presse“ oder „Universität, Rundfunk und Fernsehen“ beschäftigen sollten. In den 1960er Jahren stieß das Thema zudem außerhalb des engeren Hochschulbereichs auf Interesse. So veranstaltete das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in den Jahren 1966 und 1967 zwei Tagungen zur „Öffentlichkeitsarbeit an den deutschen Hochschulen“.55 Darüber hinaus erschienen nun zahl51 Vgl. Stefan Paulus: Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976, München: Oldenbourg, 2010, S. 435–438. 52 Gerd Tellenbach: Probleme der deutschen Hochschulen. Die Empfehlungen der Hinterzartener Arbeitstagungen im August 1952, Göttingen: Schwartz, 1953. Vgl. Paulus: Vorbild USA, S. 439f. 53 Ferdinand Ernst Nord: Die Unterrichtung über die Belange der Wissenschaft durch die Presse, in: Mitteilungen des Hochschulverbandes 9 (1961), S. 8–18; Hans-Walter Flemming: Das Verhältnis von Wissenschaft und Presse, in: ebd., S. 19–27; Werner Thieme: Das Verhältnis von Wissenschaft und Presse, in: ebd., S. 28–31; W. Block: Noch einmal „Wissenschaft und Presse“, in: ebd., S. 57–61. 54 Vgl. Henning Escher: Public Relations für wissenschaftliche Hochschulen. Systemtheoretische Grundlegung und exemplarische Modellierung im Wettbewerbsumfeld, München: Hampp, 2001, S. 14; Peter Dehn/Ekkehard Nuissl: Organisationsmodell Hochschulpressestellen, München: Gersbach & Sohn, 1973, S. 35–37. 55 Siehe Zur Öffentlichkeitsarbeit an den deutschen Hochschulen. Zweite Tagung des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung mit Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit der

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reiche Beiträge in den Massenmedien, die sich für eine Verbesserung von public relations im Universitätsbereich stark machten. Gerade in den Beiträgen der Presse fiel immer wieder der starke Bezug zum amerikanischen Vorbild auf, wo die akademische Öffentlichkeitsarbeit – wie man glaubte – deutlich besser ausgebaut war und größere Akzeptanz zu genießen schien als in der Bundesrepublik.56 Die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Beziehungen zwischen Universität und Öffentlichkeit bzw. Universität und Massenmedien seit Beginn der 1960er Jahre war hauptsächlich mit zwei Entwicklungen verbunden.57 Zum einen forderte der omnipräsente und oft sehr kritische Hochschuldiskurs in den Massenmedien eine Reaktion der Hochschulen heraus. Auf der anderen Seite sollte Öffentlichkeitsarbeit dabei helfen, die wachsenden staatlichen Ausgaben – allein der große Plan des Wissenschaftsrats zur Expansion des Hochschulwesens hatte für einen gewaltigen Anstieg gesorgt – zu rechtfertigen bzw. Forderungen nach mehr Geld, sei es aus öffentlichen oder privaten Quellen, zu begründen. Wie Bundespressechef Günter Diehl in einem einleitenden Vortrag zur Tagung des Presseamts im Jahr 1967 feststellte, war der Anteil von Bildungsausgaben an den „Länderbudgets“ in den letzten Jahren stetig angewachsen. Gerade unter diesen Umständen, meinte Diehl, hatten Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht darauf zu erfahren, zu welchem Zweck und mit welchem Ertrag diese öffentlichen Gelder eingesetzt wurden. Im Moment sei es für Außenstehende allerdings geradezu „unmöglich zu durchschauen“, was sich im Innern der deutschen Hochschulen abspielte. Aus diesem Grund musste die „Kommunikation zwischen Universität und Öffentlichkeit“ seiner Meinung nach unbedingt verbessert werden.58 Der bekannte Kölner Ökonom Günter Schmölders, ebenfalls Tagungsteilnehmer in Bonn, näherte sich dem Problem von einer anderen Seite. Schmölders ging es nicht darum, bestehende Ausgaben zu rechtfertigen, sondern um die Frage, wie sich zusätzliche Gelder aufbringen ließen. Öffentlichkeitsarbeit an Hochschulen sollte ihm zufolge nicht länger als „herkömmliche Pressearbeit“ mit den altbekannten Personal- und Veranstaltungsnachrichten praktiziert werden. Stattdessen, so Schmölders, mussten Universitäten die Öffentlichkeit endlich besser über ihre vielfältige Forschungstätigkeit informieren. Nur auf diese Art und Weise deutschen Hochschulen, in: Deutsche Universitätszeitung 23 (1968), S. 29–33. Vgl. Paulus: Vorbild USA, S. 444. 56 Siehe Hans Magnus Enzensberger: Muß Wissenschaft Abrakadabra sein?, in: Die Zeit vom 05.02.1960; Rudolf Walter Leonhardt: Wer macht Wissenschaft begreifbar?, in: ebd. vom 06.05.1960; Thomas von Randow: Wer kauft schon die Katze im Sack?, in: ebd. vom 14.12.1962; Ders.: Der goldene Westen lockt, in: ebd. vom 15.03.1963; Hans Paul Bahrdt: Gelehrte müssen sich verständlich machen. Wo Spezialisten ihre eigene Sprache haben, versagt die Demokratie, in: ebd. vom 13.03.1964; Peter Hemmerich: Wer dient wem in der Populärwissenschaft, in: ebd. vom 18.09.1964; Thomas von Randow: Klagen bringt kein Geld ein. Unsere Universitäten vernachlässigen die Öffentlichkeitsarbeit, in: ebd. vom 08.10.1965; Schweigsame Universität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.12.1967. Vgl. für die „Amerikanisierung“ der deutschen Universitäten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit Paulus: Vorbild USA, S. 438–445. 57 Vgl. Paulus: Vorbild USA, S. 440f. 58 Zur Öffentlichkeitsarbeit an den deutschen 1968, S. 29f.

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konnte man seiner Meinung nach die „Politik“ überzeugen, mehr Geld für das Hochschulwesen zu investieren. Schmölders plädierte deshalb eindringlich für eine „arbeitsfähige Institutionalisierung“ von akademischer Öffentlichkeitsarbeit und – zu diesem Zweck – für die Einsetzung professioneller Pressereferenten.59 Dass die Einnahmen von Hochschulen mit ihren Anstrengungen auf dem Gebiet der public relations korrelierten, konnte nicht nur auf den öffentlichen Sektor, sondern auch auf private Finanzierungsquellen bezogen werden. So stellte der Wissenschaftsjournalist Thomas von Randow in der Zeit vom 14. Dezember 1962 desillusioniert fest, dass die private Förderung von Forschung und Lehre in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien deutlich besser funktionierte als in der Bundesrepublik. Eine neue Untersuchung, die vom Stifterverband erst kürzlich unter dem Titel Wissenschaft verkauft sich schwer publiziert worden war, habe diese Einsicht noch einmal deutlich untermauert. Der Durchschnittsbetrag, den die deutschen Fördergesellschaften für jede Hochschule aufbrachten, mutete nach Meinung des Wissenschaftsjournalisten im Vergleich zu anderen Nationen geradezu „lächerlich“ an. Der Grund für die erheblichen Unterschiede lag für ihn nicht zuletzt in der viel ausgeprägteren Öffentlichkeitsarbeit an den Universitäten im angloamerikanischen Raum. Jede bessere Hochschule, so von Randow, besaß dort eine Abteilung für public relations, um auf diesem Weg eine größere Öffentlichkeit über Forschungsarbeit auf dem Laufenden zu halten. In Deutschland war dies nicht der Fall. Den in der Forschungsförderung nur wenig engagierten Wirtschaftsunternehmen in der Bundesrepublik konnte man also überhaupt keinen Vorwurf machen. Denn: Wer war schon bereit, die „Katze im Sack“ zu kaufen? Wenn sich die deutsche Forschung der Öffentlichkeit gegenüber weiterhin in Schweigen hüllte, prophezeite der Wissenschaftsjournalist, dann würden in naher Zukunft auch noch die letzten privaten Förderungsquellen versiegen.60 Drei Jahre später wiederholte von Randow seine Argumentation in einem weiteren Zeit-Artikel, erörterte nun aber noch die Möglichkeiten zu konkreten Gegenmaßnahmen. Der Journalist, der in den 1950er Jahren selbst eine längere Zeit als Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology in Boston verbracht hatte, plädierte eindringlich für die Einrichtung von „Public RelationsAbteilungen“ nach amerikanischem Muster an deutschen Universitäten. Denn nicht mit Klagen über den „Bildungsnotstand“ lockte man in seinen Augen „den Leuten das Geld aus der Tasche“, sondern mit „Erfolgsmeldungen“.61 Das neu erwachte Interesse an public relations hing also maßgeblich mit dem Problem der Hochschul- und Forschungsfinanzierung zusammen. Initiativen von Hochschulen und Hochschullehrern für eine Verbesserung der Öffentlichkeits59 Ebd., S. 30f. 60 Randow: Wer kauft schon die Katze. Vgl. Bahrdt: Gelehrte müssen sich verständlich machen. Nach Meinung des Soziologen Bahrdt war die „knickerige“ Forschungsförderung in der Bundesrepublik u.a. auf eine mangelnde Außendarstellung der Wissenschaft und der Wissenschaftler zurückzuführen. 61 Randow: Klagen bringt kein Geld.

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arbeit zielten aber auch darauf ab, der neuen Sensibilität von Presse, Funk und Fernsehen für Universitätsprobleme zu begegnen und vor allem auch dem kritischen Bild entgegenzutreten, das die Berichterstattung in den Massenmedien zu dieser Zeit bestimmte. Die Aktivitäten der WRK nach 1960 machten diesen Zusammenhang besonders deutlich. Während der 50. Versammlung der WRK im Jahr 1963 stand die Thematik erstmals auf der Tagesordnung. Das „öffentliche publizistische Urteil“ über die deutschen Hochschulen, hielten die Rektoren bei ihrem Treffen in München fest, hatte sich bereits „seit geraumer Zeit“ verschlechtert. Unter anderem, hieß es, wurde den Universitäten eine chronische „Reformunwilligkeit“ zum Vorwurf gemacht.62 Eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit sollte dabei helfen, die krisenhafte Wahrnehmung der deutschen Universitäten zu ändern, vermeintlich falsche oder verzerrte Darstellungen zu korrigieren, aber auch eigene Anliegen besser zur Geltung zu bringen.63 Das institutionelle Zentrum akademischer Öffentlichkeitsarbeit sollten Hochschulpressestellen werden, die zu dieser Zeit fast überall schon bestanden, aber unbedingt ausgebaut und besser ausgestattet werden mussten. So brachte die WRK in den Jahren 1964 und 1965 mehrfach die Forderung vor, Planstellen für „qualifizierte“, d. h. journalistisch oder publizistisch geschulte Pressereferenten zu schaffen. Zur Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit hielt es die Konferenz darüber hinaus für notwendig, die „personelle Besetzung der Rektorate“ zu erweitern. Diese Forderungen sollten den Kultusministerien nahe gebracht und in die neuen Empfehlungen des Wissenschaftsrats einbezogen werden. Die Rektoren wollten sich außerdem darum bemühen, die Parlamente ebenso wie die Gründungsausschüsse der neuen Hochschulen von der „Dringlichkeit des Ausbaues der Öffentlichkeitsarbeit“ zu überzeugen.64 Die Wünsche der Rektorenkonferenz gingen zunächst nur teilweise in Erfüllung. An den Hochschulen der Bundesrepublik setzte zwar schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in der Tat ein Ausbau von Pressestellen und ähnlichen Einrichtungen ein. Eine Professionalisierung akademischer Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland und ihre Berücksichtigung in staatlichen Haushalten begann sich

62 Westdeutsche Rektorenkonferenz: Universität und Presse. 50. WRK, München, 12. Juli 1963, in: Dies.: Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Bonn-Bad Godesberg: Carthaus, 1964, S. 172. Ähnlich: Westdeutsche Rektorenkonferenz: Pressemandat des Präsidenten der WRK. 40. Länderausschuß der WRK, 20. 11. 1964, in: Dies.: Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Bonn-Bad Godesberg: Carthaus, 1965, S. 292. 63 Siehe etwa: Westdeutsche Rektorenkonferenz: Bericht des Präsidenten, Professor Dr. jur. R. Sieverts, Prorektor der Universität Hamburg, über seine Amtszeit vom 16. Oktober 1964– Februar 1965 vor der 53. Plenarversammlung der WRK in Würzburg am 03.02.1965, in: Dies.: Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Bonn-Bad Godesberg: Carthaus, 1965, S. 17. 64 Westdeutsche Rektorenkonferenz: Einrichtung von Pressestellen an den Wissenschaftlichen Hochschulen, in: Dies.: Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Bonn-Bad Godesberg: Carthaus,1965, S. 291f.

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jedoch erst einige Jahre später im Schatten der Studentenproteste von „1968“ abzuzeichnen.65 Fazit In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre traten die Beziehungen von Universität und Öffentlichkeit in eine neue Phase ein. Eine so intensive und dauerhafte Beobachtung der deutschen Hochschulen in den Massenmedien hatte man bis dahin – zumindest in den Jahren nach dem Krieg – nicht gekannt. Die Ausbreitung des Hochschulthemas in der Presse verwies auf die wachsende gesellschaftliche Bedeutung von Wissenschaft und Bildung in der Zeit um 1960 und hat diese Entwicklung gleichzeitig selbst weiter angetrieben. Die Berichterstattung entwarf Bilder einer Universität in der Krise, einer Universität am Rand der Katastrophe, vermittelte aber immer wieder auch Ideen von einer möglichen Universität der Zukunft. Der Diskurs war reformorientiert und aktivistisch. Viele Zeitungsbeiträge versuchten nicht nur zu informieren, sondern – zum Teil ganz explizit – auch zu mobilisieren und mit publizistischen Mitteln politischen Druck zu entfachen. Ein Ausbau der Hochschulen ist nach 1960 in großem Maßstab erfolgt, eine Reform des Studiums höchstens in Ansätzen. Ob die Expansion der 1960er Jahre mit der Medienpräsenz der Universität in Verbindung stand, ist schwer zu belegen. Aber durch die ständige mediale Beobachtung wurde zumindest eine symbolische Ressource erzeugt, auf die Reformer in der Politik und an den Hochschulen im Kampf für ihre Sache zugreifen konnten. Eines hat die mediale Präsenz der Universitäten in jedem Fall mit angestoßen: Hochschulen und Hochschullehrer waren unter dem Eindruck des wachsenden öffentlichen Interesses dazu gezwungen, sich mit den Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit zu beschäftigen. Bis zu den heutigen Abteilungen für public relations und „Hochschulmarketing“ mit ihren bunten Wissenschaftsmagazinen, Internet-Auftritten und „Uni-Shops“ war es noch ein weiter Weg. Doch das Fundament für eine Professionalisierung von Öffentlichkeitsarbeit im Universitätssektor wurde in den 1960er Jahren gelegt.

65 Zeitgenössisch bereits Klaus-Peter Möller: Die Pressestellen der deutschen Hochschulen, Heidelberg: Selbstverlag der Hochschulgesellschaft, 1970 und Dehn/Nuissl: Organisationsmodell Hochschulpressestellen. Vgl. den kurzen historischen Abriss bei Escher: Public Relations für wissenschaftliche Hochschulen, S. 9–20 sowie Paulus: Vorbild USA, S. 441–446.

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Liberalisierung der Gesellschaft durch Bildungsreform: Ralf Dahrendorf zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in den 1960er Jahren Franziska Meifort Im Sommer 1966 wurden an der Reformuniversität Konstanz die ersten Studenten begrüßt. Über ein Drittel der überschaubaren Zahl von 55 neuimmatrikulierten Männern und Frauen hatte sich für das „Modefach“ Soziologie entschieden.1 Der Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf, einer der Mitbegründer der Universität und selbst frischgebackener Konstanzer Lehrstuhlinhaber, wählte für seine Antrittsvorlesung ein grundsätzliches Thema. In seinen Überlegungen über Die Soziologie und der Soziologe erklärte er seinen zukünftigen Studenten: Es ist Sache des Soziologen, zu bedenken, wie eine moderne, offene, zivilisierte Gesellschaft aussehen kann und welche Wege zu ihr führen. Das ist das Problem der Theorie. Es ist aber auch Sache des Soziologen, ausgerüstet mit seinen Theorien in den Prozeß der Veränderung der Wirklichkeit hineinzugehen und dazu beizutragen, daß das Vernünftige wirklich wird. Das ist die Frage der Praxis. Für ihre Beantwortung vorzubereiten, ist auch eine Aufgabe der Universität.2

Mit diesen Worten machte Dahrendorf deutlich, dass für ihn die Wissenschaft und insbesondere die Soziologie immer auch einen Imperativ zum konkreten Handeln implizierte. Die neue Universität sollte nicht nur die theoretische Ausbildung leisten, sondern die Studenten auf die Praxis und somit auf die Anwendung ihrer Erkenntnisse vorbereiten, damit sie als Soziologen „ein Ferment der Unruhe in einer selbstzufriedenen unzulänglichen Gesellschaft“ blieben und die Universität so beginnen könne, „die große Transformation in eine moderne, freie und zivilisierte Gesellschaft in Gang zu setzen.“3 Dieses Verständnis von der Universität als einem Ort, von dem die Veränderung der Gesellschaft ausgehen könnte und sollte, war ein Ergebnis von Dahrendorfs Erfahrungen mit der Verbindung von Bildungsforschung, Bildungsplanung und Bildungspolitik in Baden-Württemberg. Dort hatte er sich mit seinen Veröffentlichungen zur Bildungsforschung seit den frühen 1960er Jahren einen Namen als Bildungsexperte gemacht, was zu seiner Nominierung für politische Gremien wie den Deutschen Bildungsrat und den Beirat für Bildungsforschung in BadenWürttemberg geführt hatte. Zugleich agierte Dahrendorf als öffentlicher Intellek1 2 3

Für das Fach Soziologie immatrikulierten sich 21 der 37 Männer und 18 Frauen, die ihr Studium zum Gründungssemester 1966/67 aufnahmen. Vgl. Wovon andere träumen, in: Konstanzer Universitätszeitschrift uni’kon, 23.2006, S. 33. Ralf Dahrendorf: Die Soziologie und der Soziologe. Zur Frage von Theorie und Praxis, Konstanzer Universitätsreden, Konstanz: Universitätsverlag, 1967, S. 27. Ebd., S. 28.

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tueller, indem er sich in Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehkommentaren sowie öffentlichen Vorträgen mit gesellschaftspolitischen Stellungnahmen an ein breites Publikum wandte. Die gleichzeitige Betätigung in Wissenschaft und Öffentlichkeit war für Dahrendorf kein Widerspruch. Nicht zuletzt aufgrund seiner Publikationen und seines medienwirksamen Auftretens wurde und wird er bis heute als Protagonist der Bildungs- und Hochschulreformen und des deutschen Demokratisierungsdiskurses in den 1960er Jahren wahrgenommen. Indes ist eine nähere wissenschaftliche Untersuchung von Dahrendorfs Engagement als Bildungsreformer bisher ausgeblieben. Die 1960er Jahre stellen für die Betrachtung des Verhältnisses von Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik nach 1945 ein Scharnierjahrzehnt dar. Diese Jahre des soziokulturellen Wandels, der Liberalisierung und Demokratisierung von Gesellschaft und Öffentlichkeit waren zugleich die Zeit, in der die Notwendigkeit einer Bildungs- und Hochschulreform zum allgemeinen Konsens in Politik und Hochschulen wurde.4 Dahrendorfs Forderung nach einer Veränderung der Institutionen und der Institutionalisierung von politischer Öffentlichkeit war Teil dieses Zeitgeistes. Im Jahr 1965 erschienen gleich zwei Publikationen aus Dahrendorfs Feder, die einen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Diskussion haben sollten: eine Analyse der deutschen Gesellschaft – Gesellschaft und Demokratie in Deutschland – und ein Plädoyer für eine Bildungsreform – Bildung ist Bürgerrecht. Mit seinem Werk Gesellschaft und Demokratie in Deutschland stieß Dahrendorf die Diskussion um die Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik an, während sich der Titel Bildung ist Bürgerrecht bald zu einem Schlagwort in der Bildungsdebatte entwickelte. Anhand eines akteurzentrierten Ansatzes soll im Folgenden untersucht werden, wie Dahrendorf sich als Universitätsprofessor zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit verhielt und welche Wege und Mittel er nutzte, um seiner Forderung nach Demokratisierung, Liberalisierung der Gesellschaft sowie einer Bildungsreform Gehör zu verschaffen. Nach Dahrendorfs Überzeugung war es notwendig, Theorie und Praxis – und das heißt zugleich auch Wissenschaft und Politik – miteinander zu verknüpfen, um die Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Um sein Ziel zu erreichen, versuchte Dahrendorf auf zweierlei Art Einfluss

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Zum Prozess Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik von den späten 1950er bis in die 1960er Jahre vgl. v. a. Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein, 2002 sowie Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart, München: Siedler, 2009, insbes. S. 259–289. Zur Veränderung der Medienöffentlichkeit vgl. Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit, 1945–1973, Göttingen: Wallstein, 2006 sowie Nina Verheyen: Diskussionslust: Eine Kulturgeschichte des „besseren Arguments“ in Westdeutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010.

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zu nehmen: zum einen über die Präsenz in der Öffentlichkeit5 und zum anderen durch die direkte Politikberatung und Mitwirkung an hochschulpolitischen Entscheidungen. Zunächst sollen dazu Dahrendorfs einflussreiche Publikationen Gesellschaft und Demokratie in Deutschland und Bildung ist Bürgerrecht vorgestellt werden, um das theoretische Fundament von Dahrendorfs aktivem Engagement in der Bildungspolitik darzulegen. Dabei soll insbesondere sein Leitgedanke einer liberalen Gesellschaft, die sich durch einen chancengleichen Zugang zur Bildung auszeichnet, hervorgehoben werden. Dies lässt sich nur im Zusammengang beider Publikationen verdeutlichen. Im Anschluss wird näher auf Dahrendorfs Tätigkeit in der Bildungsforschung an der Universität Tübingen eingegangen, aus der letztlich auch die politische Beratung der Landesregierung Kiesinger einschließlich des Hochschulgesamtplans für Baden-Württemberg und seine Beteiligung an der Gründung der Universität Konstanz hervorgingen. In der Zusammenschau wird gezeigt, wie eben diese Bereiche, in denen Dahrendorf sich engagierte und die verschiedenen Einflusskanäle, die er nutzte, interagierten. Schließlich soll sein Handlungsspektrum als Grenzgänger zwischen den Welten von Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden. Theorie einer liberalen Gesellschaft: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland Jürgen Habermas hat Dahrendorfs „Deutschland-Buch“ Gesellschaft und Demokratie in Deutschland als „wahrscheinlich der wichtigste mentalitätsbildende Traktat auf dem langen Weg der Bundesrepublik zu sich selbst“6 bezeichnet. Grund dafür ist, dass Dahrendorf mit diesem Buch die Leitmotive des Demokratisierungsdiskurses formulierte, der die 1960er Jahre dominieren sollte: zum einen die Diagnose eines strukturellen Demokratiedefizits in Deutschland, das auf verkrusteten Autoritätsstrukturen beruhte, und zum anderen das Argument für die Ausweitung der Demokratie von den Institutionen hinein in die Gesellschaft. In Gesellschaft und Demokratie stellte Dahrendorf die „deutsche Frage“, die für ihn nicht etwa die Frage nach der nationalen und territorialen Einheit Deutschlands oder nach einem wie auch immer gearteten „Deutschtum“ war, sondern „die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland“.7 Warum also hatte sich Deutschland in der Vergangenheit mit der liberalen Demokratie so schwer getan und tat es – nach Ansicht Dahrendorfs – noch immer? Aus dieser Frage entwickelte er politisch-programmatisch eine zweite Frage: Was muss getan 5 6 7

Öffentlichkeit wird hier nach von Hodenberg als selbstreferenzielles Medium einer Gesellschaft verstanden, in dessen Arena „kollektive Deutungsmuster generiert, Werte ausgehandelt und Interessenskonflikte ausgetragen werden“, vgl. Hodenberg: Konsens und Krise, S. 17. Jürgen Habermas: Jahrgang 1929, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.05.2009. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Pieper, 1965, S. 39.

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werden, damit sich auch in Deutschland das Prinzip der liberalen Demokratie durchsetzen kann?8 Die erschwerten Bedingungen für die liberale Demokratie in Deutschland erklärte Dahrendorf aus der Geschichte. Er beschrieb Deutschland mit Bezug auf Helmuth Plessner als „verspätete Nation“, deren Industrialisierung später, dafür aber schneller und gründlicher erfolgt sei als in England und Frankreich. Dabei diagnostizierte er ein Übermaß an staatlicher Intervention bei gleichzeitig weniger stark ausgeprägtem Kapitalismus und Liberalismus als in den Nachbarländern. Symptomatisch dafür war nach Dahrendorf, dass in der deutschen Gesellschaft feudale Strukturen überdauerten und sich keine selbstbewusste Bourgeoisie ausbildete. Demnach hätte die Sehnsucht nach staatlicher Einhegung als Kontinuum vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in den Nationalsozialismus Bestand gehabt und so die Liberalisierung der Gesellschaft verhindert. Nach Dahrendorf hatte die Gleichschaltung im „Dritten Reich“ zur Aufhebung traditioneller Bindungen wie Familie und Religion geführt und gleichzeitig die Macht von Institutionen wie Parteien und Vereinen sowie der alten Eliten eingeschränkt. Das totalitäre Regime der Nationalsozialisten habe somit durch die Aufhebung vormoderner Strukturen eine unbeabsichtigte Modernisierung der deutschen Gesellschaft herbeigeführt.9 Die totale Niederlage von 1945 habe schließlich die Neugründung der staatlichen Institutionen ermöglicht. Erst durch diesen Prozess sei die Voraussetzung für den liberalen Staat der Bundesrepublik erfüllt gewesen.10 Dahrendorf kombinierte seine Analyse der „Hemmnisse der liberalen Demokratie in Deutschland“ mit einem programmatischen Impetus, indem er die Voraussetzungen benannte, unter denen sich das „liberale Prinzip“ in einer Gesellschaft durchsetzen kann.11 Dies war für ihn das Fundament einer soziologischen Theorie der Demokratie, die er mit seinem Buch vorlegen wollte. Neben der Forderung nach einer gesellschaftlichen Elite, welche die Vielfalt der sozialen 8 9

Ebd., S. 39. Dahrendorfs These der unbeabsichtigten Modernisierung durch den Nationalsozialismus hatte großen Einfluss auf die Historische Sozialwissenschaft, wobei manche Schwächen dieser Analyse lange ignoriert wurden. Vor allem sei hier die kritiklose Übernahme der nationalsozialistischen Gleichschaltungspropaganda genannt. Eine Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft hatte in den Jahren nach 1933 weder allumfassend stattgefunden, noch schloss sie verfolgte Bevölkerungsgruppen ein, die von den Nationalsozialisten freilich nicht als Teil des „deutschen Volkskörpers“ angesehen wurden. Dahrendorfs Analyse muss daher immer unter dem Vorbehalt gelesen werden, dass die Entrechtung von Bevölkerungsgruppen keine Modernisierung für eine Gesellschaft bedeuten kann. Zum Einfluss von Gesellschaft und Demokratie auf die Geschichtswissenschaft vgl. Michael Prinz: Ralf Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie“ als epochenübergreifende Interpretation des Nationalsozialismus, in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn: Schöningh, 1996, S. 755–777. 10 Vgl. Jens Hacke: Pathologie der Gesellschaft und liberale Vision. Ralf Dahrendorfs Erkundung der deutschen Demokratie, in: Zeitgeschichte-online, Zeithistorische Forschungen, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Hacke-2-2004, Zugriff am 15.07.2012. 11 Dahrendorf: Gesellschaft, S. 25f.

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Interessen der Gesellschaft widerspiegelt, sowie nach öffentlichen Tugenden als vorherrschende Wertorientierung waren für Dahrendorf vor allem bürgerliche Gleichheitsrechte und die Zulassung und Regelung von Konflikten entscheidende Kriterien einer liberalen Gesellschaft. Die Forderung nach der Anerkennung von Konflikten war in der PostAdenauer-Ära, in der sich viele Bürger eine Große Koalition und weniger Streit im Parlament wünschten und in der die Zeitkritik gerade erst begonnen hatte, den Konsensjournalismus abzulösen, alles andere als eine Selbstverständlichkeit.12 Mit seinen Aussagen „Konflikt ist Freiheit“ und „Liberale Demokratie ist Regierung durch Konflikt“13 plädierte Dahrendorf für eine positive Auffassung von Konflikten in der Gesellschaft. Den in einer Gesellschaft unvermeidlich existenten Interessenkonflikten müsse mit institutioneller Kanalisierung begegnet werden, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern.14 Zugleich kritisierte Dahrendorf utopische Vorstellungen einer konfliktfreien Gesellschaft. Diese waren für ihn zum Scheitern verurteilt, da sie lediglich zur Unterdrückung von Spannungen führten, welche als Konsequenz umso gewaltsamer hervorbrächen. Konflikt zuzulassen hieße hingegen, unterschiedliche Meinungen und Interessen zu akzeptieren. Konflikt ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewißheit angemessen Ausdruck finden kann.15

Für Dahrendorf war der Konflikt Antriebskraft des Wandels16 und als solcher Stimulus der von ihm geforderten Modernisierung. Ohne Konflikt, davon war er überzeugt, entstünde politischer und wirtschaftlicher Stillstand. Als weitere Bedingung für eine moderne Gesellschaft nannte Dahrendorf die Gewährleistung eines grundlegenden Bürgerstatus. Dieser sollte allen Menschen in einer Gesellschaft, unabhängig von überlieferten Abhängigkeitsverhältnissen, die gleichen Grundrechte garantieren. Dahrendorf postulierte, daß in der liberalen Demokratie jeder mitzählt, jeder teilnehmen kann und jeder das Recht hat, den Spielraum seiner Existenz gegen die Ansprüche der anderen, der Institutionen und des Staates zu sichern.17

Bürgerliche Gleichheitsrechte waren für Dahrendorf vor allem gleiche Rechte zur Partizipation an der Gesellschaft als mündiger Staatsbürger. „Bürgerrechte sind Teilnahmechancen“,18 schrieb Dahrendorf und unterstrich damit die Notwendig-

12 Zur zunehmenden Politisierung der Medienöffentlichkeit von den 1950er zu den 1960er Jahren und dem Begriff „Konsensjournalismus“ vgl. Hodenberg: Konsens und Krise, insbesondere S. 183–228. 13 Dahrendorf: Gesellschaft, S. 174. 14 Ebd., S. 171. 15 Ebd., S. 174 16 Ebd., S. 173. 17 Ebd., S. 81. 18 Ebd., S. 79, Hervorhebung der Verfasserin.

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keit der Rolle des Staatsbürgers, die Entfaltung der eigenen Person zu ermöglichen. Gleiche Bürgerrechte sind nicht das gleiche wie die Gleichheit des sozialen Status oder gar des sozialen Charakters. Bürgerrechte betreffen als Element der Gleichheit immer nur die Chancen der Teilnahme, nicht deren Form oder Ergebnis.19

Dahrendorfs historisch-soziologische Analyse der deutschen Gesellschaft erreichte ein ungewöhnlich großes Publikum. Drei Jahre nach der Ersterscheinung hatte Gesellschaft und Demokratie mit einer Auflagenzahl von 36.000 gedruckten und rund 12.500 verkauften Exemplaren längst den Status eines wissenschaftlichen Bestsellers erreicht.20 Die breite Rezeption des Werks, die weit über das wissenschaftliche Publikum hinaus reichte, lässt sich auch an den zahlreichen Zuschriften, die Dahrendorf erhielt, ablesen.21 Arnulf Baring war gar überzeugt: „Wer in Deutschland lebt und dies Werk nicht kennt, kann künftig nicht mitreden.“22 Jürgen Habermas rezensierte Gesellschaft und Demokratie für den Spiegel und zeigte sich beeindruckt von Dahrendorfs Mut zur Verbindung von „engagierter Wissenschaft und politischer Schriftstellerei“. Er bemerkte jedoch auch die Grenzen dieser Methode, nämlich die Unvermeidlichkeit von Oberflächlichkeit und Verallgemeinerungen, da Dahrendorf „mit einer Handvoll globaler Annahmen und informierter Vereinfachungen der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen im Deutschland der letzten hundert Jahre zu Leibe“ rücke.23 Habermas stellte in seinem Artikel eine Erkenntnis von Dahrendorfs Analyse der deutschen Modernisierung heraus, die auch für viele andere Leser der entscheidende Aspekt der Charakterisierung der deutschen Gesellschaft im Jahr 1965 war, nämlich die Diskrepanz zwischen institutioneller und gesellschaftlicher Demokratisierung und Liberalisierung in der Bundesrepublik: Zunächst bleiben die Garantien der staatsbürgerlichen Gleichheit unvollständig oder haben nur eine formale Geltung. In ihrer modernisierten Welt leben die Deutschen als unmoderne Menschen.24

So ist auch für den Historiker Moritz Scheibe die Forderung nach der „Ausweitung der Demokratie über die staatlichen Institutionen und Verfahren hinaus auf

19 Ebd., S. 80. 20 Piper-Verlag an Ralf Dahrendorf, Brief vom 25.03.1968, Bundesarchiv (BArch), N 1749, Bd. 166. 21 Dokumentiert in der Korrespondenz des Nachlasses Dahrendorf im Bundesarchiv Koblenz: BArch, N 1749, Bd. 42, 43 und 48. 22 Arnulf Baring: Über die Demokratie in Deutschland. Besprechung von: Ralf Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Piper Verlag. München. 28 DM, Sendung am 01.12.1965, 22:15–22:30 Uhr, WDR, II. Programm. Sendemanuskript, BArch, N 1749, Bd. 191. 23 Jürgen Habermas: Die verzögerte Moderne, in: Der Spiegel vom 29.12.1965, S. 87–88. 24 Ebd., S. 88.

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die Gesellschaft“ in Gesellschaft und Demokratie ein entscheidender Punkt von Dahrendorfs Beitrag zum Demokratisierungsdiskurs der 1960er Jahre.25 Eine These Dahrendorfs ist hier besonders hervorzuheben: Der gleichberechtigte Zugang zur Bildung war für ihn Voraussetzung für die soziale Rolle des Staatsbürgers, welche wiederum Bedingung für die liberale Demokratie war.26 In der Folge betonte Dahrendorf die Notwendigkeit, den in der Bundesrepublik bestehenden Mangel an Chancengleichheit insbesondere im Bildungssystem zu beheben – ein Thema, dem er sein zweites Buch aus dem Jahr 1965 widmete: Bildung ist Bürgerrecht. Handlungsanweisung zur aktiven Bildungspolitik: Bildung ist Bürgerrecht In der programmatischen Schrift, die dem Verfasser zufolge eine „Mischung von Theorie, Argument und Programm“27 sein sollte, entwickelte Dahrendorf vor dem Hintergrund der Bildungsforschung, die er an der Universität Tübingen betrieb, Ansatzpunkte für eine „aktive Bildungspolitik“. Dahrendorfs Thesen wurden zunächst im November und Dezember 1965 als mehrteilige Artikelserie in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht,28 um noch im selben Jahr in Buchform zu erscheinen. Durch diese zweifache Publikation waren Dahrendorfs Thesen zur Bildungspolitik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, die weit über die Fachwelt hinausreichte. Etwa anderthalb Jahre zuvor hatte der Religionsphilosoph und Pädagoge Georg Picht bereits mit seiner These von der „deutschen Bildungskatastrophe“ in Christ und Welt für Aufsehen gesorgt. Picht forderte auf Grundlage des prognostizierten Facharbeiter- und Lehrermangels ein bildungspolitisches „Notstandsprogramm“.29 Das damals für viele ebenso eingängige wie alarmierende Argument Pichts war, dass die derzeitige Summe aller Hochschulabgänger etwa der Zahl der bis 1970 benötigten Lehrer entspräche. Nach dieser Rechnung hätten sämtliche 25 Moritz Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945– 1980, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 245–277, hier S. 252. 26 Dahrendorf: Gesellschaft, S. 90. 27 Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg: Nannen, 1965, S. 8. 28 Ralf Dahrendorf: Aktive Bildungspolitik ist ein Gebot der Bürgerrechte. Motive des Wandels, in: Die Zeit vom 12.11.1965, S. 24; Ders.: Die Schulfeindlichkeit der Praktiker. Aktive Bildungspolitik bedeutet Expansion des Bildungswesens. Ziele des Wandels, in: Die Zeit vom 19.11.1965, S. 17; Ders.: Gewollte Unmündigkeit. Reform verlangt die Modernisierung der Gesellschaft. Der Übergang zu weiterführenden Schulen, Die Zeit vom 26.11.1965, S. 24; Ders.: Schul- und Universitätsmüdigkeit. Die Schwelle zur Reform ist niedrig. Erste Schritte, in: Die Zeit vom 10.12.1965, S. 18; Ders.: Ist ein Bundes-Kultusminister nötig? Der Weg zur Reform ist lang. Bildungsforschung, Bildungsplanung, Bildungspolitik, in: Die Zeit vom 17.12.1965, S. 18. 29 Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten: WalterVerlag, 1964.

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Hochschulabsolventen Lehrer werden müssen, um den vorausgesagten Bildungsnotstand abzuwenden.30 In der ersten Hälfte der 1960er Jahre wurde das deutsche Bildungswesen mehr und mehr zu einem bestimmenden Thema in Politik und Öffentlichkeit. Nicht zuletzt durch die Schriften von Ralf Dahrendorf, Georg Picht, Friedrich Edding, Hildegard Hamm-Brücher und weiteren Mitstreitern der Bildungsreform führte dieser Diskurs schließlich zu der Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre. In der Debatte wurde vor allem der Rückstand des deutschen Bildungssystems gegenüber jenem anderer Länder bemängelt.31 Häufig wurden wirtschaftliche Gründe für die Notwendigkeit einer Bildungsreform angeführt. Georg Picht etwa warnte mit der Aussage „Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand“32 vor dem drohenden Rückgang der internationalen Konkurrenzfähigkeit Westdeutschlands – ein Argument, das auch der Berliner Bildungsökonom Friedrich Edding unterschrieb.33 Eine geplante „Bildungsrevolution“34 sei nötig, befand Dahrendorf in Bildung ist Bürgerrecht, um die Missstände im deutschen Bildungswesen zu beheben. Seine wichtigste Forderung war die Expansion des Bildungswesens, die er vor allem durch die Erhöhung der Abiturientenzahlen erreichen wollte.35 Wie er durch empirische Studien zur Abhängigkeit des Bildungsabschlusses vom Elternhaus belegen konnte, hatten begabte Kinder aus bildungsfernen Schichten nahezu keine Chance, das Gymnasium zu besuchen und verließen es zudem überdurchschnittlich häufig ohne Abitur. Insbesondere Landkinder, Arbeiterkinder und Mädchen waren nach Dahrendorfs Studien von diesem Schicksal betroffen.36 Das von Dahrendorf als besonders chancenlos identifizierte „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ wurde zum Sinnbild der vom Bildungssystem benachteiligten Schülerin.

30 Ebd., S. 20–22. 31 Dazu trug auch eine OECD-Studie von 1961 bei, welche die deutsche Rückständigkeit gegenüber anderen Ländern offenlegte. Vgl. Wirtschaftswachstum und Ausbau des Erziehungswesens. OECD-Konferenz in Washington, 16.–20. Oktober 1961, deutsche Kurzfassung der Arbeitsunterlagen, Bonn: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder, 1962. 32 Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe, S. 17. 33 Friedrich Edding: Ökonomie des Bildungswesens. Lehren und Lernen als Haushalt und als Investition, Freiburg i. Br.: Rombach, 1963. 34 Dahrendorf: Bildung, S. 9 u. 10. 35 Für Dahrendorf waren die Abiturientenzahlen wichtiger Indikator für den Erfolg eines Bildungssystems. Die Erhöhung der Abiturientenzahlen, die auch von Picht gefordert worden war, sollte dazu führen, dass künftig 20% eines Jahrgangs Abitur machten und 10% einen Hochschulabschluss erlangten, Dahrendorf: Bildung, S. 30f. u. S. 136. Zur Orientierung: Im Jahr 2012 meldete das Statistische Bundesamt in Wiesbaden, dass 43% der 20- bis 29-jährigen die (Fach-)Hochschulreife erreicht hätten. Vgl. Statistisches Bundesamt Wiesbaden: Jeder Vierte in Deutschland hat Abitur. Pressemitteilung vom 14.02.2012 (https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2012/PD12_007_p 002pdf.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff am 15.07.2012). 36 Dahrendorf: Bildung, S. 65.

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Die Hauptansatzpunkte einer aktiven Bildungspolitik, wie Dahrendorf sie vorschlug, sahen vor, den Übergang zu den weiterführenden Schulen zu erleichtern, die Zahl der vorzeitigen Abgänge von den Gymnasien zu reduzieren und die Hochschulen zu reformieren. Eine Hochschulreform sah Dahrendorf als notwendig an, um dem prognostizierten Studierendenzuwachs durch Verkürzung des Studiums zu begegnen.37 Drei Aspekte der Thesen Dahrendorfs sollen im Folgenden beleuchtet werden: die Formulierung eines Bürgerrechts auf Bildung, die bildungssoziologische Argumentation und die Forderung nach einer fruchtbaren Verbindung von Wissenschaft und Politik. Erstens setzte sich Dahrendorf argumentativ von anderen Bildungstheoretikern wie Georg Picht und Friedrich Edding ab, indem er ökonomische Beweggründe als zweitrangig gegenüber der Idee der Bildung als Bürgerrecht erklärte. „Aktive Bildungspolitik wird allein durch die Sorge um den Bestand der inneren Ordnung moderner Liberalität überzeugend begründet“38 – und ausdrücklich nicht durch wirtschaftliche Argumente oder den internationalen Vergleich mit anderen Ländern. Als Konsequenz regte Dahrendorf an, das Bürgerrecht auf Bildung als Verfassungsartikel festzuschreiben.39 Damit formulierte er einen Grundgedanken, der die Bildungsdiskussion der nächsten Jahrzehnte bestimmte. Man denke etwa an die Auseinandersetzung um die Gesamtschulen oder an die PISA-Debatte.40 Zweitens betonte Dahrendorf den Zusammenhang von liberaler Demokratie und gleichen Bildungschancen: „Modernität gibt keine Garantie für Liberalität“, aber: „Modernität ist Voraussetzung auch für Liberalität“.41 Das Bürgerrecht auf Bildung war für Dahrendorf Bedingung für eine moderne Gesellschaft, die wiederum Voraussetzung für eine freie Gesellschaft war.42 Die Folge der aktiven Bildungspolitik, die das Bürgerrecht auf Bildung durchsetzt, wäre dementsprechend eine neue, veränderte Gesellschaft:43 Eine moderne Arbeiterschicht sollte ebenso entstehen wie eine „neue Rolle der Frau, also Anerkennung der oft beschworenen, ebenfalls bislang weitgehend formalen Gleichberechtigung als soziale Realität“.44 An dieser Stelle wird der Widerspruch augenfällig, den Dahrendorf zwischen den formalen Gleichheitsrechten und der Ausübung dieser Rechte in der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik ausmachte. Die nach der bereits 37 Ebd., S. 121. 38 Ebd., S. 151. 39 Diese idealistische, liberale und eben nicht wirtschaftliche Argumentation wurde vom badenwürttembergischen Kultusminister Wilhelm Hahn im Vorwort zum Hochschulgesamtplan übernommen, woran der Einfluss deutlich wird, den Dahrendorf auf die Politik ausüben konnte. Vgl. Baden-Württemberg/Arbeitskreis Hochschulgesamtplan: Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg. Empfehlungen zur Reform von Struktur und Organisation der Wissenschaftlichen Hochschulen, Pädagogischen Hochschulen, Studienseminare, Kunsthochschulen, Ingenieurschulen und Höheren Fachschulen; Bericht des Arbeitskreises Hochschulgesamtplan beim Kultusministerium Baden-Württemberg, Villingen: Neckar-Verlag, 1967, S. 12. 40 Conze: Suche, S. 245f. 41 Dahrendorf: Bildung, S. 137. 42 Ebd., S. 137. 43 Ebd., S. 80f. 44 Ebd., S. 80.

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erfolgten Modernisierung der Institutionen noch ausstehende Liberalisierung der gesellschaftlichen Mentalitäten,45 wurde von Dahrendorf also nicht nur in seinem „Deutschland-Buch“ als deutsches Problem identifiziert, sondern von ihm auch und vor allem auf die Bildungspolitik übertragen, welche für ihn zentrales Instrument der Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft sein sollte. Drittens strebte Dahrendorf eine enge Verzahnung von Wissenschaft und aktiver Bildungspolitik an.46 Als Instrumente zur Reform des Bildungssystems schlug er folglich die Bildungsforschung, die Bildungsplanung und die Bildungspolitik vor.47 Die Erfahrung der fruchtbaren Zusammenarbeit dieser Trias hatte Dahrendorf in Baden-Württemberg machen können. Bildungsforschung und Politikberatung: Der „Dahrendorf-Plan“ und die Gründung der Universität Konstanz Bereits seit den frühen 1960er Jahren befasste sich Dahrendorfs Tübinger Seminar für Soziologie mit der Bildungsforschung. Herzstück der Forschung war ein durch Mittel der Thyssen-Stiftung gefördertes Projekt zu den sogenannten „Begabungsreserven“. Auf der Grundlage der Volkszählung von 1961 hatten die Soziologen Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung aufgrund von regionaler Herkunft sowie Schicht-, Geschlechts- und Religionszugehörigkeit nachgewiesen.48 Mit dem Begriff „Begabungsreserven“ waren begabte Kinder gemeint, die aufgrund ihrer Herkunft nicht das Gymnasium oder gar die Hochschule erreichten und deshalb als potenzielle Leistungsträger in der deutschen Gesellschaft ausfielen.49 Mit diesen Studien machte sich Dahrendorf schnell einen Namen als Bildungsexperte und wurde bereits im Sommer 1961 vom damaligem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard gebeten, als Mitglied der westdeutschen Delegation zur OECD-Konferenz nach Kungälv zu fahren.50

45 Vgl. Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S. 7–49, hier S. 8. 46 Dahrendorf: Bildung, S. 8. 47 Ebd., S. 137. 48 Vgl. Hansgert Peisert: Wanderungen zwischen Wissenschaft und Politik. Biographische Notizen über R.D., in: Ders./Wolfgang Zapf (Hg.): Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen. Festschrift für Ralf Dahrendorf, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1994, S. 3–40, hier S. 10. 49 Zusammen mit seinem Assistenten Hansgert Peisert gab Dahrendorf den Band Der vorzeitige Abgang vom Gymnasium. Studien und Materialien zum Schulerfolg an den Gymnasien in Baden-Württemberg, 1953–1963, Villingen: Neckar-Verlag, 1965 heraus. Auch andere forschten zu dieser Zeit zu diesem Thema, so z. B. Karl Erlinghagen: Katholisches Bildungsdefizit in Deutschland, Freiburg i. Br.: Herder, 1965. 50 Der junge Professor beantragte daraufhin Sonderurlaub für die Reise, Ralf Dahrendorf an das Akademische Rektoramt der Universität Tübingen, Brief vom 15.05.1961, BArch, N 1749, Bd. 57.

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Die Forschungsergebnisse zu den „Begabungsreserven“ trug er im Juni 1964 anlässlich der Immatrikulationsfeierlichkeiten an der Universität Tübingen vor und wies dabei auf die eklatanten Unterschiede in den Bildungschancen aufgrund von Schichtzugehörigkeit hin. Die Vorlesung mit dem Titel Arbeiterkinder an deutschen Universitäten wurde in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht.51 Der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger wurde aufmerksam und zeigte sich zugänglich für die Argumentation, dass Deutschland einen großen Teil seines Ausbildungspotenzials verschenke. Er nahm diesen Gedanken sogar in seine Regierungserklärung vom 25. Juni 1964 auf,52 was in den Augen Dahrendorfs zu einer „nahezu unmittelbaren Umsetzung von Wissenschaft in Politik“53 führte. Auch die 1965 von Freiburger Studenten ausgehende Initiative „Student aufs Land“, für die Studenten in sogenannte „Bildungsnotstandsgebiete“54 fuhren, um dort Bildungswerbung zu betreiben, war von Dahrendorfs Veröffentlichungen zu den Begabungsreserven inspiriert.55 Nun war der Einstieg in die Politikberatung nur noch ein kleiner Schritt. Bald war Dahrendorf nicht nur als persönlicher Berater für den Ministerpräsidenten, sondern auch für den damaligen Kultusminister Wilhelm Hahn und dessen Referenten Paul Harro Piazolo tätig. Neben dieser Tätigkeit, die auch Auftragsstudien für die baden-württembergische Landesregierung umfasste, wurde Dahrendorf zum stellvertretenden Vorsitzenden des Beirates für Bildungsplanung unter der Leitung von Kultusminister Hahn. Der Beirat für Bildungsplanung hatte sich der Verbindung von Politik und Wissenschaft verschrieben und war in der Öffentlichkeit bald als wichtiges Gremium der Politikberatung bekannt.56 Dahrendorfs damaliger Assistent Hansgert Peisert bemerkt dazu: 51 Ralf Dahrendorf: Arbeiterkinder an deutschen Universitäten, in: Die Zeit vom 26.06.1964, S. 10–11. Zusammengefasst zeigte der Vortrag auf, dass bei einem Arbeiteranteil von 50% in der deutschen Bevölkerung lediglich 5% aller Studenten aus Arbeiterfamilien stammten. 52 Kurt Georg Kiesinger: Regierungserklärung abgegeben vor dem Landtag von BadenWürttemberg am 25.06.1964, Stuttgart: Staatsministerium Baden-Württemberg, 1964. Vgl. auch Ralf Dahrendorf: Zur Entstehungsgeschichte des Hochschulgesamtplans für BadenWürttemberg 1966/67. Auch ein Beitrag zum Thema des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in Deutschland, in: Hans Filbinger (Hg.): Bildungspolitik mit Ziel und Maß. Wilhelm Hahn zu seinem 10-jährigen Wirken gewidmet, Stuttgart: Klett, 1974, S. 138–163, hier S. 139f. 53 Dahrendorf: Entstehungsgeschichte, S. 140. 54 Hansgert Peisert erstellte eine Karte der regionalen Bildungschancen und -differenzen in Baden-Württemberg, die Kiesinger und Hahn sehr beeindruckte, vgl. Hansgert Peisert: Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland, München: Pieper, 1965. 55 Der Gründer der Initiative „Student aufs Land“ Ignaz Bender verweist in einem Artikel für Die Zeit explizit auf die Bildungsdefizite „der Arbeiter und Bauern, aber auch […] der Katholiken und der Mädchen“, welche die Studenten durch ihre Bildungswerbung bei der Landbevölkerung verringern wollen. Auch ohne namentliche Erwähnung Dahrendorfs verrät die Formulierung den Urheber dieser Erkenntnis. Vgl. Ignaz Bender: Student aufs Land. Freiburger Studenten versuchen erfolgreich, dem Bildungsrückstand auf eigene Faust abzuhelfen, in: Die Zeit vom 25.03.1966, S. 17. 56 Vgl. Reinhold Weber/Hans-Georg Wehling: Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik, Stuttgart: Kohlhammer, 2006, S. 241.

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Franziska Meifort Die Politikberatung dieses Beirates war ungewöhnlich wirksam, nicht zuletzt dank der glücklichen Konstellation Dahrendorf – Piazolo – Hahn, fast eine Personifizierung der von Piazolo wenig später initiierten vorbildlichen Schriftenreihe Bildungsforschung – Bildungsplanung – Bildungspolitik: Bildung in neuer Sicht.57

Aus dieser engen Zusammenarbeit mit der baden-württembergischen Landesregierung ergab sich die Nominierung Dahrendorfs für den Deutschen Bildungsrat, in dem er von 1966 bis 1967 einen Unterausschuss zum Thema „Gleichheit der Bildungschancen“ leitete.58 Zudem wurde Dahrendorf in den Gründungsausschuss der Reformuniversität Konstanz berufen, in dem er als stellvertretender Vorsitzender eine wegweisende Funktion einnahm. Der Gründungsbericht der Universität trägt in weiten Zügen seine Handschrift.59 Das Ziel der beiden Vordenker der Universität Konstanz, Waldemar Besson und Ralf Dahrendorf, war es, „Humboldt vom Kopf, auf dem er stand, auf die Füße“ zu stellen und dadurch die Humboldtsche Universität „durch ihre Widerlegung“ zu vollenden.60 An der Eliteuniversität, welche zunächst auf eine Zahl von maximal 3.000 Studenten ausgerichtet war, sollte in Anlehnung an das Humboldtsche Bildungsideal die kooperative Lehre aus der empirischen Forschung entwickelt werden.61 Dabei wollte man durch die Auflösung der traditionellen Ordinarienuniversität und die Einrichtung von Fachbereichen statt Instituten sowie durch die Einführung von Lang- und Kurzstudiengängen eine ideale, aber dennoch praktikable Lehr- und Forschungsumgebung schaffen, die sich „Demokratie, gesellschaftlichem Bewusstsein, antiautoritärer Liberalität und modernem Wissenschaftsverständnis“62 verschrieben hatte.63 Nachdem der Gründungsausschuss knapp zwei Jahre lang die Konzeption der Universität erarbeitet hatte, wurden am 26. März 1966 die ersten Konstanzer Professoren feierlich im Ratssaal zu Konstanz ernannt. Neben dem Vorsitzenden des Gründungsausschusses und Rektor der Universität Gerhard Hess erhielten als ordentliche Professoren Hans Aebli, Waldemar Besson, Ralf Dahrendorf, Hans Robert Jauß, Franz Georg Maier, Herbert Nesselhauf und Wolfgang Preisendanz ihre Ernennungsurkunden aus der Hand des Ministerpräsidenten Kiesinger.64 Wie Dahrendorf berichtet, kam es beim anschließenden Kaffeetrinken bei Rektor Hess zu einem Gespräch zwischen ihm und Wilhelm Hahn. Bei dieser Ge57 Peisert: Wanderungen, S. 12, Hervorhebungen im Original. 58 Klaus Hüfner/Jens Naumann: Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Band I: Der Aufschwung (1960–1967), Stuttgart: Klett, 1977, S. 177. 59 Universität Konstanz: Die Universität Konstanz. Bericht des Gründungsausschusses. Vorgelegt im Juni 1965, Konstanz: Universitäts-Druckerei, 1965. 60 Dahrendorf: Entstehungsgeschichte, S. 142. 61 Vgl. Ralf Dahrendorf: Konstanz, „der süße Anachronismus“. Eine persönliche Notiz zum 10. Geburtstag der Universität Konstanz, in: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen 14 (1976), S. 14–35, hier S. 18. 62 Ebd. 63 Vgl. auch das erste Kapitel „Grundsätzliche Erwägungen“ des Berichts des Gründungsauschusses, in: Universität Konstanz: Universität, S. 9–12. 64 Ralf Dahrendorf: Gründungsideen und Entwicklungserfolge der Universität. Zum 40. Jahrestag der Universität Konstanz, Konstanz: Universitätsverlag, 2007, S. 18.

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legenheit habe er dem Kultusminister, der sich im Gegensatz zu seinem Ministerpräsidenten zunächst weniger für die Hochschulen und mehr für die Schulentwicklung interessiert habe, die Dringlichkeit einer Hochschulreform nahegelegt.65 Daraufhin habe Hahn ihn mit der Ausarbeitung eines Hochschulgesamtplans für alle Universitäten Baden-Württembergs beauftragt. Ein Jahr lang arbeitete Dahrendorf als Vorsitzender des Arbeitskreises Hochschulgesamtplan66 intensiv an diesem Plan und bezog dafür sogar ein Büro in der Stuttgarter Staatskanzlei – weit weg von seiner Konstanzer Professur. Unter der Vorgabe „How can we be equal and excellent, too?“67 entwarf Dahrendorf das Konzept einer „integrierten Gesamthochschule“ in BadenWürttemberg, in der die verschiedenen Hochschultypen gemeinsam die Herausforderung angehen sollten, den steigenden Studentenzahlen eine angemessene Ausbildung zu bieten.68 Die Verkürzung der Ausbildungszeiten sollte – wie schon bei der Konzeption der Reformuniversität Konstanz – durch strukturierte Studiengänge und eine Aufteilung in sogenannte Lang- und Kurzstudiengänge erreicht werden. Dieser Vorschlag, der von Dahrendorfs Erfahrungen mit dem angloamerikanischen Studiensystem zeugte, erscheint in Anbetracht der über 30 Jahre später erfolgten Bologna-Reformen geradezu hellsichtig.69 In dem Leitspruch „equal and excellent“ kristallisiert sich Dahrendorfs Überzeugung, nach der sowohl ein gleicher Zugang zur Bildung für alle gewährleistet sein, als auch Bildungs- und Forschungsmöglichkeiten für die geistige Elite eingerichtet werden müssten. So wie Dahrendorf zuvor in Gesellschaft und Demokratie theoretisch ausgeführt hatte, dass in der liberalen Gesellschaft die gleichen Teilnahmechancen für alle, aber nicht Gleichheit als solche bestehen müsse, so zeigt sich auch in Dahrendorfs Vorschlägen für die Hochschulreform, dass er neben dem gleichberechtigten Zugang zur Bildung für alle sehr wohl eine Elitenförde65 Ebd., S. 142f. 66 Die anderen Mitglieder waren die Professoren Hellmut Bredereck (Stuttgart), Karl Erlinghagen (Freiburg), Heinrich Lindlar (Freiburg), Walter Ludewig (Ludwigshafen), Carl Christian von Weizsäcker (Heidelberg) und der BASF-Direktor Richard Sinn. Zum Entstehungsprozess vgl. Baden-Württemberg/Arbeitskreis Hochschulgesamtplan: Hochschulgesamtplan und Dahrendorf: Entstehungsgeschichte. 67 Diese Frage des Gesundheits-, Bildungs- und Wohlfahrtsministers der Vereinigten Staaten John W. Gardner wird ohne Namensnennung im Plan zitiert, John W. Gardner: Excellence. How Can We Be Equal and Excellent Too?, New York: Harper & Bros., 1961. 68 Wilhelm Hahn hingegen reklamiert die Idee des Hochschulgesamtplans und der „integrierten Gesamthochschule“ für sich. Vgl. Wilhelm Hahn: Ich stehe dazu. Erinnerungen eines Kultusministers, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1981, S. 179. 69 Vorschläge zur Verkürzung der Studienzeiten durch Strukturierung des Studiums in Basisund Aufbaustudium sowie Zwischen- und Abschlussprüfungen kamen in fast noch radikalerer Form vom Wissenschaftsrat mit den Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums von 1966. Diesen Vorschlägen schlug jedoch – im Gegensatz zum „Dahrendorf-Plan“ – eine Welle des Protests sowohl von der Professorenschaft als auch von den Studierenden entgegen. Vgl. Olaf Bartz: Expansion und Umbau: Hochschulreformen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1964 und 1977, in: Die Hochschule: Journal für Wissenschaft und Bildung 6 (2007), S. 154–170, hier S. 163f.

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rung befürwortete. Deshalb standen die als „Klein-Harvard am Bodensee“70 konzipierte elitäre Universität Konstanz und der Hochschulgesamtplan, der vor allem eine strukturierte, verkürzte Ausbildung für die Massen bieten sollte, für Dahrendorf auch nicht im Widerspruch. Als Dahrendorf sich 1966 an die Ausarbeitung des Hochschulgesamtplans machte, wurde die Reform der Hochschulen aufgrund der steigenden Studentenzahlen als so dringlich empfunden, dass dieser Plan bereits mit großer Spannung erwartet wurde. Noch während seiner Stuttgarter Tätigkeit erhielt er zahlreiche Zuschriften, vor allem von interessierten Studenten.71 Der Erste Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses des Oskar-von-Miller-Polytechnikums in München bat beispielsweise um die Zusendung eines Vorabdrucks und fügte hinzu: An dieser Schrift haben außer uns noch der Direktor und andere Herren außerordentliches Interesse. Was wir bisher gelesen haben, findet unsere volle Zustimmung und wird doch hoffentlich verwirklicht werden.72

Die Presse berichtete nach dem Erscheinen im Sommer 196773 ausführlich über den „Dahrendorf-Plan“.74 In langen Artikeln behandelten Brigitte Beer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Hilke Schlaeger in der Zeit den „im besten Sinne revolutionäre[n] Vorschlag“,75 der versprach, dem Studentenansturm auf die Universitäten in gerechter und wirtschaftlicher Weise Herr zu werden.76 Die geplante Einführung des Kurzstudiums zur Entlastung der Universitäten wurde

70 Diese Bezeichnung war „keineswegs anerkennend, sondern durchaus abschätzig gemeint“, betonte der Konstanzer Historiker Professor Lothar Burchardt, vgl. Frank van Bebber: Elite Universität Konstanz. Mini-Harvard am Bodensee, in: Uni-Spiegel, Spiegel Online vom 19.10.2007 (http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/elite-uni-konstanz-mini-harvard-ambodensee-a-512438.html, Zugriff am 15.07.2012). 71 Max Scholz: Vertreter des Allgemeinen Studierendenausschusses der Universität Tübingen an Ralf Dahrendorf, Brief vom 11.05.1967; Student Peter Brockhaus an Ralf Dahrendorf, Brief vom 20.06.1967; Dr. Schumann, Vorsitzender des Landeschulbeirates Baden-Württemberg an Ralf Dahrendorf, Brief vom 03.08.1967, BArch, N 1749, Bd. 48. 72 Georg Seletzky an Ralf Dahrendorf, Brief vom 08.08.1967, ebd. 73 Baden-Württemberg/Arbeitskreis Hochschulgesamtplan: Hochschulgesamtplan. 74 Diese Bezeichnung für den Hochschulgesamtplan Baden Württemberg hatte sich bald eingebürgert, vgl. u. a. den Artikel Leitplanken Richtung Zukunft, in: Südkurier vom 02.08.1967. 75 Zitat Brigitte Beer: Reformieren ist billiger. Die Grundgedanken des Hochschulgesamtplanes für Baden-Württemberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.08.1967. Vgl. auch Hilke Schlaeger: Warenhaus der Ausbildung. Der Plan einer differenzierten Gesamthochschule für Baden-Württemberg, in: Die Zeit vom 04.08.1967, S. 28. 76 Zur Einordnung des von Dahrendorf entworfenen Hochschulgesamtplans in den Prozess der Bildungsplanung der Bundesrepublik vgl. Olaf Bartz: Wissenschaftsrat und Hochschulplanung. Leitbildwandel und Planungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1975, Köln: Univ. Diss., 2006 (http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2006/1879/, Zugriff am 15.07.2012). Vgl. auch Eckart Conze, der den „erstaunlichen Optimismus“ des westdeutschen Bildungsdiskurses der 1960er Jahre hervorhebt, Conze: Suche, S. 249.

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insgesamt überwiegend positiv aufgenommen.77 Der allgemeine Konsens, nach dem eine Hochschulreform als dringend notwendig angesehen wurde, zeigt sich in dem ausdrücklichen Lob der Zeitungsredakteure für die Reformbereitschaft im „akademischen Musterländle“.78 Wie gezeigt wurde, stieß Dahrendorf als Professor während seiner Tübinger und Konstanzer Zeit überwiegend auf positive Rückmeldungen in Presse und Zuschriften sowie auf eine große Aufgeschlossenheit gegenüber sozialwissenschaftlicher Politikberatung. Dies schien ihn in seiner Auffassung zu bestärken, sowohl durch breitenwirksame Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse und die daraus entwickelten Handlungsanleitungen als auch durch Einflussnahme auf die Politik tatsächlich etwas in der Gesellschaft verändern zu können. Die Tatsache, dass Dahrendorf in der Folge – und auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Popularität – den Weg in die aktive Politik suchte, erscheint daher nur konsequent. Schon bald sollte der Konstanzer Professor als sogenannter „politischer Senkrechtstarter“ zunächst in den baden-württembergischen Landtag und zum Regierungswechsel 1969 sogar in den Deutschen Bundestag und als Parlamentarischer Staatssekretär ins Auswärtige Amt einziehen. Sein Wechsel von der Universität in die Politik kann als Versuch gelesen werden, das auf bildungspolitischer Ebene bereits erprobte Vorgehen jetzt auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene umzusetzen.79 Fazit Dahrendorfs Schriften Bildung ist Bürgerrecht und Gesellschaft und Demokratie in Deutschland stießen auf ein gesellschaftliches Klima, das auf diese Beiträge nur zu warten schien. Die Wahrnehmung eines Reformbedürfnisses, die Forderung nach mehr Recht auf Mitbestimmung in Betrieben und an Universitäten sowie ein neues gesellschaftliches Bewusstsein für die Relevanz von Bildung bildeten sich in dieser Zeit immer stärker heraus und wurden durch Dahrendorfs Thesen bestätigt. In beiden Publikationen sprach Dahrendorf die Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland als wichtiges Thema an. Dahrendorf erkannte im Bildungssystem dieselben liberalitätshemmenden Strukturen, wie sie auch in der übrigen deutschen Gesellschaft festzustellen waren: traditionelle gesellschaftliche Muster, die die freie Entfaltung des mündigen Staatsbürgers ebenso verhinderten wie den Aufstieg durch Bildung für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. Die 77 Bemerkenswerterweise wurde Kritik an den vorgeschlagenen Maßnahmen des Hochschulgesamtplans in der Presse zwar prognostiziert, aber selten direkt geübt. So z. B. in dem Artikel Reform-Pläne, in: Neue Ruhrzeitung vom 02.08.1967. 78 Kurzakademiker, in: Handelsblatt vom 02.08.1967. Vgl. auch Dahrendorfs Plan, in: Schwäbische Post vom 02.08.1967; Drei-Stufen-Uni, in: Nordwest-Zeitung vom 02.08.1967; BadenWürttembergs gutes Beispiel, in: Süddeutsche Zeitung vom 03.08.1967. 79 Zu Dahrendorfs fulminanten Aufstieg in die Politik und seinem „Scheitern“ als Seiteneinsteiger vgl. Matthias Micus: Tribunen, Solisten, Visionäre. Politische Führung in der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, S. 163–221.

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politische Durchsetzung gleicher Bildungschancen war für ihn der Schlüssel für eine Liberalisierung, Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik. Jens Hacke argumentiert, dass Dahrendorf die bis dahin vakante Position des liberalen Denkers in der Bundesrepublik besetzen konnte, weil er diese Probleme weder aus einer wirtschaftlichen noch aus einer sozialromantischen Perspektive anging, sondern vor dem Hintergrund einer liberalen politischen Theorie.80 Für Edgar Wolfrum stimmte Dahrendorfs Aussage „Die deutsche Frage ist die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie“81 sogar „die Grundmelodie eines neuen Demokratiediskurses an“ und wurde als solche „in linksliberalen Kreisen bald bekenntnishaft nachgesprochen“.82 Tatsächlich wirkte Dahrendorf für viele Angehörige der Generation der Anfang der 1940er Jahre Geborenen wie der personifizierte Dritte Weg zwischen der Post-Adenauer-Gesellschaft, die der Liberalisierung harrte, und den radikalen Protesten der 68er, die wenig später folgten. Durch seine medienwirksamen Auftritte stieg er in dieser Zeit zum öffentlichen Intellektuellen und zu einer Identifikationsfigur auf. Zudem profitierte er von der sich zeitgleich verändernden Medienöffentlichkeit.83 Betrachtet man Dahrendorfs Handlungsspektrum zwischen den Feldern von Wissenschaft und Öffentlichkeit, so lässt sich sein Verhalten als Versuch der zunehmenden Einflussnahme auf das politische Geschehen im Bildungs- und Hochschulbereich beschreiben. Nachdem er zunächst an der Universität Tübingen Bildungsforschung insbesondere zu den Begabungsreserven betrieben hatte, formulierte er in einem zweiten Schritt mit Gesellschaft und Demokratie in Deutschland und Bildung ist Bürgerrecht politische Thesen, die an die Öffentlichkeit adressiert waren und nicht nur an das wissenschaftliche Fachpublikum. Während in Gesellschaft und Demokratie die Forderung nach Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft ihre theoretische Grundlage fand, ist Bildung ist Bürgerrecht eine Mischung aus bildungspolitischen Forderungen und praktischer Handlungsanweisung. Im dritten Schritt wurde er schließlich selbst als politischer Berater und Hochschulgründer aktiv, nahm als offizieller wie inoffizieller Berater direkten Einfluss auf die Politik Kiesingers und Hahns und handelte im Gremium der Hochschulgründer unabhängig von der Landesregierung. Allerdings stellt sich in der Rückschau die Frage, wie erfolgreich Dahrendorfs Einflussnahme tatsächlich war und sein konnte. Weder Dahrendorfs Hochschul80 Hacke: Pathologie, Abschnitt 3. 81 Dahrendorf: Gesellschaft, S. 39. 82 Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett Cotta, 2006, S. 13. 83 Die zunehmende Liberalisierung der Medienöffentlichkeit, die seit den späten 1950er Jahren nicht zuletzt durch einen Generationenwechsel im Journalismus stattfand, hat Christina von Hodenberg beschrieben, vgl. Dies.: Konsens und Krise. Dahrendorf, Angehöriger der sogenannten „45er Generation“, betrat zu einem Zeitpunkt die öffentliche Bühne, als zunehmend Professoren als Kommentatoren in Rundfunk und Fernsehen gefragt waren und wurde auch bald als solcher vom Hessischen Rundfunk und von dem Zweiten Deutschen Fernsehen engagiert. Auch Nina Verheyen betont die zunehmende Bedeutung der Diskussion in den 1960er Jahren, vgl. Dies.: Diskussionslust.

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gesamtplan noch die Universität Konstanz wurden in Dahrendorfs Sinne umgesetzt. Nachdem Dahrendorf Konstanz schon nach kurzer Zeit wieder verließ, um sich in der Politik zu betätigen, entwickelte sich dieser „süße Anachronismus“84 von einem „Klein-Harvard am Bodensee“, das es vielleicht nie gewesen war, zu einer Universität mit 10.000 Studenten. Die Umsetzung des Hochschulgesamtplans scheiterte trotz anfänglicher Euphorie am mangelnden Umsetzungswillen von Politik und Professorenschaft und der Tatsache, dass das gleichzeitig von der Landesregierung eingebrachte Hochschulgesetz zum Teil im Widerspruch mit dem „Dahrendorf-Plan“ stand. Die Hochschulgesamtpläne I und II, die BadenWürttemberg 1969 und 1972 verabschiedete, basierten zwar auf dem „Dahrendorf-Plan“, übernahmen aber nur noch wenige seiner Ideen.85 Vor allem Dahrendorfs Vorschlag des Kurzstudiums schien nicht durchsetzungsfähig und wurde daher nicht übernommen. Dahrendorf, seit 1968 bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, wurde zum scharfen Kritiker des Kultusministers Hahn, mit dem er zuvor noch zusammengearbeitet hatte. Zugleich war der Abschied aus Konstanz und das Betreten der bundespolitischen Bühne für Dahrendorf aber auch das Ende seines Engagements für seine bildungspolitischen Herzensprojekte: den Hochschulgesamtplan und die Universität Konstanz, deren Umsetzung er anderen überließ. Dahrendorf stieß auf wissenschaftlichem Fundament beruhende gesellschaftspolitische Initiativen an, überließ deren konkrete Umsetzung jedoch anderen – auch auf die Gefahr des Scheiterns dieser Projekte hin. War also die Verknüpfung von Wissenschaft und Öffentlichkeit für Dahrendorf tatsächlich so erfolgreich, wie es zunächst scheint? Ohne auf solche Widersprüchlichkeiten zu stoßen, wird Dahrendorfs Wirken jedenfalls kaum zu beschreiben sein. Literatur Baden-Württemberg/Arbeitskreis Hochschulgesamtplan: Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg. Empfehlungen zur Reform von Struktur und Organisation der Wissenschaftlichen Hochschulen, Pädagogischen Hochschulen, Studienseminare, Kunsthochschulen, Ingenieurschulen und Höheren Fachschulen; Bericht des Arbeitskreises Hochschulgesamtplan beim Kultusministerium Baden-Württemberg, Villingen: Neckar-Verlag, 1967. Baden-Württembergs gutes Beispiel, in: Süddeutsche Zeitung vom 03.08.1967. Bartz, Olaf: Expansion und Umbau: Hochschulreformen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1964 und 1977, in: Die Hochschule: Journal für Wissenschaft und Bildung 6 (2007), S. 154–170. Ders.: Wissenschaftsrat und Hochschulplanung. Leitbildwandel und Planungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1975, Köln: Universität Diss., 2006 (http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2006/1879/, Zugriff am 15.07.2012). Bebber, Frank van: Elite Universität Konstanz. Mini-Harvard am Bodensee, in: Uni-Spiegel, Spiegel Online vom 19.10.2007 (http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/elite-uni-konstanzmini-harvard-am-bodensee-a-512438.html, Zugriff am 15.07.2012). 84 Dahrendorf: Konstanz. 85 Vgl. auch Bartz: Wissenschaftsrat, S. 137f.

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Beer, Brigitte: Reformieren ist billiger. Die Grundgedanken des Hochschulgesamtplanes für Baden-Württemberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.08.1967. Bender, Ignaz: Student aufs Land. Freiburger Studenten versuchen erfolgreich, dem Bildungsrückstand auf eigene Faust abzuhelfen, in: Die Zeit vom 25.03.1966, S. 17. Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart, München: Siedler, 2009. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Pieper, 1965. Ders.: Arbeiterkinder an deutschen Universitäten, Recht und Staat Nr. 302/3030, Tübingen: Mohr, 1965. Ders.: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg: Nannen, 1965. Ders.: Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland, München: Pieper, 1965. Ders.: Aktive Bildungspolitik ist ein Gebot der Bürgerrechte. Motive des Wandels, in: Die Zeit vom 12.11.1965, S. 24. Ders.: Die Schulfeindlichkeit der Praktiker. Aktive Bildungspolitik bedeutet Expansion des Bildungswesens Ziele des Wandels, in: Die Zeit vom 19.11.1965, S. 17. Ders.: Gewollte Unmündigkeit. Reform verlangt die Modernisierung der Gesellschaft. Der Übergang zu weiterführenden Schulen, in: Die Zeit vom 26.11.1965, S. 24. Ders.: Schul- und Universitätsmüdigkeit. Die Schwelle zur Reform ist niedrig. Erste Schritte, in: Die Zeit vom 10.12.1965, S. 18. Ders.: Ist ein Bundes-Kultusminister nötig? Der Weg zur Reform ist lang. Bildungsforschung, Bildungsplanung, Bildungspolitik, in: Die Zeit vom 17.12.1965, S. 18. Ders./Hansgert Peisert: Der vorzeitige Abgang vom Gymnasium. Studien und Materialien zum Schulerfolg an den Gymnasien in Baden-Württemberg, 1953–1963, Villingen: NeckarVerlag, 1965. Ders.: Die Soziologie und der Soziologe. Zur Frage von Theorie und Praxis, Konstanzer Universitätsreden, Konstanz: Universitätsverlag, 1967. Ders.: Zur Entstehungsgeschichte des Hochschulgesamtplans für Baden-Württemberg 1966/67. Auch ein Beitrag zum Thema des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in Deutschland, in: Filbinger, Hans (Hg.): Bildungspolitik mit Ziel und Maß. Wilhelm Hahn zu seinem 10jährigen Wirken gewidmet, Stuttgart: Klett, 1974, S. 138–163. Ders.: Konstanz, „der süße Anachronismus“. Eine persönliche Notiz zum 10. Geburtstag der Universität Konstanz, in: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen 14 (1976), S. 14–35. Ders.: Gründungsideen und Entwicklungserfolge der Universität. Zum 40. Jahrestag der Universität Konstanz, Konstanz: Universitätsverlag, 2007. Ders.: Jahrgang 1929, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.05.2009. Dahrendorfs Plan, in: Schwäbische Post vom 02.08.1967. Drei-Stufen-Uni, in: Nordwest-Zeitung vom 02.08.1967. Edding, Friedrich: Ökonomie des Bildungswesens. Lehren und Lernen als Haushalt und als Investition, Freiburg i. Br.: Rombach, 1963. Erlinghagen, Karl: Katholisches Bildungsdefizit in Deutschland, Freiburg i. Br.: Herder, 1965. Gardner, John W.: Excellence. How Can We Be Equal and Excellent Too?, New York: Harper & Bros., 1961. Habermas, Jürgen: Die verzögerte Moderne, in: Der Spiegel vom 29.12.1965, S. 87–88. Hacke, Jens: Pathologie der Gesellschaft und liberale Vision. Ralf Dahrendorfs Erkundung der deutschen Demokratie, in: Zeitgeschichte-online, Zeithistorische Forschungen, http://www. zeithistorische-forschungen.de/16126041-Hacke-2-2004, Zugriff am 15.07.2012. Hahn, Wilhelm: Ich stehe dazu. Erinnerungen eines Kultusministers, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt, 1981. Herbert, Ulrich: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 7–49.

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Hodenberg, Christina von: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit, 1945–1973, Göttingen: Wallstein, 2006. Hüfner, Klaus/Jens Naumann: Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Band I: Der Aufschwung (1960–1967), Stuttgart: Klett, 1977. Kiesinger, Kurt Georg: Regierungserklärung abgegeben vor dem Landtag von Baden-Württemberg am 25. Juni 1964, Stuttgart: Staatsministerium Baden-Württemberg, 1964. Kurzakademiker, in: Handelsblatt vom 02.08.1967. Leitplanken Richtung Zukunft, in: Südkurier vom 02.08.1967. Micus, Matthias: Tribunen, Solisten, Visionäre. Politische Führung in der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. Peisert, Hansgert: Wanderungen zwischen Wissenschaft und Politik. Biographische Notizen über R.D., in: Ders./Wolfgang Zapf (Hg.): Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen. Festschrift für Ralf Dahrendorf, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1994, S. 3–40. Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten: WalterVerlag, 1964. Prinz, Michael: Ralf Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie“ als epochenübergreifende Interpretation des Nationalsozialismus, in: Frese, Matthias/Michael Prinz (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn: Schöningh, 1996, S. 755–777. Reform-Pläne, in: Neue Ruhrzeitung vom 02.08.1967. Scheibe, Moritz: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 245–277. Schlaeger, Hilke: Warenhaus der Ausbildung. Der Plan einer differenzierten Gesamthochschule für Baden-Württemberg, in: Die Zeit vom 04.08.1967, S. 28. Universität Konstanz: Die Universität Konstanz. Bericht des Gründungsausschusses. Vorgelegt im Juni 1965, Konstanz: Universitäts-Druckerei, 1965. Verheyen, Nina: Diskussionslust: Eine Kulturgeschichte des „besseren Arguments“ in Westdeutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. Weber, Reinhold/Hans-Georg Wehling: Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik, Stuttgart: Kohlhammer, 2006. Wirtschaftswachstum und Ausbau des Erziehungswesens. OECD-Konferenz in Washington, 16.–20. Oktober 1961, deutsche Kurzfassung der Arbeitsunterlagen, Bonn: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder, 1962. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta, 2006. Wovon andere träumen, in: Konstanzer Universitätszeitschrift uni’kon, 23.2006.

Der politische Gebrauchswert der Hochschulforschung. Zum Verhältnis von Hochschulforschung und Hochschulpolitik in den Jahren von Bildungsboom und Hochschulexpansion (1960 bis 1975) Wilfried Rudloff Einleitung: Die zögerlichen Anfänge der bundesdeutschen Hochschulforschung Die Bildungspolitik gehörte zu den dynamischsten Politikbereichen der 1960er und frühen 1970er Jahre. Das Schul- wie das Hochschulwesen erlebten eine Phase singulären Ausbaus der Infrastrukturen und rapider Vermehrung der Zahl der Lehrenden und Lernenden. Die Muster der Bildungsbeteiligung begannen sich tiefgreifend zu verändern. Das Wort vom ‚Aufstieg durch Bildung‘ erlangte im neuen Vokabular der bundesdeutschen Bildungsreform bald besondere Prominenz. Da in den 60er Jahren überdies von einem wachsenden Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften ausgegangen wurde, schien die Bildungsexpansion zugleich ein Gebot ökonomischer Vernunft. Für eine Zeit lang wurde Bildungsreform zu einem gewichtigen Thema der politischen Auseinandersetzung – über ihre Zielvorstellungen, ihre Reichweite, ihre Möglichkeiten und Grenzen gingen die Meinungen freilich weit auseinander.1 Was für die Bildungspolitik im Allgemeinen galt, galt im Besonderen auch für die Hochschulpolitik. Die Hochschule begann sich von einer Elite- zu einer Masseneinrichtung zu wandeln. Die bestehenden Universitäten verzeichneten einen Zulauf wie nie zuvor. Zugleich veränderte eine dichte Kette von Universitäts-Neugründungen die Landkarte des Hochschulwesens. Neben die Universitäten traten als neuer Typus akademischen Studiums die Fachhochschulen. Die Strukturen der Organisation und Selbstverwaltung, der Forschung und des Wissenschaftsbetriebs, der Lehrformen und des Lehrkörpers, der Bildungsziele und Studieninhalte wurden zum Gegenstand erhitzter Reformdebatten. Die „Hochschulrevolte“ der Studentenbewegung machte die Universitäten zum Schauplatz einer grundsätzlichen, weit über diese Hochschule hinaus weisenden Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik. Die innere 1

Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998; Ludwig von Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992; Klaus Hüfner/Jens Naumann: Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I: Der Aufschwung (1960– 1967), Stuttgart: Klett, 1977; Klaus Hüfner et al.: Hochkonjunktur und Flaute: Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1967–1980, Stuttgart: Klett, 1986; Christoph Führ: Deutsches Bildungswesen seit 1945. Grundzüge und Probleme, Neuwied: Luchterhand, 1997.

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Reform der Hochschulen, durch zahlreiche Hemmfaktoren blockiert, schien dabei mit der äußeren Expansion nicht Schritt halten zu können.2 Die gestiegene Komplexität und Veränderungsdynamik des Bildungswesens führten ebenso wie die erhöhten politischen Gestaltungsambitionen und Rationalitätsansprüche dazu, dass sich zur gleichen Zeit auch Stil und Gestalt der Bildungspolitik erkennbar veränderten. Das politische Handeln sollte auf eine neue Weise zukunftsbezogen, empirisch unterfüttert und wissenschaftsorientiert sein. Das Instrument der Bildungsplanung als vorausschauender Entscheidungsvorbereitung hielt auf Hochschul-, Länder- wie Bundesebene Einzug. Um die Informationsgrundlagen und Wissensressourcen der politischen Entscheidungsträger und Entscheidungsvorbereiter zu verbessern, wurde darüber hinaus der Austausch zwischen Experten, Verwaltung und Politik beträchtlich intensiviert.3 Erst „auf wissenschaftlich fundierten Forschungsergebnissen lassen sich eine langfristige Bildungsplanung und langfristig angelegte bildungspolitische Entscheidungen aufbauen“, erläuterte Wilhelm Hahn dem CDU-Bundestag 1965.4 Während in den Kultusministerien Planungsabteilungen entstanden, flankierte eine wachsende Zahl von Expertenkommissionen die herkömmlichen Entscheidungsinstanzen.5 Bildungspolitische Auftragsforschung im Dienste der Politik erfuhr einen deutlichen Aufschwung, einige Kultusministerien schufen sich eigene Ressortforschungseinrichtungen. Wissenschaftlich gehärtetes und empirisch gesichertes 2

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Vgl. allgemein Christoph Oehler: Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, Frankfurt/M.: Campus, 1989; Anne Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957– 1976, München: Oldenbourg, 2010. Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn: Schöningh, 2005; Dies.: Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57–103; weitere Beispiele Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005; Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin: Akademie, 2007; Andrea Brinckmann: Wissenschaftliche Politikberatung in den 60er Jahren. Die Studiengruppe für Systemforschung, 1958 bis 1975, Berlin: edition sigma, 2006; Ariane Leendertz: Experten – Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik, in: Christiane Reinecke/Thomas Mergel (Hg.): Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus, 2012, S. 337–369; Wilfried Rudloff: Verwissenschaftlichung von Politik und Verwaltung? Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 216–257. 13. CDU-Bundesparteitag Düsseldorf, 28.–31. März 1965. Niederschrift, Bonn, 1965, S. 530. Wilfried Rudloff: Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn: Schöningh, 2003, S. 259–282; Ders.: Wieviel Macht den Räten? Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren, in: Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hg.): Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 153–188.

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Wissen schien als politische Ressource einen neuen Stellenwert erlangt zu haben. Ob dies so war und welcher Realitätsgehalt in dieser Annahme steckt, ist die Fragestellung, welcher die folgenden Ausführungen nachzugehen beabsichtigen. Vergleicht man allerdings die beiden Hauptstränge der bundesdeutschen Bildungspolitik, die Schul- und der Hochschulpolitik, in einer solchen wissenspolitologischen Perspektive, kann leicht der Eindruck entstehen, als hätten auf beiden Feldern durchaus unterschiedliche Ansprüche bestanden. Während mit der neuen Ära der Bildungspolitik im Schulbereich auch eine neue Ära der schulbezogenen Bildungsforschung verbunden war, galt dies für die Hochschulforschung, verstanden als Forschung über die Hochschule, bis Mitte der 70er Jahre nur in einem sehr eingeschränkten Maße. Man kann diesen Eindruck durch eine ganze Reihe von Teilbeobachtungen untermauern. Im Vergleich der beiden großen Politikberatungsgremien jener Jahre, des Bildungs- und des Wissenschaftsrats, stellte der Bildungsrat als wichtigster schulpolitischer Ratgeber sein hochschulpolitisches Gegenstück bei der Vergabe von flankierenden Expertengutachten weit in den Schatten.6 Der Bildungsrat hat durch die von ihm angestoßene Auftragsforschung viele neue Felder der Bildungsforschung in ihrer formativen Phase beeinflusst – und ist seinerseits wieder stark durch diese beeinflusst worden.7 Für den Wissenschaftsrat traf dies nur in einem sehr eingeschränkten Maße zu. So wie die Anstoßwirkung, die in der Hochschulforschung von ihm ausgingen, insgesamt begrenzt blieben, fielen auch deren Rückkopplungseffekte weit schwächer aus. Während der Bildungsrat mit den groß angelegten Versuchsprogrammen zur Gesamt- und zur Ganztagsschule, zu denen er 1968 den Anstoß gab,8 den neuen und kostenaufwändigen Politik-

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Zum Wissenschaftsrat vgl. v. a. Olaf Bartz: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, Stuttgart: Steiner, 2007, S. 50–69; ferner Ulla Foemer: Zum Problem der Integration komplexer Sozialsysteme am Beispiel des Wissenschaftsrates, Berlin: Duncker & Humblot, 1981; zum Bildungsrat siehe Jens Hoffmann: Bildungsplanung als Versuch und Irrtum – Ein Beispiel für Politikberatung: Der Deutsche Bildungsrat, in: Hans-Dieter Haller/Dieter Lenzen (Hg.): Lehrjahre in der Bildungsreform. Resignation oder Rekonstruktion?, Stuttgart: Klett, 1976, S. 195–224; Heinrich Schoene: Die Wirkungen der Beratungen des Deutschen Bildungsrates auf die Bildungspolitik von Bund-Ländern, in: Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.): Interaktion von Wissenschaft und Politik. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften, Frankfurt/M.: Campus, 1977, S. 120–136. Hellmut Becker: Beitrag und Einfluß der Bildungsforschung auf die Arbeit des „Deutschen Bildungsrats“, in: Zeitschrift für Pädagogik 21 (1975), S. 159–172; Ders.: The Case of Germany: Experiences from the Education Council, in: Torsten Husén/Maurice Kogan (Hg.): Educational Research and Policy. How do they Relate?, Oxford: Pergamon Press, 1984, S. 103–119. Vgl. Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschule, in: Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission 1967–1969, Stuttgart: Klett, 1970, S. 281–439 (1969); Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen, in: ebd., S. 43–68 (1968); Hans Haenisch: Gesamtschulevaluation – Kriterien, Ergebnisse, Probleme, in: Gerd-Michael Hellstern/Hellmut Wollmann (Hg.): Experimentelle Politik – Reformstrohfeuer oder Lernstrategie. Bestandsaufnahme und Evaluierung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1983, S. 276–296; Jürgen

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typus des wissenschaftlich begleiteten Politikexperiments mit aus der Taufe gehoben hat,9 wird man ähnliches für den Wissenschaftsrat nur schwer feststellen können. Aber auch die zahlreichen Modellversuche, welche die Bund-LänderKommission für Bildungsplanung seit Anfang der 70er Jahre dann auf den Weg brachte, bezogen sich weit mehr auf die Schulen als auf die Hochschulen.10 Im Gründungsboom der außeruniversitären Forschungsinstitute, deren Zahl im Bildungsbereich allein zwischen 1963 und 1972 von sieben auf 25 stieg, spielte die Hochschulforschung lediglich eine bescheidene Rolle.11 Im Forschungsprogramm der beiden Leuchttürme außeruniversitärer Bildungsforschung, dem Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt, besaß sie nur begrenzten Stellenwert.12 An eigens der Hochschulforschung gewidmeten Einrichtungen existierte Mitte der 70er Jahre nicht mehr als das Hochschul-Informationssystem in Hannover13 und das Bayerische Staatsinstitut für Hochschulforschung.14 Insgesamt standen nach einer Auswertung der KMK für die Jahre 1968/69 194 schulbezogenen Projekten der Bildungsforschung gerade einmal 24 zum Hochschulbereich gegenüber.15 Für dieses nach Umfang und Reichweite auffallend unterschiedliche Bemühen, die empirische Wissensbasis bildungspolitischer Entscheidungsprozesse zu erweitern, lassen sich eine Reihe plausibler Gründe benennen. Die Schulen besaßen, was jedenfalls die Zahl der Schüler, den Personalbedarf und den Anteilen an den öffentlichen Haushalten anging, deutlich mehr Gewicht als die Hochschulen

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Raschert: Gesamtschule: ein gesellschaftliches Experiment. Möglichkeiten einer rationalen Begründung bildungspolitischer Entscheidungen durch Schulversuche, Stuttgart: Klett, 1974. Vgl. Gerd-Michael Hellstern/Hellmut Wollmann: Bilanz – Reformexperiment, wissenschaftliche Begleitung und politische Realität, in: Dies. (Hg.): Experimentelle Politik, S. 2–77. Vgl. allgemein Horst Weishaupt: Begleitforschung zu Modellversuchen im Bildungswesen. Erziehungswissenschaftliche und politisch-planerische Bedingungen, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1992. Friedrich Edding/Klaus Hüfner: Probleme der Organisation und Finanzierung der Bildungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Heinrich Roth/Dagmar Friedrich (Hg.): Bildungsforschung. Probleme – Perspektiven – Prioritäten. Bd. 2, Stuttgart: Klett, 1975, S. 419–453, S. 427f. u. 442ff. Vgl. Reinhard Nuthmann: Hochschulforschung am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, in: Christoph Oehler/Wolff-Dietrich Webler (Hg.): Forschungspotentiale sozialwissenschaftlicher Hochschulforschung. Bundesrepublik Deutschland – Österreich – Schweiz, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1988, S. 221–238; Ulrich Teichler: Zur Hochschulforschung im Institut für Bildungsforschung, Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Berlin-Dahlem (MPGA) Abt. II, Rep. 43, Kasten 1; Jens Naumann: Zum Verhältnis von Politik und Forschung am Beispiel des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, in: Clemens Burrichter (Hg.): Forschungspolitische Probleme und Strategien für die 80er Jahre, Erlangen: Deutsche Gesellschaft für Zeitgeschichtliche Fragen, 1984, S. 65–80. Vgl. dazu weiter unten. Louis von Harnier: Hochschulforschung im Bayerischen Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung, in: Oehler/Webler: Forschungspotentiale, S. 209–219. Rundschreiben des Sekretariats der KMK vom 09.09.1969, Bundesarchiv Koblenz (BArch), B 304, Nr. 310.

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und dieser quantitative Vorrang spiegelte sich, so ließe sich schlussfolgern, eben auch in der Vergabe der Forschungsaufträge. Anders als im Fall der Schule gab es überdies keinen natürlichen Ort der Hochschulforschung im Fächerkanon der Hochschulen. Da ihr Kerngeschäft in der Lehrerausbildung lag, ruhte das Augenmerk der Erziehungswissenschaft ganz auf dem schulischen Sektor; aber auch die Soziologie interessierte sich, als sie das Bildungswesen allmählich als Forschungsfeld zu entdecken begann, mehr für die Schule als für deren große Schwester. Hochschulforschung war deshalb in hohem Maße außeruniversitäre Hochschulforschung, als solche aber, wie angedeutet, bis weit in die 70er Jahre vergleichsweise schwach institutionalisiert. Auch die Expertenrollen waren in Schul- und Hochschulpolitik anders verteilt. Die hochschulpolitische Expertenwelt war in hohem Maße identisch mit den an den Hochschulen Lehrenden. Die Lehrer hingegen mussten ihren Expertenstatus in den schulpolitischen Sachverständigennetzwerken häufig mit Exponenten der an Bildungsfragen interessierten Hochschuldisziplinen teilen. Deren Legitimation ruhte aber auf der kognitiven Autorität der Forschung, während in den Netzwerken der hochschulpolitischen ‚Gremieneminenzen’ das Erfahrungs- und Binnenwissen der OrganisationsInsider genügte, um Expertenstatus zu erlangen. Auch deshalb besaß empirische Forschung in beiden Arenen einen unterschiedlichen Stellenwert. Im Übrigen fehlte es in der Hochschulreformdebatte natürlich keinesfalls an tiefgründigen Diskussionsbeiträgen aus berufener Feder – einer Debatte, deren Intensität, Heftigkeitsgrad und Öffentlichkeitsresonanz ja gerade in jenen Jahren besondere Ausmaße erlangte. Gemeinhin handelte es sich dabei um das Produkt klugen Räsonierens namhafter Vertreter der akademischen Welt, von Jaspers16 über Schelsky17 bis Habermas.18 Ein breiter Strom an Publikationen zur Idee, zum Problem, zur Krise oder zur Gestalt der deutschen Universität ergoss sich so über das interessierte Publikum. Allerdings: Hält man statt nach Varianten eines informierten „armchair-reasonings“19 Ausschau nach empiriegestützten Untersuchungen von der Art, wie sie für die sozialwissenschaftliche Wende der Bildungsforschung in den 60er Jahren charakteristisch war, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier setzte der durchaus feststellbare Aufschwung der Forschungen erst in

16 Karl Jaspers/Kurt Rossmann: Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen, Berlin: Springer, 1961. 17 Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1963; Ders.: Abschied von der Hochschulpolitik oder Die Universität im Fadenkreuz des Versagens, Bielefeld: BertelsmannUniversitätsverlag, 1969. 18 Jürgen Habermas: Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969. 19 Dietrich Goldschmidt: Einführung: Zur Situation der Hochschulforschung, in: Michael Jenne/Marlis Krüger/Urs Müller-Plantenberg: Student im Studium. Untersuchungen über Germanistik, Klassische Philologie und Physik an drei Universitäten, Stuttgart: Klett, 1969, S. 13–18, hier S. 15.

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den 70er Jahren ein,20 maßgeblich forciert durch das zeitweilig nun beträchtliche Volumen staatlicher Auftragsforschung.21 Ein Versuch, die Argumentationsmatrix des Hochschuldiskurses jener Jahre nach Bezugs- und Begründungsebenen aufzugliedern, könnte grob zwischen vier konkurrierenden Referenzmustern unterscheiden, interpretativen Rahmungen, die jeweils auf bestimmten Wissenstypen und unterscheidbaren Rechtfertigungsfiguren beruhten. Die vier kategorialen Referenzen der hochschulpolitischen Argumentation waren 1. die Tradition, Idee und Identität der deutschen Universität, 2. die gesellschaftlichen Ansprüche und Anforderungen, vor die sich diese aktuell gestellt sah und künftig gestellt sehen würde, 3. die eher episodische Bezugnahme auf ausländische Modelle und internationale Entwicklungen im Hochschulsystem und 4. die empirisch messbaren Problemgestalt eines Hochschulsystems, das sich im Übergang von der Eliten- zur Massenuniversität befand. Im Folgenden soll es ebenso wenig um den vornehmlich retrospektiv und normativ geführten Identitätsdiskurs wie um die mehr im Modus prospektiver Programmdebatten ausgefochtenen Kämpfe um die gesellschaftliche Bedeutung der Bildungspolitik gehen. Auch die Ansätze zu einer auf internationalen Modellvergleichen basierenden Argumentation, die sich vereinzelt beobachten lassen, stehen nicht im Mittelpunkt des Interesses. Im Zentrum der Betrachtung steht vielmehr die „Einübung des Tatsachenblicks“22 in der Bildungsforschung. Untersucht werden vor allem Beispielfälle einer hochschulbezogenen Forschung aus dem Geist der empirischen Sozialwissenschaften23 und zwar namentlich unter dem Gesichtspunkt, welche Anschlussfähigkeit sie im politischen Prozess besaßen, welche Resonanz sie zu erzeugen vermochten und welchen erkennbaren Nutzen sie für die Hochschulpolitik abwarfen. Dabei wird davon ausgegangen, dass politische Konflikte vielfach mit Konflikten um die kognitive Basis von Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozessen verbunden sind: Die Verfügbarkeit und der Zugriff auf Daten, Informationen und Wissensbestände bilden ebenso wie das Wissen, wie diese interpretiert und verwertet werden können, eine Ressource, die sich in der politischen Auseinandersetzung einsetzen lässt, will man einer Argumentationslinie stärkeres Profil und größere Glaubwürdigkeit verleihen – die sich aber auch durch tunliche Nicht-Beachtung entschärfen lässt, sofern sie gegenläufigen politischen Interessen widerspricht.

20 Als Überblick für einen etwas späteren Zeitpunkt vgl. Dietrich Goldschmidt/Ulrich Teichler/Wolff-Dietrich Webler (Hg.): Forschungsgegenstand Hochschule. Überblick und Trendbericht, Frankfurt/M.: Campus,1984. 21 Vgl. Ulrich Teichler: Hochschulpolitik und soziologische Forschung über Hochschulfragen, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 2 (1983), S. 225–235. 22 In Anlehnung an das die Entwicklung allerdings bis weit in das 19. Jahrhundert zurückverfolgende Buch von Wolfgang Bonß: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. 23 Vgl. Christoph Weischer: Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München: Oldenbourg, 2004.

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Genauer betrachtet, lassen sich Informationen und Wissensbestände im politischen Prozess auf sehr unterschiedliche Weise und in stark variierenden Kontexten verwerten. Sie können helfen, anstehenden Entscheidungen eine Richtung zu verleihen, können aber auch genutzt werden, um eine im Grundsatz bereits getroffene Entscheidung zu legitimieren. Mal dienen sie mehr der Problemerkennung und Problemsondierung, mal sind sie eher auf die Modellierung etwaiger Problemlösungen ausgerichtet. Im einen Fall liefern sie konkrete Kennziffern für politische Steuerungsprozesse, im anderen geben sie eine allgemeine Orientierung, welche politischen Handlungsoptionen überhaupt zur Verfügung stehen.24 Das Funktionsbild ließe sich leicht weiter auffächern. Immer sind Wissensressourcen, darauf kommt es hier vor allem an, im politischen Prozess jedoch Verwertungsprozessen ausgesetzt, bei denen sie an die bestehenden Interessen und normativen Ordnungsmuster der beteiligten Akteure rückgebunden und diesen in unterschiedlichen Intensitätsgraden auch untergeordnet werden. Als Hintergrund der politischen Nachfrage nach solchen Ressourcen sind also stets die Interessen und machtpolitischen Einflusschancen zu analysieren, mit denen sie eine Verbindung eingehen. Im Folgenden wird zunächst einleitend ein Blick auf einen gescheiterten Versuch geworfen, Ressortforschung im Hochschulbereich auf Bundesebene zu institutionalisieren, um dann anschließend vier Fallbeispiele der Interaktion von Hochschulforschung und Hochschulpolitik zu beleuchten. Die jeweiligen Berührungspunkte wurden so ausgewählt, dass dabei sowohl verschiedene Adressaten (Fachkommunitäten, Landesministerien, Bundesebene, Einzelhochschulen), unterschiedliche Wissensgebiete (Bildungssoziologie, Bildungsgeographie, Bildungsökonomie, Bildungsverwaltung) wie auch unterschiedliche Wissenstypen (Problemsondierungs-, politisches Planungs-, administratives Steuerungswissen) untersucht werden. Ein Bundesinstitut für Hochschulforschung? Ressortforschung als Mittel politischer Einflusssicherung Eine Episode aus der Frühgeschichte des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (BMBW) verdeutlicht den erhöhten Bedarf und gestiegenen Stel24 Vgl. statt vieler Einzelnachweise zur reseach utilization- bzw. Verwendungsforschung stellvertretend Matthias Wingens: Soziologisches Wissen und politische Praxis. Neue theoretische Entwicklungen der Verwendungsforschung, Frankfurt/M.: Campus, 1988; Christoph Lau/Ulrich Beck: Definitionsmacht und Grenzen angewandter Sozialwissenschaft. Eine Untersuchung am Beispiel der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1989; vgl. auch Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2001; zur Geschichte der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik vgl. zusammenfassend Wilfried Rudloff: Geschichte der Politikberatung, in: Stephan Bröchler/Rainer Schützeichel (Hg.): Politikberatung, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2008, S. 83–103.

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lenwert des Zugangs zu Informations- und Wissensbeständen, die mit dem Attribut der „Wissenschaftlichkeit“ versehen waren, in der Hochschulpolitik und Hochschulplanung jener Jahre. Nachdem der Bund 1969 durch Grundgesetzänderung verfassungsrechtliche Mitwirkungsrechte sowohl an der „Gemeinschaftsaufgabe“ des Hochschulausbaus und -neubaus wie auch an der gesamtstaatlichen Bildungsplanung erworben hatte,25 wurden die Informations- und Wissensprobleme, die mit den neuen Planungsansprüchen verbunden waren, bald stark empfunden. Es entsprach einer zu jener Zeit allenthalben zu beobachtenden Entwicklung, wenn im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft deshalb 1973 Überlegungen angestellt wurden, durch die Errichtung eines eigenen Bundesinstituts für Hochschulfragen einen ressortgebundenen Zugang zur Forschung und Informationsaufbereitung zu erlangen.26 Ressortforschungseinrichtungen dieser Art wurden in den 60er und 70er Jahren in beträchtlicher Zahl gegründet27 und der Bundesbildungsminister der Jahre 1972 bis 1974, Klaus von Dohnanyi, zählte zu denjenigen Vertretern der sozialliberalen Koalition, denen eine Erweiterung der Informations- und Wissensgrundlagen politischer Entscheidungsprozesse besonders am Herzen lag.28 Eine erste ministerielle Blaupause dachte dem neu zu gründenden Bundesinstitut unter anderem die Aufgaben zu, wissenschaftliche Unterlagen zu Fragen der Studienreform zur Verfügung zu stellen, Nachfrage und Bedarf an Studienplätzen im Voraus zu schätzen, Informationen über ausländische Entwicklungen und Erfahrungen zu liefern oder Forschungen über die Verwendung neuer technischer Medien zu fördern.29 Weitere Überlegungen zur Präzisierung des anvisierten Aufgabenprofils folgten. Eine Kabinettsvorlage des Ministeriums vom 20. August 1973 betonte, bei der Arbeit in den neuen Hochschulplanungsgremien, wie sie seit der Verfassungsänderung von 1969 entstanden waren, habe sich gezeigt, dass 25 Peter Lichtenberg/Jürgen Burckhardt/Dietrich Elchlepp: Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, Bad Honnef: Bock, 1971. 26 Rudloff: Verwissenschaftlichung. 27 Hans-Willy Hohn/Uwe Schimank: Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem. Akteurskonstellationen und Entwicklungspfade in der staatlich finanzierten außeruniversitären Forschung, Frankfurt/M.: Campus, 1990, S. 297–341. Auch auf Länderebene waren eine Reihe von Regierungen im Begriff, Staatsinstitute für Bildungsforschung zu errichten – oder hatte solche bereist errichtet. Als Ressortforschungseinrichtungen sollten diese Institute den Ministerien bei ihrer Aufgabenerfüllung wissenschaftlich zuarbeiten, wirkten freilich auch hier fast ausschließlich im Schulbereich, vgl. Wilfried Rudloff: Der verlängerte Arm der Kultusministerien in der Bildungsforschung. Die staatsnahen Bildungsforschungsinstitute in den 1960er und 1970er Jahren, in: Axel C. Hüntelmann/Michael C. Schneider (Hg.): Jenseits von Humboldt. Wissenschaft im Staat 1850–1990, Frankfurt/M.: Lang, 2010, S. 61–83. 28 Vgl. Jochen Thies: Die Dohnanyis. Eine Familienbiografie, Berlin: Ullstein, 2005, S. 254; siehe auch Klaus von Dohnanyi: Politik und wissenschaftliche Beratung – Reißt die Kluft auf? in: Ullrich Heilemann/Dietmar Kath/Norbert Kloten (Hg.): Entgrenzung als Erkenntnisund Gestaltungsaufgabe. Festschrift für Reimut Jochimsen zum 65. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 1998, S. 109–114. 29 Rohentwurf betr. Errichtung eines Instituts für die Forschung über Fragen des Hochschulwesens, o. D. [Juni 1973], BArch, B 138, Nr. 35386.

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„ausreichende Entscheidungsgrundlagen weder von den einzelnen Ländern noch von der Gesamtheit der Länder zur Verfügung gestellt werden können.“30 Das BMBW hatte bereits eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen zur weiteren strukturellen und quantitativen Entwicklung der Hochschulen in Auftrag gegeben; aus Sicht des Ministeriums stand zu erwarten, dass der Bedarf an solchen Untersuchungen im Zusammenhang mit der nunmehr in Angriff genommenen gesamtstaatlichen Bildungsplanung noch weiter steigen würde. Das Ministerium wollte sich, wie hinter den Kulissen erläutert wurde, eine eigene Meinung bilden können, statt sich „immer wieder darauf berufen“ zu müssen, „dass andere der oder jener Meinung seien“, und es wollte aus eigener Quelle an die benötigten Informationen herankommen, statt immer nur am langen Arm der Kultusminister gehalten zu werden.31 Die Erweiterung der eigenständigen Informationsbasis konnte zugleich als ein Versuch verstanden werden, politische Zuständigkeits- und Kompetenzdefizite gegenüber den Länderministerien durch besondere kognitive Ressourcen auszugleichen.32 Im Hintergrund stand ferner die Erfahrung, in einer Zeit sehr grundsätzlicher und weitreichender Reformdebatten schlechterdings nicht über die zeitlichen und personellen Ressourcen zu verfügen, deren es bedurfte, um die eigenen Vorlagen und Entwürfe hinreichend durchdenken und unter dem Gesichtspunkt ihrer Wissensfundierung wetterfest und sturmsicher machen zu können. „Wir gehen einfach ein im Termingeschäft, das wir nicht delegieren können“, hatte sich intern der für die Hochschulplanung zuständige Abteilungsleiter beklagt: „Was uns fehlt, ist ‚Denkzeit’ bei uns selbst. So entstehen mehr und mehr schlechte, undurchdachte Vorlagen […].“33 Das Vorhaben stieß freilich nicht allein bei den CDU-geführten Landesregierungen, sondern auch in den sozialdemokratisch regierten Ländern NordrheinWestfalen und Hessen auf verfassungsrechtliche Bedenken.34 Ähnliche Zweifel wurden von der Westdeutschen Rektorenkonferenz geäußert.35 Die Bemühungen des Bundesministeriums, all diese Einwände zu entkräften, indem das geplante

30 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Klaus von Dohnanyi an den Chef des Bundeskanzleramts Horst Grabert, 20.08.1973, mit Kabinettsvorlage betr. Errichtung eines Bundesinstituts für Hochschulfragen, BArch, B 138, Nr. 35386. 31 Schreiben von Ministerialdirektor Eberhard Böning, Leiter der Abteilung „Bildungsplanung, Hochschulen“ im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft an Waldemar Krönig vom 22.01.1974, BArch B 138, Nr. 35387. 32 Vgl. auch Lau/Beck: Definitionsmacht, S. 259. 33 Eberhard Böning an Staatssekretär Reimut Jochimsen, 13.04.1972, BArch, N 1411, Nr. 8. 34 Ergebnisniederschrift über die Besprechung im BMBW am 17.01.1974, BArch, B 138, Nr. 35387; Staatssekretär Herbert Schnoor, Ministerium für Wissenschaft und Forschung Nordrhein-Westfalen, an Staatssekretär Reimut Jochimsen, BMBW, 09.05.1974, BArch, B 138, Nr. 35388; Schreiben von Erhard Denninger, Leiter der Hochschulabteilung im hessischen Kultusministerium, vom 18.03.1974, ebd. 35 Gerd Roellecke, Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, an Bundesminister Klaus von Dohnanyi, 17.04.1974, BArch, B 138, Nr. 35388.

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Bundesinstitut als bloße „Fortsetzung der Administration mit anderen Mitteln“36 bezeichnet wurde, blieben demgegenüber erfolglos. Da half es auch nichts, wenn das Ministerium versuchte, für die Einrichtung mit dem Argument zu werben, sie diene vor allem der rationellen Entscheidungsvorbereitung, da sich das Ministerium dann endlich, entlastet von den Mühen der Informationsverarbeitung, „auf seine Aufgabe, auf gesicherter Datenbasis Entscheidungsprozesse voranzutreiben“, beschränken könne.37 Da sich die Widerstände als kaum überwindbar erwiesen, verlor die Idee, die Position des Bundes im politischen Entscheidungsprozess durch die Schaffung eigenständiger Bezugsquellen von Informations- und Wissensressourcen zu stärken, spätestens seit dem Ministerwechsel zu Helmut Rhode 1974 an Rückhalt und verlief alsbald im Sande.38 Was sich an ihr illustrieren lässt, ist jedoch die Absicht, durch die Verbesserung der ministeriellen Wissensbasis zugleich auch die Stellung des Ministeriums in der politischen Auseinandersetzung zu stärken. Wissen wurde als machtpolitische Ressource begriffen. Studentenverhalten und Studienreform: Was läuft falsch beim Studium an den Hochschulen? Wendet man den Blick nun den einzelnen Teilbereichen der Hochschulpolitik zu, gehörte zu den großen Dauerbrennern der Reformdiskussion seit den 50er Jahren die Frage der Studienreform. Die Studienreformdebatte stützte sich lange Zeit vornehmlich auf die Primärwahrnehmungen der hochschulpolitischen Akteure. Deren gemeinsamer Ausgangspunkt lag in der Überzeugung, dass Verlauf und Ertrag des Studiums in hohem Maße verbesserungsbedürftig waren: es werde, so hieß es in aller Regel, zu lange, zu unsystematisch, zu wenig effizient und zu oft ohne abschließenden Erfolg studiert.39 Um das implizite Wissen der Universitätslehrer durch explizites, empirisch gesichertes und methodisch kontrolliertes Wissen zu ergänzen, wurde seit den 60er Jahren eine Reihe von Untersuchungen vorgenommen, die stichprobenartig Studienverläufe und Studiengeschehen unter die 36 So ein Vertreter des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, vermutlich Staatssekretär Reimut Jochimsen, auf einer Besprechung im Bundesministerium, BMBW: Ergebnisniederschrift über die Besprechung am 17.01.1974, S. 4, BArch, B 138, Nr. 35387. 37 Ergebnisniederschrift über die Besprechung im BMBW am 17.01.1974, S. 4, BArch, B 138, Nr. 35387. 38 BMBW: Vermerk Referat IV A 1, Dr. Gieseke, für Bundesminister Helmut Rohde mit Randbemerkung des Ministers, 05.06.1974, BArch, B 138, Nr. 40191; BMBW: Vermerk Referat IV A 1, Dr. Gieseke, für Bundesminister Rohde, 18.06.1974, ebd. 39 Als Überblick über die Geschichte der Studienreform seit den 50er Jahren vgl. Barbara M.-L. Steiger: Zur Entwicklung der überregionalen Bemühungen um die Studienreform seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.): Materialien zur Studienreform, Bonn: Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1979, S. 157–175; Wilfried Rudloff: Die Studienreform in der Hochphase der Hochschulexpansion: Zwischen Effektivierung und Projektstudium? in: Rainer Pöppinghege/Dietmar Klenke (Hg.): Hochschulreform früher und heute. Zwischen Autonomie und gesellschaftlichem Gestaltungsanspruch, Köln: sh-Verlag, 2011, S. 186–216.

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Lupe nahmen. Die erste Hochschulstudie, die das neue Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin 1966 vorlegte, war eine empirische Untersuchung zum Studienverlauf und zur Studiendauer eines Immatrikulationsjahrgangs an vier bundesdeutschen Hochschulen.40 Sie war, darin eher untypisch, vom Wissenschaftsrat angeregt worden41 und lieferte mit ihren erstmals auf breiter Grundlage ermittelten, nach Fachgruppen differenzierten Daten zur Studienabbruchsquote, zum Studienwechsel und zur Studiendauer empirische Munition für die mit wachsender Intensität geführte Studienreformdebatte. Dass die Arbeit von Kath, Oehler und Reichwein auch über die engere Fachöffentlichkeit hinaus wahrgenommen wurde, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich aus ihr hochschulpolitisch Funken schlagen ließen. Allerdings: Wenn von den Studienanfängern des Sommersemesters 1957 nur 63% das Studium abgeschlossen hatten, von den weiblichen Studierenden gar nur 49%, konnte dies nur bei oberflächlicher Lektüre als Beleg für die in weiten Kreisen der Hochschullehrerschaft kursierende Auffassung dienen, einem beträchtlichem Teil der Studenten fehle die für das akademische Studium erforderliche Eignung. Die mitgeteilten Daten lieferten weit eher einen Hinweis darauf, dass mit stärker strukturierten Studiengängen eine kürzerer Studiendauer einherzugehen pflegte. Dieser Befund untermauerte die aktuelle Forderung des Wissenschaftsrats, der Rektorenkonferenz und der KMK, in allen Studienfächern Prüfungsordnungen, Zwischenprüfungen und Regelstudienzeiten einzuführen und darüber hinaus flächendeckend Formen der Studienberatung zu institutionalisieren. Eine drei Jahre später vorgelegte, nunmehr auch qualitativ angelegte Nachfolgeuntersuchung des Berliner Instituts zum Studienverlauf in drei universitären Fächern (Germanistik, Klassische Philologie und Physik) durchleuchtete das Zusammenspiel von institutionellen Studienbedingungen, individueller Studienmotivation und Selbstverständnis der Wissenschaften – der inneren Situation, Lehrpraxis und Didaktik der Fächer.42 Die Untersuchung der Lage der Studenten erfolgte hier nicht mehr isoliert von den fachdisziplinären Kontexten des Studiums. Die Krise des Studiums – so der Interpretationsansatz der Autoren – wurde vielmehr gerade als Ausdruck einer Orientierungskrise der untersuchten Wissenschaften verstanden. Solche Befunde waren geeignet, die studentische Kritik an der These der begrenzten Studierfähigkeit zu stützen. Dass falsch studiert werde, so hieß es von Seiten der Studentenbewegung nunmehr, liege vornehmlich daran, dass falsch gelehrt werde.43 Bei der Vorstellung der Studie im Wissenschaftlichen Beirat des Max-Planck-Instituts verwies deren Leiter Dietrich Goldschmidt unter anderem auf den Befund, dass die Germanistik zwar zu ca. 80% Lehrer ausbilde, 40 Gerhard Kath/Christoph Oehler/Roland Reichwein: Studienweg und Studienerfolg, Berlin: Institut für Bildungsforschung, 1966. 41 Die Vertreter der Kultusministerien, aus denen sich die Verwaltungskommission des Wissenschaftsrats zusammensetzte, erörterten die Ergebnisse der Studie im Mai 1966, vgl. Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats: Protokoll der 30. Sitzung der Verwaltungskommission des Wissenschaftsrats am 13.05.1966, BArch, B 138, Nr. 2880. 42 Jenne/Krüger/Müller-Plantenberg: Student im Studium. 43 Rudloff: Die Studienreform, S. 200f.

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aber darauf in ihrem Studienangebot nicht die geringste Rücksicht nehme.44 Für die Autoren Jenne, Krüger und Müller-Plattenberg beruhte die Krise des Studiums insbesondere auf der problematischen Einstellung der Universität zur Berufsausbildung. Von diesen Befunden aus ließ sich dann eine Brücke zu der Forderung schlagen, die bislang so gut wie inexistente Hochschuldidaktik auszubauen, die in den frühen 70er Jahren einen kurzen Boom erlebte.45 Ebenso wurden Argumente jener Studienreformer gestärkt, die einer stärkeren Einbindung berufsvorbereitender Studienelemente das Wort redeten. Die beiden Studien des Berliner Instituts gehörten zu den am stärksten beachteten Untersuchungen aus einem wachsenden Fundus an Arbeiten, die sich dem Studienverhalten, der Studienmotivation und den Studienbedingungen widmeten. Deren Zahl sollte vor allem in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, als sich die Bedingungen des Studiums an den Hochschulen rapide verschlechterten, weiter zunehmen.46 Untersuchungen dieser Art machten das Bezugsfeld der Studienreformdebatte transparenter und dessen neuralgische Punkte deutlicher sichtbar. Besonders in der zweiten Hälfte der 70er Jahre fand hier mit den Modellversuchen im Hochschulwesen ein besonderer Typus der Wissensgenerierung Verbreitung: das probeweise Reformieren im Modus experimenteller Politik.47 Indem bildungspolitische Innovationen zunächst unter wissenschaftlicher Kontrolle getestet und die eingesetzten Mittel auf intendierte Folgen und unbeabsichtigte Nebenwirkungen hin überprüft wurden, sollte die Zielsicherheit hochschulpolitischen Reformierens gesteigert werden. Modellversuche solcher Art hatten beispielsweise die Entwicklung gestufter, integrierter und praxisorientierter Studiengänge, die Erprobung der einstufigen Lehrer- und Juristenausbildung oder die Einführung des Kontaktstudiums zum Gegenstand. Ihre Erträge waren von sehr unterschiedlicher Natur.48 So trugen die Modellversuche an den neu gegründeten Gesamthochschulen, insbesondere der Gesamthochschule Kassel, dazu bei, neuartige Studien-

44 Protokoll der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft am 31.10.1966, S. 12, MPGA Abt. II, Rep. 43, Kasten 18. 45 Rudloff: Die Studienreform, S. 201ff. 46 Als Überblick über die Studienreformprojekte vgl. Ulrich Meindl: Zur Situation der Studienreform: Eine kommentierte Dokumentation, München: Verlag Dokumentation, 1977; siehe auch Johannes Wildt: Studiengangsentwicklung und Studiengangsmodelle, in: Ludwig Huber (Hg.): Ausbildung und Sozialisation in der Hochschule (= Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 10), Stuttgart: Klett-Cotta, 1983, S. 307–330; Heinz Griesbach/Franz Durrer/Gerd Kath/Christoph Oehler: Studenten, Studiensituation und Studienverhalten, in: ebd., S. 219–249. 47 Kriterienkatalog für die gemeinsame Finanzierung von Modellversuchen im Hochschulbereich vom 05.10.1972, BArch, B 138, Nr. 57466; Geschäftsstelle der BLK: Modellversuche im Hochschulbereich, 08.10.1973. Gesamtübersicht über die von Bund und Ländern gemeinschaftlich finanzierten Modellversuche (Stand 30.06.1973), Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), 504, Nr. 5517; BMBW: Zwischenbilanz „Fünf Jahre Modellversuche im Hochschulbereich“ (überarb. Entwurf), 24.06.1977, BArch, B 138, Nr. 57006. 48 BMBW: Zwischenbilanz Fünf Jahre Modellversuche im Hochschulbereich, Entwurf für den Abschnitt II. 2: Modellversuche zur Studienreform, 30.06.1977, BArch, B 138, Nr. 28977.

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gänge mit gestuftem und integrierten Charakter zu entwickeln.49 Schon eine Zwischenbilanz des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft aus dem Jahr 1977 ließ allerdings – wie sich bald zeigen sollte: zu Recht – Zweifel daran erkennen, ob Studiengänge dieser Art sich auch auf andere Hochschulen würden übertragen lassen.50 Ein weiterer Schwerpunkt der Modellversuche, die Einführung einer einstufigen Lehrer- und Juristenausbildung, scheiterte in seiner praktischen Umsetzung weniger an immanenten Problemen als an politischen Blockaden. Und auch die Modellversuche, die darauf abzielten, Formen des Kontaktstudiums und weiterbildende Studienangebote zu entwickeln, entfalteten über die Etablierung punktueller Angebote hinaus wenig Durchschlagskraft. Bereits 1976 vermisste das Bundesministerium bei den Kultusministerien das nötige Engagement, brauchbare und politisch verwertbare Ergebnisse, welche die Modellversuche vorzuweisen hatten, in die Praxis umzusetzen.51 Dabei sollte es auch künftig im Großen und Ganzen bleiben. Weiße Flecken auf der hochschulpolitischen Landkarte: Regionale Bildungsforschung und Bildungsplanung Ein neuartiger Bestand an mit den Mitteln der Wissenschaft generierten Daten und Informationen, der in den 60er und 70er Jahren hochschulpolitische Bedeutung erlangte, lag in den Befunden und Erkenntnissen des bis dahin weitgehend unbekannten Forschungszweigs der regionalen Bildungsforschung.52 Empirische Daten zu den studentischen Wanderungstendenzen, zur regionalen Herkunft der Studierenden und zur Streuung des relativen Hochschulbesuchs waren bis in die 60er Jahre Mangelware. Da es an raumbezogenen Kriterien und soliden empirischen Befunden für Standortentscheidungen im Hochschulwesen fehlte, waren diese Entscheidungen unter Raumordnungsgesichtspunkten mitunter wenig systematisch erfolgt. In diese Lücke stieß 1965 die Pionierstudie „Hochschulstandorte – Hochschulbesuch“ des Sozialgeografen Clemens Geißler von der Technischen Universität Hannover.53 Geißler entwickelte eine Reihe von raumbezogenen 49 Vgl. Rudloff: Die Studienreform, S. 207ff. 50 BMBW: Zwischenbilanz Fünf Jahre Modellversuche im Hochschulbereich, Entwurf für den Abschnitt II. 2: Modellversuche zur Studienreform, 30.06.1977, BArch, B 138, Nr. 28977. 51 BMBW, Abt. IV A 3, Dr. Böning: Entwurf eines Schreibens an den Vorsitzenden der AG Modellversuche im Hochschulbereich der BLK, Ministerialdirigent Piazolo, 07.05.1976, BArch, B 138, Nr. 57017. 52 Wilfried Rudloff: Bildungsboom und „Bildungsgefälle“ – Räumliche Disparitäten, regionale Bildungsplanung und Bildungsexpansion in der alten Bundesrepublik, in: Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 335–371, hier bes. S. 346ff. 53 Clemens Geißler: Hochschulstandorte – Hochschulbesuch, 2 Teile (= Schriftenreihe der Arbeitsgruppe Standortforschung, Bd. 1), Hannover: Jänecke, 1965; vgl. auch Ders.: Hochschulstandorte – Hochschulbesuch. Kurzfassung eines Berichtes über die Ergebnisse einer Untersuchung der Wechselbeziehungen von Herkunft der Studierenden und Hochschulstandorten, in: Deutsche Universitäts-Zeitung 20.10 (1965), S. 6–8.

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Analysekategorien, die – wie das Konzept der „Hochschulregion“ oder das der „Bildungssesshaftigkeit“ – in das Begriffsarsenal der bundesdeutschen Hochschulplanung eingingen. Auf der Grundlage einer bundesweiten Sondererhebung des Statistischen Bundesamtes für das Wintersemester 1960/61 ergründete er die regionale Herkunft der Studenten, den relativen Hochschulbesuch auf der Ebene kleiner Gebietseinheiten und die Einzugsbereiche der einzelnen Hochschulen. Was sich dabei zeigte, war nicht nur, dass der relative Hochschulbesuch, der Anteile der Studierenden an der Wohnbevölkerung, zwischen den Ländern beträchtlich schwankte: Unter den Flächenländern übertraf das Land mit der höchsten Quote, Hessen, das mit der niedrigsten Quote, Rheinland-Pfalz, um 58 Prozent.54 Geißlers Studie dementierte auch gängigen Vorstellungen von einer hochmobilen Studentenschaft. Es bestand eine starke Neigung zur „Bildungssesshaftigkeit“, zur Immatrikulation am jeweils nächstgelegen Hochschulstandort, zugleich wurde die Studienfachwahl stark durch das heimatnah jeweils verfügbare Studienangebot beeinflusst. Mit Hilfe des Konzepts der „Hochschulregion“ ließ sich das Einzugsgebiet der Hochschulen abgrenzen und somit deutlich machen, wo auf der bildungspolitischen Landkarte noch „weiße Flecken“ zu verzeichnen waren. Dort, wo Hochschulen bestanden, erwies sich die Studienbereitschaft als sehr viel höher als in den Regionen, die unzureichend mit Hochschulen versorgt waren. Geißlers methodischer Ansatz ließ damit auch Aussagen darüber zu, welche neuen Hochschulstandorte am besten geeignet sein würden, einen Beitrag zur Abschöpfung ungenutzter Begabungsreserven zu leisten. Tatsächlich entwickelte sich Geißler in den folgenden Jahren zu einem gefragten Gutachter bei der Standortwahl neu zu gründender Hochschulen, so etwa in Osnabrück,55 Bielefeld,56 Kassel57 oder Trier.58 An der TU Hannover wurde 54 Geißler: Hochschulstandorte, S. 91. 55 Horst Wetterling: Die Gründung der Universität Osnabrück 1960–1970, Osnabrück: Fromm, 1972, S. 50ff.; Clemens Geißler: Osnabrück als Standort einer Universität. Grundlagen und Methoden der regionalen Hochschulplanung dargestellt am Beispiel des norddeutschen Raumes und des potentiellen Hochschulstandortes Osnabrück, Hannover, 1967 (es handelt sich dabei um Geißlers ungedruckte Habilitationsschrift). 56 Martin Löning: „Bielefeld erhält die Universität“. Eine Darstellung der Standortentscheidung für die ostwestfälische Universität aus Bielefelder Sicht, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 85 (1998/1999), S. 263–302, bes. S. 281f.; Clemens Geißler/Dietrich Storbeck: Standortbestimmung einer Universität. Gutachten zum Standort einer Universität in Ostwestfalen, Münster: Zentralinstitut für Raumplanung, 1967. 57 Jürgen Nautz: Die historische Chance. Zur Entstehungsgeschichte der Gesamthochschule in Kassel, in: Annette Ulbricht-Hopf/Christoph Oehler/Jürgen Nautz (Hg.): ProfilBildung. Texte zu 25 Jahren Universität Gesamthochschule Kassel, Zürich: vdf-Hochschulverlag, 1996, S. 37–75, hier S. 47–50 u. 53; Arbeitsgruppe Standortforschung, Technische Universität Hannover: Regionale Hochschulplanung in Hessen. Kassel als Hochschulstandort, Hannover: Jänecke, 1971. 58 Memorandum der Landesregierung Rheinland-Pfalz zur Gründung einer zweiten Universität, in: Ministerium für Unterricht und Kultus Rheinland Pfalz (Hg.): Universitätsgründung Trier – Kaiserslautern. Eine Dokumentation, Neustadt: Meininger, 1971, S. 1–29, hier S. 1f.; Arbeitsgruppe Standortforschung, Technische Universität Hannover: Regionale Hochschulplanung im Land Rheinland-Pfalz. Trier als Standort einer Universität, Hannover: Jänecke, 1969.

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zunächst eine „Arbeitsgruppe Standortforschung“ eingerichtet. Deren Forschungsund Beratungstätigkeit wurde 1973 dann verselbstständigt und, finanziert durch das Land Niedersachsen, in ein neues „Institut für regionale Bildungsplanung“ überführt. Auch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft zeigte sich an den Arbeiten der regionalen Bildungsforscher interessiert;59 ein Vermerk für Bildungsminister Leussink befand 1971, die Forscher in Hannover seien bundesweit die einzigen, die sich gründlich und anwendungsorientiert mit den Regionalproblemen im Bildungswesen beschäftigen.60 Um sich „mehrjährig einen Teil der Arbeitskapazität des Instituts zu sichern“,61 schloss die Bundesregierung 1972 einen Kooperationsvertrag, der dem Institut jährlich Forschungsaufträge in Höhe von einer Million DM garantierte. Zu den Forschungsaufträgen gehörten etwa Simulationsrechnungen, die als Grundlage für die Standort- und Kapazitätsplanung der einzelnen Bundesländer dienen sollten.62 Die vom Institut für regionale Bildungsplanung vorgelegten Prognosen der Studienanfänger- und Studentenzahlen mit Regional- und Flächenverteilung fungierten 1974 als Vorarbeit für den „Rahmenplan“ nach dem Hochschulbauförderungsgesetz63 (der „Rahmenplan“ war seit Beginn der 70er Jahre das zentrale Instrument für die längerfristige Koordination des Hochschulausbaus der Länder und für die Verteilung der Bundesmittel in der Hochschulplanung). In Nordrhein-Westfalen trug ein Gutachten der Arbeitsgruppe Standortforschung zur gleichen Zeit maßgeblich dazu bei, dass die Landesregierung in der Frage der Hochschulstandorte von einem Konzept der Metropolisierung und Konzentration auf eine Politik der Regionalisierung und Dezentralisierung umschaltete.64 Man darf den Einfluss der regionalen Bildungsforscher allerdings auch nicht überschätzen. Der Wirkungsbereich des Instituts beschränkte sich im Wesentlichen auf den norddeutschen Raum. Mehr als einmal dürften seine Gutachten eher 59 Schon 1967 war Geißler vom Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung gebeten worden, für den Bundesbericht Forschung II einen Text zur Hochschulplanung unter regionalpolitischen Gesichtspunkten zu verfassen; Oberregierungsrat Menke-Glückert, BMwF, an Clemens Geißler, 08.02.1967, BArch, B 138, Nr. 56887; Schreiben Geißlers an MenkeGlückert, 13.02.1967, mit einer entsprechenden Textvorlage, ebd. 60 BMBW, Vermerk Rederat II B 4, Dr. Hirsch, für Minister Leussink, 10.02.1971, BArch, B 138, Nr. 56888. 61 BMBW, Vermerk Referat IV B 1, Dr. Haase, für Referat I 1, 31.07.1974, BArch, B 138, Nr. 56892. 62 BMBW, Vermerk Referat IV B 1, Dr. Haase, 08.01.1974, Barch, B 138, Nr. 56891; vgl. zu den Forschungen im Auftrag des BMBW, die, wie Geißler sich überzeugt zeigte, in „zahlreichen Beratungen bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen“ als Grundlage gedient hatten, das Schreiben Geißlers an Bundesminister Helmut Rohde vom 06.06.1974, BArch, B 138, Nr. 56892. 63 BMBW, Vermerk Referat IV B 1, Klinke, für den Abteilungsleiter IV zu den Arbeiten der AG Standortforschung, 16.08.1973, BArch, B 138, Nr. 56891. 64 Gerhard Rimbach: Vom Reformmodell zur modernen Universität. 20 Jahre Gesamthochschulen in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 1992, S. 84f., 88ff. u. S. 106ff.; Rainer Stierand: Hochschulneugründungen in Nordrhein-Westfalen. Prozeßanalyse einer „wirklichen“ staatlichen Planung, Dortmund: IRPUD, 1983, S. 184ff.

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die Funktion besessen haben, länger schon angebahnten Standortentscheidungen eine wissenschaftliche Beglaubigung zu verleihen, um sie so vor der Öffentlichkeit zu legitimieren. Mit problematischen Prognosen wie der, die Universität Göttingen werde nach dem erwarteten Abflauen der Studentenzahlen ab den 80er Jahren drastisch zusammenschrumpfen, hatten sich die regionalen Bildungsforscher aus Hannover nicht immer nur Freunde gemacht.65 Ob die groben Umrisse der hochschulpolitischen Landkarte ohne deren Wirken Ende der 70er Jahre grundlegend anders ausgesehen hätten als tatsächlich der Fall, mag bezweifelt werden. Immerhin hat ihre Expertise den Verantwortlichen in nicht wenigen Fällen ein Maß an Trittsicherheit verliehen, das sie anders auf dem unübersichtlichen Gelände der Standort- und Hochschulplanung nicht erlangt hätten. Bildungsplanung und Bedarfsprognosen: Die Klippen und Gefahren wissenschaftlicher Vorausberechnung Ein drittes Beispiel aus dem Fundus jener neuartigen Wissensbestände, die in den Jahren von Bildungsboom und Hochschulexpansion auf dem Nährboden einer wachsenden politischen Nachfrage nach wissenschaftlich unterfütterter Expertise entstanden, entstammt aus dem Bereich der bildungsökonomischen Planungsforschung.66 Politische Planungspraxis und bildungsökonomische Planungsforschung, so ist hier zunächst festzuhalten, standen in einem doppelten Verhältnis zueinander, einem Verhältnis, das gleichermaßen durch Nähe wie Distanz gekennzeichnet war. Da sich die bundesdeutschen Bildungs- und Hochschulplaner in den 60er Jahren auf ein noch wenig erschlossenes Gelände hinauswagten, legten sie gerade auf Bundesebene Wert darauf, sich des Rates der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Experten zu versichern. Das galt in umso stärkerem Maße, je komplexer und langfristiger die Planungen angelegt sein sollten. Mehrfach wurde zu Expertengesprächen geladen, bei denen sich Ministerien und Planungsgremien ein Bild vom „state of the art“ der Planungsforschung zu verschaffen suchten.67 Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft vergab zugleich eine ganze Reihe von Forschungsaufträgen, die das Ziel verfolgten, den Bedarf an hochqua65 Gibt es in acht Jahren 10.000 freie Studienplätze? in: Göttinger Tageblatt vom 27.07.1972; BMBW, Vermerk Referat IV B 1 zu Schreiben der AG Standortforschung an das Pressereferat des BMBW mit beigefügter Pressemeldung, 26.07.1972, BArch, B 138, Nr. 56891. 66 Vgl. hierzu Christoph Oehler: Staatliche Hochschulplanung in Deutschland. Rationalität und Steuerung der Hochschulpolitik, Neuwied: Luchterhand, 2000 (mit zahlreichen historischen Rückblenden); vgl. auch Rudloff: Bildungsplanung. 67 Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats: Protokoll des Expertengespräches über Fragen der Bedarfsberechnungen am 17.01.1969 in Köln, BArch, B 247, Nr. 24; Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats: Introductory Remarks. Meeting of experts fort the forcasting of manpower requirements at Köln on May, 28th, 1969, BArch, B 247, Nr. 24; BMwF, Referat II B 4, Ergebnisvermerk über die Sitzung „Bedarf an Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik Deutschland bis 1980“ vom 09.09.1969, BArch, B 138, Nr. 14656; BMBW, Referat II A 2, Auswertung Besprechung 14.07.1972 über Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften mit Fachleuten aus Wiss. u Verw., 19.07.1972, BArch, B 138, Nr. 14657.

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lifizierten Arbeitskräften auf etwa ein Jahrzehnt hin verlässlich zu prognostizieren.68 Dennoch liefen die Bahnen von Planungspraxis und Planungsforschung bald auseinander. Beide Seiten konzentrierten sich mehr und mehr auf unterschiedliche methodische Ansätze. In der Bildungsökonomie wurde Mitte der 60er Jahre im Allgemeinen zwischen drei Ansätzen unterschieden, von denen nur zwei als praxisrelevant anzusehen waren.69 Für die Planungspraxis weitgehend uninteressant war der Ertragsratenansatz, der, kurz gesagt, den Grenzertrag von Bildungsinvestitionen zu bestimmen suchte. Beim social-demand approach, dem zweiten Forschungs- und Planungsansatz, handelte es sich um ein Verfahren, das nicht auf die Nachfragestrukturen des Arbeitsmarktes, sondern auf die Nachfrage der Gesellschaft nach Bildungschancen abgestellt war. Diesem Ansatz war etwa der Wissenschaftsrat gefolgt, als er 1964 die Zahl der Abiturienten und Studenten bis 1980 prognostizierte.70 Auf der Grundlage der demographischen Entwicklung wurde der Durchlauf der Schüler und Studenten durch das Bildungssystem berechnet, wobei für den Hochschulbereich die voraussichtlichen Erfolgsquoten und die Studiendauer berücksichtigt werden mussten. Der Ansatz beruhte nicht so sehr auf bildungsökonomischen, als vielmehr bildungssoziologischen Größen. Im Falle des Wissenschaftsrats hatte sich die Prognosesicherheit des Ansatzes nicht als sehr hoch erwiesen: Die Zahl der Studenten an den wissenschaftlichen Hochschulen lag 1970 nahezu doppelt so hoch, 1975 fast dreimal so hoch, wie 1964 in der mittleren Variante geschätzt worden war.71 Das lag vor allem daran, dass maßgebliche Faktoren wie der Anstieg der Abiturientenquote oder auch die Zunahme der Studiendauer in ihrer Dynamik nicht voll erkannt worden waren, womit dann zugleich auch die generelle Schwäche des Ansatzes hervortrat, bei trendmäßiger Fortschreibung vergangener Entwicklungen dynamische Veränderungsprozesse nicht hinreichend abbilden zu können.72 Alsbald kam als Problem noch hinzu, dass der Ausbildungsbedarf beim social demand-Ansatz als identisch mit der Bildungsnachfrage verstanden wurde, so dass die Abstimmung von Bildungs- und 68 Für die zu diesem Zeitpunkt laufenden Aufträge des BMBW vgl. den Vermerk von BMBW, Referat II A 2, Ruß, vom 28.04.1972, BArch, B 138, Nr. 14657. 69 Als Überblick vgl. Gerhard Kühlewind/Manfred Tessaring: Argumente für und gegen eine beschäftigungsorientierte Bildungspolitik, Göttingen: Otto Schwartz & Co, 1975, S. 88ff.; Peter Zedler: Einführung in die Bildungsplanung, Stuttgart: Klett-Cotta, 1979, S. 66ff.; Gerhard Brinkmann et al.: Bildungsökonomie und Hochschulplanung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 6ff. 70 Wissenschaftsrat: Abiturienten und Studenten. Entwicklung und Vorschätzung der Zahlen 1950 bis 1980, Tübingen: Mohr, 1964. 71 Manfred Tessaring: Evaluation von Bildungs- und Qualifikationsprognosen, insbesondere für hochqualifizierte Arbeitskräfte, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 13 (1980), S. 374–397, hier S. 381. 72 Vgl. Volker Müller-Benedict: Akademikerprognosen und die Dynamik des Hochschulsystems. Eine statistisch-historische Untersuchung, Frankfurt/M.: Campus, 1991, S. 85ff.; Hansgert Peisert: Hochschulentwicklung seit 1960 und Auswirkungen in die 90er Jahre. Vorhersagen und Wirklichkeit, in: Westdeutsche Rektorenkonferenz: Dokumente zur Hochschulreform 40 (1980), S. 49–72.

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Beschäftigungssystem außerhalb des Fragehorizonts lag. Gleichwohl, der Ansatz blieb, in mehrfacher Hinsicht weiterentwickelt, der maßgebliche Ansatz der bundesdeutschen Bildungsplanung.73 Das Gegenmodell zum Nachfrageansatz war der über die OECD in die Bundesrepublik gelangte manpower approach. Im deutschsprachigen Raum war sein geistiger Vater der Ökonom Gottfried Bombach, Direktor des Baseler Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung. Bombachs Schüler waren es vor allem, die als Auftragsforscher für bundesdeutsche Ministerien und Planungsgremien den Ansatz konkretisierten und erprobten. Den ersten Versuch einer solchen Bedarfsprognose hatte die im Auftrag des Wissenschaftsrates erstellte Studie von Hajo Riese zur „Entwicklung des Bedarfs an Hochschulabsolventen in der BRD“ unternommen.74 Riese hatte zunächst die Wachstumsrate für den Prognosezeitraum geschätzt und anschließend gemäß einer Extrapolation der Strukturverschiebungen zwischen 1950 und 1961 für die einzelnen Wirtschaftssektoren aufgeschlüsselt. Unter Berücksichtigung der wiederum extrapolierten Veränderung der Arbeitsproduktivität wurde dann der jeweilige Arbeitskräftebedarf unterschiedlicher Berufe und Qualifikationen abgeleitet. Der Arbeitskräftebedarf wurde mithin für jeweils spezifische Berufsklassen aus den Wachstumsraten und Produktivitätsveränderungen der einzelnen Branchen ermittelt und in Fachrichtungskategorien übersetzt, die dann als Grundlage für die Planung gelten sollten. Allerdings war die implizite Annahme eines Gleichgewichtszustandes zwischen Bestand und Bedarf exakt zu jenem Zeitpunkt, von dem aus extrapoliert wurde, ebenso problematisch wie die Annahme einer nur unwesentlichen Substitutionselastizität zwischen den Qualifikationstypen und Fachgruppen.75 Lautete das Ergebnis von Rieses Studie für das gesamte Bundesgebiet, dass das ökonomisch erforderliche Wachstum der Bildungsbeteiligung im Wesentlichen schon stattgefunden hatte, gelangte eine nach ähnlichem Muster angelegte, ebenso aus Bombachs Schule stammende Studie für Baden-Württemberg zu dem davon abweichenden Resultat, die dort bis 1981 anvisierte Steigerung der Abiturientenquote auf 15% werde kaum ausreichen, um die ökonomisch begründete Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften zu decken.76 Auch weil sie nicht selten zu ausgesprochen divergierenden Ergebnissen führten, erzeugten die ersten Schritte, die auf dem neuen Terrain der Bedarfsforschung unternommen worden waren, auf Seiten der Hochschulplaner eher ein Gefühl der Verunsicherung: Ohne Prognosen, so viel war inzwischen klar, konnte man eine 73 Vgl. Elke Seefried: Experten für Planung? „Zukunftsforscher“ als Berater der Bundesregierung 1966–1972/73, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 109–152, hier S. 142ff. 74 Hajo Riese: Die Entwicklung des Bedarfs an Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: Steiner, 1967. 75 Müller-Benedict: Akademikerprognosen, S. 112ff. 76 Hans Peter Widmaier: Bildung und Wirtschaftswachstum. Modellstudie zur Bildungsplanung, Villingen: Neckar-Verlag, 1966, S. 279f.; für einen Vergleich siehe Gerhard Schaaf: Die Bedarfsprognosen von Riese und Widmaier. Ein Vergleich der Methoden, Prämissen und Ergebnisse, in: Forschungsergebnisse und Materialien zum Hochschulgesamtplan I BadenWürttemberg, Villingen: Neckar-Verlag, 1969, S. 184–197.

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zukunftsorientierte Bildungspolitik nach der Art, wie sie die Öffentlichkeit erwartete, nicht mehr betreiben. Auf welche methodischen Grundlagen man diese jedoch stellen sollte, war nach wie vor unsicher. Die erste Generation der manpower-Studien galt schnell als unzulänglich, ja unbrauchbar, jedenfalls was die aktuellen Zwecke der planenden Verwaltung anbelangte. Bei einem Expertengespräch, zu dem der Wissenschaftsrat 1969 geladen hatte, wurden gerade auch unter den Pionieren des Ansatzes starke Zweifel laut. Wie andere Experten hielt es Burkart Lutz vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München für geraten, von punktuellen Aussagen zu einzelnen Bedarfszweigen abgesehen eher „eine Orientierung nach dem social-demand vorzuziehen, solange eine fundierte Bedarfsorientierung nicht möglich sei“.77 In den Bildungsministerien wurde dies ähnlich gesehen. Das Bundesministerium musste 1971 aufgrund der vorliegenden Bedarfsschätzungen feststellen, dass die Untersuchungsergebnisse „als so weitgehend abweichend angesehen werden, dass aus ihnen eine zuverlässige Abschätzung des künftigen Bedarfs nicht möglich erscheint.“78 Die bildungsökonomische Planungsforschung konzentrierte sich in den Folgejahren darauf, den manpower-Ansatz zu verbessern und zu ergänzen. Auch die erweiterten Methodenansätze, an denen nun unter klangvollen Markenzeichen gefeilt wurde – als „Sozioökonomische Kausalanalyse“, als „Integrationskonzept“, als „Intensivanalyse“, als „Sensibilitätsanalyse“ oder als „Flexibilisierungskonzept“ –,79 waren nur begrenzt für die konkrete operative Planungstätigkeit der Hochschulpolitik anschlussfähig. Allgemein und leicht vergröbernd galt, dass, je differenzierter die Prognosemodelle ausfielen, sie umso weniger geeignet erschienen, politische Entscheidungen zu begründen.80 Der Staatssekretär im Hessischen Kultusministerium winkte 1974 ernüchtert ab, als an ihn das Ansinnen gerichtet wurde, das Thema der Prognose des Arbeitskräftebedarfs nochmals aufzugreifen. Der Stand der Bildungsökonomie, so Staatssekretär Moos, erlaube genauere Bildungsbilanzen nur für Teilarbeitsmärkte, in denen kaum Substitutionseffekte auftreten würden und deren Bedarf im Wesentlichen politischen Bestimmungsgründen unterliege. Wo letzteres der Fall sei, wie bei dem Bedarf an Lehrern, orientiere sich die Hochschulplanung bereits an diesen Zielgrößen. Ansonsten habe aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Numerus Clausus von 197281 einer engen Bedarfsorientierung Grenzen gesetzt. Moos befand deshalb, daß beim gegenwärtigen unzureichenden Stand der bildungsökonomischen wissenschaftlichen Methodik globale Bedarfsprognosen für Absolventen von Hochschuleinrichtungen zu

77 Protokoll des Expertengespräches über Fragen der Bedarfsberechnungen am 17.01.1969 in Köln, S. 19f., BArch, B 247, Nr. 24. 78 BMBW, Referat II B 4, Angebot und Bedarf an Hochschulabsolventen der Wissenschaftlichen und der Pädagogischen Hochschulen bis 1980, 27.07.1971, BArch, B 138, Nr. 14657. 79 Kühlewind/Tessaring: Argumente, S. 63ff. 80 Ulrich Teichler: Der Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen. Zum Wandel der Berufsperspektiven im Zuge der Hochschulexpansion, München: Saur, 1981, S. 75. 81 Vgl. dazu Ulrich Karpen: Hochschulplanung und Grundgesetz, 2 Bde. Paderborn: Schöningh, 1987, S. 590–593.

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Wilfried Rudloff so ungesicherten Ergebnissen führen, daß sie für die Planungen der Landesregierung unbrauchbar sind.82

Diese Auffassung war inzwischen unter den Planern vorherrschend. Nachdem – ein weiteres von vielen denkbaren Beispielen – die Verfasser des Berliner Hochschulplans von 1974 die beiden in Frage kommenden Planungsansätze geprüft hatten, gelangten sie zu der Schlussfolgerung, die Entscheidung über den quantitativen Ausbau des Hochschulbereichs lasse sich „weder zwingend aus Bedarfsberechnungen noch aus der Ermittlung der Nachfrage nach Studienplätzen ableiten.“ Die Unsicherheiten der Prognosemethoden, so konnte daraus geschlossen werden, ließen den Vorrang politischer Entscheidungsprämissen umso notwendiger erscheinen. Worauf es letztlich ankomme, so resümierte der Berliner Plan, sei die politische Willensbildung, für die die Bedarfs- und Nachfrageuntersuchungen, auch wenn sie keine eindeutigen Kriterien böten, immerhin „wichtige Orientierungshilfen“ leisten könnten.83 All dies schloss nun allerdings nicht aus, dass Bedarfsgesichtspunkte und Bedarfsstudien bei der Prioritätensetzung der Hochschulpolitik doch noch eine gewisse Bedeutung erlangen sollten – nicht unbedingt als operativ genutztes Planungswissen, sehr wohl aber auf andere Weise.84 Die schon in den frühen 70er Jahren allmählich aufkommende, sich seit Mitte des Jahrzehnts zunehmend verstärkende Sorge vor fachbezogenen Akademikerüberschüssen schuf hierfür die notwendigen Voraussetzungen. Vor dem Hintergrund des befürchteten Umkehrschubs auf den akademischen Arbeitsmärkten, der in der Schreckvokabel des „akademischen Proletariats“85 seinen Ausdruck fand, konnten Bedarfsuntersuchungen eine erhebliche politische Wirksamkeit erlangen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Als sich die „Bildungspolitische Zwischenbilanz“, die das BMBW nach einem Jahrzehnt der Expansion 1976 vorlegte, auf das Feld der Bedarfsprognosen für die kommenden Jahre hinauswagte, berief sie sich ungeachtet aller methodischen Vorbehalten, die einleitend noch geltend gemacht worden waren, auf die vorliegenden Bedarfsschätzungen, um sektoral das Entstehen von bedenklichen Überschüssen und Ungleichgewichten auf den Akademikerarbeitsmärkten vorauszusagen.86 Insgesamt begünstigte nun das Umschalten der Hochschulpolitik von einem Expansionskurs auf eine – vor allem den knapperen Kassen geschul82 Gerhard Moos an den Hessischen Minister für Wirtschaft und Technik, 28.02.1974, HHStAW, NL 1200/15. 83 Der Senator für Wissenschaft und Kunst: Hochschulentwicklungsplan I des Landes Berlin (Entwurf), Berlin 1974, in: Peter Müller (Hg.): Dokumente zur Gesamthochschulentwicklung, Bonn-Bad Godesberg: Verlag Neue Gesellschaft, 1976, S. 251–263, hier S. 263. 84 Vgl. bspw. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum vierten Rahmenplan für den Hochschulbau 1975–1978, Bd. 1: Allgemeiner Teil, Köln: Wissenschaftsrat, 1974, S. 86ff. 85 Winfried Schlaffke: Akademisches Proletariat?, Osnabrück: Fromm, 1972; zum Folgenden vgl. auch Ulrich Teichler/Dirk Hartung/Reinhard Nuthmann: Hochschulexpansion und Bedarf der Gesellschaft. Wissenschaftliche Erklärungsansätze, bildungspolitische Konzeptionen und internationale Entwicklungstendenzen, Stuttgart: Klett, 1976, S. 18ff. 86 Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Bildungspolitische Zwischenbilanz, Bonn: Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1976, S. 52ff.

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dete – restriktive Politik eine Renaissance von Bedarfsprognosen und Bedarfsrücksichten. Allerdings waren die Ansätze der zweiten Generation der manpowerForschungen, deren Konzepte und Befunde seit der Mitte der 70er Jahre auf die hochschulpolitischen Problemsichten abfärbten, zugleich auch mit umgekehrter politischer Stoßrichtung einsetzbar. Statt kommende Engpässe zu prognostizieren, betonten die Ansätze der sogenannten Flexibilitäts-, Substitutions- und Absorptionsforschung stärker die vielfältigen Anpassungsprozesse, die sich zwischen dem Angebot an hochqualifizierten Arbeitskräften und der Nachfrage auf den Arbeitsmärkten für Hochqualifizierte vollzogen, die Elastizität zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem und das Absorptionsvermögen der Akademikerarbeitsmärkte, weshalb dort, wo entsprechende Ansätze rezipiert wurden, in weit geringerem Maße mit schweren Friktionen gerechnet wurde.87 Die bildungspolitische Konsequenz, die auch in den Verlautbarungen der Bundesregierung gezogen wurde, lag dann vielmehr in der Forderung nach einer stärkeren Vermittlung von „Schüsselqualifikationen“. Mit den Bedarfsuntersuchungen ließen sich also „sowohl die Expansion des Hochschulwesens als auch dessen Zurückschrauben begründen“,88 ein Umstand, der zu einer politisch höchst polyvalenten Nutzung im öffentlichen Diskus führen musste. Hochschulentwicklungsplanung und hochschulinterne Informationssysteme: HIS und das Versprechen der Planungs- und Verwaltungsrationalisierung Wissenspolitische Zielsetzungen im weiteren Sinne verfolgte schließlich auch eine Einrichtung, die Ende der 60er Jahre an der Schnittfläche von Hochschulpolitik, Hochschulforschung und Hochschulverwaltung neu entstanden war. Die Stiftung Volkswagenwerk überraschte die hochschulpolitische Szene 1968 mit der Mitteilung, dadurch einen Beitrag zur besseren Informationsausstattung von Hochschulplanung und -verwaltungen leisten zu wollen, dass sie ein besonderes Serviceunternehmen zu gründen beabsichtigte, welches die Aufgabe haben würde, jene Daten und Informationen verfügbar zu machen, die zuletzt in der Hochschulplanung so sehr vermisst worden seien. Wie der Generalsekretär der Stiftung Volkswagenwerk dem Bundesminister für wissenschaftliche Forschung 1968 erläuterte, hatte sich die Stiftung in jüngerer Zeit wiederholt mit Anträgen einzelner Hochschulen auseinanderzusetzen gehabt, die in dem Bestreben, einer rationaleren Hochschulplanung den Weg zu 87 Vgl. als Überblick auch Sabine Kudera: Theoretische Konzeptionen zum Verhältnis von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Zur Entwicklung der Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Regionale Bildungsplanung im Rahmen der Entwicklungsplanung, Hannover: Schroedel, 1978, S. 1–13. 88 Ulrich Beck/Christoph Lau: Die „Verwendungstauglichkeit“ sozialwissenschaftlicher Theorien. Das Beispiel der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, in: Ulrich Beck (Hg.): Soziologie und Praxis. Erfahrungen, Konflikte, Perspektiven, Göttingen: Otto Schwartz & Co, 1982, S. 369–394, hier S. 374; vgl. auch Dies.: Definitionsmacht, S. 283–309.

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bereiten, um Finanzierungshilfen für Personal und Sachmittel ersucht hatten. Angesichts der Häufung solcher Anträge und angesichts der vom Stiftungskuratorium auch bei anderer Gelegenheit gemachten Erfahrung, dass es an nötigen Informationen zur Beurteilung zentraler hochschulpolitischer Fragen fehlte, hatte sich die Stiftung entschlossen, das zutage getretene Wissensproblem nicht etwa durch die Unterstützung sporadischer Einzelvorhaben, sondern grundsätzlich anzugehen – indem, zunächst von der Stiftung getragen, ein alle Hochschulen umfassendes Informationssystem auf die Beine gestellt werden sollte.89 Name und Organisationsform waren schnell gefunden: 1969 trat in Hannover die „Hochschulinformations-System“, kurz HIS, ins Leben, eine GmbH mit der Stiftung Volkswagenwerk als alleiniger Gesellschafterin. Auch die Gründungsidee von HIS nährte sich aus der Überzeugung, dass die wiederholt zutage getretenen Probleme der Hochschulplanung in besonderem Maße Informations- und Wissensprobleme waren. Nicht nur vor Ort schien es oft an den benötigten Daten und Informationen zu fehlen, das vorhandene Informationsmaterial wurde auch nirgends systematisch gesammelt, aufbereitet, zusammengeführt und den Hochschulplanern verfügbar gemacht. Für Waldemar Krönig, den spiritus rector und ersten Geschäftsführer von HIS, lag dessen Existenzberechtigung in dem Umstand begründet, dass die Hochschulen über ihre eigene Situation Unsicherheit und Unbehagen empfinden, d. h. es gibt nicht genügend Informationen über die eigene Befindlichkeit. Den gleichen Eindruck hat man von der Makroplanung, d. h. von der Planung, die der Wissenschaftsrat vollzieht. Auch dort herrscht Unbehagen über die Basis, auf der man die Empfehlungen aufbaut.90

Wie eine Denkschrift zur Gründung von HIS 1968 befand, krankte die Hochschuldebatte dabei nicht nur an einen Mangel an verlässlichen Daten. Es fehlte, wie es hieß, zugleich auch an methodischem Rüstzeug, wie die vorhandenen und noch zu generierenden Daten für die Zukunftsplanung zu interpretieren waren. Niemand könne zum Beispiel Zuverlässiges über die Ausbildungskapazitäten der Hochschulen im Ganzen, geschweige denn einzelner Disziplinen sagen. Benötigt werde, wie die Stiftung erklärte, ein gut organisiertes Datenverbundsystem, das jederzeit Unterlagen für die auf örtlicher wie überörtlicher Ebene anstehenden Entscheidungen liefern könne, wobei künftige „Eventualentwicklungen“ mit Methoden der „Simulationstechnik“ antizipiert werden müssten.91 Die Promotoren von HIS zeichneten eine kognitive Landkarte der bundesdeutschen Hochschulpolitik, übersät von weißen Flecken. Von ihrer Aufklärung schien wesentlich die Zielgenauigkeit der künftigen Hochschulpolitik abzu-

89 Stiftung Volkswagenwerk, Generalsekretär Gotthard Gambke an Minister Gerhard Stoltenberg, 19.09.1968, BArch, B 138, Nr. 10197. 90 Referat Waldemar Krönigs auf einer Sachverständigen-Tagung am 30.05.1969, in: HISBriefe B 2, Aug. 1969, BArch, B 138, Nr. 10198. 91 Stiftung Volkswagenwerk: Zur Notwendigkeit eines Hochschul-Informations-Systems [Ende 1968], BArch, B 138, Nr. 10197.

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hängen.92 Materialien und Alternativmodelle, ohne die rationale Prioritäts- und Dringlichkeitsentscheidungen im Hochschulausbau nur schwerlich zu fällen waren, würden benötigt, hieß es in einem Gründungspapier: Modelle und Materialien zur Bemessung der notwendigen Lehr- und Forschungskapazitäten, zur Vermehrung von Personalbedarf, Baubestand und der Ausstattung oder auch zur Abwägung der Frage, ob die Hochschulen durch Erweiterung oder Neugründungen ausgebaut werden sollten. Um in Zukunft ausreichende Studienkapazitäten vorzuhalten, so las man weiter, waren dringend Aussagen erforderlich über die Möglichkeiten, den Lehrbetrieb zu intensivieren, die Studienpläne zu optimieren und neue Lehrmethoden einzuführen. Nicht weniger notwendig erschienen den HISGründern Vorschläge, wie der wissenschaftliche Arbeitsbetrieb zu rationalisieren, Geräte und Raumbestand intensiver zu nutzen, neue Technologien einzuführen, Betriebszeiten zu verlängern und die Kosten bei Schwerpunktbildungen abschätzbar zu machen seien. So müsse es möglich werden, „in kürzester Zeit Folgen von Entscheidungen wie Einführung von ‚Kleingruppenunterricht‘, ‚Blockstudium‘, ‚Studienjahr‘ oder ‚Trimesterjahr‘, ‚Aufbau- oder Kontaktstudium‘ im realen Bereich personeller und materieller Anforderungen zu klären.“93 Das sich hier andeutende Arbeitsprogramm las sich wie der Prospekt einer abenteuerlichen Expedition in noch weitgehend unerschlossene Wissenswelten, deren Vermessung der Hochschulpolitik nicht nur zahlreiche lohnende Erkenntnisse versprach, sondern grundsätzlicher noch als Bedingung der Möglichkeit rationaler Planung erschien. Dass die Daten- und Informationsbasis, auf der die Hochschulplanung ihre Zukunftsszenarien zu errichten hatte, als unbefriedigend gelten musste, war indes nicht nur die Überzeugung der Stiftung Volkswagenwerk. Auf einer Besprechung über die Informationsprobleme der Hochschulen, die auf Einladung der Stiftung stattfand, wurde deren Defizitdiagnose vielmehr von wichtigen Akteuren der Hochschulpolitik uneingeschränkt geteilt. Ein Vertreter des bayerischen Kultusministeriums ging dort so weit zu erklären, er halte es in der Hochschulbauplanung für „unverantwortlich […] auf der bisherigen unzulänglichen Basis weiterzuarbeiten“.94 Auch HIS war ein Kind des Planungsbooms in den Jahren der Hochschulexpansion. Die Experten aus Hannover begriffen sich als missing link, das den Pla92 HIS: Information als Grundlage notwendiger Planung im Hochschulsystem, BArch, B 138, Nr. 10197: „Bei Fortsetzung der bisherigen Methoden wird man in einigen Jahren möglicherweise oder sogar wahrscheinlich katastrophalere Engpässe als je zuvor und groteske Zielkonflikte feststellen und, da die Ausreifungszeit korrigierender Maßnahmen eben sehr lang ist, für viele Jahre das dann eingetretene Chaos nicht ändern können.“ 93 Zur Notwendigkeit eines Hochschul-Informations-Systems [Ende 1968], BArch, B 138, Nr. 10197. 94 Protokoll einer Besprechung zwischen Vertretern der Kultusministerien Baden-Württemberg und Bayern, der Stiftung Volkswagenwerk, des Wissenschaftsrats, des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung, der Westdeutschen Rektorenkonferenz und einiger, vornehmlich süddeutscher Hochschulen vom 18.07.1968 in Stuttgart, die Informationsprobleme im Hochschulbereich betreffend, BArch, B 138, Nr. 10197; Vermerk BMwF, Abt. II A, Lehr, vom 24.07.1968, ebd.

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nungsinstanzen die bislang entbehrten Basisdaten liefern und damit erst den erforderlichen Einblick in die empirische Realität der Hochschulen eröffnen würde. Die Urheber von HIS waren allerdings gut beraten, gegenüber Hochschulen und Hochschulpolitikern die rein dienende Funktion der geplanten „Informationstreuhandstelle“95 zu betonen. Es sei nicht die Absicht von HIS, so wurde beteuert, sich selbst in die Hochschulplanung einzumischen. Worum es vielmehr gehe, sei, „die besten Methoden, Experten und alles Sachwissen denjenigen verfügbar“ zu machen, „die zum Planen und Entscheiden politisch legitimiert sind.“96 Dennoch wurde die Neugründung von Teilen des hochschulpolitischen Establishments mit Zurückhaltung, wenn nicht Skepsis betrachtet, sei es, weil sich einige Kultusministerien um die Kontrolle über den hochschulpolitischen Datenfluss sorgten oder sei es, weil sich die Repräsentanten der Hochschulen in den Organen von HIS nicht genügend vertreten sahen. So war beispielsweise Kurt Biedenkopf, Rektor der Universität Bochum, der Auffassung, selbst die Entwicklung neuer Verwaltungssysteme stelle in der aufgeheizten politischen Gegenwartssituation ein solches Politikum dar, dass es kaum angebracht erschien, „diese Aufgabe einer privaten Stiftung zu überlassen.“97 Als erste und dringlichste Aufgabe sah HIS die Normung des Inflationsflusses und Rationalisierung der Hochschulverwaltung an. Erreicht werden sollte dies vor allem durch die Einführung elektronischer Datenverarbeitungssysteme und durch die Entwicklung von Kapazitätsmodellen für die Investitionsplanung. Auf längere Sicht war die Etablierung eines auf geregeltem Informationsfluss beruhenden Planungssystems beabsichtigt, denn, so Krönig, wenn man vernünftig funktionierende Kapazitätsmodelle entwickelt hat, wenn man in den einzelnen Hochschulen genügend Informationen über sich selbst hat, wenn man eine Datenbank hat, die diese Informationen überzeugend aggregiert und wenn man etwas über die Kanalisierung der politischen Forderungen und über die Entwicklung von Hochschuldidaktik und Forschung weiß, wenn man etwas über den gesellschaftlichen Bedarf an akademisch Gebildeten und über den Zugang von der Schulseite her weiß, dann kann man daraus ein simulationsfähiges Informationssystem des gesamten Bildungswesens entwickeln.

95 Zur Notwendigkeit eines Hochschul-Informations-Systems [Ende 1968], BArch, B 138, Nr. 10197. 96 Stiftung Volkswagenwerk: Hochschul-Informations-System (HIS), 20.12.1968, BArch, B 138, Nr. 10197. 97 Vermerk BMwF, II B 2, Böning, betr. HIS, vom 18.12.1968, BArch, B 138, Nr. 10197 (Notiz über ein Gespräch mit dem Generalsekretär der KMK, Kurt Frey); Niederschrift der 108. Sitzung des Hochschulausschusses der KMK am 23./24.01.1969, S. 25f., HHStA 504, Nr. 5486a; Niederschrift der 128. Plenarsitzung der KMK am 06./07.2.1969, BArch, B 304, Nr. 1139; Schreiben von Rektor Kurt Biedenkopf an Bundesminister Gerhard Stoltenberg vom 07.01.1969, BArch, B 138, Nr. 10197. Vertreter der hochschulpolitischen Gegenseite, der neo-marxistischen Linken, wollte in HIS eher die dienstbare Magd jener monopolistischen Planungs- und Lenkungsbürokratie erkennen, deren „technokratische Planifikationsmentalität“ die Hochschulpolitik in ihrer Wahrnehmung immer stärker zu durchdringen schien, vgl. Joachim Hirsch/Stephan Leibfried: Materialien zur Wissenschafts- und Bildungspolitik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 19732, S. 68f.

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Nachdem sich die schnell wachsende Mitarbeiterschar 1969 an die Arbeit gemacht hatte, musste das zunächst entworfene „big picture“ des HIS-Aufgabenspektrums allerdings bald auf ein weitaus bescheideneres Maß zurückgestutzt werden.98 Denn wie schon nach kurzer Zeit zu erkennen war, avancierte HIS keineswegs, wie seine Gründer erhofft hatten, zu jenem zentralen Knotenpunkt, an dem all die Daten und Informationen, deren Generierung und Normierung den lokalen, regionalen und zentralen Hochschuldatenbanken aufgetragen sein sollte, zusammenflossen. Die Entwicklung nahm eine etwas andere Richtung. Während sich der Bildungsstatistik-Experte des Statistischen Bundesamtes noch im Jahr zuvor im ZDF-Länderspiegel öffentlich darüber beklagt hatte, dass, „sei es aus Desinteresse, sei es aus Unverständnis“, keine hinreichenden Mittel in die Bildungsstatistik flossen, um diese „so adäquat ausbauen zu können […], wie sie für eine sinnvolle Hochschul- und Bildungsplanung einfach erforderlich ist“,99 war es 1971 nun doch das Statistische Bundesamt – und eben nicht HIS –, dem das neue Hochschulstatistikgesetz die Aufgabe erteilte, eine bundesweite Hochschuldatenbank einzurichten, welche die gesamtstaatlichen Planungsinstanzen mit einem umfangreichen Strauß an quantitativen Grunddaten versorgen sollte.100 HIS konnte hier nur noch beratend und ergänzend tätig werden. Auch der angestrebte „total-systems-approach“, die horizontale Integration aller dezentral errichteten Informationssysteme, ließ sich praktisch kaum realisieren. Im Übrigen zeigte sich schnell, dass den HIS-Experten keineswegs alle Türen offenstanden – an einer ganzen Reihe einzelner Hochschulen nicht, aber auch auf überregionaler Ebene nicht, bei den Kultusverwaltungen und zentralen Planungsinstanzen.101 Im HISJahresbericht 1971/72 fand sich eine desillusionierte Beschreibung der bisher gemachten Erfahrungen: Wo HIS zur Tätigkeit zugelassen wurde (im wesentlichen im Bereich der Hochschulen), dort fand wenig Planung statt; wo Planung stattfand (im wesentlichen auf der Ebene der Ministerien, des Wissenschaftsrates, der Bund-Länder-Kommission), wurde HIS kaum Möglichkeit zur Mitarbeit gegeben.

98 Waldemar Krönig: HIS – Versuch eines Informationssystems am untauglichen Objekt?, in: Ehrhard Mundhenke/Harry M. Sneed/Uwe Zöllner: Informationssysteme für Hochschulverwaltung und -politik. Theorie und Praxis politisch-administrativer Informationssysteme, Berlin: de Gruyter, 1975, S. 365–375. 99 Manuskript des „Länderspiegels“ des ZDF, Sendung vom 20.02.1970, BArch, B 304, Nr. 1138. 100 Zu den schwerwiegenden Problemen, die sich dann einer Umsetzung dieses Vorhabens in den Weg stellten, vgl. Helmut Köhler: Amtliche Hochschulstatistik, in: Goldschmidt/Teichler/Webler: Forschungsgegenstand, S. 295–308, bes. S. 304. 101 In Hessen beispielsweise, wo immerhin an zwei der vier Hochschulen von HIS abgestellte Mitarbeiter in den neu eingerichteten Planungsstäben mitarbeiteten, hatten HIS durch ein Verhalten, das weniger auf eine dienende Funktion, als vielmehr auf eigene politische Absichten zu deuten schien, die Hochschulplaner schnell gegen sich aufgebracht; Hessisches Kultusministerium, Vermerk Referat G III 3, Wolf, für Minister Ludwig von Friedeburg, 08.11.1971, HHStA, 504, Nr. 8170a; vgl. auch Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“, S. 362.

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Leicht verschnupft fügte man hinzu: Nach unserer Meinung verdient es die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, dass ein Potential von vielen an Planung interessierten HIS-Mitarbeitern allmählich auf die – sicherlich auch sehr wichtige – Rationalisierung der Hochschulverwaltungen beschränkt werden musste, weil eine Beteiligung an Planungsaufgaben nicht zustande kam.102

Angesichts all dieser Erfahrungen und veränderten Rahmenbedingungen musste das Aufgabenprofil von HIS schon nach kurzer Zeit abgespeckt und zurechtgestutzt werden.103 HIS entwickelte sich in der Folge zu einem Serviceunternehmen, das den einzelnen Hochschulen vor allem Systeme EDV-gestützter Verwaltungsrationalisierung anbot. Der Tätigkeitsschwerpunkt bestand in der Installierung, Ingangsetzung und Inganghaltung der verschiedenen Operationssysteme, die HIS für die Rationalisierung der Betriebsverwaltung entwickelt hatte und weiter entwickelte. Allenthalben bedurfte es hier noch grundlegender Vorarbeiten, die mit Hilfe von HIS in Angriff genommen wurden. Am Planungs- und Informationszentrum der Universität Freiburg zum Beispiel war in den frühen 70er Jahren eine HIS-Außenstelle angesiedelt worden, deren Mitarbeiter zusammen mit Mitarbeitern der Uni damit befasst waren, eine von HIS entwickelte Studentendatei einzurichten und weiterzuentwickeln, ein Personalverwaltungssystem einzuführen und eine Reihe weiterer EDV-gestützter Verwaltungs-, Steuerungs- und Planungssysteme zu etablieren.104 Auch die Vorarbeiten zur Erstellung eines Hochschulentwicklungsplans wurden in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe in Angriff genommen.105 1972 traf man Außenstellen dieser Art an sechs weiteren Universitäten an (neben Freiburg waren dies Düsseldorf, Bonn, Hamburg, FU Berlin, Erlangen-Nürnberg und Heidelberg). Mit anderen Hochschulen bestanden nicht ganz so enge, aber immer noch intensive Kooperations- und Beratungsverhältnisse.106 Häufig gewährten die HIS-Experten hier unverzichtbare Hilfestellungen beim Betreten verwaltungsorganisatorischen Neulands. Das Hochschulinformations-System wurde in den ersten Jahren seines Bestehens allein aus den Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk finanziert. Seine Initia102 Jahresbericht HIS 1971/72, Hannover 1972, S. 12; vgl. auch Kurt Jürgen Maaß: Lehrplan aus dem Computer. Zum Jahresbericht 1971/72 der Hochschulinformationssystem GmbH (HIS), in: Deutsche Universitäts-Zeitung 28 (1973), S. 62. 103 HIS: Vorlage für die Gesellschafterversammlung, 23.11.1971, BArch, B 138, Nr. 10199. 104 Informationen über die HIS GmbH, Okt. 1972, BArch, B 138, Nr. 10200. 105 Jahresbericht HIS 1971/72, Hannover 1972, S. 52. 106 Jahresbericht HIS 1971/72, Hannover 1972, S. 85–96. Allerdings beließ es HIS nicht bei der Einführung „automatisierter Verwaltungssysteme“ an einzelnen Hochschulen. Weitere Arbeitsschwerpunkte der 70er Jahre lagen etwa in der Entwicklung von Planungsverfahren und deren Erprobung an einzelnen Hochschulen, in der Flächen- und Kapazitätsanalyse und der Durchführung von Studenten- und Absolventenbefragungen; Heinz Griesbach: Entwicklung, Situation und Perspektiven sozialwissenschaftlich-empirischer Untersuchungen bei HIS, in: Oehler/Webler: Forschungspotentiale, S. 191–208; als lexikalischer Überblick vgl. Hochschul-Informations-System GmbH: HIS in Stichworten von A bis Z. Arbeitsergebnisse und Informationen über das Hochschulwesen, Hannover: Hochschul-Informations-System, 1983.

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toren hatten jedoch von Anfang an erklärt, die Einrichtung möglichst bald in die Verantwortung der öffentlichen Verwaltung überführen zu wollen. Die Verhandlungen, die darüber seit 1972 in Gang kamen, erwiesen sich, wie auf dem Terrain der Bund-Länder-Beziehungen nicht ungewöhnlich, als äußerst zäh und schleppten sich bis 1975 hin;107 eine Zeit lang lag die Zukunft von HIS sehr im Ungewissen.108 Da sich die Pläne für ein Bundesinstitut für Hochschulfragen als wenig aussichtsreich erwiesen hatten, besaß immerhin das BMBW ein deutliches Interesse an HIS, das als „Motor der Rationalisierung in den Hochschulen“ angesehen wurde.109 Von 1976 an waren dann die Länder mit zwei Dritteln und der Bund mit einem Drittel der Anteile alleinige Gesellschafter der HIS-GmbH. Um die Einwilligung einer Reihe widerstrebender Bundesländer in die neue Geschäftsgrundlage zu erlangen, mussten Aufgabenprofil wie Personaletat empfindlich gestutzt werden.110 Drei Jahre nach Übernahme der Geschäftsanteile von HIS durch Bund und Länder stellte 1979 der Evaluationsbericht einer Kommission von Vertretern des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, der KMK, der Finanzministerkonferenz, der Staatskanzleien und der WRK der HIS GmbH das Zeugnis aus, effektive und praktisch verwertbare Arbeit zu leisten.111 Den Hochschulen wurde geraten, noch stärker als bisher auf deren Programmangebote einzugehen. Das Hauptgewicht der HIS-Aktivitäten lag nach wie vor dort, wo sich der Schwerpunkt der Arbeiten von Anfang an befunden hatte: im Bereich der Rationalisierung und Verbesserung der hochschulinternen Informationsinfrastruktur mithilfe computergestützter Verwaltungssysteme. Ende 1975 hatten 40 Hochschulen solche Verwaltungssysteme eingeführt. Vier Jahre später waren 17 Hochschulen als neue Nutzer hinzugewonnen, elf jedoch wieder verloren worden, so dass nun 46 Hochschulen HIS-Systeme in Gebrauch hatten. Die Nachfrage nach HISSystemen war groß, aber nicht alle Hochschulen waren bereit, den Arbeitsansatz von HIS, eine weitgehend einheitliche Software, zu übernehmen. Dennoch hatte sich HIS als Dienstleister etabliert, auch wenn es nicht flächendeckend an den Hochschulen präsent war.

107 Vgl. Kooperationsausschuss ADV: Stellungnahme zur Überleitung der HIS GmbH in die Trägerschaft der öffentlichen Hand, 12.03.1973, BArch, B 138, Nr. 29262; Staatsekretär Reimut Jochimsen (BMBW) an den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen Karl Haehser, 29.08.1975, BArch, B 138, Nr. 29265. 108 Vgl. Institut für Uni-Planung von Einstellung bedroht, in: Die Welt vom 29.01.1975; Josef Schmid: Tochter der VW-Stiftung ruft um Hilfe. Dem Hochschul-Informations-System in Hannover droht die Schließung, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.01.1975; Kiel und Stuttgart blockieren HIS, in: Frankfurter Rundschau vom 06.02.1975. 109 BMBW, Referat II B 7, Dr. Hirsch, an BMWF, Bereich Finanzen, 20.10.1972, BArch, B 138, Nr. 29261. 110 Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Ministerialrat Dr. Hodler: Ergebnisniederschrift über die Sitzung der Kommission zur Überprüfung der Aufgaben der HIS GmbH am 06.05.1975, BArch, B 138, Nr. 29264. 111 Bericht der Kommission zur Überprüfung der Hochschul-Informations-System GmbH, Hannover, Dezember 1979, BArch, B 138, Nr. 29264.

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Bilanz Was sich ganz allgemein für das Wechselspiel von Wissensproduktion und politischer Entscheidungsfindung im Untersuchungszeitraum beobachten lässt, galt auch für das Verhältnis von Hochschulforschung und Hochschulpolitik: Von einer linearen Wirkungskette Forschung-Planung-Politik konnte nirgends die Rede sein. Die Hochschulforschung hatte zwar seit den 60er Jahren begonnen, auf die kognitive Landkarte der Hochschulpolitik Einfluss zu nehmen und die empirische Sozialforschung spielte dabei eine zentrale Rolle. Neue Formen hochschulpolitisch relevanter Wissensbestände entstanden, mal von Einzelforschern, mal unter dem Dach von außeruniversitären Forschungseinrichtungen oder auch, wie bei HIS, durch neuartige Forschungs-, Beratungs- oder Serviceeinrichtungen. Die Einflussströme zwischen Wissenschaft und Politik waren jedoch äußerst verwickelt, der politische Gebrauchswert der Hochschulforschung schwankend und ihr Nutzen meist von eher fragmentarischem Charakter. Die untersuchten Beispielfälle repräsentieren sehr verschiedene Wirkungsverhältnisse. 1. Die vorgestellten Studentenuntersuchungen konnten im Rahmen der Studienreformdebatte als Instrumente der Problemsondierung und Identifizierung von Systemschwachstellen genutzt, ihre Befunde als empirisch erhärtetes Wissen in den hochschulpolitischen Meinungskampf eingebracht werden. Die Modellversuche zur Studienreform entwarfen operative Reformkonzepte für die Praxis und stellten sie zugleich auf den Prüfstand einer methodisch kontrollierten Erprobung. 2. Die regionale Bildungsforschung entwickelte Parameter für Standortentscheidungen und füllte diese mit empirischen Daten auf. Sie lieferte damit planungsbezogene Wissensbestände, die entscheidungsrelevant sein konnten, jedoch nicht politisch präjudizierend wirken mussten. 3. Die bildungsökonomischen Bedarfsstudien leuchteten Möglichkeitsräume der Planung prognostizistisch aus, schärften aber auch das Bewusstsein für das „Nicht-Wissbare“. Sie verloren mit steigendem Differenziertheitsgrad an operativem Gebrauchswert, was nicht ausschloss, dass sie sowohl als Engpass- wie umgekehrt auch als Flexibilitätssignale in den politischen Meinungskampf einflossen. 4. Die Programmentwickler von HIS schließlich leisteten einen gewichtigen Beitrag zur Rationalisierung der Betriebsverwaltung und Steigerung der hochschulinternen Planungs- und Steuerungskapazitäten. Der hohe Gebrauchswert ihrer Wissensangebote beruhte gerade auf dem Umstand, dass sie als politikfern, weil primär für Verwaltungszwecke konzipiert gelten konnten. In allen Fällen hingen die Verwertungschancen der Wissensangebote maßgeblich von ihrer politischen Passfertigkeit ab – der Möglichkeit, sie den politischen Bedürfnissen ihrer Adressaten anzuverwandeln und sie in den vorgegebenen Rahmen politischer Überzeugungen und Interessenkalküle einzubetten. Das Problem-, Reform- und Steuerungswissen der Hochschulforschung konnte nur in politisch gefilterter Form handlungswirksam werden. Vielfach war die Funktion, als Munition im hochschulpolitischen Meinungskampf zu dienen, durchaus wichtiger. Hier wirkte die Hochschulforschung bisweilen auch in den weiteren Resonanzraum der Öffentlichkeit hinein. Unterm Strich dürfte bei all dem jedoch der Ein-

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fluss der Politik auf die Entwicklung der Hochschulforschung weitaus größer gewesen sein als umgekehrt der Einfluss der Hochschulforschung auf die Politik. Literatur Arbeitsgruppe Standortforschung, Technische Universität Hannover: Regionale Hochschulplanung in Hessen. Kassel als Hochschulstandort, Hannover: Jänecke, 1971. Arbeitsgruppe Standortforschung, Technische Universität Hannover: Regionale Hochschulplanung im Land Rheinland-Pfalz. Trier als Standort einer Universität, Hannover: Jänecke, 1969. Bartz, Olaf: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, Stuttgart: Steiner, 2007. Beck, Ulrich/Christoph Lau: Die „Verwendungstauglichkeit“ sozialwissenschaftlicher Theorien. Das Beispiel der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, in: Beck, Ulrich (Hg.): Soziologie und Praxis. Erfahrungen, Konflikte, Perspektiven, Göttingen: Otto Schwartz & Co, 1982, S. 369–394. Becker, Hellmut: Beitrag und Einfluß der Bildungsforschung auf die Arbeit des „Deutschen Bildungsrats“, in: Zeitschrift für Pädagogik 21 (1975), S. 159–172. Ders.: The Case of Germany: Experiences from the Education Council, in: Husén, Torsten/Maurice Kogan (Hg.): Educational Research and Policy. How do they Relate?, Oxford: Pergamon Press, 1984, S. 103–119. Bonß, Wolfgang: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Brinckmann, Andrea: Wissenschaftliche Politikberatung in den 60er Jahren. Die Studiengruppe für Systemforschung, 1958 bis 1975, Berlin: edition sigma, 2006. Brinkmann, Gerhard et al.: Bildungsökonomie und Hochschulplanung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Bildungspolitische Zwischenbilanz, Bonn: Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1976. Der Senator für Wissenschaft und Kunst: Hochschulentwicklungsplan I des Landes Berlin (Entwurf), in: Müller, Peter (Hg.): Dokumente zur Gesamthochschulentwicklung, Bonn/Bad Godesberg: Verlag Neue Gesellschaft, 1976, S. 251–263. Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission 1967–1969, Stuttgart: Klett, 1970. Dohnanyi, Klaus von: Politik und wissenschaftliche Beratung – Reißt die Kluft auf?, in: Heilemann, Ullrich/Dietmar Kath/Norbert Kloten (Hg.): Entgrenzung als Erkenntnis- und Gestaltungsaufgabe. Festschrift für Reimut Jochimsen zum 65. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 1968, S. 109–114. Edding, Friedrich/Klaus Hüfner: Probleme der Organisation und Finanzierung der Bildungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Roth, Heinrich/Dagmar Friedrich (Hg.): Bildungsforschung. Probleme – Perspektiven – Prioritäten. Bd. 2, Stuttgart: Klett, 1975, S. 419–453. Foemer, Ulla: Zum Problem der Integration komplexer Sozialsysteme am Beispiel des Wissenschaftsrates, Berlin: Duncker & Humblot, 1981. Friedeburg, Ludwig von: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992. Führ, Christoph: Deutsches Bildungswesen seit 1945. Grundzüge und Probleme, Neuwied: Luchterhand, 1997. Ders./Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998. Geißler, Clemens: Hochschulstandorte – Hochschulbesuch, 2 Teile (= Schriftenreihe der Arbeitsgruppe Standortforschung Bd. 1), Hannover: Jänecke, 1965.

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Aufstieg und Niedergang der Demokratisierung: Der Bund Freiheit der Wissenschaft und die Hochschulreform der frühen 1970er Jahre Nikolai Wehrs Die Revolution hat bereits begonnen. Orthodoxe Linke halten immer noch Ausschau nach Opas Revolution als einer, die hereinbrechen soll wie ein grandioses Gewitter […]. Die Konservativen, viel bessere Seismographen, haben längst registriert, daß die Revolution bereits begonnen hat. Als ihr Wolf im Schafspelz: Demokratisierung. Denn Demokratisierung: Herstellung von Gleichheit und Freiheit in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, und Sozialismus sind ein- und dasselbe.1

Das Jahr 1973 war in der Geschichte der Bundesrepublik vermutlich der letztmögliche Zeitpunkt, zu dem ein ernsthafter Wissenschaftler seine Arbeit noch in den Kontext einer Revolutionserwartung stellen konnte. Als der Politikwissenschaftler Fritz Vilmar in jenem Jahr sein zweibändiges Werk Strategien der Demokratisierung mit oben zitierter Fanfare einleitete, da klang das in den Ohren vieler Leser wohl bereits wie der Nachhall eines schon wieder verstrichenen historischen Moments. Wenige Jahre zuvor jedoch hatte das Schlagwort „Demokratisierung“ die politischen Fantasien in der Bundesrepublik wie kein zweites beflügelt. In ihm hatte jene „mächtige Welle der Reformerwartung“ (Hans Günter Hockerts), in der um 1970 der Fortschrittsoptimismus der langen Jahre des Nachkriegsbooms mit den in den 1960er Jahren ruckartig gestiegenen Partizipations- und Emanzipationsansprüchen der westdeutschen Gesellschaft zusammenflossen, ihre vielleicht stärkste politisch-kulturelle Leitvokabel gefunden.2 In das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik sind vor allem jene Sätze Willy Brandts aus dem Oktober 1969 eingegangen: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Zu jener Zeit bestimmte der Ruf nach „mehr Demokratie“ Kirchentage ebenso wie Juristentage, erhob sich an den Schulen ebenso wie in der Bundeswehr. Gewerkschaften stritten für die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer, Journalisten und Lektoren handelten ihren Verlegern komplizierte Beteiligungsmodelle ab, Theaterschauspieler rebellierten gegen ihre Intendanten. Demokratie sollte nicht länger bloß eine Organisationsform des Staates sein, sondern das gesamte Leben erfassen, sollte die Reste autoritärer Gesellschaftsstrukturen durch Mitbestimmung von „unten“ auflösen und endlich dem technischen

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Fritz Vilmar: Strategien der Demokratisierung. Bd. 1: Theorie der Praxis, Darmstadt: Luchterhand, 1973, Einband. Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 200f.

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Fortschritt des 20. Jahrhunderts ein adäquates gesellschaftliches Bewusstsein zur Seite stellen.3 Im Begriff Demokratisierung komme der „Generaltenor aller Ansprüche der Zeit auf Veränderung der uns umgebenden gesellschaftlichen Welt“ auf seine „knappste Formel“, urteilte 1969 der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis. Hennis allerdings teilte nicht den weit verbreiteten Enthusiasmus für dieses umfassende Gleichheits- und Freiheitsversprechen. Für ihn hatte der Ruf nach „mehr Demokratie“ potenziell sogar totalitäre Implikationen. Mit der Übertragung des Prinzips der repräsentativen Demokratie auf vorpolitische Sozialbereiche schien ihm nichts Geringeres preisgegeben als die „Grundlagen der abendländischen politischen Kultur“: die Unterscheidung von polis und oikos – von öffentlicher und privater Lebenssphäre. Drohte erneut eine Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft nach dem Muster der NS-Diktatur, nur unter umgekehrten Vorzeichen?4 Es war kein Zufall, dass im Jahr 1969 gerade ein Universitätsprofessor wie Wilhelm Hennis diese bis dahin schärfste politisch-intellektuelle Gegenrede zum Ruf nach Demokratisierung hielt. An Universitäten und in hochschulpolitischen Debatten war die Demokratisierung in den 1960er Jahren zuerst zum Leitparadigma des allgemeinen Reformdiskurses avanciert. Bewusst hatten ihre Fürsprecher sich ein Konzept zu eigen gemacht, dass zuletzt vor allem im Diskurs der Studentenbewegung mit Bedeutung aufgeladen worden war. Ganz explizit handelte es sich um ein Angebot des linksliberalen Teils der bundesrepublikanischen Funktionseliten an den links geprägten studentischen Protest. Durch die Aufnahme der radikaldemokratischen Demokratisierungsforderung sollte die Reformfähigkeit der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung unter Beweis gestellt und auf diese Weise das systemkritische Potenzial der Jugendrevolte eingehegt werden. Folgerichtig fand das neue Demokratisierungsparadigma seine erste Realisation ab 1968 in umfassenden Bestrebungen zur Reform der akademischen Selbstverwaltung an den Universitäten. Doch eben deshalb formierte sich an den Universitäten zur selben Zeit auch der stärkste Protest gegen die Kosten dieser Reintegration der Studentenbewegung durch Demokratisierung. Seine wichtigste organisatorische Basis fand dieser Protest in der im Herbst 1970 gegründeten Professorenvereinigung Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW). An diesem Professorenprotest – so die Leitthese der folgenden Ausführungen – ist die Demokratisierung der Universitäten in den frühen 1970er Jahren letztlich gescheitert. Mit diesem Scheitern aber verlor zugleich der allgemeine Reformdiskurs in der Bundesrepublik sein zentrales Leitparadigma. Studenten und Professoren führten so in den frühen 1970er Jahren letztlich einen Stellvertreterkampf. Ein Stück der politisch-kulturellen Identität der westdeut3

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Regierungserklärung Bundeskanzler Willy Brandt, in: Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundestages vom 28.10.1969, Stenographische Berichte, Bd. 71, hier S. 34; Ders.: Die Alternative, in: Die Neue Gesellschaft 16 (1969), S. 3f.; vgl. Martin Greiffenhagen (Hg.): Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, München: Piper, 1973. Wilhelm Hennis: Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, Köln: Westdeutscher Verlag, 1970.

Der BFW und die Hochschulreform

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schen Gesellschaft formte sich in den inneruniversitären Auseinandersetzungen um die Hochschuldemokratisierung und ihrer Spiegelung in der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Gesellschaftsgeschichte der „alten“ Bundesrepublik zeigt sich an dieser Stelle eng verknüpft mit der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Die folgenden Ausführungen zum Aufstieg und Niedergang des Paradigmas der Hochschuldemokratisierung sollen dies exemplifizieren. Sie zeichnen zunächst den Aufstieg des Demokratisierungsparadigmas aus dem Hochschulreformdiskurs der 1960er Jahre nach, um sich sodann der Motivlage der Gegner der Hochschuldemokratisierung unter den Professoren zuzuwenden. Anschließend werden (denkbar knapp) Methoden und Inhalte der Öffentlichkeitsarbeit des BFW auf ihre polarisierende Wirkung für die inneruniversitären Reformdebatten hin analysiert. Der letzte Abschnitt schließlich zeigt anhand der Revision der Hochschulreformgesetzgebung in den frühen 1970er Jahren den rasanten Abstieg des Demokratisierungsparadigmas. Aufstieg eines Paradigmas: Hochschulreform und Demokratisierung vor 1970 Der Diskurs um die Demokratisierung der Universität erwuchs aus dem Hochschulreformprozess der 1960er Jahre, jedoch nicht geradlinig, sondern als eine Art versetzte Reaktion der Studentenbewegung auf diesen Reformprozess. Dass der Hochschulreformprozess selbst, entgegen landläufigen Annahmen, älteren Ursprungs ist als die Studentenrevolte der Jahre um „1968“, ist in der bildungsgeschichtlichen Forschung wiederholt detailliert dargestellt worden.5 Seine Ursprünge liegen bereits in den 1950er Jahren, als erstmals für jedermann erkennbar wurde, dass der rasante Anstieg der Studentenzahlen über kurz oder lang die Kapazitäten des westdeutschen Hochschulwesens sprengen musste. Seit den späten 1950er Jahren lautete die naheliegende Antwort der Hochschulplaner auf dieses Problem: Expansion. Im Laufe der 1960er Jahre erfolgte eine historisch beispiellose Kapazitätserweiterung des bestehenden Hochschulwesens, zu der nicht nur diverse Universitätsneugründungen, sondern vor allem auch eine massive Vermehrung der Lehrstühle an den bestehenden Universitäten beitrug. Jedoch traten infolge dieser Expansion auch die Strukturschwächen des deutschen Hochschulwesens umso deutlicher hervor. Das Prinzip der „Ordinarienuniversität“ mit ihrer exklusiven Ausübung der akademischen Selbstverwaltung durch die ordent5

Vgl. für das Folgende exemplarisch Wilfried Rudloff: Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens. Leitbilder neuer Hochschulen zwischen Wissenschaftspolitik, Studienreform und Gesellschaftspolitik, in: Andreas Franzmann/Barbara Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie-Verlag, 2007, S. 77–101; Ders.: Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform in der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Studienreform und Gesamthochschule, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 71–89; Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. 1. Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998; Christoph Oehler: Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, Frankfurt/M.: Campus, 1989.

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lichen Professoren war in den durch die Lehrstuhlvermehrung aufgeblähten Fakultäten kaum mehr praktikabel, ebenso wenig das jährlich rotierende Rektorat an der Universitätsspitze. Unhaltbar schien mittelfristig auch die rechtlich ungesicherte Position der durch die Lehrstuhlvermehrung exponentiell gewachsenen Gruppe der wissenschaftlichen Assistenten. Und schließlich begünstigte die Tradition eines weitgehend unregulierten Studiums bei stark steigenden Studentenzahlen eine erhebliche Verlängerung der durchschnittlichen Studienzeit. Kurz: die Transformation der Universitäten zu Massenausbildungsstätten erzwang Strukturreformen. Wie grundlegend diese Strukturreformen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre tatsächlich angegangen wurden, zeigten die „Grundsätze für ein modernes Hochschulrecht“, mit denen die Kultusministerkonferenz (KMK) im April 1968 die Vorbereitung von Landeshochschulgesetzen in den Bundesländern zu koordinieren suchte. Sie demonstrierten die zunehmende Bereitschaft der staatlichlegislativen Instanzen, unter Hintanstellung traditioneller Vorstellungen von Hochschulautonomie im Hochschulreformprozess die Regie zu übernehmen. Indem die KMK-Beschlüsse – orientiert am angelsächsischen Vorbild – die Großfakultäten durch kleinere Fachbereiche und das rotierende Rektorat durch Universitätspräsidenten mit Dienstherreneigenschaft ersetzten, legten sie die Axt an den Stamm der traditionellen „Ordinarienuniversität“. Zudem sahen viele Hochschulgesetzentwürfe auch eine Aufwertung der Assistentenstellen zu lehrstuhlunabhängigen Assistenzprofessuren vor, wie es seit 1968 – ebenfalls nach angelsächsischem Vorbild – die Bundesassistentenkonferenz (BAK) propagierte. Parallel hatte der Wissenschaftsrat schon 1966 eine umfassende Studienreform skizziert, die einen konsekutiven Studienaufbau mit einem berufsqualifizierenden Abschluss zwischen Basis- und Aufbaustudium vorsah und so im Plan bereits jene Bachelor/Master-Reform vorwegnahm, die in der Bundesrepublik schließlich erst vierzig Jahre später im Zuge des Bologna-Prozesses realisiert werden sollte.6 Ein Reformprogramm dieser Reichweite musste Widerstände produzieren, zumal in einer Professorenschaft, deren traditionelles Leitbild über lange Zeit das Humboldtsche Prinzip von „Einsamkeit und Freiheit“ – die Autonomie der Universitäten von staatlicher Einflussnahme – gewesen war.7 Doch die Reaktionen der Professorenschaft waren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bereits in bemerkenswerter Weise gespalten – und dies in auffälliger Weise auch entlang einer generationellen Grenze. Es waren zuallererst ältere, akademisch noch vor 1945

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Beschluss der KMK vom 10.04.1968, Grundsätze für ein modernes Hochschulrecht und für die strukturelle Neuordnung des Hochschulwesens, zitiert nach: Lothar Schmidt/Dieter Thelen: Hochschulreform. Gefahr im Verzuge?, Frankfurt/M.: Fischer, 1969, S. 111–114; Bundesassistentenkonferenz (Hg.): Kreuznacher Hochschulkonzept. Reformziele der Bundesassistentenkonferenz, Bonn: Selbstverlag, 1968; Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen, Tübingen: Mohr, 1966. Vgl. Sylvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205.

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sozialisierte Professoren, welche den Reformprozess ablehnten.8 Von jüngeren, akademisch erst nach 1945 sozialisierten Professoren wurden die Strukturreformen dagegen teils empathisch unterstützt. Für die Angehörigen dieser jüngeren akademischen Generation stellte sich der Übergang zur „Massenuniversität“ wesentlich selbstverständlicher dar. Neben sozioökonomischen Argumenten der „Ausschöpfung der Begabungsreserven“ folgten sie dabei aus einem konsensliberalen Reformoptimismus heraus auch der Hoffnung, eine soziale Verbreiterung des Zugangs zu akademischer Bildung könne einen Beitrag zur „inneren Demokratisierung“ der Bundesrepublik leisten.9 Wie ein retardierendes Moment wirkte in diesem Hochschulreformprozess nun die studentische Protestbewegung um „1968“ – und dies nicht nur, weil die linke Studentenbewegung in kurioser Übereinstimmung mit dem altkonservativen Teil der Professorenschaft das Gros der Strukturreformen als „technokratisch“ ablehnte. Entscheidender war, dass der linksliberale Demokratisierungsdiskurs der jüngeren Hochschulreformer ab 1968 ganz und gar von jenem radikaldemokratischen Demokratisierungsdiskurs der Studentenbewegung überlagert wurde, der dann die hochschulpolitische Debatte in der Bundesrepublik für mehr als ein halbes Jahrzehnt scharf polarisieren sollte. Das studentische Konzept der Hochschuldemokratisierung bezog die gesellschaftspolitische Erwartungshaltung einer „inneren Demokratisierung“ in der Bundesrepublik konkret auf die Verfassungsstruktur der Universitäten. Die exklusive Ausübung der akademischen Selbstverwaltung durch die ordentlichen Professoren sollte durch einen paritätischen Aufbau der akademischen Kollegialorgane aus gewählten Repräsentanten von drei „genossenschaftlichen Teilverbänden“ abgelöst werden: der Professoren und sonstigen Habilitierten, der Assistenten und der Studenten. Dieses von rätedemokratischen Vorstellungen beeinflusste Konzept war erstmals 1961 in der SDS-Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ entwickelt worden. Seinen eigentlichen öffentlichen Durchbruch erzielte das Konzept jedoch erst um den Jahreswechsel 1967/68, während der Hochphase der Studentenbewegung, und zwar in einer Variante des Hamburger AStA-Vorsitzenden Detlev Albers. Dieser war es auch, der den Begriff Drittelparität popularisierte, unter dem das Konzept fortan firmierte.10 Der SDS selbst vertrat 1968 sein ursprüngliches Konzept schon gar nicht mehr, sondern propagierte den „Kampfplatz“ der Universität als Vorbereitungsfeld für einen revolutionären Umsturz.11 Gerade deshalb aber konnte die „Drittelparität“ 1968 bereits auch von linksliberalen Hochschulreformern als quasi gemäßigtes Konzept rezipiert werden. Bezeichnenderweise erfolgte die erste praktische Erprobung der Drittelparität im 8

Vgl. Stefanie Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik. Das Beispiel des Wissenschaftsrates in den 1960er Jahren, in: Franzmann/Wolbring: Zwischen Idee und Zweckorientierung, S. 103–120, hier S. 116f. 9 Vgl. exemplarisch Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg: Nannen, 1965. 10 Detlev Albers: Demokratisierung der Hochschule. Argumente zur Drittelparität, Bonn: Verlag Studentenschaft, 1968. 11 SDS-Resolution zur Hochschulpolitik, in: Neue Kritik 7.44 (1967), S. 15–28.

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Sommersemester 1968 am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin auf Initiative jüngerer sozialdemokratischer Hochschullehrer, die so dem SDS und seinem absurden Modell einer „Vollversammlungsdemokratie“ den Wind aus den Segeln nehmen wollten.12 Ähnliche Intentionen lagen einer Denkschrift zur Hochschuldemokratisierung von Professoren der „Frankfurter Schule“ um Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg zugrunde. Misstrauisch gegenüber dem verstärkten Zugriff der staatlichen Hochschulpolitik, meinten sie, die von der Studentenrevolte durchgeschüttelten Universitäten nur unter Einbeziehung der Studenten wieder als „politisch handlungsfähige Einheit“ konstituieren zu können. Gerade Habermas erkannte im Prinzip der Drittelparität, bei dem keine Gruppe eine andere mehr majorisieren können sollte, eine Annäherung an sein Ideal eines „herrschaftsfreien Diskurses“, in dem jede andere Gewalt als die des besseren Arguments ausgeschaltet sein sollte. Die Universität erschien in dieser Vorstellung analog zum politischen Raum als ein Ort, der durch das Vorhandensein von Interessenkonflikten und der Notwendigkeit ihrer rationalen Austragung gekennzeichnet war.13 Doch auch für viele Hochschulpolitiker stellte sich die Studentenrevolte in erster Linie als ein Versagen der inneruniversitären Konfliktregulierungsmechanismen dar. Die Schuld wurde hier vorrangig jenen traditionalistischen Professoren gegeben, die vermeintlich jede Reform blockierten, welche ihre Privilegierung in veralteten hierarchischen Strukturen antastete. Es war nur naheliegend, dass viele Politiker die studentische „Unruhe“ um 1968 zuerst an dem Ort beruhigen wollten, von wo sie ihrer Ansicht nach herrührte – also an den Universitäten. Bis zum Jahresende 1970 fand das Konzept der Hochschuldemokratisierung so Aufnahme in die Hochschulgesetze von immerhin sechs der elf westdeutschen Länder: in den SPD-(mit)regierten Ländern Baden-Württemberg, Berlin (West), Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, aber auch im CDU-regierten Rheinland-Pfalz. Dieser unerwartet rasche Übergang von der „Ordinarienuniversität“ zur „demokratisierten Gruppenuniversität“ vollzog sich zwar nirgendwo als punktgenaue Adaption der „Drittelparität“ des SDS/Albers-Modells. Am weitesten ging das Berliner Hochschulgesetz, in dem das Konzil als oberstes Kollegialorgan drittelparitätisch, die unteren Kollegialorgane – Senat, Fachbereichsräte etc. – ungefähr nach dem Schlüssel 7:4:3 gebildet wurden. In Hessen, Hamburg und RheinlandPfalz wurden ähnliche Paritäten-Schlüssel verabschiedet, doch wurden hier die Vorrechte der Professoren bei Entscheidungen über Qualifikationsverfahren und Berufungsfragen durch Negativkataloge (Prinzip der „doppelten Mehrheit“ etc.) geschützt. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen erließen Rahmengesetze, welche die Regelung der Paritäten-Frage den Hochschulen selbst überließen. 12 Vgl. Alexander Schwan/Kurt Sontheimer (Hg.): Reform als Alternative. Hochschullehrer antworten auf die Herausforderung der Studenten, Köln: Westdeutscher Verlag, 1969. 13 Erhard Denninger/Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas/Rudolf Wiethölter: Grundsätze für ein neues Hochschulrecht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.07.1968; Jürgen Habermas: Universität in der Demokratie – Demokratisierung der Universität, in: Merkur 21 (1967), S. 416–433.

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Die Grundtendenz war aber in allen Fällen gleich: überall wurde die akademische Selbstverwaltung nun auf das Prinzip der Gruppenrepräsentation gegründet, überall verloren die ordentlichen Professoren ihre bisher unangefochtene Majorität in den Kollegialorganen.14 Studenten und Assistenten erlangten so um 1970 erstmals maßgeblichen Einfluss innerhalb der akademischen Selbstverwaltung und damit auch auf originäre Fragen von Forschung und Lehre: auf die Gestaltung von Studien- und Prüfungsordnungen, auf die Verteilung von Forschungsgeldern, eingeschränkt auch auf Qualifikationsverfahren und auf die korporative Selbstergänzung der Lehrkörper. Nichts verdeutlicht besser den damit einhergehenden Machtverlust der Professorenschaft als der Umstand, dass zwischen 1969 und 1971 an vier Universitäten (an der FU und TU Berlin, in Hamburg und in Bremen) Assistenten zu Universitätspräsidenten gewählt wurden, jeweils durch drittelparitätische Konzile. Da die neuen Hochschulgesetze den Universitätspräsidenten zugleich die Dienstherreneigenschaft übertrugen, hatten es die Professoren nunmehr mit Vorgesetzten zu tun, die im Extremfall, so an der FU Berlin, noch nicht einmal promoviert sein mussten. Angesichts dieser Entwicklung überrascht es nicht, dass die Professoren das Konzept der „demokratisierten Gruppenuniversität“ in ihrer Mehrheit entschieden ablehnten. Anders als Habermas verstanden sie die Universität eben nicht als einen durch Interessenkonflikte definierten politischen Raum, sondern als eine primär funktionale Einrichtung quasi exekutiven Charakters, die im Interesse optimaler Leistungserbringung nach dem Gesetz der Zweckmäßigkeit zu organisieren war – und das meinte zuvorderst: unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Sachkompetenz von Professoren einerseits, Studenten und Assistenten andererseits.15 Doch diese theoretische Grundsatzdifferenz in Bezug auf die politische Natur der Universität erklärt allein noch nicht die Massivität der Ablehnung der „demokratisierten Gruppenuniversität“ durch einen Großteil der Professoren. Diese Massivität war vielmehr mitgeprägt durch die Gleichzeitigkeit der Hochschuldemokratisierung mit jener inneruniversitären „Kulturrevolution“ der Studentenbewegung, in deren Folge die Professoren nebst ihrer exklusiven Stellung in der akademischen Selbstverwaltung auch große Teile ihres symbolischen Kapitals einbüßten. Bevor die Hochschulgesetze die Mauern der „Ordinarienuniversität“ einrissen, hatten die revoltierenden Studenten bereits das Gebäude entkernt, als sie mit anarchischen Protestaktionen die sozialen Praxen der „Ordinarienuniversität“ ad absurdum geführt hatten. So fröhlich-karnevalistisch dabei manche studentischen Aktionen aus der Außensicht anmuten mochten, viele Professoren empfanden diese gezielten Provokationen nicht nur als maßlosen Angriff auf die Wür14 Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hg.): Hochschulgesetze der Länder der Bundesrepublik, Bonn: Westdeutsche Rektorenkonferenz, 1971. 15 Vgl. zur zeitgenössischen Debatte Hans-Adolf Jacobsen/Hans Dollinger (Hg.): Die deutschen Studenten. Der Kampf um die Hochschulreform. Eine Bestandsaufnahme, München: Desch, 1968.

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de der Institution Universität, sondern mit zunehmender Dauer immer stärker auch als Angriff auf ihre persönliche Integrität. Denn spätestens seit dem Wintersemester 1968/69 schien der studentische Protest vielerorts zunehmend in Destruktivität und Gewaltsamkeit abzugleiten. An zahlreichen Universitäten kam es im Rahmen studentischer „Streiks“ zur Besetzung von Instituts- und Rektoratsgebäuden, wurden Lehrveranstaltungen und Gremiensitzungen zum Abbruch gezwungen, wurden Professoren mit Eiern, Tomaten und Farbbeuteln beworfen, in Einzelfällen auch ihre Büros verwüstet. Zwar war es nur eine Minderheit der politisch bewegten Studenten, welche die Radikalisierung des Protests bis in solche Exzesse trieb. Doch prägten die radikalaktionistischen Gruppen 1968/69 vielerorts das inneruniversitäre Klima und machten den betroffenen Professoren die Situation an ihrem Arbeitsplatz oftmals unerträglich. Massive Frustrationen breiteten sich aus, wenn nicht gar ein akutes Bedrohungsgefühl.16 Erst vor dem Hintergrund dieses subjektiv empfundenen Bedrohungsgefühls werden die Motive verständlich, die ab 1970 so zahlreiche Professoren in dem hochschulpolitischen Defensivbündnis des BFW zusammenführten. Protest der Professoren: Motive der Gegner der Hochschuldemokratisierung Im Kontext der breiten zeithistorischen Forschung zur Studentenbewegung von „1968“ haben die Professoren des BFW bisher vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Wo sie Erwähnung fanden, wurden zudem oftmals zeitgenössische Stereotype ihrer Gegner reproduziert. Die BFW-Professoren erschienen in diesen Darstellungen einseitig als rückwärtsgewandte, wehleidig-nostalgische Verteidiger der alten „Ordinarienherrlichkeit“.17 Doch solche holzschnittartigen Zugriffe 16 Zeitgenössische Beschreibungen aus Professorenperspektive bei Ernst Nolte (Hg.): Deutsche Universitäten 1969. Berichte und Analysen, Marburg: Selbstverlag, 1969. 17 Vgl. Anne Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München: Oldenbourg, 2010, S. 378–391; Daniela Münkel: Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“. Die Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Hochschule, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 169–187; Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478, hier S. 454f. Vgl. umgekehrt apologetisch aus BFW-Perspektive Bernd Rüthers: Verräter, Zufallshelden oder Gewissen der Nation? Facetten des Widerstandes in Deutschland, Tübingen: Mohr, 2008, S. 214–219; Till Kinzel: Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ und die „Notgemeinschaft für eine freie Universität“ im Widerstand gegen die Achtundsechziger, in: Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan Winkler (Hg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, Graz: Stocker, 2003, S. 112–136; ausgewogener dagegen Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck, 2006, S. 102ff.; Anthony Dirk Moses: German Intellectuals and the Nazi Past, New York: Cambridge University Press, 2007, S. 205–209.

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verschenken das Potenzial, das in einer Analyse der politischen Mentalität dieser wichtigsten Gegner der Studentenbewegung für eine Kulturgeschichte des akademisch-intellektuellen Milieus der ‚alten‘ Bundesrepublik liegt. Wer also waren die BFW-Professoren tatsächlich? Welche Motive lagen ihrem Engagement zugrunde? Durchaus aussagekräftig ist ein Erklärungsversuch der BFW-Professoren selbst, formuliert im Gründungsaufruf des Bundes vom November 1970. Der BFW, hieß es da, sei Ausdruck des Tatbestandes, dass der „alte Gegensatz zwischen Konservativen und Reformern in hochschulpolitischen Fragen überholt“ sei.18 Das war zwar Eigenwerbung, dennoch scheint hier eine zentrale Voraussetzung für die Entstehung des BFW zutreffend erfasst. Der Aufstieg des Demokratisierungskonzepts zum Leitparadigma des Hochschulreformprozesses hatte jene generationelle Spaltung der Professorenschaft in ältere Traditionalisten und jüngere Reformoptimisten, die den hochschulpolitischen Diskurs der 1960er geprägt hatte, quasi aufgehoben. In der Gegnerschaft zur Hochschuldemokratisierung verbanden sich traditionalistische Altkonservative mit solchen, zumeist jüngeren Professoren, die sich vor „1968“ selbst als Teil einer inneruniversitären Reformavantgarde verstanden hatten. Gerade letztere Gruppe bestimmte das Bild an der Führungsspitze des BFW. Acht zentrale Protagonisten der BFW-Gründung seien exemplarisch genannt: – Richard Löwenthal (1908–1991), Politikwissenschaftler (Erstberufung: 1961) – Walter Rüegg (geb. 1918), Soziologe (E: 1961) – Wilhelm Hennis (geb. 1923), Politikwissenschaftler (E: 1962) – Ernst Nolte (geb. 1923), Historiker (E: 1965) – Hermann Lübbe (geb. 1926), Philosoph (E: 1963) – Thomas Nipperdey (1927–1992), Historiker (E: 1963) – Erwin K. Scheuch (1928–2003), Soziologe (E: 1964) – Hans Maier (geb. 1931), Politikwissenschaftler (E: 1962) Schon zeitgenössisch irritierte es viele Beobachter, dass diese Namen so gar nicht dem Stereotyp des BFW als konservativ-reaktionärer Ordinarien-Lobby entsprechen wollten. Als Repräsentanten der alten „Ordinarienuniversität“ konnten sie schon deshalb nicht gelten, weil sie allesamt erst in den 1960er Jahren ihre Erstberufung erhalten hatten. Fast alle Genannten hatten dabei von der Lehrstuhlvermehrung profitiert, waren also selbst bereits ein Produkt der Hochschulreform. Viele von ihnen hatten sich im Hochschulreformprozess konkret engagiert – etwa Lübbe als Wissenschaftsstaatssekretär in Nordrhein-Westfalen und Rüegg als Rektor der Universität Frankfurt und als Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Überwiegend handelte es sich um relativ junge Professoren, die akademisch erst nach 1945 sozialisiert und wissenschaftlich wie intellektuell teils stark von Studien- und Forschungsaufenthalten im westlichen Ausland (USA, Großbritannien, Frankreich) geprägt worden waren. Auch ihren wissenschaft18 Zitiert nach Hans Maier/Michael Zöller (Hg.): Bund Freiheit der Wissenschaft. Der Gründungskongress in Bad Godesberg am 18. November 1970, Köln: Markus, 1970, S.10.

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lichen Ruf hatten sie sich zumeist in den methodisch und theoretisch innovativsten Schulen ihrer jeweiligen Fachdisziplinen erarbeitet: Lübbe als Angehöriger des Collegium Philosophicum in Münster, Scheuch als Schüler der empirischen Soziologie René Königs in Köln, Nipperdey als Schüler der strukturgeschichtlichen Methode bei Theodor Schieder, Hennis und Maier als Mitbegründer der „praktischen“ Politikwissenschaft. Lebensgeschichtlich geprägt durch die Kindheits- und Jugenderfahrung von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg, verstanden sie ihre wissenschaftliche Arbeit explizit auch als Beitrag zur Festigung der liberaldemokratischen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. Richard Löwenthal, obgleich älter, stand dem generationellen Profil der Jüngeren sehr nahe. Der ehemalige Kommunist und NS-Widerstandskämpfer hatte seine Bekehrung zum westlichen Demokratiemodell im britischen Exil unter dem Einfluss der Fabian Society erfahren. Als Freund und offizieller Berater des SPDBundeskanzlers Willy Brandt war er der prominenteste einer gar nicht kleinen Riege sozialdemokratischer Professoren in der BFW-Führung – Hennis (bis 1970), Lübbe und Nipperdey waren ebenfalls SPD-Mitglieder. Scheuch hatte sich bis 1970 politisch eher noch weiter links profiliert und etwa öffentlich gegen die Notstandsgesetze votiert. Anstatt als konservative Ordinarien-Lobby kann das Führungspersonal des BFW von 1970 so im Gegenteil viel eher als Teil einer peer group der Westernisierungs- und Liberalisierungsprozesse in der frühen Bundesrepublik betrachtet werden. Bei aller politischen Spannweite vom Sozialisten Löwenthal bis zum engagierten Katholiken Maier verband sie als gemeinsame weltanschauliche Grundorientierung der westliche Konsensliberalismus der 1950er Jahre mit seinen Idealen einer pluralistischen Demokratie und eines sozial reformierten Kapitalismus, seiner Stoßrichtung gegen konservativ-autoritäre Reststrukturen in der Gesellschaft, freilich aber auch seiner prononciert antikommunistischen Tendenz im Zeichen des cold war liberalism.19 Gegenüber manchen Feigenblatt-Theorien zeitgenössischer BFW-Kritiker scheint es daher sinniger, die Gründe für das besondere Engagement dieser Exponenten des Professorenbundes gerade in diesem eher liberalen Profil der Gruppe zu suchen. Gerade weil sich diese Professoren vor „1968“ selbst als Teil einer liberalen Reformavantgarde betrachtet hatten, wollten sie sich nun nicht von der Studentenbewegung zum konservativen „Establishment“ und damit schon zum alten Eisen schlagen lassen, kaum dass sie eben erst in die Funktionseliten von Wissenschaft und Hochschule aufgerückt waren. Gerade weil sie sich mit ihrer politisch-intellektuellen Westorientierung demonstrativ von den älteren, „irrationalen“ Strängen der deutschen Geistesgeschichte distanziert hatten, erlebten sie

19 Vgl. Riccardo Bavaj: Verunsicherte Demokratisierer. „Liberal-kritische“ Hochschullehrer und die Studentenrevolte von 1967/68, in: Geppert/Hacke: Streit um den Staat, S. 151–168; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999.

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nun den idealistischen Überschwang der Jugendrevolte als „romantischen Rückfall“.20 Die scharfe Wendung dieser Professoren gegen die Studentenbewegung ging so zugleich mit einer generationellen Identitätskonstruktion einher. So beschrieb Walter Rüegg die Selbstwahrnehmung der BFW-Professoren einmal als „Bündnis jener Hochschulreformer der mittleren Generation, die sich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen fühlten.“21 Der Terminus „mittlere Generation“ verwies dabei auf jenen Generationszusammenhang, den die heutige Zeitgeschichtsforschung zumeist als „45er-Generation“ bezeichnet. Zeitgenössisch bot sich den intellektuellen Konstrukteuren dieses Generationszusammenhangs Helmut Schelskys Begriff der „skeptischen Generation“ an, denn in einer prononcierten Ideologieferne erblickten sie den Kern ihrer generationellen Identität – in Absetzung zur älteren und zur jüngeren Generation gleichermaßen.22 Diese „mittlere“ Generation, „die 1945 aus dem Krieg kam, die gesehen hatte, wohin der bloße idealistische Aktivismus führt“, sei „eine der großen Hoffnungen der deutschen Nachkriegsentwicklung gewesen“, urteilte Wilhelm Hennis 1969 (skeptisch bereits im Vergangenheitsmodus). Sie erst habe „ein wenig Nüchternheit“ in das deutsche Denken gebracht.23 Gerade für diese Generation sei es daher „Grund zum Entsetzen“, wenn die 68er-Linke nun wiederum „Weltanschauung“ zum „eigentlichen Gehalt der Politik“ erkläre, sekundierte Erwin K. Scheuch.24 Und auch Richard Löwenthal, der Ältere, feierte „jene Generation, die nach 1945 zu selbständigem Denken erwachte“ und die in der Nachkriegsintelligenz „zu einer liberaleren Grundhaltung“ geführt hatte, „als es sie jemals vorher unter deutschen Intellektuellen gegeben hatte.“ Zum ersten Mal wurde die Suche nach umfassenden Gesamtkonzeptionen von der Skepsis gegenüber solchen Konzeptionen verdrängt [...]. Zum ersten Mal gab es eine engagierte Intelligenz in Deutschland [...], die weder konformistisch den Machthabern folgte noch in radikaler Sezession Staat und Gesellschaft verneinte, sondern im Rahmen dieser Institutionen verantwortlich kritisch handeln wollte.25

In ihrem Selbstverständnis ging es den Protagonisten der BFW-Gründung im Kampf gegen die Studentenbewegung also um mehr als nur um die Funktionsweisen der Universität. Es ging ihnen sehr ernsthaft auch um die Verteidigung der demokratiepolitischen Aufbauleistung in der Bundesrepublik seit 1949. 20 Richard Löwenthal: Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, Stuttgart: Kohlhammer, 19702. 21 Walter Rüegg: Der Bund „Freiheit der Wissenschaft“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.12.1971. 22 Vgl. Moses: German Intellectuals; Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf: Diederichs, 1957. 23 Wilhelm Hennis: Die deutsche Unruhe, in: Merkur 23 (1969), S. 103–120, hier S. 118. 24 Erwin K. Scheuch: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken“ und ihrer Dogmen, Köln: Markus, 19692, S. 7–12. 25 Richard Löwenthal: Zwischen Konformismus und Sezession. Zur Lage der deutschen Intellektuellen, in: Der Monat 20.239 (1968), S. 32–38, hier S. 36.

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Ein über die hochschulpolitische Problematik hinausführendes Motiv der BFW-Gründer beruhte entsprechend auf der Autosuggestion, dass der Zusammenfall von radikalisiertem Studentenprotest und Hochschuldemokratisierung nicht nur die Freiheit der Wissenschaft, sondern tatsächlich auch die liberaldemokratische Grundordnung der Bundesrepublik bedrohte. Was die studentische Linke anging, so beruhte diese Einschätzung vor allem auf deren Verlautbarungen selbst, in denen doch unverhohlen, ja vollmundig, die Umfunktionierung der Universitäten in sozialistische Agitationsbasen propagiert wurde. „Die sozialistische Politik an der Hochschule [...] kann nicht von der Notwendigkeit der Reform des bürgerlichen Studiums ausgehen,“ verkündete der SDS Anfang 1969, die Revolte müsse ihr Bedürfnis nach „grundsätzlicher Veränderung der Gesellschaft“ in die Universitäten hineintragen: „Sie benutzt die Universität, genauer, sie gebraucht die Wissenschaft, um ihren Kampf zu stabilisieren und zu organisieren.“26 So irreal dieses Szenario rückschauend wirken mag – für das Verständnis der BFWProfessoren ist es fundamental, dass sie die Ankündigung der studentischen Linken eines „langen Marsches durch die Institutionen“ ernst nahmen und als Kampfansage auch annahmen. Der Soziologe Friedrich Tenbruck, ein weiterer Protagonist der BFWGründungsphase, beschrieb 1969 in einer Situationsanalyse im Deutschen Ärzteblatt eingehend die zentrale „strategische Bedeutung“ der Universität für die neomarxistische Linke. Nur an diesem Ort könnten die linksrevolutionären Gruppen „die Intelligenz [...] bewußtseinsmäßig beeinflussen.“ Der tiefere Sinn der studentischen Gewaltaktionen – der Institutsbesetzungen, der Vorlesungsstörungen, des Vandalismus etc. – bestehe eben darin, die Schwäche der bestehenden Ordnung zu demonstrieren, durch Gewöhnung an diesen Zustand das Vertrauen in den Bestand dieser Ordnung zu untergraben, um dadurch anfangs Furcht, sich für diese Ordnung zu exponieren, und schließlich die Bereitschaft zum rechtzeitigen Opportunismus zu erzeugen.

Mit dieser Strategie, so Tenbruck, seien die revolutionären Gruppen „überaus erfolgreich gewesen.“ Auch wenn die Studenten in ihrer Mehrheit die Methoden und ideologischen Parolen der radikalen Linken ablehnten, teilten sie doch „emotional und bewußtseinsmäßig“ deren allgemeine Grundauffassungen und sähen die Welt durch diese Brille. Die Professorenschaft dagegen übe sich überwiegend in der „naiven Selbstberuhigung“, die Studentenbewegung ließe sich „aussitzen“. Die publizistische Öffentlichkeit übe sich fast einmütig in „Exkulpation“ der „studentischen Ungeduld“ und die Politiker schließlich versuchten sich mit Reformen Ruhe zu erkaufen und glaubten, „mit Teilzahlungen davonzukommen.“27 Die Furcht vor einer drohenden Isolierung war bei den Gegnern der Studentenbewegung also schon ausgeprägt, bevor die ersten „demokratisierten“ Hochschulgesetze überhaupt in Kraft traten. Die Aussicht auf die „demokratisierte Gruppenuniversität“ verschärfte diese Furcht aber nochmals entscheidend. Denn 26 Die neue Radikalität, in: Neue Kritik 9.51/52 (1969), S. 3–9. 27 Friedrich H. Tenbruck: Bericht über die Lage. Studentenunruhen, in: Deutsches Ärzteblatt 66 (1969), S. 1026–1032.

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in der Perspektive dieser Professoren drohte die Ausweitung der studentischen Mitbestimmung nun auch die akademische Selbstverwaltung der Instrumentalisierung durch die studentische Linke auszuliefern. Keine Prüfungsordnung, kein Forschungsvorhaben und keine Stellenbesetzung würden künftig mehr an den revolutionären Kadergruppen vorbei entschieden werden können – so das Bedrohungsszenario des BFW-Gründungsaufrufs: „Die unbegrenzte Mitbestimmung der Studenten ist das Brecheisen, mit dem die deutsche Universität als die schwächste Institution dieser Gesellschaft aus den Angeln gehoben werden kann.“28 Für die BFW-Gründer war die staatlich-legislative Hochschulgesetzgebung der späten 1960er Jahre deshalb Ausdruck eines eklatanten Versagens der Politik vor der Herausforderung des studentischen Radikalismus. Der Politik, so ihr Eindruck, war es in Wahrheit ganz recht, wenn sich die studentische Protestbewegung wieder stärker auf die Universitäten fokussierte. Es kursierte ein Zitat des West-Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Schütz, der angeblich gegenüber Journalisten geäußert hatte, man müsse den studentischen Krawall nach Dahlem, also an die FU, zurücktragen. Solange er Ruhe auf dem Kurfürstendamm habe, interessiere ihn der Brandgeruch in Dahlem nicht.29 Vor dem Hintergrund dieser Autosuggestion einer umfassenden Defensive – gegenüber dem Studentenprotest, gegenüber dessen affirmativen Unterstützern in der Professorenschaft, gegenüber „konzessionistischen“ Politikern und gegenüber einer naiven Öffentlichkeit –, war die Gründung des BFW als ein Akt der Vorwärtsverteidigung zu verstehen. Das angebliche Schütz-Zitat weitergedacht, musste es den BFW-Professoren darum gehen, die Unruhe an den Universitäten auf den Kurfürstendamm, also in die Wahrnehmung der allgemeinen Öffentlichkeit, zurück zu transportieren. Polarisierung der Universität: Die Öffentlichkeitsarbeit des BFW Erdacht also zu dem Ziel, die vermeintliche diskursive Meinungsführerschaft der Demokratisierungsbefürworter durch die Mobilisierung einer Gegenöffentlichkeit zu brechen, sollte der BFW nach dem Willen seiner Gründer alles, nur keine Professorengewerkschaft sein. Diese gab es ja bereits in Gestalt des Deutschen Hochschulverbands. Explizit sollte der BFW vielmehr eine politische Vereinigung sein, freilich mit überparteilichem Anspruch – ein Zusammenschluss aller, „die sich des untrennbaren Zusammenhangs von Freiheit der Wissenschaft und freiheitlicher Demokratie bewusst sind.“ Entsprechend konnten nicht nur Professoren dem BFW beitreten, sondern auch Assistenten und Studenten, aber auch Sympathisanten außerhalb der Universitäten. Mit pathetischem Beschwörungsgestus appellierte der Gründungsaufruf an alle „Staatsbürger [...], die nicht tatenlos zusehen wollen, wenn mit der fragilsten seiner Institutionen auch der Staat ins Schwanken 28 Zitiert nach Maier/Zöller: Bund, S. 9. 29 Vgl. Michael Ludwig Müller: Berlin 1968. Die andere Perspektive, Berlin: Story, 2008, S. 153f.

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gerät“.30 Glaubt man den offiziellen Verbandsangaben, so waren 1972 tatsächlich nur 35% der damals immerhin rund 4000 BFW-Mitglieder Professoren.31 Die eigentliche Verbandsaktivität freilich wurde fast ausschließlich von Professoren getragen. Im Kern blieb der BFW eben doch ein Professorenbund. Gemäß dem Ziel, durch Erzeugung von Gegenöffentlichkeit politischen Druck für eine Revision der staatlich-legislativen Hochschulgesetzgebung aufzubauen, sollte die Aufgabe der Vereinigung nach dem Willen ihrer Gründer vor allem darin bestehen, „Träger einer öffentlichkeitswirksamen Informationspolitik“ zu sein: Der abgedunkelte Informationsraum Hochschule muss dem Blick der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Terror und Freiheitsbeschränkung durch radikale Gruppen dürfen nicht länger verschleiert und verharmlost werden.32

Hermann Lübbe gab auf dem BFW-Gründungskongress am 18. November 1970 in Bonn-Bad Godesberg die Arbeitsdevise aus: „Statt die Misere in uns hineinzufressen, werden wir sie künftig publizieren.“33 Dieser strategische Primat der Öffentlichkeitsarbeit ergab sich für die BFWProfessoren subjektiv fast zwangsläufig aus der Sinnlosigkeit einer konstruktiven hochschulpolitischen Mitarbeit innerhalb der Universitäten unter den Konditionen „drittelparitätischer“ Kollegialgremien. Dort eventuell zu erreichende punktuelle Verbesserungen hätten die Dramatik der „tatsächlichen Lage“ nur verschleiert. Mit Blick auf den Kampf um die diskursive Meinungsführerschaft in der außeruniversitären Öffentlichkeit konnten „Demokratisierung“ und „Drittelparität“ aber gar nicht umfassend und im Wortsinne offensichtlich genug scheitern. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel hatte deshalb schon nach der Verabschiedung des West-Berliner Hochschulgesetzes 1969 postuliert, der Kampf um die Universitäten müsse fortan primär von außen geführt werden – denn inneruniversitär sei er ohnehin bereits verloren.34 Die Wege, die der Professorenbund zum Zweck einer „öffentlichkeitswirksamen Informationspolitik“ einschlug, waren vielfältig. Vor allem nutzten seine Protagonisten ihr wissenschaftliches und intellektuelles Renommee, um die hochschulpolitische Position des BFW in Sachbüchern, Zeitschriftenessays, Vorträgen und Presseinterviews zu verbreiten.35 Aktuelle Ereignisse an den Universitäten und hochschulpolitische Entscheidungssituationen begleitete der BFW mit einer 30 Zitiert nach Maier/Zöller: Bund, S. 9 u. 11. 31 Wehrhafte Demokratie, in: Deutsche Universitätszeitung vom 01.04.1972. 32 Zitiert nach Hans Maier/Michael Zöller (Hg.): Gegen Elfenbeinturm und Kaderschmiede. Die hochschulpolitische Tagung in Bonn am 22. Juni 1970, Köln: Markus, 1970, S. 7ff. 33 Zitiert nach Maier/Zöller: Bund, S. 68. 34 Zitiert nach Malte Buschbeck: Reformer resignieren unter Druck von links, in: Süddeutsche Zeitung vom 19./20.06.1971. 35 Vgl. exemplarisch Richard Löwenthal: Hochschule für die Demokratie. Grundlinien einer sinnvollen Hochschulreform, Köln: Markus, 1971; Hermann Lübbe: Hochschulreform und Gegenaufklärung. Analysen, Postulate, Polemik zur aktuellen Hochschul- und Wissenschaftspolitik, Freiburg: Herder, 1972; Hans Maier: Zwischenrufe zur Bildungspolitik, Osnabrück: Fromm, 1972.

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steten Folge von Presseerklärungen. Hinzu kamen Broschüren und als Zeitschrift die Hochschulpolitischen Informationen, die zweimal im Monat in einer Auflage von ca. 5.400 Exemplaren kostenlos an Multiplikatoren und Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Journalismus versandt wurden. An diversen Hochschulstandorten bildeten sich zudem in den frühen 1970er Jahren Untergliederungen des BFW, die teils – vor allem an „unruhigen“ Standorten wie West-Berlin, Bremen oder Heidelberg – eine eigene lokale Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Thematisch bildeten sich in der BFW-Öffentlichkeitsarbeit drei Schwerpunkte heraus. Erstens suchte der BFW natürlich die Aktionen radikaler studentischer Gruppen zur Störung des Lehr- und Forschungsbetriebs medial zu thematisieren. Diese Lückenlosigkeit anstrebende Dokumentation von Vorlesungsstörungen, Farbbeutelattacken und sonstiger Droh- und Gewaltaktionen firmierte in der BFW-Öffentlichkeitsarbeit unter dem Titel „Krawall-Kalender“. Die Berichte stammten oftmals von den betroffenen Hochschullehrern selbst. Das Interesse der BFW-Öffentlichkeitsarbeit, durch eine hohe Taktzahl das Szenario eines umfassenden Angriffs auf die Wissenschaftsfreiheit zu unterlegen, traf sich hier mit einer wichtigen psychologischen Entlastungsfunktion für die Professoren, die nach Jahren der Demütigung nun endlich den Spieß umdrehen konnten. Relativierende Hinweise auf die insgesamt doch geringe Zahl gewaltsamer Störungen, wie sie etwa 1972 das Bundeswissenschaftsministerium lancierte, wies der BFW mit Verweis auf die Unteilbarkeit des Freiheitsprinzips zurück: „Sollte das Freiheitsbewußtsein in Deutschland schon so weit herabgekommen sein, daß es sich an Hand oberflächlicher Quantitätsberechnungen über physischen und psychischen Terror beruhigen lässt?“36 Zweitens allerdings betonte der BFW zugleich stets, dass der studentische „Terror“ nur das äußerlichste Moment einer vielschichtigeren Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit darstellte. Noch weitaus gefährlicher war in dieser Perspektive das Szenario einer „stillen Unterwanderung“ der Universitäten. Dieses Szenario setzte bei den Versuchen der systemoppositionellen Linken an, die „demokratisierten“ Kollegialorgane der akademischen Selbstverwaltung insbesondere in der Personalpolitik zu instrumentalisieren. Auch hier konnte die BFW-Öffentlichkeitsarbeit zahlreiche Fälle dokumentieren, in denen linke studentische Gruppen nichtmarxistische Bewerber bedrohten, wo sie eine Tutorenstelle, eine Lehrstuhlassistenz oder gar eine Professur mit einem ihrer Kandidaten besetzt sehen wollten. Dass insbesondere der Marxistische Studentenbund Spartakus ein realer „Machtfaktor“ an den Universitäten geworden war, belegten BFW-Analysen von Hochschulwahlen, bei denen der DKP-Studentenbund und seine Listenverbindungen örtlich bis zu 35% der studentischen Mandate erreichen konnten.37 Einige Universitäten stünden in der Gefahr, „zu Zitadellen der DDR auf dem Boden der

36 Um die Bedeutung von Vorlesungsstörungen, in: Moderator. Mitteilungen für die Mitglieder des Bundes Freiheit der Wissenschaft Nr.15 (1972), S. 1f. 37 Ein Prozent mehr Linksradikale an den Universitäten?, in: Hochschulpolitische Informationen 2.14 (1971), S. 6.

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Bundesrepublik zu werden“, warnte Ernst Nolte 1971.38 Doch der BFW beließ es nicht bei allgemeinen Warnungen, sondern schaltete sich auch direkt mit medialen Kampagnen in Berufungsverfahren ein, wo die Ernennung vermeintlicher Kommunisten zu verbeamteten Professoren zu befürchten war. Ab 1974 verschärfte die West-Berliner Sektion des BFW, die „Notgemeinschaft für eine freie Universität“, dieses Vorgehen noch, indem sie serienweise Namenslisten publizierte, welche alle Personen aufführten, die an den West-Berliner Hochschulen durch aktive Unterstützung DDR-kommunistischer Gruppen aufgefallen waren. Drittens führten die lokalen Sektionen des BFW aber auch an vielen Hochschulstandorten einen erbitterten Kampf gegen reformorientierte Universitätsleitungen und insbesondere gegen Universitätspräsidenten und Rektoren, die sich bei ihrer Wahl in „drittelparitätischen“ Wahlversammlungen auf die Stimmen der studentischen Linken gestützt hatten. Ihnen warf der BFW vor, den Übergriffen radikaler Studentengruppen gegen die Lehr- und Forschungsfreiheit nicht konsequent entgegenzutreten und durch die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen in den Kollegialorganen de facto die „stille Unterwanderung“ der Universitäten zu begünstigen. In einer Art Dauerfehde befand sich der BFW insbesondere mit jenen linken Assistenten-Präsidenten, die im Zuge der Hochschuldemokratisierung in West-Berlin, Bremen und Hamburg ins Amt gekommen waren. Doch auch die Rektorate der reformorientierten Professoren Gerhard Hess in Konstanz und Rolf Rendtorff in Heidelberg scheiterten nicht zuletzt am Druck der vom BFW entfachten medialen Kampagnen.39 Zweifellos hatte diese aggressive Ausrichtung der BFW-Öffentlichkeitsarbeit eine zynische Schlagseite. Sie zielte darauf ab, sich jene politische Polarisierung des akademischen Milieus, die der BFW als schädliche Folge der Studentenbewegung beklagte, zugleich zunutze zu machen. Eine paradoxe Folge dieser Strategie war, dass der BFW die gewalttätigen Eskalationsmomente des studentischen Protests nun geradezu benötigte, um sein Bedrohungsszenario eines umfassenden Angriffs auf die Wissenschaftsfreiheit aufrechtzuerhalten. Nicht wenige Beobachter neigten zu der Ansicht, dass einzelne BFW-Professoren solche Eskalationen sogar bewusst provozierten. So entstand ein Circulus vitiosus, in dem sich radikale Studenten und ihre Gegner auf Professorenseite gegenseitig bestärkten und damit den hochschulpolitischen Konflikt beständig perpetuierten. Zur weiteren Polarisierung der inneruniversitären Konflikte trug der BFW aber auch mit seiner Agitation gegen die Anhänger der Studentenbewegung innerhalb der Professorenschaft bei. Dass der BFW keine Scheu zeigte, bei seinen Kampagnen gegen reformorientierte Professoren und Universitätspräsidenten eine mediale Negativberichterstattung über ihre eigenen akademischen Wirkungsstätten zu forcieren, wurde ihnen in Kollegenkreisen vielfach als massive Illoyalität ausgelegt. Inne38 Ernst Nolte: Dreimal Ja und viermal Nein, in: Die Welt vom 23.01.1971. 39 Vgl. Hans Robert Jauss/Herbert Nesselhauf (Hg.): Gebremste Reform. Ein Kapitel deutscher Hochschulgeschichte. Universität Konstanz 1966–1976, Konstanz: Universitäts-Verlag, 1977; Ekkehard Nuissl/Rolf Rendtorff/Wolf-Dietrich Webler: Scheitert die Hochschulreform? Heidelberg zum Exempel, Reinbek: Rowohlt, 1973.

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runiversitär erwarb sich der BFW so schon früh einen nachhaltig schlechten Ruf. In der strategischen Grundsatzentscheidung, den Kampf um die Universitäten primär von außen zu führen, war so zweifellos von Beginn an der Keim einer Selbstisolierung der BFW-Professoren mit angelegt. Doch der BFW war ja nicht in erster Linie angetreten, um inneruniversitär zu reüssieren. Sein primäres Ziel war es ja, einen Meinungsumschwung gegen die Hochschuldemokratisierung in der außeruniversitären Öffentlichkeit herbeizuführen – und in dieser Hinsicht zahlte sich die Rücksichtslosigkeit, mit der er die Polarisierung der inneruniversitären Konflikte betrieb, anscheinend aus. Es war mit den Händen zu greifen, wie in der Hochschulberichterstattung der überregionalen Presse die zunächst verbreitete Grundsympathie mit dem Projekt der Hochschuldemokratisierung in den frühen 1970er Jahren angesichts unablässiger Schadensmeldungen aus den Universitäten bald Ernüchterung und Enttäuschung wich. In der ZEIT, die in den 1960er Jahren zu den wichtigsten journalistischen Promotoren eines hochschulpolitischen Reformoptimismus gezählt hatte, beschrieb Nina Grunenberg ab 1971 die Universitäten als „Tollhaus“.40 In der Süddeutschen Zeitung stellte Gernot Sittner im selben Jahr unerbittlich fest, die Hochschulreform sei „in die Irre gegangen“, vor allem die „Demokratisierung“ habe „nicht aus der Krise heraus-, sondern in neue Verwirrung hineingeführt.“41 Die Frankfurter Rundschau verteidigte zwar noch die Hochschuldemokratisierung, registrierte aber sehr wohl, wie sie mit dieser Position zunehmend in die Defensive geriet. Der Schuldige stand in ihren Augen fest: es war der BFW, „die erfolgreichste Lobbyistenvereinigung nächst dem Bauernverband“.42 Ende des Reformoptimismus: Die Revision der Hochschuldemokratisierung Letztere Einschätzung der Frankfurter Rundschau war sicherlich eine grobe Überschätzung. Die direkten hochschulpolitischen Einflussmöglichkeiten der BFW-Professoren waren aufgrund des ambivalenten Rufs, den sich der „Kampfbund“ mit seinem aggressiv-offensiven Auftreten erworben hatte, eher begrenzt. Von den hochschulpolitischen Lobby-Verbänden verfügte etwa der Deutsche Hochschulverband wohl allemal über die besseren Drähte zu politischen Entscheidungsträgern.43 Ein gewichtigerer Einfluss kam dem BFW aber zweifellos auf einer indirekten Ebene der Stimmungserzeugung zu. Indem er die inneruniversitären Konflikte – in einer so informellen wie paradoxen Aktionseinheit mit dem radikalen Flügel der Hochschullinken – beständig neu anfachte, perpetuierte und vor allem konsequent nach außen transportierte, trug er in den frühen 1970er Jahren maßgeblich zu einem raschen Abflauen des hochschulpolitischen Reform40 Nina Grunenberg: Studenten-RotZ, Professoren-Trotz, in: Die Zeit vom 16.07.1971; Dies.: Im Tollhaus an der Spree, in: Die Zeit vom 29.06.1973. 41 Gernot Sittner: Die Universität als Kampftribüne, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.08.1971. 42 Horst Köpke: Hochschulen im Abseits, in: Frankfurter Rundschau vom 07.07.1972. 43 Vgl. Franz J. Bauer: Geschichte des Deutschen Hochschulverbandes, München: Saur, 2000.

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optimismus bei. Der Umstand, dass die Universitäten über Jahre hinweg die Aufmerksamkeit der außeruniversitären Öffentlichkeit in erster Linie durch fortgesetzte Unruhen erregten, drängte auch in der Hochschulpolitik jene Befürworter des Demokratisierungskonzepts in die Defensive, die sich von einer Ausweitung der studentischen Mitbestimmung vor allem eine Befriedung eben jener Unruhen versprochen hatten. Diese Trendumkehr zeigte sich bereits 1971/72 in den Ausschussberatungen des Bundestags zum Hochschulrahmengesetz, die sich im Kern bald auf eine Debatte über die Verschärfung des Ordnungsrechts als Mittel gegen studentische Ausschreitungen reduzierten. Der Hoffnung mancher sozialliberaler Hochschulreformer, über das Hochschulrahmengesetz könnte die Demokratisierung der akademischen Selbstverwaltung bundeseinheitlich verbindlich geregelt werden, stand ohnehin die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat entgegen.44 Die unionsregierten Länder Bayern und Schleswig-Holstein vollzogen mit ihren 1972/73 beschlossenen Landeshochschulgesetzen zwar nun ebenfalls den Übergang von der „Ordinarienuniversität“ zur Gruppenuniversität – aber mit Paritäten-Schlüsseln, die den Professoren in allen Kollegialorganen eindeutige Mehrheiten garantierten. BadenWürttemberg novellierte nach dem Ausscheiden der SPD aus der Landesregierung 1972 sein Landeshochschulgesetz ebenfalls in diesem Sinne, wobei Kultusminister Wilhelm Hahn die vom BFW maßgeblich angeheizten Unruhen an der Universität Heidelberg zum Anlass nahm (Gegner sprachen von einer „Lex Heidelberg“). Doch auch in vielen SPD-regierten Ländern, die Ende der 1960er Jahre die Vorreiter der Reform gewesen waren, wurde schon 1971/72 das Abrücken vom Konzept der Hochschuldemokratisierung unverkennbar. In West-Berlin beauftragte der Senat 1971 eine auswärtige Expertenkommission mit der Überprüfung des Hochschulgesetzes und führte anschließend Negativkataloge nach dem Vorbild vieler CDU-regierter Länder ein, um die Vorrechte der Professoren in Fragen von Forschung und Lehre zu schützen. Nordrhein-Westfalen gab seinen 1972 neu gegründeten Gesamthochschulen per Dekret Professorenmehrheiten in den Kollegialorganen vor. Unumkehrbar wurde diese Entwicklung schließlich im Mai 1973 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das niedersächsische Hochschulgesetz. Als Nachzügler in punkto Hochschuldemokratisierung hatte Niedersachsen 1971 ein Gesetz verabschiedet, das dieses Prinzip umso extensiver auslegte. Die Gruppe der Professoren wurde in den Kollegialorganen in einer neuen Gruppe der Hochschullehrer aufgelöst, die unterschiedslos auch fast den gesamten akademischen Mittelbau umfasste. Zumindest theoretisch war es in Niedersachsen damit möglich geworden, sogar Berufungskommissionen ohne jede Professorenbeteiligung zu bilden.45 Auf dieses Gesetz fokussierte sich rasch der geballte 44 Vgl. Tobias Hoymann: Der Streit um das Hochschulrahmengesetz des Bundes. Politische Auseinandersetzungen in der ersten großen und der sozialliberalen Koalition, Wiesbaden: VS Verlag, 2010; Guntram von Schenck: Das Hochschulrahmengesetz. Hochschulreform in der Gesellschaftskrise, Bonn: Neue Gesellschaft, 1976. 45 Westdeutsche Rektorenkonferenz: Hochschulgesetze, S. 147–150.

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Protest der Gegner der Hochschuldemokratisierung, wobei eine von Göttinger BFW-Professoren betriebene Verfassungsklage zum Zentrum des Protests wurde. In dialektischer Wendung führte so gerade der weitest gehende Vorstoß der Demokratisierungsbefürworter das endgültige Scheitern dieses Konzepts herbei. Denn das Bundesverfassungsgericht gab 1973 der Sammelklage der niedersächsischen Professoren weitgehend statt. Zwar erklärten die Karlsruher Richter die Einführung der Gruppenuniversität grundsätzlich für verfassungskonform. Doch nahmen sie dem radikaldemokratischen Prinzip dieser Organisationsform quasi jeden Sinn, indem sie eine absolute Mehrheit der ordentlichen Professoren in den Kollegialorganen zur Vorschrift machten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erfolgte unter Berufung auf den Artikel 5,3 des Grundgesetzes: „Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dieses Gebot, hieß es in der Urteilsbegründung, müsse als individuelles Grundrecht des einzelnen Wissenschaftlers aufgefasst werden, der in seiner Lehr- und Forschungsfreiheit nicht durch die Beschlüsse minder qualifizierter Angehöriger von Kollegialorganen eingeschränkt werden dürfe. Zwei Verfassungsrichter konfrontierten diese Begründung in einem Sondervotum mit der naheliegenden Frage, ob dann nicht auch Kollegialorgane mit Professorenmehrheit die individuelle Lehrund Forschungsfreiheit verfassungswidrig einschränken würden. Die Kumulierung von Grundrechtsschutz und Mehrheitsposition war in ihren Augen „geradezu ein verfassungsrechtlicher Widerspruch.“ Doch in der Urteilsbegründung der Mehrheit der Verfassungsrichter wurde diese Überlegung verworfen. Diese Möglichkeit, so die dürre Feststellung, sei „bei einer typisierenden Regelung in Kauf zu nehmen.“46 In Umsetzung dieses höchstrichterlichen Urteils verschwanden in den Folgejahren auch die letzten Ansätze des ursprünglichen Konzepts der Hochschuldemokratisierung aus den Landeshochschulgesetzen. Übrig blieb das Prinzip der Gruppenrepräsentation, nun aber eben nur noch mit unanfechtbaren Mehrheiten für die Professorenschaft. Das 1976 schließlich verabschiedete Hochschulrahmengesetz änderte hieran nichts mehr. Im Jahr 1970 in seinem ersten Entwurf noch als Zusammenfassung und bundeseinheitliche Garantie diverser Hochschulreformprojekte konzipiert, war es in jahrelangen Auseinandersetzungen in den parlamentarischen Gremien und im Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat bis zur Unkenntlichkeit verwässert worden. Am Ende stand ein aussageloser Allparteienkompromiss, der keine reformerische Kraft mehr entfalten konnte.47 In den Folgejahren fehlte den politischen Entscheidungsträgern verständlicherweise jede Bereitschaft, sich mit neuen Reforminitiativen auf dem polarisierten hochschulpolitischen Feld die Finger zu verbrennen. Der seit den frühen 1960er Jahren bestehende Konsens über die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des Hochschulwesens war zerbrochen. Die staatlich-legislative Kultuspolitik verlagerte ihre Konzentration auf die Reform des beruflichen Bildungs46 Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hg.): Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1973 zum niedersächsischen Vorschaltgesetz, Bonn: Westdeutsche Rektorenkonferenz, 1973. 47 Vgl. Hoymann: Streit, S. 217f.; Schenck: Hochschulrahmengesetz, S. 88–94.

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wesens. Daneben tobten – als Spätfolge des Reformoptimismus der 1960er Jahre – in zahlreichen Bundesländern erbitterte schulpolitische Kämpfe um die Einführung der Gesamtschule. Die Strukturprobleme der Universitäten jedoch blieben liegen, ebenso die Aufgabe des Hochschulausbaus, trotz weiterhin rapide steigender Nachfrage nach akademischer Bildung. Mit Hinweis auf die vage Aussicht eines demografisch bedingten Rückgangs der Studentenzahlen in angeblich naher Zukunft wurde den Universitäten von nun an jahrzehntelang eine Überlast bei gleichzeitiger Unterfinanzierung zugemutet.48 Fazit In der zeithistorischen Forschung wird der Umschlag von Reformoptimismus zu Reformskepsis in der Bundesrepublik Mitte der 1970er Jahre zuweilen sehr einseitig auf den sozioökonomischen Strukturwandel und speziell der Abbruch der Hochschulreform vor allem auf die verschlechterte Finanzierungsgrundlage der Hochschulpolitik infolge der Konjunkturkrisen jener Jahre zurückgeführt. Doch solche Deutungen greifen zu kurz. Sie reproduzieren vielmehr in erster Linie ein Argument, das schon zeitgenössisch für viele politische Entscheidungsträger nur allzu wohlfeil war, um ihre neue hochschulpolitische Abstinenz zu begründen. Immerhin: 1971 war die CDU noch bereit gewesen, Steuererhöhungen in Kauf zu nehmen, um die da noch für ungemein dringlich befundenen Reformen im Bildungswesen zu finanzieren. Stattdessen beschloss ein Jahr später eine Allparteienkoalition im Bundestag eine der teuersten Rentenerhöhungen in der deutschen Geschichte – zu einem Zeitpunkt, wo im Hochschulreformdiskurs das Argument der angeblich „klammen Kassen“ bereits ubiquitär war. Insgesamt standen die 1970er Jahre in der Bundesrepublik nicht im Zeichen einer Senkung der Staatsausgaben. Es war damals noch weitaus stärker als heute eine Frage der politischen Prioritätensetzung, wofür Geld da war. Der antiakademische Unterton, mit dem 1975 Helmut Schmidt die SPD auf den für sie ungünstigen Kompromiss beim Hochschulrahmengesetz einschwor – die vielen Arbeitnehmerfamilien, die jeden einzelnen Studienplatz mit ihren Steuern bezahlten, müssten endlich einmal wissen dürfen, was bei der ganzen Hochschulreform eigentlich herauskomme –,49 zeigt an, wie sehr das fiskalische Argument tatsächlich ein Disziplinierungsinstrument der politischen Spitzen gegenüber den Hochschulreformenthusiasten in ihren eigenen Reihen war. Letztlich scheiterte die Hochschulreform nicht primär an fiskalischen Zwängen, sondern an der Fokussierung des gesamten Reformprozesses auf das Demokratisierungsparadigma seit 1968, am anhaltenden Widerstand der Gegner dieses Paradigmas, an einer von hochschulpolitischen Fundamentalreformern und BFW-Professoren beidseitig betriebenen Polarisierung und

48 Vgl. George Turner: Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Zur Geschichte der Hochschulreform im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, Berlin: Duncker & Humblot, 2001. 49 Zit. nach Schenck: Hochschulrahmengesetz, S. 140–144.

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schließlich an der daraus resultierenden allgemeinen Erschöpfung der hochschulpolitischen Reformkräfte. Literatur Albers, Detlev: Demokratisierung der Hochschule. Argumente zur Drittelparität, Bonn: Verlag Studentenschaft,1968. Bauer, Franz J.: Geschichte des Deutschen Hochschulverbandes, München: Saur, 2000. Bavaj, Riccardo: Verunsicherte Demokratisierer. „Liberal-kritische“ Hochschullehrer und die Studentenrevolte von 1967/68, in: Geppert, Dominik/Jens Hacke (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 151–168. Brandt, Willy: Die Alternative, in: Die Neue Gesellschaft 16 (1969), S. 3f. Bundesassistentenkonferenz (Hg.): Kreuznacher Hochschulkonzept. Reformziele der Bundesassistentenkonferenz, Bonn: Selbstverlag, 1968. Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg: Nannen, 1965. Denninger, Erhard/Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas/Rudolf Wiethölter: Grundsätze für ein neues Hochschulrecht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.07.1968. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999. Franzmann, Andreas/Barbara Wolbring (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie-Verlag, 2007. Führ, Christoph/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. 1. Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München: Beck, 1998. Geppert, Dominik/Jens Hacke (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. Greiffenhagen, Martin (Hg.): Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, München: Piper, 1973. Habermas, Jürgen: Universität in der Demokratie – Demokratisierung der Universität, in: Merkur 21 (1967), S. 416–433. Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. Hennis, Wilhelm: Die deutsche Unruhe, in: Merkur 23 (1969), S. 103–120. Ders.: Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, Köln: Westdeutscher Verlag, 1970. Hockerts, Hans Günter: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. Hoymann, Tobias: Der Streit um das Hochschulrahmengesetz des Bundes. Politische Auseinandersetzungen in der ersten großen und der sozialliberalen Koalition, Wiesbaden: VS Verlag, 2010. Jacobsen, Hans-Adolf/Hans Dollinger (Hg.): Die deutschen Studenten. Der Kampf um die Hochschulreform. Eine Bestandsaufnahme, München: Desch, 1968. Jauss, Hans Robert/Herbert Nesselhauf (Hg.): Gebremste Reform. Ein Kapitel deutscher Hochschulgeschichte. Universität Konstanz 1966–1976, Konstanz: Universitäts-Verlag, 1977. Kinzel, Till: Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ und die „Notgemeinschaft für eine freie Universität“ im Widerstand gegen die Achtundsechziger, in: Becker, Hartmuth/Felix Dirsch/Stefan Winkler (Hg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, Graz: Stocker, 2003, S. 112–136. Lechner, Stefanie: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik. Das Beispiel des Wissenschaftsrates in den 1960er Jahren, in: Franzmann, Andreas/Barbara Wolbring (Hg.): Zwi-

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Wissenschaft als öffentliches Anliegen. Das nationalpädagogische Sendungsbewusstsein des Literaturhistorikers Hermann August Korff (1882–1963) Anna Lux Verstärkt rückte in den letzten Jahren das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit ins Bewusstsein der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. „Öffentlichkeit als Ressource“ (Mitchell Ash), Öffentlichkeit als „Legitimationsinstanz“ (Georg Bollenbeck) oder „Popularisierung“ und „Wissensvermittlung“ sind Schlagworte dieser Debatte.1 Im Folgenden soll die Fruchtbarkeit dieser Ansätze in einer Fallstudie am Beispiel eines akademischen Akteurs überprüft werden. Im Mittelpunkt steht der Germanistikprofessor Hermann August Korff, der, von den politisch-gesellschaftlichen Veränderungen kaum angefochten, von 1925 bis zu seiner Emeritierung 1954 in Leipzig lehrte. Bislang sind zu Korff, obgleich er zu den wichtigsten Vertretern der Literaturgeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, nur wenige wissenschaftliche Arbeiten erschienen und sein Verhältnis zur Öffentlichkeit wurde darin nicht systematisch untersucht.2 Dabei zeigt sich gerade in diesem Verhältnis eine bemerkenswerte Diskrepanz: Obwohl Korffs Anspruch auf öffentliche Wirksamkeit ambitioniert war und über das wissenschaftliche Feld hinausging, erscheint er in den Erinnerungen von Zeitgenossen, vor allem aus den 1940er und 1950er Jahren, eher als der entrückte, weltabgewandte Gelehrte, der, „unverdrossen der Idee der klassischen Humanität anhängend, unablässig mit der Literatur gegen die Zeit philosophiert[e]“.3 Dieser Umstand hängt nicht unwesentlich mit der personellen Konstellation der Leipziger Germanistik während der frühen DDR zusammen: Neben Korff lehrten mit dem Altgermanisten und Wissenschaftsorganisator Theodor Frings und mit Hans Mayer, dem Remigranten und marxistischen Literaturwissenschaftler, nämlich zwei weitere charismatische Persönlichkeiten in Leipzig, die öffentlich zudem wesentlich präsenter waren als Korff. Konkret galt Frings vor allem in 1 2

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Vgl. den Beitrag von Sybilla Nikolow in diesem Band. Bisher setzt sich die Forschung mit Korff nur im Rahmen umfassenderer Fragestellungen sowie vorranging aus ideengeschichtlicher oder argumentationsanalytischer Perspektive auseinander. Vgl. Gerhard Kaiser: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin: Akademie-Verlag, 2008; Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg: Synchron, 2007; Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, München: Fink, 2007. Zu seiner Biographie vgl. Markus Bauer: Hermann August Korff, in: Christoph König et al. (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, 3 Bde., Berlin: De Gruyter, 2003, S. 987–989. Claus Träger: Hermann August Korff, in: Universität Leipzig (Hg.): Namhafte Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität, Bd. 3, Leipzig: Universität, 1983, S. 84–95, hier S. 85.

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der (fach-)wissenschaftlichen Öffentlichkeit als „der letzten Könige einer“4 mit einer „fast legendäre[n] Machtposition“5 in der frühen DDR.6 Hans Mayer, vom Typ eher Intellektueller als klassischer Ordinarius, trat als Wissenschaftspopularisierer auf zahlreichen Veranstaltungen oder im Radio auf und prägte so das öffentliche Geschehen in der Nachkriegszeit in Ost und West.7 Diese ungleiche Trias aus Korff, Frings und Mayer war für die Leipziger Studierenden in den 1950er Jahren ein „Glücksfall“,8 denn sie hatten die Möglichkeit, verschiedene fachliche (auch weltanschauliche) Positionen kennenzulernen, während an anderen Universitäten noch personeller Notstand herrschte.9 Doch gerade in diesem setting erschien Korff den Zeitgenossen kaum als öffentlich präsenter Akteur, sondern wirkte vielmehr distanziert. Die Studierenden erlebten ihn als Autorität mit „goethescher Altersweisheit“, „mitunter unnahbar“.10 In der Fachöffentlichkeit trat er – verglichen mit Frings – nur selten auf und auch seine Auftritte in der nichtakademischen Öffentlichkeit waren – im Vergleich zu Mayer – überschaubar.

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Helmut Brackert: Der letzten Könige einer. Zum Tode des Germanisten Theodor Frings, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.06.1968. 5 Stefan Sonderegger: Theodor Frings zum Gedenken, in: Neue Züricher Zeitung vom 04.07.1968. 6 Frings spielte eine zentrale Rolle für Fach und Universität sowie für die wissenschaftspolitischen Entwicklungen in der frühen DDR und auch in den Jahrzehnten zuvor zählte er zu den wichtigsten Repräsentanten der Altgermanistik im In- und Ausland. Sein Konzept der Kulturmorphologie war interdisziplinär angelegt und innovativ, er war maßgeblich in die Planung und Realisierung verschiedener Großprojekte involviert (Atlas der deutschen Volkskunde, Deutsches Wörterbuch) und Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften. Zu Frings vgl. u.a. Rudolf Große: Theodor Frings, in: König: Internationales Germanistenlexikon, S. 528–531 sowie Anna Lux: Räume des Möglichen. Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918–1961), Stuttgart: Steiner, 2014 [im Erscheinen]. 7 Mayers Kritiker-Ausgaben sowie die Bücher zu Thomas Mann, Bertolt Brecht, Georg Büchner oder Richard Wagner richteten sich keineswegs nur an ein akademisches Publikum. Zum Wirken von Mayer in den Leipziger Jahren vgl. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. 2 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988; Mark Lehmstedt (Hg.): Hans Mayer. Briefe 1948–1963, Leipzig: Lehmstedt, 2006; Mark Lehmstedt (Hg.): Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956–1963, Leipzig: Lehmstedt, 2007 sowie Lux: Räume des Möglichen. 8 So der spätere Gymnasiallehrer Helmut Soldner, der zwischen 1955 und 1957 in Leipzig studierte. Vgl. Interview mit Soldner, in: Robert Grolms: Hans Mayer – Ein Hochschullehrer in Leipzig. Wirken und Wirkung, Magisterarbeit Universität Leipzig, 2007, S. 128–132, hier S. 129. 9 Zur Germanistik in der SBZ und DDR vgl. exemplarisch Angelika Pöthe/Reinhard Hahn: Germanistik in Jena zwischen 1945 und 1989, in: Uwe Hoßfeld/Tobias Kaiser/Heinz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität (1945–1990), Bd. 2, Köln: Böhlau, 2007, S. 1767–1798 sowie zur Situation der Hochschule und zum Elitenwechsel bis in die 1960er Jahre generell Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999. 10 Gerhard Kluge: Hans Mayer in Hörsaal 40, in: Hans Ester/Guillaume van Gemert (Hg.): Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur und Literaturwissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert, Amsterdam: Ropodi, 1985, S. 195–208, hier S. 198.

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Dass sich die folgenden Überlegungen dennoch Korff widmen, resultiert aus meiner bisherigen Beschäftigung mit ihm und der Leipziger Germanistik im Zeitraum von 1918 bis 1961. Der Fokus dieser Untersuchungen lag auf dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik, sie fragte nach Beharrungskräften und Veränderungen, nach Anpassungsleistungen und Resistenz.11 Gerade bei Korff kam die Untersuchung mit diesem Zugriff wiederholt an die Grenzen der Erklärbarkeit. Korff selbst bezeichnete sich als ‚unpolitisch‘ und wurde so auch vom Gros der Zeitgenossen wahrgenommen, obwohl seine Handlungsweisen teilweise durchaus eine politische Dimension hatten. Mit dem Konzept der Öffentlichkeit ergibt sich nun eine zusätzliche Perspektive auf das Phänomen Korff. Ihr Potenzial liegt vor allem darin, Aussagen über Handlungsmotivation und Selbstverständnis jenseits von der Frage nach Politik machen zu können und trotzdem die gesellschaftliche Perspektive im Blick zu behalten. Konkret werden im Folgenden Korffs Sendungsbewusstsein, die zugrundeliegenden Motive und Intentionen, die Reichweite seiner „Sendung“ sowie die Mittel untersucht, die er einsetzte, um die von ihm avisierten Publika zu erreichen. Nach Ausführungen zu Biografie und Werk widmet sich der Beitrag den beiden von Korff bevorzugt angesprochenen Adressatenkreisen: der breiteren, nichtakademischen Öffentlichkeit sowie der Studentenschaft. Im Zeichen von Kontinuität – Leben und Werk Hermann August Korff, 1882 in Bremen geboren, stammte aus einer großbürgerlichen Industriellenfamilie. Er entschied sich gegen die Fortführung des väterlichen Betriebs und für ein Studium der Fächer Germanistik, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Heidelberg und Bonn. Bei dem jüdischen Honorarprofessor Max Freiherr von Waldberg promovierte Korff 1907 mit einer vergleichenden Arbeit über den historischen Roman bei Willibald Alexis und Walter Scott.12 Auch das Habilitationsthema galt mit Voltaire und dessen Einfluss auf das literarische Deutschland einem europäischen Akteur des 18. Jahrhunderts.13 Die Arbeit hatte Korff 1913 eingereicht, doch sie erschien auf Grund von Druckverzögerungen erst 1917. Dazwischen lag der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an dem Korff als Offizier teilnahm und der ihn tief prägte. Wie für breite Teile des deutschen Bildungsbürgertums fügten sich auch für ihn diese Erfahrungen, ebenso die militärische Niederlage und ihre politischen Folgen, die Wirtschaftskrise und die Inflation, zu einer kulturell-gesellschaftlichen Orientie-

11 Lux: Räume des Möglichen. 12 Hermann August Korff: Scott und Alexis. Eine Studie zur Technik des historischen Romans, Heidelberg: Hörning & Berkenbusch, 1907. 13 Hermann August Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe, Heidelberg: Winter, 1917.

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rungs- und Weltanschauungskrise.14 Und wie viele seiner Hochschulkollegen reagierte Korff darauf auch in seinem Werk und versuchte nun mit „vermehrter Kraft das Bewusstsein von der Gemeinschaft im Volkstum“15 zu fördern. „Volk“ und „Volksgemeinschaft“ wurden für ihn wie für viele Hochschullehrer zur einenden Chiffre, der Dienst an der ‚zerrissenen Nation‘ zur Selbstverständlichkeit. Die Besinnung auf das Spezifische des deutschen Daseins mündete auch bei Korff in dem Willen, das Selbstbewusstsein des deutschen Volkes zu stärken, es wissenschaftlich zu erforschen und als einzigartig und überlegen darzustellen.16 Explizit schlug sich Korffs Gesinnungswandel nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Habilitation nieder und er distanzierte sich im Vorwort von den europäischen Ansätzen des Buchs. Seine zunächst pro-französische Haltung, in Folge der ihm Voltaire als „Anwalt des europäischen Gewissens“17 erschienen war, war im Zuge des Kriegs umgeschlagen. Sie kam ihm nun, 1917, als er das Vorwort schrieb, vor wie aus einer anderen Zeit. Als Konsequenz verschob er in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg den Fokus seines Untersuchungsfeldes auf die heroisierende Epoche der „deutschen Bewegung“ (Herman Nohl), die Hochzeit der deutschen Kultur und Literatur, die er systematisch erfassen, anschaulich machen und verbreiten wollte. 1918 aus dem Krieg zurückgekehrt, setzte Korff seine akademische Karriere in Frankfurt am Main fort, wo er als Privatdozent für Neuere deutsche Literaturgeschichte lehrte. 1921 wurde er dort zum Extraordinarius ernannt und übernahm vertretungsweise den Lehrstuhl seines Mentors Julius Petersen. Zwei Jahre später wechselte Korff als Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte nach Gießen und wiederum zwei Jahre später, 1925, nach Leipzig. Der Wechsel vom beschaulichen Gießen in die geschäftige Messestadt fiel ihm nicht leicht, doch entschied er sich bewusst für diesen Schritt zugunsten einer größeren Hörerschaft – immerhin gehörte die Leipziger Germanistik mit ca. 400 Studierenden Mitte der 1920er Jahre zu den drei größten Instituten im deutschsprachigen Raum.18 In Leipzig blieb Korff bis zu seiner Emeritierung 1954, also gut 30 Jahre – von den politischen Zäsuren 1933 und 1945 scheinbar unbeeindruckt. Zuverlässig hielt er in diesen Jahren seine Lehrveranstaltungen. Zahlreiche Germanisten und Germa-

14 Vgl. exemplarisch Frank Bösch: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen: Wallstein, 2002. 15 Hermann Aubin: Zu den Schriften Erich Keysers, in: Ernst Bahr (Hg.): Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift für Erich Keysers 70. Geburtstag, Marburg: Elwert, 1963, S. 1–11, hier S. 3. 16 Vgl. neben einer großen Zahl neuerer Arbeiten nach wie vor grundlegend Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München: dtv, 1978. 17 Korff: Voltaire, S. 4. 18 Vgl. Brief von Hermann August Korff an Julius Petersen vom 03.04.1925, Deutsches Literaturarchiv Marbach, D: Petersen, D 62.275. Zu den Studierendenzahlen vgl. Lux: Stabilität und Wandel, S. 20–26.

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nistinnen hörten seine Vorlesungen, und viele von ihnen promovierten bei Korff mit Arbeiten zu bemerkenswert unterschiedlichen Themen.19 Das Hauptwerk von Korff ist ohne Frage der in vier Bänden erschienene Geist der Goethezeit. In dieser ideengeschichtlichen Zusammenschau der Literatur- und Geistesgeschichte des „deutschen Idealismus“ (1770 bis 1830) rekonstruierte er auf Grundlage dichterischer und philosophischer Werke einen spezifischen Zeitgeist. Er interpretierte den deutschen Idealismus als geistige Einheit, als die entscheidende Phase der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte und als die einzige, die je welthistorische Bedeutung erlangt habe. An diesem Werk arbeitete Korff während seines gesamten akademischen Lebens: 1923 erschien der erste Band zu Sturm und Drang, 1930 der zweite zur Klassik, 1940 der dritte Band zur Früh- und 1953 der vierte zur Hochromantik. Zusätzlich erschien 1957 ein umfassender Registerband. Neben diesem monumentalen Werk publizierte Korff eine Reihe kleinerer Texte, die vor allem vor dem Hintergrund seines Verhältnisses zur Öffentlichkeit bedeutsam sind. Diese Texte waren zum einen Aufsätze und Abhandlungen in wissenschaftlichen Zeitschriften,20 vor allem in der Zeitschrift für Deutschkunde, einem Organ, das sich sowohl an ein akademisches Publikum als auch an einen weiteren Adressatenkreis richtete. Zum anderen veröffentlichte Korff in kleinen Bänden Vorträge, die er zu unterschiedlichen Anlässen (denn er war ein gefragter Redner) gehalten hatte. Diese Texte erschienen in einfacher Bindung und zu geringem Preis. Das dritte von Korff favorisierte Publikationsformat waren Anthologien, etwa Goethe- und Klassikeranthologien, die seit den späten 1940er Jahren erschienen. Die bloße Anzahl der Publikationen Korffs fällt im Vergleich mit der anderer Germanisten seiner Zeit verhältnismäßig klein aus. Zudem veröffentlichte er nur wenige Rezensionen oder Handbuchartikel und trat auch als Herausgeber von Editionen nicht hervor. So zeigt sich bereits anhand der von ihm bevorzugten Publikationsformate, dass Korff nur wenige Texte verfasste, die sich ausschließlich an die scientific community richteten, doch dazu später. Für sein Werk erhielt Korff eine Reihe von Auszeichnungen.21 Er starb 1963 im Alter von 81 Jahren nach kurzer Krankheit in Leipzig.

19 So entstanden bei Korff neben Arbeiten zu Schiller, Klopstock oder Jean Paul auch die erste literaturwissenschaftliche Arbeit über Freundesliebe in der deutschen Literatur sowie eine Arbeit über Parapsychologie und Literatur. Siehe Hans Dietrich Hellbach: Die Freundesliebe in der deutschen Literatur, Leipzig: Ferling, 1931 sowie Kurt Klein: Form und Funktion paraphysischer Phänomene in Dichtungen der Romantik, Leipzig: Univ. Diss., 1949. 20 Vgl. hierzu und zu den folgenden Angaben die Bibliografie Joachim Müller (Hg.): Gestaltung. Umgestaltung. Festschrift zum 75. Geburtstag von Hermann August Korff, Leipzig: Koehler & Amelang, 1957. 21 Im Jahr 1932 erhielt Korff die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft, verliehen durch den Reichspräsidenten von Hindenburg sowie die Goethe-Medaille des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt. Des Weiteren erhielt Korff 1949 die Goethe-Medaille der Stadt Frankfurt am Main und 1953 die Herder-Medaille der DDR. Vgl. Bauer: Korff, S. 987.

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Öffentlichkeit und Teilöffentlichkeiten Für Korffs Verhältnis zur Öffentlichkeit orientiere ich mich an Arne Schirrmachers „gestufte[m] Modell der Öffentlichkeit der Wissenschaft“,22 zu dem ich später eine Ergänzung vorschlagen möchte. Zunächst jedoch zu den verschiedenen Teilöffentlichkeiten und ihren Bezügen zu Korff. Schirrmacher unterscheidet in seinem Modell sechs Stufen. Als mögliche Adressaten von wissenschaftlicher Kommunikation innerhalb der scientific community werden zunächst drei verschiedene Teilöffentlichkeiten benannt: erstens die Fachwissenschaft, welche im Wesentlichen über wissenschaftliche Fachzeitschriften angesprochen wird; zweitens Fachkreise außerhalb des konkreten Forschungsgebietes, die etwa über Handbücher informiert werden, sowie drittens die Fachöffentlichkeit, also die Kommunikation in der Wissenschaft, auf Tagungen, in wissenschaftlichen Gesellschaften sowie in der akademischen Lehre. In Abgrenzung von den wissenschaftlichen Adressatenkreisen unterscheidet Schirrmacher viertens das aufmerksame Stammpublikum bzw. die gebildete, interessierte Öffentlichkeit, die über anspruchsvolle, aber populäre Publikationen oder Vorträge angesprochen wird, fünftens die gelegentlich interessierte Öffentlichkeit, die durch Vorträge und Ausstellungen in Alltagssprache sowie durch Publikationen mit Illustrationen erreicht wird. Hinzu kommt sechstens die breite Öffentlichkeit, die nicht an wissenschaftlicher Bildung interessiert ist und allein durch die Sensationalisierung von Themen in den Massenmedien mit wissenschaftlichen Aspekten in Berührung kommt.23 Korff bediente die drei erstgenannten wissenschaftsbezogenen Teilöffentlichkeiten zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Intensität. An die Fachwissenschaft richtete er sich vor allem zu Beginn seiner akademischen Karriere. Zu dieser Zeit setzte er sich verstärkt mit anderen wissenschaftlichen Positionen auseinander, grenzte sich von ihnen ab und formte auf diese Weise ein eigenes fachwissenschaftliches Profil.24 An die Fachkreise außerhalb seines konkreten Forschungsgebietes sowie an die Öffentlichkeit in der Wissenschaft richtete sich Korff vor allem mit Vorträgen. Er trat als Festredner bei unterschiedlichen Goethe-Feiern auf oder sprach vor interessiertem akademischem Publikum beispielsweise während seiner Gastaufenthalte in den USA 1935 und 1938. Im Rahmen der Öffentlichkeit in der Wissenschaft legte Korff zudem besonderen Wert auf die akademische Lehre, die bereits quantitativ betrachtet einen großen Raum innerhalb seiner Kommunikation in der Wissenschaft einnahm. Mit Blick auf das 22 Arne Schirrmacher: Nach der Popularisierung: Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34.1 (2008), S. 73–95. 23 Ebd., S. 84–88. 24 So fand Mitte der 1920er Jahren in der Fachzeitschrift Euphorion eine intensive fachinterne Debatte um Wert und Bestand der Stammesgeschichte statt, in der Korff als Kritiker eine wichtige Rolle spielte. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Petra Boden: Stamm – Geist – Gesellschaft. Deutsche Literaturwissenschaft auf der Suche nach einer integrativen Theorie, in: Holger Dainat/Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen: Niemeyer, 2003, S. 215–262 sowie Lux: Stabilität und Wandel, S. 415–418.

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nichtwissenschaftliche Publikum richtete Korff sein Interesse vor allem auf die gebildete, interessierte Öffentlichkeit, zeitweise auch auf ein Gelegenheitspublikum. Die breite Öffentlichkeit hingegen gehörte nicht zu seiner Zielgruppe. Die beiden Teilöffentlichkeiten, denen er sich mit besonderem Interesse zuwandte und denen seine nationalpädagogische Sendung kontinuierlich galt, waren so die gebildete Öffentlichkeit sowie seine Studierenden. „Die gesamte bildungswillige Schicht der Nation“ als Adressat Den grundsätzlichen Anspruch, Leser und Leserinnen auch außerhalb der Fachwissenschaft zu erreichen, formulierte Korff früh. Bereits 1923, in seiner Einleitung zum ersten Band von Geist der Goethezeit, hieß es sendungs- und selbstbewusst: Das vorliegende Werk hält zwischen Wissenschaft und Leben eine mittlere Linie ein. Es wendet sich nicht nur, aber auch an die Wissenschaft und macht den Anspruch, in vielen Punkten Anregungen auch der Wissenschaft zu geben. In der Hauptsache wendet es sich allerdings an die gesamte bildungswillige Schicht der Nation, für die die Beschäftigung mit der klassischen Zeit des deutschen Geistes immer mehr ein lebendiges Bedürfnis geworden ist. Es setzt zwar eine anständige Kenntnis der klassisch-romantischen Literaturgeschichte voraus; nicht aber zugleich, daß jeder das einmal Gelesene auch gegenwärtig immer im Kopfe habe. Und die Dinge, von denen es spricht, bespricht es so, daß auch derjenige den Erörterungen folgen kann, der auf diesem Gebiete kein Fachmann ist.25

Diese Sätze enthalten in nuce Korffs Adressatenbezug. Sie spiegeln seinen Anspruch, die Grenze zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit großzügig zu überschreiten. Natürlich war auch die Fachwissenschaft für Korff ein wichtiger Bezugspunkt und seine Vorträge und Festreden hielt er meist vor akademischem Publikum.26 Jedoch ging es Korff nur selten primär um fachlichen Diskurs oder empirische Details, sondern immer um das ‚große Ganze‘. Es ging ihm so nicht um „eine Extensivierung, sondern eine Intensivierung unseres historischen Wissens“, darum, „daß es nicht darauf ankommt, möglichst viel, sondern eher nicht zu viel, aber das Wesentliche zusammen zu sehn“.27 Sein Hauptwerk richtete Korff also an die interessierte Öffentlichkeit, die „gesamte bildungswillige Schicht der Nation“.28 Dabei ist bemerkenswert, dass er Öffentlichkeit in erster Linie über den Bildungswillen definierte, ein zutiefst pädagogischer Anspruch, der ihm zeitlebens wichtig blieb und den er entspre25 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, 5 Bde., Leipzig: Koehler & Amelang, 1923–1957, Bd. I [1923], S. V (Hervorhebungen im Original). 26 So die Vorträge in Frankfurt 1919 und 1924. Ebenfalls 1924 hielt Korff auch in Essen den Festvortrag auf einer Veranstaltung anlässlich von Goethes 175. Geburtstag, die von der Goethe-Gesellschaft, der Kant-Gesellschaft, der Gesellschaft für Wissenschaft und Leben sowie der Literarischen Gesellschaft veranstaltet worden war. 27 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. I [1923], S. VI (Hervorhebung im Original). 28 Ebd., S. V.

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chend den ideologischen Prämissen des jeweiligen Systems partiell umformulierte. Als Korff 1954, also 30 Jahre nach der Erstauflage, dem ersten Band von Geist der Goethezeit eine neue Einleitung voranstellte, betonte er abermals, dass „Bildungsunterschiede [...] etwas anderes als Standesunterschiede“ seien und dementsprechend „die Schicht der Gebildeten [...] grundsätzlich durch alle Stände“29 gehe. Neben den Bildungswilligen galt Korff in der Einleitung von 1923 die Nation als Adressatenbezug. Jenen Deutschen, denen „die Beschäftigung mit der klassischen Zeit des deutschen Geistes immer mehr ein lebendiges Bedürfnis geworden ist“,30 wollte Korff ein nationales Identifikationsangebot unterbreiten und ihnen von der Größe der deutschen Literatur und Kultur künden.31 Mit diesem Anspruch stand Korff in einer Linie mit dem Gros seiner damaligen Germanistenkollegen, das die „Wiedererfindung der nationalen Tradition“32 nach dem Ersten Weltkrieg mit großer Verve und Selbstverständlichkeit betrieb. Dem „Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor) wollte gerade die germanistische Literaturwissenschaft die Größe der deutschen Kultur entgegensetzen.33 Denn, so etwa Korffs Mentor Julius Petersen, „wo können wir, verloren im materialistischen Chaos, besser uns selbst finden, als im Spiegel unserer Dichtung, der uns in Wahrheit unser besseres Selbst entgegenträgt als ein zielweisendes Idealbild unserer Bestimmung.“34 Bei Korff waren die pädagogischen und nationalen Intentionen zudem verknüpft mit einer weltanschaulich-religiösen Sendung. Im Unterschied zu anderen Germanisten orientierte er sich in Wortwahl und Diktion auffällig an christlicher Terminologie wie Bildlichkeit und stilisierte Goethe zum Erlöser aus der Krise. Dies wird deutlich in folgendem Zitat: Der junge Goethe ist symbolisch untergegangen. Er hat sich im Werther eine Kugel durch den Kopf geschossen – im Faust die Giftphiole an den Mund gesetzt. Aber er ist – nach einer langen Zeit der inneren Verpuppung als ein verwandelter Goethe wieder auferstanden – als ein vom Drang Erlöster, der auch der Menschheit die Erlösung brachte.35

29 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. I [1954], S. 5. 30 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. I [1923], S. V. 31 Vgl. Hermann August Korff: Deutschlands Anteil an der Weltdichtung, in: Zeitschrift für Deutschkunde 45 (1931), S. 433–450. 32 Gretz: Die deutsche Bewegung, S. 15. 33 Vgl. Gunter Reiss: Einleitung: Vom Dichterfürsten und seinen Untertanen. Aspekte der Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft von Scherer bis 1945, in: Ders. (Hg.): Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Von Wilhelm Scherer bis 1945. 2 Bde., Tübingen: Niemeyer, 1973, S. VII–XLI. Zum Topos der Kulturnation in der Bildungspolitik der Weimarer Republik vgl. Winfried Speitkamp: Erziehung zur Nation. Reichskunstwart, Kulturpolitik und Identitätsstiftung im Staat von Weimar, in: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994, S. 541–580. 34 Julius Petersen: Literaturwissenschaft und Deutschkunde. Ansprache bei der Festsitzung der Gesellschaft für deutsche Bildung am 30. September 1924, in: Zeitschrift für Deutschkunde 38 (1924), S. 403–415, hier S. 414–415. 35 Hermann August Korff: Die Lebensidee Goethes, Leipzig: Weber, 1924, S. 143–170, hier S. 147.

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Das Zitat stammt von 1924, doch finden sich ähnliche Bezüge auch im Geist der Goethezeit und so auch im Dritten Reich und – in der unveränderten Neuauflage – auch in der DDR. Bei den konkreten Mitteln, mit denen Korff versuchte, der interessierten, bildungswilligen Öffentlichkeit ein nationales wie weltanschauliches Identifikationsangebot zu unterbreiten, kann unterschieden werden nach Diskursebene, Stil und Sprache sowie hinsichtlich der Verbreitung der Texte. Diskursebene I: Referenzen auf die Gegenwart Wiederholt vollzog Korff die „Vergegenwärtigung“ seines (literatur-)historischen Stoffs. Ziel war es, auf diese Weise das Wissen für die Gegenwart nutzbar zu machen und dem historischen Wissen einen Schlüssel für die Gegenwart mitzugeben.36 Diese Referenzen finden sich sowohl im Krisendiskurs während der Weimarer Zeit wie in der Befreiungsrhetorik im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung. Ein prägnantes Beispiel für Vergegenwärtigung lieferte der Tübinger Germanistikprofessor Paul Kluckhohn, wenn er 1934 schrieb: Die Bewegung unserer Tage steht der deutschen Bewegung um 1800 näher, als es den meisten Menschen heute bewußt ist. Man kann geradezu sagen: Der deutschen Bewegung von heute ist durch die um 1800 geistig stark vorgearbeitet worden, oder – anders gesehen – wesentliche Ideen des Dritten Reiches sind aus den gleichen Tiefen gespeist, die schon die wertvollsten Epochen der deutschen Geistesgeschichte befruchtet haben.37

Auch Korff vollzog in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren die Vergegenwärtigung seiner Forschung, um an Probleme und Fragen der Gegenwart anzuschließen. Exemplarisch lässt sich dies zeigen, wenn man zwei seiner Texte nebeneinanderlegt. 1928 hatte Korff in seinem Vortrag über die Dichtung von Sturm und Drang im Zusammenhange der Geistesgeschichte. Ein gemeinverständlicher Vortragszyklus eine tiefe kulturelle und gesellschaftliche Krise konstatiert, in der die Sturm-und-Drang-Bewegung wie ein Befreiungsschlag gewirkt habe. Mit ihr „wandelte sich dieser ganze Kultur-Pessimismus sogleich in eine Kulturrevolution.“38 In der Forderung des Tages von 1933, einem in der Fachgeschichte vielzitierten Text, mit dem Korff sprachgewaltig die Machtergreifung der 36 Zur Funktion der „Vergegenwärtigung“ vgl. die Aussage des viel rezipierten Volkspädagogen Herman Nohl: „Man meint gern, die Gegenwart sei nicht wissenschaftlich zu behandeln, weil wir selbst in ihr mitkämpfen. Aber alle historische Arbeit ist im Grunde Vergegenwärtigung, und an dieser Vergegenwärtigung ist die eigene Person unentrinnbar und entscheidend beteiligt.“ Herman Nohl: Einleitung (1935), in: Ders.: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt/M.: Klostermann, 200211, S. 3–14, hier S. 3. 37 Paul Kluckhohn, Nachwort, in: Ders.: Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm, Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1934, S. 323, zitiert nach Kaiser: Grenzverwirrungen, S. 472. 38 Hermann August Korff: Die Dichtung von Sturm und Drang im Zusammenhange der Geistesgeschichte. Ein gemeinverständlicher Vortragszyklus, Leipzig: Quelle & Meyer, 1928, S. 56 (Hervorhebung im Original).

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Nationalsozialisten begrüßte, argumentierte er ganz ähnlich, doch nun mit einem anderen Referenzpunkt. Nun sprach Korff von den 1920er Jahren als „einer Zeit so qualvoller Ratlosigkeit“ und von der Machtergreifung als von einem Ereignis auf „gewaltigen Wogen [...] von einer wahrhaft befreienden Wirkung“, einem „Aufbruch [...] und einer Einkehr in das eigene Wesen, dessen wahre Art uns erst durch seine tödliche Gefährdung recht bewusst geworden ist“.39 Diskursebene II: Referenzen auf „das Leben“ Neben der Anbindung an die Gegenwart war der Rückgriff auf das „Leben“ ein probates Mittel, um die wissenschaftliche Arbeit an Interessen und Erwartungen einer nichtakademischen Öffentlichkeit anschlussfähig zu machen. „Leben“ war ein zentraler „Scharnierbegriff“ (Bollenbeck) im Diskurs der 1920er und 1930er Jahre,40 ein hochfrequentierter, zugleich vager Begriff, der in Wissenschaft wie Öffentlichkeit auf starke Resonanz stieß. Referenzen auf das Leben haben im Werk von Korff einen zentralen Stellenwert. Bereits in der Einleitung von 1923 hatte er betont, dass sein Werk als eine Art Mittler zwischen Wissenschaft und Leben stehen soll; zehn Jahre später hieß es nochmals pointierter: „Wie die Wissenschaft ursprünglich eine Funktion des Lebens ist, so erfüllt [sie] nur ihren Lebenssinn, wenn sie letzten Endes wiederum dem Leben dient.“41 Dass Korff damit den Nerv der Zeit traf, zeigt die Besprechung des Geist der Goethezeit durch Erich Kästner von 1925. Darin heißt es: Und wie solche Gestaltung allein mit dem Rüstzeug der Wissenschaft nicht möglich wäre, so ist das Buch auch nicht nur für die Wissenschaft bestimmt. Es ist ein Werk, das die Epoche beschwört, die den Begriff des Lebens inthronisiert; es ist ein Werk, das vom Leben her konzipiert wurde; und es ist ein Werk, das allen wahrhaftig Lebendigen gilt.42

Vergegenwärtigung und Lebens-Bezug boten auf der Diskursebene Anknüpfungspunkte an die nichtakademische Öffentlichkeit. Sie dienten als Brücken, um Korffs nationalpädagogische und weltanschauliche Sendung zu vermitteln. Jedoch waren diese Referenzen keineswegs Korff-spezifisch, sondern vielmehr typisch für den Zeitgeist der 1920er und 1930er Jahre.43 Die Rolle von Korff während des Dritten Reichs ist im Übrigen ambivalent. In der bereits zitierten Forderung des Tages hatte er den Machtwechsel euphorisch begrüßt und 1940 widmete er den dritten Band des Geist der Goethezeit dem 39 Hermann August Korff: Die Forderung des Tages, in: Zeitschrift für Deutschkunde 47 (1933), S. 341–345, hier S. 341. 40 Vgl. Georg Bollenbeck: Das neue Interesse an der Wissenschaftshistoriographie und das Forschungsprojekt „semantischer Umbau der Geisteswissenschaften“, in: Ders./Clemens Knobloch (Hg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg: Winter 2001, S. 9–40 sowie Kaiser: Grenzverwirrungen, S. 199–294. 41 Korff: Forderung, S. 342. 42 Erich Kästner: Köster und Korff. Eine zeitgemäße Betrachtung zur historischen Methodik, in: Leipziger Tageblatt vom 03./04.12.1925. 43 Vgl. Kaiser: Grenzverwirrungen.

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Einmarsch deutscher Truppen in Paris.44 Zugleich war Korff zu keinem Zeitpunkt politisch aktiv. Als Aushängeschild einer renommierten deutschen Literaturwissenschaft konnte er als Gastprofessor in die USA reisen; einem SD-Bericht aus dem Jahr 1938 zufolge galt er jedoch als „reaktionärer“ Gelehrter, ohne Potenzial für die „Bewegung“.45 Und nach 1945? Ließen sich Korffs Ansprüche und Vermittlungsformen unter den veränderten politisch-gesellschaftlichen Bedingungen – Korff war bis 1956 im Amt – abermals fortführen? Bezeichnenderweise hielt Korff auch nach dem Krieg an dem nationalpädagogischen Bildungsanspruch fest. Dieser war auch an die bildungs- und kulturpolitischen Ziele der SED anschlussfähig, die durch Rekurs auf literarische Traditionen einen ‚neuen‘ Menschen für ein ‚neues‘ Deutschland bilden wollte.46 Der programmatische Bezug der DDR auf Klassik und nationales Erbe machten es so möglich, dass Korff in seinem Werk auf Kontinuität setzen und den Geist der Goethezeit „fast wortgetreu“47 neu auflegen konnte. Gerade die klassische Epoche habe, so Korff, nach wie vor eine nationale Funktion, denn diese Zeit, „in der der Geist eines Volkes auf die Höhe seiner selbst gekommen ist, [gehöre] zum Besten dessen es fähig ist.“48 Gänzlich bruchlos jedoch konnte auch ein Hermann August Korff sein nationalpädagogisches Engagement gegenüber der interessierten Öffentlichkeit in der DDR nicht fortführen. Dies zeigt sich an der neuen Einleitung, die er für die Neuauflage des Geist der Goethezeit von 1954 schrieb. Sie habe ihm „große Schwierigkeiten“49 bereitet, doch sei sie ihm notwendig erschienen, um den zeitgenössischen Leser „über den Geist, die Grundideen und die Entwicklung der Goethezeit in vorläufiger Weise zu orientieren“50 – wie es nun weit bescheidener 44 Vorwort und Widmung in Korff: Geist der Goethezeit, Bd. III [1940]. 45 Das SD-Dossier zählt Korff unter der Rubrik „Liberale und Reaktionäre“ zu den „älteren Wissenschaftlern“, die „sich äußerlich umgeschaltet“ haben, jedoch wieder an Einfluss gewinnen. SD-Dossier, zitiert nach Gerd Simon (Hg.): Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS, Teil 1, Tübingen: GIFT, 1998, S. 11–13. Ausführlich heißt es in dem SD-Dossier über Korff: „K. ist einer der repräsentativsten Vertreter reiner Geisteswissenschaft. Er ist allerdings in den letzten Jahren immer stärker in den Hintergrund getreten und schon heute nicht mehr führend auf germanistischem Gebiet. Auch sein Schülerkreis schrumpft immer mehr zusammen. K.’s Literaturwissenschaft muss von den neuen Forderungen aus energisch abgelehnt werden. Seiner Gesamthaltung nach gehört K. zu der liberalen und humanistischen Geistigkeit. Im politisch-negativen Sinne ist er nie hervorgetreten.“ Gerd Simon: Germanisten-Dossiers (http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/germanistendossiers.pdf, Zugriff am 17.12.2010). 46 Gerade die Weimarer Klassik hatte in der DDR von Anfang an „eine identitätsstiftende und legitimierende Funktion“ und war vor allem „Ausdruck des Willens, das humanistische Erbe der Klassik als hervorragendes Moment deutscher Hochkultur in die Bewusstseinsbildung der sozialistischen Gesellschaft einzuführen.“ Lothar Ehrlich/Gunther Mai/Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, in: Lothar Ehrlich/Gunther Mai (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln: Böhlau, 2000, S. 7–31, hier S. 8. 47 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. III [1949; zitiert nach der 3. Aufl. von 1956], S. VIII. 48 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. I [1954], S. 4 (Hervorhebungen im Original). 49 Korff: Vorwort zur zweiten Auflage, in: Geist der Goethezeit, Bd. I [1954]. 50 Ebd.

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als 1923 hieß. Zwar blieb Korff auch nach dem Zweiten Weltkrieg und unter anderen politischen Vorzeichen auf die bildungswillige Öffentlichkeit orientiert und offerierte sein außerwissenschaftliches Leistungsangebot.51 Allerdings gab es nun Verschiebungen: Es finden sich keine expliziten Bezüge zum Lebens-Diskurs mehr (etwa in der Einleitung) und auch eine abermalige bruchlose Vergegenwärtigung war nach dem Krieg nicht mehr möglich. Vielmehr betonte Korff nun die Geschichtlichkeit der Goethezeit: Die historische Stellung der Goethezeit von vornherein zu sehen, ist wichtig. Es entscheidet das auch über unsere Stellung zu ihr. Die Goethezeit ist etwas Historisches, nicht nur weil wir von ihr durch anderthalb Jahrhunderte geschieden sind – das brauchte in anderen Zeiten nicht allzuviel zu bedeuten –, sondern dadurch, dass sich die Welt in diesem anderthalb Jahrhundert weit grundstürzender verändert hat als zwischen Mittelalter und Neuzeit.52

Diese konsequente Historisierung spiegelt die Einsicht Korffs, dass das, was er 1933 als Aufbruch zum Leben beschworen hatte, in Zerstörung und Tod geendet hatte, und dass dem deutschen „Nationalgefühl auch die unvermeidliche Täuschung über sich selbst“53 innewohnt. Denn was „Böses selbst in einem Volke stecken kann, das sich wie das deutsche in dem Idealbild der Goethezeit gespiegelt glaubte, dafür hat uns die Geschichte des letzten Menschenalters einen Anschauungsunterricht gegeben, den wir nie vergessen können, nie vergessen dürfen.“54 Diese Entwicklung hing nicht zuletzt mit persönlichen Erfahrungen zusammen – Korff hatte in den letzten Kriegsmonaten und in der unmittelbaren Nachkriegszeit seine Frau, einen Sohn sowie dessen Familie verloren. Stil und Sprache Trotz der Verschiebungen auf der Diskursebene sah Korff innerhalb seiner Texte nach dem Krieg keinen Anlass zu „größeren Veränderungen“,55 wodurch die stilistischen Eigenheiten auch in der Neuauflage erhalten blieben. Auf Stil und Sprache legte Korff beim Verfassen seiner Texte großen Wert – unabhängig davon, ob sie sich an ein akademisches oder nichtakademisches Publikum richteten. Der Erfolg seiner Bücher muss nicht zuletzt in dieser ästhetischen Dimension gesucht werden, denn Korff schrieb in einer anspruchsvollen, von tiefem Wissen zeugenden Sprache, die gelehrt, aber nicht gelehrig wirkte, die bildlich und detailreich war, ohne das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Zudem verzichtete Korff in seinen Texten auf die explizite Auseinandersetzung mit anderen wissenschaftlichen Positionen. Er erklärte weder seine textanalytische Methodik noch machte er Angaben zu Quellen und Zitaten, was die Lesbarkeit gerade für ein nichtwis51 Zu den semantischen „Anpassungsleistungen“ Korffs nach 1945 vgl. Saadhoff: Germanistik in der DDR, S. 73–83. 52 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. I [1954], S. 5 (Hervorhebung im Original). 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. III [1949, zitiert nach der 3. Auflage von 1956], S. VIII.

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senschaftliches Publikum erheblich erleichterte. Gerade diese populären Züge in Stil und Sprache verweisen abermals auf Korffs großes Interesse an dieser Zielgruppe. Der Verzicht auf fachwissenschaftliche Verweise irritiert unsere heutigen Lesegewohnheiten; er erschwert die Nachprüfbarkeit des Gesagten und die Verortung des Literaturhistorikers in seinem Fach. Doch dieses scheinbare Defizit wurde von Leserinnen und Lesern eher als Gewinn wahrgenommen: Indem die Texte scheinbar voraussetzungslos verfasst wurden, erwecken sie den Eindruck von „selbstverständliche[r] Plausibilität“.56 Bei der Lektüre des Geist der Goethezeit, so der Literaturhistoriker Ludwig Stockinger, „entsteht [...] der Eindruck, daß man außer dem, was Korff selbst sagt und was er zitiert, ohnehin nichts weiteres mehr lesen muß.“57 Die Texte suggerieren nicht weniger als die Wahrheit, das „ewige Wissen“.58 Dies musste tiefen Eindruck hinterlassen – gerade außerhalb der Fachwelt. Dieser Eindruck ist nachträglich nur schwer zu fassen, doch illustriert ihn eine Gedichtstrophe, verfasst anlässlich Korffs 75. Geburtstag: „Es kam die Weihnachtszeit herbei;/Am Lichterbaum: Band I und II./Gleich nimmt man ‚Sturm und Drang’ zur Hand,/Der Vater liest den ‚Klassik‘-Band.“59 Hier wird das Bild einer typischen bildungsbürgerlichen Familie heraufbeschworen – und mittendrin der Geist der Goethezeit als Weihnachtspräsent für die ganze Familie. Publikationsformate und Verbreitung Fragt man nach der Wirkung und Verbreitung von Korffs nationalpädagogischer Sendung, so sind neben den Referenzen auf Gegenwart und Leben und dem ansprechenden Stil auch die Publikationsformate relevant. Die Bände des Geist der Goethezeit waren sprachlich und inhaltlich anspruchsvoll, zudem umfangreich (jeweils 300 bis 750 Seiten) und teuer – alles Faktoren, die den Lesekreis eher einschränkten. Korff publizierte aber parallel zu seinem literaturwissenschaftlichen Hauptwerk durchgängig auch ‚kleinere‘ Formate. Vor dem Hintergrund seines auf eine breitere Öffentlichkeit hin orientierten Sendungsbewusstseins kann dies nicht nur als bloßes Nebenprodukt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit betrachtet werden, sondern vielmehr als publizistische Konsequenz seines nationalpädagogischen Anspruchs. Die deutlich kürzeren Texte (20 bis 40 Seiten) basierten meist auf Vorträgen und griffen in der Regel Überlegungen aus dem Hauptwerk auf, die Korff poin56 Ludwig Stockinger: Hermann August Korffs „Geist der Goethezeit” im geschichtlichen Kontext, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript Leipzig, 2001, S. 6. 57 Ebd. 58 Dagmar Stegmüller: Popularisierungsstrategien in Friedrich Christoph Schlossers „Weltgeschichte für das deutsche Volk“, in: Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin: Akademie-Verlag, 2003, S. 197–210, hier S. 203. 59 So dichtete Erich Trunz, später Professor in Münster. Vgl. Brief von Erich Trunz an Hermann August Korff vom 01.03.1957, in: Glückwunschschreiben an H. A. Korff zum 75. Geburtstag [in Privatbesitz des Sohnes].

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tiert zusammengefasst hatte. Im Hinblick auf die Verbreitungsmöglichkeit lag ihr Vorteil in der einfachen, zeitnahen und preisgünstigen Herstellung der Texte. Zum Teil reagierten Verlage ganz unmittelbar auf Anfragen und veröffentlichten die Vorträge des Literaturhistorikers. Beispielsweise druckte der Leipziger Verlag Quelle & Meyer drei Rundfunkvorträge von Korff aus dem Jahr 1927, nachdem sich Hörer gewünscht hatten, das „flüchtig Gehörte auch in dauerhafter Form zu besitzen“.60 Die Auftritte im Rundfunk sowie die Markierung der darauffolgenden Veröffentlichung als „allgemeinverständliche[n] Vortragszyklus“ verweisen abermals auf Korffs Anspruch, neben Fachpublikum und vorgebildeter Öffentlichkeit auch eine nur gelegentlich interessierte Hörerschaft zu erreichen. Diese kleineren Texte, die entweder zeitnah nach einem Vortrag oder später unter einem bestimmten inhaltlichen Schwerpunkt erschienen, wurden als Fadenbindung oder Broschur aufgelegt und waren preiswert. Auf diese Weise gelang es, Korffs Texte einem breiten, bildungswilligen Publikum zugänglich zu machen, unabhängig von dessen ökonomischem Hintergrund.61 Ebenfalls interessant sind in diesem Zusammenhang die von Korff seit Ende der 1940er Jahre herausgegebenen Anthologien.62 Von ihnen erschienen verschiedene Ausgaben und selbst die relativ teuren Hardcover-Bindungen fanden ihr Publikum. Doch es lag dem Autor wenig an einem exklusiven Leserkreis, sondern vielmehr daran, die Auswahl an Goethe- bzw. Klassikergedichten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dementsprechend erschien etwa die zweibändige Anthologie Edel sei der Mensch, eine Auswahl von Goethegedichten, 1947 auf gut 400 Seiten in gebundener Ausgabe zum Preis von 12,- Mark und bereits zwei Jahre später im Halbleineneinband für die Hälfte des Preises, verlegt von dem auch in Fachkreisen angesehenen Leipziger Hirzel-Verlag. Durchgängig war die interessierte, breitere Öffentlichkeit für Korff ein zentraler Adressat seiner Arbeit. Nationalpädagogisch motiviert versuchte er sie durch Referenzen auf zeitgenössische Diskurse, einen anspruchsvollen, zugleich ansprechenden und auf wissenschaftliche Verweise verzichtenden Sprachstil sowie durch verschiedene Publikationsformate zu erreichen. Wiewohl die Frage der Rezeption schwer zu beantworten ist, lassen die Auflagen einen beachtlichen Erfolg seines Werks beim nichtakademischen Publikum annehmen.

60 Vorwort des Verlags, in: Korff: Die Dichtung von Sturm und Drang, S. V. 61 Die kleineren Formate erschienen in den 1920er und 1930er Jahren vor allem bei dem Leipziger Verlag J. J. Weber, der mit naturkundlichen und volksbildenden Publikationen bekannt war. 62 Hier werden jeweils die ersten Auflagen genannt: Hermann August Korff (Hg.): Edel sei der Mensch. 2 Bde., Leipzig: Hirzel, 1947/1948; Ders. (Hg.): Gedichte/Goethe. Leipzig: Hirzel, 1947; Ders. (Hg.): Die Liebesgedichte des west-östlichen Divans, Leipzig: Hirzel, 1947; Ders. (Hg.): Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. 2 Bde., Leipzig: Koehler & Amelang, 1958.

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Das studentische Auditorium als Adressat Neben der interessierten Öffentlichkeit war Korff an einem zweiten Adressatenkreis besonders gelegen: der Studentenschaft – nicht zuletzt in ihrer Multiplikatorenfunktion, als künftige Vermittler von (literatur-)wissenschaftlichem Wissen. Der Großteil der Studentinnen und Studenten im Fach Germanistik würde später als Deutschlehrer oder -lehrerin arbeiten, einige als Redakteur oder Journalistin sowie eine kleiner Teil in der Wissenschaft. Doch in jedem dieser Felder wären die Studentinnen und Studenten von heute die Wissensvermittler von morgen. Diesen Fakt in der Lehre zu berücksichtigen, sah Korff als eine seiner wichtigsten Aufgaben an. Inhalt der folgenden Ausführungen sind daher die Motive Korffs und seine Mittel der Wissensvermittlung. Zuvor jedoch einige generelle Überlegungen zum studentischen Auditorium als eigener Teilöffentlichkeit. Das studentische Auditorium – eine gesonderte Teilöffentlichkeit? Generell sollte die Bedeutung der Studentenschaft als Adressat von wissenschaftlicher Kommunikation nicht unterschätzt werden. Studentinnen und Studenten bilden sicher mit Abstand die größte Gruppe, die die Professorenschaft erreichte und noch erreicht. Im Stufenmodell von Arne Schirrmacher bildet die Kommunikation im Hörsaal jedoch keine gesonderte Kategorie, sondern ist Teil der Fachöffentlichkeit, zu der ebenfalls Vorträge in wissenschaftlichen Gesellschaften oder auf Fachkonferenzen zählen. In der Tat ist das Sprach- und Reflexionsniveau einer universitären Vorlesung dem eines akademischen Vortrags nicht unähnlich. Allerdings gilt es bei Fach- bzw. studentischem Publikum auch einige Unterschiede zu berücksichtigen. Diese betreffen die Intention und Zielsetzung des Referenten, die Erwartung und Vorbildung der Hörerschaft sowie die Verwendung des Gehörten durch das Auditorium. Allgemein gesprochen: Der Vortrag vor einem Publikum aus Kollegen hat die Funktion, Wissen auszutauschen, Standpunkte klarzumachen und das Vorgetragene zu diskutieren. Auf einer anderen Ebene können Vorträge zudem den Status des Vortragenden anzeigen, seine Reputation, sein symbolisches Kapital. Die Hörerschaft ist dem Vortragenden weitgehend gleichgestellt. Sie erwartet einen qualifizierten Beitrag zu anstehenden Fragen, der potenziell auch in die eigene wissenschaftliche Arbeit einfließen kann. Bei Festvorträgen geht es überdies um einen intellektuellen wie ästhetischen Genuss. Anders verhält es sich bei Vorlesungen vor Studierenden. Diese unterscheiden sich bereits auf Grund ihrer seriellen Form von den im unregelmäßigen Abstand gehaltenen Vorträgen im kollegialen Kreis. Die primäre Intention einer Vorlesung liegt in der Regel in der Vermittlung von Wissensstoff und methodischen Kenntnissen, weniger in der Akzentuierung eines bestimmten Standpunkts. Auch die hierarchischen Verhältnisse sind andere. Der Wissensvorsprung der Professoren ist eindeutig, ebenso der Statusunterschied. Zudem gestaltet sich der Vermittlungsprozess unterschiedlich. Bis weit ins 20. Jahrhundert erfolgte die Lehre aus-

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schließlich frontal und selbst die in Seminaren gehaltenen Referate wurden nicht offen diskutiert. Fragen stellte der Professor, vielleicht noch der Senior des Seminars. Der Fokus der Lehre lag auf der Vermittlung von Stoff, der mitgeschrieben wurde und vor- bzw. nachzubereiten war. Die pädagogische oder ästhetische Qualität der Vorlesungen spielte in der Regel eine untergeordnete Rolle. Entsprechend gestalteten sich die Erwartungen der Studierenden, denen es darum ging, sich Stoff oder wissenschaftliche Methoden anzueignen. Das Gelernte diente ihnen zunächst zum Weiterkommen innerhalb der Universität, floss in Examensarbeit oder Prüfung ein. Mittel- und langfristig setzten die Studierenden ihr Wissen berufsbezogen ein und wurden als Lehrer oder Journalisten selbst zu Vermittlungsakteuren – und zwar in der Regel für ein Publikum außerhalb des wissenschaftlich-akademischen Rahmens.63 Auch wenn hier nicht der Platz ist, um diesen Differenzen ausführlicher nachzugehen, erscheint es mir auf Grund der Unterschiede zwischen einer akademischkollegialen und einer studentischen Hörerschaft notwendig, innerhalb der Fachöffentlichkeit klarer zwischen der Kommunikation mit Studierenden und der mit Fachgenossen zu differenzieren. Erst auf diese Weise wird es möglich, jene Besonderheiten herauszuarbeiten, die sich in der universitären Lehre und im Kommunikationsverhältnis zwischen Professor/Professorin und Student/Studentin ergibt. Auch aus historischer Sicht ist diese Differenzierung notwendig, denn gerade diese Unterscheidung war um 1900 und in den darauffolgenden Jahrzehnten Inhalt intensiver Diskussionen. Als ein zentraler Akteur in diesem Diskurs trat die Deutschkundebewegung auf, in der auch Korff eine wichtige Rolle spielte. Die Deutschkundebewegung und ihre Forderung nach verbesserter akademischer Lehre 1920 sprach der Geschäftsführer des Germanistenverbands Johann Georg Sprengel vielen Deutschlehrern wie Hochschulgermanisten aus der Seele, als er kritisierte, dass zur Zeit „viele tüchtige Studenten [...] wohl ein Verhältnis zur Wissenschaft [haben], aber gar keines zu ihrem Beruf als Lehrer und Erzieher der Jugend.“64 Die an diese Feststellung geknüpfte Forderung nach einer Verbesserung der akademischen Lehre und einer Sensibilisierung der Professoren für hochschuldidaktische und nationalpädagogische Aufgaben war jedoch nicht nur eine innerfachliche Diskussion. Sie war vielmehr integraler Bestandteil des Forderungskatalogs der Deutschkundebewegung.

63 Auf die besondere Bedeutung von Vermittlungsakteuren für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Wissenschaft hat bereits Ash hingewiesen. Vgl. Mitchell G. Ash: Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit – Zur Einführung, in: Ders./Christian H. Stifter (Hg.): Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien: Wiener Universitätsverlag, 2002, S. 19–43, hier S. 27. 64 Johann Georg Sprengel: Die wissenschaftliche Vorbildung der Deutschlehrer, in: Zeitschrift für Deutschkunde 34 (1920), S. 19–33, hier S. 31.

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Die Deutschkundebewegung war Teil der Bildungsreformbewegung und verfolgte das Ziel, das Deutsche in den Mittelpunkt des Schulunterrichts zu stellen und so den an der klassischen Antike orientierten Bildungskanon zu ersetzen.65 Ähnliche Ideen gab es seit Anfang des 19. Jahrhunderts, und traditionell waren Germanistik und Nationalerziehung eng miteinander verknüpft.66 Anfang des 20. Jahrhunderts intensivierte die Bewegung ihre Bemühungen, was sich auch in ihrem Institutionalisierungsgrad spiegelte. 1912 wurde der Deutsche Germanistenverband (DGV) gegründet, der alle Deutschlehrenden, Lehrer wie Professoren, zusammenführen sollte. Forderungen wie die, dass „die Erziehung unserer Jugend auf völkischem Boden gegründet“, das Deutsche „in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt“ und die Deutschkunde als verbindliches bildungspolitisches und didaktisches Programm entwickelt und verbreitet werden sollte,67 erlangten in der Fachzunft breite Zustimmung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärkte. 1920 wurde der Verband in Gesellschaft für Deutsche Bildung umbenannt. Diese war im bildungspolitischen Diskurs der Weimarer Republik präsent und repräsentierte den mainstream der Germanisten und Deutschlehrer – bis Anfang der 1930er Jahre gehörten ihr 3.000 Lehrerinnen und Lehrer sowie 170 Hochschullehrer an.68 Das viel gelesene Organ war die 1920 in Zeitschrift für Deutschkunde umbenannte Zeitschrift für Deutsche Bildung. Sie erschien monatlich, war fachübergreifend angelegt und verknüpfte Fachfragen mit didaktischen Aspekten; in ihr veröffentlichten Lehrer ebenso wie renommierte Professoren. Inhaltlich erstreckte sich das Feld – so die Eigenbeschreibung – „in maßvoll moderner, geisteswissenschaftlich vertiefter Betrachtungsweise [auf] alle Fragen deutschen Wesens, deutscher Literatur, Sprache, Volkskunde, Theater, deutschkundlicher Bildung und deutschkundlichen Unterrichts.“69 Wissenschaftshistorisch liegt die Bedeutung der Deutschkundebewegung unter anderem in ihrer Funktion als ein Aktionsraum, in dem nationale Werte in Wissenschaft und Bildung überführt werden konnten: „Die Betonung nationaler Werte [eignete sich]“, so der Wissenschaftshistoriker Holger Dainat, „vorzüglich als Integrationsformel, um die fortschreitende Differenzierung von Erziehungs-

65 Zum Deutschen Germanistenverband und der Deutschkundebewegung vgl. Horst Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. 2 Bde., München: dtv, 1976, v.a. S. 571–752; Klaus Röther: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte, Köln: Pahl-Rugenstein, 1980; Reiner Bessling: Schule der nationalen Ethik. Johann Georg Sprengel, die Deutschkundebewegung und der Deutsche Germanistenverband, Frankfurt/M.: Lang, 1997. 66 Vgl. Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung, v. a. S. 373–484. 67 Friedrich Panzer: Grundsätze und Ziele des deutschen Germanisten-Verbandes (1912), zit. nach Reiss: Materialien zur Ideologiegeschichte, S. 83–91, hier S. 85. 68 Vgl. Röther: Die Germanistenverbände, S. 138f. 69 Die Anzeige findet sich im Anschluss an Hermann August Korff/Walther Linden (Hg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten, Leipzig: Teubner, 1930.

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und Wissenschaftssystem [...] zu überbrücken.“70 Für die zeitgenössischen Akteure waren die Forderungen der Deutschkundebewegung Motivation und Anleitung für die eigene wissenschaftliche Arbeit; der tatsächliche Einfluss an den Schulen blieb allerdings gering.71 Konkret sah auch Korff in der Deutschkunde das notwendige Bindeglied zwischen Wissenschaft und Erziehung. Als der DGV in Frankfurt gegründet wurde, war er als Habilitand vor Ort. Später wurde er selbst Mitglied und nahm an den Sitzungen teil. Und nicht zuletzt gab er zwischen 1926 und 1933 das zentrale Publikationsorgan, die Zeitschrift für Deutschkunde, heraus. Besonders diskussionsund veränderungswürdig erschien ihm die Diskrepanz zwischen der bisherigen Wissensvermittlung an den Universitäten und dem Ziel, ein nationales Erziehungsprogramm an den Schulen zu etablieren. Dies betonte bereits Sprengel: Möchten sich doch alle Deutschwissenschaftler auf unsern Hochschulen tagtäglich vor Augen halten, daß ihre erste und wichtigste Aufgabe nicht ist, Forscher auszubilden, vielmehr Lehrer und Erzieher unsres Volkes, daß bei dem ganz besonderen Verhältnis gerade ihrer Wissenschaft zum deutschen Leben eine ganz ungeheure Verantwortung in ihre Hände gelegt ist!72

Diese Forderung wurde Korff zur Motivation und die „ungeheure Verantwortung“, Lehrer und Erzieher auszubilden, zur Maxime seiner akademischen Lehre.73 Wie im Geist der Goethezeit formuliert, ging es Korff auch bei seinen Studierenden nicht um Wissensanhäufung, sondern darum, das Wesentliche im Zusammenhang zu sehen. Davon waren seine Lehrveranstaltungen geprägt und diese Haltung spiegelt sich auch in einem von ihm mit herausgegebenen literaturhistorischen Handbuch.74 Dieses orientierte sich an dem Bedürfnis von Germanistikprofessoren, „die ihren Studenten einen modernen Führer durch die deutsche Literaturgeschichte in die Hand geben möchten.“75 Explizit ging es Korff auch hier um das „Bildungswichtigste“ und darum, über das „rein Stoffliche“ hinauszugehen. In jedem der Beiträge

70 Holger Dainat: Überbietung der Philologie. Zum Beitrag von Wilfried Barner, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt/M.: Fischer, 1993, S. 232–239, hier S. 236. 71 Vgl. Otto Ludwig: Hatte die Geistesgeschichte Auswirkungen auf den Deutschunterricht?, in: König/Lämmert: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 403–408. 72 Sprengel: Vorbildung der Deutschlehrer, S. 31f. 73 In einem Bericht über eine Sitzung des DGV, in der auch die „Frage nach der wissenschaftlichen Vorbildung der Deutschlehrer“ diskutiert wurde, wurde vermerkt: „Die Verhandlung, an der sich besonders die Herren Privatdozent Dr. Korff, Studienanstaltsdirektor Dr. Bojunga und Oberlehrer Schmidt-Voigt beteiligten, ergab Übereinstimmung in der Forderung, das deutschwissenschaftliche Studium weit entschiedener auf das Ziel der Vorbildung für den deutschen Unterricht einzustellen.“ In: Für deutsche Bildung 1 (1920), S. 16, zitiert nach Bessling: Schule der nationalen Ethik, S. 120. 74 Korff/Linden: Aufriß der deutschen Literaturgeschichte. Die Beiträge des Buchs waren zwischen 1927 und 1930 bereits in der Zeitschrift für Deutschkunde erschienen. Das Buch selbst erschien dann mit ausführlichem Namens- und Sachregister 1930 im Teubner-Verlag und bereits im folgenden Jahr in zweiter Auflage. 75 Ebd.

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sollte ein berufener Vertreter der Wissenschaft den Versuch unternehmen, einen ihm vertrauten Zeitraum der deutschen Literaturgeschichte auf knappem Raume und mit scharfen Linien so zu umreißen, dass nur noch dasjenige hervorträte, was als das wahrhaft Wesentliche und damit als das Bildungswichtigste erscheine. Der Zweck des Unternehmens war somit eine Erhebung der Literaturgeschichte über das rein Stoffliche, das in zahlreichen Handbüchern mehr oder weniger zuverlässig, fast immer aber ohne eigentliche Vertiefung, dargeboten wird.76

Gerichtet an eine studentische Leserschaft, finden sich auch in diesem Zitat die für Korffs nationalpädagogischen Sendungsanspruch der 1920er und 1930er Jahre typischen Bezüge auf „Gegenwart“ und „Leben“. Zweck des Buchs sei es, „auf das Wesenhaft-Geistige zurückzugreifen und dem Grundzuge moderner Literaturauffassung Geltung zu verschaffen, die Literaturgeschichte in ihrer Lebensbedeutung und als das fortlaufende Zeugnis einer Entwicklung des deutschen Geistes darzustellen.“77 Neben solchen Publikationen waren es seine Lehrveranstaltungen, mit denen Korff eine Vielzahl von Studierenden erreichte. Von seiner Zeit als Privatdozent bis zu seiner Emeritierung hielt er 40 Jahre lang Vorlesungen und gab Seminare. Während seiner Leipziger Zeit waren dies im Durchschnitt zwei einstündige Vorlesungen und ein bis zwei Seminare pro Woche. Generationen von Germanistinnen und Germanisten hörten seine Vorlesungen – der berühmte Hörsaal 40 der alten Leipziger Universität war in den 1950ern Woche für Woche überfüllt. Dabei wurde Korffs Erscheinen jedes Mal als Auftritt inszeniert, angekündigt durch den Pedell, der das Katheder auf die richtige Höhe zu schrauben und die Tafel zu säubern hatte, die im übrigen nie gebraucht wurde, und dann an der Tür salutierte, während man im Saal ‚pochte’, den Eintretenden zu begrüßen, der mit winkendem Arm dankte.78

Sprache und Rhetorik Auch im mündlichen Vortrag legte Korff neben den inhaltlichen Aspekten großen Wert auf die Art der Vermittlung von Wissen. Er wollte nicht nur den Intellekt der Studierenden schulen, sondern überdies ihr ästhetisches Empfinden. Auf diese Weise sollten Lebens- und Wirklichkeitsbezug hergestellt und das Historische als etwas Erfahrbares vermittelt werden. Dies schien ihm zu gelingen; Erich Kästner jedenfalls umschrieb Korffs Vortragsart 1925 aus der Sicht des Studenten so: Der Drang, ein Stück Vergangenheit als sinnvollen Organismus darzustellen, setzt einen Grad des Verstehens voraus, der durch einen bloßen Akt des Intellekts niemals erreicht werden kann. Es geht dabei auch um außergelehrte, um weltanschauliche Konfession. Und ohne die

76 Vorwort der Herausgeber, in: Korff/Linden (Hg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte. 77 Ebd. (Hervorhebungen im Original). 78 Kluge: Hans Mayer in Hörsaal 40, S. 200.

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Anna Lux Übereinstimmung der persönlichen seelischen Schwingungen mit denen des jeweiligen Zeitgeistes wird gemäße Interpretation unmöglich bleiben müssen.79

Um den Studierenden jene Interpretation, jenes Verstehen, Erfahren und Verinnerlichen von Vergangenheit zu ermöglichen, setzte Korff gekonnt Sprache und Rhetorik ein. Dadurch prägte sich „sein wohlgeformte[r] und durchgeistigte[r] Vortrag [...] den Hörern ein“ und zwar „nicht nur äußerlich, sondern eben in seltenem Maße wegen der zum Mitdenken zwingenden Äußerung seines Geistes.“80 Rhetorische Brillanz war so nie nur schmückendes Beiwerk, sondern Teil von Korffs pädagogischem Verständnis. Die Bedeutung, die er der Vermittlungsweise beimaß, lässt sich sogar bei Personalentscheidungen nachweisen: Auf Grund seiner rhetorischen Fähigkeiten und weil er „auf die studierende Jugend durch verschiedene Bücher stark gewirkt“81 habe, holte Korff 1926 Karl Justus Obenauer nach Leipzig, um sich von ihm in der Lehre unterstützen zu lassen. Obenauer war ein akademischer Außenseiter, der bis zu seiner Berufung ‚nur‘ als Privatgelehrter in Darmstadt gewirkt hatte.82 Kurz vor seiner Ernennung zum Professor in Leipzig war er dort in einem raschen Verfahren kumulativ habilitiert worden – unter intensiver Förderung von Korff und trotz Vorbehalte der Fakultät.83 Obenauer wurde später vor allem durch seinen akademischen Aufstieg während des Dritten Reichs bekannt – 1935 war er, der außerplanmäßige Extraordinarius und SS-Mann, auf ein Ordinariat nach Bonn berufen worden. Auch wenn sich Obenauer später von seinem Leipziger Förderer distanzierte,84 hatte dieser ihm doch den Einstieg in das akademische Feld ermöglicht, eben weil er in ihm nicht den Fachwissenschaftler sah, sondern den „Schriftsteller“ mit dem „differenzierten Einfühlungsvermögen“.85 Von Obenauer erhoffte sich Korff jene Art der Wissensvermittlung, die seinen eigenen Vorstellungen von Wissenschaft entsprach,

79 Kästner: Köster und Korff, S. 31. 80 Albert Haueis: Leipziger Hochschullehrer bei der Arbeit. Hermann August Korff – Deuter der Goethezeit, in: Neue Leipziger Zeitung vom 16.02.1936. Haueis hatte 1935 mit einer Arbeit über Hans Carossa bei Korff promoviert. 81 Schreiben von Hermann August Korff an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig vom 04.05.1926, Universitätsarchiv Leipzig (UAL), PA 791, Bl. 189. 82 Zu Obenauer vgl. Hans-Paul Höpfner: Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn: Bouvier, 1999, S. 326–329; Thomas Pittroff: Karl Justus Obenauer, in: König: Internationales Germanistenlexikon, S. 1342–1343. 83 In der Habilitationskommission sprach sich Theodor Litt gegen Obenauer aus, da er durch ihn „die Gefahr einer Verwässerung der Germanistik in Ideologie“ befürchtete. Vgl. Niederschrift über die Sitzung der Habilitationskommission vom 09.06.1926, UAL, PA 791, Bl. 197. 84 In Obenauers Rezension zum dritten Band des Geist der Goethezeit kritisierte er Korffs positive Darstellung von Schlegels Lucinde, da es sich bei diesem Text um die Darstellung eines „höchst problematischen, zur Hälfte jüdischen Liebespaares“ handele. Rezension, zitiert nach Simon: Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes, S. XXXVI. 85 Schreiben von Hermann August Korff an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig vom 04.05.1926, UAL, PA 791, Bl. 189.

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einer Wissenschaft, die nicht Selbstzweck sei, sondern nationalpädagogisch motiviert dem „Leben“ diene. Auch in der Nachkriegszeit gelang es Korff seine Studierenden in der Lehre zu beeindrucken.86 Zwar polarisierte er und galt einigen als die „Aufgipfelung bürgerlicher deutscher Literaturwissenschaft“.87 Doch andere, unter ihnen auch Absolventen der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF), denen Korff selbst mit viel Skepsis begegnete, konnten sich dem Reiz des Altordinarius nicht entziehen. „Angegafft habe ich ihn drei Jahre lang. Begierig zugehört“, so etwa der ABFAbsolvent und spätere DEFA-Regisseur Egon Günther. Und weiter: Manchmal war seine Sprache Musik. [...] Wie andere habe ich mir Urteile darüber erlaubt, was er sage und schreibe, sei Unsinn, und dabei eine schreckliche Seite in mir kultiviert, die da möchte, alles, was ich nicht begreife von anderen, was mir nicht gemäß ist, hat Unsinn zu sein. Ich ahnte damals, was er mir geben könnte, doch er gab es mir nicht. Er hat es behalten. Vielleicht hat er es anderen vermacht, das Richtige und das Falsche, ich beneide noch heute alle, die es empfangen haben.88

Korff muss ein brillanter Redner gewesen sein, der diese Fähigkeit dem studentischen Auditorium nicht vorenthielt – im Gegenteil. Ihn trieb die Überzeugung an, dass Wissenschaft eine gesellschaftliche Funktion habe, dass die Ausbildung von Deutschlehrern eine zentrale Aufgabe der Literaturwissenschaft sei und dass „der Sinn der Kultur der Mensch [sei], [...] die organisch ausgebildete, harmonische Persönlichkeit“.89 Auf dieser Grundlage gelang es ihm, eine Vielzahl seiner Studierenden zu beeindrucken – unabhängig von den wechselnden politischen Bedingungen. Fazit Deutlich wurde, dass Korff kontinuierlich an einer Wirksamkeit interessiert war, die weit über die Fachöffentlichkeit hinausreichte. Als Germanist führte er den traditionellen Anspruch der Disziplin fort, der gebildeten Öffentlichkeit auf Grundlage der deutschen Dichtung ein nationales Identifikationsangebot zu machen. Unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Krise nach dem Ersten Weltkrieg versuchte die Germanistik verstärkt weltanschauliche Orientierung zu bieten und sich als „Leitdisziplin“ zu generieren. Korffs ideengeschichtliche, auf Synthese angelegte Interpretation der „deutschen Bewegung“ verknüpfte sich eng mit dem Anspruch, die nationale, bildungswillige Öffentlichkeit zu erreichen. Dieses Sen86 So etwa der ehemalige Leipziger Student und spätere Lehrer Peter Zimmermann: „Welch ein Bildungsangebot erwartete dort den Abiturienten aus der kleinen Provinzstadt! [...] Von Vorlesung zu Vorlesung nahmen wir begeistert Anteil an der Errichtung eines herrlichen Gedankengebäudes, das uns den trüben Studentenalltag über weite Strecken vergessen machte.“ Peter Zimmermann: Geschichte wird uns zugefügt. Ein Ostdeutscher erinnert sich an das 20. Jahrhundert, Leipzig: Eudora-Verlag, 2005, S. 127. 87 Träger: Korff, S. 91. 88 Egon Günther: Einmal Karthago und zurück, Berlin: Aufbau-Verlag, 1974, S. 141–142. 89 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. I [1954], S. 7 (Hervorhebung im Original).

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dungsbewusstsein lässt sich für Korffs gesamte akademische Karriere nachweisen – auch wenn er im Gegensatz zu seinen Leipziger Kollegen Frings und Mayer in den klassischen öffentlichen Räumen weniger auffiel. Er verwendete andere Strategien, legte den Fokus auf das große Ganze, arbeitete mit einer gezielten Rhetorik. Dass Korff mit seinen Arbeiten die von ihm avisierten Publika erreichte, hat wesentlich mit seiner Fähigkeit zu tun, die Ergebnisse seiner Arbeit mit beeindruckender Rhetorik zu verbinden. Gerade in der Lehre legte Korff – unter dem Eindruck der Deutschkundebewegung – Wert auf die Darstellungsart. Sein Ziel war es, den Studierenden nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern ihnen als künftigen Lehrerinnen und Lehrern dieses historische Wissen zugleich zur (Lebens-)Erfahrung werden zu lassen. Vielfach wurden seine wohlformulierten Vorlesungen (ebenso wie Vorträge) zur Grundlage von Publikationen. Möglich wurde dies, da sich die beiden avisierten Teilöffentlichkeiten in zwei Punkten ähnelten: in ihrem Bildungswillen sowie in ihrer Lust an niveauvoller Unterhaltung. So sind Mündlichkeit und Rhetorik zentrale Aspekte der Vermittlungsweise Korffs; mit diesen erreichte er unter ganz unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen recht verschiedene Akteure. Dies zeigt exemplarisch, dass der Öffentlichkeitsaspekt zu einer wichtigen Ergänzung zur politischen Dimension der Wissenschaft werden kann. Literatur Ash, Mitchell G.: Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit – Zur Einführung, in: Ders./Christian H. Stifter (Hg.): Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien: Wiener Universitätsverlag, 2002, S. 19–43. Aubin, Hermann: Zu den Schriften Erich Keysers, in: Bahr, Ernst (Hg.): Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift für Erich Keysers 70. Geburtstag, Marburg: Elwert, 1963, S. 1–11. Bessling, Reiner: Schule der nationalen Ethik. Johann Georg Sprengel, die Deutschkundebewegung und der Deutsche Germanistenverband, Frankfurt/M.: Lang, 1997. Bösch, Frank: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen: Wallstein, 2002. Boden, Petra: Stamm – Geist – Gesellschaft. Deutsche Literaturwissenschaft auf der Suche nach einer integrativen Theorie, in: Dainat, Holger/Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen: Niemeyer, 2003, S. 215–262. Bollenbeck, Georg: Das neue Interesse an der Wissenschaftshistoriographie und das Forschungsprojekt „semantischer Umbau der Geisteswissenschaften“, in: Ders./Clemens Knobloch (Hg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg: Winter, 2001, S. 9–40. Dainat, Holger: Überbietung der Philologie. Zum Beitrag von Wilfried Barner, in: König, Christoph/Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt/M.: Fischer, 1993, S. 232–239. Ehrlich, Lothar/Gunther Mai/Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, in: Ders./Gunther Mai (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln: Böhlau, 2000, S. 7–31.

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Arnold Bergstraesser als Vermittler zwischen Wissenschaft, Politik, Militär und Öffentlichkeit in den 1950er Jahren Christa-Irene Klein Die „Trias von Politik, Militär und Wissenschaft“1 und die damit einhergehende Eingebundenheit der Universitäten in den NS wurde nach 1945 zunächst als eine Allianz identifiziert, die es in Zukunft unbedingt zu vermeiden gelte: Universitäten und Wissenschaft wurden als unabhängige und freie Orte konzipiert, die „nie wieder“ durch politische und militärische Zielsetzungen vereinnahmt werden sollten. Bezog sich diese verweigernde Haltung in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch auf derartige Kooperationen als solche, unabhängig von den jeweiligen politischen Verhältnissen, verschob sich die Kritik ab den 1950er Jahren auf die jeweiligen politischen Vorzeichen, unter welchen der Dreiklang aus Politik, Militär und Wissenschaft ablehnens- oder erstrebenswert galt. Unter nationalsozialistischen und unter kommunistischen Bedingungen wurde das Zusammenspiel von Wissenschaft, Militär und Politik nach wie vor als totalitär zurückgewiesen und die propagandistische Funktion von Wissenschaft in diesem Zusammenhang angeprangert. Unter demokratischen Vorzeichen hingegen sollten die gegenseitige Durchdringung von Politik, Militär und Wissenschaft und insbesondere die aufklärerisch-erzieherische Wirkung wissenschaftsbasierter politischer Bildung in eine bessere Zukunft führen. Während zu dem Einsatz deutscher Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg inzwischen einige Studien vorliegen,2 steckt die Forschung zur Mobilisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften im sogenannten „Kalten Krieg“ noch in den Kinderschuhen.3 Diese Forschungslücke ist besonders eindrücklich, da dieser Krieg nicht zuletzt mit Mitteln der psychologischen Kriegführung ausgetragen 1

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Diesen Ausdruck verdanke ich Thomas Zotz, vgl. Ders.: Deutsche Mediävisten und Europa. Die Freiburger Historiker Theodor Mayer und Gerd Tellenbach im „Kriegseinsatz“ und in der Nachkriegszeit, in: Bernd Martin (Hg.): Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen. Ereignisse, Auswirkungen, Reflexionen, Freiburg i. Br.: Rombach, 2006, S. 31–50, hier S. 39. Vgl. ebd. sowie insbesondere Frank-Rutger Hausmann: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg: die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Dresden: Dresden Univ. Press, 1998; Ders. (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich, 1933–1945, München: Oldenbourg, 2002; Otto Gerhard Oexle/Winfried Schulze (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M.: Fischer, 1999. Vgl. Bernd Greiner/Tim B. Müller/Claudia Weber (Hg.): Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg: HIS, 2011; Claudia Kemper: Tagungsbericht Intellectual History of the Cold War. 7. Konferenz der Tagungsreihe Between „Total War“ and „Small Wars“: Studies in the Societal History of the Cold War. 31.08.2010–03.09.2010, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult vom 28.10.2010 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3332, Zugriff am 01. 03.2013). Die Forschungen konzentrieren sich vor allem auf den US-amerikanischen und den sowjetischen Kontext und nur vereinzelt auf den europäischen Raum.

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wurde und die Geistes- und Sozialwissenschaften einen zentralen Ort moderner Ideologieproduktion und -reflexion markierten.4 Anhand der bisher größtenteils unausgewerteten Akten des Freiburger Seminars für Wissenschaftliche Politik und Soziologie unter Arnold Bergstraesser 1954–1964, lässt sich die erneute Verquikkung der drei Teilsysteme in der jungen BRD der 1950er Jahre exemplarisch nachzeichnen.5 Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, wie diese Kooperationsverhältnisse in eine breite Öffentlichkeit ausstrahlten. Der Fokus wird daher auf das Medium öffentlicher Meinungsbildung gelegt, in dem sich die Wechselwirkungen von Politikwissenschaft und Militär in zivilgesellschaftlichen und militärischen Kontexten niederschlugen: die politische Bildung. Die breite Institutionalisierung der politischen Bildung in der BRD der 1950er Jahre war eine wichtige Maßnahme, um den Systemwechsel vom Nationalsozialismus zur Demokratie gesellschaftspolitisch zu verankern. Aus den reeducationProgrammen der Besatzungszeit geboren, wurde politische Bildung als Demokratieerziehung an bundesdeutschen Universitäten, Schulen, Akademien und Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung aufgebaut. Mit dem Reformprogramm der „Inneren Führung“ entwickelte sich politische Bildung auch zum tragenden Ausbildungspfeiler der 1955 neugegründeten Bundeswehr. Wurde die Wiederaufrüstung in der Öffentlichkeit als problematische Kontinuität deutscher Geschichte wahrgenommen und kritisiert,6 so sollte dieses Reformprogramm gewährleisten, dass politisch gebildete Staatsbürger in Uniform7 die Demokratie überzeugend repräsentierten. Dieser Einfluss von Politik und politischer Bildung auf das Militär war jedoch nicht einseitig. Im Zuge des Ost-West-Konflikts, der mit militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen bzw. geistigen Mitteln ausgetragen wurde, ergab sich die Notwendigkeit, auch die Staatsbürger in Zivil „geistig aufzurüsten“. Dafür, so die These, bot sich die wissenschaftlich legitimierte politische Bildung an. Dieser militärische Aspekt politischer Bildung wird hier entsprechend mit dem heute kaum noch gebräuchlichen Begriff der „geistigen Rüstung“ umschrieben. Als Quellenbegriff der 1950er Jahre taucht er im Zusammenhang mit dem Begriff der „geistigen“ oder auch „psychologischen Kriegführung“ auf und bezeichnet die geistige Beeinflussung der eigenen Bevölkerung an Front und „Heimatfront“. 4 5 6

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Vgl. Kenneth Alan Osgood: Hearts and Minds: The Unconventional Cold War, in: Journal of Cold War Studies 4.2 (2002), S. 85–107; Ders.: Total Cold War : Eisenhower’s Secret Propaganda Battle at Home and Abroad, Lawrence, Kan.: Univ. Press of Kansas, 2006. Vgl. Universitätsarchiv Freiburg, Bestand B 0204: Seminar für Wissenschaftliche Politik (Bergstraesser) 1950–1964 (UAF, B 204), unpaginiert. Vgl. Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.): Alternativen zur Wiederaufrüstung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen: Klartext, 2008; Michael Geyer: Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen die Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition, 2001, S. 267–318. „Staatsbürger in Uniform“ bezeichnet das Leitbild der Ausbildung von Soldaten, wie es das Programm der „Inneren Führung“ vorsah. Der Begriff geht auf den damaligen wehrpolitischen Berater der SPD Friedrich Beermann zurück.

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Arnold Bergstraesser (1896–1964), seit 1954 Inhaber des neugegründeten Lehrstuhls für Wissenschaftliche Politik und Soziologie in Freiburg, war einer der wichtigsten Protagonisten im konzeptionellen und institutionellen Aufbau einer wissenschaftsbasierten politischen Bildung. Sein Verständnis von politischer Demokratieerziehung und seine dahingehenden Aktivitäten werden mit Bezug auf den derzeitigen Forschungsstand zur politischen Bildung einleitend umrissen. Um einen Eindruck von der Intensität der Kooperationsverhältnisse zwischen Bergstraesser und der Verteidigungspolitik der frühen 1950er Jahre zu bekommen, die in der Forschungsliteratur noch nicht reflektiert worden sind, wird ein kurzer Überblick über Rahmenbedingungen und Bergstraessers verteidigungspolitische Beratungstätigkeiten angeschlossen. Dadurch soll skizziert werden, wie die im Entstehen begriffene Universitätsdisziplin in die moderne Wissensgesellschaften kennzeichnende „eng ineinander verschraubte ‚Triple Helix‘“8 von Staat/Militär, Wirtschaft und Wissenschaft eingebunden wurde. Insbesondere interessiert, welche verteidigungspolitischen Funktionen die inner- und außeruniversitäre politische Bildung als eine Form der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ erfüllte.9 Hierbei wird zwischen der Planungsphase 1953 bis 1955 und der praktischen Umsetzungsphase 1956 bis 1960 unterschieden. Der Schwerpunkt dieses Aufsatzes liegt auf den Entwicklungen 1953–1955. Anhand der diese Phase kennzeichnenden Planungen sollen die Interessen von Militär und Verteidigungspolitik an politischer Bildung verständlich gemacht werden, ebenso wie die Beweggründe und Programme ziviler Interessen, die geistige Rüstung einer breiten Öffentlichkeit als notwendig erachteten. Anschließend werden die Umsetzungsformen in einem Ausblick schlaglichtartig beleuchtet. Arnold Bergstraessers Verständnis politischer Bildung und Demokratieerziehung nach 1950 Arnold Bergstraesser war 1950 im Rahmen eines Professorenaustauschs aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt. 1937 hatten die Nationalsozialisten den vormaligen Inhaber der Eberhard-Gothein-Gedächtnisprofessur für Staatswissenschaften und Auslandskunde in Heidelberg, der bei Alfred Weber promoviert und habilitiert hatte, zur Emigration gezwungen. In den USA hatte Bergstraesser German Civilization und European History an Colleges in Claremont und später German Cultural History an der Universität Chicago gelehrt. Seinen Freiburger Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik und Soziologie, 1956 in 8

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Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 275–311, hier S. 300. Die Untersuchung der (rüstungs-) wirtschaftlichen Dimension dieser Zusammenarbeit sprengt den Rahmen dieses Artikels und konnte somit nicht einbezogen werden. Vgl. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.

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ein ordentliches Ordinariat an der philosophischen Fakultät umgewandelt, hatte er bis zu seinem Tod 1964 zehn Jahre lang inne. Die junge, sich als Geistes- und Sozialwissenschaft begreifende Universitätsdisziplin der Politikwissenschaft definierte Bergstraesser als eine normative und „synoptische“ Wissenschaft und betonte deren Gegenwarts- und Anwendungsorientierung. Angesichts der „Wandlungen der Gegenwart“ müsse die politische Bildung „als ein drängendes und auch nur jetzt sehr fragmentarisch gelöstes Problem“ zur zentralen Aufgabe der Politikwissenschaft aufsteigen.10 Unter politischer Bildung verstand Bergstraesser die Ausbildung zur Urteilsfähigkeit. Ihr Erziehungsziel definierte er in neohumanistischer Tradition als „die Selbstgestaltung einer inneren Form der Persönlichkeit“, die dazu befähigen sollte, angesichts moderner Entwicklungen „auf politische Entscheidungsfragen adäquat und zugleich produktiv einzugehen.“11 Ebenso wie die anderen Protagonisten der politischen Bildung in den 1950er Jahren konstruierte er diese in Abgrenzung zu politischen Bildungsmaßnahmen in der DDR, deren propagandistischen Charakter er kritisierte: Der Verpflichtung zur dogmatisch gerechtfertigten, Haß erzeugenden und haßverzerrten Indoktrination, die den gesellschaftlich-politischen Unterricht im sowjetischen Osten beherrscht, setzt die freiheitliche Welt die Verpflichtung und Achtung vor dem Menschen und seiner Bestimmung zur Mündigkeit und zu ihrer Bewährung im Unterricht entgegen.12

Dieses Selbstverständnis setzte Arnold Bergstraesser in Universität, Schule und zivilgesellschaftlichen Organisationen ebenso wie in seiner Zusammenarbeit mit verteidigungspolitischen Institutionen zielstrebig um. Der Universität „als wissenschaftliche Vertreterin des Gesamtinteresses der Staatsbürger“ kam in Bergstraessers Verständnis eine besondere Verantwortung für die politische Bildung zu.13 Sie stellte einen zentralen Ort dar, um wissenschaftliche Grundlagen der politischen Bildung zu schaffen, diese Inhalte in der Lehre und inneruniversitären Bildungsarbeit an Studierende zu vermitteln sowie die „sachgemäße Ausbildung“ von Multiplikatoren und Lehrern der Schulunterrichtsfächer Politik und Gemeinschaftskunde zu gewährleisten, die „auf allen Schulen unseres Erziehungswesens als Unterrichtsfächer Eingang finden“ sollten. In dem Prozess, das Fach Gemeinschaftskunde als eigenständiges Schulfach in den Gymnasien Baden-Württembergs und damit erstmalig überhaupt in der 10 Arnold Bergstraesser: Ansprache bei Treffen der Studienkommission der evangelischen Akademie Bad Boll am 22.07.1955, Stuttgart, in: UAF, B 204/170. Die nachfolgenden Zitate ebd. Die bis dahin verfolgte Lösung des Problems, Studierende durch ein „Studium Generale“ zu bilden, betrachtete Bergstraesser als „Form einer encyclopädistischen Ansammlung von Einzelproblemen nicht fachlicher Art“, die „den von der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart her zu stellenden Forderungen nicht gemäß“ sei. 11 Arnold Bergstraesser (1960): Lehrgehalte der politischen Bildung, in: Ders. (Hg.): Politik in Wissenschaft und Bildung, Schriften und Reden, Freiburg i. Br.: Rombach, 1961, S. 247–263, hier S. 248. 12 Ebd., S. 251. 13 Arnold Bergstraesser: Ansprache Bad Boll am 22.07.1955, Stuttgart, in: UAF, B 204/170. Nachfolgende Zitate ebd.

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BRD zu etablieren und die Lehre dieses Faches an eine universitäre Ausbildung in Politikwissenschaft zu koppeln, übernahm Bergstraesser gemeinsam mit seinem Tübinger Kollegen Theodor Eschenburg eine entscheidende Rolle. Joachim Detjen hat die Aktivitäten Bergstraessers in der Konzeption und schwierigen Durchsetzung der politischen Bildung als eigenständigem Gemeinschaftskundeunterricht in Baden-Württemberg dargestellt.14 Bergstraessers Einsatz für politische Bildung an der Universität – innerhalb seiner Fachwissenschaft wie auch im Rahmen des colloquium politicum, einer Arbeitsgemeinschaft des universitären studium generale,15 das sich an alle Studierenden richtete, ist von seinem Schüler und Nachfolger als Leiter des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Dieter Oberndörfer, erläutert worden.16 Zu seinem Einfluss als Leiter und Gründer verschiedener bedeutender politischer Bildungsinstitutionen liegen vereinzelt Beiträge, aber keine Gesamtdarstellung vor. Bergstraesser leitete 1956 bis 1964 die Arbeitsgemeinschaft „Der Bürger im Staat“, die Vorläuferorganisation der heutigen Landeszentrale für Politische Bildung,17 und hatte 1958 bis 1964 den Vorsitz der Politischen Akademie Eichholz e.V., der heutigen Konrad-Adenauer Stiftung, inne. Er war Mitbegründer der Akademie Bayerns für politische Bildung in Tutzing18 sowie des Instituts für politische Bildung Studienhaus Wiesneck, das 1958 auf Bergstraessers Initiative hin als Ost-West-Institut gegründet wurde.19 In den bisherigen Forschungen zur politischen Bildung in den 1950er Jahren im Allgemeinen20 wie auch zu Bergstraessers Rolle darin im Besonderen zeigt sich, dass dem Aspekt der „geistigen Rüstung“ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Forschung konzentrierte sich weitgehend auf den zivilen Bereich der 14 Vgl. Joachim Detjen: Arnold Bergstraessers Beitrag zur Etablierung des Unterrichtsfaches Gemeinschaftskunde und Politik, in: Der Bürger im Staat 53 (2003), H. 2/3: Islam und Globalisierung, S. 157–163 (http://www.buergerimstaat.de/2_3_03/politik.htm, Zugriff am 01.03. 2013); Ders.: Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland, München: Oldenbourg, 2007, S. 125–139. 15 Vgl. zum studium generale Alexander Boschert: Das Studium generale in den 1950er Jahren. Konzeption und Umsetzung an der Universität Freiburg, in: Freiburger Universitätsblätter 186 (2009), S. 37–60. 16 Vgl. u. a. Dieter Oberndörfer: Wissenschaftliche Politik, in: Eckhard Wirbelauer (Hg.): Die Freiburger philosophische Fakultät, 1920–1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen, Freiburg i. Br.: Alber, S. 575–590; Ders.: Prägungen, in: Arnold-Bergstraesser Institut (Hg.): Dieter Oberndörfer zum 75. Geburtstag am 05.11.2004, Freiburg i. Br.: Arnold-Bergstraesser Institut, 2004, S. 7–50. 17 Vgl. die Unterlagen zur Arbeitsgemeinschaft Der Bürger im Staat 1956–1964, in: UAF, B 204/235–48. 18 Vgl. Heinrich Oberreuter (Hg.): Kristallisationskern politischer Bildung. Zur Geschichte der Akademie 1957 bis 2007, München: Olzog, 2009. 19 Vgl. Ulrich Eith/Beate Rosenzweig (Hg.): 50 Jahre Studienhaus Wiesneck. 50 Jahre politische Jugend- und Multiplikatorenbildung, Buchenbach: Studienhaus Wiesneck, 2012. 20 Vgl. Günter C. Behrmann: Politikwissenschaft und politische Bildung, in: Irene Gerlach et al. (Hg.): Politikwissenschaft in Deutschland, Baden-Baden: Nomos, 2010, S. 73–95; Detjen: Politische Bildung; Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Weg zur Selbstständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Bochum: Brockmeyer, 1988.

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politischen Bildung; Bergstraessers Aktivitäten für die Demokratieerziehung der Streitkräfte werden nur am Rande erwähnt, seine Zusammenarbeit mit dem Bundesverteidigungsministerium und sein Engagement für die NATO nicht in Zusammenhang mit politischer Bildung betrachtet. Diese Studien orientierten sich an Bergstraessers Verständnis politischer Bildung, das er in den 1950er/60er Jahren in verschiedenen Reden und Beiträgen einer breiten Öffentlichkeit vorstellte. In Konfrontation mit Maßnahmen zur politischen Bildung in der DDR würdigte zuletzt Günter C. Behrmann Bergstraessers Engagement zur Bildung mündiger Bürger und zur Entwicklung politischer Urteilsfähigkeit als eine Form politischer Bildung, die er von patriotischen Tendenzen einer „Staats-, National- und Tugenderziehung“ der Weimarer Republik und der DDR abgrenzte.21 Bergstraessers Demokratieauffassung wurde in der Forschung hingegen ambivalent bewertet. Horst Schmitt betonte, dass Bergstraessers Demokratiebegriff antitotalitaristisch, ordnungspolitisch und elitezentriert geprägt war.22 Im Vergleich mit dem pluralistischen, Konflikte anerkennenden Demokratieverständnis des West-Berliner Politologen Ernst Fraenkel (1898–1975) hat auch Arnd Bauerkämper Bergstraessers Demokratievorstellungen als institutionell-staatszentriert und autoritär-holistisch herausgestellt.23 Bauerkämpers historischer Analyse zufolge überbrückte Bergstraesser in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Distanz zwischen deutschtraditionalen, obrigkeitsstaatlichen und modern-amerikanischen, pluralistischen Politikverständnissen und bereitete weiterreichenden Konzepten indirekt den Weg. Bergstraessers auf „Führung“24 ausgerichtete institutionelle Demokratieauffassung ist somit spezifisch für den „Lernprozess“ einer ersten Phase bundesdeutscher Demokratisierung nach 1945, die mit Beginn der 1960er Jahre durch liberalere und emanzipative Demokratieauffassungen herausgefordert wurde.25 Bergstraessers Demokratieerziehung zu mündigen Bürgern zielte darauf ab, Wissen über und Vertrauen in die Regelsysteme des „freiheitlichen Rechtsstaats“ zu vermitteln. Der in der „Mündigkeit“ enthaltene emanzipative Überschuss ent21 Günter C. Behrmann: Mündige Bürger, politische Bildung und Wissenschaft. Die historische und gegenwärtige Bedeutung des Studienhauses Wiesneck für die politische Bildung, in: Eith/Rosenzweig (Hg.): 50 Jahre, S. 24–45, hier S. 32f. Zur nationalpädagogischen Bildung in NS und DDR vgl. den Aufsatz von Anna Lux in diesem Band. 22 Vgl. Horst Schmitt: Politikwissenschaft und freiheitliche Demokratie. Eine Studie zum „politischen Forschungsprogramm“ der „Freiburger Schule“ 1954–1970, Baden-Baden: Nomos, 1995. 23 Arnd Bauerkämper: Demokratie als Verheißung oder Gefahr? Deutsche Politikwissenschaftler und amerikanische Modelle 1945 bis zur Mitte der sechziger Jahre, in: Ders./Konrad H. Jarausch/Markus M. Payk (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, S. 253–280. 24 Vgl. Arnold Bergstraesser: Führung in der modernen Welt, Freiburg i. Br.: Rombach, 1961. 25 Vgl. Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 7–49, hier S. 25; siehe ausführlich Moritz Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: ebd., S. 245–277, zur Bundeswehr nach 1960 hier S. 260f.

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sprach seinen Auffassungen von politischer Partizipation nicht. Schon 1960 wandte er sich gegen Ausweitungsversuche wie konfliktträchtige Partizipations- und bottom-up-Demokratisierungsprozesse, die er als Bedrohung des freiheitlichen Rechtsstaats begriff, insbesondere wenn die Bundeswehr in Frage gestellt wurde.26 Im Folgenden soll deshalb die Perspektive auf politische Bildung als Demokratieerziehung mündiger Bürger in den 1950er Jahren dadurch erweitert werden, dass nach ihrem Aspekt als geistiger Rüstung im Kontext des Ost-West-Konflikts gefragt wird. Rahmenbedingungen und Kooperationsverhältnisse Erste verteidigungspolitische Planungen wurden in der 1949 gegründeten BRD ab 1950 durchgeführt. Noch im November 1949 hatte der Bundestag eine nationale Wiederbewaffnung abgelehnt. Mit Beginn des Koreakriegs und den dadurch gesteigerten Befürchtungen, dass es im geteilten Deutschland zu ähnlichen Auseinandersetzungen kommen könnte, wurden die ersten Vorstöße zur Aufstellung eines deutschen Streitkräftekontingents gemacht.27 Am 7. August 1950 war im Auftrag Adenauers die erste, streng geheime Denkschrift „Gedanken zur äußeren Sicherheit der Bundesrepublik“ von den Generalen Hans Speidel,28 Hermann Foertsch29 und Adolf Heusinger30 erstellt worden. Diese Denkschrift bildete die 26 Bergstraesser beschwerte sich 1960 bei der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), in der er ab 1960 Mitglied war, über einen Artikel zu „Hochschulgruppen für Wehrkunde“ in deren Publikationsorgan, der der Bundeswehr seiner Meinung nach die Daseinsberechtigung absprach. Unter Hinweis auf seine Überzeugung, dass ein Atomkrieg „nur vermieden werden kann, wenn eine internationale Ordnung hergestellt wird, die nicht der Unterwerfung der rechtsstaatlich freiheitlichen Länder Vorschub leistet“, forderte er eine Richtigstellung und drohte andernfalls seinen Austritt an, Bergstraesser an Prof. Dr. Helmut Hönl am 06.08.1960, in: UAF, B 204/184. In demselben Jahr wandte er sich gegen den Verband deutscher Studentenschaften, da dieser durch den „Kampf um eine universitäre Liliput-Demokratie die Einsicht in Aufbau und Problem des freiheitlichen Rechtsstaates“ verstelle. Er kennzeichnete die studentischen Forderungen als „emotionale Propaganda“ und verglich deren Praxis mit der „Kontrolle der Universitäten durch die nationalsozialistische Studentenpresse vor der politischen Machtergreifung“ [H. i. Orig.], Bergstraesser an H. Thieme, Rektor der Universität Freiburg, am 08.07.1960, in: UAF, B 204/130. 27 Vgl. Heinz Ludger Borgert/Walter Stürm/Norbert Wiggershaus: Dienstgruppen und westdeutscher Verteidigungsbeitrag. Vorüberlegungen zur Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, Boppard a. Rh.: Boldt, 1982. 28 Hans Speidel war einer der wichtigsten Berater des Amts Blank, Chefdelegierter bei der Konferenz zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), später Vertreter der BRD bei den Verhandlungen des Eintritts der BRD in die NATO, ab 1955 Chef der Abteilung Gesamtstreitkräfte im Bundesministerium und von 1957 bis 1963 Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa. 29 Hermann Foertsch (1895–1961) war unter dem Reichswehrminister Kurt von Schleicher Reichswehr-Pressechef und im Zweiten Weltkrieg Chef des Generalstabs verschiedener Hee-

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Grundlage für die zweite, sogenannte „Himmeroder Denkschrift“ zur Aufstellung eines Kontingents an bundesdeutschen Streitkräften im Rahmen europäischatlantischer Sicherheitsbündnisse.31 Die erste Denkschrift wurde darin vor allem durch die Reformansätze der „Inneren Führung“ erweitert, die Wolf Graf Baudissin32 einbrachte.33 Diese sahen die Erweiterung der traditionellen und fachlichen Ausbildung der Soldaten um eine Erziehung zu kritischen und demokratischen Staatsbürgern vor. Die neuen Leitlinien der „Inneren Führung“ sollten die Weichen zu einer der Demokratie verpflichteten Bundeswehr stellen, die im Gegensatz zur Wehrmacht, zur Reichswehr und zur Armee im Kaiserreich kein „Staat im Staate“ war, sondern parlamentarischer Kontrolle unterworfen und in die Gesellschaft integriert sein sollte. Die Vorläuferinstitution des Verteidigungsministeriums, die nach ihrem Leiter Theodor Blank benannte Dienststelle Blank,34 wurde in demselben Zeitraum etabliert.35 Im Mai 1951 übernahm Baudissin darin das Referat Inneres Gefüge, das soldatische Ausbildungsrichtlinien erarbeiten sollte. Dieses wurde 1953 gemeinsam mit den Fachreferaten für Information, Erziehung und Betreuung der Truppen unter dem Sammelbegriff „Innere Führung“ General Heusinger unterstellt. Hinzu kam ein Studienbureau unter der Leitung Joseph H. Pfisters,36 das

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resteile in Südosteuropa. Er hatte schon 1935 Richtlinien für die Wehrmacht herausgegeben und verschiedene Bücher zu moderner Kriegführung veröffentlicht, vgl. Hermann Foertsch: Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat, Hamburg: Broschek & Co, 1935; Ders: Kriegskunst heute und morgen, Berlin: Andermann, 1939. Adolf Heusinger (1897–1982) war ab 1940 Chef der Operationsabteilung des Generalstabes im OKH und ab 1942 Koordinator der „Partisanenbekämpfung“. Nach seiner Kriegsgefangenschaft sondierte er 1948–1950 für Reinhard Gehlen die militärische Lage der Sowjetunion. Ab 1950 war er Berater der Bundesregierung, ab 1952 militärischer Abteilungsleiter im Amt Blank. 1955–1957 saß er dem Militärischen Führungsrat der BRD, 1961–1964 dem NATO-Militärausschuss in Washington, D.C., vor. 1957–1961 war er der erste Generalinspekteur der Bundeswehr. Vgl. die Denkschrift in Hans Speidel: Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Berlin: Propyläen, 1977, S. 477–496. Wolf Graf von Baudissin (1907–1993), Major i.G. a.D./Oberst, seit 1951 an der Dienststelle Blank, später im Bundesverteidigungsministerium, war maßgeblich für die Entwicklung des Konzepts der „Inneren Führung“. Vgl. Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005, München: Beck, 2005; Dieter Krüger: Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg i. Br.: Rombach, 1993, S. 54. Unter dem Namen „Dienststelle“ oder „Amt Blank“, der Abkürzung der offiziellen Bezeichnung „Der Beauftragte des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“, firmierte bis 1955 die Vorläuferinstitution des späteren Bundesministeriums für Verteidigung, vgl. Krüger: Amt Blank. Zu deren Vorgängerinstitution unter Gerhard Graf v. Schwerin vgl. Krüger: Amt Blank, S. 17–28. Zu Joseph H. Pfister, geb. 1903, vgl. Krüger: Amt Blank, S. 57ff. u. S. 194; Georg Meyer: Zur Inneren Entwicklung der Bundeswehr bis 1960/61, in: Hans Ehlert/Christian Greiner/Georg Meyer/Bruno Thoß: Die NATO-Option, München: Oldenbourg, 1993, S. 851– 1162, hier S. 908–911 u. S. 1149f. Siehe auch den unerschlossenen Nachlass im Bundes-

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Heusinger beraten und die anderen Fachreferate durch wissenschaftliche Analysen unterstützen sollte.37 Arnold Bergstraesser hatte schon an der ersten Denkschrift beratend mitgewirkt.38 Mit Hans Speidel verband ihn eine langjährige Freundschaft.39 1953 setzte sich Speidel bei dem Kultusminister Baden-Württembergs für Bergstraessers Berufung nach Freiburg ein und riet Bergstraesser davon ab, dem Ruf nach Frankfurt zu folgen.40 Gleichzeitig wurde Bergstraesser von Pfister übermittelt, dass Speidel, Heusinger und der Ministerialdirigent der Dienststelle Blank Ernst Wirmer41 seinen Eintritt in das Studienbureau begrüßen würden. Ob Bergstraesser tatsächlich in das Studienbureau eintrat, für das er, wie er Pfister am 1. Mai 1954 mitteilte, „nach wie vor zur Mitarbeit zur Verfuegung“ stand,42 ist nicht bekannt. Auch die damit zusammenhängende Finanzierungsfrage ist weitgehend ungeklärt. Sicher ist, dass Bergstraesser Anfang der 1950er Jahre mit dem Studienbureau ebenso wie mit den anderen Fachreferaten der „Inneren Führung“ eng zusammenarbeitete. An der Planung des Programms der „Inneren Führung“ sowie der Entwicklung von Lehrbüchern und Lehrgängen beteiligte er sich durch seine Mitarbeit an den von Baudissin geleiteten Siegburger Konferenzen 1953 und 1955 sowie ab 1958 als Mitglied im Beirat für Fragen der „Inneren Führung“ der Bundeswehr. Verschiedene Gutachteraufträge begleiteten diese Zusammenarbeit, über die Bergstraesser seinen „Assistenten“ Hans Wolfgang Kuhn, der keine universitäre Assistentenstelle bekleidete, finanzieren konnte. Dieser entwarf die Gutachten und besprach sie mit den verteidigungspolitischen Verantwortlichen; Bergstraesser überarbeitete sie schließlich in Formulierung und Schwerpunktsetzung.43 An den Planungen für Militärakademien beteiligte sich Bergstraesser im Rahmen der Siegburger Konferenzen wie auch in seiner Arbeit für das Studienbureau 1953–

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archiv Militärarchiv Freiburg i. Br. mit Unterlagen des Studienbureaus zur Inneren Führung, Personalauswahl, Psychologischer Kriegführung und Politischer Bildung. Vgl. Krüger: Amt Blank, S. 57f.; Georg Meyer: Zur Inneren Entwicklung der Bundeswehr bis 1960/61, in: Ehlert: NATO-Option, S. 908f. Das Studienbureau war auch als ‚katholisches‘ Gegengewicht zu dem Referat des ‚protestantischen‘ Baudissin eingerichtet worden. Die Arbeitsgebiete überschnitten sich in vielerlei Hinsicht, was Konkurrenzkämpfe zur Folge hatte. Vgl. Schmitt: Forschungsprogramm, S. 245; Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart: DVA, 1986, S. 754f. Als Bergstraesser 1936 die Venia legendi entzogen wurde, emigrierte er mit Unterstützung seines Schulfreundes Speidel in die USA, vgl. Hans Speidel: Brief an Arnold Bergstraesser, in: Fritz Hodeige (Hg.): Atlantische Begegnungen. Eine Freundesgabe für Arnold Bergstraesser, Freiburg i. Br.: Rombach, 1964, S. 9–12. Joseph H. Pfister an Bergstraesser, University of Chicago, am 09.12.1953, in: UAF, B 204/227. Ernst Wirmer (1910–1981) war ab 1951 Ministerialdirigent im Amt Blank und später Abteilungs- und Hauptabteilungsleiter im Bundesverteidigungsministerium. Bergstraesser an Joseph H. Pfister, Studienbureau Bonn, am 01.05.1954, in: UAF, B 204/227. Vgl. die Unterlagen zu den vom Seminar für Wissenschaftliche Politik zu erstattenden Gutachten „Die soldatische Tradition“ bzw. „Die soldatische Ordnung“ und „Zivilist und Soldat in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts“, in: UAF, B 204/227 u. B 204/213.

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1955. Während in Siegburg der Aufbau bundesdeutscher Militärhochschulen zur akademischen Ausbildung von Offiziersanwärtern in Zusammenarbeit mit Universitäten und technischen Hochschulen im Vordergrund stand,44 lag der Schwerpunkt des Studienbureaus auf der Etablierung des wissenschaftlichen Forschungsinstituts „Freie Akademie NATO“ mit angegliedertem „Trainingscenter“. Dieses sollte aus privaten, wirtschaftlichen Quellen und Stiftungen finanziert werden und als unabhängiges geisteswissenschaftliches Institut analog zur Wirtschaft, die die materiellen Waffen bereitstellte, den militärischen Bedarf an „geistig-sittlicher Rüstung“ durch Forschung und Beratung decken.45 Im Rahmen des Studienbureaus beteiligte sich Bergstraesser 1953/1954 an der „Studienkommission Bolschewismus“. Hier betreute er die von Hermann Foertsch vorgelegten Dispositionen des Handbuchs „Der Bolschewismus“.46 Ein weiteres Arbeitsgebiet stellte 1954 die „Psychologische Studienkommission“ dar. Diese entwickelte in Konkurrenz zu dem für die Personalauswahl der neuen Bundeswehroffiziere vorgesehenen und letztendlich verantwortlichen Personalgutachterausschuss wissenschaftliche Verfahren zur „Selektion der Auswahloffiziere“.47 Bergstraesser unterstützte Pfister dabei in der Einschätzung der von dem Freiburger Psychologen Robert Heiss, dem Münchner Psychologen Philipp Lersch und dem Frankfurter Soziologen Theodor W. Adorno vorgelegten Fragebogen, die eine adäquate Auswahl der sich freiwillig meldenden Offiziersanwärter gewährleisten sollte.48 Gemeinsam mit Pfister war auch die Freiburger Arbeitsgemeinschaft zu Fragen der Streitkräfte geplant und durchgeführt worden,49 aus deren Arbeit das erste veröffentlichte Memorandum „Zur Eingliederung der Streitkräfte in die Gesell44 Vgl. den Entwurf II/2/1, Bonn, den 11.05.1954: Die wissenschaftliche Ausbildung der zukünftigen Offiziersanwärter. Vorschlag: Anlage, Organisation und Lehrplan der zukünftigen Militär-Akademien, in: UAF, B 204/225. Diese sollten in der Nähe von Universitäten oder technischen Hochschulen aufgebaut werden, um in der Anfangszeit deren Institute und Bibliotheken nutzen sowie personell zusammenarbeiten zu können. 45 Vgl. Pfister: Memorandum „Freie Akademie NATO“ (Arbeitstitel), Bonn am 10.10.1954, in: ebd. 46 Vgl. Gliederungen und Manuskripte, in: UAF, B 204/229. Zur Studienkommission Bolschewismus siehe Foertsch an Bergstraesser am 01.07.1953, in: UAF, B 204/227. 47 Pfister in: Protokoll der Sitzung der Psychologischen Studien-Kommission am 05.07.1954 am Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, S. 6, in: UAF, B 204/227. 48 Der Schwerpunkt dieser Studienkommission verlagerte sich sukzessive von der Ermittlung „antidemokratischer Gesinnung“ hin zu der Entwicklung psychologischer Verfahren zu Auswahl und Eignungsprüfung von Offizieren im militärischen Sicherheitsdienst, die testen sollten, ob sie der Ermittlung, Auswertung und Sachbearbeitung geheimdienstlicher Informationen gewachsen waren, vgl. den Brief und Anhang des Briefes Pfisters an Bergstraesser am 14.09.1954, in: UAF, B 204/225. 49 Zu den Planungen, bei denen ein Auftrag von Ernst Wirmer erwirkt werden musste, vgl. Pfister an Bergstraesser am 06.09.1954, in: UAF, B 204/227; siehe die Bestätigung des Auftrags vom 14.09.1954 in: Bergstraesser an den Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen Ernst Wirmer Betr. Tagb. Nr. 841/54, Freiburg, den 27.09.1954, in: ebd.

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schaft“ hervorging. In diesem Zusammenhang entstanden weitere Einzelstudien, die vom Seminar für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg sowie anderen Beteiligten der Arbeitsgemeinschaft erstellt wurden.50 Bergstraesser konnte dadurch zumindest seinen an der Universität Freiburg tätigen Mitarbeiter Kuhn und eine Schreibkraftstelle außeruniversitär finanzieren.51 An diesem kurzen Überblick lässt sich ablesen, dass Bergstraessers Kooperationsverhältnisse mit verteidigungspolitischen Institutionen in den Jahren 1953 bis 1955 durchaus bemerkenswert waren. Dieser Zeitraum bezeichnet für die Etablierung der Streitkräfte ebenso wie für die Politikwissenschaft eine Phase der Weichenstellung. Die Politikwissenschaft fing damals gerade an, sich als eigenständiges Fach durchzusetzen. Politik bzw. Gemeinschaftskunde stellte noch kein Schulfach dar und somit fehlte der jungen Universitätsdisziplin der sie später kennzeichnende Zulauf an Lehramtsstudierenden. Politikwissenschaftliche Institutionen, die Arbeitsplätze für solche Beratungsexperten bereitstellten, existierten ebenso wenig wie Akademien für politische Bildung. Die neue Disziplin löste sich erst in diesem Zeitraum aus dem Schatten der Staats- und Rechtswissenschaften, der Nationalökonomie und der Geschichtswissenschaft. Der geradezu einmalige Aufstieg der Politikwissenschaft innerhalb kürzester Zeit lässt sich kaum ohne das intensivierte Interesse an politischer Bildung und Politikberatung jener Zeit vorstellen. Das militärische Interesse an politischer Bildung sowohl der Streitkräfte wie der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt entwickelte sich vor dem Hintergrund der ablehnenden Haltung der bundesdeutschen und internationalen Öffentlichkeit gegenüber der Wiederaufrüstung Anfang der 1950er Jahre. Die Politikwissenschaft als ‚Lieferantin‘ politischer Bildung präsentierte sich in diesem Kontext als ‚Problemlöserin‘ und Vermittlerin zwischen Militär, Politik und Öffentlichkeit. Im Folgenden wird anhand der Siegburger Konferenzen 1953 und 1955 sowie der Freiburger Arbeitsgemeinschaft zu Fragen der deutschen Streitkräfte 1954/55 analysiert, welche militärischen und zivilen Interessen politische 50 Vgl. einige Manuskripte in UAF, B 204/221 u. Verzeichnis der für die II. und III. Konferenz vorzubereitenden Einzelstudien, in: UAF, B 204/222. 51 Der Finanzierungsplan sah als Vorbereitung der Konferenzen II und III Ausgaben für Bücher, Zeitschriften und Presseüberwachung in Höhe von 800 DM, für die Wissenschaftliche Assistenz 750 DM, für Schreibkraft und Sekretariat 870 DM und für Porto 80 DM vor. Die größeren Posten entfielen auf Reise- und Aufenthaltskosten in Höhe von 3.600 DM sowie die Honorare für die Gutachterarbeit und Assistenz, die mit 3.900 DM beziffert wurden, vgl. Plan der Finanzierung der Arbeit über die Stellung der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft, in ebd. Da die dritte Konferenz wegen mangelnder Mittel ausfallen musste und die Beteiligten die weitere Kommunikation schriftlich erledigten, ist davon auszugehen, dass letztendlich an Reisekosten gespart wurde. Zum Vergleich: Bergstraessers Gehalt als Universitätsprofessor betrug jährlich 11.600 DM zuzüglich Wohnungsgeld-, Teuerungs- und Kinderzuschlag, sowie der Unterrichtsgeldgarantie von 5.000 DM. Ihm war eine einzige wissenschaftliche Assistentenstelle bewilligt worden, die mit Kurt Sontheimer besetzt wurde und eine halbe Schreibkraftstelle, die Christine Penitzka übernahm. Für die Einrichtung der Institutsbibliothek waren einmalig 10.000 DM bewilligt worden, vgl. die Berufungsvereinbarungen vom 10.08.1953, in: UAF, B 24/231.

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Bildung und geistige Rüstung zusammenbrachten, welche Funktionen politische Bildung für Militär und Verteidigungspolitik erfüllen sollte und welche Umsetzungsmaßnahmen geplant wurden. Politische Bildung und geistige Rüstung in der Planung 1953–1955 Die Siegburger Konferenzen 1953 und 1955 Am 13. August 1953 erhielt Bergstraesser eine Einladung von Theodor Blank zu zwei Tagungen in Siegburg, auf denen für das zukünftige deutsche Kontingent an Streitkräften Leitsätze zur Erziehung und Ausbildung ausgearbeitet werden sollten. Geladen wurden zu dieser Sachverständigenkonferenz „Universitätslehrer, Vertreter der Kirchen, ehemalige Offiziere und Persönlichkeiten aus den Jugendverbänden“,52 um gemeinsam mit Mitarbeitern der Dienststelle Blank am 25./26. September und 30./31. Oktober 1953 eine Lehrschrift zu Sinn und Zweck der Streitkräfte in der Demokratie zu formulieren. Der Leiter der Tagung Wolf Graf Baudissin vertrat darin den Standpunkt, dass der Zweck des Militärs an eine verteidigungswerte Gesamtordnung geknüpft sei, die sich „deutlich von der des Ostens unterscheiden“ müsse.53 Militärische Abschreckung alleine reiche nicht aus, um der „Herausforderung der bolschewistischen Lebensordnung“ entgegenzutreten. Dieses Ziel könne nur mithilfe und auf der Grundlage einer „neuen, geistig fundamentierten, einer menschlichern [sic] Ordnung als bisher“ erreicht werden. Daraus ergab sich als Aufgabe der Politikwissenschaft und der politischen Bildung, eine solche Ordnung zu entwickeln und zu popularisieren – in den Streitkräften und darüber hinaus. Hatte der Zweck der politischen Bildung bis dato darin bestanden, demokratische Einstellungen und freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnungsvorstellungen in Abgrenzung zu nationalsozialistischen, antisemitischen und rassistischen Vorstellungen zu verbreiten, verwandelte sich damit ihr Programm in ein antitotalitaristisches.54 Hintergrund dieser Anforderungen von militärischer Seite waren die neuartigen Konditionen eines Kalten Krieges, die darauf hinausliefen, dem Gegner „durch ein Höchstmaß an Kampftüchtigkeit die Verlagerung der geistigen Auseinandersetzung in die Sphäre des heißen Krieges unratsam erscheinen zu lassen.“55 Die Kampftüchtigkeit beschränkte sich somit nicht nur auf Truppenstärke und technische Ausrüstung, sondern bezog die geisti52 Vgl. Theodor Blank an Prof. Dr. A. Bergstraesser, Erlangen, BKA, Der Beauftragte des BK für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen, Bonn, den 13.08.1953, in: ebd. 53 Graf Wolf von Baudissin: Der Auftrag zukünftiger Streitkräfte, Referat auf der Siegburger Tagung am 25.09.1953, S. 3, in: UAF, B 204/227. Die nachfolgenden Zitate ebd., S. 4 u. S. 9f. 54 Zu der „Wandlung des Konzepts der geistigen Führung zum Programm der antikommunistischen Immunisierung“ in den Streitkräften vgl. weiterführend Grimm: Geistige Rüstung, S. 79. 55 Baudissin: Der Auftrag zukünftiger Streitkräfte, S. 9.

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ge Rüstung und psychologische Kriegführung in kriegstaktische Überlegungen ein. Um deren Überlegenheit zu gewährleisten, gelte es, „der anderen Ideologie keine Gegenideologie, sondern eine Wirklichkeit entgegenzusetzen“.56 Diese Unterscheidung zwischen Ideologie und Wirklichkeit wurde von der Forschung mit der Unterscheidung zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ geistiger Rüstung, zwischen Propagandastrategien der DDR bzw. der Sowjetunion und der Erziehung zu mündigen Bürgern in der BRD bzw. dem Westen übernommen.57 Das Objektivierungs- bzw. Authentifizierungsmerkmal, also der Umschlagspunkt von Ideologie in Wirklichkeit, bestand in der praktischen Umsetzung. Die „freiheitliche Gesamtordnung“ sollte sich auch in der soldatischen Ordnung und Ausbildung niederschlagen und durch die Erziehung von Soldaten ebenso wie Zivilisten zu mündigen Staatsbürgern realisiert werden. Was damit auf den ersten Blick als einseitige Durchdringung des Militärs durch Politik und politische Bildung erscheint, erweist sich bei genauerem Hinschauen als Wechselwirkung. Das Ziel der Verwirklichung der freiheitlichen Gesamtordnung entsprang hier der Einsicht, dass der Kalte Krieg auch mit geistigen Mitteln geführt, das eigene politische System also aus kriegsstrategischen Gründen attraktiver gestaltet werden müsse, um die Desertationsrate auf eigener Seite zu mindern, auf gegnerischer Seite hingegen zu steigern. Dazu bot sich das vielversprechende Zugeständnis an politischer Partizipation an, das eingehegt als ordnungspolitische, antitotaltaristische Variante der Demokratie in Streitkräften wie „Heimatfront“ verwirklicht werden sollte. Politische Bildung als Demokratieerziehung wurde durch diesen Zusammenhang zu geistiger Rüstung. Damit erfüllte sie eine gesellschaftliche Funktion, die sich nicht in ihrer öffentlichen Legitimation, wohl aber in der Zusammenarbeit mit der Militärpolitik niederschlug. Der Schritt seitens des Militärs, politische Bildung in die Ausbildung der Soldaten zu integrieren, bereitete insofern Schwierigkeiten, als das Militär seine spezifische, durchaus effiziente Befehl-Gehorsam-Struktur nicht grundlegend aufzugeben bereit war. Auf der Tagung wurde so versucht, mit Pädagogen und Politikwissenschaftlern einen „truppenbrauchbaren Entwurf für die Leitsätze der Erziehung“ zu entwickeln, wobei auf Bergstraessers Mitwirkung großen Wert gelegt

56 Baudissin: Der Auftrag zukünftiger Streitkräfte, S. 10. 57 In der militärhistorischen Forschungsliteratur wird bezüglich der Streitkräfte zwischen einer „objektiven“ und einer „subjektiven“ Variante geistiger Rüstung unterschieden, vgl. Siegfried Grimm: ... der Bundesrepublik treu zu dienen. Die geistige Rüstung der Bundeswehr, Düsseldorf: Droste, 1970, S. 223–227; Frank Nägler: Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65, München: Oldenbourg, 2010, S. 235–268. „Objektive“ geistige Rüstung setzt auf politische Bildung mündiger Staatsbürger, die mit den dadurch geförderten Einsichten in die demokratische Ordnung bewusst, eigenständig und initiativ militärische Entscheidungen befürworten. „Subjektive“ geistige Rüstung hingegen bezeichnet in dieser Unterscheidung oktroyierte Pflichterfüllung und blinden Autoritätsgehorsam. Geistige Rüstung kann damit auf unterschiedlichen Disziplinierungstechniken beruhen. Hier wird auf die durch die politische Bildung vermittelte, wissenschaftlich fundierte, „objektive“ Form geistiger Rüstung Bezug genommen.

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wurde.58 Die Demokratieerziehung sollte aber nicht zur genuinen Aufgabe des Militärs werden, vielmehr bestimmte die Idee einer kooperativen Arbeitsteilung mit zivilen Stellen die Überlegungen. Die Forderungen der Streitkräfte sollten Erziehungsinstitutionen und Kultusministerien vermittelt und mit diesen abgestimmt werden.59 Damit gewannen die Protagonisten der politischen Bildung einen starken Partner für die breite Institutionalisierung ihres Anliegens. Die Siegburger Nachfolgekonferenzen 1955 verfolgten das Ziel, einen Vortragszyklus für Offiziere zu politischen und geistigen Problemen der Gegenwart zu entwickeln, auf dessen Grundlage später Offizierslehrgänge in Sonthofen durchgeführt und ein „Handbuch politisch-historischer Bildung“ herausgegeben wurden.60 Neben Vertretern des Verteidigungsministeriums wirkten an dieser Tagung von wissenschaftlicher Seite Pädagogen, Juristen und Politikwissenschaftler sowie die Historiker Gerhard Ritter und Hermann Aubin mit, die gemeinsam mit Bergstraesser die Vortragsreihe konzipiert hatten.61 Die auf der Tagung entwickelte Vortragsreihe sollte den „durchgehenden Zusammenhang von Wehrordnung und allgemeiner politisch-geistiger Ordnung“ aufweisen.62 War das Thema der ersten Siegburger Konferenz 1955 noch die „Einbettung der Wehrordnung in die Gesamtordnung“ gewesen,63 war die Richtlinie der zweiten, „wie die Wehrordnung mit der politisch-geistigen Gesamtordnung verzahnt ist.“64 Mit der Betonung der gegenseitigen Durchdringung von Wehr- und Gesamtordnung wurden die Anforderungen einer demokratisch organisierten Gesellschaft an ihre Streitkräfte und die Ansprüche der Streitkräfte an die bundesdeutsche Gesellschaft wechselseitig aufeinander bezogen. Wozu politisch-historische Bildungsarbeit in der militärischen Ausbildung dienen sollte, wurde auf den Siegburger Nachfolgekonferenzen 1955 deutlich formuliert. Der für das neue Publikationsorgan der Bundeswehr, die „Information

58 Heinz Karst an Prof. A. Bergstraesser, Bonn, den 02.09.1953, in: UAF, B 204/227. 59 Protokoll Sachverständigentagung 25./26.09.1953 in der Akademischen Bundesfinanzschule Siegburg. Thema: „Leitsätze für die Erziehung in den zukünftigen Streitkräften“, S. 11. Im Fortgang der Arbeit übernahm Bergstraesser gemeinsam mit dem Heidelberger Politikwissenschaftler Alexander Rüstow und anderen die Ausarbeitung der Präambel: „Wofür dient der zukünftige europäische Soldat deutscher Nationalität“, ebd., S. 12. 60 Der erste von fünf Sammelbänden mit historischen, politikwissenschaftlichen und juristischen Aufsätzen wurde 1957 herausgegeben, vgl. Bundesministerium für Verteidigung, Innere Führung (Hg.): Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung, Tübingen: Niemeyer, 1957. 61 An der Tagung am 30./31.10.1953 konnte Bergstraesser nicht anwesend sein. An der Nachfolgekonferenz am 14.–16.03.1955 war er nur vorbereitend beteiligt, vgl. Bergstraesser an Theodor Blank am 06.03.1955; A. Heusinger an Bergstraesser am 20.12.1954, in: UAF, B 204/227. Die Konferenz vom 06.–08.08.1955 wurde nicht zuletzt wegen ihm verschoben, siehe Bergstraesser an Günter Will im BMVtdg. am 20.07.1955, in: UAF, B 204/ 219. 62 Ebd., S. 12. 63 Theodor Blank an Bergstraesser am 28.02.1955, in: UAF, B 204/227. 64 Theodor Blank an Bergstraesser am 14.07.1955, in: ebd.

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für die Truppe“, verantwortliche Major Günter Will65 grenzte die darin enthaltene politische Bildung von Propaganda ab, ordnete sie aber in den Komplex „‚geistige Kriegführung‘“ ein, die im Kontext des Kalten Krieges durch „ihre vorbedachte rationale Planung, die Notwendigkeit ihres Ansatzes bereits im Frieden“ gekennzeichnet sei.66 Dazu gehöre in demokratischen Staaten, in denen die Souveränität vom Volke ausgehe, „dessen Überzeugung, daß der Krieg unerläßlich sei für seine Existenz, Freiheit und Unabhängigkeit.“ So verstand er unter politischer Bildung „insbesondere die Einsicht in die politische Notwendigkeit des Wehrdienstes“. Der Information für die Truppe und deren politisch-historischer Bildung komme die Aufgabe zu, die „seelische und geistige Widerstandskraft“ der einzelnen Soldaten ebenso wie eine „gemeinschaftliche Richtung des soldatischen Geistes“ zu entwickeln und zu fördern und die „erschütterte Wehrbereitschaft wieder aufzurichten“: politische Bildung der Streitkräfte als Legitimierung von Bundeswehr, Wehrdienst und Krieg. Mit dem Konzept der „Inneren Führung“ war von militärpolitischer Seite eine Strategie entwickelt worden, die eine Demokratieerziehung der Streitkräfte in Zusammenarbeit mit Zivilisten aus dem Bildungs- und Erziehungswesen vorsah. Die angestrebte Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft ließ sich jedoch nicht allein durch die Reformideen der „Inneren Führung“ leisten. Anhand von Meinungsumfragen und Presseberichten war das Problem identifiziert worden,67 dass „die mit den Thesen des Inneren Gefüges bisher gemachte Propaganda“ nicht verfange und „sich im Gegenteil negativ“ auswirke.68 Diese „Ablehnung des Wehrbeitrags“ konterkariere „die Londoner und Pariser aussenpolitischen Erfolge“ und habe auch innenpolitische Konsequenzen insofern, „als die Stimmen bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich zu Gunsten der Oppositionsparteien abgegeben werden.“ Der Aufgabe, Ängste vor einem erneuten „Militarismus“ sowie „das Mißtrauen des Auslandes gegenüber den zukünftigen deutschen Soldaten“ einzuhegen, widmete sich eine Arbeitsgemeinschaft unter der Leitung Bergstraessers, die am 18./19. Dezember an der Universität Freiburg gegründet wurde.69 Dieses Expertengremium arbeitete geheim, im Auftrag und finanziert von Ernst Wirmer,70 war aber an keine Vorgaben seitens der Dienststelle Blank gebunden. An65 Der spätere Oberst Dr. Günter Will wurde 1953 im Referat Inneres Gefüge der Dienststelle Blank mit der Vorbereitung der „Information für die Truppe“, des Publikationsorgans der Inneren Führung der Bundeswehr, betraut. 66 Protokoll der Tagung „Information Lehrgang A pp.“ in Siegburg vom 14.–16.03.1955, in: UAF, B 204/229, S. 5. Die nachfolgenden Zitate S. 5ff. 67 Zu dem Gebrauch der Expertise von Meinungsforschungsinstituten im Bundespresseamt und dessen Funktion in den „Wiederbewaffnungsdiskussionen“ vgl. Thorsten Loch: Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien in der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr 1956–1989, München: Oldenbourg, 2008, S. 130f. 68 Studien-Bureau, Aktennotiz Betr. Wehrpropaganda am 22.10.1954, in: UAF, B 204/227. Die folgenden Zitate ebd. 69 Protokoll der Freiburger Kommissionssitzung am 18./19.12.1954, S. 1, in: UAF, B 204/220. 70 Vgl. die Bestätigung des Auftrags vom 14.09.1954 in: Bergstraesser an Ernst Wirmer am 27.09.1954 Betr. Tagb. Nr. 841/54, vgl. die Geheimhaltungsvorschriften in: Wirmer an Bergstraesser am 20.10.1954, in: UAF, B 204/227.

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hand der erhalten gebliebenen Protokolle und Einzelstudien lässt sich rekonstruieren, wie das Verhältnis politischer Bildung bzw. „Staatsbürgerkunde“ und geistiger Rüstung von ziviler Seite her konzipiert wurde und welche Umsetzungsstrategien geplant waren.71 Die Freiburger Arbeitsgemeinschaft für Fragen der deutschen Streitkräfte 1954/55 Das Programm der Freiburger Arbeitsgemeinschaft zu „Fragen der deutschen Streitkräfte“72 unter der Leitung Arnold Bergstraessers sah vor, mit einzelnen Studien und gemeinsamen Konferenzen Lösungen und Implementierungsvorschläge zu dem Problem zu entwerfen, wie die Streitkräfte in die Gesellschaft integriert werden könnten. Die daraus entstehenden Gutachten sollten als Grundlage für die neue Wehrverfassung dienen und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Aufgaben umreißen. Die Herausforderung bestand darin, sowohl die Anforderungen moderner Kriegführung und internationale Verträge zu berücksichtigen, wie auch die „etwaige Entstehung eines erneuerten ‚Militarismus‘“ und „die Rückwirkung der Organisation der Streitkräfte auf Erziehung und öffentliche Meinung“ in die Überlegungen mit einzubeziehen.73 Das Expertengremium setzte sich aus Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche zusammen. Joseph H. Pfister nahm als Privatperson an den Sitzungen teil.74 Die Presse wurde darin von der Zeit-Chefredakteurin Marion Gräfin Dönhoff repräsentiert,75 die Sozialwissenschaften von den Universitätsprofessoren Bergstraesser, Theodor Eschenburg und Karl Jandtke. Als Experten wirkten weiterhin General a.D. Hermann Foertsch,76 der Staatsrechtler Ernst Huber77 und Generalmajor

71 Das ausführliche vierteilige „Protokoll zur Tagung der Studienkommission ‚Projekt B‘ am 18. und 19. Dezember 1954 in Freiburg“ (1. Vormittagssitzung 18.12., 2. Nachmittagssitzung 18.12., 3. Vormittagssitzung 19.12., 4. Nachmittagssitzung 19.12.1954) diente als Grundlage für ein weiteres, gekürztes und sinngemäß zusammenfassendes „Protokoll der Freiburger Kommissionssitzung am 18./19.12.1954“, alle in: UAF, B 204/220. 72 Seminar für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg: Bericht über die Konferenz I der vom Seminar für Wissenschaftliche Politik gebildeten Arbeitsgemeinschaft für Fragen der deutschen Streitkräfte und Antrag auf Zuwendung der für die Fortführung der Arbeit erforderlichen Mittel, Freiburg, den 21.12.1954, in: UAF, B 204/222. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Vgl. weiterführend Detlef Bald: „Nicht ohne uns!“ DIE ZEIT als Vorreiter der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren, in: Christian Haase/Axel Schildt (Hg.): DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen: Wallstein, 2008, S. 245–263. 76 Vgl. Fn. 29. 77 Ernst Rudolf Huber (1903–1990) promovierte 1926 bei Carl Schmitt, war Rechtsberater der Präsidialkabinette von Papen und von Schleicher und führender NS-Verfassungsrechtler. 1941 folgte er dem Ruf an die neu bzw. wieder gegründete Reichsuniversität Straßburg. 1952 erhielt er einen Lehrauftrag in Freiburg, vgl. Ewald Grothe: Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit

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und Botschafter a.D. Eugen Ott mit,78 die durch ihren Werdegang und ihre Aktivitäten im NS keineswegs repräsentativ für die in dem zu verfassenden Gutachten angestrebte Zäsur in der verfassungsrechtlichen und organisatorischen Konzeption der Bundeswehr waren. Ausgangspunkt war die Frage, wie „totale Mobilisation von Staat und Gesellschaft“, die als unumgängliche Notwendigkeit moderner Kriegführung in Friedens- wie in Kriegszeiten aufgefasst wurde, in demokratischen Staaten zu realisieren sei.79 Die Versuche, den Begriff „totale Mobilisation“ oder „totaler Staat“ durch neue Sprachregelungen zu ersetzen, scheiterten.80 Der demokratische Aspekt wurde ordnungspolitisch aufgefasst: Es war vorgesehen, ihn durch eine institutionelle, rechtlich gesicherte Aufgabenteilung sowie die politische Kontrolle und Koordination militärischer Instanzen abzudecken.81 Der „totale“ Gesichtspunkt sollte institutionell in der Etablierung eines nationalen Verteidigungsrats aufgehoben werden, dem die Aufgabe zukam, „schon im Frieden alle Vorbereitungen einschließlich Rüstung, Wehrhilfen, zivile und psychologische Verteidigung als Gesamtplanung“ zu erfassen und durchzuführen.82 Zusammengesetzt aus Vertretern aller Ressortministerien sowie zivilen und militärischen Fachleuten sollte er als Kabinettsausschuss mit angegliedertem Forschungsrat und Studienbureau dem Kanzler unterstellt werden.83

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Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 216–235. Eugen Ott (1889–1977), ein „politischer Soldat“, war als enger Berater von Kurt von Schleicher 1921–1933 im Reichswehrministerium tätig, ab 1931 leitete er die Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium. Nach dem Rücktritt Schleichers 1934 wurde er zum Militärattaché der Deutschen Botschaft in Tokio, 1938 zum Botschafter ernannt, vgl. Bernd Martin: Ott, Eugen, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin: Duncker & Humblot, 1999, S. 649f. Pfister in: Protokoll der Freiburger Kommissionssitzung am 18./19.12.1954, S. 3, vgl. Huber, Ott, Dönhoff und Foertsch in: 1. ausführliches Protokoll Vormittagssitzung 18.12.1954, S. 5. Dönhoff schlug als Alternative für „totalen Staat“ den Clausewitz umkehrenden Ausdruck „Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln“ vor, in: 1. Ausführliches Protokoll Vormittagssitzung 18.12.1954, S. 5. Hier wurde die Stellung der verschiedenen, legislativen und exekutiven Bundesorgane zu den Streitkräften diskutiert, vgl. ebd., S. 8. Hervorzuheben ist dabei die starke Stellung, die dem Bundespräsidenten zugesprochen wurde, siehe 2. Ausführliches Protokoll Nachmittagssitzung 18.12.1954, S. 1 u. 3, Ausführliches Protokoll Vormittagssitzung 19.12.1954, S. 16–18. Auf die Funktionen der einzelnen Organe des Wehrministeriums, die Positionen von Generalinspekteur und Chef des Generalstabs, die Frage der Soldatengewerkschaften und der Wehrdienstverweigerung, die in dieser Sitzung besprochen wurden, kann hier nicht eingegangen werden. Pfister in: Protokoll der Freiburger Kommissionssitzung am 18./19.12.1954, S. 6. Zu dem 1958 von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß eingerichteten Referat für Psychologische Kampfführung vgl. Dirk Drews: Die Psychologische Kampfführung/Psychologische Verteidigung der Bundeswehr – eine erziehungswissenschaftliche und publizistikwissenschaftliche Untersuchung, Mainz: Univ. Diss., 2006 (http://ubm.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2006/981/pdf/diss.pdf, Zugriff am 01.03.2013). Zu Propagandageschichte und Propagandatheorie sowie zum Verhältnis von Erziehung und Propaganda vgl. ebd., S. 14–46 u. S. 47–80.

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An diesen Planungen für die neue Wehrverfassung zeigt sich, dass geistige Rüstung auch im zivilen Bereich vorgesehen war und institutionalisiert werden sollte. Auch „Wehrpropaganda“ sprengte diesen Rahmen nicht, sie sollte durch eine permanente, vom Staat unterstützte „Reklamefirma“ in Zusammenarbeit von Zivilisten und Militärs durchgeführt werden.84 Hinsichtlich der Unterrichtung von „Wehrgesinnung“ an Schulen einigte man sich darauf, den Begriff Wehrgesinnung durch „staatsbürgerliche Gesinnung“ zu ersetzen.85 Auch Bergstraesser sah den Terminus Wehrgesinnung „gern vermieden, weil es naheliegt, an Indoktrination zu denken. Das ist nicht nötig. Wir erwarten den Einsatz der Persönlichkeit.“86 Damit wurde auch im zivilen Bereich zwischen dogmatisch-doktrinären, Gehorsam befehlenden und humanistisch-gebildeten, an die räsonierende Einsicht appellierenden Techniken geistiger Rüstung unterschieden. Die subtilere und geistesaristokratischere Variante, d. h. Wehrgesinnung als politische Bildung wurde bevorzugt. Im Zusammenhang mit verteidigungspolitischen Zielsetzungen sollte die Erziehung zu mündigen Bürgern als eine demokratietaugliche, verwissenschaftlichte Form öffentlicher Meinungsbildung bewusst für Verteidigungszwecke eingesetzt werden. Politische Bildung, so zeigte sich in der zweiten Besprechung,87 wurde als eine grundlegende Maßnahme begriffen, die die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft gewährleisten sollte: „Die Einordnung in die Gesellschaft müsste bereits im vormilitärischen Raum geleistet werden,“88 die Schaffung geeigneter Voraussetzungen sei also eine zivile Aufgabe, die „nicht vom Soldat, sondern gerade vom Nichtsoldat“ auszugehen habe.89 Über den Inhalt der gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Integration der Streitkräfte waren die Anwesenden ebenso einig wie über deren derzeitigen Mangel: in Deutschland und in Frankreich sei „das Volksbewusstsein abhanden“ gekommen. Eine Lücke sei „bei der Jugend vielfach an Stelle des Begriffes der Volkszusammengehörigkeit“ getre-

84 „All round“ in: 4. Ausführliches Protokoll Nachmittagssitzung 19.12.1954, S. 2. 85 Ott in: ebd., S. 3. Diese Sprachregelung fand bei Dönhoff Zustimmung, weil ihr der Begriff der Wehrgesinnung „objektiv zu weit“ ging, ebenso bei Jandtke, weil er der Ansicht war, dass „wehrbürgerliche Erziehung […] mit dem fachlichen Unterricht verschmolzen werden“ müsse. Auch Pfister stimmte zu, weil er „Wehrgesinnung oder Verteidigungswillen“ als „selbstverständlichen Bestandteil staatsbürgerlichen Denkens und Verhaltens“ auffasste: „Simples Problem: wir können nur Wehrwillige bekommen, wenn sie als deutsche Staatsbürger verpflichtet werden, das deutsche Vaterland zu verteidigen, sie müßten also demokratische Staatsbürger sein.“, ebd., S. 2–4. 86 Gleichzeitig hob er hervor, dass „eine Wehrmacht gewisse Forderungen an das Erziehungswesen stellen können müsse“, was aus der Begrifflichkeit der Staatsbürgerkunde nicht hervorgehe. Eschenburg stimmte daraufhin „mit Professor Brs. Vorschlag überein, daß man Staatsb. und Wehrkunde haben“ müsse, ebd., S. 4. 87 Bei dieser Sitzung fiel Jandtke aus und Dönhoff war in die USA gereist. Zu dieser Sitzung gibt es drei Protokolle: 1. ausführliches Protokoll vom 06./07.03.1955; 2. überarbeitetes Protokoll vom 06./07.03.1955; 3. Kurzprotokoll vom 06./07.03.1955, alle in: UAF, B 204/220. 88 Pfister in: 2. überarbeitetes Protokoll vom 06./07.03.1955, S. 5. 89 Foertsch, ebd.

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ten90 und auch „die Allgemeinheit überhaupt hat kein Verständnis mehr für die Pflichten gegenüber dem Ganzen.“91 Die supranationalen Zusammenschlüsse der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der NATO, die „der realen Erfahrungsgrundlage“ entbehrten, würden in der Öffentlichkeit mit Krieg assoziiert und abgelehnt. Am „‚Übernationalen‘ allein“ könne kein „innerer Halt“ gefunden werden92 und die „Grundlagen für die Einsicht, daß man sich als Deutscher in der Weltpolitik einsetzen muss“, fehlten.93 Als innenpolitischer Indikator wurde eine „grenzenlose Atomisierung“ ins Feld geführt. Die „Verwirtschaftlichung des Staates“ im 19. und 20. Jahrhundert habe das „Dienstverhältnis“ der Zivilbevölkerung zum Staat untergraben und das Gefühl bestärkt, „kein Vaterland mehr zu haben. Die Folge ist ein Haufen selbstsüchtiger Leute.“94 Kurzum mangele es an Patriotismus: „Somit ist die Schaffung oder Wiederbelebung eines neuen Staats- und Nationalbewusstseins dringendes Erfordernis.“95 Als notwendige Voraussetzung dafür müsse „staatsbürgerliche Bildung vernünftiger und in grösserem Ausmass als bisher in die Erziehung und den Unterricht“ eingebaut werden.96 Günter C. Behrmanns Einschätzung, dass Bergstraessers Verständnis politischer Bildung „nicht auf einen Staat, seine Staatenordnung, -idee oder -ideologie, nicht auf die Nation und deren Einheit, auf einen Volksgeist oder eine Nationalkultur und auch nicht auf Tugenden, auf Vaterlandsliebe, Uneigennützigkeit, Opferbereitschaft oder Partnerschaft“97 abzielten, muss vor diesem Hintergrund relativiert werden. Bergstraesser entwickelte sich, wie Behrmann treffend hervorhebt, zu einem der wichtigsten Protagonisten in der Verbreitung und Durchsetzung einer „transatlantischen politischen Kultur“.98 Damit vertrat Bergstraesser aber weder eine kosmopolitische Form politischer Bildung, noch vernachlässigte er nationale und europäische bzw. „abendländische“ Traditionen. Das Spezifische an Bergstraessers Denk- und Arbeitsweise macht vielmehr seine Anpassungs- und 90 91 92 93 94

95 96 97 98

Bergstraesser, in: 2. überarbeitetes Protokoll vom 06./07.03.1955, S. 6. Foertsch, ebd., S. 7. Huber, ebd., S. 7. Bergstraesser, ebd., S. 6 [H. i. Org.]. Bergstraesser, ebd., S. 10 [H. i. Org.]. Selbst das „Wirtschaftswunder im Gefolge der freien Marktwirtschaft“ entbehre der Überzeugungskraft, da der einzelne „Deutsche“ dieses „als sein eigenes Verdienst, nicht als das des Staates“ betrachte. Gewerkschaften und Unternehmer verträten ihre Interessen „mit törichter Ausschließlichkeit“, Foertsch, ebd., S. 7. Die Friedensbewegung begreife Frieden aus utopischen Zielen und nicht aus „innenpolitischen Notwendigkeiten“ heraus. Die katholische Sozialphilosophie kennzeichne ein „provinzielles Verhalten in klerikalen Kreisen“ statt „das Christliche gegenüber dem rein konfessionellen Element hervorzuheben.“ Die evangelische Theologie Karl Barths bereite schließlich die „grössten Schwierigkeiten“, da sie „verstärkend auf die Anziehungskräfte des Ostens“ wirke, Bergstraesser, ebd., S. 9. Huber, ebd., S. 7. Bergstraesser, ebd., S. 7. Behrmann: Mündige Bürger, S. 36. Günter C. Behrmann: Amerikanische Einflüsse auf den politisch-kulturellen Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Kremp (Hg.): Gibt es eine atlantische politische Kultur?, Trier: Wiss. Verlag Trier, 1996, S. 26–45.

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Integrationsfähigkeit aus, die Überwölbung nationaler durch internationale Interessen vor dem Hintergrund der „Weltkonstellation“. So trieb er ein föderalistisches Modell voran, in dem er die „Unterordnung der deutschen Außenpolitik unter die Erfordernisse der Atlantischen Gemeinschaft der Nationen“ als ebenso notwendig wie vorteilhaft für die BRD begriff.99 Dies geschah allein schon vor dem Hintergrund, dass ein bundesdeutscher Verteidigungsbeitrag nur in dem größeren Rahmen der NATO möglich und erfolgversprechend war. Die politische Erziehung müsse auf ein „weltpolitisches Bewusstsein des deutschen Volkes“ abzielen und daraus das „Zugehörigkeitsgefühl zum Volk in einer Katastrophenlage“ ableiten.100 Was auf nationalem Niveau in der Freiburger Arbeitsgemeinschaft als fehlendes Nationalgefühl der bundesdeutschen Öffentlichkeit ausgemacht worden war, wurde auf internationalem Level als mangelnde „Bereitschaft für die Eingliederung des Volkes in die NATO“ moniert. Grundlegende Voraussetzung für die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft sei die Identifikation der Staatsbürger mit dem deutschen Nationalstaat im Rahmen der NATO. Um die BRD in das atlantische Bündnis und die „Verteidigung des Westens“ einzubinden, sollte in der Bevölkerung ein Zugehörigkeitsbewusstsein entwickelt werden. Das damit verfolgte Ziel, „die Föderation zu einer echten Gemeinschaft zu bringen“101 entsprach dem in Art. 2 des NATO-Programms festgehaltenen Streben nach einer über militärische und wirtschaftliche Kooperation hinausgehenden „geistigen und sittlichen Fundierung der Zusammenarbeit der Völker“.102 Zu deren Umsetzung wurde vorgesehen, ein eigenes Gutachten sowie eine Einzelstudie zur Bundesrepublik als „nationaler Zweig“ dieses Gutachtens zu verfassen.103 Für das NATOGutachten entwarf Pfister im Rahmen der Freiburger Arbeitsgemeinschaft einen ersten Bericht, den er auch an den NATO-Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, Alfred M. Gruenther, weiterleitete.104 Darin verwies er auf den militärischen Nutzen der kulturellen Zusammenarbeit der NATO-Staaten, deren Aufgabe er mit der Etablierung einer gemeinsamen „geistigen Infrastruktur“ zur planmäßigen Verbreitung und Konsolidierung westlicher Werte- und Ordnungsvorstellungen umriss.105 Angesichts neuer Formen psychologischer Kriegführung reichten Wehr- und Gegenpropaganda nicht mehr aus, als zielführender, effizienter und demokratischer erweise sich die strategische Förderung einer kollektiven Identität, die „den Staatsbuergern und den Soldaten der NATO-Nationen die ge99 Arnold Bergstraesser: Eröffnungsrede, in: Ders. (Hg.): Das Atlantische Bündnis. Bericht über das Internationale Seminar an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im April 1960, Freiburg i. Br.: Rombach, 1960, S. 12–23, hier S. 23. 100 Bergstraesser in: 2. überarbeitetes Protokoll vom 06./07.03.1955, S. 8. 101 Ders., ebd., S. 4. 102 Pfister, ebd., S. 4. 103 Foertsch, ebd., S. 6; Bergstraesser, ebd., S. 4f. u. S. 11. 104 Vgl. ebd., S. 3 u. Kurzprotokoll vom 06./07.03.1955, S. 3; siehe Anregungen der Sitzung vom 06./07.03.1955, in: UAF, B 204/221. 105 Pfister: NATO und Koexistenz. Exposé vom 31.05.1955, Paris, in: UAF, B 204/221. Die nachfolgenden Zitate ebd.

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meinsame militaerische und moralische Verteidigung mehr und mehr zur lebendigen Selbstverstaendlichkeit“ werden lasse. Was die praktische Umsetzung anging, die der deutschen Delegation eine prominente Rolle zuwies, regte er an, die Führungseliten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Religionsgemeinschaften und Streitkräften aller NATOStaaten zu aktivieren und zusammenzubringen. Die Koordination von Führungsgruppen war auf nationaler Ebene schon in den Besprechungen der Freiburger Arbeitsgemeinschaft als wichtige Aufgabe ausgemacht worden. Partikulare Gruppeninteressen, d. h. Gewerkschaften, Arbeitgeber, konfessionelle Gruppen, Vertreter der Wirtschaft und der Jugend sollten durch gegenseitige Abstimmung, Teilhabe und geschickte Lenkung auf das gemeinsame politische Projekt eines deutschen und darüber hinausgehenden europäisch-atlantischen Gemeinwesens ausgerichtet werden.106 Diese konsensuale geistig-moralische Identifizierung sollte den Willen zur Verteidigung des eigenen Systems hervorbringen und stärken, die Notwendigkeit von Streitkräften legitimieren und die Überlegenheit im psychologischen Kampf der Systeme gewährleisten. Die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft sah somit die Demokratisierung der Streitkräfte ebenso vor wie die geistige Rüstung breiter Bevölkerungsschichten. Veröffentlicht wurde schließlich nur ein limitiertes, von Bergstraesser, Eschenburg, Foertsch und Pfister überarbeitetes Gutachten.107 Nachdem im Vorfeld das Einverständnis des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und Theodor Blanks eingeholt worden war,108 verschickten Bergstraesser und Eschenburg etwa hundert Sonderdrucke an hochrangige Politiker und Militärs sowie verschiedene Tages- und Wochenzeitungen.109 Die in dem Expertengremium getroffene Entscheidung, das Gutachten allein von Bergstraesser und Eschenburg übergeben zu lassen, da Gutachten von „Professorengremien“ weniger Misstrauen in der Öffentlichkeit erregten und „immer stark von den zuständigen Stellen beachtet, sorgfäl-

106 Bergstraesser, Ott, Huber und Foertsch in: 2. überarbeitetes Protokoll vom 06./07.03.1955, S. 7–9. 107 Vgl. die Korrekturen und Anmerkungen in: UAF, B 204/222. 108 Das Memorandum wurde allein von Bergstraesser und Eschenburg unterzeichnet, auf die „Mitarbeit mehrerer Sachkundiger“ wurde nur verwiesen, vgl. Seminar für Wissenschaftliche Politik an den Universitäten Freiburg und Tübingen Prof. Dr. Arnold Bergsträsser und Prof. Dr. Theodor Eschenburg an den Bundespräsidenten Prof. Dr. Theodor Heuss am 02.05.1955, in: UAF, B 204/223. 109 Vgl. die Auflistung der Adressaten sowie Korrespondenzen und Zeitungsartikel in: UAF, B 204/223. Die Süddeutsche Zeitung, die WELT, die Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, die FAZ und die Badische Zeitung wurden um Besprechungen gebeten, vgl. Ganz ohne Auftrag, in: Süddeutsche Zeitung vom 06.07.1955; Das Problem der Eingliederung des neuen deutschen Wehrwesens in den Staat. Memorandum der Professoren Bergsträsser und Eschenburg, in: Badische Nachrichten vom 19.07.1955; Erstes Wehrgesetz unter Zeitdruck. Auch Bergsträßer und Eschenburg schlagen einen Verteidigungsrat vor, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung vom 06.07.1955; vgl. die Zusammenfassung des Gutachtens, in: Die WELT vom 06.07.1955.

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tig studiert und u. U. berücksichtigt“ würden,110 ging auf: „Ganz ohne Auftrag“ titelte die Süddeutsche Zeitung am 6. Juli 1955 und begrüßte, dass zwei Professoren, denen das Beiwort politisch im besten Sinne zukommt, Theodor Eschenburg in Tübingen und Arnold Bergstraesser in Freiburg, aus eigener Initiative sozusagen zu einer Königlichen Kommission zu zweit zusammengetreten sind und den Bonner Spitzen ein Memorandum über die Eingliederung der Streitkräfte übergeben haben.111

Das Memorandum, mitnichten zu zweit und ohne Auftrag entstanden, beschränkte sich auf Vorschläge für eine neue Wehrverfassung. Es ruhte auf der grundlegenden Prämisse der „Totalmobilisation von Staat und Gesellschaft“112 und empfahl für die zivile Verteidigungsplanung die Etablierung eines nationalen Verteidigungsrats. Die viel weitergehenden Ergebnisse der Arbeitsgemeinschaft, die vorsahen, Demokratie unter der Vorgabe der „Totalmobilisation“ durch die eng miteinander verbundenen Stränge der politischen Bildung in Gesellschaft und Militär, der Öffentlichkeitsarbeit und der wissenschaftlichen Beratungstätigkeit und Koordination von Führungsgruppen zu realisieren, wurden nicht publiziert. Diese Tätigkeitsbereiche avancierten zu den wichtigsten Arbeitsgebieten Bergstraessers in den späten 1950er Jahren. Sie waren unerlässlich für den Aufstieg der Politikwissenschaft, deren Studium sukzessive mit erfolgreichen Berufsaussichten in Lehramt, Politikberatung und Journalistik verknüpft werden konnte.113 Anhand der Siegburger Konferenzen und der Freiburger Arbeitsgemeinschaft wurde herausgestellt, dass ein grundlegender Zusammenhang zwischen politischer Bildung und geistiger Rüstung bestand und die kulturelle oder geistige Zusammenarbeit der NATO-Staaten nicht von militärischen Zielsetzungen getrennt, sondern als deren integraler Bestandteil konzipiert wurde. Zwischen militärischen Anforderungen an und zivilen Beweggründen und Planungen für die politische Bildung herrschten grundsätzliche Übereinstimmungen hinsichtlich ihrer Funktion als geistiger Rüstung. In deren praktischer Umsetzung in der Folgezeit unterschieden sich die Strategien jedoch. Während in den Streitkräften geistige Rüstung und sukzessive auch psychologische Kriegführung zu Ausbildungserfordernissen aufstiegen, wurde der übergreifende Zusammenhang zwischen geistiger Rüstung und politischer Bildung im zivilen Bereich nicht expliziert. In informellen, elitären Zirkeln wurde die kulturelle Kooperation der NATO-Staaten ebenso wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit militärischen Zielsetzungen im OstWest-Konflikt verknüpft, in der breiten Öffentlichkeit hingegen die verschiedenen Dimensionen des NATO-Bündnisses als getrennte Bereiche vorgestellt. Anhand einiger exemplarischer Eckpunkte der Aktivitäten Bergstraessers wird im Folgenden ein Einblick in die Umsetzungsformen der politischen Bildung von Staatsbür110 Pfister in: Protokoll der Freiburger Kommissionssitzung am 18./19.12.1954, S. 1; vgl. Huber und Dönhoff in: 1. Ausführliches Protokoll Vormittagssitzung 18.12.1954, S. 10. 111 Ganz ohne Auftrag, in: Süddeutsche Zeitung vom 06.07.1955; ähnlich die anderen Zeitungsartikel in: UAF, B 204/223. 112 Memorandum über die Eingliederung der Streitkräfte in das Staatswesen der Bundesrepublik, in: UAF, B 204/222. 113 Bergstraesser an Erna Meyringer am 17.03.1958, in: UAF, B 204/11.

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gern in Zivil und in Uniform als geistiger Rüstung im Ost-West-Konflikt gegeben. Daran schließt sich ein Ausblick auf Bergstraessers Öffentlichkeitsarbeit, wissenschaftliche Beratungstätigkeit und Führungsgruppenkoordination an, die darauf ausgerichtet waren, mit Maßnahmen im Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftssektor zur Stärkung des atlantischen Bündnisses beizutragen. Politische Bildung und geistige Rüstung in der Umsetzung 1956–1964 Politische Bildung in Gesellschaft und Militär Am 21. Juli 1956 wurde in der BRD die Wehrpflicht eingeführt. Weniger als einen Monat später veröffentlichte der Deutsche Ausschuss für Erziehungs- und Bildungswesen seine Empfehlungen für das Erziehungs- und Bildungswesen aus Anlaß des Aufbaues der Bundeswehr, die verbindlich für die politische Bildung in Streitkräften und zivilen (Aus-)Bildungsinstitutionen waren. Darin unterschied der Ausschuss strikt zwischen schulischer Bildung junger Heranwachsender und Truppenerziehung von Erwachsenen.114 Er warnte „vor jeder Art ‚wehrgeistiger Erziehung‘ oder ‚vormilitärischer Ausbildung‘“ der noch nicht wehrdienstfähigen Jugend. Da Frauen vom Wehrdienst ausgeschlossen waren und seit 1949 die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Art. 4.3 des Grundgesetzes verankert war, hätte sich die Institutionalisierung der „Wehrkunde“ als allgemeines Unterrichtsfach bei gleichzeitiger Durchsetzung des gymnasialen Koedukationsprinzips in den 1950er Jahren auch als äußerst problematisch erwiesen. Der Beitrag der Schulbildung und Jugendarbeit für die Streitkräfte betraf ausschließlich die politische Bildung, die als grundlegend für „Führungsaufgaben auch auf militärischem Gebiet“ konzipiert und deren breite Institutionalisierung befürwortet wurde. In Bezug auf die Hochschul- und Erwachsenenbildung wurden keine Entscheidungen getroffen, aber Austausch und Begegnung auf geistiger, geselliger und politischer Ebene zwischen Soldaten und Zivilisten angeregt. Hinsichtlich der Truppenerziehung lobte der Ausschuss das Reformprogramm der „Inneren Führung“ und betonte die Stellung des politischen Unterrichts, der gewährleisten sollte, dass die soldatische Erziehung „nicht in Widerspruch zu Geist und Form der freiheitlichen Einrichtungen“ gerate.115 Entsprechend lautete der allgemeine Tenor unter den Protagonisten der politischen Bildung in den folgenden Jahren, die „wehrpsychologische Aufmöbelung und doktrinäre Schulung“ zugunsten einer soliden und umfassenden politischen 114 Vgl. die Empfehlung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus Anlaß des Aufbaues der Bundeswehr vom 05.07.1956. Die nachfolgenden Zitate ebd.; siehe weiterhin das vorhergehende Gutachten vom 22.01.1955, Anlage 1 und 2, in: Bundesminister für Verteidigung Strauß (Hg.): Leitsätze für die Erziehung des Soldaten, Zentrale Dienstvorschrift 11/1 (1957), in: UAF, B 204/228. 115 Vgl. weiterführend Henning Schierholz: Wehrbereitschaft – Ziel politischer Erziehung? Zur Analyse des Einflusses der Bundeswehr auf das Curriculum des politischen Unterrichts, Heidelberg: Quelle & Meyer, 1972.

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Bildung explizit zu vermeiden.116 Die dadurch gewonnene, fundierte „geistige Sicherheit“ erkannte man als „zuverlässige Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Osten“ in einer wehrhaften Demokratie. Der Zusammenhang von politischer Bildung und geistiger Rüstung in der BRD der 1950er Jahre beschreibt so ein komplexes Feld, in dem politische Bildung strikt von Militarismus sowie Indoktrinations- und Propagandastrategien der DDR und der Sowjetunion abgegrenzt wurde und gleichzeitig den Erfordernissen nach geistiger Rüstung im Dienste der Westanbindung, der NATO und des Antikommunismus entsprechen sollte. Die militärstrategische Funktion politischer Bildung als geistiger Rüstung im ideologischen Wettbewerb der Systeme, Einstellungen zu vermitteln, die sich stabilisierend auf das eigene und destabilisierend auf das gegnerische System auswirkten, wurde damit verschleiert. Die Wehrkunde fand auch in den von Bergstraesser und Eschenburg ausgearbeiteten Lehrplanentwürfen für den Gemeinschaftskundeunterricht in BadenWürttemberg keinen Eingang, gleiches galt für Bergstraessers Aktivitäten in der Jugend- und Schulbildung. Diese beschränkten sich darauf, Schüler und Schülerinnen über „Deutschland in der Weltpolitik der Gegenwart und weltpolitische Institutionen“ aufzuklären.117 Demgegenüber nahm das Thema Streitkräfte in der Erwachsenenbildung einen nicht geringfügigen Raum ein.118 An der Ausbildung von „Bürgern in Uniform“ wirkte Bergstraesser im Beirat Innere Führung mit und stärkte darin die Kooperation zwischen Universität und Bundeswehr. Dieses den Verteidigungsminister beratende Gremium konstituierte sich in Nachfolge der Siegburger Konferenzen am 27. Juni 1958.119 Es setzte sich aus Personen zusammen, die aufgrund ihrer „beruflichen Tätigkeit und ihrer Stellung im öffentlichen Leben besondere Erfahrung in der Erziehung und Menschen116 Friedrich Minssen: Rat für die politische Bildung, in: Gesellschaft, Staat, Erziehung 6 (1958), S. 243–245, hier S. 244, in: UAF, B 204/30. 117 Unter dieser Lehreinheit war unter anderem die Information über die „besondere Lage Deutschlands zwischen den beiden konkurrierenden Macht- und Gesellschaftssystemen der heutigen Welt“, über „Diplomatie, Staatsverträge, regionale Sicherheitsabkommen (z. B. NATO, Ostpaktsystem)“, „Krieg, Kriegserklärung, Kriegswirtschaft, Friedensschlüsse, Besetzung“ vorgesehen. Vgl. Arnold Bergstraesser/Theodor Eschenburg (1954): Stellungnahme zu den Lehrplänen für die Gymnasien Baden-Württembergs, in: UAF, B 204/252. 118 Vgl. etwa Arnold Bergstraesser: Vorwort, in: Ders./Deutscher Bund für Bürgerrechte (Hg.): Von den Grundrechten des Soldaten. Eine Arbeitstagung des Deutschen Bundes für Bürgerrechte, Freiburg, München: Isar, 1957, S. 7f.; Ders.: Hochschule und Landesverteidigung. Einführung von Prof. Dr. Arnold Bergstraesser, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hg.): Hochschule und Landesverteidigung. Gemeinsame Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg und der Ev. Akademie Bad Boll vom 29.04.–01.05.963 in Bad Boll, Bad Boll: Evangelische Akademie, 1963, S. 5. 119 Vgl. Der Bundesminister für Verteidigung. Fü B I 4 – Az.: 35 – 10. Erlaß über die Bildung eines Beirates für Fragen der inneren Führung vom 30.06.1958, in: Ministerialblatt des BMVtg. Nr. 23 vom 01.08.1958; siehe Protokoll der 1. Sitzung am 27.06.1958. Bergstraesser wurde am 09.06.1958 von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß als Mitglied berufen. Vgl. Der Bundesminister für Verteidigung an Bergstraesser am 09.0.6.1958; Bergstraesser an den Bundesminister für Verteidigung am 16.06.1958. Alle Unterlagen und Korrespondenzen in: UAF, B 204/228.

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führung besitzen“ und kooperierte eng mit dem Führungsstab der Bundeswehr für Innere Führung:120 Die Zusammenarbeit zwischen Bildungs- und Erziehungswesen, Militär und Politik wurde dadurch institutionalisiert. Der Aufgabenbereich des Gremiums umfasste die beratende Begleitung politischer Bildungsmaßnahmen in den Streitkräften und deren Koordination mit zivilen Institutionen der politischen Bildung und Wissenschaft.121 Zu den Tätigkeiten des Beirats gehörten unter anderem die Ausarbeitung von Gutachten,122 die Fortsetzung der Handbücher „Schicksalsfragen der Gegenwart“,123 Truppenbesuche, die Beratung der Offiziersausbildung124 sowie die wissenschaftliche Begleitung der Information für die Truppe, des Publikationsorgans der „Inneren Führung“, das den Soldaten das „geistige Rüstzeug“ liefern sollte.125 Psychologische Kriegführung, das zeigt sich in der Information für die Truppe ebenso wie in den Lehrplänen für die Offiziersausbildung der neuetablierten Schule für Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz-Pfaffendorf, war selbstverständlicher Teil der „Inneren Führung“ der Bundeswehr und wurde von wissenschaftlicher Seite mit betreut.126 Bergstraesser lehnte die „Einbeziehung der psychologischen Kriegsführung in den staatsbürgerlichen Unterricht“ nicht ab, wies aber in der Sitzung des Beirats am 5. März 1959 darauf hin, dass sie „den Intentionen der politischen Bildung nicht widersprechen“ dürfe.127 Kriegsstrategische, politische und wissenschaft120 Vgl. die Mitgliederliste und Geschäftsordnung, in: ebd.; Niederschrift über die 4. Sitzung des Beirates für Fragen der Innern Führung am 05.03.1959, in: UAF, B 204/13. 121 Vgl. zu den militärischen Forderungen und den Unterstützungsangeboten eindrücklich die Abschrift des Briefes von Dr. Eberhard Wagemann, Oberstleutnant i.G. im BMVtdg. an den Sprecher des Beirats Innere Führung Prof. Hans Bohnenkamp am 20.06.1959, in: ebd. 122 Das Gutachten über Tradition der Streitkräfte nahm einen besonders hohen Stellenwert ein, vgl. Niederschrift über die 4. Sitzung des Beirates für Fragen der Innern Führung am 05.03.1959, in: ebd.; Donald Abenheim: Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München: Oldenbourg, 1989. 123 Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung am 10.10.1958. Bericht der Kommission 3 über „Schicksalsfragen“, in: UAF, B 204/13. 124 Zu Bergstraessers Truppenbesuch in Ellwangen vgl. Niederschrift über die 4. Sitzung des Beirates für Fragen der Innern Führung am 05.03.1959, in: UAF, B 204/13. Zu Bergstraessers Beratung der Offiziersschule vgl. die Korrespondenz mit Oberst Weber, Schule der Bundeswehr für Innere Führung Koblenz-Pfaffendorf, vom 15.09. und 25.09.1958, in: UAF, B 204/228. 125 Truppen-Information. Kurzfassung des Referats Oberst Graf Baudissin auf der 1. Sitzung des Beirats Innere Führung am 27.06.1958; vgl. Niederschrift der Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung am 10.10.1958. 126 Vgl. Niederschrift der konstituierenden Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung am 27.06.1958, S. 3; BmVtdg. i.A. Heusinger, begl.: Herbst., Fü B I – Az.: 35-10, Bonn am 18.07.1958; Bericht der Kommission 1 über Information für die Truppe; Stellungnahme des Beirats zu der politischen Information der Truppe. Entwurf vom 25.11.1958; Niederschrift der Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung am 10.10.1958; vgl. die Lehrpläne. Alle Unterlagen in UAF, B 204/228. Siehe auch Nägler: Personelle Rüstung u. Grimm: Geistige Rüstung. 127 Niederschrift über die 4. Sitzung des Beirates für Fragen der Inneren Führung im Bundesministerium für Verteidigung in Bonn am 05.03.1959, in: UAF, B 204/13.

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liche Bildungsziele sollten besser aufeinander abgestimmt werden. Er schlug eine verstärkte Berücksichtigung des von zivilen Stellen erarbeiteten Grundkanons verbindlicher Unterrichtsstoffe und eine intensivere personelle Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Stellen vor. Je ein Offizier der Unterabteilung Innere Führung und der Koblenzer Schule sollten bei der Vereinigung für politische Wissenschaften, dem Verband deutscher Politikwissenschaftler und bei der Arbeitsgemeinschaft Der Bürger im Staat, der Bergstraesser seit 1956 vorsaß, beteiligt werden. Dr. Hund, Redakteur der Information für die Truppe, und Dr. Walz, Dozent an der Schule für Innere Führung in Koblenz, wurden für diese Zusammenarbeit bestimmt.128 Im Gegenzug sah Bergstraesser vor, einen seiner Mitarbeiter für einige Wochen an die Schule für Innere Führung nach Koblenz „abzuordnen“.129 Diese Kooperationsverhältnisse fanden auch an der Universität Freiburg ihre Umsetzung. Im Rahmen des colloquium politicum, des von Bergstraesser geleiteten politischen Arbeitskreises des studium generale, fand 1959 ein Wochenendseminar zum Thema „Europäische Verteidigung“ statt. Hier referierten General a.D. Fridolin von Senger und Etterlin, Mitglied des Beirats Innere Führung, über „Die Verteidigung des Westens im Atomzeitalter“, ein hoher amerikanischer Offizier aus dem NATO-Hauptquartier über die politischen Gesichtspunkte des Zusammenwirkens der NATO-Mächte sowie Major i.G. Dr. Trentsch vom Bundesministerium für Verteidigung zum Thema „Psychologische Verteidigung“.130 Öffentlichkeitsarbeit, wissenschaftliche Beratung und Koordination von Führungsgruppen Für die Popularisierung der NATO in der Öffentlichkeit, die Konsolidierung der atlantischen Gemeinschaft und die Intensivierung der internationalen politischkulturellen Zusammenarbeit setzte sich Bergstraesser in der 1956 gegründeten Deutschen Atlantischen Gesellschaft (DAG) ein.131 Deren Aufgabe bestand in der 128 Heinz Hund hatte bei Bergstraessers Lehrer Alfred Weber und bei seinen Freunden, den Politikwissenschaftlern Alexander Rüstow und Carl Joachim Friedrich studiert und gearbeitet. Walz hatte bei Bergstraesser promoviert, vgl. v. Wangenheim, BMVtg., an Bergstraesser 13.03.1959, betr. Fü B I – Az.: 35 – 10, in: UAF, B 204/13. 129 Niederschrift 4. Sitzung des Beirates für Fragen der Innern Führung am 05.03.1959, in: UAF, B 204/13. 130 Vgl. Korrespondenz Bergstraesser und Staatssekretär Dr. Rust, BMVtg., am 14.09.1958 und 28.10.1958, in: UAF, B 204/228. Im Wintersemester 1955/56 hatte schon im Rahmen des colloquium policum eine Arbeitsgemeinschaft zu „Wehrfragen. Wehrmacht und Staat. Wiederbewaffnung“ stattgefunden, im Sommersemester 1956 wurde Franz Josef Strauß eingeladen, vgl. UAF, B 204/113. Bei den Anfragen um Referenten wies Bergstraesser ausdrücklich darauf hin, dass es sich um einen kleinen und sehr gut ausgesuchten Kreis an Zuhörern handele und um keine öffentliche Veranstaltung, vgl. Bergstraesser an Dr. Will, BMVtdg., am 09.08.1955, in: UAF, B 204/222. 131 Bei der DAG handelt es sich um die deutsche Tochterorganisation der Atlantic Treaty Association (ATA). Zum Selbstverständnis der DAG vgl. Die Deutsche Atlantische Gesellschaft.

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Werbung für die europäisch-atlantische Gemeinschaft; sie verfolgte den Zweck, die atlantische Gemeinschaft „in kultureller, wirtschaftlicher und allgemeinpolitischer Beziehung“ zu festigen.132 Als Mitglied des Gründungs- und Hauptausschusses beteiligte sich Bergstraesser unter anderem durch einen Vortrag zur „NATO in kultureller Sicht“133 sowie als beobachtender Gutachter einer Internationalen Konferenz der Erziehungsbehörden der NATO-Mitgliedstaaten, die „Möglichkeiten der Werbung für den atlantischen Gedanken“ im Schulunterricht entwickelte.134 Das Ziel, die kulturelle Seite des NATO-Bündnisses zu stärken, betonte auch die NATO-Parlamentarierkonferenz in London 1959. Zu diesem Zweck wurde eine Resolution zur Errichtung eines „Studies Centre for the Atlantic Community“ verabschiedet.135 Die Aufgabe dieses atlantischen Forschungsinstituts sollte in der Koordination der „cultural, moral, intellectual and spiritual forces of the Atlantic Community“ liegen. Bergstraesser wurde seit Beginn der Planungen in die Vorbereitung und Organisation zur Implementierung des Instituts einbezogen136 und übertraf darin die hohen Erwartungen, die an seine Hilfe gestellt worden waren.137 Um eine vorläufige Finanzierung des Instituts in Höhe von 1,5 Mio. US-$ zu erreichen138 sowie die erforderliche politische und wissenschaftliche Unterstützung zu sichern, wurde eine breite Fundraising- und Unterstützungskampagne gestartet. Dazu wurden international Sondierungsgespräche mit wichtigen Personen aus Stiftungen, Wirtschafts-, Industrie- und Gewerkschaftsverbänden, Forschungsgesellschaften und Universitäten, Politikern und Nichtregierungsorganisationen

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Ziele, politischer Hintergrund, Tätigkeitsplan. Zum „Informationsmaterial“; siehe u. a. DAG e.V. (Hg.): „Was habe ich als Frau von der NATO? Was ist die NATO? Waschmittel, Säuglingsnahrung oder SICHERHEIT“; vgl. Dies. (Hg.): „Stärke und Einigkeit. Das ist die Lehre von Ungarn und Suez“. Diese und weitere Unterlagen und Korrespondenzen in: UAF, B 204/224. Vgl. Die Deutsche Atlantische Gesellschaft. Ziele, politischer Hintergrund, Tätigkeitsplan, in: ebd. Vgl. Gräfin Finckenstein, DAG, an Bergstraesser am 16.01.1957. Dieser Vortrag hatte, „wie allseits feststellbar war, besonders interessiert und einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen“, Hanno Wendt, DAG, an Bergstraesser am 18.02.1957, in: ebd. Vgl. die Korrespondenz Gräfin Finckenstein, DAG, und Bergstraesser am 19.07.1956, 29.07.1956 u. 03.08.1956, in: UAF, B 204/224; Programm „The Role of the School in the Atlantik Community“ sowie die entwickelten Lehrinhalte und Lehrmittel für die Vermittlung der NATO-Ziele in Schulen, in: ebd. Inwieweit diese in Bergstraessers Arbeit für Schulbildung und UNESCO Eingang fanden, kann an dieser Stelle nicht eruiert werden. „Studies Centre for the Atlantic Institute“, Atlantic Congress, London, Juni 1959, in: UAF, B 204/210. Vgl. James R. Huntley, Deputy Public Affairs Officer, c/o United States Mission to the European communities, an Bergstraesser am 21.08.1959; Ders. an Bergstraesser am 28.08.1959, in: UAF, B 204/220. James R. Huntley verfügte über ausnehmend gute Kontakte zur Ford Foundation. 1957 hatte er die Schrift „Leadership for the Atlantic Community“ verfasst, die die Koordination der Führungseliten als Prioritätsaufgabe der NATO darlegte, vgl. ebd. Vgl. Huntley an Bergstraesser am 15.09.1959 u. Ders. an Bergstraesser vom 28.08.1959, in: ebd. Vgl. Huntley, Rapporteur of Steering Committee: Memorandum, in: ebd.

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geführt. Universitätsrektoren sollten aus Informations- und Legitimationszwecken gewonnen werden.139 Bergstraesser war für die deutsche Beteiligung am Atlantischen Institut verantwortlich. In Personalunion als Universitätsprofessor, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Vorsitzender der Atlantikbrücke e.V. und Mitglied der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und der Europa-Union140 vermittelte er erfolgreich Kontakte zu akademischen, politischen und wirtschaftlichen Führungskreisen. Einen wichtigen Schritt zur Etablierung des Atlantischen Instituts markierte das NATO-Seminar, das am 21.– 26. April 1960 an der Universität Freiburg stattfand.141 1959 war Bergstraesser vom Auswärtigen Amt beauftragt worden, ein internationales Seminar nach Vorbild der 1953 in Princeton und 1956 in Oxford veranstalteten NATO-Seminare zu organisieren.142 Wie Bundesminister von Merkatz in seiner Abschlussrede auf der Konferenz betonte, war dies „the first time in the history of the NATO-Alliance, the first time since the end of the Second World War as a matter of fact, that a conference of this nature has been held on German Territory.“143 Bergstraesser lud dazu die wichtigsten NATO-Vertreter aus Militär, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie Professoren der Universität Freiburg ein. Die Konferenz unter dem programmatischen Titel „The Standpoint of the NATO States towards the Communist Orbit“ gliederte sich in fünf Panels. Diese umfassten die aktuelle Berlinund Deutschlandfrage sowie militärische, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und die „Entwicklungsländer“ betreffenden Dimensionen der europäisch-atlantischen Zusammenarbeit.144 Diese Aufgabenstellungen, die Bergstraesser in seiner Eröffnungsrede skizzierte, reflektierten ebenso wie die personelle Zusammensetzung der Konferenz die Bemühung, die atlantische Gemeinschaft „über das Verteidigungsbündnis hinaus in Richtung auf eine engere politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.“145 Die Grundlage dafür identifizierte Bergstraesser in der gemeinsamen Koordination der NATO-Mitglied139 Huntley an Bergstraesser am 30.12.1959; vgl. Huntley: Memorandum for Professor Arnold Bergstraesser; Subject: Organization of our work in Germany, 20.01.1960, in: UAF, B 204/210. 140 Zu diesen Aktivitäten Bergstraessers in Politikberatung und Koordination von Führungseliten liegen bis auf Eisermanns Studie zur DGAP keine Veröffentlichungen vor, vgl. Daniel Eisermann: Außenpolitik und Strategiediskussion. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955 bis 1972, München: Oldenbourg, 1999. 141 Vgl. den Brief Bergstraessers an Martin Blank am 28.04.1960, in dem er ihn über die Ergebnisse der Gespräche auf der Freiburger Konferenz mit Baron Oppenheim und dem Generalsekretär der NATO Spaak informiert, in: UAF, B 204/211. 142 Vgl. Auswärtiges Amt, v. Trützschler, an Bergstraesser am 03.03.1959; Zusage Bergstraessers an v. Trützschler am 09.03.1959, in: UAF, B 204/24. 143 International Seminar of the University of Freiburg 21st April–26th April, 1960. Adress by Federal Minister Dr. von Merkatz representing the Federal Minister of Foreign Affairs Heinrich von Brentano, in: UAF, B 204/226. 144 Vgl. das Programm „International Seminar of the University of Freiburg. The Standpoint Towards the Communist Orbit“, in: ebd. 145 Vgl. Bergstraesser: Eröffnungsrede, S. 13.

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staaten, zu der das Atlantische Institut forschend und beratend beitragen sollte. Diesem widmete er die Freiburger Konferenz146 und zeichnete den Weg einer westlichen Hegemonie durch politische Bildung in der gesamten Welt vor: Wenn es uns gelingt, von gemeinsamen Beratungen zu einem gemeinsamen Handeln auf dem Feld der kulturellen Zusammenarbeit zu gelangen, dann kann es uns gelingen, unseren Bemühungen um politische Bildung zwingende Kraft und Gemeinsamkeit zu verleihen. Die nordatlantische Gemeinschaft könnte dann eine Bedeutsamkeit erlangen, die weit hinausgeht über die einer Notallianz als Antwort auf die Bedrohung durch die gegenwärtige Weltsituation. Sie stünde dann für ein politisches Ideal, dessen Grundlage die Überzeugung ist, daß die westliche Interpretation menschlicher Existenz und ihrer Kulturwerte Gültigkeit besitzt für die Menschheit als Ganzes.147

Bergstraessers Programm, das vormalige „Entwicklungsland“ BRD mittels politischer Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und der Koordination elitärer Gruppen auf einen westorientiert-atlantischen Kurs zu bringen, sollte nun in andere Länder exportiert werden.148 Der von Bergstraesser bearbeitete Schwerpunkt des Atlantischen Instituts lag auf Entwicklungsländerstudien, die unter dem Titel „The Transmission of Western Values to the Lesser-Developed Countries“ in den Programmentwurf eingingen.149 Bergstraessers Aktivitäten in Universität, Wissenschaft und UNESCO konzentrierten sich in den frühen 1960er Jahren auf diesen Forschungsbereich, der sich in universitären Arbeitskreisen, Seminaren und Vorlesungen ebenso niederschlug wie in der Gründung der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschung, dem heutigen Arnold-Bergstraesser-Institut und der Freiburger Forschungsstelle für Weltzivilisation. Resümee und Fazit Bergstraessers Kooperationsverhältnisse mit der Verteidigungspolitik konnten anhand der Zusammenarbeit mit der Dienstelle Blank und dem Bundesministerium für Verteidigung sowie seines Engagements für die NATO in Planung und Umsetzung rekonstruiert werden. Diese Zusammenarbeit ergab sich vor dem Hintergrund des Problems, keine zehn Jahre nach Kriegsende erneut deutsche Streitkräfte als Teil einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – und später im Rahmen der NATO – aufzubauen. Sowohl innen- wie auch außenpolitisch 146 147 148 149

Vgl. ebd., S. 13f. Ebd., S. 22. Vgl. eindrücklich Bergstraesser: Führung in der modernen Welt. Vgl. den Programmentwurf „Activities of an Atlantic Institute“, Abschnitt U-2. Dieser wurde von Hans Kohn dafür kritisiert, dass er als „neo-colonialism“ interpretiert werden könne, James R. Hunteley an Bergstraesser am 07.02.1960. In dem Prospekt vom Mai 1960 hieß es dann: „What are the mutual interests of the Western countries and the emerging countries? How can we inculcate among the peoples of both an understanding of this close relationship?“, in: The Provisional Committee for the Atlantic Institute (Hg.): The Atlantic Institute, An Outline of Topics for Possible Study by the Atlantic Institute. Alle Unterlagen und Korrespondenzen in: UAF, B 204/210.

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mussten diese Maßnahmen überzeugend legitimiert werden. Um den weitverbreiteten Ängsten vor einer Remilitarisierung Deutschlands entgegenzuwirken, wurde mit dem Konzept der „Inneren Führung“ die Zäsur zur Vergangenheit, zum Nationalsozialismus wie zum „preußischen Militarismus“, in Organisationsstruktur und Ausbildung der Streitkräfte markiert. Zudem sollte sich das neue demokratische System in der Ordnung und Erziehung der Streitkräfte wie der gesamten Gesellschaft niederschlagen, um der Verteidigung gegen den „Bolschewismus“ eine sichere geistige Basis zu verleihen. Dass damit nicht nur ein einseitiger Einfluss politischer Demokratieerziehung auf militärische Wehrerziehung intendiert wurde, sondern die militärische Anforderung einer gesellschaftlichen „Totalmobilisation“ in der Planung der Demokratieerziehung Berücksichtigung fand, wurde in den Sitzungen der Freiburger Arbeitsgemeinschaft deutlich. Die hier entworfene Agenda sah vor dem Hintergrund der „Weltkonstellation“ und der Anforderungen moderner Kriegführung die Zusammenführung militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Interessen vor. Durch die breite Implementierung staatsbürgerlicher Erziehung in Streitkräften und Gesellschaft sowie Öffentlichkeitsarbeit, in der wissenschaftliche Beratungstätigkeit und die Koordination von Führungsgruppen eng verkoppelt waren, sollte eine tragfähige und überzeugte Atlantische Gemeinschaft aufgebaut werden. Die Bildung dieses neuen Grundkonsenses wurde als Voraussetzung für die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft aufgefasst, wie auch als die demokratischen Staaten angemessene Form geistiger Rüstung. Ohne den Zusammenhang zwischen militärischen, politischen, erzieherischen und wissenschaftlichen Interessen transparent zu machen, wurde die politische Bildung zu einem Ort der Vermittlung und Umsetzung dieser Ziele. Die Politikwissenschaft im Rahmen der Universität hatte darin mit ihrem dreifachen Auftrag der wissenschaftlichen Forschung, der Vermittlung von Ausbildung und Bildung einen zentralen Stellenwert. Zu einem wichtigen Akteur in diesem Prozess avancierte Arnold Bergstraesser, der die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesverteidigungsministerium und wissenschaftlichen sowie universitären Institutionen intensivierte. In der Öffentlichkeit verlieh das Renommee als Universitätsprofessor seinen Worten besondere Glaubwürdigkeit, durch seine Netzwerke erhielten sie durchschlagendes Gewicht. So trieb er die Institutionalisierung der politischen Bildung in Universität, Schule sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen effektiv voran und begleitete die Demokratieerziehung der Streitkräfte durch seine Mitarbeit im Beirat Innere Führung. Als Mitglied der Deutschen Atlantischen Gesellschaft warb er für die NATO und setzte sich für die kulturelle Dimension der atlantischen Gemeinschaft ein, die der militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit eine dauerhafte Wertgrundlage verleihen sollte. Um diese Kooperationsverhältnisse international zu stärken und auf die blockfreien Staaten der „3. Welt“ auszudehnen, engagierte er sich für die Etablierung eines Atlantischen Instituts, das wissenschaftsbasierte Problemlösungen und entsprechende Implementierungsstrategien entwickeln sollte. In diesem Zusammenhang organisierte er das NATO-Seminar an der Universität Freiburg. Bergstraessers Anstrengungen waren erfolgreich: Anfang der 1960er Jahre konnte das Atlantische Institut gegründet werden, das mit seinem Schwer-

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punkt „Entwicklungsländer“ Bergstraessers neuem Fokus in Forschung und politischer Bildung in den 1960er Jahren entsprach. Bergstraesser beherrschte die Fähigkeit, verschiedene Interessen zusammenzubringen, sie auf ein gemeinsames Ziel auszurichten und sie füreinander fruchtbar zu machen. Jedes der einzelnen Teilsysteme konnte aus dieser Zusammenarbeit Vorteile ziehen – Wissenschaft, Politik und Militär wurden zu Ressourcen füreinander, ohne dass die Intentionen der einzelnen einander widersprachen. Diese erfolgreiche Kooperation beruhte darauf, die Ziele des einen Systems zu Mitteln des anderen zu machen. Weder Soldatentum und Militär, noch Demokratie und freiheitlicher Rechtsstaat, noch Wissenschaft und Bildung waren in diesen Kooperationsverhältnissen Selbstzweck. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Bemühungen wurden zu Kriegsmitteln im Ost-West-Konflikt, Kriegführung und Streitkräfte ebenso wie Wissenschaft und Erziehung zum Mittel des neuen demokratischen und westorientierten politischen Systems, Politik und Streitkräfte wiederum zu Förderern der politischen Bildung und Politikwissenschaft. Die Zusammenarbeit war nicht durch gegenseitige Konkurrenz und Dominanzbestrebungen gekennzeichnet, sondern durch die reziproke Anstrengung zu integrieren. Das Wissenschafts-, Erziehungs- und Bildungswesen bot sich als Vermittlungsinstanz zwischen Politik, Militär und Öffentlichkeit an. Die wissenschaftliche Absicherung minderte mit ihrer Autorität und scheinbaren Unabhängigkeit die politikmüde und kriegsablehnende Haltung breiter Bevölkerungsschichten gegen Politisierung und reeducation und war unerlässlich dafür, dem neuen demokratischen System Akzeptanz und Zustimmung in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft zu sichern. Dadurch dass der Zuständigkeitsbereich der politischen Bildung sich in erster Linie – und was die Jugend anging ausschließlich – auf die staatsbürgerliche Demokratieerziehung beschränkte, blieb deren militärische Funktion geistiger Rüstung, das eigene System als überlegen, verteidigungswert und wehrhaft zu demonstrieren, ebenso unsichtbar wie der Einsatz der Politikwissenschaft im Kalten Krieg. Diese weitreichenden Kooperationsverhältnisse waren in den 1950er Jahren nichts Innovatives, neu hingegen waren Ziel und Form. Im Gegensatz zum NS war nicht mehr die Volksgemeinschaft auf antisemitischer und rassistischer Grundlage gemeinsames Ziel, sondern der Aufbau einer föderal strukturierten atlantischen Gemeinschaft, die sich politischer und humanistischer Legitimationen bediente. Formal wurde diese Zusammenarbeit durch Sprachregelungen und eine effektive Arbeitsteilung so gestaltet, dass sie nicht mehr unvermittelt, sondern indirekt funktionierte. Politik, Militär, Universität und Wissenschaft gingen auf hohen Ebenen einen engen Konnex ein, der durch die jeweilige Arbeitsteilung – Staatsbürgerkunde und Demokratieerziehung hier, Wehraufklärung und Wehrpropaganda da – für die einzelnen StaatsbürgerInnen, WissenschaftlerInnen und LehrerInnen nicht einfach durchschaubar war und somit nicht als bewusst vorauszusetzen ist. Anhand der Aktivitäten Bergstraessers, der auf allen Ebenen operierte, lässt sich jedoch dieser Zusammenhang nachweisen und zeigen, dass und wie die Kooperationsverhältnisse zwischen Politik, Militär und Politikwissenschaft ausgebaut wurden.

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„Das akademische Glashaus zertrümmern“? Medienrepräsentationen, Medienwirkungen und Medienstrategien in der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre Stephan Petzold Neben dem Historikerstreit der 1980er Jahre gilt die sogenannte FischerKontroverse als eine der bedeutendsten Auseinandersetzungen in der deutschen Geschichtswissenschaft. Als Fritz Fischer in seinem 1961 veröffentlichten Griff nach der Weltmacht behauptete, dass die Regierung des Kaiserreichs die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs trage, führte dies zu einer mehrjährigen Kontroverse in Wissenschaft und der breiteren Öffentlichkeit. Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass in der Kontroverse nicht nur die deutsche Politik vor und während des Ersten Weltkriegs diskutiert wurde, sondern auch das deutsche Geschichtsbild zur Debatte stand. Dennoch erscheint es oftmals, als ob Fischers brisante Thesen geradezu zwangsläufig die spektakuläre Kontroverse auslösten. Allerdings: mit Fischers Argument war zwar eine provokante These da, aber noch lange keine Debatte. Prinzipiell hätte das Buch weitgehend ignoriert werden und schnell in der Bedeutungslosigkeit verschwinden können. Dass es dazu nicht kam, ist weithin bekannt. Der vorliegende Beitrag untersucht, wie aus einer damals provokanten These in der Tat eine heftige Kontroverse werden konnte. Hierfür war die Konstruktion der Auseinandersetzung um Fischers Buch als ein Medienereignis von zentraler Bedeutung. Klaus Große Kracht hat bereits umfassend dargestellt, wie im Laufe der Kontroverse auch ein neues Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft verhandelt wurde.1 Große Krachts Fokus auf die Tages- und Wochenpresse hat Mark Rüdiger ergänzt durch eine Auswertung zahlreicher elektronischer Massenmedien und populärer Zeitschriften.2 Beide Arbeiten beschränken sich jedoch überwiegend auf die massenmediale Repräsentation der Kontroverse. Demgegenüber rücken hier die Auswirkungen der medialen Darstellungen auf die Kontroverse sowie die Medienstrategien der beteiligten Akteure stärker in den Mittelpunkt. Das Ziel des Beitrags ist es, somit zu einem komplexeren Bild der Interaktion zwischen den Akteuren in Wissenschaft und Massenmedien während der Kontroverse zu gelangen. In einem ersten Teil werden die diskursiven Verschiebungen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft skizziert, um die „Fischer-Kontroverse“ zu kontextualisieren. Anschließend werden die Wirkungen der massenmedialen Repräsen1 2

Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005. Mark Rüdiger: Kontinuitätsthese und Kriegsschulddebatte. Die Fischer-Kontroverse in den Massenmedien 1961–1964/65, Freiburg i. Br.: Universität Magisterarbeit, 2007.

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tation der Kontroverse knapp umrissen, bevor im dritten Abschnitt die Strategien der beteiligten Akteure eingehender untersucht werden. Das Entstehen von ‚Kritik‘ als kulturelle Praxis Die spezifische Dynamik der Kontroverse um Fischers Buch, gerade auch dessen mediale Prominenz, lässt sich nur vor dem Hintergrund eines weitreichenden soziokulturellen Wandels verstehen. Dieser Wandel wird oft als „Liberalisierung“, „Demokratisierung“ oder „Westernisierung“ bezeichnet.3 Auch wenn diese Begriffe problematisch sind, vor allem wenn sie als Teil einer bundesrepublikanischen Meistererzählung stetigen politischen und kulturellen Fortschritts gedeutet werden,4 so weisen sie dennoch auf signifikante Veränderungsprozesse hin. Diesem Wandel lag eine diskursive Verschiebung zu Grunde, die bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit begann und sich trotz oder gerade wegen der restaurativen Tendenzen der 50er bis in die späten 60er Jahre fortsetzte. Im Kern lässt sich diese Verschiebung als Entwicklung und graduelle Durchsetzung eines neuen Gesellschaftsverständnisses begreifen, das die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu regelte. Gesellschaft wurde als eine zunehmend pluralistische und weniger auf den Staat bezogene Erscheinung aufgefasst. Diese Verschiebung wurde von linksliberalen Akteuren getragen, die vor allem in den Sozialwissenschaften und Massenmedien das neue Verständnis umsetzten. Die Sozialwissenschaften erdachten, wie Paul Nolte und Frieder Günther gezeigt haben, in den 50er und frühen 60er Jahren das Wechselverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft neu.5 Während die bis dahin vorherrschende Staatsauffassung den Staat über die Gesellschaft stellte und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Harmonie betonte, wurden solche Vorstellungen im Laufe der 50er Jahre verstärkt angezweifelt. Gerade Soziologen und Politikwissenschaftler beförderten einen konzeptionellen Wandel, nach dem gesellschaftliche Konflikte nicht länger als unerwünscht abgelehnt und die Notwendigkeit einer pluralistischen Gesellschaft hervorgehoben wurden. So argumentierte beispielsweise Ralf Dahrendorf 1957, dass Klassenkonflikte als ein grundlegendes Kennzeichen moderner Gesell3

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Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein, 2002; Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Treppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn: Schöningh, 2003; Arnd Bauerkämper/Konrad H. Jarausch/Marcus M. Payk (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999. Nina Verheyen: Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des „besseren Arguments“ in Westdeutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, S. 22ff. Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München: Beck, 2000; Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München: Oldenbourg, 2004.

Medienwirkungen und Medienstrategien in der Fischer-Kontroverse

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schaften akzeptiert werden müssten.6 Ähnlich äußerte sich der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel: Nur wenn wir tief verwurzelte Widerstände gegen die Vorstellung überwinden, daß der Staat einer modernen Industriegesellschaft nicht homogen sein kann und daß er pluralistisch sein muß, eröffnen wir uns den Weg für ein vertieftes Verständnis der westlichen Demokratien.7

Mit diesem Überdenken der traditionellen deutschen Staatsauffassung sollte eine pluralistische Öffnung vorangetrieben werden, um so die Demokratie tiefer in der westdeutschen Gesellschaft zu verankern. Eng damit verbunden war die Herausbildung eines spezifischen Verständnisses von ‚Kritik‘, welches die Kritik staatlichen Handelns als eine grundlegende und notwendige demokratische Kulturtechnik betrachtete. Für das neue Gesellschaftsverständnis war die Kritik an realen oder vermeintlichen autoritären und konservativen Tendenzen staatlicher Institutionen geradezu konstitutiv. Der Publizist Walter Dirks, welcher der Frankfurter Schule nahe stand, appellierte bereits 1954 in einer Rede vor dem Deutschen Studententag: Wäre ich die Gesellschaft, [...] so würde ich den Studenten sagen: wozu finanziere ich Euch, wenn Ihr mich nicht einmal kritisiert, wenn Ihr mich nicht im großen Stil kritisiert, um des Ganzen willen, vom Ganzen her, mit Leidenschaft?8

Der Soziologe René König umschrieb bereits 1949 die Hauptaufgabe der Soziologie als „Werkzeug der Kritik“ und Rainer Lepsius erkannte in der Kritik sowohl die Berufung als auch die eigentliche Existenzberechtigung der Intellektuellen.9 ‚Kritik‘ und insbesondere die Kritik an staatlichen Institutionen und vorherrschenden gesellschaftlichen Tendenzen wurde somit verstärkt als eine gerechtfertigte intellektuelle Praktik aufgefasst. Parallel zum diskursiven Wandel in der akademischen Welt verfochten linksliberale Journalisten ein neues Verständnis von journalistischer Praxis, das die Kritik staatlichen Handelns ebenfalls als legitim ansah. Die Praxis des Konsensjournalismus, die in den fünfziger Jahren weitgehend dominierte, wurde allmählich durch ein neues Journalistenverständnis der ‚Zeitkritik‘ herausgefordert.10 Dieses neue Selbstverständnis wurde gerade mittels diverser Medienskandale öffentlich ausgefochten. Solche Skandale wurden von den ‚kritischen‘ Massen6

Ralf Dahrendorf: Class and Class Conflict in Industrial Society, London: Routledge & Kegan Paul, 1959 [1957], S. 206. 7 Ernst Fraenkel: Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtstaatlichen Demokratie, in: Ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart: Kohlhammer, 1968 [1964], S. 189. 8 Walter Dirks: Die Studenten in der Gesellschaft. Aus einem Vortrag auf dem dritten Deutschen Studententag, in: Frankfurter Hefte 9.6 (1954), S. 434. 9 René König: Soziologie als Oppositionswissenschaft und als Gesellschaftskritik, in: Ders: Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1965 [1949], S. 26; Rainer M. Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1990 [1964]. 10 Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen: Wallstein, 2006.

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medien gewissermaßen inszeniert, um die Grenze zwischen legitimem journalistischem und regierungsamtlichem Handeln zu verschieben. Die Spiegel-Affäre 1962 wurde zum prominentesten Einzelfall und damit zum Symbol für den Kampf zwischen einer nach Emanzipation von staatlicher Einflussnahme strebenden Presse und einer auf dem Rückzug befindlichen konservativen Staatsauffassung.11 In genau dieser diskursiven Verschiebung ist auch die Fischer-Kontroverse zu verorten. Sie ließ Fischers Interpretation der deutschen Geschichte sagbar werden, auch wenn sie dadurch nicht zwangsläufig akzeptierbar wurde, zumindest nicht in der damals eher konservativ geprägten westdeutschen Geschichtswissenschaft. Obwohl diese weniger traditionell und restaurativ orientiert war als lange Zeit angenommen,12 orientierte sich die überwiegende Mehrzahl der Historiker nach wie vor am Verstehensideal des Historismus. Fischers Griff nach der Weltmacht war implizit aber auch eine Kritik an diesem Ideal. Trotz aller Verweise auf Fischers traditionellen diplomatiegeschichtlichen Zugang zeigte sich seine Abweichung von der Verstehenslogik des Historismus vor allem am Umgang mit den Quellen. Fischer versuchte nicht, sich in die Gedankenwelt der politischen Entscheidungsträger der Vergangenheit hineinzuversetzen, um deren Sichtweisen vor ihrem zeitgenössischen Wahrnehmungshorizont nachzuvollziehen. Er misstraute, so schrieb er dem englischen Historiker Geoffrey Barraclough, der „nationalstaatlichen, der nur diplomatischen u. der psychologisierenden Methode“.13 Ein solcher Zugang tendierte für Fischer immer dazu, mit jenen Entscheidungsträgern zu sympathisieren und ihre Handlungen nachträglich zu legitimieren, was notwendigerweise zu einer apologetischen Interpretation führe. Stattdessen suchte Fischer politische Entscheidungsprozesse und die Wahrnehmungen, auf denen sie basierten, einer betont kritischen Betrachtung zu unterziehen. Diese Skepsis schlug sich unter anderem in Fischers Zurückhaltung gegenüber der Verwendung von Memoiren nieder, weil sie von Politikern vorrangig benutzt würden, um ihre Handlungen nachträglich zu rechtfertigen.14 Diese Einstellung war vordergründig zwar methodischer Natur. Sie war aber auch beeinflusst von einer tieferliegenden Skepsis vor allem gegenüber konservativen politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten. Diese Skepsis zieht sich wie ein roter Faden durch Fischers Buch. In der Kontroverse ging es somit neben der deutschen Politik im Ersten Weltkrieg auch um geschichtswissenschaftliche Methoden und, eng damit verbunden, um 11 Vgl. Frank Bösch: Später Protest. Die Intellektuellen und die Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 91–112. 12 Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München: dtv, 1993; Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München: Oldenbourg, 2001. 13 Fischer an Barraclough, 29.02.1964, Bundesarchiv (BArch), Nachlass Fritz Fischer, N 1422/5. 14 Fritz Fischer: Kontinuität des Irrtums. Zum Problem der deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, in: Historische Zeitschrift 191.1 (1960), S. 83–100.

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politische Grundfragen über die Funktion konservativer Eliten in der deutschen Gesellschaft. Medienrepräsentationen und Medienwirkungen: Die Öffentlichkeit der Fischerkontroverse Gerade diese impliziten politischen Fragen und die davon berührte Frage nach der (west)deutschen Identität waren es auch, die Fischers Thesen prinzipiell für die westdeutsche Öffentlichkeit relevant machten. Sie wurden in der massenmedialen Öffentlichkeit in mehreren Wellen wahrgenommen. Eine erste Welle der Medienaufmerksamkeit wurde ausgelöst, als mehrere Zeitungen im November 1961 erste Besprechungen zu Fischers Buch veröffentlichten. Die Wirkung dieser ersten Welle war weit größer als ihre kurze Dauer vermuten lassen würde. Diese ersten Reaktionen in den Massenmedien stammten ausschließlich von Journalisten, die anerkennende Worte für Fischers Forschungsleistung fanden. Mehrere hoben die unparteiische Darstellung hervor, was einen starken Kontrast zur einhelligen Ablehnung seitens der Fachhistoriker darstellte. Bernd Nellessen schrieb in der Welt: „Das Buch klagt nicht an, es verteidigt nicht. Es stellt dar.“15 Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung hob hervor, dass das „nüchtern gehaltene, mit Material schwer befrachtete Werk“ Fischers „aufs sorgfältigste unterbaut“ sei.16 Alle Journalisten wiesen darüber hinaus auf die ungeheure Sprengkraft von Fischers Thesen hin. Nellessen nannte es ein „provozierendes Buch“ und Paul Sethe eröffnete seine Besprechung in der Zeit mit der Voraussage, dass das Buch „Gegenstand eines lebhaften Meinungsstreites werden“ würde.17 Insbesondere hoben die Rezensenten hervor, dass das Buch erhebliche Konsequenzen für Geschichtsbild und politisches Bewusstsein in der BRD habe. So schrieb der Spiegel, das Buch habe „an das gute Gewissen der Deutschen [...] eine Mine gelegt“.18 Diese allgemeine Relevanz des Buches bezog sich vor allem auf die These von der Kontinuität zwischen Zweitem und „Drittem Reich“. Nellessen schrieb von der „Kontinuität einer überfordernden deutschen Politik [...] (die) in manchem ähnlich blieb in Anspruch und Hypertrophie“. Dem Spiegel erschien der deutsche Expansionismus von 1914–1918 sogar „fast noch maßloser“ als die Außenpolitik der Nazis.19 Diese erste Besprechungswelle in der überregionalen Presse war bedeutsam, da sie Griff nach der Weltmacht als ein wissenschaftlich ernstzunehmendes und politisch bedeutendes Geschichtsbuch charakterisierte. Damit verschafften sie dem Buch mediale Aufmerksamkeit und konstruierten es zu einem

15 Bernd Nellessen: Deutschland auf dem Weg zum „Platz an der Sonne“. Das provozierende Buch eines Historikers, in: Die Welt vom 08.11.1961. 16 Bernhard Knauss: Deutschlands imperialistische Ziele im Ersten Weltkrieg, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.11.1961. 17 Paul Sethe: Als Deutschland nach der Weltmacht griff, in: Die Zeit vom 17.11.1961. 18 Wilhelm der Eroberer, in: Der Spiegel vom 29.11.1961. 19 Ebd.

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Medienereignis. Die Wahl oftmals sensationeller Überschriften unterstrich diesen Effekt. Eine zweite Welle der medialen Aufmerksamkeit ist für das Frühjahr 1962 zu beobachten, als weitere Zeitungen und Rundfunkanstalten nachzogen und das Buch begutachteten. Den Auftakt machte gewissermaßen eine fünfteilige Sendereihe des NDR, die unter Fischers Mitwirkung die deutschen Kriegsziele zwischen 1914 und 1918 nachzeichnete und zwischen Januar und März ausgestrahlt wurde.20 Weitere Presse- und Rundfunkbesprechungen folgten im Verlauf des Frühjahrs bis in den Sommer hinein. Diese Welle der Diskussion wurde fast ausschließlich von Wissenschaftlern getragen, die das Buch in der medialen Öffentlichkeit rezensierten. Etwa die Hälfte von ihnen fanden ähnlich anerkennende Worte wie die Journalisten im November 1961.21 Die andere Hälfte ging zwar weitaus kritischer mit Fischer ins Gericht, blieb aber sowohl im Ton als auch im Inhalt moderat und wies durchaus auf die Leistungen des Buches hin.22 Eine Ausnahme hiervon stellte allerdings ein Artikel Gerhard Ritters in verschiedenen Regionalzeitungen dar, in dem er beklagte, Fischers Buch habe „viel zu viel Tendenz in sich“ und führe so zur „Verwirrung unseres deutschen Geschichtsbewusstseins“.23 Diese zweite Welle hatte zur Folge, dass die Diskussion von Fischers Buch in der Öffentlichkeit andauerte und das Medienereignis Griff nach der Weltmacht verlängert wurde. Vor allem aber unterschied sich die mediale Auseinandersetzung im Stil von der jetzt beginnenden Diskussion in der Fachöffentlichkeit, in der die Kritik am Buch schärfer und unsachlicher ausfiel. Ritter warf Fischer auch in der Historischen Zeitschrift (HZ) vor, eine „neue Kriegsschuldthese“ zu propagieren. Der national-rektionäre Erwin Hölzle, der nur bedingt zur Zunft gehörte, verglich das Buch mit dem „Monolog eines Irrsinnigen“.24 Die Rezeption von Fischers Thesen in Medien- und Fachöffentlichkeit zeigte damit erhebliche Unterschiede. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass die mode20 Griff nach der Weltmacht. Eine Sendereihe nach dem Buch von Prof. Dr. Fritz Fischer (NDR, 30.01.–03.03.1962). 21 Ernst Deuerlein: Weltmacht Deutschland. Das Buch „Griff nach der Weltmacht“ von Fritz Fischer (WDR 3, 19.04.1962); Horst Lademacher: Griff nach der Weltmacht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7.6 (1962), S. 471–475; Helmut Wagner: Aus Politik und Zeitgeschichte: Buchbesprechung (SDR, 12.09.1962); positiv auch Herbert Stegmann: Am Büchertisch (SFB, 18.05.1962). 22 Ludwig Dehio: Deutschlands Griff nach der Weltmacht, in: Der Monat 14.161 (1962), S. 65– 68; Wolfgang J. Mommsen: Neue Politische Literatur (DLF, 20.04.1962); Golo Mann: Der Griff nach der Weltmacht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28.04.1962. 23 Gerhard Ritter: Griff Deutschland nach der Weltmacht? Zu Fritz Fischers umstrittenen Werk über den Ersten Weltkrieg, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 19./20.05.1962. 24 Gerhard Ritter: Eine neue Kriegsschuldthese? Zu Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, in: Historische Zeitschrift 194.3 (1962), S. 646–665; Erwin Hölzle: Rezension „Griff nach der Weltmacht“, in: Historisch-Politisches Buch 10.3 (1962), S. 69. Auf Grund seiner NS-Vergangenheit schlugen Hölzles wiederholte Bemühungen um einen Lehrstuhl fehl, siehe Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein, 2005, S. 283.

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rat kritischeren Besprechungen in der Presse tendenziell von anerkannten Fachhistorikern, die positiveren demgegenüber eher von jüngeren Historikern stammten. Den Höhepunkt der im Vergleich zur ersten Welle längeren aber weniger intensiven Welle bildete die Einladung der Welt an Fischer und Hölzle, ihre entgegengesetzten Standpunkte auf jeweils einer halben Zeitungsseite zu präsentieren. Hölzle monierte an Fischers Werk vor allem die fehlende Einbeziehung der für ihn ebenso aggressiven Kriegsziele der anderen Großmächte und die daraus resultierende „beliebte Selbstbeschuldigung“.25 Fischer hingegen kritisierte die emotionsgeladene und apologetische Argumentation der „älteren Historikergeneration“ und stilisierte sich als Vorkämpfer einer neuen, vorurteilsfreien Form der Geschichtswissenschaft.26 Dieser Schlagabtausch war aus mehreren Gründen bedeutsam. Erstens schrieben die Welt-Redakteure dem Thema eine solche Relevanz zu, dass eine ganze Seite dafür gerechtfertigt schien. Zweitens zeigte es an, dass die öffentliche Auseinandersetzung von der Besprechungs- auf die Diskussionsebene gelangt war und somit – zumindest von der Form her – den Beginn einer direkten Auseinandersetzung einläutete. Es war die erste Möglichkeit für Fischer, in der Öffentlichkeit auf die vorgetragene Kritik an seinem Buch zu reagieren und seine eigene Position erneut darzulegen. Drittens stellte das Format eine Neuheit in der bisherigen medialen Darstellung dar, da zwei Historiker die Möglichkeit erhielten, ihre entgegengesetzten Standpunkte auf derselben Seite vorzustellen. Dies repräsentierte nicht nur optisch die Existenz und implizite Daseinsberechtigung zweier unterschiedlicher wissenschaftlicher Deutungen, es signalisierte auch die mediale Wertschätzung von Diskussion als solcher. Dass die Redakteure der Welt diese Form der Darstellung wählten, war Ausdruck eines sich verändernden Verständnisses von wissenschaftlicher Diskussion in der Öffentlichkeit. Schließlich deutete sich hier bereits an, dass die Kontroverse zunehmend als Gegensatz zwischen lediglich zwei Positionen dargestellt wurde. Ab dem Sommer 1962 dünnte die Berichterstattung zum Thema aus, auch wenn es nicht vollständig verschwand, da einige Regionalzeitungen und Rundfunkanstalten dem Thema erst jetzt Beachtung schenkten.27 Im Sommer 1963 kochte die Debatte zwar noch einmal auf, aber sie war zu kurz, um eine größere Wirkung zu hinterlassen. Fischers Hamburger Kollege Egmont Zechlin hatte neues Quellenmaterial zum Thema veröffentlicht,28 das Paul Sethe bedeutend genug 25 Erwin Hölzle: Es gab keine kontinuierliche Politik, in: Die Welt vom 07.07.1962. 26 Fritz Fischer: Drang zum „Platz an der Sonne“, in: Die Welt vom 07.07.1962. 27 H. Kämpf: Das Zeitbuch (SR, 08.11.1962); Helga Grebing: Ein Tabu verletzt?, in: Neue Gesellschaft 10.1 (1963), S. 70f.; Paul Sethe: Korrektur unseres Geschichtsbildes. Zum Streit um Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ (HR, 30.01.1963); Hans Georg von Studnitz: Der deutsche Imperialismus, in: Christ und Welt vom 09.08.1963; Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“. Fritz Fischers mutiges Geschichtswerk bricht mit den traditionellen Vorstellungen, in: Nürnberger Nachrichten vom 18.10.1963; Ernst Samhaber: Im Bann des Wunschdenkens (SWF, 07.11.1963). 28 Egmont Zechlin: Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche im Ersten Weltkrieg. Teil 4, in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 15.05.1963, S. 3–47; Egmont Zechlin: Frie-

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erschien, um es in der Welt eingehend zu besprechen.29 Dies rief den umgehenden Widerspruch Fischers hervor, der die Gelegenheit erhielt, auf Sethe zu antworten und somit erneut seine Position in der Öffentlichkeit zu präsentieren.30 Diese Episode ist bemerkenswert, da sie die Form und Dynamik der medialen Darstellung weiterhin verschob. Zum einen wurde einem Historiker die Möglichkeit gegeben, auf eine Kritik in der Presse direkt zu antworten – nicht versteckt in einer Leserbriefspalte, sondern als großer gleichwertiger Artikel. Zum anderen wurden nun sogar wissenschaftliche Aufsätze in der Presse besprochen, wenn ihnen ausreichend Relevanz zugemessen wurde.31 Der Ausbruch einer breiten Mediendebatte und damit der Beginn einer dritten Aufmerksamkeitswelle erfolgten allerdings erst im Frühjahr 1964. Von besonderer Bedeutung war hier die Rolle des Spiegel, der Auszüge zunächst aus Barbara Tuchmans August 1914 und später aus der dritten Auflage des Griff nach der Weltmacht in Serie abdruckte. Der erste Teil der Tuchman-Serie schaffte es sogar auf die Titelseite. Rudolf Augsteins Editorial zu dieser Ausgabe war mit den Worten „Ich muss wieder das eigene Nest beschmutzen“ eingeleitet und stellte die Serie klar in den Zusammenhang mit Fischers Arbeiten.32 An dieser erneuten Medienpräsenz des Themas stießen sich einige Historiker. So befürchtete Hölzle, der Spiegel wolle eine „neue Fischer-Publizitätswelle inszenieren“.33 Ebenso kritisierte Giselher Wirsing, der Herausgeber der konservativen Wochenzeitung Christ und Welt, Augstein für seine Parteinahme für Fischer.34 Die damit bereits anrollende Welle medialer Aufmerksamkeit erhielt einen weiteren Impuls, als die Zeit Ende April einen Protestbrief zwölf amerikanischer Historiker abdruckte und kommentierte. Der Protest richtete sich gegen das Auswärtige Amt, welches die Finanzierung einer vom Goethe-Institut Washington vorbereiteten Vortragsreise Fischers in den USA zurückgezogen hatte.35 Die amtliche Intervention wurde in der Presse als „Maulkorb für einen Historiker“ beziehungsweise „unglückliche Mischung von bürokratischem Hochmut, falsch verstandener Staatsräson und Instinktlosigkeit“ kritisiert.36 Die Berichterstattung

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densbestrebungen und Revolutionierungsversuche im Ersten Weltkrieg. Teil 5, in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 29.05.1963, S. 3–36. Paul Sethe: Bethmann Hollweg bleibt ein Rätsel, in: Die Welt vom 13.07.1963. Fritz Fischer: Der Erste Weltkrieg – ein historisches Tabu, in: Die Welt vom 27.07.1963. Dies war bereits 1960 der Fall, als Sethe einen HZ-Artikel Fischers in der Zeit besprach, Paul Sethe: Die Selbstverblendung im Kaiserreich: Eroberungspläne im ersten Weltkrieg, in: Die Welt vom 06.02.1960, S. 3. Rudolf Augstein: Lieber Spiegel-Leser, in: Spiegel vom 11.03.1964. Hölzle an Zechlin, 16.03.1964, BArch, N 1323/33. Giselher Wirsing: ... auch am Ersten Weltkrieg schuld?, in: Christ und Welt vom 08.05.1964, S. 17f. Für die Hintergründe Eckart Conze et al.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München: Blessing, 2010, S. 582ff.; Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf: Droste, 2001, S. 605ff. Bernd Nellessen: Maulkorb für einen Historiker?, in: Die Welt vom 03.06.1964; Gordon A. Craig et al.: Ein Protestbrief, in: Die Zeit vom 24.04.1964.

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stilisierte Fischer zu einem Kämpfer für wissenschaftliche Freiheit und aus der Angelegenheit wurde ein Medienskandal, der einen ersten Höhepunkt der nun losbrechenden öffentlichen Debatte bildete. Eine Folge der Skandal-Berichterstattung war, dass die Debatte noch stärker als bipolare Konfrontation zwischen Fischer und seinen Gegnern dargestellt wurde. Ein Beispiel hierfür stellte der heftige und mitunter ins Absurde gehende Schlagabtausch zwischen Rudolf Augstein und Giselher Wirsing dar, in dem beide klar Stellung für beziehungsweise gegen Fischer bezogen.37 Im Laufe des Jahres 1964 kam es zu mehreren direkten Auseinandersetzungen vor Publikum zwischen den Kontrahenten der Kontroverse. Eine ARD-Fernsehdiskussion anlässlich des 50. Jahrestags des Attentats auf den Habsburger Thronfolger Franz Ferdinand machte den Anfang.38 Der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann und der Schieder-Schüler Wolfgang J. Mommsen saßen Fischer und dessen Schüler Imanuel Geiss gegenüber, während Theodor Schieder als Moderator dazwischen Platz nahm. Allein die Sitzanordnung erzeugte eine Kommunikationssituation, in der sich zwei gegnerische Parteien gegenüberstanden, was unterschwellig den Eindruck einer bipolaren Kontroverse forcierte. Schieder versuchte allerdings im Laufe der Diskussion beide Seiten zu einer Annäherung ihrer Standpunkte zu bewegen. Insbesondere fragte er mehrmals bei Fischer nach, ob er zu Konzessionen an seine Kritiker bereit sei.39 Auch wenn Fischer solche zugestand, wich er einer vorschnellen Konsensfindung doch aus. Wenige Wochen später fand im Amerikahaus Frankfurt eine weitere öffentliche Diskussion zum Thema Kriegsausbruch statt. Eingeladen waren neben Fischer und Hölzle auch Hans Herzfeld aus Berlin und Gordon Craig aus Stanford. Der Zeit-Reporter inszenierte die Debatte als „Duell der Historiker“ beziehungsweise als „akademische Gerichtsverhandlung“ mit Anklage und Verteidigung („Angeklagt: Germania“).40 Wieder wurde durch eine klare Rollenverteilung die Kontroverse als Streit zwischen zwei entgegengesetzten Standpunkten dargestellt. Der Bericht legte auch die Erwartungen der Presse offen: sie stellten einen Kampf dar, bei dem sie auf klare Gewinner und Verlierer hofften, auch wenn sie vom Ergebnis meist enttäuscht wurden. Schließlich offenbarte die Frankfurter Runde auch die habituellen Unterschiede der Teilnehmer: Als Herzfeld gegen Ende auf einen Kompromiss hinzuarbeiten schien, ließ Fischer „seiner ganzen Erbitterung über die ihn befehdenden Kollegen“ freien Lauf. Überrascht stellte der Reporter die positive Reaktion des Publikums fest: „Dieser Fischer kommt an“. Offenbar traf Fischer durch das Kultivieren seiner habituellen Abgrenzung vom konservativen Mainstream den Nerv der Zeit.

37 Wirsing: Weltkrieg; Rudolf Augstein: Lieber Spiegel-Leser, in: Der Spiegel vom 17.06.1964; Giselher Wirsing: Der Bauchredner, in: Christ und Welt vom 10.07.1964, S. 17. 38 Der Erste Weltkrieg. Diskussionsrunde (ARD, 29.06.1964). 39 Ebd., 25. Minute. 40 Karl-Heinz Janßen: Das Duell der Historiker. Die Kriegsschuld von 1914 – Eine akademische Gerichtsverhandlung, in: Die Zeit vom 17.07.1964.

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Neben einer Vielzahl von Artikeln anlässlich des fünfzigsten Jahrestags des Kriegsausbruchs Anfang August 1964 fand im September eine weitere mediale Auseinandersetzung statt, diesmal zwischen Erdmann und Augstein auf den Seiten der Zeit. In seinem Beitrag warnte Erdmann, ohne Fischer explizit zu erwähnen, vor einer überkritischen Interpretation der Figur Bethmann Hollwegs: „Das rückblickende Besserwissen ist leicht. Schwerer ist das Verstehen.“41 Augstein reagierte zwei Wochen später, um Fischers Interpretation zu verteidigen, was wiederum einen Konter Erdmanns hervorrief.42 Augsteins erneute Antwort wurde von der Zeit-Redaktion jedoch in die Leserbriefspalte verbannt.43 Interessant hierbei ist, dass ein Journalist – ohne ausgewiesene wissenschaftliche Reputation – einem Fachhistoriker antwortete. Für den im Oktober 1964 in Berlin stattfindenden Historikertag war eine weitere Diskussionsrunde angesetzt, diesmal mit zehn Teilnehmern. Die Presse inszenierte die öffentliche Debatte mit über 1.500 Zuhörern als ein veritables Medienereignis. Der FAZ-Reporter verglich die Diskussion mit einem „großen Sportereignis“, ein anderer sprach von „Gladiatorenkämpfen“.44 Die anwesenden Zuhörer nahmen aktiv an der Debatte teil durch stellenweise frenetischen Beifall – meistens für Fischers Position – und Zwischenrufe, die zumeist den Kritikern Fischers galten. Auch wenn die Zeit diese Interventionen des Publikums kritisierte, so begrüßte sie dennoch den „neuen Stil“ und „frischen Wind“ in der Wissenschaft: „die leidenschaftliche Anteilnahme der Öffentlichkeit war doch am Streit der Gelehrten ein bemerkenswertes Novum in deutschen Landen“.45 Anlässlich des Historikertags trug die Presse die Diskussion nicht nur erneut in die breite Öffentlichkeit, sondern begrüßte und zelebrierte trotz Detailkritik die öffentliche Debatte. Für den Fortgang der Kontroverse waren diese wiederholten direkten Konfrontationen und ihre mediale Begleitung geradezu konstitutiv. Sie erst machten Fischer zum Medienstar und verschafften seinen Argumenten eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit.46 Die massenmediale Repräsentation bewirkte eine zunehmende Zuspitzung der Auseinandersetzung als ein Kampf zwischen zwei diametral entgegengesetzten wissenschaftlichen Standpunkten, in dem es kaum Raum für abweichende Drittmeinungen gab. Die medial inszenierte Debatte zwang zur eindeutigen Positionierung und die Vermittlungslogik der Massenme41 Karl Dietrich Erdmann: Der Kanzler und der Krieg, in: Die Zeit vom 28.08.1964. 42 Rudolf Augstein: Bethmann – einen Kopf kürzer?, in: Die Zeit vom 11.09.1964; Karl Dietrich Erdmann: Bethmann Hollweg, Augstein und die Historiker-Zunft, in: Die Zeit vom 25.09.1964. 43 Augstein kontra Erdmann, in: Die Zeit vom 02.10.1964. 44 Günther von Lojewski: Auf der Anklagebank. Das Deutsche Reich von 1914, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.10.1964; Karl-Heinz Janßen: Gladiatoren, Claque und Galerie. Deutsche Historiker in Berlin, in: Die Zeit vom 16.10.1964. 45 Janßen: Gladiatoren, Claque und Galerie. 46 Das Erscheinen der bereits dritten Auflage des Griff nach der Weltmacht im Sommer 1964 – beinahe sensationell für ein etwa 900 Seiten umfassendes wissenschaftliches Werk – weist in eine ähnliche Richtung.

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dien ließ wahrscheinlich nicht mehr als zwei Standpunkte zu. Und schließlich wurde in der Öffentlichkeit eine relativ neue Praktik für wissenschaftliche Diskussion eingeführt: die Podiumsdiskussion vor Publikum. Medienstrategien: das Verhältnis zwischen Historikern und massenmedialer Öffentlichkeit Neben den untersuchten massenmedialen Repräsentationen und ihren Effekten, die einen zentralen Teil der Fischer-Kontroverse darstellten, lässt sich eine weitere analytische Dimension der Kontroverse ausmachen. Hierbei handelt es sich um die Strategien der beteiligten Akteure in der Öffentlichkeit, die erst zu diesen Repräsentationen führten. Wie bereits eingangs angedeutet, folgte die Entwicklung der Kontroverse zum Medienereignis keiner dem Thema Erster Weltkrieg innewohnenden Zwangsläufigkeit, sondern war von Akteuren produziert und inszeniert. Deren Mentalitäten, Feldpositionen und Interessen lassen Schlüsse auf ihre jeweiligen Medienstrategien zu. Solche Strategien werden hier in Anlehnung an Bourdieu nicht als bewusst entwickelte Masterplans verstanden, sondern leiten sich aus den jeweiligen Positionen der einzelnen Akteure im jeweiligen Wirkungsfeld ab.47 Sie dienen der Akkumulierung von Kapital, im Falle des Fachhistorikers vor allem symbolischem Kapital in Form wissenschaftlicher Reputation. Fischer studierte in den späten 20er und frühen 30er Jahre in Berlin, wo er sich habilitierte und von wo aus er 1942 auf einen Lehrstuhl in Hamburg berufen wurde, den er ab 1947 wahrnahm. Seine Strategie ergab sich aus seiner relativen Isolation im wissenschaftlichen Feld. Er stand abseits vom zunächst national-, später stärker liberal-konservativen Mainstream, der von Theodor Schieder, Karl Dietrich Erdmann, Werner Conze und Hans Rothfels dominiert wurde. Zum Teil war dies eine Folge von Fischers soziokultureller und habitueller Abgrenzung vom konservativen Mainstream der (west-)deutschen Geschichtswissenschaft, deren Wurzeln bis in das Dritte Reich zurückreichten.48 Für die Veröffentlichung von Griff nach der Weltmacht hatte diese Position weitreichende Konsequenzen. Eine positive Rezeption in der Zunft war unwahrscheinlich, gerade weil Fischer

47 Pierre Bourdieu: The Peculiar History of Scientific Reason, in: Sociological Forum 5.2 (1991), S. 9. Bourdieu versteht unter ‚Feld‘ einen sozialen Raum, der durch die Machtbeziehungen und Machtkämpfe zwischen Akteuren bestimmt wird. Das besondere Kennzeichen eines wissenschaftlichen Feldes ist, dass es bei diesen Machtkämpfen um das ‚Monopol wissenschaftlicher Autorität‘ geht, siehe Pierre Bourdieu: The Specificity of the Scientific Field and the Social Conditions of the Progress of Reason, in: Social Science Information 14.6 (1975), S. 19–47. 48 Stephan Petzold: The Social Making of a Historian in Nazi Germany and the Early Federal Republic: Fritz Fischer’s Distancing from Bourgeois-Conservative Historiography, 1930– 1960, in: Journal of Contemporary History 48:2 (2013), S. 271–289.

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kaum Zugriff auf die Machtmechanismen des wissenschaftlichen Feldes hatte.49 Zudem war er sich völlig bewusst, welche Reaktionen seine provokanten Thesen zum Kriegsausbruch hervorrufen würden. Das Buch werfe Fragen auf, so schrieb er an Ludwig Dehio, „die an Nerven und Nieren des deutschen Selbstverständnisses gehen und es [wird] eine Phalanx von Traditionen und liebgewordenen Legenden gegen sich haben“.50 Dabei erwartete Fischer insbesondere von den westdeutschen Historikern heftigste Reaktionen: „Ein jüngerer Journalist sagte mir: die große Presse wird das Buch wohl ertragen, aber die Zunft wird sich auf Sie stürzen“.51 Auf Grund seiner Feldposition und in Erwartung weitgehender Ablehnung durch die Fachhistoriker musste Fischer sich notgedrungen nach Möglichkeiten umsehen, um seinen Thesen die geeignete Rezeption und damit eine größere Bedeutung zu verschaffen. Fischers Strategie zielte darauf ab, die Machtmechanismen der Zunft zu umgehen, indem er Kräfte außerhalb der Zunft zu mobilisieren versuchte. Die angestrebte positive Reaktion dieser feldexternen Kräfte sollte Druck von außen ausüben und somit in das Feld der westdeutschen Geschichtswissenschaft zurückwirken. Neben ausländischen Historikern spielte hierfür gerade die westdeutsche Öffentlichkeit eine zentrale Rolle. Für den Zugang zur Öffentlichkeit hatten die Repräsentanten der Massenmedien eine zentrale Bedeutung. Von deren kritischer journalistischer Einstellung erhoffte Fischer sich Unterstützung für seine Position. Seine Strategie offenbarte sich am deutlichsten in einem Brief an einen Redakteur des NDR: Ich weiß, die Mehrzahl meiner Kollegen hassen die Erörterung wissenschaftlicher Frage vor der Öffentlichkeit [...] – aber sollte das für die Vertreter der wichtigsten Massenmedien ebenso wie für die Journalisten ein Grund sein, sich solchen Grundsätzen zu unterwerfen, zumal wenn es sich um Fragen handelt, die ihrem Wesen nach die Nation in ihr Gesamtheit tief beschäftigen, und über die gerade Sie, die Mitarbeiter des Rundfunks u. Fernsehens, kein Monopol einer Zunft überlassen sollten. Die Zunft hat Machtmittel genug, um ihre Ansichten in den von ihr beherrschten Zeitschriften zum Ausdruck zu bringen.52

In einem Brief an einen anderen Redakteur appellierte Fischer, die Journalisten sollten „helfen, das akademische Glashaus zu zertrümmern und die frische Luft der öffentlichen Debatte hereinzulassen“.53 Diese Zitate verdeutlichen nicht nur Fischers habituelle Ablehnung der Zunft, sondern auch sein Streben nach einer Öffnung und Pluralisierung der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Auch sollten Journalisten für seine eigenen Interessen gewonnen werden. 49 Auf diese Machtmechanismen kann hier nicht näher eingegangen werden, sie beziehen sich aber insbesondere auf die Handlungen von Historikern in sog. gatekeeper-Positionen, z. B. als Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften und Buchreihen, als Organisatoren von Historikerkongressen, als Gutachter für Manuskripte, Forschungsanträge und Berufungen sowie als Vorstandsmitglieder in nationalen und internationalen Historikerverbänden, wissenschaftlichen Kommissionen, Instituten und Akademien. 50 Fischer an Dehio, 11.04.1960, BArch, N 1422/2. 51 Fischer an Barraclough, 12.11.1961, BArch, N 1422/2. 52 Fischer an Wolfgang Rieger (NDR), 16.08.1964, BArch, N 1422/5. 53 Fischer an Dr. Frisé und Sigrid Guthmann (HR), 16.08.1964, BArch, N 1422/5.

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Fischers Verankerung in der „Medienmetropole Hamburg“ stellte hierfür einen gewissen Standortvorteil dar. Zwei seiner ehemaligen Schüler arbeiteten hier als Journalisten: Bernd Nellessen als Feuilleton-Chef der Welt sowie Wolfgang Malinowski bei den Bremer Nachrichten und ab 1963 beim Spiegel. Darüber hinaus hatte er Kontakt zu Paul Sethe, der ihm bereits im Vorfeld der Veröffentlichung empfohlen hatte, einen schlag- und aussagekräftigen Buchtitel zu wählen.54 Neben der überregionalen Welt waren mit Zeit und Spiegel auch die beiden Hauptorgane der ‚Zeitkritik‘ in Hamburg ansässig ebenso wie der NDR, der mit Panorama das erste zeitkritische Fernsehmagazin produzierte. Fischers Standortvorteil beschränkte sich somit nicht auf Kontakte zu Journalisten, sondern er gewährte ihm auch einen tieferen Einblick in die Praxis der journalistischen ‚Zeitkritik‘, der ihm anderswo nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre. Der Erfolg von Fischers Buch hing also wesentlich von seiner Wirkung in der Öffentlichkeit ab und dies verlangte seine Inszenierung als Medienereignis. Fischer versuchte auf vielfältige Weise, die Diskussion über sein Buch in den Medien anzufachen und zu lenken. Ausgewählte Journalisten wie Nellessen und Sethe erhielten Umbruchexemplare, damit bereits zum Veröffentlichungstermin die ersten Rezensionen erscheinen konnten. Fischer schrieb mehrere Zeitungs- und Rundfunkredakteure direkt an und bat eindringlich um die Besprechung des Buches. Hierfür appellierte er auch an deren ureigene Instinkte. So erwähnte er in einem Brief an die Süddeutsche Zeitung, dass eine Rezension in der FAZ zu erwarten sei und er sich freuen würde, „wenn die liberale große Zeitung Deutschlands, als die die Süddeutsche in der Bundesrepublik mit Recht gilt, eine Besprechung bringen könnte“.55 Mitunter versuchte er auch den Inhalt der Besprechungen zu beeinflussen, vor allem um die Aufmerksamkeit vom Kapitel zur Julikrise 1914 wegzulenken, da die expansionistischen deutschen Ziele während des Weltkriegs doch den Kern des Buches ausmachten.56 Im Verlauf der Kontroverse versuchte Fischer, das Interesse der Massenmedien am Thema aufrecht zu erhalten. Als Sethe Zechlins Aufsätze im Juli 1963 besprach, protestierte er umgehend: „Ich bin erschüttert ... über die Abschätzigkeit und die Verzerrung, die Sie meinem Buch und meiner Arbeit darin zuteil werden lassen.“57 Fischer zählte eine Reihe von Beispielen auf, wie sehr die Historikerzunft ihn in seiner Arbeit behindert habe. Nicht ohne Erfolg, denn Sethe bot ihm an, seine eigenen Gedanken in einer Replik darzulegen: „nicht nur aus Gründen der Fairness, sondern weil ich es mir als eine Ehre anrechnen würde, wenn Sie nun selber Stellung nähmen“.58 Fischers Beschwerde machte Eindruck, aber Sethe fühlte sich offensichtlich auch geschmeichelt, von einem Fachmann ernst genommen zu werden. Dies war nicht die einzige Gelegenheit, bei der Fischer seine Marginalisierung in der Zunft als symbolisches Kapital mobilisierte, um seine 54 55 56 57 58

Fischer an Hans Korte, 12.12.1960, BArch, N 1422/41. Fischer an Albrecht Wucher (SZ), 17.10.1961, BArch, N 1422/4 (Hervorhebung im Original). Fischer an Wolfgang Malinowski (Bremer Nachrichten), 18.11.1961, BArch, N 1422/3. Fischer an Sethe, 14.07.1963, BArch, N 1422/4. Sethe an Fischer, o. D., BArch, N 1422/4.

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Stellung in der Öffentlichkeit zu verbessern. So war der Skandal um Fischers USA-Reise im Jahr 1964 nur möglich, weil Fischer einzelne Journalisten informierte und ihnen unter anderem Auszüge aus den Briefen amerikanischer Historiker zum Abdruck zur Verfügung stellte. Fischers Bemühungen bei der Presse waren allerdings nicht immer von Erfolg gekrönt. Dennoch pflegte er keine grundsätzlichen Vorbehalte ihr gegenüber, da seine Strategie gerade auf die Verwischung der Grenzen zwischen wissenschaftlicher und massenmedialer Öffentlichkeit abzielte. Anders stellte sich die Situation bei der Mehrheit der Fachhistoriker dar. Für sie galt es, die bestehenden Zunftgrenzen vor dem Eindringen der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten beziehungsweise diese Grenzen nach dem kurzzeitigen Durchbruch wiederherzustellen.59 Unter deutschen Neuzeithistorikern war bereits eine lebhafte Diskussion entbrannt, noch bevor Fischers Buch Ende November 1961 überhaupt in die Läden kam. Dies lag zum einen daran, dass Fischer erste Ergebnisse vorab in einem HZ-Aufsatz vorgestellt hatte.60 HZ-Herausgeber Schieder bescheinigte Fischer, mit seinem „überall diskutierten Aufsatz“ einigen Eindruck hinterlassen zu haben.61 Mit Sethe hatte einer der angesehensten Journalisten der Bundesrepublik den Aufsatz bereits in der Welt unter dem Titel Die Selbstverblendung im Kaiserreich außerhalb der Fachöffentlichkeit bekannt gemacht.62 Zum anderen war die Historikerzunft schon im Oktober 1961 in Alarmbereitschaft versetzt worden. Sethe hatte seine ersten Leseeindrücke an den Freiburger Historiker Gerhard Ritter weitergeleitet: Fischers Buch sei „etwas, was mich tief beunruhigt“.63 Insbesondere sorgte er sich um die negativen Langzeitwirkungen, denn es handele sich, „von der Öffentlichkeit und dem politischen Bewußtsein der Nation und der Welt aus gesehen, um eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre“. Daraufhin berichtete Ritter Schieder aufgeregt von Fischers angeblicher These, dass die deutsche Regierung 1914 „absichtlich den Ersten Weltkrieg entfesselt [hat], um in Frankreich und Russland große Eroberungen zu machen“.64 Durch den Austausch zwischen einem Journalisten und einem Fachhistoriker war die zunftinterne Aufregung um Fischers Buch also bereits da, bevor es überhaupt erschienen war. Als die Fachhistoriker durch die erste Besprechungswelle mehr erfuhren, waren sie nicht nur über Fischers Thesen schockiert. Sie waren auch entsetzt, dass die Presse sich in Gelände vorgewagt hatte, das ihrer Meinung nach in den allei59 Große Kracht hat bereits an einzelnen Beispielen gezeigt, dass mehrere Kritiker Fischers die „Deutungshoheit“ der Fachhistoriker vor dem Eingriff der journalistischen „Nichtfachmänner“ bewahren wollten, Klaus Große Kracht: Kritik, Kontroverse, Debatte. Historiografiegeschichte als Streitgeschichte, in: Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein, 2007, S. 271. 60 Fritz Fischer: Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914– 1918, in: Historische Zeitschrift 188.2 (1959), S. 249–310. 61 Schieder an Fischer, 15.03.1960, BArch, N 1188/234. 62 Sethe: Selbstverblendung im Kaiserreich. 63 Sethe an Ritter, 18.10.1961, BArch, N 1166/351. 64 Ritter an Schieder, 30.10.1961, BArch, N 1166/351.

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nigen Zuständigkeitsbereich der Fachhistoriker fiel. So beklagte Ritter „den Lobessturm von ahnungslosen und hilflosen Journalisten“ für Fischers Buch.65 Diese Kritik äußerte er auch öffentlich, als er mit Hilfe seines ehemaligen, nun bei der Deutschen Presse-Agentur angestellten Schülers Karl-Heinz Janßen einen Zeitungsartikel über dpa verbreitete, der vor allem von mehreren Regionalzeitungen abgedruckt wurde. Ritter klagte darin, dass die Presse Fischers Thesen „einigermaßen hilflos“ akzeptiert habe, bevor „die Fachhistorie überhaupt in der Lage war, kritisch dazu Stellung zu nehmen“.66 Zuvor hatte Hölzle bereits lamentiert, die „übereilige Presse“ habe Fischers Buch „ohne Prüfung in grellstes Licht“ gesetzt.67 Diese Kritik implizierte, dass Journalisten von Berufs wegen nicht die Kompetenz besitzen würden, Fischers wissenschaftliche Arbeit zu beurteilen. Als der Bayerische Rundfunk im März 1964 Ritter zur ARD-Fernsehdiskussion einlud, lehnte dieser ab. Zwar war er sich bewusst, dass eine Teilnahme seinen Argumenten eine „ungeheuer[e]“ Öffentlichkeit verschaffen würde, aber eine solche Diskussion könne nur fruchtbar sein, wenn sie mit sehr gründlicher und genau überlegter Analyse des Quellenbestandes erfolgt. Das ist in einem Fernsehgespräch, auch wenn es bis zu einer Stunde ausgedehnt wird, schlechterdings unmöglich. Man kann über so komplizierte Fragen nicht ein improvisiertes Gespräch führen. Es bedarf dazu schon einer genau überlegten Formulierung jedes einzelnen Satzes. Und dies ist nur bei literarischer Diskussion möglich. [...] Es widerstrebt mir [...] aufs tiefste, eine solche Auseinandersetzung in einer Form zu führen, die unvermeidlicherweise den Charakter eines öffentlichen Schauspiels trägt, und mit sensationshungrigen Augen von einem unsichtbaren Publikum verfolgt wird.68

Dies offenbart Ritters tiefsitzende Skepsis gegenüber der öffentlichen Austragung wissenschaftlicher Debatten. Ritter ging es nicht um eine Diskussion mit Fischer auf Augenhöhe, sondern um eine intellektuelle Belehrung der Öffentlichkeit durch ihn als ausgewiesenen Fachkenner. Ritter scheute also die Öffentlichkeit keineswegs. Bereits im Dezember 1961 hatte er der FAZ seine Dienste als Rezensent von Fischers Buch angeboten.69 Es folgten die bereits erwähnten dpa-Artikel und mehrere Interventionen in wissenschaftlichen Publikationen.70 Als die Debatte im Frühjahr 1964 neuen Schwung erhielt, befürchtete Ritter, dass die „erneuerte Kriegsschuldthese“ Fischers und „seines Propagandisten Augstein“ die öffentliche Erinnerung des 50. Jahrestags des Kriegsausbruchs dominieren würde.71 Die erneute öffentliche Debatte veranlasste ihn, seine eigenen Aktivitäten in der Öffentlichkeit zu intensivieren. Er tat dies mit einem Artikel in der FAZ, einer vierteili65 Ritter an FAZ, 24.05.1962, BArch, N 1166/371. 66 Gerhard Ritter: Griff nach der Weltmacht? Der Historiker Gerhard Ritter widerlegt die These vom deutschen Imperialismus vor 1914, in: Lübecker Nachrichten vom 20.05.1962. 67 Hölzle: Rezension, S. 65. 68 Ritter an BR, Abt. Politik und Zeitgeschehen, 19.03.1964, BArch, N 1166/372. 69 Ritter an FAZ, 04.12.1961, BArch, N 1166/371. 70 Gerhard Ritter: Bethmann Hollweg im Schlaglicht des deutschen Geschichtsrevisionismus, in: Schweizer Monatshefte 8.44 (1962), S. 799–808; Ders.: Eine neue Kriegsschuldthese; Ders.: Griff Deutschland nach der Weltmacht?. 71 Ritter an FAZ, 21.05.1964, BArch, N 1166/372.

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gen Sendereihe im Südwestfunk sowie zwei weiteren dpa-Pressemitteilungen, die von über fünfzehn Regionalzeitungen abgedruckt wurden.72 Ritters Strategie in der Kontroverse setzte nicht nur auf die wissenschaftlich fundierte Widerlegung von Fischers Thesen. Vorwürfe wie die von Fischers „neuer Kriegsschuldlüge“, seiner „Tendenzhistorie“ oder die Furcht vor einer „Selbstverdunklung der deutschen Geschichte“ deuteten in eine andere Richtung: Ritter stellte die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit von Fischers Thesen in Frage.73 Das Ziel Ritters wie auch anderer national-konservativ gesinnter Historiker war es, Fischers Arbeit als wissenschaftlich unhaltbar zu stigmatisieren, um so seine Reputation als Wissenschaftler zu untergraben. Dadurch sollte Fischer zum Schweigen gebracht und somit quasi aus der Zunft ausgestoßen werden. Gerade die Entwicklung der öffentlichen Debatte im Frühjahr 1964 führte aber dazu, dass einige Historiker sich von Ritters Strategie distanzierten. Hierbei handelte es sich vor allem um Theodor Schieder als HZ-Herausgeber und Karl Dietrich Erdmann als Vorsitzender des Historikerverbandes, die auf Grund ihrer Ämter gewissermaßen die Spitze des wissenschaftlichen Feldes darstellten. Beide hatten erkannt, dass Fischers Thesen durchaus den Zeitgeist trafen und gerade außerhalb der Zunft starken Widerhall fanden. Die rege öffentliche Debatte hatte offenbart, dass sich die Dynamik der Auseinandersetzung in Folge eines sich verändernden Gesellschaftsverständnisses und vor allem eines beginnenden Rollenwandels der Massenmedien geändert hatte. Teile der westdeutschen Öffentlichkeit und beinahe alle Fachhistoriker außerhalb der BRD empfanden das Vorgehen des Auswärtigen Amts und der Fischer-Kritiker in der Zunft als Ausdruck einer zutiefst undemokratischen Mentalität. Ritters Strategie hatte letztlich genau den entgegengesetzten Effekt erzielt, weil Fischer daraus in der Öffentlichkeit Kapital schlagen konnte und dadurch zu einem Medienstar avancierte. Eine effektivere Strategie gegenüber Fischer war notwendig geworden, sollte die Wirkung seiner Thesen begrenzt werden. Anders als Ritter nahmen Erdmann und Schieder daher an der ARD-Fernsehdebatte teil, ersterer quasi als Ersatz für Ritter und letzterer als Moderator. Schieder rechtfertigte seine Teilnahme gegenüber Ritter: Ich weiß wohl, daß das ganze Unternehmen mit seinem Ergebnis unbefriedigend ist. Aber ich glaube doch bei diesem Versuch mitwirken zu müssen, damit nicht das dumme Gerede von der Verfolgung Fischers durch die Zunft in der Öffentlichkeit geglaubt wird. Sie wissen, daß der SPIEGEL und andere Organe sich an diesem Gerede ständig beteiligt haben und Fischer in eine Art von Märtyrergesinnung sich hineingesteigert hat. Einer solchen Tendenz wollten wir, d. h. Herr Erdmann und ich, entgegenwirken, indem wir einmal vor der Öffentlichkeit

72 U. a. Gerhard Ritter: Der unheilvolle Juli vor fünfzig Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.07.1964; Ders.: Die Schüsse von Sarajewo, in: Saarbrücker Zeitung vom 27./28.06.1964; Ders.: Die umstrittene Schuldfrage, in: Saarbrücker Zeitung vom 01./02.08.1964; Ders.: Der Erste Weltkrieg. Studien zum deutschen Geschichtsbild, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 1964. Zum Niederschlag in den Regionalzeitungen siehe Kurt Mauch an Ritter, 26.02.1965, BArch, N 1166/373. 73 Ritter: Eine neue Kriegsschuldthese?.

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zum Ausdruck brachten, daß es sich hier nicht um hintergründige politische Quertreibereien, sondern um einen wissenschaftlichen Meinungsstreit handelt.74

Insbesondere der Skandal um Fischers US-Reise war für Schieder Grund, durch seine Teilnahme an der TV-Debatte demonstrativ zu zeigen, „daß die deutsche Geschichtswissenschaft Herrn Fischer zwar größtenteils kritisiert, aber doch nicht von einer Debatte ausschließt“.75 Anstatt Fischer zum Schweigen zu bringen und seine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit anzuzweifeln, akzeptierten Schieder und Erdmann die prinzipielle Berechtigung von Fischers Argumenten. Anstatt ihn aus dem wissenschaftlichen Feld zu drängen, versuchten sie die Wirkung seiner Thesen im Feld einzudämmen. Nicht zuletzt, weil es schließlich auch um den öffentlichen Ruf der Zunft ging, schlugen Schieder und Erdmann als deren Repräsentanten den genannten Weg ein. Aus diesem Grund verfolgten beide auch das Ziel, die Debatte aus der Öffentlichkeit zurück in die Wissenschaft und damit unter die Machtmechanismen der Zunft zu holen. Nicht nur sollte die Wirkung von Fischers Thesen eingedämmt, sondern auch das Monopol der Geschichtswissenschaft über die Deutung der deutschen Geschichte wiederhergestellt werden. Schieder und Erdmann war klar geworden, dass sie dies nur in der Öffentlichkeit selbst erreichen konnten. Schieders Schlusswort als Moderator der ARD-Fernsehdebatte deutete dieses unterschwellige Anliegen an: „Wenn etwas sich bei dieser Debatte herausgestellt hat, so ist es doch die Möglichkeit, dass unter Historikern offen, mit dem Willen zum Verständnis für den anderen diskutiert werden kann“.76 Das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit im Zuge des eingangs skizzierten diskursiven Wandels erforderte gewissermaßen eine Strategieanpassung. Anders ausgedrückt: Fischers Sicht auf die deutsche Geschichte erschien Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit plausibel genug, als dass sie allzu offensiv bekämpft und widerlegt werden konnte. Die grundlegende Skepsis vieler etablierter Historiker gegenüber der Beteiligung der Öffentlichkeit an wissenschaftlichen Debatten wurde durch den Berliner Historikertag kaum verringert. Die Berichterstatter der HZ beispielsweise kritisierten, dass die Diskussion einem „modernen Sensationsprozess“ ähnelte, und sie warfen die Frage auf, ob wissenschaftliche Debatten überhaupt vor der Öffentlichkeit ausgetragen werden sollten.77 Allerdings flaute das massenmediale Interesse kurz nach dem Historikertag signifikant ab. Zum Teil kann dies durch die Systemlogik der Massenmedien erklärt werden, nur Themen mit einer wahrgenommenen öffentlichen Relevanz zu besetzen.78 Wenn man den Gesamtzeitraum der Kontroverse zwischen 1961 und 1964 betrachtet, erstaunt es, wie lange das 74 Schieder an Ritter, 06.07.1964, BArch, N 1188/1260 (Hervorhebungen S. P.). 75 Schieder an Ritter, 09.11.1964; sehr ähnlich Erdmann an Ritter, 02.11.1964, beide in BArch, N 1166/353. 76 Diskussionsrunde, 44. Minute. 77 Walter Bußmann/Werner Pöls: 26. deutscher Historikertag, in: Historische Zeitschrift 200.3 (1965), S. 789. 78 Vgl. Große Krachts Anmerkungen zum Begriff des Nachrichtenwerts, Große Kracht: Kritik, Kontroverse, Debatte, S. 263f.

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Interesse der Medien überhaupt anhielt. Allerdings kann das abnehmende Medieninteresse auch als Erfolg der neuen Strategie Schieders und Erdmanns gewertet werden. Ihre Beteiligung an der Diskussion in der Öffentlichkeit, gerade in ihrer Funktion als ‚offizielle‘ Zunftvertreter, verfehlte ihre Wirkung nicht. Als weiteres Indiz für diesen Erfolg kann gelten, dass Fischers Position im wissenschaftlichen Feld sich im Laufe der Kontroverse zwar verbessert hatte, ihm eine weitreichende Anerkennung als Wissenschaftler aber versagt blieb. Auch wenn die Medienstrategien der Historiker hier im Mittelpunkt standen, muss darauf hingewiesen werden, dass die beteiligten Journalisten keineswegs passive und leicht manipulierbare Marionetten der Historiker waren. Im Gegenteil, sie gestalteten die Kontroverse aktiv mit, sowohl was deren Form als auch ihren Inhalt betraf. Die Zustimmung vieler linksliberaler Journalisten zu Fischers Thesen lag eben weniger an Fischers manipulativen Fähigkeiten als daran, dass sie sich mit ihren eigenen historischen und gesellschaftlichen Vorstellungen deckten. Einige Journalisten stimmten Fischers Interpretation sehr wohl zu und versuchten ihn zu unterstützten, indem sie Presseartikel in Fischers Geist veröffentlichten. So schrieb Nellessen an Fischer im Juni 1964, dass „es wohl richtig [war], den Artikel geschrieben zu haben. Sie konnten im Hintergrund bleiben“.79 Augstein hoffte nach seinem Schlagabtausch mit Wirsing, „bei Gelegenheit wieder sekundieren zu dürfen“, und bot Fischer später sogar die kostenlose Hilfe des Spiegel-Anwalts an.80 Es muss offen bleiben, ob der inhaltliche Kern von Fischers Argumenten für die journalistische Hilfe ausschlaggebend war. Trotz aller Anerkennung wurden Fischers Ansichten auch von wohlwollenden Journalisten einer durchaus kritischen Betrachtung unterzogen. Die Form von Fischers historiografischer Herausforderung schien eine mindestens ebenso wichtige Rolle zu spielen wie ihr Inhalt. Fischer traf mit seinem Interesse an ‚kritischem‘ Zeitgeist und öffentlicher Debatte den Nerv der journalistischen Praxis der ‚Zeitkritik‘. Er wollte provozieren und eine Debatte anstoßen, und genau dies wollten auch die Vertreter der journalistischen ‚Zeitkritik‘. Diese Interessenkorrelation zeigte sich insbesondere während der Intervention des Auswärtigen Amts. Die Presse stellte den Vorgang als Skandal dar, wodurch das öffentliche Profil Fischers gestärkt wurde. Das stereotype Interesse der Medien an Sensationen und Skandalen kann dies aber nur zum Teil erklären. Die in Folge der Spiegel-Affäre vom November 1962 gestiegene öffentliche Sensibilität gegenüber ungerechtfertigter staatlicher Einflussnahme spielte eine genauso wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Skandale der frühen 60er Jahre, die von den Massenmedien als Medienereignisse inszeniert wurden, war die Fischer-Kontroverse eine weitere Möglichkeit, die Wirkmächtigkeit einer unabhängigen und ‚kritischen‘ Presse zu demonstrieren. Das Interesse an der Kontroverse und ihr Potenzial für Provokationen deckten sich mit den politischen, aber auch kommerziellen Interessen vieler Journalisten. 79 Nellessen an Fischer, 04.06.1964, BArch, N 1422/5. 80 Augstein an Fischer, 08.07.1964 u. 24.08.1964, BArch, N 1422/5.

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Aber auch die Redakteure, die sich nicht mit Fischer identifizieren wollten, trugen zur Verlängerung und Erweiterung der Kontroverse bei. Die mitunter polemischen Beiträge, wie beispielsweise die Interventionen Wirsings, riefen heftige Reaktionen hervor und fachten somit das Feuer der Debatte weiter an. Aber selbst die weniger aufsehenerregenden kritischen Artikel hatten zur Folge, dass das Thema in den Medien blieb und die mediale Aufmerksamkeit somit verstetigt wurde. Gleichzeitig war das Interesse der Medien am Thema aber nicht grenzenlos, was viele Beteiligte im Laufe der Kontroverse zu spüren bekamen. Beispielsweise hatte der Zeit-Redakteur Karl-Heinz Janßen Erdmanns Manuskript für dessen Artikel im August 1964 erheblich umgeschrieben. Fischer sollte damit keine allzu offensichtliche Angriffsfläche für eine Replik geboten werden, schließlich sei die Zeit nicht an einer „Professoren-Kontroverse“ interessiert.81 Als Augstein im Spiegel auf Erdmann reagieren wollte, musste er feststellen: „Meine eigene Zeitung will von mir keinen Artikel mehr“.82 Auch konnte er die Zeit nicht dazu bewegen, einen Artikel von Imanuel Geiss zu drucken. Zwar gelang es ihm, einen eigenen Artikel beizutragen, aber er war sich bewusst, dass dies „kein Ersatz für eine fachliche Arbeit“ sei.83 Und Fischer selbst musste mehrfach einsehen, dass die Presse mitunter andere Regeln befolgte als die von ihm angenommenen und erhofften. Schluss Das Verhältnis von Historikern und Massenmedien in der Fischer-Kontroverse war komplexer und mehrschichtiger als es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Im vorliegenden Beitrag konnte gezeigt werden, dass die FischerKontroverse nicht eigentlich vor der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, sondern dass die massenmediale Öffentlichkeit für die Kontroverse geradezu konstitutiv war. Die massenmediale Repräsentation wirkte auf die wissenschaftliche Diskussion zurück und verlieh ihr ihre spezifische Dynamik. Drei Auswirkungen der massenmedialen Debatte auf die wissenschaftliche Diskussion scheinen hervorhebenswert. Erstens formten die Presserezensionen vom November 1961 die wissenschaftliche Rezeption selektiv vor, indem sie bestimmte Argumente und Streitfragen in den Vordergrund stellten und dadurch die breitere Öffentlichkeit als auch die Fachhistoriker selbst auf das Buch aufmerksam machten. Zweitens waren es zum großen Teil die Massenmedien, die die Diskussion über das Buch am Laufen hielten. Dass es nicht bei Rezensionen blieb, lag gerade auch an der journalistischen Wahrnehmung, dass Fischers Buch selbst Jahre nach Erscheinen noch eine größere Relevanz für die westdeutsche Öffentlichkeit zugeschrieben wurde. Drittens wurde die Kontroverse in den Medien fast ausschließlich als eine bipola81 Janßen an Erdmann, 17.07.1964, BArch, N 1393/109. 82 Augstein an Fischer, 02.09.1964, BArch, N 1422/5. 83 Ebd.

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re Konfrontation dargestellt, bei der Fischer allein gegen den Rest der Historikerschaft kämpfte. Dies unterschlug zum einen die sicherlich geringe, aber dennoch existierende Unterstützung einiger Fachkollegen für Fischer. Zum anderen überdeckte es nicht unwichtige Differenzen zwischen Fischers Kritikern. Schließlich spielte die massenmediale Öffentlichkeit auch eine bedeutende Rolle in den Strategien einzelner Akteure der Debatte. So war es gerade die Öffentlichkeit der Debatte und der Medienskandal um Fischers abgesagte US-Reise, die zu einer Anpassung der Strategien im Historikerfeld führten. Für Schieder und Erdmann sollte Fischer nicht länger zum Schweigen gebracht, sondern ‚nur‘ innerhalb der Zunft marginalisiert werden. Dies erforderte allerdings vorübergehend die prinzipielle Akzeptanz der Öffentlichkeit in der wissenschaftlichen Diskussion sowie die partielle Anerkennung von Fischers Buch. Um die Terminologie deutscher Militärstrategie im Ersten Weltkrieg zu bemühen: Erdmann und Schieder setzten auf die Zermürbung Fischers statt auf die Vernichtung seiner Reputation.84 In Fischers Strategie spielte die massenmediale Öffentlichkeit eine zentrale Rolle, um die Machtmechanismen der Zunft zumindest vorübergehend auszuschalten und seinem Buch so eine breite Rezeption zu verschaffen. Journalisten verfolgten gegenüber Historikern ihre eigenen professionellen Interessen. Die Vertreter der ‚Zeitkritik‘ erkannten in der Kontroverse eine Möglichkeit, einem kritischen Provokateur ein Forum zu geben, um einen öffentlichen Meinungswettstreit zu inszenieren und somit die angestrebte Pluralisierung der Gesellschaft weiter zu forcieren. Dies weist auch darauf hin, wie stark Fischers Thesen als auch die Kontroverse in der spezifischen historischen Konstellation der frühen 60er Jahre gesehen werden müssen. Die mediale Öffentlichkeit der Fischer-Kontroverse ließ die Kontroverse nicht nur zu einem Meilenstein der Geschichtswissenschaft werden. Im Interaktionsfeld von Wissenschaft, Massenmedien und Öffentlichkeit wurde sie auch zu einem echten Medienereignis. Die gewisse Regelmäßigkeit, mit der Journalisten auch in späteren Jahrzehnten bis in die Gegenwart hinein Anlässe fanden um an Fischer und „seine“ Kontroverse zu erinnern,85 ist letztlich eine Folge dieser Prominenz des Medienereignisses „Fischer-Kontroverse“.

84 Als „Zermürbungsstrategie gegen seine [Fischers] Fehler“ findet sich diese Analogie bei Hans Herzfeld an Ritter, 08.08.1964, BArch, N 1166/353. 85 Stellvertretend sei hier erwähnt Volker Ullrich: „Völlig unreife Thesen“. Die FischerKontroverse um die Mitschuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg wurde vor 50 Jahren der erste große Historikerstreit der Bundesrepublik, in: Die Zeit vom 27.10.2011.

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Medienwirkungen und Medienstrategien in der Fischer-Kontroverse

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Mann, Golo: Der Griff nach der Weltmacht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28.04.1962. Mommsen, Wolfgang J.: Neue Politische Literatur (DLF, 20.04.1962). Nellessen, Bernd: Deutschland auf dem Weg zum „Platz an der Sonne“. Das provozierende Buch eines Historikers, in: Die Welt vom 08.11.1961. Ders.: Maulkorb für einen Historiker?, in: Die Welt vom 03.06.1964. Ritter, Gerhard: Bethmann Hollweg im Schlaglicht des deutschen Geschichtsrevisionismus, in: Schweizer Monatshefte 8.44 (1962), S. 799–808. Ders.: Der Erste Weltkrieg. Studien zum deutschen Geschichtsbild, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 1964. Ders.: Der unheilvolle Juli vor fünfzig Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.07.1964. Ders.: Die Schüsse von Sarajewo, in: Saarbrücker Zeitung vom 27./28.06.1964. Ders.: Die umstrittene Schuldfrage, in: Saarbrücker Zeitung vom 01./02.08.1964. Ders.: Eine neue Kriegsschuldthese? Zu Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, in: Historische Zeitschrift 194.3 (1962), S. 646–668. Ders.: Griff Deutschland nach der Weltmacht? Zu Fritz Fischers umstrittenen Werk über den Ersten Weltkrieg, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 19./20.05.1962. Ders.: Griff nach der Weltmacht? Der Historiker Gerhard Ritter widerlegt die These vom deutschen Imperialismus vor 1914, in: Lübecker Nachrichten vom 20.05.1962. Samhaber, Ernst: Im Bann des Wunschdenkens (SWF, 07.11.1963). Sethe, Paul: Als Deutschland nach der Weltmacht griff, in: Die Zeit vom 17.11.1961. Ders.: Bethmann Hollweg bleibt ein Rätsel, in: Die Welt vom 13.07.1963. Ders.: Korrektur unseres Geschichtsbildes. Zum Streit um Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ (HR, 30.01.1963). Stegmann, Herbert: Am Büchertisch (SFB, 18.05.1962). Studnitz, Hans Georg von: Der deutsche Imperialismus, in: Christ und Welt vom 09.08.1963. Wagner, Helmut: Aus Politik und Zeitgeschichte: Buchbesprechung (SDR, 12.09.1962). Wirsing, Giselher: ... auch am Ersten Weltkrieg schuld?, in: Christ und Welt vom 08.05.1964, S. 17–18. Ders.: Der Bauchredner, in: Christ und Welt vom 10.07.1964, S. 17. Zechlin, Egmont: Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche im Ersten Weltkrieg. Teil 4, in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 15.05.1963, S. 3–47. Ders.: Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche im Ersten Weltkrieg. Teil 5, in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 29.05.1963, S. 3–36.

Neuigkeiten für „Lieschen Müller“ – Innovationen der Medizin im Stern 1948 bis 19551 Livia Prüll Einleitung Die Universitäten waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgrund ihrer Beteiligung am „Dritten Reich“ herausgefordert, mit einem neuen Selbstverständnis an die Öffentlichkeit zu treten. Dies gilt ebenfalls für die einzelnen Fächer bzw. Fakultäten und nicht zuletzt auch für die deutsche Medizin. Sie war 1945 aufgrund der bekanntgewordenen Verbrechen in den Konzentrationslagern, aufgrund der sogenannten „Euthanasieaktion“, ferner wegen der Einbindung in die Wehrmedizin und der Rekrutierung deutscher Lazarettpatienten bis in die letzten Kriegswochen hinein sowie schließlich vor allem durch ihre tragende Rolle in der Umsetzung der Rassenhygiene im nationalsozialistischen Deutschland in eine Legitimationskrise geraten.2 In diesem Sinne ist eine entscheidende Frage, wie sich die Medizin in den Nachkriegsjahren öffentlich präsentierte bzw. wie sie repräsentiert wurde, um wieder Boden gut zu machen und sich in die soziale Ordnung Westdeutschlands und der frühen Bundesrepublik einzufügen. Abgesehen von fachinternen Aktivitäten und Maßnahmen auf der regionalen Ebene waren hier vor allem die Darstellungen in den großen Journalen entscheidend, die nach dem Krieg auf der Basis der Neuregulierung des Pressewesens entstanden. Dieser Beitrag behandelt die Darstellung von Medizin im Journal Der Stern, das 1948 von Henri Nannen (1913–1996) gegründet wurde. Dabei geht es vor allem um die Berichterstattung über Innovationen, die in direktem Bezug zur Leistungsfähigkeit der Medizin und der deutschen Medizinischen Fakultäten stan1

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Der vorliegende Beitrag liefert Ergebnisse aus dem vom Autor geleiteten DFG-Projekt „Patienten, Öffentlichkeit und die Medizin in Westdeutschland, 1945–1970“ (PR 523 / 5-1). Ich danke Sylvia Paletschek, Olaf Schütze und Nadine Kopp für wertvolle Hinweise und Kommentare. Vgl. hierzu Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart: Steiner, 2007; Sigrid Oehler-Klein (Hg.): Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart: Steiner, 2007; Silke Seemann: Die politischen Säuberungen des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1957), Freiburg i. Br.: Rombach, 2002. Siehe zur Situation der Medizin nach 1945 ferner Cay-Rüdiger Prüll: Ärzte, Journalisten und Patienten als Akteure von Teilöffentlichkeiten in Westdeutschland. Eine Analyse am Beispiel des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ (1947–1955), in: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), S. 102–133, hier S. 107–110.

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den. Berichte über Neuentwicklungen der Medizin müssen dabei allerdings in den Kontext der Gesamtberichterstattung über Medizin gesetzt werden, um deren Stellenwert voll bemessen zu können. Der gewählte Bearbeitungszeitraum betrifft die Zeit des Aufbaus Westdeutschlands und der Bundesrepublik Deutschland, die nach dem Stand der bisherigen Forschung etwa bis 1955 reichte. Ab diesem Jahr stellten sich Zeichen einer gelungenen ökonomischen Konsolidierung ein. In den Folgejahren widmete man sich dem Ausbau der vorhandenen Strukturen, sodass die Mitte der 1950er Jahre tatsächlich einen Einschnitt markiert. Ferner konnte sich auch die deutsche Ärzteschaft bis zu diesem Zeitpunkt eine hervorgehobene Stellung im Gesundheitswesen sichern.3 Die Jahre von der Nachkriegszeit bis Mitte der 1950er Jahre können demgemäß als Phase der (Neu-)Positionierung gesellschaftlicher Gruppen und Akteure begriffen werden.4 Aufschlüsse über die Positionierung der Medizin lassen sich vor diesem Hintergrund nicht zuletzt durch eine Analyse des Stern gewinnen. Dieses Journal entwickelte sich nach seiner Gründung 1948 bald zu einem auflagenstarken Medium. Von 130.000 Exemplaren 1948 schoss die Auflage bis 1955 auf 800.000 Exemplare in die Höhe.5 Im Folgenden werden zunächst Hintergrundinformationen über das Journal im Rahmen der zeitgenössischen Entwicklung der Medien in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Im ersten Teil geht es um die Gründung des Stern und um dessen redaktionelle Strukturen, soweit sie die Medizin betreffen. Im zweiten Teil werden die Veröffentlichungen über medizinische Innovationen im Stern und verschiedene Typen der Darstellung medizinischer Inhalte vorgestellt. Insgesamt soll auf diese Weise das Profil der Berichterstattung im Untersuchungszeitraum aufgezeigt werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich den zeitgenössischen LeserInnen Medizin im Stern darstellte.6 Abschließend wird analysiert, wie die Selbstdarstellungen der For3

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Vgl. Christoph Kleßman: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1991; Thomas Gerst: Neuaufbau und Konsolidierung: Ärztliche Selbstverwaltung und Interessenvertretung in den drei Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1995, in: Robert Jütte (Hg.): Geschichte der Deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 1997, S. 195–242. Vgl. dazu auch Axel Schildt: Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 177–206. Siehe auch Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer: Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955– 1975, Stuttgart: Steiner, 2010. Hermann Schreiber: Henri Nannen. Drei Leben, München: Bertelsmann, 19933. Das Leseverhalten der einzelnen Leser des Stern lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sowohl die Entwicklung der Auflagenstärke des Journals, als auch zeitgenössische Umfragen lassen keine Aussagen über diesen Punkt zu. Es ist nicht zu eruieren, ob die Käufer das Journal auch gelesen haben, und die Beantwortung von Fragebogenaktionen geschah meist nur durch eine ausgewählte Klientel der interessierten Leser. Daher bleibt die Hauptquelle einer Zeitschriftenuntersuchung die jeweilige Zeitschrift selbst, was immerhin die Erarbeitung eines Berichterstattungsprofils ermöglicht.

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schungsleistungen der Universitäten auf dem Gebiet der Medizin von den massenmedialen Journalen begleitet wurden. Der Stern und die Medizinberichterstattung Da Druckerzeugnisse während des „Dritten Reiches“ bekanntermaßen vom NSRegime für dessen Propaganda eingesetzt wurden,7 galt die besondere Aufmerksamkeit der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg einer Neuordnung des Pressewesens in den Besatzungszonen. Zunächst wurden schon mit Befehl der Supreme Headquarters of the Allied Expeditionary Forces vom November 1944 (Gesetz Nr. 1919) alle Printmedien verboten, um eine weitere Verbreitung rechtsradikaler Propaganda zu unterbinden. Dieser Beschluss wurde im Mai 1945 auch umgesetzt. Fast gleichzeitig beschloss man allerdings auch eine Zulassung von Zeitschriften durch Lizenzen in den drei westlichen Besatzungszonen. Zeitungsgründer mussten jeweils um die Lizenz für die Herausgabe des geplanten Printmediums nachsuchen. Herausragende Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang die Zweigstelle der Public Relations and Information Services Control (PR/SCI) am Hauptsitz der Britischen Militärregierung in Hannover, die dem 22 Jahre alten Major John Chaloner (1924–2007) unterstand.8 Wie andere später prominente Zeitungen- und Zeitschriftenverleger, so z. B. Rudolf Augstein (1923– 2002) und Axel Springer (1912–1985), trat auch Henri Nannen relativ rasch, schon im Mai 1946, in den Dunstkreis der Lizenzbewerber. Nannen erhielt zunächst eine Lizenz für den Neuen Hannoverschen Kurier, dann im Februar 1947 für die Abendpost. Im selben Jahr wurde er im Rahmen des gegen ihn geführten Entnazifizierungsverfahrens endgültig entlastet.9 Wirklich interessiert war Nannen aber nicht an einer Nachrichtenzeitung, sondern an einer Illustrierten. Die Gelegenheit bot sich ihm im April 1948, als die Engländer den Herausgebern des Jugendmagazins Zick Zack aufgrund permanenter Streitereien die Lizenz entzogen. Nannen erwarb die Lizenz und konnte den seinerzeit zuständigen Offizier des PR/SCI davon überzeugen, die Zeitschrift in Stern umzubenennen. Das erste Heft erschien dann am 1. Oktober 1948.10 Dieses nackte Faktengerüst der Entstehung des Stern, das vom Nestor der Illustrierten in diverse, nicht mehr nachprüfbare Geschichten und Erklärungen eingebettet wurde, muss um Angaben zur Person Nannens ergänzt werden, ohne die auch der Charakter der Berichterstattung über den Bereich Medizin nicht verständlich werden würde. Nannen, 1913 als Sohn eines Emdener Polizeisergeanten geboren, war nach seinem Abitur 1933 zunächst bei einem Osnabrücker Buch7

Vgl. André Uzulis: Nachrichtenagenturen im Nationalsozialismus. Propagandainstrumente und Mittel der Presselenkung, Frankfurt/M.: Lang, 1995. 8 Frank Bösch: Mediengeschichte: vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt/M.: Campus, 2011, S. 200f. 9 Schreiber: Nannen, S. 167–194. 10 Ebd., S. 95–200. Siehe auch Leo Brawand: Der Spiegel – ein Besatzungskind. Wie die Pressefreiheit nach Deutschland kam, Hamburg: EVA, 2007.

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händler in die Lehre gegangen, um dann ab dem Wintersemester 1933/1934 Kunstgeschichte in München zu studieren.11 Mindestens in seiner Studentenzeit zeigten sich dabei schon Attribute seiner Persönlichkeit, die später auch den Umgang mit seiner Zeitschrift und damit die Darstellungen im Stern entscheidend beeinflussen sollten. Mit sehr gutem Sprachgefühl und Eloquenz ausgestattet, hatte der gutaussehende Charmeur und Frauenheld sehr früh die Tendenz, ihm unliebsame Sachverhalte in seiner sprachlichen Gestaltung solange umzubauen, bis sie in sein Bild passten, während er unabänderlich Scheinendes schnell verdrängte.12 Die eigenartige Mischung von Prinzipienlosigkeit und einem starken Willen machte Nannen zu einer schillernden Gestalt und gab auch seinen Aktivitäten in der NS-Zeit ihr eigenes Gepräge. Einerseits Autor von Kunstaufsätzen in NSPropagandazeitschriften, Kriegsberichterstatter und Angehöriger einer Propagandaabteilung bei der Wehrmacht, andererseits dann Beleidigung von Beamten, als sein Vater im Frühjahr 1934 seines Amtes enthoben wurde und das Verhältnis mit einer jüdischen Frau auch nach 1933.13 Ausgestattet mit dem Sensorium für das zeitgemäß Erwartete und einem mit Ichstärke gepaarten Durchsetzungswillen, herrschte Nannen im Stern ab 1948 einerseits wie ein Despot und verlangte von seinen Mitarbeitern Unterwürfigkeit und Dauereinsatz für das Journal. Er fällte seine Entscheidungen aus dem Bauch heraus, bestimmte die jeweilige Zusammensetzung des Stern-Heftes eklektisch, ohne System. Andererseits besaß er anscheinend ein Gespür für das, was die Menschen anzog, für die Interessen von „Lieschen Müller“, wie er es nannte, das heißt für die Interessen des „kleinen Mannes“ von der Straße. Wichtig war die Story, die gut aufbereitet war.14 Diese Art und Weise, Journalismus zu betreiben, entsprach nicht nur Nannens Wesen. Er knüpfte damit vielmehr auch an die Tradition des Unterhaltungsjournalismus der 1930er und 1940er Jahre an. Ein gleichnamiges Magazin war schon von dem Berliner Publizisten Kurt Zentner († 1974) zwischen 1938 und 1940 mit gleichem Duktus herausgegeben worden: Unterhaltung für die breitere Öffentlichkeit, versetzt mit starken Werbeanteilen der seinerzeit aufstrebenden Konsumindustrie.15 Sehr wahrscheinlich hat Nannen dieses Produkt übernommen und in „die allseits bekannte blaue Niveadose...eine eigene weiße Creme hineingefüllt“.16 Die „Creme“ in der „Dose“ Stern bestand bis Ende der 1960er Jahre, bevor das Blatt liberale Züge gewann, unter anderem aus einer „populistischen und exkulpativen“ Berichterstattung über die jüngere deutsche Vergangenheit, die nicht nur in Sachartikeln, sondern auch in Fortsetzungsromanen und Anekdoten aufschien.17 11 12 13 14 15

Schreiber: Nannen, S. 39, 45f. Ebd., S. 33–39, 45. Ebd., S. 49f., 71–95. Ebd., S. 240–258. Vgl. Nils Minkmar: Die doppelte Wundertüte. Wie Henry Nannen den „Stern“ erfand, in: Lutz Hachmeister/Friedemann Siering (Hg.): Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München: Beck, 2002, S. 185–195, hier S. 186f.; Stern im Schatten des Sterns, in: Zeit online vom 19.04.2000, S. 1. 16 Ebd., S. 193. 17 Ebd., S. 193.

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Abgesehen von der konservativen Grundausrichtung mit zum Teil deutschnationalem Gepräge gewann ein Punkt enorme Prägekraft für den Stern, der Nannen außerordentlich wichtig war: das Renommee des Stern als „Reichsgericht des kleinen Mannes“.18 Damit wurden breite Schichten der Bevölkerung nicht nur dort abgeholt, wo sie waren, sondern gewissermaßen hofiert, indem sich der Stern sich das Image gab, sich für ihre Rechte einzusetzen. Stories über die Benachteiligungen des „kleinen Mannes“ boten dabei nicht zuletzt auch die Chance, alt und neu zu versöhnen, indem der Einsatz für „Grundrechte“ gleichzeitig den Touch der Demokratieerziehung vermittelte. Dies ist der Rahmen, indem sich die Berichterstattung über Medizin abspielte. Da die Kreation der Hefte um den Macher Nannen kreiste, gab es für die Medizin wie auch für die anderen Themenbereiche zunächst keine eigenen Ressorts. Ganz unorganisiert blieb die Berichterstattung über Medizin dennoch nicht. Für Nannen war die Medizin nämlich aus zwei Gründen wichtig: Einerseits ergaben sich gute Möglichkeiten für Stories, andererseits war Nannen ein ausgeprägter Hypochonder, der sämtliche Krankheiten bei sich selbst diagnostizierte. Dies war bei den Mitarbeitern allgemein bekannt und führte zu allerlei Scherzen. Immer auf der Suche nach „dem richtigen Medikament“ führte Nannen nach Angaben seines Biografen Hermann Schreiber stets eine stattliche Anzahl von Medikamenten mit sich.19 Für die Umsetzung der Medizin in der Berichterstattung des Stern spielte einer der Mitarbeiter der ersten Stunde in der Redaktion des Journals, Günter Dahl (1923–2004), eine entscheidende Rolle. Dieser hatte 1942 Abitur gemacht, drei Semester Zeitungswissenschaften studiert und sich nach dem Krieg um ein Volontariat bemüht. Schließlich wurde er bei dem schon genannten Journal Zick Zack angestellt – angeblich nur deshalb, weil er eine Schreibmaschine besaß. Nannen übernahm Dahl von dort als Mitarbeiter und betraute ihn ab 1948 informell mit dem Gebiet der Medizin, vermutlich weil er ein guter Journalist und Rechercheur war, wohl aber auch, weil er aus dem Krieg eine Geh- und Sprechbehinderung davongetragen hatte und damit eigene Erfahrungen mit Leid gesammelt hatte.20 Die Bedeutung, die Nannen seinem inneren Gespür für die Bedürfnisse der Leser beimaß, spiegelt sich damit auch in dieser Entscheidung. Es war vor allem Dahl, der Beiträge zur Medizin beisteuerte oder organisierte. Sein Wissen bezog er aus Fachzeitschriften, ferner über allerlei Kontakte, unter anderem später zu den Auslandsbüros des Stern, die die Redaktion in Hannover mit Hinweisen versorgten.21 Perfektioniert wurde dieses System ab 1962, als der Journalist Klaus Lempke (*1933), der bis zum Physikum Medizin studiert hatte, zur Redaktion des Stern 18 Schreiber: Nannen, S. 252. 19 Ebd., S. 421. 20 Ebd., S. 197–199; Telefonat mit Klaus Lempke, Redakteur beim Stern 1962–1997, 12.04.2010. Siehe zu Dahls Lebensweg auch Günter Dahl: Meine steile Karriere, in: Stern.de, 11.04.2005 (http://www.stern.de/nannen/guenter-dahl-meine-steile-karriere-538901.html, Zugriff am 09.11.2012). 21 Interview mit Gerhard E. Gründler, Redakteur beim Stern 1963–1971, 1977–1979, 01.06.2010, in Hamburg.

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hinzustieß und Dahls rechte Hand wurde.22 In der Stern-Redaktion galt Dahl als Nannens „Leibarzt“, Lempke dann später als dessen „Oberarzt“.23 Die Berichterstattung des Stern über Medizin war auf Nannens „Programm“ ausgerichtet: Zunächst galt es, medizinische Neuigkeiten als Unterhaltung für die Leserschaft aufzubereiten. Ferner entwickelte Dahl, später noch intensiviert durch die Zusammenarbeit mit Lempke, einen missionarischen Impetus zur Gesundheitserziehung der Leser. Dieser mündete in die Abfassung von Ratgeberliteratur für die Leser. Daher war für die Artikelmacher auch der valide Informationsgehalt der Berichte wichtig, die an die Öffentlichkeit gelangten. Damit ergab sich eine eigenartige Mischung der Zielsetzung, die im Folgenden anhand der Beiträge im Stern über Medizin und medizinische Innovationen genauer betrachtet werden soll.24 Medizinische Innovationen im Stern Entsprechend den Interessen Nannens und seiner Mitarbeiter fanden schon 1948 Beiträge über Medizin Eingang in das Journal. Von Anfang an waren Innovationen ein begehrtes Objekt der Recherchen. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht ein Artikel über das Antibiotikum Penicillin, abgedruckt im Heft 19 des Gründungsjahres 1948. Penicillin galt in dieser Zeit als Wunderwaffe der Medizin, mit der zum ersten Mal eine effektive Behandlung eines breiten Spektrums von Infektionen möglich wurde. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass es sich um eine angloamerikanische Innovation handelte: Entdeckt von dem englischen klinischen Pathologen und Bakteriologen Alexander Fleming (1881–1955), für die Serienproduktion künstlich synthetisiert von dem Oxforder Pathologen Howard Florey (1898–1968) und seinem Team und dann in Serienproduktion ab 1940 in den USA hergestellt, versinnbildlichte das Penicillin eine dynamische und effektive westliche Medizin, deren Potentiale nun auch für Westdeutschland nutzbar gemacht werden mussten und konnten.25 Dies umso mehr, als das Arzneimittel nach der Kriegsniederlage und den zunächst chaotischen Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre erst mit Verzögerung in die deutschen Krankenanstalten vor22 Telefonat mit Klaus Lempke, 12.04.2010. 23 Schreiber: Nannen, S. 421. 24 Zur Intention von Dahl und Lempke, die Bevölkerung über medizinische Leiden und deren Behandlung zu informieren, siehe deren einschlägige Publikationen ab den 1960er Jahren: Günter Dahl/Klaus Lempke (Hg.): Prominente über: Die großen Krankheiten unserer Zeit, München: Heyne, 1967; Dies.: Wer bescheid weiß, muß nicht leiden. Fachärzte berichten, Düsseldorf: Econ, 1970; Klaus Lempke (Hg.): AIDS Stern Report. Die Seuche, die unser Leben verändert – wie sie entstanden ist, wie sie erforscht wird und wie man sich schützen kann, Hamburg: Gruner u. Jahr, 1987. 25 Zur Geschichte des Penicillin vgl. Robert Bud: Penicillin – Triumph and Tragedy, Oxford: Oxford Univ. Press, 2007; Inge Pieroth: Penicillinherstellung. Von den Anfängen bis zur Großproduktion (= Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte, Bd. 9), Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsanstalt, 1992.

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drang. Gleichzeitig wurde damit der Nachholbedarf an einer Ausrichtung der naturwissenschaftlichen Medizin gestillt, die sich auf verborgene Krankheitsprozesse konzentrierte. Die Analyse dieser Prozesse versprach eine neue, bessere Therapie von Krankheiten und konzentrierte sich auf Fächer wie Biochemie, Immunologie und Bakteriologie. Diese „physiologische Medizin“ hatte sich ab 1900 durchgesetzt und die Dominanz einer „morphologischen Medizin“ abgelöst, die sich vornehmlich auf die Erforschung der regulären (physiologischen) und krankhaften Morphologie des menschlichen Körpers gestützt hatte.26 Wichtige Vertreter der neuen, „physiologischen Medizin“ in Deutschland waren jüdischen Glaubens oder galten nach den rassischen Kriterien des NS-Staates als Juden und wurden nach 1933 aus Deutschland vertrieben und ermordet. Aufnahmeland war nicht zuletzt die USA, sodass man in Deutschland nach 1945 mit der Suche nach Anschlussfähigkeit an die westliche Welt gleichzeitig an verlorene eigene Traditionen anknüpfen konnte.27 Genau hier setzte die Berichterstattung des Stern an, indem unter dem Titel Penicillin. Made in Germany auf zwei Seiten über die Entdeckung und Herstellung von Penicillin berichtet wurde.28 Die drei Absätze des Haupttextes konzentrierten sich auf die Entdeckung der Substanz in England und die erste Großherstellung in den USA. Sie taten dies aber nicht, ohne diese Forschungsergebnisse mit deutschen Vorentwicklungen zu verzahnen, die als weniger effektiv dargestellt wurden: Tröstlich und ermutigend für Kranken und Arzt aber ist es zu wissen, daß neben den Sulfonamiden, jener großartigen Erfindung der deutschen chemischen Forschung, nun in den antibiotischen Heilmitteln weitere wirksame Waffen zur Bekämpfung bakterieller Krankheitsprozesse zur Verfügung stehen.29

Die deutsche medizinische Forschung erschien somit nicht einzig und allein als Bittsteller, sondern konnte sich auf eigene Beiträge berufen, die den Rückstand und die Kompensation leichter erträglich machten. Gerhard Domagk (1895–1964) hatte 1935 den antibakteriell wirksamen Farbstoff Prontosil (Sulfonamid) entwik26 Vgl. Cay-Rüdiger Prüll: Medizin am Toten oder am Lebenden? Pathologie in Berlin und in London 1900–1945, Basel: Schwabe, 2003, S. 204–265; Ders.: Von der sichtbaren zur unsichtbaren Morphologie – der Körper in der naturwissenschaftlichen Medizin im 19. und 20. Jahrhundert, in: Franz Josef Illhardt (Hg.): Die Medizin und der Körper des Menschen, Bern: Huber, 2001, S. 17–29. 27 Ein Beispiel für „verlorenes“ Wissen im Bereich der physiologischen Medizin ist der Biochemiker Rudolf Schönheimer, der gleich 1933 in die USA emigrierte. Schönheimer konnte durch Tierversuche entscheidende Erkenntnisse über die Verarbeitung von Nahrungsmitteln im menschlichen Organismus gewinnen. Vgl. dazu Heiner K. Berthold: Rudolf Schönheimer (1898–1941). Leben und Werk: veröffentlicht aus Anlaß des 100. Geburtstages am 10. Mai 1998, Freiburg i. Br.: Falk-Foundation, 1998. Siehe auch Eduard Seidler/Karl-Heinz Leven: Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen (= Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, NF, Bd. 2), Freiburg i. Br.: Alber, 2007, S. 461–463. 28 Heinrich Heidersberger: Penicillin. Made in Germany, in: Der Stern 1.19 (1948), S. 4f. 29 Ebd., S. 5.

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kelt, an den der Stern in diesem Zusammenhang erinnerte.30 Zudem bezogen sich fünf der sechs Legenden der insgesamt zehn Bilder, die den Artikel illustrierten, auf die nunmehrige Produktion des Penicillin in Deutschland, womit ebenfalls die Position der eigenen Forschung betont wurde. Damit spiegelte die Berichterstattung die deutschnational-konservative Grundausrichtung des Stern wider, die sich nicht auf Umgang mit Schuld und Versäumnissen konzentrierte, sondern eher eigene Traditionen zur Abwehr von Vorwürfen mobilisierte. Doch nicht nur hier wurde Nannens Handschrift spürbar, sondern auch im Bemühen um Zugang zu „Lieschen Müller“. Dies geschah zunächst durch das beeindruckende Übergewicht von Bild gegenüber Text: Bilder nehmen 70 bis 80% der beiden Seiten ein, der Text wirkt marginal. Großformatige Fotografien von Laboratorien und einer Penicillinflasche emotionalisierten das Thema und luden es mit Bedeutung auf. Direkt auf die potentielle PatientIn zielte nicht zuletzt die Großaufnahme eines aufgeschnittenen, durch Bakterien geschädigten Herzens und die Aufnahme einer Petrischale von oben, in der der Kampf von Bakterienkolonien mit dem Antibiotikum visualisiert wurde. Dem Zufall war hier nichts überlassen, denn es handelte sich in diesem Beitrag nicht um Routinefotos, die man von Medizinern erhalten hatte. „Geschossen“ hatte sie der Fotograf Heinrich Heidersberger (1906–2006). In der Zwischenkriegszeit zunächst als Maler ausgebildet, hatte er sich in den 1930er Jahren mit der zunehmend wichtiger werdenden Fotografie beschäftigt. Gleich 1948 stieß er zum Stern, für den er nicht nur Aktfotografien mit Lichtkanone fabrizierte, sondern auch Effektfotos mit Hilfe eines speziellen von ihm entwickelten Gerätes, das Lichtspuren festhalten konnte. Heidersberger ging es damit vornehmlich um Effekte und um die Erzeugung einer „Bildsprache“, die Emotionen auslösen sollte.31 Dieser öffentlichkeitswirksame Umgang mit medizinischen Innovationen blieb im gesamten Bearbeitungszeitraum erhalten. Im Jahr 1955 publizierte der Stern einen Beitrag über einen neuen Impfstoff gegen die Kinderlähmung (Poliomyelitis), der von dem Amerikaner Jonas E. Salk (1914–1995) entwickelt worden war.32 Unter dem Titel Sieg über die Kinderlähmung wurden zunächst Salks Erfolge beschrieben. Zitiert wurde der Bericht von Dr. Thomas Francis jr. (1900– 1969), Direktor des Poliomyelitis Vaccine Evaluation Center an der University of Michigan/Ann Arbor, der die Entdeckung bekanntgab und im Stern-Artikel schlicht als „Leiter des US-Impfstoffamtes“ bezeichnet wurde. Der Stern resümierte: „Mit diesem triumphalen Forschungsbericht ist der Kampf gegen die Schreckenskrankheit gewonnen.“33 Neben der dominierenden US-Medizin wurden in zweiter Reihe allerdings auch die Forschungen sowohl aus Deutschland als 30 Marcel H. Bickel: The Development of Sulfonamides (1932–1938) as a Focal Point in the History of Chemotherapy, in: Gesnerus 45 (1988), S. 67–86; Prüll: Medizin am Toten oder am Lebenden?, S. 223. 31 Tobias Hoffmann/Bernd Rodrian (Hg.): Ästhetik der Moderne. Photographien von Heinrich Heidersberger, Köln: Wienand, 2007. 32 Sieg über die Kinderlähmung, in: Der Stern 8.19 (1955), S. 4f. 33 Ebd., S. 5.

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auch aus Frankreich erwähnt: „Fast zur gleichen Zeit, als Dr. Salk in den USA die Ergebnisse seines Großversuchs auswertete, waren auch in Deutschland und Frankreich die Forscher am Ziel.“34 Gewährsmann war Richard Haas (1910– 1988), Leiter des Institutes für experimentelle Therapie an der Universität Marburg, der nach Angaben des Stern seine eigene Tochter mit seinem neuen Impfstoff geimpft hatte. In dem Beitrag wurden die deutsche bakteriologische Forschungstradition seit Robert Koch, dem Nestor des Faches in Deutschland, angesprochen. Die Karriere von Haas als SS-Arzt, der zwischen 1942 und 1944 mit seinen Impfstoffforschungen an seinem Institut in Lemberg mit der Fleckfieberversuchsstation des Konzentrationslagers Buchenwald zusammenarbeitete, wurde nicht erwähnt.35 Die Bemühungen deutscher Mediziner um Anschluss an die USA und die Probleme mit einer durch die NS-Zeit übersensibilisierten deutschen Bevölkerung spiegeln sich in der Stern-Berichterstattung: In einer Bildlegende zur Fotografie der Impfung der Tochter von Richard Haas wird als Zeuge der Professor für Kinderheilkunde in Freiburg, Walter Keller (1894–1967) abgelichtet. Wie in dem Beitrag von Nadine Kopp in diesem Band gezeigt wird, hatte Keller in Freiburg nach Impfzwischenfällen im Rahmen der amerikanischen Massenuntersuchung zu Polio, die die Effizienz des Impfstoffs beweisen sollte, schwerste Überzeugungsarbeit zu leisten, um eine impfunwillige Bevölkerung in Freiburg wieder auf seinen Kurs zu bringen.36 In der Konzentration auf große Bilder bestehen ebenfalls Parallelitäten zwischen diesem Artikel von 1955 und dem früheren Penicillin-Artikel von 1948: Photographische Illustrationen nehmen insgesamt mindestens 60% der beiden Heftseiten ein. Insgesamt neun Bilder decken dabei sämtliche Aspekte des Themas ab: Nicht nur heroische Mediziner wie Salk und Haas, sondern vor allem großformatig aufgenommene PatientInnen erzeugten emotionale Nähe zur Leserschaft, deren eigene Lebenserfahrungen auf diese Weise indirekt angesprochen wurden.

34 Ebd., S. 5. 35 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M.: Fischer, 2003, S. 213. 36 Vgl. Nadine Kopp: Vertrauensbildende Maßnahmen: Die Medizinische Fakultät Freiburg und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit in den 1950er Jahren am Beispiel der Poliomyelitis-Impfung. Beitrag in diesem Band, S. 323–341. Siehe zur Geschichte der Polio-Impfung auch Ulrike Lindner: Changing Regulations and Risk Assessments: National Responses to the Introduction of Inactivated Polio Vaccine in the UK and West Germany, in: Christoph Gradmann/Jonathan Simon (Hg.): Evaluating and Standardizing Therapeutic Agents, 1890–1950, Houndmills: Palgrave, 2010, S. 229–251. Siehe zu Walter Keller Eduard Seidler: Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen, Berlin: Springer, 1991, S. 418; Seidler/Leven: Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, S. 695f.

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Heroische Ärzte Wichtig war für das zeitgenössische Umfeld derartiger Berichte der Topos des heroischen Mediziners als Forscher und Arzt aus mindestens zwei Gründen: Zum einen war die Zeit der bedeutenden Ärzte, der individuellen Berühmtheiten, noch nicht vorbei bzw. gerade erst am verstreichen. Im Rahmen der Durchsetzung der naturwissenschaftlichen Medizin im 19. Jahrhundert hatte die Bevölkerung zunehmend von berühmten Ärztepersönlichkeiten Kenntnis genommen – nicht zuletzt auch durch die sich verstärkende populärwissenschaftliche Darstellung der Medizin in zeitgenössischen Printmedien wie der Gartenlaube.37 Das Image des medizinischen Forschers als Einzelkämpfers und besonderer Persönlichkeit hatte sich danach bis in die 1940er Jahre gehalten, bis sich dann zunehmend neue Strukturen der Wissensgenerierung durchsetzten.38 Medizinische Forschung basierte zunehmend auf einer komplizierter werdenden Technologie, die letztlich nur durch Laborteams beherrscht werden konnte, wobei die Einzelpersönlichkeit mehr und mehr in den Hintergrund trat. Doch dieser Sachverhalt wurde den Zeitgenossen in den 1950er Jahren allenfalls in Ansätzen vermittelt. Dominiert wurde die öffentliche Präsentation der Medizin durch die Biografie des berühmten Mediziners. Der Pfälzer Schriftsteller Rudolf Thiel (1899–1981) hatte 1931 mit seiner launigen medizinhistorischen Darstellung Männer gegen Tod und Teufel Akzente gesetzt, die noch in die Nachkriegszeit hinein wirkten. Die letzte Auflage wurde 1965 gedruckt.39 Allgegenwärtig war Anfang der 1950er Jahre ferner das Leben und Wirken des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Fach durch Innovationen maßgeblich geprägt hatte. Dabei stand Sauerbruch, der bis in die letzten Kriegstage in den Kellern der Berliner Charité noch verwundete Soldaten versorgt hatte, nicht nur für die Weltgeltung deutscher Wissenschaft, sondern auch für selbstloses Arzttum. Kurz nach seinem Tod erschienen im Jahre 1951 seine Memoiren, die nicht zuletzt aufgrund seiner Altersdemenz nur begrenzten Wert haben, aber dennoch den Ruhm des Chirurgen noch für die Folgegeneration, zumindest bis in die 1970er Jahre hinein, konservierten.40 37 Florian Mildenberger: Medizinische Belehrung für das Bürgertum: Medikale Kulturen in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ (1853–1944), Stuttgart: Steiner, 2012. 38 Vgl. Willium Bynum: Science and the Practice of Medicine in the 19th Century, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1994. 39 Rudolf Thiel: Männer gegen Tod und Teufel, Berlin: Neff, 1931. Im Jahr 1964 ist abgesehen von Neff als dem Erstverleger ebenfalls eine Auflage im Heyne-Verlag erschienen, was die Popularität und den Erfolg des Buches bezeugt. 40 Vgl. Ferdinand Sauerbruch: Das war mein Leben, Bad Wörishofen: Kindler u. Schiermeyer, 1951, ständige Neuauflagen mindestens bis 1998. 1954 wurde die Autobiographie unter dem Titel Sauerbruch – Das war mein Leben mit Ewald Balser in der Hauptrolle verfilmt: Sauerbruch – Das war mein Leben (Deutschland 1954, Regie: Rolf Hansen). Vgl. ebenfalls Wolfgang U. Eckart: Ernst Ferdinand Sauerbruch, in: Michael Fröhlich (Hg.): Die Weimarer Republik – Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt: Primus, 2002, S. 175–187; Ders.: „Der Welt zeigen, dass Deutschland erwacht ist...“: Ernst Ferdinand Sauerbruch und die Charité-Chirurgie 1933–1945, in: Sabine Schleiermacher/Udo Schagen (Hg.): Die Charité im

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Die andere Ursache für die unproblematische Heldenverehrung einzelner Mediziner ist in der neuen Bedeutung naturwissenschaftlicher Innovationen selbst begründet. Neue Entwicklungen wie die bereits geschilderte Entdeckung des Penicillins ermöglichten nicht nur ein Andocken an die USA im Rahmen der generellen Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland an der westlichen Welt. Die „physiologische Medizin“, das scheinbar nunmehr anbrechende „goldene Zeitalter“ der modernen Medizin mit ihrer starken Fokussierung auf (Patho-)Biochemie und -Physiologie41 ermöglichte eine plausible Ideologieferne und Abkehr von entsprechenden Forschungen der NS-Zeit. Die rezente Forschung erschien nun als nüchterne Extraktionen quasi-objektiver Fakten aus dem Naturreich. Damit bot sich für die Medizinerschaft gleichzeitig die Chance, die Glaubwürdigkeit der eigenen Arbeiten zu erhöhen. Ferner kam hinzu, dass Forschungen wie die zum Penicillin, die sich erst nach der Kriegsniederlage auch auf den deutschen Gesundheitsmarkt auswirkten, vom Heroenkult der Zwischenkriegszeit zehrten, zumal Pioniere wie Alexander Fleming auch noch in den 1950er Jahren an ihrer eigenen Forschungsgeschichte arbeiteten.42 In diesem Sinne ackerte also der Stern mit seinen Innovationsberichten auf bereits bekanntem Terrain. Die NS-Vergangenheit der deutschen Medizin Fokussiert man derartige Artikel über aktuelle – vor allem US-amerikanische – Innovationen der naturwissenschaftlichen Medizin, so kann man feststellen, dass diese von anderen Themenfeldern der medizinischen Berichterstattung ergänzt wurden, die den Gesamteindruck des Lesers über das Themenfeld Medizin beeinflussen mussten. Dabei erhielt das zunächst heile Bild der medizinischen Innovationen unter deutscher Beteiligung Risse und Verwerfungen. Ein Thema, das in diesem Zusammenhang auffällt, ist dasjenige der NS-Vergangenheit der deutschen Medizin. Diese wurde durchaus im Stern thematisiert. Generell zeigte der Stern hier allerdings zunächst Zurückhaltung – ganz entsprechend der Haltung seines Schöpfers, der bis in die 1980er Jahre große Probleme hatte, sich zu seinem Verhalten im „Dritten Reich“ zu bekennen und darüber offen zu diskutieren.43 Die Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn: Schöningh, 2008, S. 189–206, hier S. 189. 41 Vgl. hierzu Roger Cooter/John Pickstone: Introduction, in: Dies. (Hg.): Medicine in the 20th Century, Amsterdam: Harwood, 2000, S. XIII–XIX; Alan M. Brandt/Martha Gardner: The Golden Age of Medicine?, in: ebd., S. 21–37. Siehe ergänzend auch die kurzen Beiträge in Dominik Groß/Hans-Joachim Winckelmann (Hg.): Medizin im 20. Jahrhundert. Fortschritte und Grenzen der Heilkunde seit 1900, München: Reed Elsevier, 2008. 42 Gwyn MacFarlane: Alexander Fleming. The Man and the Myth, Oxford: Harvard Univ. Press, 1985; Ronald Hare: New Light on the History of Penicillin, in: Medical History 26 (1982), S. 1–24; Ders.: The Birth of Penicillin and the Disarming of Microbes, London: Allen and Unwin, 1970; Ders.: The Scientific Activities of Alexander Fleming other than the Discovery of Penicillin, in: Medical History 27 (1983), S. 347–372. 43 Schreiber: Nannen, S. 71–95.

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Linie des Stern kann am Umgang mit dem schon genannten Ferdinand Sauerbruch demonstriert werden. Anlässlich des Entnazifizierungsverfahrens, dem auch dieser unterworfen wurde, druckte das Journal 1949, quasi unterhaltsam aufbereitet zwischen Nachrichten zu einer amerikanischen Kunstreiterin links und einem Model im Bikini rechts, einen Kurzbericht über Sauerbruch: Ein größeres Foto zeigt den Chirurgen, wie er sich zu einem Mann im Rollstuhl herunterbeugt: „Gratuliere, Herr Professor!“ – so die kurze, achtzeilige Legende. Ein ehemaliger Patient erwartete ihn im Rollstuhl vor dem Gebäude der Entnazifizierungskommission in Berlin-Charlottenburg, um ihm nach erfolgter Entlastung die Hand zu schütteln. Sauerbruch wurde für „nicht betroffen“ erklärt, weil er „im Dritten Reich oft Hilfe gewährt hatte, die im nationalsozialistischen Sinne unerwünscht und unzulässig war“.44 Heroenverehrung und eine verharmlosende Darstellung der NS-Zeit, die auch tragenden Figuren der Gesellschaft Widerständigkeit attestierte, konnten durch derartige Meldungen amalgamiert werden. Dabei war Zeitgenossen durchaus klar, dass Sauerbruch im „Dritten Reich“ eine schillernde Gestalt war: Ein relativ ausführlicher Bericht über das Entnazifizierungsverfahren gegen Sauerbruch wurde ebenfalls 1949 im Journal Der Spiegel veröffentlicht. Dieser Bericht machte deutlich, dass der renommierte Chirurg durchaus vom NS-Regime profitiert hatte.45 Bemerkenswerterweise wurde der Stern aber hinsichtlich der Verbrechen des Nationalsozialismus deutlicher, wenn es um die Darstellung medizinischer Alltagspraxis ging und aufgrund biografischer Bezüge der behandelten Personen eine Thematisierung notwendig schien oder gar unumgänglich wurde. So publizierte der Stern im Juli 1950 einen Beitrag über die schlechte medizinische Behandlung von PatientInnen in der psychiatrischen Anstalt Eichberg, in der zwischen 1933 und 1945 Zwangssterilisationen durchgeführt und Patienten ermordet worden waren.46 Den Missständen in der Anstalt Eichberg wurden die Verhältnisse in einer als modern beschriebenen Anstalt, nämlich Grafenberg, gegenübergestellt.47 Die beschuldigten leitenden Ärzte der Anstalt Eichberg, Dr. Wilhelm Hinsen (1894– 1980) und Gerhard Ohm, wehrten sich und zeigten den stellvertretenden Chefredakteur des Stern, Karl Beckmeier, den Reporter Michael Heinze-Mansfeld sowie den Fotografen Rudolf Siewers wegen falscher Anschuldigungen und übler Nachrede an. Das Heft des Stern mit dem Erstbericht wurde von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt.48 Während des Prozesses, der als zweiter großer Nachkriegsprozess zu ärztlichem Fehlverhalten nach dem Nürnberger Prozess hohe öffentliche Wogen schlug, wurden unter anderem die Praktiken der Mediziner und deren Gesamthaltung offen verhandelt. Bald zeigte sich auch, dass bei dem Prozess nichts mehr 44 „Gratuliere, Herr Professor“ < Profile der Zeit >, in: Der Stern 2.33 (1949), S. 3. 45 Das ist der Hitler gewesen. Lassen wir das, in: Der Spiegel 3.18 (1949), S. 24. Siehe zu Sauerbruchs Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus die ausführliche Analyse von Wolfgang U. Eckart: „Der Welt zeigen, dass Deutschland erwacht ist...“, S. 189–206. 46 Wir fragen..., in: Der Stern 3.28 (1950), S. 6f. 47 Wir erkannten, in: Der Stern 3.28 (1950), S. 8f. 48 Wir fragten die Ärzte von Eichberg, in: Der Stern 3.30 (1950), S. 6f., 28.

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oder weniger als die freiheitliche Berichterstattung auf dem Spiel stand. Während die Stern-Mitarbeiter allerdings nur aufgrund von vermeintlichen oder tatsächlichen Formfehlern bei ihren Recherchen zu geringen Strafen verurteilt wurden, wurde der Prozess für die beiden Ankläger aus Eichberg durch die Offenlegung all ihrer Behandlungspraktiken zu einer unangenehmen Prozedur. In diesem Sinne feierte der Stern das Ergebnis zu Recht als eine Verteidigung der freiheitlichen Berichterstattung in der jungen Demokratie. Im Rahmen der Recherchen und Berichte wurde der Leser dabei an die jüngere deutsche Vergangenheit erinnert.49 Dies geschah nicht nur im Hinblick auf die Geschichte der Anstalt Eichberg zwischen 1939 und 1945, sondern auch im Hinblick auf die damalige Tätigkeit von Gerhard Ohm als Wehrmachtsarzt während der Kriegsjahre. Der Stern zog in der prekären Situation alle Register und erwähnte in einem Beitrag, dass das Gericht Dr. Ohm für überführt halte, „während des Krieges als Lazarettarzt in Königsberg die ihm damals als Patienten unterstellten Landser nicht nur nicht richtig behandelt, sondern vielmehr richtig mißhandelt zu haben.“50 Auch hier wurde an Erinnerungen der Leser angeknüpft, denn das Wirken der Wehrmachtsärzte war selbst an der Heimatfront spürbar gewesen. So war beispielsweise Helmut Bohnenkamp (1892–1973), Leiter der Inneren Klinik der Universität Freiburg, durch seine Suche nach „Drückebergern“ in Lazaretten und eine in diesem Zusammenhang ungewöhnlich harte Remobilisierung von verwundeten Soldaten aufgefallen.51 Dementsprechend verhielt sich auch der Stern im Hinblick auf eine Berichterstattung über die NS-Vergangenheit nicht vollständig passiv. Im vorliegenden Fall war die Position des Stern als Medium der freiheitlichen Berichterstattung bedroht. Ferner ging es auch um die Rechte des „kleinen Mannes“ und um diejenigen, die die Willkür der Wehrmachtsärzte zu spüren bekommen hatten. Patientengeschichten In Anknüpfung an das letzte Beispiel zählen zu den kritischen Berichten auch diejenigen, die sich stärker auf Patienten konzentrieren. Wie gesehen waren die Übergänge von der Innovationsberichtserstattung hin zur Darstellung von Patientenschicksalen fließend. So standen beispielsweise in dem Artikel Das Herz der Mutter schlägt für Ihr Kind von 1955 eine Frau und ihr Baby im Zentrum des In49 Vgl. auch den Bericht von Jan Molitor in der Zeit vom 13. November 1952, Jan Molitor: Ärzte, Richter, Presseleute...Wer weiß, was Journalismus heißt? – Ein Nachwort zum „Eichberg-Prozeß“, in: Die Zeit vom 13.11.1952 (http://www.zeit.de/1952/46/aerzte-richter-presseleute, Zugriff am 23.11.2012). 50 Die Freiheit, hohes Gericht, bleibt in unserem Lande immer ein Abenteuer, in: Der Stern 8.45 (1952), S. 4f., 36. Siehe das Zitat auf S. 5/36. 51 Alexander Neumann: Medizin und Krieg. Freiburger Ordinarien im Dienst der Wehrmacht, in: Bernd Grün/Hans-Georg Hofer/Karl-Heinz Leven (Hg.): Medizin im Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ (= Medizingeschichte im Kontext, 10), Frankfurt/M.: Lang, 2002, S. 397– 417, hier S. 405–407.

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teresses, wiewohl gleichzeitig eine medizinische Innovation beschrieben wurde: Die Operation am Herzen des Kindes war nur möglich, weil es während des Eingriffs an den Kreislauf der Mutter angeschlossen wurde. Der Artikel beschreibt das Verfahren dezidiert, legt sein Schwergewicht aber mit nur 20% Text ganz eindeutig auf die Bilder. In diesem Zusammenhang lässt sich zeigen, wie sehr der Stern auch in seinen Berichten über „Lieschen Müller“ als Patientin der Unterhaltungsindustrie traditionsverpflichtet blieb. Die Bilder des genannten Artikels hatte der Stern in diesem Fall von dem amerikanischen Life-Magazin entnommen, in dessen Ausgabe vom 1. November 1954 der Artikel in englischer Sprache erschienen war. Gleichzeitig verweist dieser Artikel damit erneut auf journalistische Traditionen der 1930er und 1940er Jahre: Schon während des Zweiten Weltkrieges war das amerikanische Life-Magazin Vorbild für die NS-Propagandazeitschrift Signal gewesen. Letztere wurde von 1940 bis 1945 für das Ausland gedruckt, um dort Werbung für das „Dritte Reich“ zu machen. Die deutsche Ausgabe entstand speziell für die Schweiz. Obwohl es keine Hinweise für die Nutzung von Signal für das Lay-out des Stern gibt, so fallen doch Ähnlichkeiten in der Präsentation der Inhalte auf. Für Ähnlichkeiten zwischen Stern und Signal sorgte dabei nicht zuletzt der Rückgriff auf ein Illustrationsmittel, das schon von Anbeginn an durch Nannen in dessen Blatt neben die Fotografien gestellt wurde: die graphischen Darstellungen und Zeichnungen. Sowohl Signal als auch Stern schöpften hier aus der gleichen Quelle, indem sie Zeichner in ihren Teams hatten, die in derselben künstlerischen Tradition erzogen worden waren. Hans Liska von Signal und Günter Radtke vom Stern hatten beide in den 1930er Jahren ihre künstlerische Ausbildung in Berlin erhalten. Deren Stil ähnelte sich frappant: Radierungen von Wehrmachtssoldaten52 (im Fall von Liska) und von heroischen Ärzten (im Falle Radtkes) stellten dieselben mit harten, kantigen Männergesichtern dar. Liska, der für Signal gezeichnet hatte, fertigte auch in den 1950er Jahren für die Illustrierte Quick Weltkriegsbilder an.53 Radtke bekam schon als 16-jähriger 1936 die Sondererlaubnis zur Anfertigung von Zeichnungen von den olympischen Spielen in Berlin und wurde im Krieg Pressezeichner beim Afrikakorps.54 Nach dem Krieg gehörte er zu Nannens Mitarbeitern der ersten Stunde. Bereits 1948zeichnete er beispielsweise für einen Artikel (Wunder des Schalls), der sich mit dem Vorkommen von Schallwellen in Natur und Technik befasste, eine Skizze zum Thema „Ultraschall

52 Siehe beispielsweise die Darstellung Hans Liskas von Piloten im Luftkampf in Nachtjagd II. Männer und Episoden, in: Signal 1944/1945. Eine kommentierte Auswahl abgeschlossener, völlig unveränderter Beiträge aus der Propaganda-Zeitschrift der Deutschen Wehrmacht. Band 5, Hamburg: Jahr-Verlag KG, 1977, S. 14. 53 Rainer Rutz: Signal. Eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg, Essen: Klartext, 2007, S. 403, 409. 54 Vgl. die Anzeige zu Radtkes „Illustrierter Weltgeschichte“ in: Uetze in der Kröpcke-Uhr (http://www.leinekunst.de/kroepcke/09-uetze.html, Zugriff am 13.11.2012).

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in der Medizin“: Mediziner am OP-Tisch kämpften mit martialischer Miene um das Leben der PatientIn.55 Dazu passend lautete die Bild-Legende: Vom Skalpell zum Ultraschallgerät. Der Patient des 20. Jahrhunderts wird bei einer Operation mit zwei gekreuzten Ultraschallstrahlen „beschossen“, lautlos und schmerzlos. [...] Der erste Versuch mit dieser völlig neuartigen Operationsmethode wurde in Amerika bei einem Fall von Gehirntumor gemacht. Die auf den Krankheitsherd konzentrierten Schallwellen zerstörten die Geschwulst, der Patient genaß. Nach Ansicht der Ärzte wäre er durch chirurgische Behandlung nicht mehr zu retten gewesen.56

Radtke illustrierte in der Folgezeit verschiedenste Artikel bzw. Artikelserien und zeichnete unter anderem auch Ärzte und PatientInnen. Durch seine großformatigen, auffälligen Zeichnungen war er das Pendant zu Heidersberger in der Fotografie: Radtke entwickelte seinen eigenen Stil und beteiligte sich aktiv an der futurologischen Malerei, deren Entwürfe von Raumstationen und Raketen in den 1950er und 1960er Jahren modisch waren.57 Neben der Integration der Patientenperspektive in die Innovationsberichterstattung wurde auch in einem weiteren Schritt ganz zentral über Patienten selbst berichtet. Dies geschah in unterschiedlicher Art. Einmal gab es Berichte, die gleichsam das Verhältnis von Innovationsberichtserstattung und Patientenschicksal umdrehten, indem nunmehr die PatientIn im Mittelpunkt des Geschehens stand. So berichtete der Stern 1951 über eine Frau, die sich Erfrierungen zugezogen hatte, weil Körpertemperatur auf 19 Grad abgefallen war und die durch das Geschick der Mediziner gerettet werden konnte, indem ein Bein, ein Fuß und eine Hand amputiert wurden.58 Die andere Variante waren Geschichten, in denen sich der Stern zum Anwalt des „kleinen Mannes“ machte, indem die Patienten als Opfer dargestellt wurden. So berichtete der Stern 1954 über eine junge Frau, die nach Ihrer Flucht aus Ostdeutschland und nach dem Ende des Krieges nach England ging und deren Ballkleid Feuer fing. Aufgrund fehlender Zuständigkeit verweigerten mehrere Krankenhäuser die Behandlung, was schließlich zum Tod der Patientin führte. Dargestellt wurden ein kaltherziges Gesundheitssystem und kaltherzige Ärzte, die nicht ihrem Gewissen gehorchten. Dass das Opfer ein junger deutscher Flüchtling war, erleichterte zudem noch die Identifikation der Leserschaft mit der betroffenen Person.59 Die kritische Berichterstattung gegenüber Medizin und Gesundheitssystem wurde bis Mitte der 1950er Jahre eher stärker denn schwächer. Wie sehr der Stern auch in diesem Bereich den Anschluss an „Lieschen Müller“ suchte, zeigt sich besonders am Beispiel eines Kunstfehlerprozesses des Jahres 1952.60 Im Kreiskrankenhaus Schongau war eine junge Frau vor der Durchführung einer Routi55 Wunder des Schalls, in: Der Stern 1.8 (1948), S. 4f., hier S. 5. 56 Ebd., S. 5. 57 Vgl. u. a. die Illustrationen von Radtke in Heinz Gartmann: Raketen von Stern zu Stern, Worms: Lot, 1949. 58 Erfroren, in: Der Stern 4.31 (1951), S. 6. 59 Für Nächstenliebe nicht zuständig, in: Der Stern 6.49 (1953), S. 8–10. 60 Der Tod in der Spritze, in: Der Stern 5 (1952), S. 28f.

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neoperation gestorben, weil das Narkosemittel zu hoch dosiert worden war. Der Chefarzt hatte die Behandlung einem Assistenten überlassen, der ein nicht zur Verwendung zugelassenes Narkotikum aus alten Wehrmachtsbeständen für den Eingriff genutzt hatte und sich mit der Dosierung nicht auskannte. Zudem konnten der Narkoseschwester zahlreiche Fehler bei der Zubereitung des Mittels nachgewiesen werden. Wieder arbeitete der Stern mit großen Bildern, die mindestens 60% der beiden Heftseiten einnahmen. Und wieder war die Berichterstattung stark personalisiert. Abgedruckt wurde eine Aufnahme der Patientin, ferner – das zweitgrößte Bild – die Mutter der Patientin mit ihrer dreijährigen Enkelin am Grab der Verstorbenen. Schürte dies schon die Emotionen, so erst Recht das Bildmaterial und die Bildkommentare zu den Verursachern des Vorfalls. Es kann vermutet werden, dass das große Bild von der Ordensschwester in traditioneller Ordenstracht schon zu der damaligen Zeit, als eine Professionalisierung der Pflegeberufe im fortgeschrittenen Stadium war, gezielt ausgenutzt wurde, um den Eindruck der Rückständigkeit und einer medizinisch unseriösen Betreuung zu vermitteln.61 Noch stärker mussten die Effekte eines Bildes und Bildkommentares sein, auf dem der Assistenzarzt im Gespräch mit seiner Frau während einer Verhandlungspause vor Gericht zu sehen war. Handle so, als ob du deine Frau oder deine Mutter behandelst – so lautet das Gesetz des Arztes. Ob Dr. Gertis sich im Lösungsverhältnis geirrt hätte, wenn seine Frau, mit der er sich hier in einer Verhandlungspause unterhält, die Patientin gewesen wäre!62

Mehr oder weniger explizit wird dem Arzt durch diesen Kommentar fehlende Empathie und Sorgfalt unterstellt. Gerade im Hinblick auf die Darstellung der PatientIn als Opfer ist die Variabilität der Stilmittel bemerkenswert, die eingesetzt wurden, um die gewünschten Effekte zu erzielen. Vor allem seit Mitte der 1950er Jahre nahm der Stern die Krankenversicherungen ins Visier seiner Kritik. Augenfällig wurde dies vor allem mittels eines Fortsetzungsromans, in dem ein Arzt aufdeckte, dass einer seiner Patienten sterben musste, weil er Kassenpatient war und seine Behandlung nicht selbst bezahlen konnte. Unter dem Titel Weil Du arm bist, musst Du früher sterben wurde in diesem 1954 startenden Roman, „der kein Blatt vor den Mund nimmt“, auf verschiedenen Ebenen der Kampf des Hauptakteurs gegen die Krankenkassen beschrieben, garniert mit Liebesgeschichten und rührigen Schilderungen des Routinealltags des Kassenarztes.63 Auch hier illustrierte Günter Radtke regelmäßig auf der Startseite mit seinen Zeichnungen. Und die dargebotene Mischung von Faktischem und Fiktion entsprach Nannens eigenen mündlich und schriftlich präsentierten Geschichten, denen gemäß der Wirkung, die sie erzielen sollten, das entsprechende Gewandt umgehängt wurde. Dabei wurde kein Zweifel 61 Vgl. ebd., S. 29. Zur Geschichte der Krankenpflege nach 1945 vgl. Eduard Seidler/KarlHeinz Leven: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, Stuttgart: Kohlhammer, 20037, S. 264–270. 62 Der Tod in der Spritze, S. 29. 63 Weil Du arm bist, musst Du früher sterben, in: Der Stern 7.41 (1954), S. 14–16, 44 (Folge 1); 7.42, S. 15–16, 50–54 (Folge 2); 7.43, S. 22, 24–29 (Folge 3), siehe hier das zweite Zitat.

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daran gelassen, dass auch dieser Roman eine politische Wirkung erzielen sollte. Dies wurde erreicht, indem der Abdruck des Romans in den Folgeheften von kurzen Berichten über vermeintliche oder tatsächliche Verfehlungen der Krankenkassen flankiert wurde. Einmal war es ein junger Mann, dessen Lungentuberkulose nur durch einen selbstlosen Arzt mittels Honorarverzicht behandelt werden konnte, weil AOK und Landesversicherungsanstalt die Behandlung nicht zahlen wollten; ein anderes Mal verweigerten die Kassen die Zahlung neuer therapeutischer Verfahren zur Wiederherstellung des räumlichen Sehvermögens.64 Der Stern druckte Leserbriefe ab, die bei aller Schwierigkeit der Eruierung ihrer Genese zumindest ein Indiz für eine gewisse Öffentlichkeitswirksamkeit der Initiative sind. Gleich mit dem Abdruck des zweiten Teils des Romans schob der Stern unter dem Titel Der Konflikt Dr. Grüters ist nicht einmalig fünf Stellungnahmen aus der Bevölkerung hinterher, in denen die Probleme der Kassenärzte und ihren PatientInnen diskutiert wurden.65 Der Stern fühlte sich in dieser Sache als Vertreter der Stimme des Volkes. In Heft 45 des Jahres 1954 wurde eine unbebilderte, kurze, nur drei Absätze lange Stellungnahme abgedruckt, die eben dies explizit machte. Der abgedruckte Roman behandle, so hieß es da, eine für das Volk „lebenswichtige Frage“, da die Behandlungsfreiheit des Arztes eingeschränkt werde und damit auch die individuelle Betreuung des Versicherten.66 Schluss Henri Nannen hatte 1948 mit dem Stern ein Journal institutionalisiert, das sich in seinem Format an die Unterhaltungsindustrie der 1930er und 1940er Jahre anlehnte. Dabei richtete sich die Auswahl des Stoffes nach den antizipierten Bedürfnissen der durchschnittlichen Leserinnen und Leser, d. h. das, was Nannen letztlich als Masse der Leser auffasste und mit dem Terminus „Lieschen Müller“ umschrieb. Dies bedeutete, dass die Auswahl der Beiträge eklektizistisch war. Dies galt auch für die Medizin, die für den Blattmacher nicht unerheblich war, weil sie attraktive und packende Stories bot und weil er selbst aus persönlichen Gründen an der Thematik interessiert war. Die Beiträge arbeiteten mit ihren umfangreichen Bildteilen und ihren patientennahen Reportagen stark mit den Verfahren der Skandalisierung und Emotionalisierung. Ein Vergleich mit dem 1947 gegründeten Journal Der Spiegel und seinem Schöpfer Rudolf Augstein macht die Besonderheiten des Stern deutlich: Der Spiegel hatte sich einem schonungslosen Aufklärungsjournalismus amerikanischer Provenienz verschrieben. Sachliche Informationen standen im Mittelpunkt, der Einsatz des Bildes war lediglich zusätzliche Illustration, im Mittelpunkt stand der Text. Dies galt im Spiegel auch für die Be64 Erst kommen die Vorschriften, dann der Patient, in: Der Stern 7.43 (1954), S. 28; Die Kasse hat keinen Blick dafür, in: Der Stern 7.45 (1954), S. 22. 65 Arzt aus Leidenschaft; Keine hungernden Idealisten; Der Staat muß helfen; „Vertrauensärzte“; Mammut-Bürokratie, in: Der Stern 7.42 (1954), S. 16. 66 Ärzte und Patienten ergreifen das Wort, in: Der Stern 7.45 (1954), S. 54.

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richterstattung zur Medizin.67 Der LeserIn wurde demgemäß einiges abverlangt – ganz im Gegensatz dazu der Stern, der mit seiner großflächigen Bebilderung eher leichte Kost generierte und somit in die ordinäre muffige Wohnstube des „motorisierten Biedermeier“ (Erich Kästner) der 1950er Jahre eindringen konnte. Damit ergänzten sich beide Journale letztlich – trotz ihrer extrem unterschiedlichen Diktion. Im Hinblick auf medizinische Innovationen bediente sich der Stern dabei – noch stärker als der Spiegel – der Sujets einer Heroenmedizin und Erfolgsgeschichte der Medizin, die an alte Denkfiguren der Medizin der Zwischenkriegszeit bzw. des Kaiserreiches anknüpfte und für den Leser daher vertraut sein mussten. Verbunden wurde diese klassische Sichtweise mit einer Integration der führenden angloamerikanischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin, wobei wiederum auch deutsche Innovationstraditionen eingeflochten wurden. Diese spezifische Mischung von Stil und Inhalt ermöglichte der LeserIn – gleichzeitig letztlich auch der dargestellten Medizin – einen Übergang in die neue Zeit. In dieser Hinsicht wurden zeitgenössische Bemühungen der westdeutschen Universitäten und der medizinischen Fakultäten, die ebenfalls in ihrer Öffentlichkeitsarbeit nach 1945 auf herausragende Leifiguren setzten, unterstützt. Ein Beispiel für diesen gleichsinnigen Trend ist die Instrumentalisierung des Internisten Ludwig Heilmeyer (1899–1969) anlässlich des Universitätsjubiläums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Jahre 1957. Heilmeyer, der im Jahre 1955 mit einem Kongress zur Hämatologie in Freiburg den ersten internationalen Medizinerkongress auf deutschem Boden veranstaltet hatte, wurde hier als genialer Forscher präsentiert.68 Eine Analyse der Berichterstattung über Innovationen ergibt eine relative Deckungsgleichheit zwischen dem Stern und der PR-Arbeit der Universitäten. Dieses Bild verändert sich bei einer Berücksichtigung des Kontextes und dem Blick auf andere Bereiche der Reportagen über das Thema Medizin. So wurde hinsichtlich der Medizin im NS-Staat zunächst eine exkulpierende Darstellungsweise bevorzugt; ging es jedoch um „Lieschen Müller“, drang durchaus Kritisches in die einzelnen Berichte ein. Dies steht auch im Gegensatz zur Öffentlichkeitsarbeit der Universitäten, die keine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der jeweiligen Medizinischen Fakultät vornahm. Als „Reichsgericht des kleinen Mannes“ entdeckte der Stern auch schnell die Patientenrechte in der Medizin als lohnenswertes Thema. Im Kreuzfeuer der Kritik standen dabei verschiedene Instanzen, die heute als „Partner“ im Gesundheitswesen betrachtet werden, z. B. die Ärzte und die Krankenkassen. Dies bedeutet, dass bereits in der Wiederaufbauzeit Westdeutschlands zumindest in Ansätzen ein medizinkritisches Klima erzeugt wurde, das die späteren Demokratisierungsprozesse der 1960er und 1970er Jahre nicht zuletzt im Hinblick auf Patientenrechte vorbereitete. Ferner nahmen diese Tendenzen auch die heute zu beobachtende 67 Vgl. Prüll: Ärzte, Journalisten und Patienten, bes. S. 110–113; Dieter Just: Der Spiegel. Arbeitsweise – Inhalt – Wirkung, Hannover: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, 1967. 68 Vgl. zu Heilmeyer auch Seidler/Leven: Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, S. 650.

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Partizipation von Laien an der Ausformung von wissenschaftlicher Forschung vorweg.69 Aufmerksame Beobachter konnten somit bereits damals erahnen, dass die positive Berichterstattung über medizinische Innovationen nicht unbedingt eine sichere Konstante in der Medienlandschaft war. Vielmehr fand sie in einem ansonsten durchaus kritischen Klima statt, denn angesichts des Bekenntnisses zur freiheitlichen Reportage konnte jederzeit auch die wissenschaftliche Medizin an den Universitäten selbst einer strengeren Kritik unterzogen werden – was dann tatsächlich auch in späten 1960er Jahren geschah. Literatur Berthold, Heiner K.: Rudolf Schönheimer (1898–1941): Leben und Werk, veröffentlicht aus Anlaß des 100. Geburtstages am 10. Mai 1998, Freiburg i. Br.: Falk-Foundation, 1998. Bickel, Marcel H.: The Development of Sulfonamides (1932–1938) as a Focal Point in the History of Chemotherapy, in: Gesnerus 45 (1988), S. 67–86. Bösch, Frank: Mediengeschichte: vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt/M.: Campus, 2011. Brandt, Alan M./Martha Gardner: The Golden Age of Medicine?, in: Cooter, Roger/John Pickstone (Hg.): Medicine in the 20th Century, Amsterdam: Harwood, 2000, S. 21–37. Brawand, Leo: Der Spiegel – ein Besatzungskind. Wie die Pressefreiheit nach Deutschland kam, Hamburg: EVA, 2007. Bud, Robert: Penicillin – Triumph and Tragedy, Oxford: Oxford Univ. Press, 2007. Bynum, Willium: Science and the Practice of Medicine in the 19th Century, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1994. Cooter, Roger/John Pickstone: Introduction, in: Dies. (Hg.): Medicine in the 20th Century, Amsterdam: Harwood, 2000, S. XIII–XIX. Dahl, Günter/Klaus Lempke: Wer bescheid weiß, muß nicht leiden. Fachärzte berichten, Düsseldorf: Econ, 1970. Dahl, Günter/Klaus Lempke (Hg.): Prominente über: Die großen Krankheiten unserer Zeit, München: Heyne, 1967. Eckart, Wolfgang U.: Ernst Ferdinand Sauerbruch, in: Fröhlich, Michael (Hg.): Die Weimarer Republik – Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt: Primus, 2002, S. 175–187. Ders.: „Der Welt zeigen, dass Deutschland erwacht ist...“: Ernst Ferdinand Sauerbruch und die Charité-Chirurgie 1933–1945, in: Schleiermacher, Sabine/Udo Schagen (Hg.): Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn: Schöningh, 2008, S. 189–206. Gartmann, Heinz: Raketen von Stern zu Stern, Worms: Lot, 1949. Gerst, Thomas: Neuaufbau und Konsolidierung: Ärztliche Selbstverwaltung und Interessenvertretung in den drei Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1995, in: Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der Deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 1997, S. 195–242. Groß, Dominik/Hans-Joachim Winckelmann (Hg.): Medizin im 20. Jahrhundert. Fortschritte und Grenzen der Heilkunde seit 1900, München: Reed Elsevier, 2008. Hare, Ronald: The Birth of Penicillin and the Disarming of Microbes, London: Allen and Unwin, 1970. Ders.: New Light on the History of Penicillin, in: Medical History 26 (1982), S. 1–24. 69 Vgl. Sabrina McCormick: Mobilizing Science. Movements, Participation and the Remaking of Knowledge, Philadelphia: Temple Univ. Press, 2009.

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Livia Prüll

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Innovationen der Medizin im Stern

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Vertrauensbildende Maßnahmen: Die Medizinische Fakultät Freiburg und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit in den 1950er Jahren am Beispiel der Poliomyelitis-Impfung Nadine Kopp Noch zu Beginn der 1950er Jahre stellte die Poliomyelitis eine erhebliche gesundheitliche Bedrohung dar, da sie sich häufig epidemisch ausbreitete und, bei schwerwiegendem Verlauf, zu dauerhaften Lähmungserscheinungen führte.1 Da es bis dahin weder ein wirksames Mittel zur Behandlung der Poliomyelitis noch einen Impfstoff gab, war es weltweit zu großen Polioepidemien gekommen, die zahlreiche Todesopfer gefordert hatten. Allein 1952 waren in Deutschland 729 Menschen an Polio gestorben; 3.000 Betroffene mussten fortan mit schwersten körperlichen Behinderungen leben. Erst mit der Entwicklung eines Impfstoffes durch den Amerikaner Jonas Edward Salk (1914–1995) im Jahr 1955 schien die Krankheit beherrschbar zu sein, doch verhinderten die weit verbreitete Impfskepsis und die medial aufbereiteten Berichte über Impfunfälle und -katastrophen einen umfassenden Einsatz des Impfstoffes.2 Dennoch beurteilte eine große Zahl Mediziner die Poliomyelitis-Impfung als einzig wirksame Waffe im Kampf gegen die Krankheit, so auch die Freiburger Universitätsmediziner, die sich für eine Impfung gegen die Krankheit einsetzten. Dabei mussten sie nicht nur die üblichen Impfwiderstände überwinden, sondern auch berücksichtigen, dass das Ansehen der Fakultät in der breiten Öffentlichkeit in Misskredit geraten war. Dafür waren nicht nur die Ausrichtung der Fakultät an der NS-Ideologie, sondern auch die in Freiburg durchgeführten Toxoplasmose-Nachweisverfahren verantwortlich, die von den Massenmedien als angeblicher Fall von Humanexperimenten gehandelt worden waren und die Bevölkerung zusätzlich über die Rolle von Medizin und Medizinern in Freiburg verunsichert hatte. 1

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Bei der Poliomyelitis handelt es sich um eine Infektionskrankheit, die durch Tröpfchen- bzw. Schmierinfektionen übertragen wird. Die Poliomyelitis tritt hauptsächlich im Spätsommer und im Herbst auf und erreichte aufgrund ihrer schnellen Verbreitung im 20. Jahrhundert oftmals ein epidemisches Ausmaß. Dabei folgt auf eine mehrtägige Inkubationszeit ein bis zu sieben Tage dauerndes Vorstadium, das von grippeähnlichen Symptomen begleitet wird; anschließend stabilisiert sich der Zustand des Erkrankten für einen Zeitraum von bis zu zehn Tagen, doch erreicht die Krankheit danach ihr Hauptstadium, das im paralytischen Verlauf mit einer mangelnden Sensibilisierung und Lähmungen der Gliedmaßen einhergeht. Gerade aufgrund dieses schwerwiegenden Verlaufs sahen die Mediziner in der Poliomyelitis eine gefährliche und ernst zu nehmende Krankheit, die es galt, unter allen Umständen einzudämmen. Franz Klose: Impfschutz als Aufgabe und Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege, Stuttgart: Thieme, 1955, S. 11. Klose weist darauf hin, dass die Impfabneigung kein typisch deutsches Phänomen ist, sondern „in den einzelnen Ländern […] mehr oder weniger“ ausgeprägt war. Lediglich die Bevölkerungsteile, die Erfahrungen mit der Gefährlichkeit einer Seuche hätten, hätten eine „größere positive Einstellung“.

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Vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen Medizinischer Fakultät und Öffentlichkeit (1) und den allgemeinen Impferfahrungen des 20. Jahrhunderts (2) geht dieser Beitrag daher der Frage nach, wie die Poliomyelitis durch die breite Öffentlichkeit und die Freiburger Universitätsmediziner beurteilt wurde (3), mit welchen Strategien die Mediziner eine Popularisierung der Impfung in Südbaden durchzusetzen hofften (4) und wie erfolgreich sie dabei waren (5). Das Zugehen auf die breite Öffentlichkeit in den 1950er Jahren stellt den Beginn einer zunehmenden Öffentlichkeitsorientierung im Handeln der Fakultät unter Beweis, das in den Folgejahren sowohl zu einem gewandelten Selbstverständnis der Universitätsmediziner als auch zu einer Neupositionierung der Fakultät in der breiten Öffentlichkeit führte. Die Medizinische Fakultät und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit Für die Medizinische Fakultät stellten die unmittelbaren Nachkriegsjahre in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar: So musste die Fakultät nicht nur den Forschungs- und Lehrbetrieb inmitten der kriegszerstörten Institute und Kliniken am Laufen halten, sondern auch ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit neu ausloten.3 Dabei galt es, das aufgrund der Aktivitäten der Fakultät in der NS-Zeit beschädigte Ansehen wiederherzustellen. Betroffen waren insbesondere die UniversitätsFrauenklinik und die Medizinische Klinik, die durch ihre beiden Klinikleiter in Misskredit geraten waren: So hatte der Leiter der Frauenklinik Friedrich Siegert (1890–1985) infolge des am 14. Juli 1933 verabschiedeten „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ eine eigene Abteilung eingerichtet, an der Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen an „Ostarbeiterinnen“ vorgenommen worden waren.4 Um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Eingriffe vorzunehmen, hatte Siegert sogar eine russische Krankenpflegerin angestellt, die in der Lage war, die meisten Slawinnen zu verstehen. Insgesamt wurden in Freiburg so über 900 Zwangssterilisationen vorgenommen, wobei die abgetriebenen Föten bzw. Leichname der Kinder anschließend dem Pathologischen Institut zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt wurden.5 3

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Zum Ausmaß der Zerstörungen siehe Robert Neisen: Und wir leben immer noch! Eine Chronik der Freiburger Nachkriegsnot, Freiburg: Promo, 2004; sowie Eduard Seidler/Karl-Heinz Leven: Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen, Freiburg i. Br.: Alber, 2007. Gunther Link: Zwangssterilisationen, in: Hans-Georg Hofer/Karl-Heinz Leven (Hg.): Die Freiburger Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus. Katalog einer Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, Frankfurt/M.: Lang, 2003, S. 86–99, hier S. 86. Dieter Speck: Zwangsarbeit in Universität und Universitätsklinikum in Freiburg, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 205–233, hier S. 230f. Mit etwa 85% ist die Sterblichkeitsrate bei Kindern von Ostarbeiterinnen gegenüber 15% Säuglingssterblichkeit bei deutschen Müttern erstaunlich hoch. Speck geht zwar auch von einer unzureichenden Ernährung und mangelhaften hygienischen und medizinischen Verhältnissen aus, behält jedoch auch die von Siegert geführte Abteilung zur Zwangssterilisation im Blick: „In Einzelfällen lässt sich

Vertrauensbildende Maßnahmen

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Einen ausgesprochen nationalsozialistischen Ruf besaß auch die Medizinische Klinik, deren Direktor Helmut Bohnenkamp (1892–1973) nach der Vertreibung Siegfried Thannhausers (1885–1962) die Klinik an der NS-Ideologie ausrichtete, indem er das Volkswohl über das Individualwohl stellte: So präsentierte Bohnenkamp beispielsweise jungen Ärzten in seiner Vorlesung eine sterbende Patientin, um die „Jungärzte […] an dem Ringen des Arztes um ein Menschenleben“6 teilhaben zu lassen. Der zuständige Kreisamtsleiter sah darin aber durchaus eine unethische Vorgehensweise und meldete Bohnenkamps „ungewöhnliche“ Lehrmethoden. In der breiten Öffentlichkeit diskreditierte sich Bohnenkamp weniger durch seine Tätigkeit als Klinikleiter, sondern in seiner Funktion als Beratender Internist, in der er für die Lazarett-Betreuung im Wehrkreis V zuständig war. Entsprechend seines Selbstverständnisses als Soldat und Mediziner schickte er noch nicht vollständig genesene Soldaten mit der Begründung, die militärische Schlagkraft nicht gefährden zu wollen, vorzeitig zurück in den Krieg.7 Ihrer systemstabilisierenden Wirkung auf das NS-Regime war sich die Medizinische Fakultät nach 1945 durchaus bewusst, weshalb die Mediziner in den Fakultätssitzungen berieten, wie man am besten mit der jüngsten Vergangenheit umgehen sollte. In dieser Situation forderte Franz Büchner (1895–1991), der die zukünftige Zusammenarbeit der Kollegen auf eine vertrauensvolle Basis stellen wollte, eine offene Aussprache.8 Öffentlich äußerte sich die Fakultät zu ihrer Rolle im Nationalsozialismus aber nicht, da sie dafür keine als passend empfundene Form fand und fürchtete, ihr Anliegen könne von der Öffentlichkeit missverstanden werden. Stattdessen distanzierte sie sich von denjenigen Kollegen, die ein besonders ausgeprägtes nationalsozialistisches Image hatten und eine Hypothek für das zukünftige Ansehen der Fakultät darstellten. So nahm sie weder Siegert noch Bohnenkamp wieder in ihre Reihen auf, obwohl beide gegen ihren Ausschluss aus der Fakultät mit Rechtsmitteln vorgingen und darauf hinwiesen, dass

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8

eine Weiterverwendung der Säuglingsleichen durch die Freiburger Pathologie nachweisen, sodass zumindest davon ausgegangen werden muss, dass der Tod der Säuglinge in Kauf genommen wurde.“ Pers. Akte Bohnenkamp, Bohnenkamps Stellungnahme vom 02.03.1939, Universitätsarchiv Freiburg (UAF), B 24/341. Karl-Heinz Leven: „Erhaltung und Förderung der Volkskraft“. Die Freiburger Medizinische Fakultät im Zweiten Weltkrieg, in: Bernd Martin (Hg.): 550 Jahre Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Festschrift, Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, Freiburg i. Br.: Alber, 2007, S. 454–470, hier S. 455. Vgl. auch Alexander Neumann: „Arzttum ist immer Kämpfertum“. Die Heeressanitätsinspektion und das Amt „Chef des Wehrmachtssanitätswesens“ im Zweiten Weltkrieg (1939–1945), Düsseldorf: Droste, 2005, S. 186 und 193. Büchner weist darauf hin, dass das Vertrauensverhältnis durch Zusammenarbeit mit der Partei, beispielsweise im Sicherheitsdienst oder durch Übernahme von Funktionsstellen wie dem des NS-Dozentenbundführers das gegenseitige Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört war. Siehe Auszug aus dem Institutstagebuch Büchners, 19.05.1945.

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sie unter dem damaligen Rechtssystem angemessen gehandelt hätten.9 Parallel zur Distanzierung von erheblich belasteten Kollegen nahm die Fakultät Kontakt zu vertriebenen Hochschullehren auf, die inzwischen oftmals an ausländischen Kliniken und Instituten Fuß gefasst hatten.10 Durch Rückberufungen, Gast- und Honorarprofessoren und die Verleihung von Ehrendoktorwürden wollte die Fakultät sich nicht nur entschuldigen, sondern auch die Bande zu intakten Medizinschulen und -fakultäten knüpfen, um den Rückstand der deutschen Medizin aufzuholen.11 Aus diesem Grund unternahm die Fakultät in den 1950er Jahren vermehrt Anstrengungen, um ihr Standing in der breiten Öffentlichkeit und in der Fachöffentlichkeit zu verbessern. So hatte sie während der späten 1940er Jahre, in denen die Freiburger Bevölkerung wegen der schlechten Versorgungslage in der französischen Besatzungszone Hunger litt, insgesamt sieben Ernährungsgutachten erstellt und diese an die Freiburger Stadtverwaltung weitergeleitet.12 Aus Sicht der Stadt bestätigten die Gutachten den bevorstehenden Hungertod der Freiburger, weshalb die Stadt die Stellungnahmen der Fakultät nutzte, um bei der französischen Militärverwaltung für eine bessere Versorgung einzutreten.13 Verantwortung für die Belange der breiten Öffentlichkeit bewies die Medizinische Fakultät auch, indem sie den Wiederaufbau des Klinikums vorantrieb, der sich nun verstärkt an den Bedürfnissen der Patienten orientierte. So war dem Wiederaufbau der Universitäts-Frauenklinik beispielsweise eine umfangreiche Planungsphase vorangegangen, die sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeiter als auch der Patientinnen eruierte, was der Frauenklinik schließlich den Ruf eines besonders modernen und vorbildlichen Klinikbaus einbrachte.14 9 10

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Zur Entnazifizierung der Medizinischen Fakultät siehe insbesondere Silke Seemann: Die politischen Säuberungen des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1957), Freiburg i. Br.: Rombach, 2002. Seidler/Leven: Medizinische Fakultät, S. 455–473. Als Folge der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden insgesamt 39 Mitarbeitende aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vertrieben. Zu ihnen gehören u.a. der Privatdozent für Psychiatrie Robert Wartenberg (1887–1956), der Internist Siegfried Thannhauser (1885–1962), die Privatdozentin für Dermatologie Bertha Ottenstein (1891–1956), den Assistenten an der Medizinischen Klinik Hans Adolf Krebs (1900–1981) und der außerordentliche Professor Harry Koenigsfeld (1887–1958). Alle hatten versucht, ihre Karriere im Ausland fortzusetzen, was ihnen mit unterschiedlichem Erfolg gelang. Jasmin Mattes: Wiedergutmachungsversuche, in: Hofer/Leven (Hg.): Die Freiburger Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus, S. 64–66, hier S. 64f. Über die Verfassung der Kranken im Sommer 1946, UAF, B53/2. Bei den beteiligten Kliniken handelt es sich um die Zahnklinik (Prof. Jonas), die Hautklinik (Prof. Stühmer), die Augenklinik (Prof. Wegner), die HNO-Klinik (Prof. Kahler), die Chirurgische Klinik (Prof. Rehn), die Kinderklinik (Prof. Noeggerath), die Innere Klinik (Prof. Heilmeyer), die Psychiatrische Klinik (Prof. Beringer), das Pathologisch-Anatomische Institut (Prof. Büchner) und das Hygienische Institut (Prof. Dold). Siehe Nachlass Beringer, 25.08.1945, 08.10.1945, UAF C/58. Schreiben OB Dr. Hoffmanns an General Schwartz vom 04.02.1946, UAF, B53/1. Vgl. Eine der modernsten Kliniken der Bundesrepublik, in: Badische Zeitung vom 15.06.1953; Die Last der vier Millionen, in: Badische Zeitung vom 17.03.1953. Vgl. auch Die Freiburger Frauenklinik im Streit der Meinungen, in: Badische Zeitung vom 27.03.1953.

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Im Hinblick auf die Fachöffentlichkeit bemühte sich die Fakultät nicht nur um eine Wiederherstellung verloren gegangener Kontakte, sondern auch um die Pflege derselben. Aus diesem Grund nahmen Freiburger Mediziner, soweit die finanziellen Mittel dies zuließen, wieder verstärkt an ausländischen Tagungen und Kongressen teil.15 Mit fortschreitendem Wiederaufbau bemühten sich die Mediziner aber auch um eine Etablierung Freiburgs als Wissenschaftsstandort, weshalb bereits im Sommer 1953 ein dreitägiges Krebs-Symposion und ein Internationaler Fortbildungskurs für Hautärzte in Freiburg abgehalten wurden, an denen namhafte Wissenschaftler wie der Sulfonamid-Forscher Gerhard Domagk (1895–1964) oder der Leiter des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Krebsforschung Richard Kuhn (1900–1967) teilnahmen. Einen Höhepunkt erreichte der internationale Austausch im Rahmen des 5. Europäischen Hämatologenkongresses 1955, der auch Gelegenheit zur Präsentation der Freiburger Forschungen bot.16 Aus Sicht der Freiburger knüpften Forschungsleistungen made in Freiburg an die glorreiche Zeit der Medizinischen Fakultät im 19. Jahrhundert an, weshalb die Badische Zeitung Folgendes berichtete: In den letzten Wochen erschien eine Reihe von Standardwerken der Medizin von Freiburger Verfassern. Sie zeigen, daß die Freiburger Medizinische Fakultät ihrem Format treu geblieben ist, das Männer wie Aschoff, Axenfeld, Bäumler, De la Camp, Lexer, Opitz, Uhlenhuth und andere bestimmt haben.17

Als Tageszeitung Südbadens leistete sie damit einen wesentlichen Beitrag zur Ansehenssteigerung der Medizinischen Fakultät, da ihre Berichterstattung stets pro Universität ausgerichtet war und sie mit einer durchschnittlich sechsstelligen Auflage sowohl in Freiburg als auch in den Breisgau-Gemeinden regelmäßig gelesen wurde.18 Insgesamt zeigt sich also, dass die Orientierung an der Öffentlich15 Stefan Paulus: Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976, München: Oldenbourg, 2010. 16 Diese Tatsache ist besonders bemerkenswert, da die Herausbildung der Hämatologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich auf den Ergebnissen jüdischer Forscher wie Arthur Pappenheim (1870–1916) und Hans Hirschfeld (1873–1944) beruht. Durch Vertreibung und Vernichtung während der nationalsozialistischen Diktatur wurde die hämatologische Forschung insgesamt geschwächt; nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich Forscher wie Heilmeyer zwar erfolgreich für einen Anschluss an die internationale hämatologischen Forschung ein, verzichteten aber darauf, an die Bedeutung jüdischer Forscher für die Hämatologie zu erinnern. Siehe Peter Voswinckel: Von der hämatologischen Fachgesellschaft zum Exodus der Hämatologie aus Berlin, in: Wolfram Fischer et al. (Hg.): Exodus von Wissenschaften aus Berlin. Fragestellungen – Ergebnisse – Desiderate – Entwicklungen vor und nach 1933, Berlin: de Gruyter, 1994, S. 552–567. 17 Medizinische Standardwerke aus Freiburg, in: Badische Zeitung vom 19.09.1955. 18 Angela Kronenberg/Gerhard Walser: Mit der Lizenz zum Monopol. Zur Geschichte der Badischen Zeitung 1946–1952, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hg.): Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg, Freiburg: Schillinger, 1986, S. 92–96, hier S. 92. Die Badische Zeitung war 1946 als „unabhängige, überparteiliche Tagezeitung mit christlicher Grundhaltung“ gegründet worden. Sie erschien in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund eines Mangels an Ressourcen nicht täglich, sondern nur wöchentlich. Inhaltlich standen weniger Sensationen

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keit nach 1945 eine zentrale Größe im Handeln der Medizinischen Fakultät darstellte. Dabei ging es ihr vornehmlich darum, der Verstrickung mit dem Nationalsozialismus positive Entwicklungen entgegenzusetzen, um ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu steigern. Die Poliomyelitis-Impfung als Vertrauenskrise Impfskepsis im 20. Jahrhundert und die Impfmaßnahmen in Freiburg Obwohl die Geschichte des Impfens – beginnend mit Edward Jenners Pockenimpfung im späten 18. Jahrhundert – aus heutiger Perspektive eine Erfolgsgeschichte darstellt, war das Gefährdungspotenzial der Impfungen von Anfang an Gegenstand von Kritik, die sich in einer skeptisch-ablehnenden Haltung der Öffentlichkeit manifestierte.19 Diese Impfskepsis wurde im Deutschland der 1950er Jahre einerseits durch die Erinnerung an die „Lübecker Impfkatastrophe“ aus dem Jahr 1930, andererseits durch den aktuellen Fall einer Impfpanne in den USA befördert: So waren in Lübeck 251 Neugeborene mit einem nicht einwandfreien Tuberkulin-Impfstoff geimpft worden, an dem 77 Kinder später starben, 126 an Tuberkulose erkrankten und unter Spätfolgen litten. Zwar konnte in einem anschließenden Prozess gegen die vier verantwortlichen Mediziner die Ursache für die Impfkatastrophe gefunden werden – sie bestand in der Verwechslung mit einem anderen Impfstoff und einer fehlenden Kontrolle der geimpften Kinder – doch wirkten sich die Lübecker Erfahrungen trotz sofortigem Einstellens in- und ausländischer Impfungen mit dem BCG-Impfstoff primär vertrauensmindernd aus. Verstärkt wurde die Impfskepsis auch durch den Verlauf der amerikanischen Massenimpfungen gegen Poliomyelitis im Frühjahr 1955, da vier der geimpften Kinder starben und weitere 40 an Poliomyelitis erkrankten. Obwohl die amerikanischen Impfverhältnisse nicht mit den deutschen gleichgesetzt werden können, wirkte sich das amerikanische Impfunglück auf die deutsche Impfpraxis aus: So als Alltagsfragen im Vordergrund, zum Beispiel „wann es wieviel [!] wovon auf welcher Lebensmittelkarte gab“. Aufgrund einer eingeschränkten Lizenzpraxis hatte die Badische Zeitung bis 1949 eine monopolartige Stellung inne und eine sechsstellige Auflagenzahl erreicht. 19 Edward Jenner (1749–1823) hatte beobachtet, dass sich Landarbeiter nicht mehr mit Pocken infizierten, wenn sie zuvor mit Kuhpocken in Berührung gekommen waren. Im Glauben, durch künstliche Infizierung mit Kuhpocken eine Unempfindlichkeit für Menschenpocken herzustellen, impfte er 1796 einen kleinen englischen Jungen zunächst mit Kuhpocken und anschließend mit Menschenpocken. Jenners Experiment war erfolgreich und lieferte ihm genug Stoff für seine 1798 erschienene „Inquiry into the Causes and Effects of Variolae Vaccinae“, die den Grundstein für eine aktive Immunisierung gegen Krankheiten lieferte. Die verheerenden Auswirkungen der Pocken – allein in Berlin erkrankten zwischen 1870 und 1872 etwa 400.000 Menschen – führten nach der Reichsgründung 1871 zur Verabschiedung des Reichsimpfgesetzes, das für alle Neugeborenen eine Pockenimpfung verpflichtend vorschrieb. Siehe Wolfgang U. Eckart: Geschichte der Medizin, Heidelberg: Springer, 20055, S. 174–175 sowie Ders.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Heidelberg: Springer, 2011, S. 250f.

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wurden die Polio-Impfkampagnen der Jahre 1954 und 1955 gestoppt und das Paul-Ehrlich-Institut mit der Prüfung des deutschen Impfstoffes beauftragt. Weitaus gravierender waren aber die Folgen für das Ansehen der Medizin: Gerade aufgrund der umfangreichen Medialisierung – die Medien hatten sowohl über die „Lübecker Impfkatastrophe“ als auch über die amerikanischen Impfzwischenfälle ausführlich berichtet – wurde der negative Ausgang beider Impfkampagnen der gesamten Medizin angelastet, was sich als Imageschaden auswirkte, der die Durchsetzung der Polio-Impfung zwar nicht verhinderte, aber verzögerte.20 Vor diesem Hintergrund kritisierten die Ärztlichen Mitteilungen die Rolle der Medien, denen es weniger um eine sachgerechte Informierung der Bevölkerung gehe als um ein „wahre[s] Trommelfeuer von teilweise sensationell aufgemachten, meist sehr laienhaften Aufsätzen über dieses Thema“.21 Gerade diese Situation erfordere einen sensiblen Umgang mit der Öffentlichkeit, so Medizinalrat Dr. Walter Bachmann: Sicher ist Vorsicht am Platze, nicht so sehr, weil vielleicht Zwischenfälle eintreten könnten, die im einzelnen unangenehm wären, sondern vor allem, weil ein einziger größerer Fehlschlag eine möglicherweise entwicklungsfähige Methode des Schutzes gegen die P. bei der Bevölkerung, aber auch bei vielen Ärzten, in Mißkredit bringen würde. Bei der Aversion weiter Kreise der deutschen Bevölkerung gegenüber Impfungen an sich würde ein Impfunglück von Art des 1955 in den USA geschehenen das Ende der P.-Impfung auf lange Sicht bedeuten. Es sei in diesem Zusammenhang nur an das Lübecker Unglück 1930 und das daraus resultierende Mißtrauen gegen die BCG-Impfung erinnert, das, neben anderen Bedenken, daran schuld ist, daß sich diese Methode in Deutschland bis heute nicht durchsetzen kann.22

Dass ein Eingehen auf die Befürchtungen der Öffentlichkeit notwendig war, um „die Vertrauenskrise der Poliomyelitis“23 zu begrenzen, lag damit auf der Hand. Wie dies zu bewerkstelligen sei, war jedoch nicht abzusehen, zumal die Bevölkerung nach den amerikanischen Impf-Zwischenfällen nun einen „absolut“ sicheren Impfstoff verlangte, den es so aber nicht gab. Dass gerade in Freiburg der Ruf nach einem „absolut“ sicheren Impfstoff laut wurde, hatte mit einem angeblichen Fall von Humanexperimenten an Kindern zu tun, der in der breiten Öffentlichkeit für eine weitere Verunsicherung über die Rolle von Medizin und Medizinern gesorgt hatte: Im Sommer 1953 hatte der Kinderkliniker Walter Keller (1894–1967) Versuche zum Toxoplasmose-Nachweis an Hilfsschülern durchgeführt, um eine Erklärung für schwachsinnig und missgebildet geborene Kinder zu finden. Dabei 20 Die Lübecker Impfkatastrophe war sowohl von der regionalen als auch der überregionalen Tagespresse aufgegriffen worden: Vor Ort berichteten der „Lübecker Generalanzeiger“ und der „Lübecker Volksbote“ mit jeweils über hundert Artikeln ausführlich über die Geschehnisse. Als überregionale Zeitungen berichteten die „Kölnische Zeitung“, der „Völkische Beobachter“ und der „Vorwärts“ über das Impfunglück. Vgl. Katrin Kießling: Der Lübecker Ärzteprozess 1931/32 in der zeitgenössischen Diskussion, Hamburg: Univ. Diss. med., 2007. 21 Walter Bachmann: Sozialhygienische Gedanken zur Poliomyelitis-Schutzimpfung, in: Ärztliche Mitteilungen vom 11.07.1956, S. 526–528. 22 Ebd., S. 526–528. 23 Walter Keller: Über den derzeitigen Stand der Poliomyelitis-Schutzimpfung, in: Fortschritte der Medizin. Internationale Zeitschrift für die gesamte Heilkunde 74 (1956), S. 53.

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hatte er allerdings weder die Eltern der betreffenden Kinder informiert noch ihr Einverständnis eingeholt. Stattdessen hatte er sich die Untersuchungen lediglich vom zuständigen Gesundheitsamt und vom Kreisschulamt genehmigen lassen.24 Dieses Vorgehen entsprach durchaus der üblichen Praxis der 1950er Jahre, denn es gab keine verbindlichen Vorgaben hinsichtlich einer Patientenaufklärung. Ferner waren die Mediziner paternalistisch erzogen und hatten selbst kaum Interesse an einer fachlichen Auseinandersetzung mit medizinischen Laien.25 Dennoch sorgte Kellers Vorgehen in der breiten Öffentlichkeit vor allem deshalb für Unverständnis und Empörung, weil eine Mutter die unspezifische Erkrankung ihrer Tochter auf den Toxoplasmose-Nachweis zurückführte und ein Gerichtsverfahren anstrengte, das aber aufgrund „mangelnden öffentlichen Interesses“26 schließlich eingestellt wurde. Weitaus gravierender war aber die Tatsache, dass die Angelegenheit von den Medien aufgegriffen und kolportiert wurde, wodurch die Fakultät negative Schlagzeilen machte: So griffen drei überregionale „illustrierte Zeitungen“27 die Medizinische Fakultät direkt an und warfen ihr neben der Vernachlässigung ihrer Informationspflicht Menschenversuche und vorsätzliche Körperverletzung vor. Um den Imageverlust zu begrenzen, bezog die Fakultät im Herbst 1953 in der Badischen Zeitung zu den Vorwürfen Stellung.28 Zum Nachweis der Harmlosigkeit des Testverfahrens führte Keller an sich und seinem Assistenten Oskar Vivell (1917–1981) ebenfalls einen Toxoplasmose-Test durch und appellierte an die breite Öffentlichkeit, ihren Ärzten mehr Vertrauen zu schenken: Die Bevölkerung müsse das Vertrauen zu ihren Ärzten haben, die ja ihre Untersuchungen nicht zu ihrem Vergnügen machen würden. Was die Freiburger Kinderklinik hier getan habe, wäre in Amerika oder in Schweden eine Selbstverständlichkeit gewesen. Dort sei es umgekehrt wie in Deutschland: Jene Ärzte, die solche Untersuchungen nicht anstellen, würden schweren Angriffen ausgesetzt sein, wie eben jetzt die Äußerung eines schwedischen Arztes zu den Vorgängen in Freiburg bewiesen habe.29

24 Die Ärzte fordern Vertrauen, in: Badische Zeitung vom 06.10.1953. 25 Daneben spielte der Zeitbedarf, den eine umfassende Patientenaufklärung erforderte, eine große Rolle. Auch in der Lübecker Impfkatastrophe war die Aufklärung der Eltern Gegenstand der Kritik, zumal die zu unterschreibende Einverständniserklärung einseitig die Vorzüge schilderte, jedoch nicht ausreichend auf die Gefahren hinwies. So hatten die Ärzte beispielsweise mit Absicht auf den Begriff „Impfung“ verzichtet, da sie fürchteten, die Eltern würden dann ihr Einverständnis verweigern. Vgl. Andreas Reuland: Menschenversuche in der Weimarer Republik, Norderstedt: Books on Demand, 2004, S. 219ff. 26 Keine Strafanträge im Toxoplasmose-Fall, in: Badische Zeitung vom 26.10.1953. Laut Auskunft des Staatsarchivs Freiburg „liegen keine Hinweise auf eine Ermittlungsakte o. ä. gegen Walter Keller bzw. Oskar Vivell“ vor, E-Mail von Jochen Rees vom 11.06.2012. 27 Spiegel, Revue, Neue Illustrierte, Constanze und Quick wurden durchgesehen, allerdings fand sich kein Hinweis auf die betreffenden Artikel. 28 Prot. Med. Fak. vom 16.07.1953, UAF, B53/223. 29 In ihrem Bemühen um Entlastung erhielten die Kinderkliniker Unterstützung von zwei weiteren Stellen: So äußerte sich die Südwestdeutsche Ärzteschaft in einer öffentlichen Stellungnahme zu der Angelegenheit und beschrieb die fehlenden Einverständniserklärungen als einmaliges Versehen und verwies auf eine von den Kinderklinikern zuvor durchgeführte Tuberkulinprüfung an 4.000 Schulkindern, bei denen das Einverständnis aller Eltern im Vor-

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Dass das Vertrauensverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Medizinern durch die Toxoplasmose-Fälle in Freiburg einen weiteren Einbruch erlitten hatte und sich trotz Beschwichtigungsversuchen und Selbsttests nicht ad hoc wiederherstellen ließ, zeigt die mangelnde Impfbereitschaft der Freiburger Bevölkerung, die gerade durch die Tatsache erschwert wurde, dass sich die Mediziner zu wenig um Aufklärung und Einverständnis der betreffenden Eltern gekümmert hatten. Ferner gehörte Freiburg nicht zu den stark betroffenen Polio-Gebieten, weshalb die Mediziner kaum auf eine entsprechende Sensibilisierung der Bevölkerung bauen konnten. Die Beurteilung der Poliomyelitis durch Ärzteschaft und Öffentlichkeit Im Gegensatz zu einem Großteil der Ärzteschaft stand die breite Öffentlichkeit einer Schutzimpfung gegen Poliomyelitis skeptisch gegenüber. Das lag zum einen an der abschreckenden Wirkung der beschriebenen Impfkatastrophen, zum anderen daran, dass sich die Impfpraxis in den 1950er Jahren insgesamt nur begrenzt durchgesetzt hatte: So stand zwar die Wirksamkeit der Diphterie- und TetanusImpfung außer Frage, doch gab es aufgrund der begrenzten Immunisierbarkeit keine aktive Scharlach-Impfung und wegen der mangelnden Standardisierbarkeit keinen Tuberkulose-Impfstoff; ein vorhandener Keuchhusten-Impfstoff existierte zwar, hatte allerdings beträchtliche Nebenwirkungen und schützte nicht wirksam genug vor Erkrankungen.30 Gerade die Frage der Nebenwirkungen offenbarte, dass Impfungen sowohl ein medizinisches als auch ein psychologisches Problem darstellten, da Eltern für sich klären mussten, welche Risiken und Begleiterscheinungen sie ihrem Kind zumuten wollten. Als problematisch erwies sich in diesem Zusammenhang das staatliche Interesse an Schutzimpfungen als Mittel der Präventivmedizin, das von der Öffentlichkeit aber primär als unerwünschte Bevormundung und Zwangsmaßnahme aufgefasst wurde.31 Befördert wurde die skeptische Haltung der Bevölkerung durch das Fehlen einer eindeutigen Stellungnahme seitens der Ärzteschaft. So beklagten die Ärztlichen Mitteilungen, dass sich „die Auffassung, ob eine Impfung notwendig und zu empfehlen sei oder nicht, von Arzt zu Arzt ändere“.32 Die

hinein eingeholt worden war. Auch habe die Kinderklinik unmittelbar nach Entdeckung der fehlenden Einverständniserklärungen für die Durchführung der Toxoplasmose-Tests reagiert und sei „in gleicher Weise verfahren“. Von dem Argument der Harmlosigkeit ließ sich auch die Freiburger Staatsanwaltschaft überzeugen und stellte das Verfahren der Mutter wegen mangelnden öffentlichen Interesses ein. Siehe Keine Strafanträge im Toxoplasmose-Fall, in: Badische Zeitung vom 26.10.1953. 30 E. Graser: Bemerkungen über die aktiven Schutzimpfungen in Deutschland anläßlich der Konferenz des Europäischen Büros der Weltgesundheitsorganisation vom 17. bis 20. März in Frankfurt, in: Ärztliche Mitteilungen vom 17. April 1954, S. 272–275. 31 Ebd. 32 Ebd.

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dabei getroffene Entscheidung beruhe weniger auf dem notwendigen Wissen als auf „Weltanschauung und Ressentiment“.33 Aus diesem Grund informierten die Ärztlichen Mitteilungen umfassend über Symptome und Verlauf der Poliomyelitis, schilderten aber auch Präventionsmaßnahmen, die in erster Linie in der Einhaltung der persönlichen Hygiene bestanden. So riefen die Ärztlichen Mitteilungen zu regelmäßigem Händewaschen nach dem Toilettengang und vor dem Essen auf, empfahlen, Obst und Gemüse gründlich zu waschen, bei grippeähnlichen Symptomen einen Arzt aufzusuchen und bei Polio-Verdachtsfällen den Kranken zu isolieren.34 Da präventive Maßnahmen die Weiterverbreitung der Krankheit zwar aufhalten, ihre Entstehung aber nicht verhindern konnte, sahen viele Mediziner in der Schutzimpfung das einzig wirksame Mittel: So sprach sich auch Walter Keller für das Impfen aus und wies die fortgesetzten Forderungen nach einem „absolut“ sicheren Impfstoff als unrealistisch zurück, zumal der deutsche Impfstoff bisher nicht zu Zwischenfällen geführt hatte: Man darf nicht sagen, daß man warten solle, bis es einen „absolut sicheren“ und dabei außerdem „100%ig wirksamen“ Impfstoff gäbe, denn den kann es (aus biologischen Gründen) gar nicht geben. Selbstverständlich bleiben diese beiden Forderungen ein Idealziel, dem wir uns möglichst nähern wollen, aber man wird immer betonen, daß es eben ein „Idealziel“ ist und bleiben wird! Die erreichbare oder mögliche Sicherheit wird immer nur als eine „Wahrscheinlichkeit“, mathematisch durch eine Zahl ausgedrückt werden können. In der ganzen prophylaktischen und therapeutischen Medizin gibt es hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit des prophylaktischen und therapeutischen Erfolges gar keine andere Möglichkeit, als die „Wahrscheinlichkeit“ des Effekts all unserer Maßnahmen anzugeben. „Absolut“ sicher in der Wirkung und der völligen Unmöglichkeit von Zwischenfällen ist die Poliomyelitis-Schutzimpfung selbst heute nicht, nachdem in den USA mehrere Millionen von Kindern nach Durchführung der neuen Sicherheitsprüfungen ohne jeden Zwischenfall geimpft worden sind; aber die Sicherheit liegt doch wohl heute schon innerhalb der Grenzen, die gerechterweise an ein solches Verfahren überhaupt gestellt werden können, d. h. sie beträgt „a reasonable degree“!35

Kellers Befürwortung der Polio-Impfung beruhte dabei nicht nur auf dem positiven Verlauf der deutschen Impfungen, sondern auch auf den Unterschieden zwischen der amerikanischen und der deutschen Impfstoffherstellung. So basierte der amerikanische Impfstoff auf dem besonders virulenten Polio-Virusstamm „Mahoney“, der auch für die Impfzwischenfälle im Frühjahr 1955 verantwortlich war, da er während des Herstellungsverfahrens nicht genügend abgetötet worden war.36 In Europa wurden für den Polioimpfstoff hingegen die weniger virulenten Stämme „Brunhilde“, „Leon“ und „Lansing“ verwendet. Dennoch orientierten sich die deutschen Gesundheitsämter am amerikanischen Impfzwischenfall, indem sie den 33 Ebd. 34 Tatsachen über Poliomyelitis, in: Ärztliche Mitteilungen vom 21. Mai 1955, S. 453–454 sowie A. Schretzenmeyer: Der gegenwärtige Stand der Poliomyelitis-Frage unter dem Aspekt der ärztlichen Fortbildung, in: Ärztliche Mitteilungen vom 11.06.1955, S. 518–524. 35 Keller: Stand der Poliomyelitis-Schutzimpfung, S. 53. 36 Vgl. J. Hühnerbein: Der Mahoney-Stamm, in: Ärztliche Mitteilungen vom 01.04.1957, S. 275–277.

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deutschen Impfstoff für Massenimpfungen sperrten und die begonnenen Impfkampagnen der Jahre 1954 und 1955 unterbrachen.37 Die Überprüfung des in den Behring-Werken hergestellten deutschen Impfstoffes durch das Paul-EhrlichInstitut erwies sich dabei als zeitintensives Unterfangen. Zur Durchführung mussten Erweiterungsbauten geschaffen werden, wodurch sich die Impfstoffherstellung und -prüfung weiter verzögerte. Aus diesem Grund sei Deutschland, wie die Ärztlichen Mitteilungen beklagten, europaweit im Kampf gegen die Poliomyelitis ins Hintertreffen geraten: Nach dem Erfolgsbericht von den vielen Millionen Schutzimpfungen in den USA über den Stand der Poliomyelitis-Schutzimpfung in Deutschland zu berichten, ist eine undankbare Aufgabe, denn die Poliomyelitis-Schutzimpfung in der Bundesrepublik Deutschland hatte bis Ende Mai 1955 nur etwa 50.000 Menschen erfaßt und ruht seitdem. Wie wir in Bologna auf dem diesjährigen europäischen Poliomyelitis-Kongreß hören konnten, sind in Dänemark von den 2,7 Millionen Menschen der Altersklasse von 9 Monaten bis zu 40 Jahren weit über 2 Millionen Menschen geimpft worden. In England ist 1956 eine staatlich gelenkte Poliomyelitis-Schutzimpfung an 200.000 Kindern der Altersklasse von 2 bis 9 Jahren durchgeführt worden. In Frankreich wird eine ähnliche Massenimpfung vorbereitet.38

Verantwortlich für den deutschen Rückstand war die durch die ImpfstoffSperrung begrenzte Verfügbarkeit eines deutschen Impfstoffes, die sich bis in das Jahr 1957 auswirkte. Mit der Entscheidung konfrontiert, entweder auf Schutzimpfungen in dieser Saison zu verzichten oder amerikanischen Impfstoff zu importieren, entschied sich das Bundesgesundheitsamt für eine Einfuhr amerikanischer Impfchargen. Da diese weiterhin auf dem in Deutschland verbotenen „MahoneyStamm“ basierten, knüpfte der zuständige Sachverständigenrat jedoch eine Reihe von Auflagen und Empfehlungen an den amerikanischen Impfstoff: So musste der Wirkstoff auf „Unschädlichkeit, Wirksamkeit und Kontinuität staatlich geprüft sein“,39 durfte nicht re-inaktiviert worden sein und war nur für Kinder des 2. und 3. Lebensjahres vorgesehen. Überdies sollte der Impfstoff nur in besonders gefährdeten Gebieten zum Einsatz kommen und von der „öffentlichen Hand“ 40 bezahlt und ausgegeben werden.

37 Aus Sicht des Bundesinnenministeriums stellte die Polio-Impfung die „einzig wirksame Waffe zur Bekämpfung der Kinderlähmung“ dar, wenngleich noch kein „abschließendes Urteil über Unschädlichkeit und Wirksamkeit formalinaktivierter Impfstoffe aus lebenden Viren gegen Poliomyelitis“ vorliege. Aus diesem Grund erlaubte das Bundesinnenministerium die Durchführung von Einzelimpfungen, zumal die Geimpften besser kontrolliert und ggf. auch isoliert werden konnten. Siehe Bundesgesundheitsamt gegen Poliomyelitis-Massenimpfung, in: Ärztliche Mitteilungen vom 11.03.1956, S. 224–225. 38 O. Günther: Stand der Poliomyelitis-Schutzimpfung in Deutschland, in: Ärztliche Mitteilungen vom 21.11.1956, S. 935–938. 39 Hühnerbein: Mahoney-Stamm, S. 275–277. 40 Ebd.

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Strategien zur Überwindung der Vertrauenskrise Um die Impfbereitschaft der Freiburger zu stärken, mussten die Universitätsmediziner ebenso auf die Verunsicherung, das Sicherheitsbedürfnis und das z.T. vorhandene mangelnde Interesse der breiten Öffentlichkeit reagieren. Aus diesem Grund sprachen sich die Universitätsmediziner, die ein erneutes epidemisches Auftreten der Krankheit für wahrscheinlich hielten, eindeutig für das Impfen aus und statuierten in einigen Fällen durch das Impfen ihrer eigenen Kinder ein Exempel: So hatte der spätere Freiburger Pharmakologe Richard Haas (1910–1988) seine drei Kinder bereits am 7. November 1954 gegen Polio impfen lassen, ohne dass diese in der Folge an Poliomyelitis erkrankten.41 Zu einer umfassenden Impfkampagne kam es allerdings erst, als sich in Nord- und Südwürttemberg im Herbst 1957 die Poliomyelitis epidemisch ausgebreitet hatte und das Gesundheitsamt kostenlos gegen Polio impfte. Obwohl Baden von der starken Ausbreitung der Polio nicht betroffen war, wurde die Impfaktion ausgeweitet, so dass bis Ende Oktober 1957 in Südbaden 16.764 Kinder einmalig, 16.015 Kinder zweimalig und 78 Kinder dreimalig gegen Polio geimpft worden waren. Da 1958 nur vereinzelt Poliofälle aufgetreten waren und die Gesundheitsämter nur noch die 1954, 1955 und 1956 geborenen Kinder kostenlos impften, gingen die Impfzahlen schlagartig zurück. So waren im Mai 1958 erst 1.015 Kinder einmalig, 829 Kinder zweimalig und 358 Kinder zum dritten Mal mit dem Polio-Impfstoff geimpft worden.42 Nichtsdestotrotz setzten die Mediziner – die Pathogenität der Poliomyelitis weiterhin vor Augen – auf Aufklärungskampagnen, die in ganz Deutschland über das Wesen und die Merkmale der Poliomyelitis informierten: Die Kinderlähmung gilt als die grausamste aller Infektionskrankheiten, die über den ganzen Erdball verbreitet ist und deshalb so gefürchtet wird, weil es gegen sie noch kein Heilmittel gibt. […] Feststeht, daß der Erkrankung eine Schmutzinfektion zugrunde liegt, daß das Virus über Nahrungsmittel in den Darm, in das Blut und dann in das Nervensystem gelangt.43

Die Aufklärung der breiten Öffentlichkeit erfolgte in Freiburg in Zusammenarbeit mit dem städtischen Gesundheitsamt und den Krankenkassen: So gab es beispielsweise Informationsabende, die sich speziell an Eltern richteten oder solche, die als Mitgliederversammlungen einzelner Krankenkassen durchgeführt wurden.44 Die Aufklärungsarbeit lag dabei in den Händen der Medizinischen Fakultät bzw. der Ärzte des Gesundheitsamtes, die über Wesen, Ausbreitung und Vorbeugungsmaßnahmen der Poliomyelitis informierten, um eine mögliche PolioHysterie zu vermeiden und die Impfbereitschaft zu stärken. Zur Informationsvermittlung griff die Fakultät dabei unter anderem auf Kurzfilme zurück, die neben den wichtigsten Fakten die Notwendigkeit einer ärztlichen Abklärung bei Verdachtsfällen besonders betonten. Der Herausstellung der ärztlichen Rolle kam in

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Kinderlähmungs-Impfung. Ja und nein, in: Der Spiegel vom 22.02.1956. Gewisser Schutz durch Impfung, in: Badische Zeitung vom 30.05.1958. Sauberkeit, das beste Mittel gegen Kinderlähmung, in: Badische Zeitung vom 06.09.1952. Keine epidemische Form, in: Badische Zeitung vom 21.10.1955.

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diesem Fall besonders große Bedeutung zu, da das Vertrauen der Bevölkerung in die Ärzte zu diesem Zeitpunkt nicht sehr groß war: Der abschließend gezeigte Kurzfilm über die Kinderlähmung gab in einem Round-TableGespräch zwischen Arzt und Mutter nochmals das Wichtigste über die Entstehung und das Wesen der Poliomyelitis wieder, während der zweite Film „In letzter Minute“ veranschaulichte, daß man rechtzeitig entstandene körperliche Schäden der Behandlung der Ärzte zuführen solle.45

Trotz der Aufklärungskampagnen hielten die Mediziner an ihrem paternalistischen Selbstverständnis fest. Sie glaubten daran, dass medizinisches Fachwissen durch eine Aufklärung von medizinischen Laien nicht ersetzt werden könne und die letzte Verantwortung immer beim Arzt liege. Deshalb sahen sie im Vertrauen in die ärztliche Tätigkeit eine wichtige Voraussetzung für die Gesundheit des einzelnen: Es wird immer unmöglich bleiben, den Laien auch nach bester Aufklärung das ganze Problem erfassen zu lassen: Der Laie muß dem Arzt, der Arzt der Wissenschaft vertrauen, und es wäre nur ein frommer Betrug, wenn man sich hinsichtlich der Verantwortung für die Frage „impfen oder nicht impfen?“ auf eine Aufklärung der Laien allein stützen wolle. Nein, die Verantwortung bleibt immer beim Arzt, beim Wissenschaftler und den staatlichen Gesundheitsbehörden, und hier nicht nur die Verantwortung für Sicherheit und Wirkung der Impfung, sondern selbstverständlich auch für die Opfer einer Epidemie, die durch das Unterlassen einer Impfung entstehen oder deren Zahl nicht wenigstens vermindert wurde!46

Unterstützung für ihre Aufklärungsarbeit erhielten die Freiburger Universitätsmediziner erneut von der Badischen Zeitung, die regelmäßig Berichte über die Poliomyelitis-Impfung veröffentlichte. Während der Schwerpunkt der Berichterstattung vor der Impfkatastrophe 1955 auf den Erfahrungen der ersten Massenimpfungen in den USA und dem geplanten Impfprogramm in Deutschland und Frankreich lag, standen danach die Suche nach den Ursachen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für das deutsche Impfprogramm im Vordergrund.47 In den nachfolgenden Artikeln wurden nun das amerikanische und das deutsche Impfprogramm einander gegenübergestellt, wobei das amerikanische Vorgehen als verfrüht und der Impfstoff als zu unsicher deklariert wurde, während für Deutschland immer wieder die Notwendigkeit weiterer Forschungen und die Sicherheit eines deutschen Impfstoffes betont wurde. Für ihre Einschätzungen nutzte die Badische Zeitung häufig Expertenmeinungen, was zeigt, dass die bis dahin geäußerte Medizinkritik sich nicht zu einer grundsätzlichen Arztkritik ausgeweitet hatte und die Aussagen medizinischer Autoritäten hier nach wie vor Geltung hatten: Zu den Zwischenfällen im amerikanischen Impfprogramm sagte Professor Henneberg, die Infektion von Kindern durch die Impfung seien nach den bisherigen Ermittlungen auf unzu45 Poliomyelitis – eine gefürchtete Krankheit, in: Badische Zeitung vom 20.03.1956. 46 Keller: Stand der Poliomyelitis-Schutzimpfung, S. 53. So wies Keller darauf hin, dass es gerade die „subjektive Bewertung und Darstellung“ sei, die es fast unmöglich mache, „sich ein Bild von dem tatsächlichen Stand des Problems der Poliomyelitis-Schutzimpfung zu machen.“ 47 An 440.000 Kindern erprobt, in: Badische Zeitung vom 13.04.1955.

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Nadine Kopp reichende Abtötung des Krankheitserregers in dem Impfstoff und auf Unzulänglichkeiten beim Prüfverfahren zurückzuführen. Bei den deutschen Schutzimpfungen an 50.000 Kindern mit dem Impfstoff der Behring-Werke hätten sich keine Zwischenfälle ereignet. Nur bei Tierversuchen sei es zu ähnlichen Erscheinungen wie in Amerika gekommen. Vorläufig würden in der Bundesrepublik keine Impfungen gegen Kinderlähmung vorgenommen.48

Ebenso wie den Universitätsmedizinern kam es den Journalisten der Badischen Zeitung vorwiegend auf eine Beruhigung der Bevölkerung und auf die Vermeidung einer Hysterie an, was die starke Betonung der Schutzmaßnahmen zeigt, die in Südbaden gegen die Polio unternommen wurden: In Freiburg selbst sind alle Vorbeugungsmaßnahmen getroffen worden, die möglich sind. Kinder und Lehrer aus Häusern und Gegenden, in denen die spinale Kinderlähmung aufgetreten ist, wurden vom Schulbesuch befreit; etwa vierzig Freiburger Kinder sind davon betroffen. Ebenso wurden zwei Freiburger Kindergärten vorübergehend geschlossen.49

Die Information über die Vorbeugungsmaßnahmen in Südbaden richteten sich in erster Linie an verunsicherte Eltern, die fürchten mussten, dass sich ihre Kinder über sogenannte Kontaktketten in Kindergärten und Schulen mit dem Virus infizierten und diesen so in die eigene Familie einschleppten.50 Das Ergebnis der Poliomyelitis-Impfungen in Freiburg und Westdeutschland Im Rahmen der 1957 stattfindenden Massenimpfungen waren in Deutschland insgesamt 623.432 Menschen von den zuständigen Gesundheitsämtern bzw. ihren praktischen Ärzten gegen Poliomyelitis geimpft worden. Wie die Ärztlichen Mitteilungen beklagten, sei aber nur ein kleiner Teil erschienen, um sich ein zweites oder gar drittes Mal impfen zu lassen: Wenn man bedenkt, daß das gleiche Vorgehen nicht nur der Ärzteschaft, sondern weiten Kreisen der Bevölkerung bei der Diphterie-Schutzimpfung und Dreifachimpfung seit Jahren bekannt ist, so ist es verwunderlich, daß in diesem Falle nur bei knapp 80% die zweifache Injektion erreicht werden konnte. Selbstverständlich können die Eltern oder Erziehungsberechtigten durch interkurrente Erkrankungen ihrer Kinder oder sonstige Abhaltungen Veranlassung gehabt haben, dem zweiten Impftermin fernzubleiben. Die Tatsache jedoch, daß wechselnd in den einzelnen Ländern zwischen 58 und 98% der Impflinge zur zweiten Einspritzung erschienen sind, zeigt, daß in dieser Beziehung mancherorts nicht genug an Aufklärung und Propaganda geschehen ist.51

Tatsächlich waren die Unterschiede in den Impfkampagnen der Bundesländer zum Teil beträchtlich. Während einige Länder groß angelegte Impfkampagnen durchführten, nahm die Poliomyelitis in anderen einen vergleichsweise geringen Stellenwert ein. Überdies waren die Impfungen in einigen Ländern kostenlos, in ande48 Der Kampf gegen die Kinderlähmung, in: Badische Zeitung vom 02.07.1955. 49 Keine epidemische Form, in: Badische Zeitung vom 21.10.1955. 50 Wolfgang Leibinger: Epidemiologie der Poliomyelitis in Südbaden 1950–1959, Freiburg: Univ. Diss. med. Kurzfassung, 1960, S. 6. 51 H. Kleinschmidt: Die Schutzimpfung gegen Kinderlähmung im Jahre 1957 in der Bundesrepublik und in Westberlin, in: Ärztliche Mitteilungen vom 11.01.1958, S. 47–49.

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ren musste der Impfstoff bezahlt werden.52 Aus diesem Grund variierte die Impfbeteiligung zwischen 0,8% und 32,6%, wobei die Impfbeteiligung in betroffenen Gebieten wie Nordrhein-Westfalen besonders hoch war und in Gebieten wie Südbaden, in denen die Bevölkerung insgesamt wenig Bezug zu Poliomyelitis hatte, eher gering ausfiel: In Südbaden waren in den letzten Jahren die Zahlen der Erkrankungen an Kinderlähmung nie hoch gewesen. Im ganzen letzten Jahr wurden 84 Fälle in Südbaden registriert, darunter zwei Todesfälle. Im Jahr 1956 waren es in Südbaden 113 Erkrankungen mit fünf Todesfällen gewesen.53

Trotz der Enttäuschung über die insgesamt „beschämend geringe Beteiligung der Bevölkerung an der Impfaktion“54 äußerten sich die Ärztlichen Mitteilungen und die Badische Zeitung über den Verlauf der Impfungen positiv. So sei es zwar zu harmlosen Impfreaktionen – kurzzeitig auftretenden Rötungen, Schwellungen oder grippeähnlichen Symptomen – gekommen, insgesamt liege die Impfstörungsquote aber bei weniger als 3%.55 Im europäischen Vergleich schnitt Deutschland trotz mangelnder Impfbereitschaft dennoch nicht allzu schlecht ab: So hatten Dänemark, Norwegen und Großbritannien zwar den weitaus größten Teil ihrer Kinder und Jugendlichen gegen Poliomyelitis impfen lassen, doch gab es auch Länder wie Spanien und die Niederlande, in denen eine umfassende Impfaktion erst kürzlich angelaufen war und die sich zur Wirkung der Polio-Impfung noch gar nicht äußern konnten.56 Insgesamt reagierten die Mediziner in Deutschland daher mit verhaltenem Optimismus. Sie sahen in der geringeren Morbidität bei Geimpften – sie betrug 2,46 im Vergleich zu 28,35 bei Nichtgeimpften – einen „gewisse[n] Erfolg der bisherigen Impfaktion“57 und äußerten sich positiv über die geringe Zahl Poliokranker im Jahr 1958, die mit etwa 2.000 gemeldeten Fällen wesentlich niedriger ausgefallen war als 1952, wo sie mit fast 10.000 Erkrankten ein Rekordhoch erreicht hatte.58 Inwieweit dieses Ergebnis auf die Impfkampagnen zurückzuführen war, ließen die Mediziner jedoch offen. Sie begnügten sich mit der Feststellung,

52 Werner Anders: Die gegenwärtige epidemiologische Situation der Poliomyelitis in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ärztliche Mitteilungen vom 10.10.1959, S. 1308–1310. 53 Gewisser Schutz durch Impfung, in: Badische Zeitung vom 30.05.1958. In BadenWürttemberg waren besonders Göppingen und Öbringen von der Poliomyelitis betroffen, im gesamten Bundesgebiet verzeichneten Aurich, Berlin und Eschwege Höchstzahlen. Vgl. Schon eine Folge der Impfungen?, in: Badische Zeitung vom 17.08.1957 sowie Polio-Welle rückläufig, in: Ärztliche Mitteilungen vom 17.01.1959, S. 70. 54 Das bisherige Ergebnis der Massenschutzimpfungen in Europa, in: Ärztliche Mitteilungen vom 03.10.1959, S. 1263–1265. 55 H. Kleinschmidt: Schutzimpfung gegen Kinderlähmung, S. 47–49. 56 Das bisherige Ergebnis der Massenschutzimpfungen in Europa, in: Ärztliche Mitteilungen vom 03.10.1959, S. 1263–1265. 57 Ebd. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1956, berücksichtigen aber nicht die regionalen Unterschiede in der Impfhäufigkeit. 58 Anders: Die gegenwärtige epidemiologische Situation, S. 1308–1310.

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Nadine Kopp daß in allen Ländern, in denen die Impfung bisher in größerem Umfang durchgeführt worden ist, gleichzeitig ein deutlicher Abfall der Krankenziffer eingetreten ist; andere Länder, wo nur geringe Impfzahlen vorliegen, wie Frankreich und England, hatten dagegen 1957 einen starken Anstieg zu verzeichnen.59

Etwas verhaltener fiel die Beurteilung des bisherigen Impferfolgs in Freiburg und Südbaden aus. Aufgrund der geringen Impfquote wies der Universitätsmediziner Wolfgang Leibinger darauf hin, dass bisher noch keine positiven Auswirkungen der Impfungen zu beobachten und weite Teile der Bevölkerung für eine Anstekkung mit dem Poliovirus weiterhin empfänglich seien.60 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass trotz des Einsatzes der Universitätsmediziner für eine PolioImpfung weitere Anstrengungen notwendig waren, um die Bevölkerung von den Vorteilen der Impfung zu überzeugen. Abhilfe brachte erst die zu Beginn der 1960er Jahre eingeführte Schluckimpfung sowie die in den 1960er und 1970er Jahren systematische Werbung für die Polio-Impfung, die die Bevölkerung in den Medien beinahe täglich mit dem Krankheitsbild der spinalen Kinderlähmung konfrontierte und dem Thema so zu einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung verhalf.61 Fazit Die Tatsache, dass sich die Poliomyelitis-Impfung auch in Freiburg nicht schnell durchsetzte, lag nicht nur an der auch hier anzutreffenden Impfskepsis, sondern auch daran, dass Freiburg nicht zu den besonders betroffenen Gebieten zählte, weshalb die Bevölkerung für die von der Poliomyelitis ausgehende Gefahr weniger sensibilisiert war als anderswo. Darüber hinaus war die Medizinische Fakultät durch ihre Ausrichtung an der NS-Ideologie und die Toxoplasmose-Nachweise öffentlich in Misskredit geraten, zumal die Medien kurzzeitig den Anschein erweckt hatten, dass an der Freiburger Universitäts-Kinderklinik medizinische Experimente an Kindern durchgeführt wurden. Fraglos stellten diese Faktoren eine weitere Belastung im Vertrauensverhältnis zwischen Medizinischer Fakultät und Öffentlichkeit dar, weshalb die Fakultät im Rahmen der Poliomyelitis-Impfungen dezidiert auf die Sorgen und Befürchtungen der Bevölkerung einging und sie zu beseitigen versuchte. Dabei bemühte sie sich um eine umfassende Aufklärung und arbeitete mit den städtischen Behörden bei der Abhaltung gemeinsamer Informationsabende zusammen, griff in Einzelfällen aber auch zu ausgefalleneren Metho59 Kleinschmidt: Schutzimpfung gegen Kinderlähmung, S. 47–49. 60 Leibinger: Epidemiologie der Poliomyelitis, S. 7. 61 Entscheidend für den Erfolg der Schluckimpfung war die bequeme Darreichungsform; sie führte u.a. dazu, dass Südbadens Impfbeteiligung im Herbst 1964 so stark zugenommen hatte, dass es „die bisherigen ‚Spitzenreiter‘ Südwürttemberg-Hohenzollern und Nordwürttemberg weit hinter sich gelassen hat.“ Siehe Gute Erfahrung mit der Schluckimpfung, in: Badische Zeitung vom 12.04.1965. Vgl. auch Jochen Aumiller: Werbung in der Medizin unter besonderer Berücksichtigung der „Impfkampagnen“ gegen die Poliomyelitis, München: Univ. Diss. med., 1970.

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den wie der Impfung der eigenen Kinder. Insbesondere bei den Informationsabenden ging es den Medizinern aber weniger darum, die komplexen medizinischen Zusammenhänge zu erklären, als der Öffentlichkeit das Gefühl zu geben, in guten Händen zu sein, um eine Polio-Hysterie zu vermeiden. So nutzten die Mediziner die Verunsicherung um die Poliomyelitis auf der einen Seite, um sich der breiten Öffentlichkeit anzunähern, beanspruchten auf der anderen Seite aber stets das endgültige Entscheidungsmonopol und forderten stattdessen immer wieder Vertrauen. Gerade das Lavieren der Freiburger Universitätsmediziner in ihrem Verhältnis zur breiten Öffentlichkeit zeigt, dass das traditionelle, auf einem elitären Selbstverständnis beruhende Arztbild bei Medizinern und breiter Öffentlichkeit in Bewegung geraten war und in den 1950er Jahren zunehmend demokratische Züge gewann. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Badische Zeitung, die regelmäßig über Poliomyelitis berichtete und dabei häufig die amerikanischen Verhältnisse den deutschen gegenüberstellte. So wertete sie den Beginn der transatlantischen Massenimpfung als verfrüht und wies nach der Unterbrechung der deutschen Impfkampagne immer wieder darauf hin, dass die Sicherheit des Impfstoffes an erster Stelle stehe und es in Deutschland nicht zu einer verfrühten Wiederaufnahme der Impfungen käme. Insgesamt steht dem großen Engagement von Universitätsmedizinern und den Mitarbeitern der Freiburger Stadtverwaltung für die Etablierung der PoliomyelitisImpfung damit ein recht bescheidenes Ergebnis gegenüber, da die Impfungen nur in geringer Zahl in Anspruch genommen wurden. Im Wesentlichen spiegeln sie jedoch die Lage Freiburgs und das vergleichsweise geringe Vorkommen der Poliomyelitis. Literatur Eckart, Wolfgang: Geschichte der Medizin, Heidelberg: Springer, 20055. Ders.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Heidelberg: Springer, 2011. Kießling, Katrin: Der Lübecker Ärzteprozess 1931/32 in der zeitgenössischen Diskussion, Hamburg: Univ. Diss. med., 2007. Kronenberg, Angela/Gerhard Walser: Mit der Lizenz zum Monopol. Zur Geschichte der Badischen Zeitung 1946–1952, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hg.): Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg, Freiburg i. Br.: Schillinger, 1986. Leven, Karl-Heinz: „Erhaltung und Förderung der Volkskraft“. Die Freiburger Medizinische Fakultät im Zweiten Weltkrieg, in: Bernd Martin (Hg.): 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Festschrift, Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, Freiburg i. Br.: Alber, 2007, S. 454–470. Link, Gunther: Zwangssterilisationen, in: Hofer, Hans-Georg/Karl-Heinz Leven (Hg.): Die Freiburger Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus. Katalog einer Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, Frankfurt/M.: Lang 2003, S. 86–99. Mattes, Jasmin: Wiedergutmachungsversuche, in: Hofer, Hans-Georg/Karl-Heinz Leven (Hg.): Die Freiburger Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus. Katalog einer Ausstellung des

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Nadine Kopp

Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, Frankfurt/M.: Lang, 2003, S. 64–66. Neisen, Robert: Und wir leben immer noch! Eine Chronik der Freiburger Nachkriegsnot, Freiburg i. Br.: Promo, 2004. Neumann, Alexander: „Arzttum ist immer Kämpfertum“. Die Heeressanitätsinspektion und das Amt „Chef des Wehrmachtssanitätswesens“ im Zweiten Weltkrieg (1939–1945), Düsseldorf: Droste, 2005. Paulus, Stefan: Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976, München: Oldenbourg, 2010. Reuland, Andreas: Menschenversuche in der Weimarer Republik, Norderstedt: Books on Demand, 2004. Seemann, Silke: Die politischen Säuberungen des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1957), Freiburg i. Br.: Rombach, 2002. Seidler, Eduard/Karl-Heinz Leven: Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen, Freiburg i. Br.: Alber, 2007. Speck, Dieter: Zwangsarbeit in Universität und Universitätsklinikum in Freiburg, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 205–233. Voswinckel, Peter: Von der hämatologischen Fachgesellschaft zum Exodus der Hämatologie aus Berlin, in: Fischer, Wolfram et al.(Hg.): Exodus von Wissenschaften aus Berlin. Fragestellungen – Ergebnisse – Desiderate – Entwicklungen vor und nach 1933, Berlin: de Gruyter, 1994, S. 552–567.

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Wandel medi(k)aler Öffentlichkeiten? Standespresse als Gestaltungsraum intraprofessioneller und gesellschaftspolitischer Diskurse in der frühen Bundesrepublik Sigrid Stöckel Öffentliche Meinung und Medien gehörten zu den kritischen Größen des Wiederaufbaus. Nach der Besetzung Deutschlands hatten die amerikanischen und britischen Alliierten eine Information Control Division eingerichtet, die eine Verherrlichung des Nationalsozialismus respektive Rassismus oder Militarismus verhindern und den Aufbau demokratischer Medien ermöglichen sollte. Dazu wurden zunächst alle Printmedien verboten und der Druck von Büchern und Zeitungen von der Erteilung einer Lizenz abhängig gemacht.1 Das Bemühen um eine kritische und offene Berichterstattung und somit eine neue Öffentlichkeit ging auch von einzelnen deutschen Publizisten und Journalisten aus, die nach einem Weg suchten, die demokratische Erneuerung Deutschlands voranzutreiben,2 während andere „überwintern“ mussten,3 bis die Bundesrepublik im September 1949 eine Generallizenz erließ. Die medizinische Standespresse hatte im Mai 1949 wieder erscheinen können. Wie der publizistische Neuanfang – oder bescheidener ausgedrückt das Wiedererscheinen – nach eingeschränkten Lizenzen und demokratischen Belehrungen der reeducation aussah und welchen Konzepten von Öffentlichkeit er sich verpflichtet fühlte, soll anhand der ärztlichen Standespresse von 1949 bis in die 1970er Jahre analysiert werden. Mit der Ärzteschaft wird eine gesellschaftliche Gruppe mit bedeutender Repräsentanz in den Blick genommen. Ärzte verstehen sich als gesellschaftliche Elite, die wissenschaftlich legitimiert ist und für sich beansprucht, zur Herausbildung gesellschaftspolitischer Haltungen beizutragen. Durch ihren Status als „freier Beruf“, die Existenz einer professionellen Standesorganisation mit dazugehörigen Publikationsorganen und einer entsprechend spezifischen (Teil)-Öffentlichkeit verlangt die Ärzteschaft bis heute einen eigenen Regelungsraum und steht insofern in einem gewissen Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Die Konstituierung wie auch die Spiegelung

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Earl F. Ziemke: The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944–1946, Washington D.C.: Center of Military History, United States Army, 1975, S. 367–372; Heinz Pürer/Johannes Raabe: Presse in Deutschland, Konstanz: UVK, 20073, S. 108–118. Sean A. Forner: Für eine demokratische Erneuerung Deutschlands. Kommunikationsprozesse und Deutungsmuster engagierter Demokraten nach 1945, in: Geschichte und Gesellschaft 33.2 (2007), S. 228–257. Sigrid Stöckel: Neubeginn durch Otto Spatz – Kontinuität oder Wandel?, in: Dies. (Hg.): Die „rechte Nation“ und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J.F. Lehmanns Verlag 1890–1979, Berlin: LOB.de, 2002, S. 259–303 u. S. 261–272.

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dieser Teilöffentlichkeit erfolgt traditionell in den periodisch erscheinenden medizinischen Wochenschriften. Im Folgenden werden in einem Exkurs die Dimensionen von Öffentlichkeit und Medien dargestellt und die Rolle des Genres medizinische Wochenschrift verdeutlicht. Auf diesem Hintergrund wird drei konkreten Fragestellungen nachgegangen: Gelang es, in der Wochenschrift eine intraprofessionelle Öffentlichkeits- und Debattenkultur zu schaffen? Wurden der ärztlichen Leserschaft gesellschaftliche Belange präsentiert und damit Schnittstellen zwischen Profession und Gesellschaft freigelegt, in denen Ärzte sich positionieren? Und schließlich: wie reagierten Ärzte auf den Anspruch der Öffentlichkeit, ärztliches Handeln zu durchschauen und gegebenenfalls zu kritisieren? Nach einer kurzen Charakterisierung des Mediums werden diese Themen chronologisch an Struktur und Inhalten der Standespresse verfolgt. Interesseleitend ist die Frage, inwiefern die Standespresse sich bemühte, einen Beitrag zur Demokratisierung der Ärzteschaft zu leisten. Dimensionen von Öffentlichkeit und Medien Neben dem Angebot zu ärztlicher Fortbildung sowie der Formulierung und Vertretung von Standesinteressen liegt die Funktion ärztlicher Wochenschriften darin, soziale und kulturelle Konfigurationen des Arzt-Seins und der Beziehung zur gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit zu bilden und durch ihr periodisches Erscheinen zu verfestigen. Somit dienen sie als Professionalisierungsinstrument, das mit dem Bestreben verbunden ist, eine kollektive Identität aller westdeutschen Ärzte und somit einen „Einheitsstand“ herauszubilden und zu erhalten.4 Der Politologe Göhler spricht von der Vermittlung von Verhaltensmustern und Sinngebilden mit regulierender und orientierender Funktion, auf die das Lesepublikum seine Erwartungen ausrichtet und deren Ordnungsfunktion es verinnerlicht.5 Ähnlich haben Ute Daniel und Axel Schildt für die Massenmedien darauf hingewiesen, dass ihr Konsum Vorstellungen und Räume imaginierter Gemeinschaften erzeugt,

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Gerlind Rüve: Vom „personal mouthpiece“ zur medizinischen Fachzeitschrift, in: Sigrid Stöckel/Wiebke Lisner/Gerlind Rüve (Hg.): Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung von Wissenschaft, Stuttgart: Steiner, 2009, S. 45–69, hier S. 46–49; Wiebke Lisner: Fachzeitschriften als Selbstvergewisserungsinstrumente der ärztlichen Profession? Zu Funktionen und Profilen der medizinischen Wochenschriften 1919–1932, in: ebd., S. 111–137, hier S. 111–113. Gerhard Göhler: Politische Institutionen und ihr Kontext. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen, in: Ders. (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden: Nomos, 1994: S. 19–46, hier S. 22; vgl. Matthias Middell: Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net. Gedanken zur Geschichte der Zeitschriften als Elementen der Institutionalisierung moderner Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hg.): Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, 1999, S. 7–31, hier S. 9.

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in denen spezifische Identitäten konstruiert, re-thematisiert und bestätigt werden.6 Diese Charakterisierung trifft ebenfalls auf das sehr viel kleinere, eine Teilöffentlichkeit bedienende Genre medizinischer Wochenschriften zu, deren Autoren, Herausgeber und Leser Policies ärztlichen und wissenschaftlichen Handelns ebenso präsentieren und einüben wie Politiken im Umgang mit der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dabei ist zu beachten, dass die Zeitschriften nicht nur zeitgenössische medizinische Diskurse spiegeln, sondern sie ihrerseits gestalten und selbst Handlungsspielraum für sich in Anspruch nehmen. Dementsprechend verwendet Middell nicht die Metapher des „Spiegels“, sondern die eines „Gitters“, das Öffentlichkeitsräume definiert und prägt.7 Der Politik- und Medienwissenschaftler Uwe Thaysen hat die unterschiedlichen Funktionen von Öffentlichkeit in einer Weise differenziert, die sich auf das Verhältnis der Ärzteschaft zur intraprofessionellen wie auch zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit anwenden lässt und für eine Analyse der Wochenschriften genutzt werden kann. Er beschreibt Öffentlichkeit 1) als „Instrument“ zur Herstellung von Transparenz und Partizipation, 2) als (Handlungs-)„Feld“ subjektiver, öffentlich wahrnehmbarer Aktivität und 3) als Bezugsrahmen eines öffentlichen Gemeinwohls, wobei die Referenz auf Öffentlichkeit 4) eine sanktionierbare Verantwortlichkeit implizieren kann.8 Übertragen auf die medizinische Standespresse finden sich diese Perspektiven von Öffentlichkeit als Gestaltung eines medialen Raumes, in dem Ärzte ihre Meinungen mehr oder weniger transparent äußern (1) und als Akteure in Erscheinung treten (2). Gleichzeitig liefert dieser spezifische mediale Raum den Bezugsrahmen für ein Gemeinwohl, das professionell oder gesamtgesellschaftlich definiert werden kann (3). Das Resultat ist eine mehr oder weniger öffentliche Thematisierung von Schwächen und damit die Voraussetzung zur Übernahme von Verantwortung (4). In diesem Zusammenhang ist zu untersuchen, wie Mediziner in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit dargestellt wurden und wie die Standespresse wiederum mit dieser Darstellung umging. Schließlich ist die Haltung dazu, was öffentlich und damit dann hinterfragbar ist, eine Frage von Selbstverständnis und Definitionsmacht. Bezüglich des Wandels medialer und medikaler Öffentlichkeiten im Nachkriegsdeutschland ist also zu fragen, welcher Grad von Transparenz und Publizität innerhalb der Profession und ihres Mediums gesucht und hergestellt wurde und wer als Akteur in ihr agierte. Spezielles Interesse gilt der Frage, welchen Raum die gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit in der Kommunikation der Ärzteschaft einnahm. Wie durchlässig war die Grenze zwischen Profession und Gesellschaft, was wurde an gesellschaftspolitischen Fragen in der Standespresse ventiliert? Wie 6 7 8

Ute Daniel/Axel Schildt: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln: Böhlau, 2010, S. 9–34, hier S. 11. Middell: Vom allgemeinhistorischen Journal, S. 11f. Uwe Thaysen: Öffentlichkeit aus politologischer Sicht, in: Werner Faulstich (Hg.): Konzepte von Öffentlichkeit. 3. Lüneburger Kolloquium zur Medienwissenschaft, Bardowick: Faulstich, 1993, S. 10–15, hier S. 13.

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reagierte die Ärzteschaft ihrerseits auf Darstellungen ärztlicher Angelegenheiten in der Tagespresse? Der Historiker Bernd Weisbrod betont in seiner Untersuchung über Politik und Öffentlichkeit, kein politischer Vorgang demokratischer Gesellschaften bleibe durch seine mediale Repräsentation unverändert.9 Entsprechend ist zu erwarten, dass die Art der medialen Kommunikation der Standespresse für die jeweilige historische Position der Mediziner repräsentativ ist und dass die mediale Darstellung der Standespresse gleichzeitig Einfluss auf die Ärzteschaft ausübt. Die Zeitschrift und ihre Schriftleiter Analysiert wird die Wochenschrift Ärztliche Mitteilungen/Deutsches Ärzteblatt als das Publikationsorgan der Ärztekammer, das sich an die gesamte Ärzteschaft wendet. Die im Jahre 1900 gegründeten Ärztlichen Mitteilungen waren seit 1905 das Organ des „Verbandes der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“ (Hartmannbund) gewesen und im Juli 1933 mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄBl), dem Mitteilungsblatt der Reichsärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands, zusammengeschlossen worden.10 Als im Mai 1949 schließlich ein Wiedererscheinen der ärztlichen Standespresse möglich wurde, gaben die 1947 gegründeten Westdeutschen Ärztekammern und die Kassenärztliche Vereinigung die Zeitschrift unter dem alten Titel Ärztliche Mitteilungen (ÄM) heraus. 1955 erschien der Name DÄBl im Untertitel, 1962 führte die Wochenschrift den Doppelnamen ÄM/DÄBl und die Schriftleitung „korrigierte die unrichtige Zählung“ der Jahrgänge, indem die Jahre von 1933 bis 1945 hinzugefügt und damit in die Publikationsgeschichte integriert wurden.11 ÄM wie DÄBl unterstanden dem Regelungsanspruch der beiden Spitzenverbände, die ab 1955 wieder Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hießen.12 Für die Periodisierung der Jahrgänge bieten sich zunächst die Schriftleiter als Gestalter der Zeitschrift an. Am 15. Mai 1949 wurden mit dem Vorsitzenden der Westdeutschen Ärztekammern, Dr. Carl Oelemann (geb. 1886), und dem Vorsit9

Bernd Weisbrod: Öffentlichkeit als politischer Prozess. Dimensionen der politischen Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Ders. (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Wallstein, 2003, S. 11–25, S. 19f. 10 Johann F. Volrad Deneke/Richard Sperber: Einhundert Jahre Deutsches Ärzteblatt, Ärztliche Mitteilungen: 1872–1972, Lövenich: Deutscher Ärzteverlag, 1973, S. 14f. u. S. 82–84. Zum Ärztlichen Vereinsblatt und dem frühen Deutschen Ärzteblatt vgl. Gabriele Moser: Ärzte, Gesundheitswesen und Wohlfahrtsstaat. Zur Sozialgeschichte des ärztlichen Berufsstandes in Kaiserreich und Weimarer Republik, Freiburg i. Br.: Centaurus, 2011, S. 43–105. 11 Deneke/Sperber: Einhundert Jahre, S. 102. Nachdem die ÄM zunächst nur monatlich erscheinen konnte, waren ab 1952 vierzehntägige und ab 1958 wöchentliche Ausgaben möglich. Vgl. ebd., S. 101. 12 Thomas Gerst: 1947/1997 – Bundesärztekammer im Wandel (I): Föderal oder zentral? Der kurze Traum von einer bundeseinheitlichen ärztlichen Selbstverwaltung, in: Deutsches Ärzteblatt (DÄBl) 93.38 (1996), S. 2389–2392.

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zenden der Kassenärztlichen Vereinigungen, Dr. Ludwig Sievers (geb. 1887), die Vertreter der ärztlichen Spitzenorganisationen verantwortliche Herausgeber. Obwohl der Vorsitz der Ärztekammern auf dem 52. Deutschen Ärztetag im selben Jahr an Dr. Hans Neuffer (geb. 1892) überging, blieb Oelemann bis August 1951 Schriftleiter.13 Nach ihm übernahm 1952 nicht Neuffer, sondern der Zweite Vorsitzende Dr. Berthold Rodewald (geb. 1891) die Schriftleitung gemeinsam mit Ferdinand Oeter (geb. 1903). Damit lag die Gestaltung der Zeitschrift nicht mehr automatisch bei den Vertretern der Spitzenorganisationen, die Schriftleiter stammten aber weiterhin aus ihrem Umkreis. Oeter war vorher am Aufbau der Westdeutschen Ärztekammern und der Kassenärztlichen Vereinigung beteiligt, Rodewald als Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein um die Schaffung einer gemeinsamen Ärztekammer in allen drei Zonen bemüht.14 Dessen ungeachtet kam es im Herbst 1958 zu Unstimmigkeiten zwischen Rodewald und dem Herausgebergremium der Standesorganisationen, die zu seinem Ausscheiden aus der Redaktion führten: Rodewald hatte gegen die Krankenkassen-Reformpläne des Bonner Arbeitsministers Theodor Blank so vehement protestiert, dass die Kassenärztliche Vereinigung sich durch die „publizistischen Attacken“ der eigenen Zeitschrift in ihrer Verhandlungsposition eingeengt fühlte und ihren Chefredakteur opferte – „vergeblich“, konstatierte ein späterer Schriftleiter im Rückblick, denn in den folgenden Jahren hätten die Redakteure noch stärker protestiert und dies „in grundsätzlicher Übereinstimmung mit beiden Herausgeber“-Institutionen.15 Im Herbst 1958 jedenfalls wollten die ärztlichen Spitzenverbände ihre Zeitschrift und die von ihr erzeugte Wirkung in der politischen Öffentlichkeit kontrollieren und trennten sich dafür von ihrem Herausgeber. Während Rodewald die ÄM als Medium „öffentlich wahrnehmbarer Aktivität“ innerhalb der Profession wie auch nach außen genutzt hatte, fürchtete die Kassenärztliche Vereinigung eine Fixierung der Verhandlungsposition, die öffentlicher Kritik ausgesetzt war und möglicherweise eine „sanktionierbare Verantwortlichkeit“16 nach sich gezogen hätte. Der Unterschied zwischen der Situation Rodewalds und der Lage der folgenden Schriftleiter wird in der Geschichte der Zeitschrift nicht nur an der unterschiedlichen Haltung der Herausgeber-Organisationen festgemacht, sondern an der Tatsache, dass die folgenden Schriftleiter J. F. Volrad Deneke (1958–1965) und Ernst Roemer (1966–1991) keine Mediziner waren, die die Zeitschrift neben ihrer Praxis redigierten, sondern ausgebildete und hauptberuflich tätige Journalisten, die um die „fachmännisch-unabhängige Gestaltung der Zeitschrift“ bemüht waren.17 Volrad Deneke (geb. 1920) war 1939 in die NSDAP eingetreten und hatte Anfang der 1940er Jahre bis zu seinem Militärdienst 1943 Nationalökonomie 13 Deneke/Sperber: Einhundert Jahre, S. 101. 14 Thomas Gerst: Ärztliche Standesorganisation und Standespolitik in Deutschland 1945–1955, Stuttgart: Steiner, 2004, S. 28, 55–57 u. 117; Deneke/Sperber: Einhundert Jahre, S. 101. 15 Ernst Roemer: Redaktion und Herausgeber: Vertrauen ist die Basis, in: DÄBl 96.21 (1999), S. 28. 16 Thaysen: Öffentlichkeit aus politologischer Sicht, S. 13. 17 Norbert Jachertz: Redaktionspolitik: Unser Konzept, in: DÄBl 96.21 (1999), S. 16.

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und Sozialwissenschaften studiert. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist und betreute ab 1952 die von den Westdeutschen Ärztekammern und der Kassenärztlichen Vereinigung neu gegründete Pressestelle der deutschen Ärzteschaft. Von dort wechselte er 1955 in die Redaktion der ÄM und übernahm 1958 nach Rodewalds Ausscheiden die Leitung. Gleichzeitig gehörte er der Bundespressekonferenz an und war so mit der übrigen bundesrepublikanischen Presselandschaft vertraut. Er setzte sich für den „freien Berufsstand“ der Ärzte ein, formulierte 1959/60 das gesundheitspolitische Programm der Freien Demokraten und war von 1961 bis 1965 ihr Bundestagsabgeordneter.18 Sein Nachfolger Ernst Roemer (geb. 1926) engagierte sich ebenfalls für den freien Status des Ärztestandes und leitete bis 1975 die Pressestelle der deutschen Ärzteschaft.19 Neben journalistischer Fachkompetenz dürfte zu dem guten Verhältnis zwischen Herausgebern und Schriftleitung ihre ideologische Nähe sowie die jeweilige politische Strategie der mehr oder weniger offenen Konfrontation zwischen Ärztestand und Politik beigetragen haben. Innerprofessionelle Kontroversen und gesellschaftspolitische Themen Ob und wie Kontroversen in der Standespresse öffentlich thematisiert wurden, erlaubt Aussagen über eine Debatten- und Diskussionskultur, in der sich Toleranz, Meinungsvielfalt und Fähigkeit zu Demokratie zeigen oder eben nicht. Zu ergänzen ist sie durch die Suche nach Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz, die eine gesellschaftspolitische Positionierung der Ärzteschaft erlaubt und ihr damit den Zutritt zum öffentlichen Raum erleichtert. Eine Analyse der Reaktionen auf die Berichterstattung der Tagespresse, die das Verhältnis der Ärzteschaft zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit verdeutlicht, schließt sich an. Ärzte als Schriftleiter – Anfangsjahre 1949 bis 1958 Bereits im ersten Jahrgang entwickelte sich ein Paradestück kontroverser Diskussion. Ausgangspunkt war ein Tagungsbericht der Gesellschaft für Innere Medizin mit dem Titel „Um ein neues Weltbild medizinischer Wissenschaft“, der von Fred Mielke verfasst worden war. Mielke hatte gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich im Auftrag der Westdeutschen Ärztekammern als Beobachter am Nürnberger Ärzteprozess teilgenommen und gemeinsam mit ihm die Verbrechen deutscher Ärzte in den Konzentrationslagern und „Euthanasie“ in dem Buch Wissenschaft ohne Menschlichkeit dokumentiert. Diese Offenlegung rief

18 Vgl. http://www.arztwiki.de/wiki/J._F._Volrad_Deneke; Deneke/Sperber: Einhundert Jahre, S. 101. 19 Norbert Jachertz: Ernst Roemer †: Zuverlässiger Ratgeber der Ärzteschaft, in: DÄBl 103.20 (2006), S. 55.

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innerhalb der Ärzteschaft Unmut hervor.20 Als Vorsitzender der Westdeutschen Ärztekammern hatte Oelemann das umstrittene Buch mit einem Vorwort versehen,21 als Schriftleiter publizierte er Mielkes Bericht, in dem dazu aufgerufen wurde, neben der zunehmenden Technik den „seelisch-geistigen Kräften Beachtung“ zu schenken und Psychosomatik und Psychotherapie in die ärztliche Praxis aufzunehmen. Oelemann hatte sich bereits 1947 auf einer Tagung der medizinischen Fakultäten ähnlich geäußert22 und er wiederholte sein Statement in einem ausführlichen Artikel im September, in dem er erklärte, mit einem Ausbau der Psychotherapie sei sowohl der Notlage der arbeitslosen Ärzte als auch der seelischen Not der Patienten abzuhelfen.23 Ein Artikel „Über den Stand der modernen Psychotherapie“ von Wilhelm Bitter, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Psychotherapie, schloss sich an.24 Daraufhin protestierten die Nervenärzte gegen die fachliche Konkurrenz, was wiederum zu Entgegnungen der Gesellschaft für Psychotherapie führte. Die Auseinandersetzung wurde der Leserschaft unter dem Titel „Zum Problem der Psychotherapie – eine Diskussion“ einen Monat später präsentiert.25 Oelemann versuchte außerdem, die Psychotherapie auf dem Ärztetag am 2. September 1949 zu thematisieren. Der angekündigte Vortrag zu „Psychotherapie und sozialpolitische Aufgabe des Arztes“ wurde jedoch von der Tagesordnung genommen.26 Daraufhin publizierte Oelemann diesen Beitrag am 15. Oktober in den ÄM.27 Die Kontroverse zwischen den Nervenärzten und Psychotherapeuten über die Ausbildung der neuen Kollegen wurde den Lesern ebenfalls vorgelegt – laut Oelemann „in aufklärerischer Absicht, ohne sich mit dem Text in allen Einzelheiten zu identifizieren“.28 Damit stellten die ÄM eine Gegenöffentlichkeit zum Ärztetag her. Dies wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern wahrgenommen, die Oelemann im November ein weiteres Agieren in dieser Angelegenheit untersagten.29 In der Ausgabe der ÄM vom 1. Dezember fand sich dessen ungeachtet in einem Bericht über „Aktuelle Probleme und Aufgaben“ der 20 Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen: Wallstein, 2007, S. 150–165. 21 Andreas Frewer: Medizingeschichte, Ethik und Menschenrechte. Vom Nürnberger Ärzteprozeß zum Genfer Gelöbnis, in: MenschenRechtsMagazin 2 (2008), S. 142–154, hier S. 143f. 22 Vgl. Denkschrift Carl Oelemann: Hilfe und Errettung aus seelischer Not. Psychotherapie – ein bedeutendes, weites ärztliches Arbeitsgebiet, zitiert nach Gerst: Ärztliche Standesorganisation, S. 136. 23 Carl Oelemann: Hilfe und Errettung aus seelischer Not. Psychotherapie – ein bedeutendes, weites ärztliches Arbeitsgebiet, in: Ärztliche Mitteilungen (ÄM) 34.8 (1949), S. 156–158. 24 Wilhelm Bitter: Über den Stand der modernen Psychotherapie, in: ÄM 34.8 (1949), S. 160–163. 25 Zum Problem der Psychotherapie. Eine Diskussion, in: ÄM 34.10 (1949), S. 210–211. 26 Gerst: Ärztliche Standesorganisation, S. 138. 27 Joachim Kaminski: Psychotherapie und sozialpolitische Aufgabe des Arztes, in: ÄM 34.11 (1949), S. 227–230. 28 Eugen Heun: Zur Neuordnung der Psychotherapie, in.: ÄM 34.13 (1949), S. 260–264, hier S. 261. 29 Gerst: Ärztliche Standesorganisation, S. 138.

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Passus, die Rockefeller-Foundation stifte 200.000 DM für ein psychotherapeutisches Ausbildungsinstitut in Heidelberg, sofern sich die deutsche Ärzteschaft „durch Hergabe eines rückzahlbaren Darlehens“ an der Gründung beteilige.30 Der Hinweis erschien allerdings an vergleichsweise versteckter Stelle. Oelemanns Vorgehen entsprach weitgehend dem von Thaysen formulierten Ideal eines transparenten Meinungsaustauschs innerhalb der Profession sowie einer subjektiven, öffentlich wahrnehmbaren Aktivität der Psychotherapeuten und ihrer Konkurrenten. Da die Parteien damit argumentierten, dass eine große Anzahl Betroffener von der Psychotherapie profitieren oder eben nicht profitieren konnte, gaben sie der Frage ihrer Einrichtung gesellschaftliche Relevanz. Sie zu thematisieren, entsprach der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wie der Profession. Die Art der Präsentation der Debatte wurde offensichtlich durch das persönliche Engagement des Schriftleiters bestimmt. Oelemann setzte sich nicht nur für Psychotherapie ein, sondern erklärte, ein freier Meinungsaustausch gehöre „zum Wesen der Demokratie“, die Ärzteschaft sei „grundsätzlich Gegner jeder geistigen Zwangsjacke“.31 Der erste Jahrgang der ÄM wies eine überraschend breite Berichterstattung auf, die den Kongress Sozialistischer Ärzte und ihre Vorstandssitzung32 ebenso umfasste wie den Protest des Ärztetagspräsidenten Hans Neuffer gegen den Antisemitismus eines Magistrats. Die städtische Verwaltung hatte die Wahl eines jüdischen Arztes zum Leiter der Städtischen Krankenanstalten unter Hinweis auf dessen „rassische Zugehörigkeit“ rückgängig gemacht und die Leser der ÄM erfuhren – wenn auch nur am Rande unter Bekanntmachungen – dass Neuffer es als eine Diskriminierung der gesamten deutschen Ärzteschaft betrachtete, dem jüdischen Kollegen zu unterstellen, „sich von anderen als berufsethischen Gesichtspunkten“ leiten zu lassen.33 Die folgenden Jahrgänge fielen gegen die Vielfalt der Berichterstattung und den Enthusiasmus des Meinungsaustauschs von 1949 leicht ab. Zwar druckte die Schriftleitung 1950 unter Leserstimmen – freier Meinungsaustausch wiederum einen Text des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Ärzte, Hermann Karl, in dem er die soziale Ungleichheit als Grund für Erkrankungen anklagte. Oelemann kommentierte Karls Text jedoch mit einer Warnung vor ökonomischer Gleichmacherei und druckte eine Entgegnung auf einen früheren, ähnlichen Artikel Hermann Karls erneut ab.34 Karls Erwiderung wurde unter Leserstimmen – freier Meinungsaustausch35 ebenso publiziert wie Berichte über die Treffen der Sozialistischen Ärzte.36 Durch die so hergestellte Publizität, die aller30 31 32 33 34

Aktuelle Probleme und Aufgaben, in: ÄM 34.14 (1949), S. 279–281, hier S. 281. ÄM 34.13 (1949), S. 271. ÄM 34.13 (1949), S. 84f.; ÄM 34.13 (1949), S. 266. ÄM 34.11 (1949), S. 233f. Hermann Karl: Gesundheitswesen nach Konstituierung der Bundesrepublik, in: ÄM 35.3 (1950), S. 58–60. 35 G. Ostermann: Sozialisierung/Einheitsversicherung – ein Denkfehler!, in: ÄM 35.3. (1950), S. 62f.; Hermann Karl: Sozialisierung = Vermassung, ein Denkfehler, in: ebd., S. 180–181. 36 So z. B. ÄM 40 (1955), S. 852f.

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dings ein wenig inszeniert wirkt, wurden die Sozialistischen Ärzte als Randgruppe der Ärzteschaft gewissermaßen integriert. Möglicherweise war die Betonung eines demokratischen Stils des ersten Jahrgangs dem Enthusiasmus des Neuanfangs geschuldet, der 1950 bereits weniger ausgeprägt war. Über Unstimmigkeiten und kritikwürdiges Verhalten innerhalb der eigenen Profession wurde eher zurückhaltend berichtet und der Tagespresse jedes Recht auf Information und Kommentierung abgesprochen. Ein Beispiel aus dem Jahr 1950: Dem Psychiater Bürger-Prinz war in der Presse vorgeworfen worden, die Ehefrau eines Kollegen „unberechtigter Weise“ in eine Anstalt eingewiesen zu haben. Als denkbare und legitime Motive für das Handeln von Bürger-Prinz nannte der Autor unter anderem „Imponderabilien […] die hier nicht besprochen werden sollen“,37 die aber offenbar geeignet schienen, das Handeln des Arztes zu rechtfertigen. Zur ärztlichen Praxis gehörten damit Bereiche, die selbst innerhalb der ärztlichen Publizistik nicht transparent werden sollten. Dem von der Tagespresse erhobenen Vorwurf der Freiheitsberaubung wurde entgegengehalten, die real mögliche Freiheit bestehe ohnehin nur in den „Tasten der Setzmaschinen“ der Presse. „Die öffentliche Vertrauenskrise“ werde verschärft, anstatt „Störungen des Gemeinschaftslebens“ zu verhindern. Erkennbar ist, dass innerhalb der ärztlichen Praxis allenfalls eine eingeschränkte Öffentlichkeit gewünscht wurde. Transparenz und Partizipation waren unpassend, eine subjektive Aktivität der Offenlegung nicht ratsam, ihr Nutzen für die Profession nicht zu erkennen. Ein Bezug zum Gemeinwohl wurde nicht hergestellt. In diesem Beispiel erscheint Öffentlichkeit nicht als Referenz, sondern als Störfaktor ärztlichen Handelns. 1952 übernahm Dr. Berthold Rodewald die Schriftleitung. Er führte die Rubrik Aussprache ein,38 die zunächst einmal im Monat erschien und mit der ein innerprofessioneller Diskussionsraum geschaffen wurde. Auch Rodewald war an einer Kontroverse persönlich beteiligt. 1954 hatte er geäußert, „staatlich-amtlich betriebene Diabetikerberatungsstellen“ seien „Zwangsverwaltungsstellen eines Diktaturstaates“, die wegen der geringen Anzahl an Patienten und der Belanglosigkeit ihrer Probleme abzulehnen seien.39 Daraufhin verlangten Diabetologen „unter Berufung auf das Pressegesetz“ die „baldmöglichste Veröffentlichung“ ihrer Protestschreiben. Rodewald wies die Zuständigkeit des Pressegesetzes zu-

37 Kaldewey: Grundsätzliches zum Fall Dr. Corten, in: ÄM 35.24 (1950), S. 503–505. Vermutlich handelt es sich um den Psychiater und ehemaligen T4-Gutachter Walter Kaldewey, vgl. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt/M.: Fischer, 20032, S. 296. Nach seiner Entnazifizierung arbeitete er in Bremen als Fachgutachter, der NS-Opfern größtenteils die Gewährung von Renten oder Entschädigungen versagte. Diesen Hinweis verdanke ich der Psychiatrie-Arbeitsgruppe Wolters/Beyer/Lohff. Zum Fall Corten als Paradebeispiel für Anklagen gegen die Psychiatrie vgl. Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen: Wallstein, 2008, S. 372–379. 38 Deneke/Sperber: Einhundert Jahre, S. 102. 39 Berthold Rodewald: Über die Weiterentwicklung der Gesundheitsfürsorge, in: ÄM 39 (1954), S. 751–754.

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rück, druckte die Erwiderungen jedoch ab und behielt sich ein Schlusswort vor.40 Damit wurden die unterschiedlichen Meinungen transparent, aber es kam zu keiner Verständigung, da beide Seiten auf ihrer Meinung beharrten und der Schriftleiter seine Definitionsmacht behauptete. Gleichzeitig lancierte Rodewald die Rubrik Aussprache, die freien Meinungsaustausch ankündigte, regelmäßig etwa einmal monatlich. Der Autor des Artikels, der diskutiert wurde, hatte die Aufgabe und das Recht, die Auseinandersetzung mit einem Schlusswort zu beenden. Diese sowohl höfliche wie paternalistische Form begünstigte denjenigen, auf den kritisch reagiert wurde, da er mit dem Schlusswort eine gewisse Autorität ausüben konnte. Dies wird in dem folgenden Beispiel aus dem Jahr 1955 deutlich. Gegenstand der Auseinandersetzung war die „Stellung des Arztes in den kommenden Streitkräften“.41 Zur Vorgeschichte: Bei der Gründung der Bundesrepublik schien eine Wiederbewaffnung außenpolitisch unmöglich, innenpolitisch war sie zumindest umstritten.42 Als Ausdruck des Friedenswillens hatte der 1948 eingesetzte Parlamentarische Rat im Grundgesetz für alle Eventualitäten ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung festgelegt.43 Überlegungen der Bundesregierung zu einer Wiederaufrüstung – im Herbst 1950 etablierte Adenauer die Dienststelle Blank als Vorform eines Verteidigungsministeriums – waren von Protestbewegungen unterschiedlicher Provenienz begleitet: der aus verschiedenen Gruppen und Motivationen zusammengesetzten „Ohne-mich-Bewegung“, Jugendorganisationen, der Friedensbewegung, den Evangelischen Bruderschaften sowie Mitgliedern der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei. 1951 planten sie eine Volksbefragung zur Remilitarisierung, die aber verboten wurde.44 In dem Maße, wie die Westintegration der Bundesrepublik voranschritt, wurde ihre Wiederbewaffnung wahrscheinlicher. Im Oktober 1954 bereiteten die Pariser Verträge den Eintritt in die NATO vor, nach ihrer Ratifizierung im Mai 1955 setzte Adenauer Theodor Blank als Verteidigungsminister ein, der mit dem Aufbau der Bundeswehr begann. Die Westdeutschen Ärztekammern waren seit 1952 mit einem Ausschuss „Sanitätsdienst“ in der Dienststelle Blank vertreten. Der im August 1955 publi40 Berthold Rodewald: Nochmals Diskussion und nochmals Schlusswort zur Frage einer staatlich-amtlich betriebenen Diabetikerberatung und Diabetikerfürsorge, in: ÄM 40.8 (1955), S. 237–240. 41 Hans-Ludwig Borck: Über die Stellung der Ärzte in den kommenden Streitkräften, in: ÄM 40.23 (1955), S. 647–649. 42 Michael Geyer: Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen die Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition, 2001, S. 267–318. 43 Grundgesetz Art. 4 (3). Vgl. Dieter S. Lutz/Volker Rittberger: Abrüstungspolitik und Grundgesetz. Eine verfassungsrechtlich-friedenswissenschaftliche Untersuchung, Baden-Baden: Nomos, 1976. 44 Eckart Dietzfelbinger: Die Protestaktionen gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland von 1948–1955, Erlangen-Nürnberg: Univ. Diss. phil., 1984, S. 72–79 und S. 81–89. Vgl. Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen: Klartext, 2008.

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zierte Leitartikel zur „Stellung des Arztes in den kommenden Streitkräften“ stammte von Hans-Ludwig Borck, einem Mitglied des geschäftsführenden Vorstands, der über den Stand der Planungen und die Bedenken der Ärzteschaft gegen die Einbindung in den Militärdienst informierte.45 In Frage gestellt wurde nicht die Wiederbewaffnung, wohl aber die Stellung der Ärzte im Militär. Borck argumentierte, das Ärztliche habe Vorrang vor dem Militärischen, Ärzte seien daher lediglich als Zivilpersonen und auf jeden Fall erst nach Abschluss des Studiums in die Truppe einzubinden. Damit wurde zumindest eine gewisse Reserviertheit der Ärztekammer gegenüber der Remilitarisierung erkennbar. Sein Kollege Dr. Josef Stockhausen, von 1955 bis 1974 Hauptgeschäftsführer der BÄK, setzte sich aufgrund seiner Erfahrungen als Truppenarzt und Sanitätsoffizier im Zweiten Weltkrieg dagegen in einem Leserbrief dafür ein, Ärzte als Offiziere in die Streitkräfte zu integrieren.46 In einem weiteren Leserbrief unterstützte ihn „Oberstarzt a.D.“ Dr. Gustav Sondermann, mittlerweile Vizepräsident der bayrischen Landesärztekammer.47 In den folgenden Aussprachen forderten weitere ehemalige Sanitätsoffiziere eine militärische Ausbildung bereits während des Studiums und eine eigene Militärärztliche Akademie. Am Ende der Aussprache stand jeweils ein Kommentar von Borck, der die Erfahrungsberichte der Kollegen begrüßte, aber unverändert daran festhielt, dass Ärzte in erster Linie zur Ärzteschaft und nicht zum Militär gehörten.48 Dies betonte er gerade dann, wenn ehemalige Truppenärzte den Dienst an der Waffe in militärisch prekären Momenten als vordringlich darstellten und gewissermaßen glorifizierten, und wies auf die restriktive Regelung des Waffengebrauchs durch das 1949 geschlossene Genfer Abkommen hin.49 Die Struktur der Rubrik Aussprache, die ein Schlusswort desjenigen vorsah, der die Debatte angestoßen hatte, kam Borcks Führungsstil entgegen. Dadurch wirkte die Diskussion zwar gesteuert, aber es kam zu einem Austausch der Argumente, bei dem Borck klar Profil zeigte. Bekanntlich verständigten sich die Bundesregierung und die Ärztekammer über die Ausgestaltung des Berufs der Sanitätsoffiziere ohne größere Konflikte. Nachdem die ÄM Ende Oktober 1961 „im Hinblick auf die gegenwärtige ge45 Borck: Stellung der Ärzte; vgl. Arzt und Streitkräfte, in: ÄM 40.20 (1955), S. 628f. 46 Josef Stockhausen: Ärzteschaft und Sanitätsdienst, in: ÄM 40.3 (1955), S. 721; Geburtstag, in: DÄBl 100.5 (2003), A-285/B-253/C-245. 47 Gustav Sondermann: Grundsätzliche Erwägungen zum Aufbau des Sanitätsdienstes, in: ÄM 40.3 (1955), S. 727–730; vgl. Helmut R. Hammerich/Rudolf J. Schlaffer (Hg.): Militärische Aufbaugenerationen der Bundeswehr 1955 bis 1970. Ausgewählte Biographien, München: Oldenbourg, 2010, S. 297. 48 Über die Stellung der Ärzte in den kommenden Streitkräften. Aussprache, in: ÄM 40.28 (1955), S. 840–847; Heinrich Hawickhorst: Der Soldat der soldatischen Gemeinschaft, in: ebd., S. 841–843; Ernst Danielsen: Zur ärztlichen Versorgung der künftigen deutschen Soldaten, in: ebd., S. 843f.; Grunow: An den Herrn Schriftleiter der Ärztlichen Mitteilungen, in: ebd., S. 844–846. 49 Der Truppenarzt, in: ÄM 40.31 (1955), S. 933–936, hier 935f. Weitere Beiträge ehemaliger Sanitätsoffiziere und Stellungnahmen Borcks siehe ebd., S. 957–961; S. 1013–1015; S. 1039– 1041. Zum Genfer Abkommen vgl. Hans-Peter Gasser: Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung, Baden-Baden: Nomos, 2007.

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spannte Lage“ nach dem Bau der Berliner Mauer einen Aufruf zu Wehrübungen publiziert hatte – trotz vielseitiger Bemühungen war es nicht gelungen, mehr als 50% der für die Bundeswehr benötigten Ärzte als Sanitätsoffiziere zu gewinnen50 – erinnerte im Februar 1962 ein Leserbriefschreiber daran, dass es auch 1939 einen Aufruf des Sanitätsinspekteurs gegeben hatte, sich dem Vaterland zur Verfügung zu stellen. Auf eine Kompensation für die erlittenen Verluste warte er heute noch.51 In diesem Fall kam das „Schlusswort“ von keinem Kollegen, sondern vom Bundesminister für Verteidigung, inzwischen Franz Josef Strauß. Offenbar hatte Schriftleiter Volrad Deneke den Artikel weitergeleitet. Strauß brachte dem Leserbriefschreiber Verständnis für „das harte Schicksal seiner Generation“ entgegen und versicherte ihm, dass er auf Grund seines Lebensalters nicht mehr der Wehrpflicht unterliege, er aber generell „zur Hilfe für den kranken Menschen“ verpflichtet sei.52 Mit seinem autoritativen Schlusswort war die Debatte jedoch nicht beendet, denn im folgenden Heft erinnerte daraufhin ein Kollege an das im Grundgesetz festgelegte Recht auf Kriegsdienstverweigerung.53 Die Aussprache über die Stellung der Ärzte im Militär ist nicht nur in ihrer Ausführlichkeit, sondern in ihrer Art der Kommunikation und Argumentation beachtenswert. Borck präsentierte die offizielle Haltung der Ärztekammern, die Leserbriefschreiber brachten ihre Erfahrungen und vom offiziellen Kurs abweichenden Meinungen vor. Daraufhin dankte Borck für die Beiträge, wertschätzte die Erfahrungen, bestätigte Aussagen teilweise als „übrigens auch die Meinung der Ärztekammer“ und kritisierte sie gegebenenfalls differenziert, wenn z. B. der vorgeschlagene Gebrauch der Waffe gegen das Genfer Abkommen verstieß. Damit wurden die unterschiedlichen Meinungen nicht nur transparent. Sie wurden durch eine Mischung aus öffentlicher Bestätigung und Kritik umgedeutet und an eine Political Correctness angeglichen, die nicht nur innerhalb der Ärzteschaft von Bedeutung war. Ohne dies explizit zu thematisieren, wurde deutlich, dass das Thema für das Bild der Ärzteschaft in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit relevant war. Dem Bemühen um politische Korrektheit entsprach ebenso die 1958 in den ÄM veröffentlichte „Stellungnahme der Bundesärztekammer zu Verbrechen, die von einzelnen Ärzten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern verübt“ worden waren.54 Obwohl diese offizielle Äußerung weit entfernt von einer realistischen Auseinandersetzung mit Umfang und Motivation der Medizinverbrechen war, ließ sie die Grenze zwischen intraprofessioneller und gesellschaftspolitischer Öffentlichkeit durchlässiger werden.

50 Erfassung und Musterung wehrpflichtiger Ärzte, in: ÄM/DÄBl 46/58.39 (1961), S. 2179f. 51 A. Keuser: Der Aufruf des Sanitätsinspekteurs der Bundeswehr, in: ÄM/DÄBl 47/59.8 (1962), S. 460. 52 Schlusswort, in: ÄM/DÄBl 47/59.8 (1962), S. 460. 53 Dr. med. et phil. Albin Treiber: Erfassung und Musterung wehrpflichtiger Ärzte, in: ÄM/DÄBl 47/59.9 (1962), S. 505. 54 ÄM 43.32 (1958), S. 891f.

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Die Ära der Journalisten – weitere thematische Öffnung In den folgenden Jahrgängen wurden neben ärztlichen Angelegenheiten zunehmend Themen von öffentlichem Interesse präsentiert. So befasste sich im Juli 1961, passend zum Jahrestag des Hitlerattentats vom 20. Juli 1944, Sanitätsrat Georg Bittner, Vorsitzender des Saarländischen Ärztesyndikats seit 1954, in der Rubrik Aufsätze und Referate mit dem „deutschen Widerstand“.55 Der Autor bezeichnete den Attentatsversuch als „patriotische Tat“, die vom Nachkriegsdeutschland nicht hinreichend gewürdigt werde. Daher bemühte er sich, die oppositionellen Kräfte deutlich hervorzuheben. In der Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises56 seien nicht nur Generäle, sondern unterschiedliche Berufsgruppen vertreten gewesen, allerdings keine Ärzte. Durch ihre starke Einbindung in den Sanitätsdienst hätten sie keinen Überblick über die Ausweglosigkeit der Situation gewinnen können.57 Durch die äußere, stärker aber noch durch die innere Emigration der Ärzte, die sich für die „Erkrankung des Staatswesens“ und den sittlichen Verfall im öffentlichen Leben nicht zuständig fühlten, sei ihr Widerstand „namenlos, alltäglich und im Kleinen ausgetragen“ worden.58 Die „Euthanasie-Aktionen gegen sogenanntes lebensunwertes Leben“ hätten „gerade die Ärzteschaft zu Protest und Widerstand veranlassen müssen“. Andererseits wären unzählige Ärzte „den Gesetzen ärztlicher Ethik auch in der Versuchung und in Zwangslagen treu“ geblieben.59 Unverkennbar war Bittners Anliegen, dem von ihm postulierten „stillen, unpolitischen Widerstand“ die Widerstandsaktionen möglichst vieler Kollegen zur Seite zu stellen. So führte er als Beispiele für Ärzte in politischem und organisiertem Widerstand Teilnehmer an bürgerlichen Oppositionskreisen wie der Berliner Mittwochsgesellschaft an, zu der Ferdinand Sauerbruch Zugang gehabt habe, oder der Berliner Widerstandsgruppe „Onkel Emil“, der zwei Ärzte angehörten, sowie die Kommunistin Dr. Elfriede Paul und die Medizinstudenten der Weißen Rose. In dem Bemühen, möglichst alle bekannten Mediziner zu erwähnen, gab er den Psychiater Karl Bonhoeffer an, „der ebenso wie seine beiden nach dem 20. Juli hingerichteten Söhne60 aktiv in den Reihen der Verschwörer“ gestanden habe und an den Plänen beteiligt gewesen sei, Hitler als Geisteskranken zu inhaftieren.61 Bonhoeffers überzeugte 55 Georg Bittner: Der deutsche Widerstand gegen Hitler (Gedanken zum 20.Juli 1944), in: ÄM/DÄBl 46/58.27 (1961), S. 1529–1535. Zu Bittner vgl. http://www.aerztesyndikat-saarland.de/wir-ueber-uns.html, Zugriff am 20.10.2012. 56 Volker Ullrich: Der Kreisauer Kreis, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008. Kritisch zum Kreisauer Kreis vgl. Friedrich Tomberg: Weltordnungsvisionen im deutschen Widerstand. Kreisauer Kreis mit Moltke – Goerdeler Gruppe – Honoratioren. Stauffenbergs weltanschauliche Motivation, Berlin: Frank & Timme, 2005. 57 Bittner: Widerstand, S. 1530. 58 Ebd., S. 1531f. 59 Ebd., S. 1532. 60 Es handelt sich um den Theologen Dietrich und den Juristen Klaus Bonhoeffer, beide aktiv im Widerstand. 61 Bittner: Widerstand, S. 1533. Zitiert nach Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1955, S. 188 u. 292.

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Mitwirkung an der Zwangssterilisation thematisierte er nicht. Seine Angaben belegte Bittner mit Zitaten der Historiker Hans Rothfels und Gerhard Ritter sowie der Widerstandskämpfer und Publizisten Rudolf Pechel und Günther Weisenborn62 und präsentierte der Ärzteschaft den damaligen Stand historischer Wissenschaft. Drei Monate später wurde der Leserbrief eines Medizinstudenten abgedruckt, der beklagte, dass die ehemalige Widerstandskämpferin und inzwischen in Magdeburg lehrende „Frau Professor Dr. Elfriede Paul“ ihn diffamiert und der „kommunistischen Diktatur“ ausgeliefert habe.63 In seinem Schlusswort wechselte Bittner von dem Appell, ein späteres Fehlverhalten solle „den moralischen Wert des geleisteten Widerstandes nicht schmälern“, zu dem „Verdacht“, Frau Dr. Paul habe lediglich „die Ablösung der braunen Diktatur durch eine rote erstrebt“. Schließlich fasste er seinen Eindruck zusammen als „das bestürzende und nachdenklich stimmende Phänomen des Verrats des Intellektuellen an der Freiheit“, dessen Opfer Frau Dr. Paul „möglicherweise“ geworden sei.64 Bittners Ambivalenz zwischen einer –dezent formulierten – Kritik an der Ärzteschaft, dem Verhaftetsein in der eigenen standespolitischen Vorstellungswelt und dem Bemühen um ein ausgewogenes Urteil wird deutlich erkennbar. Abgesehen von der Zuschrift des Studenten rief sein Artikel keine weiteren Reaktionen der Leserschaft hervor. Bittner versuchte, den Makel eines nur sehr vereinzelten ärztlichen Widerstands durch die Veröffentlichung selbst aktiv zu thematisieren und damit der Ärzteschaft einen Weg aus der Defensive zu bahnen. Eine offene Debatte hätte in diesem Fall unter Umständen sogar kontraproduktiv sein und die vorgeschlagene Einmütigkeit zerstören können. Dieses Beispiel zeigt, dass Öffentlichkeit nicht notwendig mit einer Debattenkultur gleichzusetzen ist, sondern im Gegenteil einen Konsens vorgeben kann, der gerade nicht erschüttert werden soll. Stärker medizinisch geprägt war die Auseinandersetzung über den Artikel „Der sogenannte Sozialdarwinismus“ des Rassenhygienikers Fritz Lenz vom März 1961. Lenz gehörte der ersten Generation der deutschen Rassenhygieniker an, war 1921 Mitverfasser des Standardwerks Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 1923 erster Professor für Rassenhygiene in München, von 1933 bis Kriegsende Leiter der Abteilung Eugenik am KaiserWilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und ein ausgewiesener Propagandist sozialdarwinistischer Lehren und ihrer Umsetzung. Bereits seit 1946 galt er als Inhaber des Lehrstuhls für Menschliche Erblehre in

62 Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Krefeld: Scherpe, 19492; Rudolf Pechel: Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich: Rentsch, 1947; Günther Weisenborn (Hg.): Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945, Hamburg: Rowohlt, 1953. 63 Cand. med. Hans-Berthold Neumann: Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Zu dem Aufsatz von Sanitätsrat Dr. med. Georg Bittner, in: ÄM/DÄBl 46/58.36 (1961), S. 2025. 64 Georg Bittner: Schlusswort, in: ÄM/DÄBl 46/58.36 (1961), S. 2025f.

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Göttingen jedoch als rehabilitiert.65 Vielleicht bat ihn die Schriftleitung aus diesem Grund um den Text, den er für den Sammelband Hundert Jahre Evolutionsforschung verfasst hatte.66 In dem Artikel kommentierte Lenz das 1955 von Hedwig Conrad-Martius verfasste Buch Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, in dem die Münchner Philosophieprofessorin den Sozialdarwinismus als Grundlage des Rassen- und Vernichtungswahns dargestellt hatte. Lenz kritisierte die von Conrad-Martius angeführten Zitate als „etwas wirre“ Aussagen, auf die einzugehen sich nicht lohne.67 Auf keinen Fall sei der „Sozialdarwinismus“ für die „Wahnsinnstaten Hitlers“ verantwortlich, wie Conrad-Martius behaupte. Lenz stellte den Lesern dagegen auf über sechs Seiten die aus seiner Sicht relevanten wissenschaftlichen Sozialdarwinisten vor. Keiner von ihnen weise den von Conrad-Martius beklagten Mangel an humanistischen, metaphysisch begründeten Wertmaßstäben auf, den sie für die Verbrechen des Nationalsozialismus als verantwortlich ansah.68 Schließlich seien Abstammungslehre und Selektionstheorie als naturwissenschaftliche Fakten anerkannt.69 Erst ein Dreivierteljahr später, im Januar 1962, veröffentlichte die Schriftleitung eine Antwort auf Lenz’ Kritik an Conrad-Martius. Verfasst worden war sie unter der Überschrift „Sozialdarwinismus, Metaphysik und Ethik“ von Karl-Heinz Stauder. Stauder (geb. 1905) war Neurologe und von 1951 bis 1961 Schriftleiter der Medizinischen Klinik. Parallel zu seiner ärztlichen Tätigkeit war er ein kritischer Beobachter der Entwicklungen der Nachkriegsmedizin und als solcher journalistisch und literarisch tätig.70 In seiner Erwiderung auf Lenz’ Artikel korrigierte er die Verharmlosung der sozialdarwinistischen Lehre, indem er die von Lenz verschwiegenen Aufrufe zur „Euthanasie“ den historischen Zitaten der Sozialdarwinisten hinzufügte. Stauder unterstrich ihren Beitrag zur Vernichtung menschlichen Lebens und wies auf die Diffamierung der Pflege von Kranken und Schwachen als „humane Gefühlsduselei“ hin.71 Conrad-Martius habe zu Recht betont, dass die Deutungshoheit der Naturwissenschaften, auf die Lenz sich bezog, auf einem „mechanistischen Atomismus“ beruhe, der keine blinde Ehrfurcht verdiene. Stauder rief zu einer Revision des naturwissenschaftlichen Weltbildes auf und zur Wiedergewinnung einer „metaphysischen Mitte“, die den Humanitätsmaßstab

65 Gabriele Moser: „Im Interesse der Volksgesundheit ...“: Sozialhygiene und öffentliches Gesundheitswesen in der Weimarer Republik und der frühen SBZ/DDR, Frankfurt/M.: VAS, 2002, S. 376. 66 Fritz Lenz: Die soziologische Bedeutung der Selektion, in: Gerhard Heberer/Franz Schwanitz (Hg.): Hundert Jahre Evolutionsforschung, Stuttgart: Fischer, 1960, S. 368–396; vgl. Fritz Lenz: Schlusswort, in: ÄM/DÄBl 47/59.2 (1962), S. 95f, hier S. 95. 67 Fritz Lenz: Der sogenannte Sozialdarwinismus, in: ÄM/DÄBl 46/58.11 (1961), S. 601–607, S. 602f. 68 Ebd., S. 604. 69 Ebd., S. 601. 70 Hanns Hippius et al.: The University Department of Psychiatry in Munich. From Kraepelin and his predecessors to molecular psychiatry, Berlin: Springer, 2008, S. 121f. 71 Karl-Heinz Stauder: Sozialdarwinismus, Metaphysik und Ethik, in: ÄM/DÄBl 47/59.2 (1962), S. 92–95, hier S. 92f.

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absolut setze.72 Im anschließenden Schlusswort wiederholte Lenz die Naturwissenschaftlichkeit der Abstammungslehre, die „diesseits von Gut und Böse“ stehe und wirke, unabhängig davon, ob man ihr zustimme oder nicht. Absolute Werte seien eine „Restaurierung des mittelalterlichen Weltbildes“, also für die Wissenschaft indiskutabel.73 Damit beschwor Lenz das in der Nachkriegsmedizin verwandte Bild einer „unpolitischen, auf Experimenten beruhenden Wissenschaft“, die Grundlage jeder wissenschaftlichen Betätigung sein müsse und es geradezu erfordere, politische und ethische Kontexte auszublenden.74 Wie die Leserschaft der ÄM die Tatsache bewertete, dass Lenz öffentlichen Raum zur Rehabilitierung des Sozialdarwinismus erhielt, und wie Stauders Plädoyer für Metaphysik und Ethik aufgenommen wurde, ist nicht bekannt. Unverständlich bleibt jedoch, warum die journalistische Schriftleitung nicht Conrad-Martius aufforderte, ihre Thesen darzulegen. Lenz hätte mit seinem Text darauf reagiert und sie hätte gemäß den Regeln der ÄM das Recht auf ein Schlusswort gehabt. Im August 1961 wertete die Schriftleitung eine im Februar 1961 durchgeführte Meinungsumfrage „bei unseren Lesern“ aus, die vom Institut für medizinische Statistik betreut worden war und erhob, wie groß das Interesse an den einzelnen Rubriken war. Ein „gelegentliches Interesse“ an der Rubrik Aussprache bekundete über 70% der Leserschaft, ein regelmäßiges nur 23%. Ob dieses Ergebnis dazu geführt hat, ihren Anteil innerhalb der Zeitschrift in den folgenden Jahren knapp zu halten, oder der „zu guter Letzt“ formulierte Hinweis, die ÄM hätten „nach innen und nach außen“ als Organ der BÄK und der KBV zu wirken, bleibt spekulativ.75 Unter Aussprache wurden jedenfalls durchaus nicht alle kontroversen Themen platziert. Ein Beispiel für fehlende Transparenz ist die Berichterstattung über Contergan.76 Ende der 1950er Jahre war in der Bundesrepublik eine erhöhte Missbildungsrate bei Neugeborenen festgestellt worden. Zunächst wurde die Zunahme radioaktiver Strahlung durch Atomwaffentests als Ursache vermutet.77 Der tat72 Ebd., S. 93–94. Eine aktuelle Wiederaufnahme sozialdarwinistischer Ideen beobachtete Stauder in der Übervölkerungsdebatte, in der weiterhin von verschiedenen Wertigkeiten der Rassen die Rede war. 73 Lenz: Schlusswort, S. 95f. 74 Vgl. Sigrid Stöckel: Veränderungen des Genres „Medizinische Wochenschrift“? Deutsche medizinische Wochenschrift, Münchner medizinische Wochenschrift und The Lancet im Vergleich, in: Stöckel/Lisner/Rüve: Das Medium Wissenschaftszeitschrift, S. 139–161, hier S. 146–152; Sabine Schleiermacher: Die universitäre Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg. Institutionelle und persönliche Strategien im Umgang mit der Vergangenheit, in: Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart: Steiner, 2007, S. 21–42, hier S. 39. 75 Ergebnisse einer Meinungsumfrage bei unseren Lesern in: ÄM/DÄBl 46/58.29 (1961), S. 1620–1624. 76 Beate Kirk: Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 1999. 77 Klaus Dieter Thomann: Die Contergan-Katastrophe: Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten, in: DÄBl 104.41 (2007), S. 2778–2782.

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sächliche Grund wurde im Herbst 1961 von dem Humangenetiker und Kinderarzt Widukind Lenz herausgefunden. Der Sohn von Fritz Lenz hatte, angeregt von den Anfragen betroffener Eltern, nach exogenen Ursachen für die Häufung von Gliedmaßenfehlbildungen gesucht. Mitte November konnte er nach intensiven Befragungen der Mütter das Schlafmittel Contergan als wahrscheinliche Ursache identifizieren. Er forderte den Pharmaproduzenten Grünenthal auf, das Mittel umgehend zurückzurufen, und teilte sein Ergebnis der Vereinigung RheinischWestfälischer Kinderärzte mit. Grünenthal war nicht bereit, nur auf Grundlage von Lenz‘ Aussagen das Mittel vom Markt zu nehmen. Die Firma reagierte erst, als die Welt am Sonntag publikumswirksam darüber berichtete.78 Zeitgleich publizierten die ÄM einen Artikel, in dem als Nebenwirkungen des Medikaments Contergan lediglich Beschwerden wie Polyneuritis, Kopfschmerzen und Schwindel aufgeführt wurden.79 Die Zeitschrift zog sich auf ihren Auftrag zurück, die Ärzteschaft standespolitisch zu informieren, und veröffentlichte Berichte über die Arzneimittelkommission der Ärzteschaft,80 in denen generell Verbrauch und Schäden neuer Medikamente problematisiert wurden, ohne auf Contergan einzugehen.81 Lenz’ Verdacht, dass die Missbildungen der Neugeborenen auf das thalidomidhaltige Schlafmittel zurückzuführen waren, das ihre Mütter eingenommen hatten, wurde in den ÄM erst im März 1962 in der Rubrik Fortbildung thematisiert. Dort hieß es unter der Überschrift „Missbildungen durch Medikamente“, Lenz‘ Ausführungen hätten durch „einzelne ganz oder teilweise unzutreffende Schlussfolgerungen Laien wie auch Ärzte beunruhigt“. Daher wolle er jetzt durch die ÄM mitteilen, „in welchen Fällen überhaupt nur mit einer Fruchtschädigung bei Schwangeren“ gerechnet werden müsse. Es bestehe kein Grund für die Befürchtung, dass das genannte Mittel die Erbanlagen schädige. Das Risiko einer Fruchtschädigung sei auf eine Periode von wenigen Wochen beschränkt und auch in dieser Periode führe die Einnahme nur in einem Teil der Fälle zu Missbildungen. Entsprechend könne der „um Rat angegangene Arzt […] unangebrachte Befürchtungen zerstreuen“.82 Mit dieser Aussage wurden Ärzte in die Lage versetzt, schwangere Frauen zu beruhigen, was in der Situation sicher nötig und angebracht war. Beruhigung scheint aber das zentrale Anliegen der ÄM

78 Hans-Jochen Luhmann: Die Contergan-Katastrophe revisited – Ein Lehrstück vom Beitrag der Wissenschaft zur gesellschaftlichen Blindheit, in: Umweltmedizin in Forschung und Praxis 5.5 (2000), S. 295–300, hier S. 298f. 79 A. Stammler: Die Conterganschäden des Nervensystems, in: ÄM/DÄBl 46/58.43 (1961), S. 2468–2470. 80 Zum Schutze des Patienten, in: ÄM/DÄBl 47/59.2 (1962), S. 47f. 81 Arzneimittelverbrauch und Arzneimittelschäden, in: ÄM/DÄBl 47/59.43 (1962), S. 2204– 2208. 82 Widukind Lenz: Entstehung von Missbildungen durch Medikamente, in: ÄM/DÄBl 47/59.9 (1962), S. 494.

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gewesen zu sein, die Grünenthal zu ihren Inserenten zählten.83 Raum für eine öffentliche Debatte wurde der Leserschaft nicht eröffnet. Reaktionen auf Tagespresse und Massenmedien In den 1960er Jahren kam es zu einem Anwachsen massenmedialer Kommunikation. In diesem Zusammenhang entwickelte sich sowohl ein kritischer Journalismus als auch eine Unterhaltungssparte, die mit schockierenden Darstellungen Leser an sich band. Die ÄM druckten regelmäßig unter der Rubrik Aus fremden Federn Berichte zu standespolitischen Auseinandersetzungen aus Tageszeitungen mit überregionaler Bedeutung ab und referierten kritische Stellungnahmen zum Ruf der Ärzteschaft. Mit Illustrierten und Wochenzeitungen wie Der Spiegel befand sich die Ärzteschaft in den 1960er Jahren dagegen in einem Dauerkonflikt. Neben die Reportagen über die Fortschritte der Medizin waren seit der Kontroverse über die Poliomyelitis-Impfung 1955 zunehmend medizinkritische Berichte getreten,84 die sich im Verlauf der 1960er Jahre steigerten und von Ärzten und ihren Presseorganen als Diffamierungsversuche empfunden wurden.85 In den ÄM wurde das öffentliche Bild der Profession Gegenstand der Sorge. 1961 wurde eigens die Rubrik Tua res agitur … collega! (Es geht um deine Sache, Kollege!) eingerichtet, in der Dr. Sebastian Bootz zu Artikeln von Journalisten Stellung nahm, die eine „würdige Diktion“ vermissen ließen. In diese Kategorie fiel der im Januar 1962 erschienene Spiegel-Artikel über die juristische Pflicht des Arztes, vor ärztlichen Eingriffen über ihre Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären. Der verlangte „Schuss vor den Bug“ – so die Überschrift von Bootz – sei eine unpraktikable Zumutung. Er lasse den Kranken eher verzagen, als dass er ihm helfe.86 Im August 1961 hatte der Präsident der BÄK, Ernst Fromm, in der Welt am Sonntag die Risiken medizinischer Eingriffe als „Das Risiko des Arztes“ dargestellt. Zu dem im hippokratischen Eid festgelegten Gebot des NichtSchadens gehöre es, den Patienten keinesfalls zu beunruhigen.87 Das hier ersichtliche paternalistische Selbstbild wurde jedoch durch unwürdige Darstellungen des Arzt-Patienten-Verhältnisses in den Massenmedien erschüttert. Bereits im Mai 1960 hatte die BÄK an „das Verantwortungsbewusstsein gewisser Verleger, Autoren und Journalisten“ appelliert, die „wirklichkeitsfremde Darstellung verfehlter 83 Grünenthal ist auch im Jahr 1963 mit den Produkten „Jellin“ und „Supramycin“ im Inserentenverzeichnis der ÄM vertreten. Da dieses Verzeichnis selten mit eingebunden wird, handelt es sich um einen Zufallsfund der Hefte 16, 17, 21 und 23 in ÄM 60 (1963). 84 Cay-Rüdiger Prüll: Ärzte, Journalisten und Patienten als Akteure von Teilöffentlichkeiten in Westdeutschland. Eine Analyse am Beispiel des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ (1947– 1955), in: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), S. 102–133, S. 116f. 85 Brunhild Stehr: Der Arzt im „Spiegel“. Die Veränderungen des Arztbildes in der Öffentlichkeit um 1970, Feuchtwangen: Kohlhauer, 1984. 86 Sebastian Bootz: Schuss vor den Bug, in: ÄM/DÄBl 47/59.3 (1962), S. 126. 87 Ernst Fromm: Das Risiko des Arztes, in: ÄM/DÄBl 46/58.30 (1961), S. 1643f.

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Einzelschicksale“ nicht zur Verzerrung des Arztbildes zu benutzen. Als die Revue einen Roman von Heinz G. Konsalik abdruckte, in dem mehrere Ärzte ihre gemeinsame Patientin aus Gewinnsucht schädigen, forderte Fromm die Kollegen dazu auf, derartige publizistische „Sumpfblüten“ nicht mehr im Wartezimmer auszulegen.88 Den Abdruck des Fortsetzungsromans Contergan – der Roman einer unheimlichen Droge in der Bunten Illustrierten im Herbst 1962 wiesen die ÄM als „Beunruhigen – um jeden Preis?“ zurück.89 Der mediale und medikale GAU (Größte Anzunehmende Unfall) passierte acht Jahre später. Am Abend des 20. September 1970 strahlte die ARD die Sendung „Halbgötter in Weiß“ aus. In ihr behauptete ein junger Arzt, Operationen würden von den Chefärzten weniger zum Wohl ihrer Patienten als zugunsten ihres finanziellen Vorteils durchgeführt und Experimente am Menschen gehörten zur ärztlichen Praxis. Die BÄK kündigte eine strafrechtliche Überprüfung derartiger Vorwürfe an und forderte den Sender auf, eine Gegendarstellung zur gleichen Sendezeit zu ermöglichen. Derartige Aussagen lägen auf der Linie der bekannten, teilweise gehässigen und verallgemeinernden Kritik an Ärzten.90 Das Beunruhigende an dieser Affäre war, dass nicht „verleumderische Journalisten“ ihre Urheber waren, sondern junge Ärzte und damit Angehörige des eigenen Standes. Der Präsident der BÄK Ernst Fromm verortete den Konflikt in den eigenen Reihen und sprach von „Klassenkampfparolen“ und „Gewissensathleten“, denen die Ärzteschaft auf der Spur bleiben werde.91 Der Name des entscheidenden Protagonisten in der umstrittenen Sendung wurde in diesem Zusammenhang nicht genannt. Er erschien nur im Pressespiegel, demzufolge Dr. Hans Mausbach, Mitglied einer linken Basisgruppe junger Ärzte in Frankfurt und Assistenzarzt bei dem Frankfurter Herzspezialisten Edgar Ungeheuer, die Vorwürfe geäußert hatte. Dass dieser Umstand den empörten Ärzten und Standespolitikern nicht unbekannt war, wird daran deutlich, dass Mausbach zunächst strafversetzt, dann entlassen und 1971 aus der Fachgesellschaft für Chirurgie ausgeschlossen wurde.92 Es schien wenig opportun, dieses Vorgehen öffentlich zu machen, zumal die Ärzteschaft nicht so einheitlich empfand, wie die offiziellen Proteste glauben machen wollten. Als das DÄBl Ende November 1970 Leserbriefe zu der strittigen Sendung abdruckte, stellte sich heraus, dass nicht alle Kollegen entrüstet waren: die fraglichen Missstände seien bereits öffentlich bekannt gewesen93 und die Gegenanklage sei so überradikal, dass sie einer Selbstanklage gleich komme.94 An diesem historischen Punkt kam es gewissermaßen zu einer Auflösung der Grenze zwischen professioneller und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Politische Fragen wurden innerhalb der Ärz88 89 90 91

Ernst Fromm: Cavete Collegae!, in: ÄM/DÄBl 47/59.10 (1962), S. 525. ÄM/DÄBl 47/59 (1962), S. 2380. Keine Experimente am Menschen, in: DÄBl 67.40 (1970), S. 2911. DÄBl 67.41 (1970), S. 2991. Der 2. Vorsitzende des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte bemühte sich in einer ausführlichen Entgegnung, die Vorwürfe zu widerlegen, vgl. DÄBl 67.43 (1970), S. 3185–3189. 92 Rache der Halbgötter, in: Der Spiegel vom 26.04.1971. 93 DÄBl 67.48 (1970), S. 3606f. 94 Ebd., S. 3611.

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teschaft kontrovers diskutiert, und die Standespresse sah sich gezwungen, zumindest ansatzweise Raum für Dissonanzen zur Verfügung zu stellen. Fazit Untersucht wurden die Öffentlichkeitskonzepte der ärztlichen Standespresse. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Feststellung, dass die Ärzteschaft Vorbehalte gegen eine generelle Offenlegung ärztlicher Belange hat und einen eigenen Regelungsraum für sich beansprucht, wodurch sie in einem gewissen Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit steht. Für die Analyse wurde die Frage einer innerprofessionellen Öffentlichkeits- und Debattenkultur, die Thematisierung gesellschaftlicher Konflikte und Probleme sowie die öffentliche Darstellung ärztlicher Problembereiche und die in der Standespresse abgedruckte Reaktion der Ärzteschaft auf sie unterschieden. Für den Untersuchungszeitraum stellte sich heraus, dass in den ersten Jahrgängen der wieder erscheinenden ÄM Wert auf intraprofessionelle Transparenz und Publizität gelegt wurde. Insbesondere der erste Schriftleiter Carl Oelemann war um eine Diskussionskultur bemüht und führte sie am Beispiel der Kontroverse um neue Aufgaben der Psychotherapie vor. Diese Art der öffentlichen Auseinandersetzung wurde von den ärztlichen Spitzenverbänden als Herausgebern jedoch nicht toleriert, Oelemann musste die Leitung der Zeitschrift niederlegen. Sein Nachfolger Rodewald führte die Rubrik Aussprache ein, die ständiger Bestandteil der Zeitschrift blieb. Rodewalds Stil, die innerprofessionelle Selbstverständigung öffentlich wahrnehmbar und die Zeitschrift mit pointierten Stellungnahmen zu einem politischen Akteur zu machen, wurde von den Spitzenverbänden jedoch ebenfalls abgelehnt. Auch er musste die Redaktion verlassen. Trotz dieser Anfangsschwierigkeiten gelang es für ausgewählte Themen relativ mühelos, eine Diskussionskultur in den ÄM zu etablieren. Das lässt sich insbesondere in der Phase der Wiederbewaffnung an der Debatte über die Stellung der Ärzte im Militär von 1955 bis 1961 verfolgen. Gegen die von einem Repräsentanten der Ärztekammer vorgestellte Forderung, Ärzte sollten keinesfalls vollständig in die neue Streitmacht integriert werden, erhob sich eine Flut von Leserbriefen der Wehrmediziner, die im Zweiten Weltkrieg Teil der Truppe waren und vehement die Einordnung der Sanitätsoffiziere in die militärische Befehlshierarchie forderten. Auffällig war die gekonnte Moderation der gegensätzlichen Haltungen. Durch die betont detailgenaue Veröffentlichung kontroverser Standpunkte kam es nicht zu einer immer stärkeren Differenzierung, sondern zumindest innerhalb der Aussprache zu einer Angleichung der Gegensätze. In diesem Fall fungierte Öffentlichkeit bzw. öffentliche Richtigstellung mit ihrer Referenz auf das internationale humanitäre Genfer Abkommen als Korrektiv für innerhalb der Ärzteschaft vertretene Meinungen. Die Debatte endete in einer Art verpflichtendem Konsens – Ärzte sollten nicht Teil der Truppe werden. Dessen ungeachtet traten bekanntlich nach Gründung der Bundeswehr Mediziner als Sanitätsoffiziere in militärische Dienstränge ein. Dieser Konsens war also faktisch folgenlos. Er verdeutlicht aber,

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dass Öffentlich-Machen nicht in jedem Fall zu Kritik anregte, sondern im Gegenteil eine Definitionsmacht für sich in Anspruch nehmen und Debatten beenden konnte. Die 1961 publizierte Kontroverse über die Rolle des Sozialdarwinismus war hingegen von der Schriftleitung auf eine Weise angeleitet worden, die entweder journalistische Inkompetenz oder politische Absicht vermuten ließ. Dadurch, dass die Schriftleitung den Text des Rassenhygienikers und Professors für Menschliche Erblehre, Fritz Lenz, angefordert hatte und ihn zur Grundlage einer Aussprache machte, gab sie Lenz das Recht des Schlussworts und damit einer abschließenden Beurteilung. Die Ablehnung einer öffentlichen Debatte war 1962 im Fall des Contergan-Skandals noch ausgeprägter. Anstelle über das Schlafmittel aufzuklären und eine Öffentlichkeit über das Verhalten der Pharmafirma Grünenthal herzustellen, verlegten sich ÄM bzw. DÄBl darauf, Beunruhigung zu vermeiden. Diese Haltung wurde als Bemühen um ein Gemeinwohl deklariert, Aufklärungspflichten aber gleichzeitig negiert. Insgesamt kann vor diesem Befund nicht von einer Steigerung der Debattenkultur gesprochen werden, sondern eher von einer Abschwächung. Die Thematisierung gesellschaftlicher Konflikte und Probleme nahm jedoch im Medium der Standespresse mehr Raum ein. Allgemeinpolitische Themen wurden der Leserschaft als Handlungsfeld für die eigene gesellschaftliche Position vorgeführt. Ausführlich zeigte dies Bittner 1961 in seinem Artikel über den deutschen Widerstand, in dem er die Ärzteschaft mit einem Problem konfrontierte, das sie interessieren sollte. Auch in diesem Beitrag war Öffentlichkeit nicht notwendig mit einer Debattenkultur gleichzusetzen. Es wurde im Gegenteil eine Darstellung präsentiert, die niemanden anklagte und die als öffentliche Erklärung ähnlich verbindlich sein sollte wie die Aussprache über die Stellung des Arztes im Militär. Die stärkere Thematisierung gesellschaftspolitischer Inhalte kann damit zusammenhängen, dass die Ärzteschaft um eine Erweiterung ihrer gesellschaftlichen Rolle bemüht war. Möglicherweise spiegelte sie aber auch eine Veränderung des Genres der Standeszeitschrift zu mehr Unterhaltung. Der letzte Punkt, die öffentliche Darstellung ärztlicher Problembereiche, wurde zu Beginn des Untersuchungszeitraums ebenso abgelehnt wie am Ende. Gewandelt haben sich allerdings die Themen und die Intensität der Reaktion. 1950 ging es um den Verdacht, ein Psychiater habe eine Patientin unberechtigt in eine Heilanstalt eingewiesen. 1960 wurde „von außen“ eine generelle Aufklärungspflicht gegenüber den Patienten gefordert und mit den „Risiken“ ärztlicher Eingriffe begründet. Diese Forderung stieß in den publizierten Reaktionen auf Unverständnis und Ablehnung, sie wurde als Anmaßung zurückgewiesen. Das ArztPatienten-Verhältnis galt als ein Residuum, in dem Ärzte zum Schutz ihrer Patienten ungestört von einer Öffentlichkeit operieren können sollten, die als ignorant vorgestellt wurde. Während 1950 dem Vorwurf ärztlichen Fehlverhaltens in der Standespresse selbstbewusst entgegengetreten worden war, fiel die Reaktion auf den Abdruck eines Fortsetzungsromans mit arztkritischem Inhalt 1962 dagegen überspitzt aus. In dem Maße, wie die massenmediale Unterhaltungskultur die Vermarktung dieser Thematik steigerte, nahm die Abwehr der Standespresse zu.

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Als 1970 Angriffe aus den eigenen Reihen mit der Ausstrahlung im Fernsehen einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurden, war es um die Haltung der Standesvertreter geschehen. Sie verlangten Raum für eine medienwirksame Gegendarstellung, trugen den Konflikt mit dem kritischen und aus ihrer Sicht feindlichen „Gewissensathleten“ aber nicht öffentlich aus. In Leserbriefen wurde jedoch deutlich, dass Mausbach mit seiner Position nicht isoliert war und sich einige Kollegen für ihn einsetzten. Angestoßen durch gesellschaftspolitische Umbrüche, die in der Folge zur Erschütterung traditioneller Ordnungen und schließlich zu einer stärkeren Akzeptanz von Differenz und Konflikt führten,95 kam es auch in der Ärzteschaft zu einer politischen Ausdifferenzierung. Sie wurde in der Standespresse aktiv und erkennbar. Angriffe aus den eigenen Reihen zu ignorieren, beinhaltete das Risiko einer Gegenöffentlichkeit. Entsprechend bot das Medium Raum für eine innerprofessionelle Auseinandersetzung und wurde gelegentlich zum Austragungsort eines Aushandlungsprozesses. Literatur Bald, Detlef/Wolfram Wette (Hg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen: Klartext, 2008. Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen: Wallstein, 2008. Daniel, Ute/Axel Schildt: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln: Böhlau, 2010, S. 9–34. Dehli, Martin: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen: Wallstein, 2007. Deneke, Johann F. Volrad/Richard Sperber: Einhundert Jahre Deutsches Ärzteblatt, Ärztliche Mitteilungen: 1872–1972, Lövenich: Deutscher Ärzteverlag, 1973. Dietzfelbinger, Eckart: Die Protestaktionen gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland von 1948–1955, Erlangen-Nürnberg: Univ. Diss. phil., 1984. Forner, Sean A: Für eine demokratische Erneuerung Deutschlands. Kommunikationsprozesse und Deutungsmuster engagierter Demokraten nach 1945, in: Geschichte und Gesellschaft 33.2 (2007), S. 228–257. Frewer, Andreas: Medizingeschichte, Ethik und Menschenrechte. Vom Nürnberger Ärzteprozeß zum Genfer Gelöbnis, in: MenschenRechtsMagazin 2 (2008), S. 142–154. Gasser, Hans-Peter: Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung, Baden-Baden: Nomos, 2007. Gerst, Thomas: Ärztliche Standesorganisation und Standespolitik in Deutschland 1945–1955, Stuttgart: Steiner, 2004. Ders.: 1947/1997 – Bundesärztekammer im Wandel (I): Föderal oder zentral? Der kurze Traum von einer bundeseinheitlichen ärztlichen Selbstverwaltung, in: DÄBl 93.38 (1996), S. 2389–2392. Geyer, Michael: Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen die Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition, 2001, S. 267–318.

95 Axel Schildt/Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München: Hanser, 2009, S. 555.

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Hawickhorst, Heinrich: Der Soldat der soldatischen Gemeinschaft, in: ÄM 40.28 (1955), S. 841–843. Heun, Eugen: Zur Neuordnung der Psychotherapie, in: ÄM 34.13 (1949), S. 260–264. Kaldewey: Grundsätzliches zum Fall Dr. Corten, in: ÄM 35.24 (1950), S. 503–505. Kaminski, Joachim: Psychotherapie und sozialpolitische Aufgabe des Arztes, in: ÄM 34.11 (1949), S. 227–230. Karl, Hermann: Gesundheitswesen nach Konstituierung der Bundesrepublik, in: ÄM 35.3 (1950), S. 58–60. Ders.: Sozialisierung = Vermassung, ein Denkfehler, in: ÄM 35.3 (1950), S. 180–181. Keine Experimente am Menschen, in: DÄBl 67.40 (1970), S. 2911. Keuser, A.: Der Aufruf des Sanitätsinspekteurs der Bundeswehr, in: ÄM/DÄBl 47/59.8 (1962), S. 460. Lenz, Fritz: Die soziologische Bedeutung der Selektion, in: Heberer, Gerhard/Franz Schwanitz (Hg.): Hundert Jahre Evolutionsforschung, Stuttgart: Fischer, 1960, S. 368–396. Ders.: Der sogenannte Sozialdarwinismus, in: ÄM/DÄBl 46/58.11 (1961), S. 601–607. Ders.: Schlusswort, in: ÄM/DÄBl 47/59.2 (1962), S. 95f. Lenz, Widukind: Entstehung von Missbildungen durch Medikamente, in: ÄM/DÄBl 47/59.9 (1962), S. 494. Neumann, Hans-Berthold (Cand. med.): Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Zu dem Aufsatz von Sanitätsrat Dr. med. Georg Bittner, in: ÄM/DÄBl 46/58.36 (1961), S. 2025. Oelemann, Carl: Hilfe und Errettung aus seelischer Not. Psychotherapie – ein bedeutendes, weites ärztliches Arbeitsgebiet, in: ÄM 34.8 (1949), S. 156–158. Ostermann, G: Sozialisierung/Einheitsversicherung – ein Denkfehler!, in: ÄM 35.3 (1950), S. 62f. Rache der Halbgötter, in: Der Spiegel vom 26.04.1971. Rodewald, Berthold: Über die Weiterentwicklung der Gesundheitsfürsorge, in: ÄM 39 (1954), S. 751–754. Ders.: Nochmals Diskussion und nochmals Schlusswort zur Frage einer staatlich-amtlich betriebenen Diabetikerberatung und Diabetikerfürsorge, in: ÄM 40.8 (1955), S. 237–240. Roemer, Ernst: Redaktion und Herausgeber: Vertrauen ist die Basis, in: DÄBl 96.21 (1999), S. 28. Schlusswort, in: ÄM/DÄBl 47/59.8 (1962), S. 460. Sondermann, Gustav: Grundsätzliche Erwägungen zum Aufbau des Sanitätsdienstes, in: ÄM 40.3 (1955), S. 727–730. Stammler, A.: Die Conterganschäden des Nervensystems, in: ÄM/DÄBl 46/58.43 (1961), S. 2468–2470. Stauder, Karl-Heinz: Sozialdarwinismus, Metaphysik und Ethik, in: ÄM/DÄBl 47/59.2 (1962), S. 92–95. Stockhausen, Josef: Ärzteschaft und Sanitätsdienst, in: ÄM 40.3 (1955), S. 721. Treiber, Albin: Erfassung und Musterung wehrpflichtiger Ärzte, in: ÄM/DÄBl 47/59.9 (1962), S. 505. Zum Problem der Psychotherapie. Eine Diskussion in: ÄM 34.10 (1949), S. 210–211. Zum Schutze des Patienten, in: ÄM/DÄBl 47/59.2 (1962), S. 47f.

Autoren Sebastian Brandt ist Bibliotheksreferendar an der Universitätsbibliothek Freiburg. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und der Neueren und Neuesten Geschichte an der Universität Freiburg promoviert er 2014 zum Thema „Universität und Öffentlichkeit. Das Beispiel der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 1945–1975“. Zwischen 2010 und 2013 war er Mitarbeiter des DFG-Projekts „Universität – Wissenschaft – Öffentlichkeit. Die Universität Freiburg, ihre Mediziner und Geisteswissenschaftler“. Seine Forschungsinteressen liegen neben der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte auf der historischen Erforschung des Okkultismus und der Parapsychologie. Christa-Irene Klein studierte Neuere und Neueste Geschichte, Wissenschaftliche Politik und Gender Studies an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und am Trinity College, Dublin. Von 2006 bis 2010 war sie in der DFG-Forschergruppe 875 „Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart“ tätig. Seit 2010 ist Christa-Irene Klein wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg und verfasst im Rahmen des DFG-Projekts „Universität – Wissenschaft – Öffentlichkeit. Die Universität Freiburg, ihre Geisteswissenschaftler und Mediziner“ eine Dissertation zur Geschichte der Philosophischen Fakultät Freiburg (ca. 1945–1970). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, der Erinnerungs- und Geschichtskultur sowie der Geschlechtergeschichte. Nadine Kopp hat Deutsch und Geschichte an den Universitäten Freiburg und Stuttgart studiert. 2007 schloss sie das Studium mit dem M.A. und dem Ersten Staatsexamen ab, das Zweite Staatsexamen folgte 2009. Von 2010 bis 2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg im Rahmen des DFG-Projekts „Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit“ und zuständig für den Teilbereich Medizin. 2013 beendete sie ihre Dissertation und arbeitet seitdem als Studienrätin in Hamburg. Charlotte Lerg lehrt amerikanische Geschichte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und ist dort Geschäftsführerin des Lasky Centers für Transatlantische Studien. Sie studierte Geschichte und Philosophie an der University of St. Andrews und wurde in Tübingen mit einer Arbeit zum deutschen Amerikaverständnis im Vormärz promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die amerikanische Staatsgründung, Kultur- und Ideengeschichte sowie transatlantische Beziehungen im 19./20. Jahrhundert und das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft.

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Anna Lux studierte in Leipzig und Lyon Geschichte, Germanistik und Französisch. 2011 wurde sie in Leipzig mit einer Arbeit über „Räume des Möglichen. Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918–1961)“ promoviert. Seit 2011 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Rahmen des DFG-Projekts „Gesellschaftliche Innovation durch ‚nichthegemoniale’ Wissensproduktion“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Franziska Meifort studierte in Hannover und Berlin Geschichte und Englische Philologie für das Lehramt an Gymnasien. Nach Auslandsaufenthalten in den USA und in Großbritannien arbeitete sie im Deutschen Bundestag, in einem DFGProjekt an der FU Berlin und im Bundesarchiv Koblenz, wo sie den Nachlass von Ralf Dahrendorf erschlossen hat. Derzeit bereitet sie eine Dissertation zum Thema „Ralf Dahrendorf: Ein Intellektueller in der Geschichte der Bundesrepublik“ vor. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik und die deutsche Erinnerungskultur seit 1945. Sybilla Nikolow hat an der Universität Leipzig Mathematik und Physik studiert und war zunächst als Lehrerin für beide Fächer tätig. 1994 erfolgte die Promotion in Neuerer und Neueste Geschichte an der TU Dresden mit einer disziplinhistorischen Arbeit zur Statistik vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Anschließend war sie als Postdoktorandin in Berlin, Cambridge, Paris und Bielefeld tätig und hat am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld verschiedene Drittmittelprojekte zur Beziehung von Wissenschaft und Öffentlichkeit durchgeführt. 2007 hat sie sich für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung an der TU Braunschweig habilitiert und Vertretungsprofessuren in Bielefeld, Frankfurt a.M., Bremen und Freiburg wahrgenommen. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin im BMBF-Verbundprojekt „ANTHROPOFAKTE. Schnittstelle Mensch. Kompensation, Extension und Optimierung durch Artefakte“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Wissenschafts-, Technik-, Medizin- und Körpergeschichte des 20. Jahrhunderts. Sylvia Paletschek studierte Geschichte, Geographie, Germanistik und Erziehungswissenschaften in München und Hamburg. Seit 2001 ist sie Professorin für Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des 19. Jahrhunderts sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie populäre Darstellungen von Geschichte. Stephan Petzold ist Lecturer in German an der Universität Leeds. Nach dem Studium in Dresden, Newcastle, Strasbourg und Aberystwyth promovierte er an der University of Wales Aberystwyth mit einer Arbeit zur Fischerkontroverse. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche Kulturgeschichte nach 1945, Historiographiegeschichte und die Geschichte europäischer Erinnerungskulturen. Eine Mo-

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nografie zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Fischer-Kontroverse ist derzeit in Vorbereitung. Livia Prüll ist Professorin für Medizingeschichte am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Mainz. Sie studierte Geschichte, Philosophie und Humanmedizin an der Universität Giessen und arbeitet zur Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts, speziell zur Geschichte der Pathologie, Pharmakologie und zur Geschichte der Militärmedizin, ferner auch zum Verhältnis von Medizin und Öffentlichkeit nach 1945. Zur Zeit leitet sie den Forschungsverbund Universitätsgeschichte an der Universität Mainz. Wilfried Rudloff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel. Er studierte Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg, Florenz und München und wurde mit einer Arbeit zur Genese der kommunalen Wohlfahrtsstaatlichkeit promoviert. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozialstaatsgeschichte, der Geschichte sozialer Randgruppen und der Geschichte der bundesdeutschen Bildungspolitik. Er ist Mitarbeiter an einem vielbändigen Editionsvorhaben zur Entstehungsphase des deutschen Sozialstaats (Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914). Isabel Schmidt studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Psychologie in Darmstadt und Salamanca/Spanien. Sie ist Mitarbeiterin des Projektes „TH Darmstadt und Nationalsozialismus“, in dessen Rahmen sie ihre Dissertation zur Geschichte der Technischen Hochschule Darmstadt nach 1945 und deren Umgang mit der eigenen Vergangenheit während des Nationalsozialismus schrieb. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts sowie Unternehmensgeschichte. Olaf Schütze studierte Deutsch und Geschichte an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Nach seinem Studium war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar Freiburg und im Rahmen des DFG-Projekts „Universität – Wissenschaft – Öffentlichkeit. Die Universität Freiburg, ihre Geisteswissenschaftler und Mediziner“ tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Militär-, Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Er promoviert zur Geschichte der Wehrpflicht im Kaiserreich. Sigrid Stöckel hat an der FU Berlin Geschichte, Medizingeschichte und Germanistik studiert. Seit 1991 lehrt und forscht sie am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover zur Geschichte öffentlicher Gesundheitssicherung und Prävention, Rationalisierungskonzepten zwischen Fürsorge und Eugenik sowie zu Medien und Politik in der Medizin. 1992 wurde sie mit einer Arbeit über „Die Bekämpfung der Säuglings-

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sterblichkeit im Spannungsfeld von Sozialer Hygiene und Eugenik am Beispiel Berlins im Kaiserreich und in der Weimarer Republik“ promoviert. Nikolai Wehrs studierte Geschichte und Germanistik in Freiburg und Berlin und schrieb seine Dissertation am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). 2012 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Seither ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Forschungen zur Geschichte der Universität, zur Intellectual History der Bundesrepublik und zur politischen Kultur der Zwischenkriegszeit. Barbara Wolbring studierte Geschichte, Germanistik und Rechtsgeschichte in Paris, Aix-en-Provence und Frankfurt am Main. 1999 wurde sie mit der Arbeit „Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert“ promoviert. 2011 erfolgte ihre Habilitation, die 2014 unter dem Titel „Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945–1949)“ erschienen ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Erinnerungskultur und politische Identitäten sowie Bildungs- und Universitätsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

Register Personenregister A Adenauer, Konrad 25, 249, 352 Adorno, Theodor W. 252 Aebli, Hans 152 Albers, Detlev 199 Anders, Werner 337 Andersch, Alfred 66 Aubin, Hermann 256 Augstein, Rudolf 284–286, 291, 294f., 303, 317 B Bachmann, Walter 329 Bahrdt, Hans Paul 133f. Baring, Arnulf 146 Barraclough, Geoffrey 280, 288 Barth, Karl 261 Baudissin, Wolf Graf von 250f., 254f., 267 Becker, Carl Heinrich 63, 90, 92 Becker, Hellmut 121, 163 Becker, O. E. 97 Beckmeier, Karl 312 Beer, Brigitte 115, 117, 124–126, 154 Bender, Ignaz 151 Bergmann, Fritz von 99, 108 Bergstraesser, Arnold 26, 243–276 Besson, Waldemar 152 Betz, Albert 45f., 49 Biedenkopf, Kurt 184 Bitter, Wilhelm 349 Bittner, Georg 355f., 363 Blank, Theodor 250, 254, 256, 263, 347, 352 Bohnenkamp, Helmut 313, 325 Bombach, Gottfried 178 Bonhoeffer, Dietrich 355 Bonhoeffer, Karl 355 Bonhoeffer, Klaus 355 Bootz, Sebastian 360 Borck, Hans-Ludwig 352–354 Brackert, Helmut 220 Brandt, Willy 195f., 204 Bredereck, Hellmut 153 Büchner, Franz 325 Burckhardt, Jürgen 168

Bürger-Prinz, Hans 351 Buschbeck, Malte 208 Bußmann, Walter 293 C Chaloner, John 303 Clemen, Wolfgang 118, 120, 123, 128f., 130 Coing, Helmut 123, 127f. Conrad-Martius, Hedwig 357f. Conze, Werner 287 Craig, Gordon A. 285 D Dahl, Günter 305f. Dahrendorf, Ralf 24f., 59f., 68, 118, 122f., 141–159, 199, 278f., 370 Danielsen, Ernst 353 Dechamps, Bruno 117, 124f. Dehio, Ludwig 282, 288 Deneke, J. F. Volrad 346–348, 351, 354 Denninger, Erhard 169, 200 Deuerlein, Ernst 282 Dichgans, Hans 128, 131 Diehl, Günter 133 Dirks, Walter 66, 279 Dohnanyi, Klaus von 168f. Domagk, Gerhard 307, 327 Dönhoff, Marion Gräfin 258–260, 264 Dovifat, Emil 97, 107, 110 E Edding, Friedrich 148f., 164 Elchlepp, Dietrich 168 Enzensberger, Hans Magnus 133 Epstein, Fritz 99 Erdmann, Karl Dietrich 285–287, 292–296 Erhard, Ludwig 150 Erlinghagen, Karl 150, 153 Eschenburg, Theodor 247, 258, 260, 263f., 266 F Fehr, Carl Ulrich 109 Fischer, Fritz 27, 277–299

374 Fischer-Wolpert, Heinz 129 Fleming, Alexander 306, 311 Flemming, Hans-Walter 132 Florey, Howard 306 Foertsch, Hermann 249f., 252, 259–263 Fraenkel, Ernst 208, 248, 279 Francis, Thomas 308 Freund, Michael 117, 125 Friedeburg, Ludwig von 60, 185, 200 Friedrich, Carl Joachim 268 Frings, Theodor 219f., 240 Fromm, Ernst 360f. G Gambke, Gotthard 182 Gardner, John W. 153 Geiss, Imanuel 285, 295 Geißler, Clemens 173–175 Gillessen, Günther 124 Goldschmidt, Dietrich 165f., 171 Grebing, Helga 283 Griesbach, Heinz 172, 186 Grimme, Adolf 63f., 71–73 Gruenther, Alfred M. 262 Gründler, Gerhard E. 305 Grunenberg, Nina 117, 126, 131, 211 Gruss, Peter 40 Günther, Egon 239 Günther, O. 333 H Haas, Richard 309, 334 Habermas, Jürgen 143, 146, 165, 200f. Hahn, Wilhelm 149, 151–153, 162, 212 Hallstein, Walter 67 Hamm-Brücher, Hildegard 148 Hartshorne, Edward Y. 68 Hartung, Dirk 180 Haueis, Albert 238 Hawickhorst, Heinrich 353 Heidersberger, Heinrich 307f., 315 Heilmeyer, Ludwig 318, 326f. Heinze-Mansfeld, Michael 312 Heiss, Robert 252 Hemmerich, Peter 129, 131, 133 Henckel, Wolfram 131 Hennis, Wilhelm 196, 203–205 Hentig, Hartmut von 129 Herzfeld, Hans 285, 296 Hess, Gerhard 152, 210 Hess, Otto 101, 107f. Heun, Eugen 349

Personenregister Heusinger, Adolf 249–251, 256 Heuß, Alfred 130 Hinsen, Wilhelm 312 Hirschfeld, Hans 327 Hoffmann, Wolfgang 326 Hölzle, Erwin 282–285, 291 Howley, Frank 106 Huber, Ernst Rudolf 258f. Hund, Heinz 268 Huntley, James R. 269f. J Jahrreiß, Hermann 125 Jandtke, Karl 258, 260 Janßen, Karl-Heinz 285f., 291, 295 Jaspers, Karl 67f., 91f., 127, 165 Jenne, Michael 171f. Jenner, Edward 328 Jüchter, Heinz Theodor 130 K Kaldewey, Walter 351 Kaminski, Joachim 349 Kämpf, H. 283 Karl, Hermann 350f. Kästner, Erich 228, 237f., 318 Kath, Gerhard 171 Kauffeldt, Alfons 62 Keller, Walter 309, 329f., 332, 335 Keuser, A. 354 Kiepenheuer, Wolfgang 99, 101, 104f., 107f. Kiesinger, Kurt Georg 143, 151f., 156 Kleinschmidt, H. 336–338 Kluckhohn, Paul 227 Knauss, Bernhard 281 Koenigsfeld, Harry 326 Kogon, Eugen 91 Köhler, Helmut 185 Kohn, Hans 271 König, René 204, 279 Köpke, Horst 211 Korff, Hermann August 21, 26, 219–242 Korn, Karl 130f. Krebs, Hans Adolf 326 Krönig, Waldemar 169, 182, 184f. Krüger, Marlis 165, 171f. Kubizki, Stanislaw 112 Kudera, Sabine 181 Kühlewind, Gerhard 177, 179 Kuhn, Hans Wolfgang 251, 253 Kuhn, Richard 327

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Personenregister L Lademacher, Horst 282 Lempke, Klaus 305f. Lenz, Fritz 356f., 359, 363 Lenz, Widukind 359 Leonhardt, Rudolf Walter 116–118, 124– 126, 131, 133 Lepsius, Rainer 279 Lersch, Philipp 252 Leussink, Hans 175 Lewalter, Christian E. 119f. Lichtenberg, Peter 168 Lieser, Karl 81 Lindlar, Heinrich 153 Lindner, Edith 108 Liska, Hans 314 Litt, Theodor 328 Lojewski, Günther von 121, 129f., 286 Löwenthal, Richard 203–205, 208 Lübbe, Hermann 203f., 208 Ludewig, Walter 153 Ludwig, Karl-Heinz 79 Lutz, Burkart 179 M Maaß, Kurt Jürgen 186 Maier, Hans 203, 208 Maier, Franz Georg 152 Malinowski, Wolfgang 288f. Mann, Golo 282 Mausbach, Hans 361, 364 Mayer, Hans 219f. Meinecke, Friedrich 108 Merkatz, Hans-Joachim von 270 Mielke, Fred 348f. Minssen, Friedrich 266 Mitscherlich, Alexander 348 Molitor, Jan 313 Mommsen, Wolfgang J. 282, 285 Moos, Gerhard 179f. Moser, Hugo 125 Müller-Plattenberg, Urs 172 Münster, Clemens 69 N Nannen, Henri 201, 303–306, 308, 314, 316f. Nellessen, Bernd 281, 284, 288f., 294 Nesselhauf, Herbert 152 Neuffer, Hans 347, 350 Neumann, Hans-Berthold 356 Nipperdey, Thomas 203f.

Nohl, Herman 222, 227 Nolte, Ernst 202f., 210 Nord, Ferdinand Ernst 132 O Obenauer, Karl Justus 238f. Oelemann, Carl 346f., 349f., 362 Oeter, Ferdinand 347 Ohm, Gerhard 312f. Ostermann, G. 350 Ott, Eugen 259 Ottenstein, Bertha 326 Özdemir, Cem 59 P Panzer, Friedrich 235 Pappenheim, Arthur 327 Paul, Elfriede 355f. Pechel, Rudolf 356 Peisert, Hansgert 150–152 Penitzka, Christine 253 Petersen, Julius 222, 226 Pfister, Joseph H. 250–252, 258–260, 262– 264 Piazolo, Paul Harro 151f. Picht, Georg 118, 121f., 129, 147–149 Picht, Werner 69 Plessner, Helmuth 144 Pöls, Werner 293 Preisendanz, Wolfgang 152 R Radtke, Günter 314–316 Raiser, Ludwig 120f., 126, 129f. Randow, Thomas von 133f. Redslob, Edwin 99, 106–110 Reichwein, Roland 171 Reifenberg, Benno 66f. Rendtorff, Rolf 210 Reuleaux, Erich 82–84, 92 Reuter, Ernst 99, 106 Rhode, Helmut 170 Richter, Hans Werner 66 Riese, Hajo 178 Ritter, Gerhard 124, 129f., 256, 282, 290– 293, 296, 356 Rodewald, Berthold 347f., 351f., 362 Roellecke, Gerd 169 Roemer, Ernst 347f. Roesch, Gerda 101 Rothfels, Hans 287, 356 Rudzinski, Kurt 125

376 Rüegg, Walter 203, 205 Rüstow, Alexander 256, 268 S Salk, Jonas Edward 308f., 323 Samhaber, Ernst 283 Sauerbruch, Ferdinand 310, 312, 355 Schaaf, Gerhard 178 Schavan, Anette 59 Schelsky, Helmut 165, 205 Scherzer, Otto 82 Scheuch, Erwin K. 203–205 Schieder, Theodor 204, 285, 287, 290, 292– 294, 296 Schlaeger, Hilke 154 Schlaffke, Winfried 180 Schmidt, Helmut 214 Schmittlein, Raymond 64f., 69 Schmölders, Günter 133f. Schoeps, Hans-Joachim 130 Schöler, Hans 50f. Schönheimer, Rudolf 307 Schröder, Gerhard 59 Schulberg, Stuart 104, 108 Schütz, Klaus 207 Schwab-Felisch, Hans 123f. Schwarz, Joachim 101 Schwelien, Joachim 121 Seletzky, Georg 154 Sethe, Paul 281, 283f., 289f. Shulman, D. 109 Siegert, Friedrich 324–326 Sievers, Ludwig 346f. Siewers, Rudolf 312 Sinn, Richard 153 Sittner, Gernot 211 Sombart, Nikolaus 69 Sonderegger, Stefan 220 Sondermann, Gustav 353 Sontheimer, Kurt 200, 253 Speidel, Hans 249–251 Sprengel, Johann Georg 234, 236 Springer, Axel 303 Stammler, A. 359 Stauder, Karl-Heinz 357f. Stegmann, Herbert 282 Stein, Erwin 63f., 90 Stockhausen, Josef 353 Stockinger, Ludwig 231 Stoltenberg, Gerhard 182, 184 Stolz, Otto 101 Storbeck, Dietrich 174

Personenregister Strauß, Fanz Josef 259, 266, 268, 354 Ströter, Hans 98 Studnitz, Hans Georg von 283 T Teichler, Ulrich 166, 179f. Tellenbach, Gerd 132 Telschow, Ernst 45 Tenbruck, Friedrich H. 206 Tern, Jürgen 117, 124f. Tessaring, Manfred 177, 179 Thannhauser, Siegfried 325f. Thiel, Rudolf 310 Thieme, Werner 132 Treiber, Albin 354 Trueman, Harry S. 109 Trunz, Erich 231 Tuchman, Barbara 284 U Ungeheuer, Edgar 361 V Venter, Craig 43f. Vieweg, Richard 85 Vilmar, Fritz 195 Vivell, Oskar 330 Vogel, Erika 70 W Wagner, Helmut 282 Waldberg, Max Freiherr von 221 Wallenberg, Hans 61 Walz, Dieter 268 Wartenberg, Robert 326 Weber, Alfred 68f., 245, 268 Weise, Gerhard 130 Weisenborn, Günther 356 Weizsäcker, Carl Christian von 153 Wendt, Hanno 269 Wenke, Hans 124f., 129 Widmaier, Hans Peter 178 Wiethölter, Rudolf 200 Wilder, Thornton 106 Will, Günter 256f. Wirmer, Ernst 251f., 257 Wirsing, Giselher 284f., 294f. Wradzidlo, Georg 101

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Personenregister Z Zechlin, Egmont 283f., 289 Zentner, Kurt 304

Zöller, Michael 203, 207f. Zook, George F. 61

Sachregister A Abitur 23, 61f., 65, 67–74, 119, 148 Abiturientenzahl 74, 122, 148f., 177f. Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF) 62f., 72, 239 Arbeitsgemeinschaft zu Fragen der deutschen Streitkräfte Freiburg 252–254, 257–264, 272 Ärztebild 20, 27, 310–319, 339, 360f. Ärztliche Mitteilungen 28, 329, 331–333, 336f., 346–364 Association of University Teachers (AUT) 65–67 B Bildungsforschung 8, 24f., 141–143, 147– 157, 163–166, 173, 188 siehe auch Hochschulforschung Bildungsplanung 10f., 24f., 141, 150–157, 161–189 Bildungspolitik 24f., 59–74, 89f., 115, 122f., 141–143, 147–157, 161–189 siehe auch Hochschulpolitik Bildungsreform 22, 59–74, 121–123, 141– 143, 147–157, 161f., 235 siehe auch Hochschulreform Blaues Gutachten 22, 24, 66, 72, 92 Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) 25f., 31, 195–215 Bundesärztekammer (BÄK) 346, 353f., 358, 360f. Bundeswehr 26, 195, 244, 248–251, 255– 259, 265–267, 352–354, 362f. C Colloquium Politicum Freiburg 247, 268 Contergan 358–363 D DDR 9, 19, 23, 26, 63, 72, 209f., 219f., 227, 229f., 246, 248, 255, 266 Demokratieerziehung 26, 244–250, 255– 260, 272f., 305 Demokratisierung der Medizin 27f., 30, 318f., 344 Der Stern 16, 27, 30, 301–319

Deutsch-britischer Studienausschuss für Hochschulreform 22, 66, 92 siehe auch Blaues Gutachten Deutsche Atlantische Gesellschaft (DAG) 268–272 Deutscher Bildungsrat 141, 152, 163f. Deutscher Germanistenverband (DGV) 235f. Deutscher Hochschulverband 132, 207, 211 Deutschkundebewegung 234–237, 240 Documentary Film Unit (DFU) 97, 103f., 107, 110 Dokumentarfilm 23, 97–112 siehe auch Eine Freie Universität E Eine Freie Universität 23, 97–112 Entnazifizierung 10, 61, 81f., 93, 303, 312, 325f., 351 F Fischer-Kontroverse 19, 27, 30f., 277–296 Frauenklinik Universität Freiburg 324, 326 Freie Universität Berlin (FU Berlin) 23, 31, 97–112, 199f. G Geisteswissenschaften 7, 11f., 17–22, 26, 29f., 83, 223, 243–246 Geistige Rüstung 27, 244–249, 254–273 siehe auch Psychologische Kriegführung Generation, 1945er 25, 30f., 205 Germanistik 18, 21, 26, 116–120, 171f., 219–240 Gesamthochschule 25, 153, 172–174, 212 Geschichtswissenschaft 10f., 18f., 27–30, 253, 277–296 Goethe 26, 219–240 Gymnasium 68–74, 148–150, 246f. H Hochschulausbau 25, 31, 88, 115–128, 136, 148, 161–189, 197f., 214 Hochschuldemokratisierung 25f., 31, 90, 195–215 Hochschuldidaktik 25, 129, 172, 184

380 Hochschulforschung 8, 25, 161–189 siehe auch Bildungsforschung Hochschulgesamtplan Baden Württemberg 143, 149, 153–157 Hochschulinformations-System (HIS) 25, 181–188 Hochschulpolitik 9, 11, 24, 28f., 31, 59–74, 79, 125, 161–189, 195–215 siehe auch Bildungspolitik Hochschulpressestellen 24, 39f., 43, 116, 132, 135f. siehe auch Öffentlichkeitsarbeit Hochschulrahmengesetz 212–214 Hochschulreform 9f., 11, 16, 22–26, 30, 59– 74, 89–93, 115–136, 142–157, 165, 168, 170–173, 188, 195–215 siehe auch Bildungsreform Humboldtsche Universität 9, 91, 127–130, 152, 198 I Innere Führung 244, 250–252, 257–259, 265–268, 272 Institut für regionale Bildungsplanung Hannover 174–176 Internationaler Kongress für Ingenieursausbildung Darmstadt 84–86 J Journalismus 20, 145, 156, 209, 279f., 304, 317f., 360 siehe auch Zeitkritik K Kalter Krieg 23, 27, 61, 98, 110–112, 121, 244f., 249, 254f., 257, 264f., 273 Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) 346, 358 Kinderklinik Universität Freiburg 28, 309, 329–331, 338 Kultusministerkonferenz (KMK) 164, 171, 187, 198 M Marburger Hochschulgespräche 68f., 92 Marxistische Studentenbund Spartakus 209f. Massenuniversität siehe StudierendenAnstieg Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin 164, 171f. Medialisierung 7, 15, 24, 46, 51, 329 Medizin- und Ärztekritik 27f., 318f., 335f., 363f.

Sachregister Medizinische Fakultät Freiburg 27f., 318, 323–339 N Nationalsozialismus (NS) 9, 17f., 23, 26–30, 45, 69, 77–84, 87–93, 104, 107, 127, 144, 227f., 238, 243f., 272, 287, 301– 304, 309–314, 324–328, 343, 356f. NATO 248–252, 261–273, 352 NS-Medizin-Verbrechen 28, 301, 309, 311– 313, 324, 348f., 354f. Numerus Clausus 123–125, 179 O Öffentliche Meinungsbildung 14f., 26, 39f., 50, 244, 260 Öffentlichkeitsarbeit 17, 23–28, 31, 39, 41– 43, 52, 99, 102, 116, 131–136, 197, 207–211, 264f., 268–272, 318 Ordinarienuniversität 24f., 91, 152, 197– 203, 212 P Penicillin 306–311 Poliomyelitis und Polio-Impfung 28, 308f., 323–339, 360 Politikberatung 13, 143, 150–155, 163f., 245, 253, 264f., 268–272 Politikwissenschaft 18f., 26f., 29, 90f., 244– 247, 253f., 272f. Politische Bildung 26f., 243–273 Popularisierung 14, 26, 41–44, 49, 219, 268, 324 Psychologische Kriegführung 243f., 254– 257, 264, 267f. R Rassenhygiene und Eugenik 44, 301, 356f. Reeducation 23, 83, 89f., 103–105, 244, 273, 343 Rektoratsreden 16, 43, 82–84 Reorientation 83, 97f., 103–109, 112 Ressourcenbeziehungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit 13–16, 21f., 52f., 219, 273 Rüstungs- und Kriegsforschung 79–82, 87 S Siegburger Konferenzen 251–258, 264, 266 Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS) 72, 199f., 206

Sachregister Sozialwissenschaften 12, 29, 31, 166, 243f., 278f. Soziologie 29, 141, 150, 165, 204, 244–246, 279 Studentenbewegung 11, 25, 30f., 115f., 136, 156, 161f., 171, 196–211 Studienreform siehe Hochschulreform Studierenden-Anstieg 7, 116–123, 128, 149, 153f., 166, 197f., 214 T Technik 23, 77–93, 349 Technische Hochschule Darmstadt (TH Darmstadt) 23, 77–93 Technische Hochschule Hannover (TH Hannover) 83f., 173–175 Technische Universität Berlin (TU Berlin) 201 Teilöffentlichkeiten 14f., 26, 29, 47f., 224f., 233f., 240, 344f. U Universität Bielefeld 174 Universität Bremen 201, 209f. Universität Freiburg 186, 257, 268–270, 318 Universität Göttingen 176 Universität Hamburg 186, 200f., 210 Universität Heidelberg 186, 209f., 212 Universität Konstanz 24f., 141, 143, 152– 154, 157 Universität Osnabrück 174 Universität Trier 174 Universität Tübingen 143, 147, 151, 156

381 Universität unter den Linden Berlin 100f., 105, 108 Universitätsgeschichte 7–31, 53f. Universitätsjubiläen 8f., 16, 318 V Verband Deutscher Studentenschaften 132, 249 W Wehr- und Sanitätsdienst 257–259, 265, 352–355, 362f. siehe auch Wiederbewaffnung Wehrmedizin 301, 313, 325, 362 Westdeutsche Ärztekammern 346–349, 352 Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) 125, 132, 135, 169, 171, 187, 203 Wiederbewaffnung 29, 244, 249f., 253, 257f., 352f., 362 Wissensaneignung 48, 51–54 Wissenschaftsgeschichte 7–31, 39–54 Wissenschaftskommunikation 22, 39–54 Wissenschaftsrat 11, 24f., 31, 115, 125–135, 153, 163f., 171, 177–179, 182, 185, 198 Wissensgesellschaft 12f., 41, 116, 119, 121, 123, 245 Wissensproduktion 7, 12–15, 22, 44, 47–51, 188 Wissensvermittlung 40, 42, 130, 219, 233, 236, 238f. Z Zeitkritik 27, 30f., 50, 145, 279f., 294–296

Philipp Teichfischer / Eva Brinkschulte (Hg.)

Johann Lukas Schönlein (1793–1864): Unveröffentlichte Briefe Zum 150. Todestag

Philipp Teichfischer / Eva Brinkschulte (Hg.) Johann Lukas Schönlein (1793-1864): Unveröffentlichte Briefe 2014. 243 Seiten mit 4 Abbildungen sowie 11 Tafeln mit Faksimiles. Kart. & 978-3-515-10856-0 @ 978-3-515-10859-1

Der aus Bamberg stammende J. L. Schönlein zählt zu den profi liertesten deutschen Medizinern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als führender Vertreter der sogenannten Naturhistorischen Schule hat Schönlein die deutsche Klinik durch Einführung naturwissenschaftlicher Methoden modernisiert. Große Bekanntheit hat er als Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. erlangt. Schönlein hat sich aber nicht nur bleibende Verdienste als Arzt und akademischer Lehrer erworben, ebenso gewichtig war sein Einfluss als Hochschulpolitiker und Förderer der Wissenschaften. Anlässlich der Wiederkehr von Schönleins 150. Todestag werden in diesem Band insgesamt 151 Schönlein-Briefe präsentiert und erschlossen, die sein umfangreiches Schaffen und Wirken dokumentieren. Diese kritisch edierten Schreiben sind besonders wertvoll, da bislang kaum etwas über Schönleins ausgedehntes Korrespondenznetzwerk und seine Briefpartner bekannt ist. Die Briefe erschließen eine Vielzahl neuer Quellen und bieten damit einen Ausgangspunkt für weitere Forschungen. .............................................................................

Aus dem Inhalt Danksagung | Vorwort | Einführung t Schönleins akademischer Werdegang | Schönleins Briefe | Herkunft der Briefe | Zur Echtheit der Briefe | Briefe nach Schaffensperioden | Die Briefempfänger | Thematische Zuordnung der Briefe | Textgattung „Brief“ | Editionsprinzipien | Erschliessung: Kommentare, Regesten und Register | Faksimiles | Ausblick: Briefe an Schönlein t Alphabetisches Verzeichnis der Briefempfänger | Chronologisches Verzeichnis der Briefe | Die Briefe | Verzeichnis bereits veröffentlichter Briefe | Personenregister | Ortsregister | Sachregister | Literaturverzeichnis

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Anna Lux

Räume des Möglichen Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918–1961) Pallas Athene – Band 50

Anna Lux Räume des Möglichen 2014. 506 Seiten mit 15 Tabellen und 13 Grafiken. Geb. & 978-3-515-10902-4 @ 978-3-515-10903-1

Zäsurübergreifend untersucht diese Arbeit das spannungsreiche Verhältnis von Wissenschaft und Politik am Beispiel der Germanistik in Leipzig, Berlin und Jena. Anna Lux analysiert dabei sowohl institutionelle Strukturen, wissenschaftliche Diskurse als auch die wissenschaftliche Praxis der Akteure. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Leipziger Germanistik, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor allem durch die Ordinarien Theodor Frings und Hermann August Korff – von bemerkenswerter Kontinuität geprägt war. Zugleich werden die Befunde zu den einzelnen Instituten kontextualisiert und mit grundlegenden wissenschaftshistorischen Debatten verbunden. In dieser Verknüpfung wissenschafts- und universitätshistorischer Fragen versteht sich die Arbeit als eine Strukturgeschichte der Germanistik und als Beitrag zur systematischen Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften. .............................................................................

Aus dem Inhalt Die Kraft der Beharrung. Institutionelle Entwicklungen: Die Weimarer Republik | Das Dritte Reich | Die SBZ und frühe DDR p Germanistenleben. Akademische Praxis und Wirklichkeit: Das Prinzip Berufung. Akademische Zugangsprozesse | Der verordnete Bruch. Entlassungen und Abgänge | Von denen, die bleiben. Kontinuität als historischer Prozess p Vom Wandel in der Kontinuität. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Theodor Frings und Hermann August Korff: Sehnsucht nach der „überwölbenden Wissenschaft“. Die Kulturmorphologie von Theodor Frings | Entrückt oder ambitioniert? Hermann August Korffs Geist der Goethezeit p Stabilität und Wandel. Schlussbetrachtung p Anhang p Quellen- und Literaturverzeichnis p Namensregister

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Renate Tobies / Annette B. Vogt (ed.)

Women in Industrial Research With the assistance of Valentine Pakis Wissenschaftskultur um 1900 - Vol. 8 This book presents new research on women scientists who enjoyed careers at industrial corporations during the fi rst seven decades of the twentieth century. What positions were they able to achieve? What was the relationship between academic and industrial research? How open were certain industrial sectors – the electrical, chemical, cosmetic, nuclear, and optical sectors in particular – to hiring female researchers? Were women working in certain industries better able to acquire patents than those in others? What role did patronage play at the time? How did political turmoil affect women‘s careers? How did career opportunities differ from one country to another?

Renate Tobies / Annette B. Vogt (ed.) Women in Industrial Research 2014. XV, 258 pages with 24 illustrations and 7 tables. Hardback. & 978-3-515-10670-2 @ 978-3-515-10688-7

This book focuses on women who were active in Germany, Russia, and the United States, but the situation in Greece, France, and Great Britain is also addressed. Each of the chapters is based on new sources, including materials from corporate archives. On the basis of these fi ndings and their own work, the editors have formulated a series of general theses concerning the conditions of women working in industrial research. .............................................................................

Contents a. b. vogt: Women Scientists with Different Laboratory Practices: Transitioning from the Kaiser Wilhelm Society to Industrial Laboratories, and Vice Versa | b. winnewisser: Collaboration and Competition between Academia and Industry: Hedwig Kohn and OSRAM, 1916–1938 | p. giannakopoulou: The Background and Career of Angeliki Panagiotatou: The First Female Physician in Greece to Hold a Ph.D. | h. mehrtens: Lillian Gilbreth and Irene Witte – Women of Efficiency | r. tobies: Female Scientists in German Electrical Engineering Corporations and Their Patronage Relationships | et al.

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Eine integrale Verbindung von Universitäts-, Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte ist nach wie vor ein Desiderat, ebenso wie die Forderung, Zeitgeschichte als Wissen(schaft)sgeschichte zu schreiben. Hier setzt der Band an und zeigt die Fruchtbarkeit universitäts- und wissenschaftsgeschichtlicher Befunde für die Zeitgeschichte. Er stellt neuere Forschungen zu dem Themenfeld Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 vor. Dabei liegt ein Fokus auf der exemplarischen Analyse ausgewählter Geisteswissenschaften (Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft) sowie der Medizin, deren Kooperationsverhältnisse mit verschiedenen Öffentlichkeiten und Politikfeldern untersucht werden. Fallstudien zu verschiedenen Disziplinen sowie universitären und wissenschaftspolitischen Institutionen oder Vereinigungen verdeutlichen, wie Wissenschaft und Öffentlichkeit einander zunehmend als Ressourcen dienten und öffentliches Auftreten sowohl für die Universitäten als auch für die Wissenschaften an Bedeutung gewann.

ISBN 978-3-515-10886-7

9 783515 108867

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