... und über Barmen hinaus: Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994 9783666557231, 352555723X, 9783525557235


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... und über Barmen hinaus: Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994
 9783666557231, 352555723X, 9783525557235

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ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN • BAND 23

V&R

ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Joachim Mehlhausen und Leonore Siegele-Wenschkewitz

REIHE B: DARSTELLUNGEN

Band 23

Joachim Mehlhausen (Hg.) . . . und über Barmen hinaus

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT • 1995

und über Barmen hinaus Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994

Für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte herausgegeben von Joachim Mehlhausen

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT • 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaujhahme ... und über Barmen hinaus: Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte; Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994 / für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte hrsg. von Joachim Mehlhausen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. 23) ISBN 3-525-55723-X NE: Mehlhausen, Joachim [Hrsg.]; Nicolaisen, Carsten: Festschrift; Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte / B

© 1995 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seinerTeile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen. Sau: Markus Buntfuß, München Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

9

ERNST FEIL

"Politische Religion" und "Politische Theologie". Zur Problematik ihrer Instrumentalisierung

11

HEINZ BOBERACH

Pfarrer als Parlamentarier. Evangelische Theologen in der Deutschen Nationalversammlung, im Reichstag und Bundestag 1848-1990

40

JONATHAN R . C . WRIGHT

The Church in Politics: Reflections on German Protestantism in the 20th Century

63

HERBERT ANZINGER

Soziale Demokratie oder revolutionäre Diktatur? Zur politischen Position Barths während des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der Weimarer Republik

72

KURT NOWAK

Religiöser Sozialismus in der Weimarer Republik. Historische Reminiszenzen nach dem Ende der bipolaren Welt zu einer umstrittenen Bewegung der zwanziger Jahre

100

EVA-MARIA ZEHRER

Arthur Dinters Beitrag zur Diskussion über die Funktion der Religion in einem nationalsozialistischen Staat im Jahre 1928

112

INGE MAGER

August Marahrens (1875-1950), der erste hannoversche Bischof

126

HEIDE-MARIE LAUTERER

Gottesebenbildlichkeit des Menschen und Gleichberechtigung von Frau und Mann. Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986)

145

6

Inhaltsverzeichnis

HANNELORE BRAUN

"Im niederdeutschen Luthertum ist ein engerer Zusammenschluß notwendig." Kirchen auf dem Weg zur Einheit

159

HANS MAIER

Christlicher Widerstand im Dritten Reich

186

SIEGFRIED BRÄUER

"Gehorsam gegen den in der völkischen Geschichte wirkenden Gott". Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

204

PETRA RITTER-MÜLLER UND ARMIN WOUTERS

Die Adventspredigten Kardinal Michael von Faulhabers im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung

234

HINRICH STOEVESANDT

Ein Tag im Frühjahr 1934

253

EBERHARD BETHGE

Leben aus dem Widerspruch

261

GERTRAUD GRÜNZINGER

"Fürbitte hilft im Kampf. Fürbitte tröstet in der Einsamkeit. Fürbitte erhält in der Treue." Die Fürbittenlisten der Bekennenden Kirche 1935-1944 HEINER FAULENBACH

Ein Brief von Otto Ohl an Heinz Dungs

268 296

THOMAS MARTIN SCHNEIDER

Kollaboration oder Vermittlung im Dienste des Evangeliums? Zum Verhältnis Friedrich von Bodelschwinghs zum Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten

305

KARL SCHWARZ

Der "Fall Reisner". Eine Wiener Hörfunksendung (1936) ruft Widerspruch hervor

318

BJÖRN MENSING

"Ohne jede Rücksicht auf etwaige schlimme Folgen". Walter Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting 1936-1939

334

Inhaltsverzeichnis

7

URSULA BÜTTNER

"Wohl dem, der auf die Seite der Leidenden gehört." Der Untergang des Dichters Jochen Klepper mit seinen Angehörigen als Beispiel für die Verfolgung jüdisch-christlicher Familien im "Dritten Reich"

342

HERBERT IMMENKÖTTER

Zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" jüdischer Behinderter

365

EBERHARD RÖHM UND JÖRG THIERFELDER

Ein langer Weg von Breslau nach New York: Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell

376

JENS HOLGER SCHJÖRRING

Nordisches Luthertum zur Zeit des Zweiten Weltkrieges

386

MARTIN GRESCHAT

Begeisterung - Beharrung - Beklemmung. Anmerkungen zum deutschen Protestantismus in Polen in der Zeit des Nationalsozialismus

402

NORA ANDREA SCHULZE

"Ein anderer Kurs fordert andere Menschen." Von der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei zur Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland WOLF-DIETER HAUSCHILD

Vom "Lutherrat" zur VELKD 1945-1948

429 451

JOACHIM MEHLHAUSEN

Die Wahrnehmung von Schuld in der Geschichte. Ein Beitrag über frühe Stimmen in der Schulddiskussion nach 1945

471

FRIEDRICH WILHELM GRAF

"Die Aufgabe des Freien Protestantismus." Ein unbekanntes Memorandum Theodor Siegfrieds aus dem Jahre 1946

499

8

Inhaltsverzeichnis

ULRICH BAYER

Ein kleiner Disput aus dem Jahre 1953 über das öffentliche Auftreten von Carl Schmitt im Raum der evangelischen Kirche

530

JOHN S. CONWAY

The changes in recent decades in the Churches' doctrine and practice towards Judaism and the Jewish people

536

GEORG KRETSCHMAR

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland und anderen Staaten

557

TRUTZ RENDTORFF

"Kirche im Sozialismus" - Erfahrungen und Lektionen

580

CLEMENS VOLLNHALS

Oberkirchenrat Gerhard Lötz und das Ministerium für Staatssicherheit. Zur IM-Akte "Karl"

595

ANKE SILOMON

DDR-Kirchenpolitik vor dem Ende. Ein Tag im November 1989 im Bezirk Potsdam

606

ANSELM DOERING-MANTEUFFEL

Zeitgeschichte nach der Wende von 1989/90 aus der Sicht des Historikers

613

LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ

Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Kirchengeschichtswissenschaft auf das Verhältnis von Christentum und Judentum

626

JOHANNES HAMPEL

Woran die Amerikaner glauben. Anmerkungen zur "civil religion" der USA

631

Schriftenverzeichnis Carsten Nicolaisen

635

Die Autorinnen und Autoren

640

VORWORT Am 4. April 1994 vollendete Carsten Nicolaisen sein 60. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß widmeten ihm die Mitglieder der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, deren langjähriger Geschäftsführer Carsten Nicolaisen ist, eine umfangreiche Festschrift, zu der auch zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus der Zunft der Zeithistoriker außerhalb der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Beiträge beigesteuert haben. Eine erste Fassung dieser Festschrift wurde dem zu Ehrenden an seinem Geburtstag in Form eines Computer-Ausdrucks mit den Glückwünschen aller Beteiligten überreicht. Ursprünglich hatte die Absicht bestanden, diese Fassung der Festschrift zu fotokopieren und an Interessierte weiterzugeben. Aber schon bei der ersten Durchsicht und redaktionellen Bearbeitung der Einzelbeiträge war dem Herausgeber bewußt geworden, daß hier eine so selten reichhaltige, vielfarbige und die Forschung voranbringende Sammlung von zeithistorischen Arbeiten zustandegekommen war, daß es für die an der Zeitgeschichte interessierte Öffentlichkeit und die Forschung insgesamt ein Verlust wäre, wenn diese Texte nur in einem raren Privatdruck zugänglich blieben. Das spontane Echo der ersten Leserinnen und Leser dieses Bandes bestätigte und verstärkte diesen Eindruck, und so war es dem Herausgeber eine große Freude, als die Vollversammlung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft im darauffolgenden Jahr einstimmig beschloß, diese Festschrift in der Reihe "Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte" unter der verlegerischen Betreuung von Dr. Arndt Ruprecht als Buch zu veröffentlichen. Die nun zur Verfügung stehende Zeit bis zur endgültigen Drucklegung wurde von einigen Autorinnen und Autoren dazu genutzt, um die eigenen Beiträge noch einmal zu überarbeiten und neueste Literatur nachzutragen. Eine besonders erfreuliche Zugabe bestand darin, daß zwei Autoren, die zum genauen Geburtstagstermin ihre vorgesehenen Aufsätze nicht hatten fertigstellen können, jetzt die Gelegenheit erhielten, ihre Arbeiten doch noch abzuschließen und in den Strauß der Geburtstagsgaben einzufügen. Dabei folgen die einzelnen Beiträge in diesem Buch einander nach ausschließlich chronologischen Gesichtspunkten. Eine systematische Gliederung wäre wohl auch durchführbar gewesen, doch hätte sie zu problematischen Überschneidungen geführt. Während die erste Fassung dieser Festschrift von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Tübinger Lehrstuhl liebevoll und sorgsam redigiert und formatiert worden war, konnte die jetzt

10

Vorwort

vorliegende Druckausgabe die gleiche Förderung durch die Münchener Geschäftsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft erfahren; allen hier wie dort Beteiligten sei herzlich gedankt. An den Schluß dieses Vorwortes seien die Sätze gestellt, die schon auf dem Vorsatzblatt des "Urexemplars" standen: Eine Ihrer wichtigsten Veröffentlichungen, lieber Herr Nicolaisen, trägt den Titel: "Der Weg nach Barmen". Unsere Festgabe zu Ihrem 60. Geburtstag haben wir "... und über Barmen hinaus" genannt. Wir wollen damit daran erinnern, daß Ihr wissenschaftliches Werk zur Kirchlichen Zeitgeschichte zwar in der Ersten Bekenntnisssynode der D E K sein Zentrum hat, aber doch weit über "Barmen" hinausreicht. Wie weit, das mag jeder Leser der Bibliographie Ihrer Veröffentlichungen entnehmen, die wir an den Schluß dieses Buches gestellt haben. Die in diesem Bande versammelten Aufsätze zeigen Ihnen die freundschaftliche Verbundenheit von vielen Mitgliedern der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, von Kolleginnen und Kollegen, von jüngeren und älteren Begleitern Ihres Lebensweges. Wir freuen uns, Ihnen anläßlich Ihres 60. Geburtstages einen vielfarbigen Strauß aus Thesen und Texten, neuen Informationen und Interpretationen, aus lebendigen Erinnerungen und methodisch sorgfältig überlegten Deutungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte überreichen zu können. Möge Ihnen das Studium dieses reichhaltigen Bandes Freude machen, und Sie auch selbst zu weiteren eigenen wissenschaftlichen Arbeiten anregen! Tübingen, im Spätsommer 1995

Ernst Feil "POLITISCHE RELIGION" U N D "POLITISCHE THEOLOGIE" Zur Problematik ihrer Instrumentalisierung Insbesondere zwei Gründe lassen es angezeigt erscheinen, den Termini "politische Theologie" und "politische Religion" nachzugehen. Einmal hat sich nämlich in letzter Zeit die Diskussion um die "politische Theologie", um die es recht ruhig geworden zu sein schien, in verschiedener Hinsicht belebt, vor allem durch die ausgeweitete Verwendung sowie durch neue Publikationen nicht zuletzt zu Autoren der "alten" politischen Theologie. Zum andern aber erscheint die Relation der "politischen Theologie" zur "politischen Religion" sowie deren Bedeutung (zu) wenig geklärt, so daß eine bislang unbekannte bzw. übersehene Arbeit zum Thema einigen Aufschluß zu geben verspricht. Zum einen also erfährt das Thema "politische Theologie" eine aufschlußreiche Ausweitung durch eine Abhandlung über "Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel"i mit einer beachtenswerten Einführung über die Verwendung des Terminus speziell im Hinblick auf Carl Schmitt 2 . Leitend für die Rückdatierung der "politischen Theologie" weit hinter die römische Zeit ist die These, "daß Religion in einem durchaus entsprechenden Sinne in Israel erfunden wurde, wie ein bestimmter Typus politischen Denkens in Athen" 3. Dabei wird hier sehr wohl unterschieden zwischen "politischer Theologie" und "politischer Religion"*. Hierfür werden auch die Kronzeugen unseres Jahrhunderts genannt, nämlich Carl Schmitt für die erstere5 und

1

JAN ASSMANN: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, hg. von Heinrich Meier (Carl Friedrich von Siemens-Stiftung. Themen 52). o.O. o.J. (München 1992); der Text von Assmann findet sich hier S. 23-114.

2

HEINRICH MEIER: Was ist politische Theologie? Einführende Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff. In: EBD., S. 7-19.

3 4

J. ASSMANN, Politische Theologie (Anm. 1), S. 36. EBD., S. 25, 30; vgl. auch HUBERT CANCK: Augustin als constantinischer Theologe. In: RELIGIONSTHEORIE UND POLITISCHE THEOLOGIE, hg. v o n J a c o b T a u b e s . I: D e r F ü r s t dieser

Welt. Carl Schmitt und die Folgen. München und Paderborn 1983, S. 136-152, 136. 5

CARL SCHMITT: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München 1922, 2. Aufl. 1934; DERS.: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung

12

Ernst Feil

der im Vergleich zu ihm fast vergessene Eric Voegelin für letztere 6 . Solche Differenzierung erscheint freilich keineswegs selbstverständlich, wenn etwa in einer thematischen Erörterung unter dem Stichwort "Varros Religion" dessen "theologia tripertita" zur Erläuterung herangezogen wird, ohne daß der Unterschied zwischen "Religion" und "Theologie" irgendwie kenntlich gemacht wird 7 . Von hierher besteht ein Bedarf, weniger nach einem Zusammenhang als nach der Differenzierung von "politischer Theologie" und "politischer Religion" zu fragen und, soweit in einem notwendig allein schon räumlich beschränkten Aufsatz möglich, zu beiden kritische Hinweise anzufügen. Zuvor aber möchte ich die Anfänge jener umfangreichen Diskussion der Deutlichkeit halber in Erinnerung rufen, die gegen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre zur Frage der Relation von Theologie bzw. Religion zum Bereich des Politischen entstanden ist, nämlich die Auseinandersetzungen um die "politische Theologie", die "Theologie der Revolution", die "Theologie der Befreiung" sowie die "civil religion". Faktisch zeitgleich kamen 1966 die "politische Theologie" 8 und die "Theologie der Revolution" 9 ins Gespräch, besser gesagt, in eine von Anfang

6

jeder politischen Theologie. Berlin 1970; hier auch die Differenzierung zwischen "politischer Theologie" und "politischer Religion" (S. 99).- Vgl. dazu unten Anm. 68. ERICH VOEGELIN: Die politischen Religionen. Wien 1938; Stockholm 1939; nun: ERIC VOEGELIN: Die politischen Religionen, hg. von Peter J. Opitz ( = Periagoge). München 1993.

7

WILHELM GEERLINGS: Apologetik und Fundamentaltheologie in der Väterzeit. In: Handbuch der Fundamentaltheologie, hg. von Walter Kern, Hermann Josef Pottmeyer und Max Seckler. IV. Freiburg 1988, S. 317-333, 326. Vgl. auch DERS.: Die "theologia mythica" des M. Terentius Varro. In: Mythos. Erzählende Weltdeutung im Spannungsfeld von Ritual, Geschichte und Rationalität, hg. von G. Binder und B. Effe ( Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium. 2). Trier 1990, S. 205-222. - Die Differenzierung zwischen "Ziviltheologie" und der "römischen Religion des Bürgers" verwischen auch HEINZ KLEGER und ALOIS MÜLLER: Der politische Philosoph in der Rolle des Ziviltheologen. In: Religion und Vernunft: Philosophische Analysen, redig. von Helmut Holzhey und Jean-Pierre Leyvraz (Studia philosophica. 45). Bern 1986, S. 86-111, S. 89 Anm. 6.

8

Der Vortrag von JOHANN BAPTIST METZ: "Kirche und Welt im eschatologischen Horizont" (In: DERS.: Zur Theologie der Welt. Mainz und München 1968, S. 75-89) wurde vorbereitet für das St. Xavier-Symposion in Chicago für den 31.3.1966, wiederholt auf der Tagung der Paulus-Gesellschaft vom 24.4. bis 1.5.1966 in Herrenchiemsee (vgl. die Fundorte dieses Textes EBD., S. 147); hier erscheint das Stichwort "Politische Theologie" im abschließenden Teil. Ausdrücklich thematisiert findet es sich dann ein Jahr später in dem Vortrag "Kirche und Welt im Lichte einer 'politischen Theologie'" auf dem Internationalen Theologenkongreß in Toronto vom 20.-24.8.1967 (vgl. EBD.); zur Datierung vgl. auch JOHANN BAPTIST METZ: "Politische Theologie" in der Diskussion. In: DISKUSSION ZUR "POLITISCHEN THEOLOGIE", hg. von Helmut Peukert. München und Mainz 1969, S. 267-301, S. 267 Anm. 2. Vgl. GERHARD BAUER: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt. Die politische Theologie von

"Politische Religion" und "Politische Theologie"

13

an heftige Diskussion. Schnell ergaben sich, w a s nahelag, intensive V e r b i n dungen z w i s c h e n beiden, die aber nicht d a r ü b e r hinwegtäuschen d ü r f e n , daß sie nicht einfach identisch sind. Z u n ä c h s t u n m e r k l i c h , insgesamt aber konsequent w u r d e dann die letztere ü b e r f ü h r t in o d e r ersetzt d u r c h die "Theologie der Befreiung" 1 0 , die A n f a n g d e r siebziger J a h r e in Erscheinung trat, jedoch bis 1 9 6 8 zurückr e i c h t 1 1 . D i e s e r U b e r g a n g hat v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e s o f o r t einen anhaltenden V e r d a c h t u n d A r g w o h n gegen dieses P l ä d o y e r f ü r die "Befreiung" entstehen lassen. D i e s lag e b e n s o w o h l daran, d a ß A u t o r e n , die z u v o r W o r t f ü h r e r einer aggressiven "Theologie der R e v o l u t i o n " gewesen w a r e n , n u n u n t e r d e m F i r m e n s c h i l d "Theologie der Befreiung" agierten (bzw. agitierten), aber auch daran, daß in i h r eine R e z e p t i o n marxistischer Kategorien erfolgte u n d sich lange hielt, die h ö c h s t suspekt erschien. H i e r z u l a n d e trat auf längere Zeit k a u m in Erscheinung, daß fast gleichzeitig, 1 9 6 7 , eine zunächst eher n o r d a m e r i k a n i s c h e Diskussion u m die "civil religion" entstand 1 2 . Diese lieferte faktisch Rituale u n d S y m b o l e f ü r das ent-

J.B. Metz als theologische Begründung gesellschaftlicher Verantwortung des Christen. Mainz 1976, S. 22-27.

Theologische Kritik der politischen Religion. In: Johann Baptist Metz/Jürgen Moltmann/Willi Oelmüller: Kirche im Prozeß der Aufklärung. Aspekte einer neuen "politischen Theologie" (GT. S 1). Mainz und München 1 9 7 0 , S . 11-51, hat im Vorspann dieser Abhandlung zum Ausdruck gebracht, daß er die von Metz skizzierte Richtung gern aufnimmt (S. 11). Wieder abgedruckt in: DERS.: Politische Theologie - Politische Ethik (Fundamentaltheologische Studien. 9). München und Mainz 1984, S. 34-69. Vgl. hierzu die Übersicht in: DISKUSSION ZUR "POLITISCHEN THEOLOGIE"; SIEGFRIED WLEDENHOFER: Politische Theologie. Stuttgart 1 9 7 6 . Vgl. den zur Vorbereitung der Genfer Weltstudienkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966 formulierten Text von RICHARD SHAULL: Revolutionär/ Change in Theological Perspective. In: Christian Ethics in a Changing World, ed. by John C. Benett. New York und London 1966; dt.: Revolution in theologischer Perspektive. In: Trutz Rendtorff und Heinz Eduard Tödt: Theologie der Revolution. Analysen und Materialien (es. 258). Frankfurt am Main 1968, S. 117-139. Dieser Text stellt eine Art Basismanuskript für die gesamte folgende Diskussion dar. - Eine Zusammenfassung findet sich in dem Sammelband: DISKUSSION ZUR "THEOLOGIE DER REVOLUTION", hg. von Ernst Feil und Rudolf Weth. München und Mainz 1969, 2. Aufl. 1970.

JÜRGEN MOLTMANN:

9

Theologie der Befreiung (span. 1 9 7 2 ) ( G T . S 11). München und Mainz 1973; mit einer neuen Einleitung des Autors 10. Aufl. Mainz 1992. 11 EBD., S . 18 Anm. 1 auch der Hinweis, daß GUTIERREZ 1 9 6 8 erstmalig einen Vortrag "Theologie der Befreiung" gehalten hat. 12 ROBERT N. BELLAH: Civil Religion in America (1967), dt.: Zivilreligion in Amerika. In: Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, hg. von HEINZ KLEGER und ALOIS MÜLLER (Religion - Wissen - Kultur. 3). München 1986, S. 19-41. - Vgl. auch DERS.: Die Religion und die Legitimation der amerikanischen Republik (1978). In: ebd. S., 42-63. 10

GUSTAVO GUTIERREZ:

14

Ernst Feil

gegengesetzte Lager. Auch sie hat mit ihren Auseinandersetzungen über "bürgerliche Religion, Religion des Bürgers, politische Religion, Zivilreligion" 1 3 bis heute höchst widersprüchliche Stellungnahmen hervorgebracht. Nicht übersichtlicher wurde die Lage dadurch, daß im Rahmen der "Theologie der Befreiung" schon bald über "Volksreligion" gesprochen wurde 14 und weiterhin gestritten wird. 1. Eine begriffsgeschichtlich fundierte Kritik der "politischen Religion" Angesichts dieser höchst unübersichtlichen Gemengelage war die Frage, ob und in welchem Maße sich auch Anfänge einer "Religio Politica" eruieren ließen; diese brauchten ggfs. mit der "politischen Theologie", deren begriffsgeschichtlicher Ursprung sehr wohl zur Klärung beigetragen hat, gar nicht zusammenzuhängen. Auf diesem Hintergrund darf man sich besondere Aufschlüsse erwarten von einem Fund, der sich im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Klärung der Begriffsgeschichte von "Religion" in der Neuzeit ergab, nämlich von einer ausführlichen Abhandlung "De Religione Politica", die Daniel Clasen (1622-1678)15 verfaßt hat und die hier zunächst vorgestellt werden soll. Mehr als Theologen seiner Zeit hat sich dieser Jurist mit der politischen Bedeutung der "religio" beschäftigt. Nicht von ungefähr hat er seine Abhandlung auch mit "De Religione Politica" überschrieben 16 . Damit stellt

Zur gesamten Diskussion vgl. nicht zuletzt den hier zitierten Sammelband, und hier besonders die Beiträge von NKLAS LUHMANN und HERMANN LÜBBE. Ferner DERS.: Religion nach der Aufklärung. Graz 1986; vgl. auch ROLF SCHEDER: Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur. Gütersloh 1987; einen Forschungsbericht gibt DERS.: Civil Religion. In: Verkündigung und Forschung 33, 1988, S. 29-43. 13 So in der Uberschrift der Einleitung des Bandes von H. KLEGER und A. MÜLLER (Anm. 12), S. 7. 14 Vgl. hier nur den frühen Beitrag von Luis A. DE BoNI: Kirche und Volkskatholizismus in Brasilien. In: Theologie aus der Praxis des Volkes. Neuere Studien zum lateinamerikanischen Christentum und zur Theologie der Befreiung, hg. von Fernando Castillo (GT. S 26). München und Mainz 1978, S. 125-171, zur Volksreligion bes. S. 142ff. 15 Daniel Clasenius war nach Studien zu Helmstedt Konrektor und Rektor der Schule zu Magdeburg, dann Professor für Ethik, Politik und Recht am Gymnasium in Lüneburg, wurde 1661 Doktor zu Helmstedt und war dort seit 1669 Professor des Rechts. Vgl. dazu JOHANN HEINRICH ZEDLER: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Halle und Leipzig 1732ff„ Bd. VI, S. 235. 16 De Religione Politica Liber Unus secundum editus. Autore D. DANIELE CLASEN. Servestae M D C X X C I (1681).

"Politische Religion" und "Politische Theologie"

15

dieses Buch, soweit bis jetzt bekannt, die erste ausführliche Abhandlung dieses Themas unter diesem Terminus dar, der sich, wiederum nach gegenwärtigem Wissensstand, zuvor bislang nur bei Tommaso Campanella fand, ohne von ihm her erkennbare Wirkung zu erlangen. Gestoßen bin ich auf diese Arbeit durch ein Zitat bei Theophilus Spizel (1639-1691). Sie stellt zugleich ein auch für die gegenwärtigen Diskussionen herausragendes Beispiel dar, in welchem Maße und Sinn der Streit um die Bedeutung der "religio" für den politischen Bereich geführt wird. Clasen beginnt seine Darlegungen mit einer Worterklärung anhand verschiedener Belege zur Etymologie. Danach unterscheidet er innere und äußere Akte der "religio"17, wobei er die Zeremonien nicht als konstitutiv ansieht 18 . Doch richtet er sein Augenmerk im weiteren Verlauf kaum auf die inneren Akte, die zunächst wesentlich erscheinen. Seiner Thematik entsprechend hält er sich vielmehr an die Beachtung, die gewisse "Politici" ihr widmen, die den Terminus für den "cultus divinus externus" verwenden und die Meinung über Gott für das Fundament des Gemeinwesens halten 19 . Demgegenüber kritisiert er, daß die "religio" zu seiner Zeit zwar allgemein in ihrem Rang gewürdigt wird, faktisch aber nur noch ein Schattendasein führt, nachdem "pietas" und "justitia" in den Himmel emigriert sind 20 . Dabei lehrt die "religio" nicht nur zu glauben, sondern auch zu handeln 21 . Doch gerade deswegen dient sie unter den gegebenen Umständen nur mehr politischen Interessen. So wird sie für alle möglichen Zwecke einschließlich des Kriegs gebraucht 22 und folglich mißbraucht. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Formulierung vom "bellum religionis"23. In diesem Rahmen formuliert Clasen ein Kapitel zur Definition der "Religio Politica", wobei er es nicht an sehr kritischer Beurteilung und d.h. Verurteilung der betroffenen "Politici" fehlen läßt 24 . So führt er zwar Aussa17 EBD., S. 5f; innere Akte sind "Devotio et Oratio", die äußeren "Adoratio, Sacrificium, Votum, Juramentum, Adjuratio, Laus". 18 EBD., S. 3: "ceremoniae religionem non constituunt, nec ad eam adeo sunt necessariae, interim earn comitantur". 19 EBD., S. 6. 20 EBD., S. 11: "At hoc nostro, in quo vivimus, exulcerato seculo, ubi pietas et justitia, relicta impiis terra, coelum versus emigrarunt, Religio similis est nudae umbrae, et qui rem penitus introspicient, non nisi meram istius deprehendent imaginem." 21 EBD., S. 14: "Religio non tantum credere, sed et agere docet." Auch diese Bestimmung beinhaltet mit der Aufnahme des "credere" eine freilich hier nicht weitergeführte Vertiefung. 22 So das cap. 3: EBD., S. 36-50, S. 36: "Religione luditur, eaque bello, nequitiae, et publicis sceleribus praetenditur. " 2 3 EBD., S . 4 1 ; vgl. S. 4 6 . 24 EBD., S. 50-64; in Zitaten heißt es: "Uti regnare nescit, qui nescit simulare ..." bzw. "Nescit regnare, qui nescit simulare" (S. 54).

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Ernst Feil

gen an, nach denen die "religio" als Fundament des Gemeinwesens von den Politikern unversehrt bewahrt werden muß, aber meist machen sie die "Religio Politica" zu einem "monstrum" des Verbrechens und Betrugs 25 . Somit ergibt sich als Definition, daß die "Religio Politica" ein "cultus sacer" ist, den der Magistrat zur Bewahrung des Gemeinwesens eingeführt hat 26 . Hier finden sich dann die später auch von Spizel aufgenommenen Definitionen bis hin zu jener, nach der sie ein lediglich fingierter und simulierter "cultus divinus" ist 27 . Anschließend unterstreicht Clasen die radikale Negativität dieser "religio", die sehr wohl in Einklang steht mit den Kriegen der "Clerici", die diese erbittert führen 28 , aber auch denen des Magistrats. Demgegenüber insistiert er darauf, daß der Zweck der "religio" kein "bonum temporale, sed Spirituale" darstellt; wenn sie auch zum zeitlichen Gut beiträgt, so dient sie ihm doch keineswegs als Instrument 29 . Die folgenden Überlegungen, ob man einer "religio" folgen soll, in der man gut lebt, wenn man auch in einer anderen erzogen wurde 30 , ob man in Gefahr die "religio" wechseln 31 oder simulieren darf 32 , sowie die sehr ausführlichen Überlegungen über die Verhaltensweise des Fürsten zur 25 EBD., S. 55: "At plurimi aliter [Politici] religionem Politicam concipiunt, qui ex ea monstrum iniquitatis,fraudum, nequitiae ac versutiae efficiunt". 26 EBD., S. 55f.: "Nunc quidem definitionem religionis politicae, prout a politicis quibusdam consignata est diversimode apponemus, et quodammodo examinabimus: A quibusdam definitur: Quod sit cultus sacer in coetum subditorum a Magistrate introductus ad servandum reipublicae statum." 27 Ebd.: "Religio Politica est fictus vel simulatus cultus divinus, qui mascule a Clericis ore, fortiter a Magistrato defenditur, ad hoc, ut bonum publicum et privatum conservari, vel etiam augeri poßit. " Daß die "Religio" eine Erfindung der "Politici" darstellt, findet sich noch öfter (vgl. S. 65f., S. 84, hier mit dem Widerspruch CLASENS). 28 EBD., S. 59. 29 EBD., S. 64: "Male etiam finis religionis in hac definitione ponitur: quia finis religionis non est bonum temporale, sed Spirituale, ut propterea, qui religionem adhibent, unice ad conservandum et augendum bonum publicum et privatum, ea maxime abutantur. Et si religio conservationi et augmento boni publici et privati unice inservit? jam bonum temporale erit praestantius religione, quod tum se religio habeatur medium, bonum verum publicum ut et privatum tanquam finis. Omnis autem finis est nobilior iis, quaefaciunt adfinem. Q u o d tarnen aliis displicet, qui alioquin non adeo dextre de religione judicare solent. Quamvis ergo religio et bonum temporale conservet, tarnen istius non est instrumentum, ad illud unice ordinatum, sed principaliter intendit bonum aeternum". Vgl. auch die Wiederholung dieser Argumentation S. 84; S. 85f. auch eine Widerlegung des Einflusses der Sterne, ohne daß CLASEN dabei speziell auf die "religio" zu sprechen kommt. 30 So cap. 6: S. 90-111. 31 Cap. 7: S. 111-131. 32 Cap. 8: S. 132-159.

"Politische Religion" und "Politische Theologie"

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"religio" 33 können hier nicht detailliert berücksichtigt werden. Für die "religio" schärfen sie ein, daß es auf die "Religio vera" ankommt, die nicht nur in dieses Leben hineinwirkt, sondern den Weg zum Heil weist 34 . Folglich darf sie nicht als "medium civile" zur Einführung des Guten in das Gemeinwesen mißbraucht werden 35 . Schließlich hängt sie an der Offenbarung Gottes, so daß einem falschen Glauben - "vera abnegata fide" - anzuhängen, verheerende Folgen für das Heil nach sich zieht 36 . Die "religio" nämlich intendiert ein höheres als ein bürgerliches Ziel 37 . Und daß sie durch Luther wiederhergestellt worden ist, steht für Clasen außer Zweifel 38 .

33 Cap. 9-18: S. 160-515. CLASEN erörtert folgende Fragen: cap. 9 (S. 160-222), ob Princeps und Magistrat sich mühen sollen, als "pius" zu erscheinen, ohne es zu sein, was er in heftigen Auseinandersetzungen mit Machiavelli und den Machiavellisten verneint; cap. 10 (S. 222268), ob der Fürst die "religio" befolgen soll, die er "ad Status Rationem" machen und ob er die Untertanen zu ihr mit Gewalt zwingen soll - hier also auch terminologisch die Rede von der "Staatsraison" -, was CLASEN wiederum verneint, da doch der "Princeps" nichts gegen die "vera religio" tun darf (S. 250), wobei um der Ruhe willen die Untergebenen eher auch dem schlechten und tyrannischen Magistrat gehorchen sollen (S. 262ff.); cap. 11 (S. 268-283), ob der "Princeps" etwas Falsches in der "Religio" akzeptieren kann, wenn er dies als Nutzen für den Staat erkennt; cap. 12 (S. 283-324), ob der Fürst etwas von der "religio Turcica, vel Judaica, vel pagana" rezipieren kann, wobei CLASEN die Überlegenheit der "Christiana" als "vera religio" nachweist ( bes. S. 294ff.); cap. 13 (S. 324-344), ob der "Princeps" die "religio" wechseln kann; cap. 14 (S. 344-389), ob er in den heiligen Dingen etwas ändern kann, wovon CLASEN abrät, da er es für gefährlich hält, die "religionis ceremoniae" zu ändern (S. 356ff.); cap. 15 (S. 389-416), ob der "Princeps" nichts besseres für das Volk machen kann als die gängige "religio" zu verteidigen und die Kinder in ihr zu erziehen; cap. 16 (S. 416-432), ob er gut daran tut, über die "religio" in Comitiis zu handeln, wozu CLASEN mahnt, verbunden mit dem Rat an den Fürsten, alles selbst zu besorgen (S. 418), und mit dem Widerspruch gegen die Annahme, die "religio" sei "figmentum Politicorum: ancilla rei publice, et fabula Rationis status" (S. 422); er beschließt diese Überlegungen mit cap. 17 (S. 433-452), ob der "Princeps" über die "religio" disputieren lassen, und cap. 18 (S. 452-515), ob er mehrere "religiones" zulassen soll, wenn es die "Ratio status" erfordert, wozu CLASEN überall eine negative Antwort formuliert, zu letzterem, weil Gott nur eine einzige "Religio" wollte (S. 458£f.). 34 EBD., S. 337f: "Religio vera autem non tantum docet morum integritatem, vitae puritatem, et honestorum operum Studium, sed et hominibus viam ostendit, per quam ad aeternam beatitudinem pervenire aliquando possunt." 35 EBD., S. 343. 36 EBD., S. 403f.; vgl. auch S. 103f. 37 EBD., S. 426: "Ergo non ob finem secularem aut civilem, sed ob superiorem et Spiritualem religio data est." 38 EBD., S. 506f unter Hinweis auf "Germania": "religionum, praecipue tarnen Pontificiae et Evangelicae libertas: quam Evangelicam Religionem B. Lutherus singulari Dei gratia et altiore spiritu prae coeteris instructus nobis restituit."

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Ernst Feil O b w o h l C l a s e n keinen R i g o r i s m u s v e r t r i t t und den W e g z u m Heil auch

Irrenden, sofern sie guten Glaubens sind, mindestens im christlichen Bereich n i c h t verbaut sieht 3 9 , läßt e r d o c h keine "Neutralitas" zu, wie er im vorletzt e n Kapitel m i t diesem T e r m i n u s darlegt, der sich z u v o r nicht hat finden lassen 4 0 . Diese " N e u t r a l i t a s " beschreibt er als D i s t a n z zu beiden entgegengesetzten P a r t e i e n 4 1 . E r führt d a n n eine m e h r als aufschlußreiche S a m m l u n g v o n Aussagen an, w e l c h e diese P o s i t i o n der N e u t r a l i t ä t "in fide et religione" befürworten42,

in die er s c h o n kritische Interjektionen w i e " H i n c

illae

L a c r y m a e ! " einfügt 4 3 . In diesen Beispielen z u r F ö r d e r u n g der N e u t r a l i t ä t findet sich bereits die Aussage, daß die N e u t r a l e n sich friedlich und m a ß v o l l halten 4 4 , w o r a u s sich schließen läßt, daß diejenigen gegen den F r i e d e n verstoßen, die an i h r e r U b e r z e u g u n g als der allein w a h r e n festhalten. D a n a c h geht Clasen z u r Widerlegung dieser P o s i t i o n über, w o z u er wied e r u m eine S a m m l u n g v o n Z i t a t e n vorlegt, gleich zu A n f a n g mit der Aus-

39 Vgl. die Zusammenfassung des cap. 6 (S. 111); zuvor hatte CLASEN ausgeführt: "Religio potissimum in eo consist«, ut pie et dextre Dei Verbum instituamus vitam, diligenter oremus, sanctique hominis officium abunde impleamus. At nemo erit, qui possit negare, ista omnia non minus rite in una, quam in altera religione praestari posse" (S. 94) Es folgen Zitate von Bernhard und Radulphus Ardens, und dann heißt es: "Quod si ergo deserta una religione ad alteram se conferat, postea secundum virtutem vivat, peccata pro viribus fugiat, frequenter aedes sacras intret, inque iis devota mente et humili spiritu Deum invocet: volumus ne ilium condemnare, et propterea, quod alii sectae, sed Christianae tarnen, se addixerit, aeternis suppliciis dignum judicare? o crudele judicium! Cum nobis de Dei voluntate non constet, an talem, qui e Lutherano verbi gratia Pontificius, aut ex Pontificio Lutheranus factus est, propterea quod sectae nomen mutaverit ob praegnantes causas, velit indesinentibus poenis afficere. In eo igitur excedimus quod cum statim condemnemus, qui nostrarum non est partium, velut verus Dei cuitus, veraque religio certo hominum coetui esset annexa. " 40 EBD., cap. 19 (S. 515-526). 41 EBD., S. 515: "Est autem Neutralis, qui neutri dißidentium parti adbaeret, verum se subtrahit, et neque re neque auxilio ei succurrit"; oder: "quod neque amicus neque inimicus sit utrique litigantium parti, sed media via incedit, et ad neutram partem suo assensu vel dissensu inclinai. " Im folgenden definiert er die "Neutralitas" auch als "cohibitio judicii Intellectus inclinativi ... " oder im weiteren Sinne als "suspensio Intellectuspractici... " (S. 516). 42 So EBD., S. 516, vgl. S. 516ff. 43 EBD., S. 518. - Dieser Ausruf stammt von Terenz und wird schon von Cicero und Horaz zitiert (vgl. GEORG BÜCHMANN: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, bearb. von Winfried Hofmann. 35. Aufl. Berlin 1986, S. 267. 44 D. CLASEN, De Religione (Anm. 16), S. 519f.: "Hi Neutrales sunt pacifici, modesti, mansuetique viri, qui superbiae non indulgent nec litigiis istis scandalous delectantur: ratum namque habent, et media via incedere tutum esse, et disputationes istas interdum ex intempestivo Zelo, interdum ex privatis opinionibus proficisci, et eum sapere, cui cum tali dißidio nihil, negotij est, qvoa fi), si uni parti faveat, ab altera certißime pro haeretico aut schismatico habeatur. " Und er fährt fort: "Egregium si Dijsplacet, consilium!"

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sage, man dürfe in Sachen der "Religion" nicht "neutral" sein 45 . Gott wird diejenigen, wie Clasen eigens sagt, welche "Neutralistae in religione et fide" sein wollen, mit ewigen Strafen belegen, so daß sie Verbannte aus dem himmlischen Vaterland sein werden 46 . Diesbezüglich schließt er also aus, neutral zu sein, da es hier um das Heil, genauer, um das ewige Heil der Menschen geht 47 . Und wenn es in dieser Hinsicht Auseinandersetzungen gibt, kann und darf der Princeps nicht neutral bleiben, da er die "vera religio" verteidigen und fördern muß 48 . Im Schlußkapitel unterstreicht Clasen die Notwendigkeit der "religio" für das Gemeinwesen, die er für so groß ansetzt, daß es ohne "religio" nicht angemessen regiert werden kann: Das Verlangen nach dem ewigen Heil und die Furcht vor ewigen Strafen bewahrt nicht nur vor Sünden gegen das göttliche Gesetz, sondern auch vor zivilen Delikten, der Überschreitung der Gesetze und dem öffentlichen Zwiespalt 49 . Diese Kraft der "religio" haben natürlich die Gesetzgeber gesehen 50 . Der Magistrat soll sich also um die "religio" mühen und folglich den "Atheismus" bekämpfen 51 . Aber die Bedeutung der "religio" darf für das Gemeinwesen doch nicht so absolut angesetzt werden, daß sie ausnahmslos unverzichtbar erscheint. Hiergegen wendet sich Clasen, weil sonst nämlich unvermeidlich ihre politische Instrumentalisierung erfolgt. Die gewisse Relativierung begründet er mit einem Hinweis auf Diagoras und einen anderen Athener, deren Beispiel zeigt, daß ein Gemeinwesen nicht auf "religio aut cultus divinus", sondern auf Gesetze gegründet sein muß 52 . Die Gemeinschaft kann also auch ohne "religio", wenn auch nur, wie Clasen sagt, "difficulter" regiert werden; besser geht es nämlich mit der "religio", selbst wenn ihr Ziel nicht "civilis", sondern höher, ewig ist 53 . Clasen beschließt seine Ausführungen mit einem Plädoyer, die "Religio Christiana" im Gemeinwesen zu tolerieren und, wenn möglich, in sie einzuführen 54 . So sehr nämlich der Magistrat nur dafür Sorge zu tragen hat, daß die Bürger glücklich leben, so darf er doch auf das höchste Ziel hinweisen, 45 Ebd., S. 520 als Zitat von Petrus Brederodius: "Es gebühret keinem waren Christen in GOtt seinen Höchsten Herrn Sache Neutral zu seyn." 46 Ebd., S. 521. 47 Ebd., S. 522, hier S. 522f, wieder mit einer Reihe einschlägiger Zitate. 48 EBD., S. 523. 49 EBD., S. 526. 50 Ebd., S. 527. 51 Ebd., S. 527f. 52 Ebd., S. 529. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 430.

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den wahren Gott aus ganzem Herzen zu ehren, wie dieser sich in seinem Wort geoffenbart hat und dessen Wahrheit unzählig viele Menschen in der Hoffnung auf das selige Leben die Leiden dieser Zeit tragen läßt 55 . Da aber die "religio Christiana" alle anderen übertrifft, soll gerade sie dem Gemeinwesen nicht fehlen, zu dessen Ziel sie zwar nicht "directe", wohl aber in vielerlei Hinsicht beiträgt 56 . Schließlich stellt sie die "vera" dar, was Clasen mit der Offenbarung etwa an Propheten und Apostel, mit ihrem Alter - schließlich ist sie keine "nova", sondern in ihrem Wesen immer dieselbe, so daß sie schon existierte, bevor sie von Christus ihren Namen erhielt - und schließlich mit ihrer immerwährenden Dauer begründet, die ihr verheißen ist57. Insgesamt verfolgt Clasen also einen differenzierten Kurs: Einmal hält er dezidiert daran fest, daß man in der "religio" nicht "neutralis" sein kann und darf und daß die "religio" nicht zu einer unmittelbaren und direkten politischen Verwendung mißbraucht werden darf; für besonders fatal hält er die Annahme, daß die "Politici" sie fingiert haben und selbst überhaupt nicht verwirklichen; entschieden lehnt er ab, daß die "religio" als "ancilla reipublicae et famula Rationis Status" fungiert 58 (d.h. "Staatsraison"). Schließlich hält er an der "religio vera" fest 59 , die an der Offenbarung Gottes hängt 60 . Zum anderen aber vertritt Clasen eine gemäßigte Position, insofern er nicht mehr ein atheistisch regiertes Gemeinwesen für in jedem Falle ablehnenswert hält. Wenn auch die "religio" dem Ziel des Gemeinwesens nicht untergeordnet werden darf und ihm nicht "directe" zu dienen hat, so trägt sie doch zum Gelingen des Lebens im Gemeinwesen nicht wenig bei. Somit kann er dabei bleiben, die "Religio Politica" als Mißbrauch abzulehnen 61 . In seinen Formulierungen bestimmt Clasen nirgends die "religio" als 'innere' oder gar 'innerliche', obwohl er sie von den manifesten Vollzügen in gewisser Weise trennt 62 . Diese vorsichtige Loslösung hindert ihn gleichfalls nicht, wie gesagt, an der Diagnostizierbarkeit der einen wahren "religio" festzuhalten.

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EBD., S. 531. EBD., S. 534. EBD., S. 535f. EBD., S. 422, vgl. auch die besonders deutliche Ablehnung S. 245. Vgl. außer den zuvor genannten Belegen besonders, daß der "Princeps" nicht gegen die "religio vera" handeln darf (EBD., S. 250, vgl. auch S. 104). 60 Vgl. schon EBD., S. 403. 61 Der Terminus 'Religio civilis', der dann später auftaucht, findet sich bei Clasen nicht. 62 Vgl. auch D. CLASEN, De Religione (Anm. 16), S. 224, wo Clasen gleichwohl vor der Änderung der "ceremoniae" nachhaltig warnt.

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Ein wenig überraschen mag, daß Clasen nirgends auf die in der Tradition gängige 'theologia politice' (so Augustinus) Bezug nimmt und warum er diesen Terminus überhaupt nicht verwendet, wenn er seinerzeit sehr wohl bekannt war. Der Rückblick auf Ciasens Darlegungen zeigt, daß seine Charakterisierung der "religio Politica" an Bedeutung keineswegs eingebüßt hat. Seine Abhandlung enthält heute noch höchst aktuelle Argumentationen, so vor allem die Unvereinbarkeit von Toleranz und Annahme einer letzten und letztverbindlichen Wahrheit mit der Folge, daß nur jene friedlich und d.h. tolerant zu sein vermögen, die in Glaubensfragen neutral bleiben und keiner der verschiedenen Uberzeugungen angehören. Man muß sich vor Augen halten, welche Tradition solche Positionen haben. Nicht ungesagt bleiben soll, daß auch in diesem Falle Clasen als Gegner solche Positionen formuliert, ohne hinreichend deutlich zu machen, wer sie denn nun faktisch in dieser Entschiedenheit vertreten hat. Es mag eine deutliche Kennzeichnung einer solchen Position durch den, der sie tatsächlich vertritt, wohl auch besonderen Schwierigkeiten unterliegen, darf sich doch ein Heuchler gerade nicht zu erkennen geben, er brächte sich dann um den Erfolg seiner Heuchelei. Als Resultat bleibt festzuhalten, daß (jede) solche den politischen Bereich intendierende "Religion" zu kritisieren ist, ob sie als "politische Religion" oder als "Zivilreligion" vertreten wird. Beide dürften mindestens vom Ursprung her wiederum nicht identisch sein: Nach Clasen meint "Religio Politica" die Instrumentalisierung der "Religio" im Dienste des Princeps oder des Magistrats. Demgegenüber dürfte die mindestens bei Jean-Jacques Rousseau formulierte "religion civile" 63 die "bürgerliche Religion" sein, die die Mitglieder eines Gemeinwesens von sich aus im politischen und gesellschaftlichen Bereich üben. Auch die "Zivilreligion" erscheint nicht akzeptabel, was nicht zuletzt für ihre Funktionalisierung in der Systemtheorie gilt 64 . Denn diese stellt gleichfalls nur die bis ins äußerste vorangetriebene Formulierung einer Politisierung, vorsichtiger: einer Vergesellschaftung der 63 JEAN-JACQUES ROUSSEAU: DU Contrat Social. Edition Comprenant avec le texte définitif. Les Versions primitives de l'Ouvrage collationnées ... par Edmond Dreyfus-Brisac. Paris 1896, IV, 8: De la Religion civile; in diesem Abschnitt kommt der Terminus "Religion civile" noch einmal im Text vor (S. 234). 64 Vgl. dazu nach wie vor NKLAS LUHMANN: Funktion der Religion ( « Theorie). Frankfurt am Main 1977; vgl. dazu MICHAEL J. RAINER: Religion und Politik. Fundamentaltheologischer Blick auf aktuelle deutschsprachige Theoriekontexte unter besonderer Berücksichtigung der Luhmannschen Systemtheorie (Politikwissenschaft. 11). Münster 1991; vgl. auch GERHARD WAGNER: Gesellschaftstheorie als politische Theologie? Zur Kritik und Überwindung der Theorien normativer Integration (Soziologische Schriften. 60). Berlin 1993; vgl. dazu unten Anm. 110.

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"Religion" dar, für die sich die Frage erübrigt, ob sie letztlich fingiert ist oder nicht. Von hierher bleibt auch zu kritisieren, wenn zu Beginn der erneuten Diskussion um die "politische Theologie" sehr wohl Kritik an der "politischen Religion" geübt65, aber "das Christentum positiv und negativ 'die Religion des Kreuzes' genannt" wurde, wie zustimmend vermerkt wird 66 . Denn wenn "Religion des Kreuzes", dann doch auch wohl '(politische) Religion des Kreuzes'! Wie anders sollte sich die "politische Kreuzestheologie" 67 verstehen lassen, wenn sie mit dieser ebenso zusammenhängt wie die "politische Religion und ihre Formulierung in politischer Theologie" 68 ? Mit Clasen gilt es folglich festzuhalten, daß die "Religio" niemals einen direkten bzw. letzten politischen Zweck haben darf, so sehr sie politisch nicht folgenlos bleiben muß. Selbstverständlich vertritt Clasen noch keineswegs jene Verinnerlichung der "Religion", wie sie im Gefolge der liberalen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts ggfs. auch mit einer Trennung in die Zwei Reiche kompatibel erschien, die die politische Unschuld der rein innerlichen "Religion" nun gleichfalls nicht gewährleisten konnte. Festzuhalten bleibt aber nicht zuletzt auch, daß "politische Theologie" und "Religio Politica" bzw. "civil religion" keineswegs identisch sind. Dies zeigt vor allen anderen Argumenten bereits die stoische Aufteilung der Theologie in jene drei Arten, zu denen die "politische Theologie" gehört. Für den Römer erscheint aber eine Dreiteilung der "Religio", eine 'religio tripertita' undenkbar. Erst neuzeitlich wurde dann eine "politische" bzw. "bürgerliche Religion" und eine von ihr unterschiedene "natürliche Religion" formuliert.

65 J. MOLTMANN, Kritik (Anm. 8), bes. S. 24-27. - Später, besonders auf dem Katholikentag 1978, hat sich Metz seinerseits kritisch zur "bürgerlichen Religion" geäußert; vgl. JOHANN BAPTIST METZ: Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums (Forum politische Theologie. 1). München und Mainz 1980, bes. S. 29-50: Christen und Juden nach Auschwitz. Auch eine Betrachtung über das Ende bürgerlicher Religion (Rede auf dem o.g. Katholikentag); sowie S. 94-110: Christentum und Politik - jenseits bürgerlicher Religion (1980). - Vgl. auch PETER EICHER: Bürgerliche Religion. Eine theologische Kritik. München 1983. 66 So J. MOLTMANN, Kritik (Anm. 8), S. 43f., ohne einen Autor zu nennen, den er zitiert hätte. 67 So in den Überschriften (EBD., S. 35 und 45). 68 EBD., S. 20. Auch Moltmann ist sich also dieser Differenzierung durchaus bewußt.

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2. Systematische Bemerkungen zur begriffsgeschichtlichen Kritik der "politischen Theologie" Die Darstellung einer frühen Kritik der "politischen Religion" bestätigt zunächst einmal die Differenz gegenüber der "politischen Theologie". Bezieht sich erstere nämlich unmittelbar auf die Ebene der Praxis, so letztere auf die Ebene der Theorie (ggfs. der Ideologie). Als Theoriebegriff wurde sie denn auch sowohl 1922 wie 1966 ins Gespräch gebracht. Wenn ich im folgenden, getrennt nach den beiden (feindlichen) Lagern, einige Aspekte notiere, so nehme ich damit ein Vorhaben wieder auf, mit dem ich mich vor 25 Jahren schon einmal zwischen die Fronten begeben habe69, was nicht von allen Seiten gleichermaßen bemerkt worden ist. Jedenfalls laufen, das sei bereits hier vermerkt, die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen beide Male, sowohl zur "politischen Religion" wie zur "politischen Theologie", auf eine fundamentale Problematisierung beider hinaus. Weiterführung der Diskussion um Carl Schmitt und Erik Peterson Die Faszination, die Carl Schmitt zu Lebzeiten (1888-1985) ausüben konnte, hat sich über seinen Tod hinaus erhalten. An Eindeutigkeit hat seine Konzeption dabei nicht gewonnen 70 . Mich hat immer wieder gewundert, ohne dafür eine plausible Erklärung gefunden zu haben, daß Autoren höchst differenter Positionen in seinen Bann gerieten, die Begegnung mit ihm suchten und ihm ggfs. ihre Reverenz erwiesen 71 .

69 ERNST FEIL: Von der "politischen Theologie" zur "Theologie der Revolution"? In: DISKUSSION ZUR "THEOLOGIE DER REVOLUTION" ( A n m . 9), S. 110-132. - E s w a r (EBD., S. 126 A n m .

51) terminologisch ein Fehler, von HANS ZWIEFELHOFER aus dessen kurzem Beitrag zur "Ziviltheologie" (In: LThK 2. Aufl. Bd. X, Sp. 1392) auch im Hinblick auf Eric Voegelin diesen Begriff zu übernehmen; die diesbezüglich besonders einschlägige Arbeit über die "politischen Religionen" (vgl. oben Anm. 6) fehlt in der Literaturangabe Zwiefelhofers. 70 Warum dem so ist, lassen mehr als anderes seine kürzlich erschienenen persönlichen Aufzeichnungen erkennen: CARL SCHMITT: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. von Eberhard von Medem. Berlin 1991; vgl. dazu die Ausführungen von HEINRICH MEIER: Freund Jünger als Feind. Uber Carl Schmitts verblüffende Nachlaß-Bekenntnisse. In: Der Spiegel (1991) Nr. 31, Sp. 168-172; vgl. auch die Korrektur in Nr. 32, Sp. 13. 71 H. MEIER hat ebd. zu Recht auf die Schüler von Joachim Ritter hingewiesen, sodann auf Alexandre Kojeve und, was wohl am meisten überrascht, auf Jacob Taubes (1923-1987); vgl. dazu den von letzterem hg. Sammelband RELIGIONSTHEORIE UND POLITISCHE THEOLOGIE (oben Anm. 4). - Die literarischen Spuren dieser Reverenz vgl. in der Festschrift für Carl Schmitt: EPIRRHOSIS, hg. von Hans Barion, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ernst Forsthoff, Werner Weber (FS Carl Schmitt zum 80. Geburtstag). Berlin 1968.

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Damals wie heute kann ich mich nur auf den zwar signifikanten, aber auch begrenzten Aspekt der "politischen Theologie" bei Schmitt beziehen. Verständlich und berechtigt ist, daß er meinen seinerzeitigen Beitrag als dezidierte Kritik aufgefaßt und folglich seinerseits heftig kritisiert hat. Denn es trifft zu, daß ich seiner Konzeption sehr kritisch gegenübergestanden bin, soweit sie damals von mir berücksichtigt werden konnte 72 , und weiterhin gegenüberstehe. Wie sehr er sich getroffen gefühlt hat, läßt seine recht umfangreiche Stellungnahme zu meinem Beitrag erkennen 73 , auf die zu antworten nicht erforderlich ist. Es kann der Hinweis genügen, daß Schmitt wie auch sonst in mancherlei Facetten sich der Kunst des Hinein- wie Herauslesens befleißigt hat. Ergänzen möchte ich jedoch meine damalige These zu Schmitt in zwei Punkten: Einmal konnte inzwischen die Annahme formuliert werden, daß Schmitt seine "politische Theologie" in Adaption von und als Angriff auf Michail Bakunin und folglich nicht in einer konservativen, restaurativen Tradition entwickelt hat 74 . So bedaure ich, daß ich damals einem mir zugegangenen Hinweis auf diese Arbeit von Bakunin aus Zeitgründen nicht nachgegangen bin und Bakunin "terminologisch und sachlich" nicht mehr berücksichtigt habe 75 . Die Frage jedoch, ob sich die "politische Theologie" 72 Sie beschränkte sich auf C. SCHMITT, Politische Theologie, 2. Aufl. 1934 (Anm. 5). 7 3 Vgl. C . SCHMITT, Politische Theologie II (Anm. 5), den Abschnitt 3 : Die gegenwärtige Aktualität der Erledigungs-Legende (Hans Maier - Ernst Feil - Ernst Topitsch), S. 3 1 - 4 3 , hier S. 3 2 - 3 8 . Auf mindestens eine Feststellung von Schmitt weiß ich allerdings keine Antwort, nämlich darauf, daß ich "in eine bedenkliche Nachbarschaft zu fortschrittlichen Theologen des 19. Jahrhunderts wie David Friedrich Strauss" gerate (S. 34). - Zur Auseinandersetzung mit Carl Schmitts "politischer Theologie" vgl. etwa KLAUS-MICHAEL KoDALLE: Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts "Politische Theologie". Stuttgart 1973; vgl. auch die ihrerseits von einer extremen Position verfaßte und vielfach polemische Arbeit von RICHARD FABER: Die Verkündigung Vergils. Reich - Kirche - Staat. Zur Kritik der "Politischen Theologie" (Altertumswissenschaftliche Texte und Studien. 4). Hildesheim und New York 1 9 7 5 ; vgl. auch ULRICH R U H : Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte (FThSt. 119). Freiburg 1 9 8 0 , 2 7 9 - 2 9 9 . - Zur Begrifflichkeit vgl. neuerdings HENNING OTTMANN: Politische Theologie als Begriffsgeschichte. Oder: Wie man die politischen Begriffe der Neuzeit politisch-theologisch erklären kann. In: Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, hg. von Volker Gerhardt. Stuttgart 1 9 9 0 , S. 1 6 9 - 1 8 8 . 74 Vgl. H. MEIER, Was ist politische Theologie? (Anm. 1), S.lOf., mit Verweis auf Michail Bakunin, La Theologie politique de Mazzini. Zum Verständnis von Schmitt führt gleichfalls weiter HEINRICH MEIER: Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden. Stuttgart 1988.

75 E. FEIL, Von der "politischen Theologie" zur "Theologie der Revolution"? (Anm. 69), S. 125 Anm. 49.

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hiermit auch in einer linken Version nachweisen läßt, bedarf einer Antwort auf zwei Ebenen, nämlich auf der von Bakunin zu Mazzini und der von Schmitt zu Bakunin: Bakunin fühlte sich Giuseppe Mazzini, dem radikalen Förderer einer republikanischen Einigung Italiens, eine ganze Zeit lang in wichtigen Anliegen eng verbunden und war von ihm auch gefördert worden; nach dem Scheitern des Aufstands der Kommune in Paris 1871 hat er ihn jedoch unter dem Stichwort "Théologie politique" aufs heftigste angegriffen, zugleich aber dessen Intentionen für die eigene Linie zu reklamieren gesucht. Dabei sprach er dann freilich nicht für sich selbst, sondern nur für Mazzini von "théologie politique". Diese stellt vom Standpunkt Bakunins aus gesehen keine linke, sondern eine (zu) rechte Orientierung dar. Wenn nun Schmitt sich auf Bakunin bezog und dessen radikaler kommunistischer Position das Wasser abzugraben suchte, so bleibt verborgen, daß der Terminus "politische Theologie" als Bezeichnung der Linie von Mazzini diente. Bakunin selbst verwendet in seiner Schrift gegen Mazzini diesen Terminus nur im Titel 76 . Lediglich in ergänzenden Materialien findet sich die Dreiteilung einer "théologie patriarcale", "juridique" und "politique"77. Ob Schmitt tatsächlich den Terminus von Bakunin her übernommen hat und dessen Position theologisch zu besetzen suchte, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit eruieren. Richtig ist, daß Schmitt in der "Politischen Theologie" von 1922 verschiedentlich auf Bakunin zu sprechen gekommen ist, den er als "atheistischen Anarchisten" 78 und somit als diametralen Gegensatz zu 76

77

MICHEL BAKOUNINE: La Théologie Politique de Mazzini et 1' Internationale, 1871. In: Michel Bakounine et l'Italie 1871-1872, pubi, par Arthur Lehning. I: La Polémique avec Mazzini. Écrits et Matériaux ( Archives Bakounine. I). Leiden 1961, S. 19-77. Terminologisch aufschlußreicher sind die beigefügten Materialien von 1871, in denen verschiedentlich von der "théologie Mazzinienne" die Rede ist (S. 111, 144), auch findet sich "religion républicaine" (S. 163) oder öfter "nouvelle religion", so im eigentlichen Text (S. 28 u.ö. sowie S. 254 u.ö.). Die Heftigkeit dieser Auseinandersetzung erklärt sich wohl durch das Scheitern des Aufstands der Kommune von Paris März bis Mai 1871, der von Marx als sozialistischer Aufstand umgedeutet wurde und den auch Bakunin für die Internationale in Anspruch nimmt.

MICHEL BAKOUNINE: Fragments et Variantes. In: DERS., La Théologie Politique (Anm. 76), S. 164: "Quelles ont été les bases de la Civilisation latine? 1) la théologie patriarcale fondée sur le culte de l'autorité absolue, implacable et impitoyable du mari et du père, 2) la théologie juridique fondée sur le culte mystique des privilèges de la propriété essentiellement aristocratique, et 3) la théologie politique fondée sur le culte de la force brutale organisée par l'État. Mais dans ces trois principes qu'y a-t-il d'humain? J'y vois au contraire la négation la plus complète de tout ce que nous entendons par le mot humanité." 78 C. SCHMITT, Politische Theologie (Anm. 72), S.72; selbst wenn Bakunin hier nicht namentlich genannt ist, so ist er doch zweifellos den "atheistischen Anarchisten" zugerechnet; EBD., S. 64 hat Schmitt ihn als denjenigen bezeichnet, der den von Pierre-Joseph Proudhon aufgenommenen Kampf gegen Gott "mit einer skythischen Wucht fortgesetzt" hat.

26

Ernst Feil

Donoso Cortés charakterisiert hat. Am Schluß dieser Abhandlung bezeichnet er Bakunin paradox als "Theologe(n) des Anti-Theologischen" und als "Diktator einer Anti-Diktatur" 79 . Exakt könnte von hierher Schmitt Bakunin nur als 'anti-politischen Anti-Theologen' gesehen haben, da dieser beides, Gott und Staat, als die untrennbar miteinander verbundenen Unterdrückungsmechanismen des Menschen bekämpfte, die beide destruiert werden müssen, damit der Mensch Mensch sein kann und ist80. Damit komme ich zum zweiten Punkt: Wenn die These zutrifft, für die einiges spricht, daß Schmitt gern anonym mit Kontrahenten oder Gegnern die Waffen gekreuzt hat 81 , so legt sich die Annahme nahe, daß seine späte "Politische Theologie II" nicht oder mindestens nicht in erster Linie der Erledigung Erik Petersons und seiner "Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie" sowie deren Nacherzählern diente, sondern doch wohl eine Auseinandersetzung mit der neuen "politischen Theologie" im Schilde führte. Immerhin hat Schmitt anläßlich seiner Teilnahme an den Ebracher Studienwochen, die Ernst Forsthoff arrangiert hat 82 , Metz als damaligen Ebracher Kaplan m.W. im Gottesdienst kennengelernt. Wie aber Metz sich nicht auf Schmitt bezogen hat, so erwähnt Schmitt seinerseits Metz nicht direkt, sondern nur im Rahmen seiner Antwort auf die Peterson folgenden Erzähler der Petersonschen Legende83. Es sprechen also gute Gründe dafür, daß Schmitts Wortmeldung 1970 dem vorrangigen Ziel diente, das von ihm 1922 aufgenommene Thema der "politischen Theologie" seinerseits weiterhin besetzt zu halten, diesmal, wie auch nicht selten, ohne Reminiszenz an die 1934 erfolgte zweite Auflage. Wenn er in seiner späten Publikation konstatiert, es handle sich nur um "Aussagen eines Juristen über eine rechtstheoretisch und rechtspraktisch sich aufdrängende, systematische 79

Die abschließenden Passagen bei Schmitt (EBD., S. 81-84) kontrastieren wesentlich Donoso Cortes und Bakunin. Die Schlußbemerkung gilt letzterem: "Jede Prätention einer Entscheidung m u ß für den Anarchisten böse sein, weil das Richtige sich von selbst ergibt, wenn man die Immanenz des Lebens nicht mit solchen Prätentionen stört. Freilich, diese radikale Antithese zwingt ihn, sich selbst entschieden gegen die Dezision zu entscheiden; und bei dem größten Anarchisten des 19. Jahrhunderts, Bakunin, ergibt sich die seltsame Paradoxie, daß er theoretisch der Theologe des Anti-Theologischen und in der Praxis der Diktator einer Anti-Diktatur werden mußte" (S. 84).

80 Vgl. dazu MICHAIL BAKUNIN: Gott und der Staat. In: DERS.: Gott und der Staat und andere Schriften, hg. von Susanne Hillmann (RK. 240-242). Reinbek 1969, 1971, bes. S. 69ff. mit dem Fazit: " Wenn Gott wirklich existierte, müßte man ihn beseitigen" (S. 73). 81 So H . MEIER, Was ist politische Theologie" (Anm. 2). 82 Vgl. die Widmung in: SÄKULARISATION UND UTOPIE. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Mainz 1967, nach der diese Ferienseminare seit 1957 stattfanden. 83 Vgl. C. SCHMITT, Politische Theologie II, S. 31f., 37; nur auf J. Moltmann nimmt er kurz Bezug (S. 117 mit A n m . 3).

"Politische Religion" und "Politische Theologie"

27

Struktur-Verwandtschaft von theologischen und juristischen Begriffen"84, so klingt dies alles in allem doch wohl viel zu harmlos. Somit bleibt abschließend noch die Frage, wie Carl Schmitt angesichts seiner staatsrechtlichen und d.h. politischen Konzeption der 30er Jahre später so vehement gegen die "Tyrannei der Werte" angehen konnte85. Dubios erscheint schon seine - falsche - These, der Terminus "Wert" gehöre wesentlich in die Ökonomie, wie sich begriffsgeschichtlich erklären lasse, und eigne sich folglich nicht für andere Bereiche86. Doch die systematische Ablehnung letzter und letztverbindlicher Werte wegen der damit unausweichlichen Tyrannei klingt im Munde Schmitts wie blanker Zynismus, als ob er um 1933 weder Werte noch Tyrannei und d.h. als ob er nicht beides - genauer: das eine um des anderen willen - vertreten hätte. Nachdem Carl Schmitt ständig in der Diskussion geblieben ist und weiterhin bleiben dürfte 87 , findet inzwischen auch Erik Peterson wieder - eine wohlverdiente und gebührende - Beachtung. Nach meist länger zurückliegenden Studien88 erschien nun eine umfangreiche Arbeit, die wichtige Aufschlüsse bringt89. Danach hat Peterson seine Quellen nicht so verkannt und 84 EBD., S. 101 mit Anm. 1. 85

CARL SCHMITT/EBERHARD JÜNGEL/SEPP SCHELZ: D i e T y r a n n e i d e r W e r t e , hg. v o n S e p p

Schelz. Hamburg 1979, hier der Text von CARL SCHMITT: Die Tyrannei der Werte, S. 11-43 (mit einem Abdruck eines Privatdruckes zum Thema von 1959, S. 28-41), zuvor in: SÄKULARISATION UND UTOPIE (Anm. 82), S. 38-62. - Auf diesen Text geht C. SCHMITT kurz ein in: Politische Theologie II (Anm. 72), S. 114f. - Unklar und unverständlich bleibt mir, wie E. JÜNGEL sich in diese Nachbarschaft begeben und auf fundamentale Kritik an dieser These Schmitts verzichten konnte. 86 C. SCHMITT, Tyrannei (Anm. 85), S. 14. 87 Vgl. die heftige, ihrerseits wieder umstrittene Kritik von BERND RÜTHERS: Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung? 2. Aufl. München 1990. Die jüngst erschiene Arbeit von HEINRICH MEIER: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie. Stuttgart 1994, konnte noch nicht berücksichtigt werden. Vgl. dazu bereits die oben Anm. 2 genannte Studie von H . MEIER.

88 Monotheismus als politisches Problem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theol o g i e , hg. v o n ALFRED SCHINDLER. G ü t e r s l o h 1978; v g l . a u c h ALFRED SCHINDLER: E i n f ü h -

rende Bemerkungen zu Frithard Scholz, Die Theologie Carl Schmitts. In: RELIGIONSTHEORIE UND POLITISCHE THEOLOGIE (Anm. 4), S. 153-173; der Text von Scholz S. 159-173, kritisch zu Peterson bes. S. 155f., 159. Vgl. auch H. CANCK, Augustin (Anm. 4), S. 136-152, S. 140 mit Anm. 30, S. 151). Vgl. ferner HANS MAIER: Eric Peterson und das Problem der politischen Theologie (1991). In: DERS.: Nachdenken über das Christentum. München 1992, S. 189-204. 89 Vgl. auch den gründlichen und differenzierten Abschnitt zu Carl Schmitt bei BARBARA NICHTWEIß: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk. Freiburg 1992, S. 722-830, bes. S. 738ff., 779ff., 790ff. und schließlich S. 829 mit Anm. 473.

28

Ernst Feil

im übrigen sehr viel vorsichtiger formuliert, als es seine Kritiker gelten lassen wollten 90 . Es erstaunt, daß er seine Freundschaft zu Schmitt nicht sofort abgebrochen hat, so wenig es verwundert, daß er 1935 eine solche Kritik an der "politischen Theologie" geübt hat. Als Fazit bleibt hier nur zu verzeichnen, daß Peterson nicht nur politisch richtig gelegen hat, sondern allem Anschein nach doch auch philologisch nicht mehr so schlecht dasteht. Es ergibt sich die Frage, warum er mit solcher Vehemenz attackiert worden ist. Rückfragen zur "politischen" als einer "gesellschaftskritischen Theologie" Daß meine begriffsgeschichtliche Klärung der "politischen Theologie" eine systematische Kritik an Carl Schmitts Konzeption bedeutete, war von allem Anfang an klar. Daß sie aber auch für die sich als gesellschaftskritisch verstehende "politische Theologie" eine grundsätzliche Anfrage darstellte, wurde gerade auf Seiten ihrer Kritiker bis heute nicht allenthalben gesehen. So trifft die Feststellung, daß "die Petersonsche Kritik an der politischen Theologie nur für die 'restaurative politische Theologie 1 gelten" soll 91 , nicht meine These. Denn abschließend zur Begriffsgeschichte habe ich nicht von jeglicher "politischen Theologie", sondern nur von derjenigen gesprochen, "wie J.B. Metz sie konzipiert", und zugleich, wie ich meine, hinlänglich klargestellt, daß ich diesen Terminus überhaupt nicht für sonderlich glücklich halte 92 . Diese Einschätzung habe ich zuvor in einer Diskussion auf einer einschlägigen Tagung noch deutlicher zum Ausdruck gebracht 93 . Denn nur zu leicht wird die "politische" zu einer 'politisierenden Theologie', die eben nicht Sache der Theologie ist. Als solche ist die "politische Theologie" wohl bei nicht wenigen anderen Autoren gedacht und vor allem auch in aller Regel verstanden worden. Dem hat sich Metz zu entziehen versucht, was 90 91

Vgl. außer A . SCHINDLER und F. SCHOLZ besonders auch H . CANCK (vgl. A n m . 88). H . MAIER, Peterson (Anm. 88), S. 197. - Die Aussage, daß RUDOLF WETH nun "in einem unzweideutig zustimmenden Sinne" an Peterson anknüpft (ebd.), bleibt mir unklar; zu WETHS Position vgl. seinen Aufsatz: "Theologie der Revolution" im Horizont v o n Rechtfert i g u n g u n d R e i c h . In: DISKUSSION ZUR "THEOLOGIE DER REVOLUTION" ( A n m . 9), S. 82-109.

Z u unseren sachlich differenten Positionen, durch die eine einvernehmliche Edition nicht behindert wurde, vgl. die Schlußbemerkung der Einleitung dieses Bandes. 92

Vgl. E. FEIL, V o n der "politischen Theologie" zur "Theologie der Revolution"? (Anm. 69), S. 126 mit A n m . 52.

93

Vgl. dazu meinen Gesprächsbeitrag in einer Diskussion im Rahmen der Essener Gespräche im Anschluß an Referate v o n Hans Maier und Karl Lehmann, 10. bis 11.3.1969, dokumentiert in: ESSENER GESPRÄCHE ZUM THEMA STAAT UND KIRCHE (hg. v o n J o s e p h K r a u t s c h e i d t

und Heiner Marre), 4. Münster 1970, S. 168-172; eine differenzierte und doch wohl grundsätzlich zustimmende Aussage von HANS MAIER hierzu findet sich EBD., S. 172-175.

"Politische Religion" und "Politische Theologie"

29

sich w o h l n i c h t z u l e t z t darin zeigt, daß er seinerzeit z u r "Theologie der Rev o l u t i o n " k e i n e n Beitrag geliefert hat 9 4 . S o m i t läßt sich das Ergebnis der begriffsgeschichtlichen U n t e r s u c h u n g e n auch z u r "politischen Theologie" v o n A n f a n g an n u r so verstehen, daß jedem, d e r diesen T e r m i n u s v e r w e n d e t , eine genaue Positionsbestimmung nicht erspart bleibt, w i l l er sich nicht zwangsläufig M i ß v e r s t ä n d n i s s e n aussetzen. Besser w ä r e gewesen, w i e ich hier w i e d e r h o l e n m ö c h t e , statt dessen v o n "gesellschaftskritischer Theologie" zu sprechen, da diese Bestimmung immer

einen

Tenor

kritischer

Reflexion

enthält 9 5 ,

während

etwa

die

"politische Theologie" C a r l S c h m i t t s nach 1 9 3 3 eben nicht m e h r gesellschaftskritisch w a r , es sei denn, gegen Regimegegner. Es handelt sich s o m i t nicht u m ein M i ß v e r s t ä n d n i s , w e n n m e i n e These i m R a h m e n dieser seit 1 9 6 6 neu

erörterten

"politischen Theologie"

im

Grunde

keine

Zustimmung

f a n d 9 6 . Lediglich die M a t e r i a l i e n f i n d e n sich auch d o r t 9 7 .

94 J. B. METZ, "Politische Theologie" in der Diskussion (Anm. 8), S. 280f. 95 J. B. METZ hat (ebd., S. 278 Anm. 29), die Beibehaltung seiner Terminologie begründet. Aus der Fülle der Beiträge zur "politischen Theologie" vgl. außer den oben Anm. 8 genannten Arbeiten KARL LEHMANN: Wandlungen der neuen "politischen Theologie". In: Internationale katholische Zeitschrift 2, 1973, S. 385-399; WOLFGANG HUBER: Kirche und Öffentlichkeit (FBESG. 28). München 1973, 2. Aufl. 1991, S. 473-489: Politische Theologie; JOACHIM STAEDTKE: Möglichkeiten und Grenzen politischer Theologie. Zürich 1974. 96 Wenn BERND WACKER: Revolution und Offenbarung. Das Spätwerk (1824-1848) von Joseph Görres. Eine politische Theologie (Tübinger theologische Studien. 34). Mainz 1990, S. 10, mich "dem Kreis um Metz" zurechnet, bedarf dies wohl der Präzisierung bzw. der Korrektur. - Vgl. die systematische Differenz zwischen meiner Arbeit über "Die Theologie Dietrich B o n h o e f f e r s " ( M ü n c h e n 1971, 4. A u f l . 1991) u n d d e r v o n T E M O RAINER PETERS: D i e Prä-

senz des Politischen in der Theologie Dietrich Bonhoeffers (München 1976). - Es hat also seine Logik, daß ich für den Sammelband: MYSTIK UND POLITIK. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, hg. von Edward Schillebeeckx (FS J.B. Metz). Mainz 1988, nicht um einen Beitrag gefragt wurde. - Daß ich freilich nicht in die Phalanx der Gegner von Metz gehöre und erst recht nicht die teils verletzenden Angriffe gegen ihn unterstützen kann und will (vgl. dazu nur JOHANN BAPTIST METZ: In eigener Sache. In: DERS., Jenseits bürgerlicher Religion [Anm. 65], S. 141-145), möchte ich hier klarstellen. 97 Identische Materialien finden sich bei J. MOLTMANN, Kritik (Anm. 8) - nach der Zitation meines Aufsatzes S. 20 Anm. 25 - S. 21 mit Anm. 27 (Panaitios und M. Pohlenz), S. 28 (N. Machiavelli und Th. Hobbes mitsamt Zitaten sowie J.-J. Rousseau) (ohne auf meinen Aufsatz zu verweisen); diese Materialien wieder bei JÜRGEN MOLTMANN: Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie. München 1972, S. 67, 298, 300 (ohne Nennung meines Aufsatzes). - Vgl. ebenso NORBERT GREINACHER: Die Kirche und die Revolution. In: Kirche in der Zeit (FS zur Bischofsweihe von Prof. Dr. Walter Kasper). München 1989, S. 245-262 (nach der Zitation meines Aufsatzes S. 246, 247), S. 248 (Tertullian), S. 249 (Machiavelli und Hobbes mitsamt Zitaten) (ohne Verweis auf meinen Aufsatz). - Vgl. schließlich FRANCISFIORENZA: Religion und Politik. In: Christlicher Glaube

30

Ernst Feil M e i n e n damaligen begriffsgeschichtlichen Beitrag m ö c h t e ich ergänzen

mit

zwei

systematischen,

wenn

auch

keineswegs

neuen

Anfragen

zur

"politischen Theologie", w i e sie seit 1 9 6 6 v e r t r e t e n w o r d e n ist. D i e erste bezieht sich auf i h r e grundlegende F u n d i e r u n g in einer A n t i t h e s e z w i s c h e n griechischem

Seinsdenken

und

jüdisch-dynamischem

Geschichtsdenken,

z w i s c h e n d e m "Gott des Parmenides" u n d d e m "Gott des Exodus" 9 8 . A u c h d u r c h die stete W i e d e r h o l u n g w i r d diese A n t i t h e s e nicht richtiger. Diesbezüglich k o n n t e ich in e i n e m k l e i n e n p r i v a t e n Gesprächskreis m i t Ernst Bloch w ä h r e n d eines Besuches in M ü n s t e r in der z w e i t e n H ä l f t e der sechziger J a h r e eine besondere E r f a h r u n g machen: A u f m e i n e A n f r a g e h i n f o r m u lierte Bloch zunächst eine heftige A t t a c k e gegen die G r i e c h e n , u m dann i m Hinausgehen zu fragen, o b ich gemerkt hätte, daß er z u r ü c k g e w i c h e n sei; diese Frage h i n d e r t e i h n d a n n nicht, abends i m g r o ß e n ö f f e n t l i c h e n V o r t r a g v o r einer u n ü b e r s e h b a r e n Schar v o n meist studentischen Z u h ö r e r n seine A t t a c k e zu w i e d e r h o l e n " . I m m e r h i n bestätigte er i n t e r n die V e r m u t u n g , daß

in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bibliothek, hg. von Franz Böckle/Franz-Xaver Kaufmann/Karl Rahner/Bernhard Welte. 27). Freiburg 1982, S. 59-101 (die folgenden Belege nennen zuerst meinen Aufsatz und nach einem Schrägstrich den von Fiorenza): Varro (S. 114/65), Panaitios (S. 114/64), Scaevola (S. 114/64), Augustinus, bes. De civitate Dei, VI, 12 (S. 114 mit Anm. 13/97 Anm. 1), De civitate Dei VI, 6 (S. 116 Anm. 18/68), Tertullian, Ad nationes II 1 (S. 114 Anm. 13/65), Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 94 (S. 114 Anm. 13/70); J. Bodin, H. Grotius (S. 118/71; der hierzu genannte Beleg bei FlORENZA, S.98 Anm. 3 mit Hinweis auf Apg 6,21 [muß richtig Apg 16,21 heißen; vgl. in meinem Beitrag S.120 Anm. 24]; der in der gleichen Anmerkung von FlORENZA genannte Beleg "De Religione Gentilium" bezieht sich nicht auf Grotius, sondern auf E. Herbert von Cherbury; vgl. in meinem Aufsatz S. 120 Anm. 25), E. Herbert von Cherbury, P. Bayle, G. Vico (S. 120/71), M. Diderot und J.-L. d'Alembert (S. 121/71), J.-J. Rousseau (S. 123/71-74), J. de Maistre, L.G.A. de Bonald, J. Donoso Cortés (S. 124/74), C.L. Haller (S. 124 Anm. 46/74) und schließlich F.v. Baader (S. 124 Anm. 46/98 Anm. 8 mit gleichen Nachweisen und dem Zitat Baaders "Tout comme chez nous!"). Hinzukommt gemeinsame Sekundärliteratur. Somit besteht die erste Hälfte des Aufsatzes von FlORENZA, von geringen Änderungen abgesehen, aus meinen Materialien, ohne daß darauf verwiesen wird; wenigstens anonym sind sie somit der neuen "politischen Theologie" zugute gekommen. 98 So JÜRGEN MOLTMANN: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie (BEvTh. 38). München 1964, 4. Aufl. 1965, S. 74, vgl. S. 23-26, 34. - Auf seine Weise hat auch JOHANN BAPTIST METZ: Christliche Anthropozentrik. Uber die Denkform des Thomas von Aquin. München 1962, S. 23, auf der Folie der "'kosmozentrischen' Denkform der Griechen" eine "bei Thomas unter der kategorialen Überlagerung des griechischen Denkens epochal aufbrechende 'anthropozentrische' Denkform" vertreten. 99 Daß Ernst Bloch bis zum Schluß dieser Antithese treu blieb, zeigt seine zustimmende Zitation von J. Moltmanns "Theologie der Hoffnung"; vgl. ERNST BLOCH: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (Gesamtausgabe. 14). Frankfurt am

"Politische Religion" und "Politische Theologie"

31

er sich genau genug auch hinsichtlich der Griechen auskannte, um die prinzipielle Unhaltbarkeit dieser nicht nur holzschnittartigen, sondern schlagwortartigen und so Differenzierungen erschlagenden Antithese zuzugeben. Mitbetroffen von ihr ist also der geschichtsphilosophische Ansatz der "politischen Theologie", der gegenwärtig vielleicht wieder in eine kritische Phase getreten ist. Folglich darf man gespannt sein, ob Odo Marquards These sich erneut bestätigt, daß immer dann, wenn eine Geschichtsphilosophie an ihre Grenzen gestoßen ist, sich anthropologische Konzepte zu Wort melden. Hiermit zusammenhängend ergibt sich die zweite fundamentale Anfrage, warum sich diese "politische Theologie", wenn auch konsequent zur Option für ein - fiktives - biblisches Geschichtsdenken, in solchem Maße nicht nur der "marxistischen Herausforderung" zu stellen sucht 100 , sondern sich doch auch von ihr inspirieren läßt bzw. ihr folgen mag. Vielleicht war die Zeit noch zu kurz, um auf den Untergang der (real existierenden) Sozialismen bzw. Marxismen zu reagieren. Auch läßt sich verstehen, daß sich zunächst aus einem eher linken Spektrum eine entschiedene Kritik an Jürgen Habermas zu W o r t gemeldet hat, um die Enttäuschung darüber zum Ausdruck zu bringen, daß dieser sich eher unversehens und stillschweigend von bisherigen Positionen, so die Kritik, zu entfernen begonnen hat 101 . Nicht von unge-

Main 1968, S. 78. - Zur Kritik an dieser Antithese, wie sie vor allem THORLEIF BOMAN: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen. 4. Aufl. Göttingen 1965, noch einmal entfaltet hat, vgl. die nun auch schon lange zurückliegenden Ausführungen von JAMES BARR: Bibelexegese und moderne Semantik. Theologische und linguistische Methode in der Bibel Wissenschaft. München 1965, S. 15-27. - Vgl. neuerdings CARL-FRIEDRICH GEYER: Religion und Diskurs. Die Hellenisierung des Christentums aus der Perspektive der Religionsphilosophie. Stuttgart 1990. Im Zusammenhang mit der "politischen Theologie" hat sich diesbezüglich überraschend heftig ablehnend geäußert HENRY DEKU: Die gute alte Zeit und die Erlösung durch politische Theologie. In: Politische Studien 25, 1974, S. 461-480, ebenso in: Christopherus 19, 1974, Heft Nov./Dez., S. 4-22, bes. S. 16-18, mit einer Vielzahl von Belegen; neuerdings wieder in: DERS., Wahrheit und Unwahrheit der Tradition. Metaphysische Reflexionen, hg. von Werner Beierwaltes. St. Ottilien 1986, S. 199-220. 100 Vgl. den Rückblick bei JOHANN BAPTIST METZ: Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie. In: Entwürfe der Theologie, hg. von Johannes B. Bauer. Graz 1985, S. 209-233, wo er als erste Bestimmung für sein "Paradigma" dieser Theologie die "marxistische Herausforderung" nennt (S. 212-217). 101 SIBYLLE TÖNNIES: Die Linken verlassen die sinkenden Massen. Jürgen Habermas und die Asylfrage. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Dezember 1992. Vgl. dazu ANDREAS THOMAS: Das Ende des Mythos Sozialismus. Vom Scheitern der sozialistischen Politik und Theologie (Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie. 15). Frankfurt am Main 1993.

32

Ernst Feil

fähr scheint mir Gustavo Gutiérrez in der neuesten Auflage seiner "Theologie der Befreiung" jene Passagen neu gefaßt zu haben, die zuvor eine zu unkritische - für uns naive, für seine Situation vor zwei Jahrzehnten vielleicht verständliche - Rezeption des Marxismus enthielten 102 . Man hüte sich, dies schon als einen 'Sieg' des sich als '(soziale) Marktwirtschaft' drapierenden 'Kapitalismus', in der Ausdrucksweise von Habermas: des "Spätkapitalismus" zu diffamieren. Nach dem - mindestens gegenwärtigen bzw. vorläufigen - Aufhören der Blöcke wird die Situation auch für die sog. 'kapitalistischen Systeme' schwieriger, da Feindbilder entfallen und erheblich differenziertere Reflexionen auch über die eigene Situation möglich und unausweichlich werden. In diesem Zusammenhang erscheint mir die Beschäftigung mit marxistischen Denkern - Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas - aus jüngster Zeit symptomatisch 1 0 3 . Sich ernsthaft mit solchen Autoren zu befassen, bleibt auch weiterhin grundsätzlich von Bedeutung, insbesondere, wenn es sich um Walter Benjamin (1892-1979) handelt, der in der Mitte des Lebens aus Furcht vor der Auslieferung an die Gestapo den Tod suchte und fand. Doch scheinen mir erhebliche Differenzierungen angebracht, wenn man sich mit Herbert Marcuse (1898-1979) befassen will, d.h. eigentlich, auseinandersetzen müßte. Sicherlich soll man seine Biographie, etwa, daß an seinem Grab gemäß jüdischer Tradition das jüdische Totengebet gesprochen wurde 1 0 4 , ebenso zur Kenntnis nehmen wie seine Theorie. Doch von ihm zu sprechen und über seine Konzeption der "repressiven Toleranz" nur anmerkungsweise und apologetisch zu handeln 105 , scheint mir abwegig. Immerhin hat Marcuse in einem langen Leben auch dann noch seine Position durchgehalten, als er ihre Fragwürdigkeit in wichtigen Aspekten hätte erkennen müssen. Nicht lange vor seinem Tod reagierte er in einer Fernsehdiskussion mit Alexander Mitscherlich, in der dieser auf eine im gegebenen Fall auch positive, nämlich lebenserhaltende Funktion der Angst hinwies, mit heftiger Ablehnung; er glaubte allen Ernstes auch im hohen Alter noch an eine revolutionär mögliche Veränderung der Welt, die jegliche Angst verbannen würde. 102 G. GUTERREZ, Theologie der Befreiung (Anm. 10), bes. S. 259-267: Christliche Brüderlichkeit und Klassenkampf; vgl. dazu die 10. Auflage, bes. S. 333-342: Glaube und gesellschaftlicher Konflikt. 103 EDMUND ARENS/OTTMAR JOHN/PETER ROTTLÄNDER: Erinnerung, Befreiung, Solidarität.

Benjamin, Marcuse, Habermas und die politische Theologie. Düsseldorf 1991. 104 PETER ROTTLÄNDER: Philosophie, Gesellschaftstheorie und die Permanenz der Kunst. Theologische Reflexionen zu Herbert Marcuse. In: E. ARENS u.a., Erinnerung (Anm. 103), S. 81144, S.92. 105 EBD., S. 135 Anm. 130.

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"Politische Religion" und "Politische Theologie"

G e r a d e i m H i n b l i c k auf die o f f e n s i c h t l i c h positive B e w e r t u n g Marcuses fragt sich, w a s es eigentlich f ü r eine Bedeutung hat, w e n n v o n M a x H o r k h e i m e r k o n s t a t i e r t w i r d , daß er "Anfang der vierziger J a h r e seine K o n z e p t i o n veränderte", u n d hinzugefügt w i r d : "Möglicherweise hängt die Tatsache seines w e i t g e h e n d e n V e r s t u m m e n s ... m i t dieser tendenziell Entwicklung

seiner

intellektuellen

Biographie

aporetischen

zusammen" 1 0 6 .

Inwiefern

heißt es h i e r "aporetisch"? U n d w i e v e r h ä l t es sich m i t T h e o d o r W . A d o r n o ? W a s ist m i t jenen, die aus eher bürgerlichen A n f ä n g e n heraus zutiefst überzeugte u n d a k t i v e M a r x i s t e n w u r d e n , dann aber nach nicht allzu langen Jahren i h r e n f u n d a m e n t a l e n I r r t u m einsahen u n d eine andere Lebensweise suchten, w i e sich dies nicht zuletzt e i n d r u c k s v o l l bei Manes Sperber nachlesen l ä ß t 1 0 7 ? W a s bedeutete dies v o r allem f ü r diejenigen, die i n z w i s c h e n v o n i h n e n f ü r den M a r x i s m u s g e w o r b e n w o r d e n w a r e n ? Ich k a n n nicht leugnen, daß m i c h in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die Frage an Ernst B l o c h beschäftigt, w a r u m er bis z u m Schluß u n b e i r r t seine K o n z e p t i o n d e r dreißiger J a h r e beibehalten hat u n d nicht einmal bereit w a r , seine f r ü h e "Devotion" Stalins o f f e n z u l e g e n - er hat sie r e t o u c h i e r t 1 0 8 . 106 EBD., S. 126f. 107 MANES SPERBER: A l l das V e r g a n g e n e ..., I-III (1975-1977) (dtv. 1398, 1485, 1757). M ü n c h e n 1978-1982.

108 Vgl. dazu LUDWIG MARCUSE: Bewunderung und Abscheu (Stuttgarter Zeitung vom 12. März 1960). In: Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag. Frankfurt am Main 1975, S. 74-84, mit einer Aussage über die Zeit nach 1934: "Er hatte dann Propaganda gemacht, zur Zeit der russischen Prozesse - wie nur irgendeiner, der von der Pike auf sich hochgedient hatte. Er hat auch viel später noch, am Ende seines kenntnisreichen und brillanten Essays 'Uber den Weisen' (einem Vorabdruck), in geradezu überwilhelminischer Devotion Stalin versichert: erst er runde die Geschichte des Weisen ab, weil erst er das letzte noch fehlende Element nachgeliefert habe - die Parteilichkeit (im Buch nicht mehr gedruckt!)" (S. 76). Und kurz darauf heißt es nochmals: "Wie überstand dann der enthusiastische Stalinist den Schreck, der ihm von Stalins Nachfolgern eingejagt wurde, als man mitteilte: die Kapitalisten hatten Recht gehabt in ihrer Beschreibung der Prozesse und ihres berühmten Henkers? Einer seiner engsten Freunde beschrieb mir, wie der Siebzigjährige zusammenbrach. Der Propagandist Bloch hatte sich einst selbst indoktriniert - und war nun von der Doktrin im Stich gelassen. So übertönte er seinen Schmerz mit dem alten Schlachtruf: Gegen den Kapitalismus! Gegen wen noch ... durfte er nicht sagen. Er pflanzte das Panier der 'Hoffnung' auf, wie man es so gern an Gräbern tut. Es blieb ihm außer dieser fragwürdigen 'Hoffnung' (die immer da war, wo der Glaube starb) nur noch die Melodie, in der er sich seit dem 'Geist der Utopie' eingekapselt hatte; es blieb ihm eine Unabhängigkeit, die manche Sklaverei überlebte: seine Weise zu singen" (S. 77; die Satzzeichen im Original). Und wenig später heißt es dann in dieser Rezension zu BLOCHS "Prinzip Hoffnung": "Nichts aber spricht mehr gegen den Prediger Ernst Bloch, als daß er bei seiner letzten Revision des Werks, 1959, nachdem ihm durch die Entgötterung Stalins der Star gestochen war, nicht den Mut aufbrachte, sein Manuskript zu revidieren; ich meine nicht zu zensurieren" (S. 83). Ich nehme diesen Text

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Noch einmal anders verhält es sich mit Jürgen Habermas, der in letzter Zeit mit zunehmender Intensität als Gesprächspartner von Autoren aus der "politischen Theologie" in Anspruch genommen wird 1 0 9 . Freilich scheint mir diese einmal am Leitfaden der Sprache 110 und zum anderen im Gefolge von Marx entwickelte Handlungstheorie problematisch. Dies gilt nicht zuletzt für das auch idealtypisch irreale Modell der herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft 111 . Daß bei Habermas eher eine Handlungstheorie

hier sachlich als Beleg, daß BLOCH seine (Fehleinschätzung Stalins nie erkennbar korrigiert hat. Dies ist ihm in einem Text linker Studenten, den ich nicht mehr zur Hand habe, schon vor Jahren bitter vorgehalten worden, wodurch ich erst auf diesen Sachverhalt aufmerksam wurde, den auch MARCUSE belegt. Meinen Beitrag: Marxistischer Denker der Hoffnung. Zum Tode von Ernst Bloch. In: HerKorr 31, 1977, S. 478-481; überarbeitet in: Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Autoren-Lexikon von Adorno bis Wittgenstein, hg. von Karl-Heinz Weger (Herder TB. 716), Freiburg 1979, S. 44-48, würde ich diesbezüglich korrigieren müssen. 109 EDMUND ARENS: Kommunikative Rationalität und Religion. Die Theorie des kommunikativen Handelns als Herausforderung politischer Theologie. In: E. ARENS u.a., Erinnerung (Anm. 103), S. 145-200. Vgl. HANS-JOACHIM HÖHN: Kirche und kommunikatives Handeln. Studien zur Theologie und Praxis der Kirche in der Auseinandersetzung mit den Sozialtheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas'. Frankfurt am Main 1985, und besonders HABERMAS UND DIE THEOLOGIE. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns, hg. von Edmund Arens. Düsseldorf 1989; vgl. auch EDMUND ARENS: Christopraxis. Grundzüge theologischer Handlungstheorie (QD. 139). Freiburg 1992. 110 Vor langem habe ich mich kritisch hierzu geäußert: Sprachanalyse und Tiefenpsychologie. Auf dem Weg zu einer "energetischen Hermeneutik". In: HerKorr 28, 1974, S. 416-422, bes. S. 420f. - Der hier vorsichtig geäußerten Zuordnung von HABERMAS zur protestantischen Tradition hat dieser in einem freundlichen Brief vom 25. Oktober 1974 an mich widersprochen mit der Begründung, er habe seinen Großvater nicht mehr persönlich gekannt (der evangelischer Pfarrer im Rheinland war). Doch sehe ich meine Annahme hierdurch nicht widerlegt. 111 Vgl. dazu JÜRGEN HABERMAS: Theorie des kommunikativen Handelns. I-II. Frankfurt am Main 1981. - Welche Probleme sich nach dem Ende der sozialistischen (marxistischen) Systeme für ihn ergeben, zeigen seine Abhandlungen in: JÜRGEN HABERMAS: Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften. VII (ES 1633 - NF 633), Frankfurt am Main 1990, bes. S. 157-166: Die Stunde der nationalen Empfindung. Republikanische Gesinnung oder Nationalbewußtsein?; S. 179-204: Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute?; S. 205-224: Nochmals: Zur Identität der Deutschen. Ein einig Volk von aufgebrachten Wirtschaftsbürgern? Ferner DERS.: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main 1985; DERS.: Zwischenbetrachtungen. Frankfurt am Main 1989. - Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit Habermas und Luhmann (auf den hier nicht mehr eingegangen werden kann) bei G. WAGNER, Gesellschaftstheorie ? (Anm. 64), die dann noch einmal zu diskutieren wäre; symptomatisch für sie erscheint dann doch, daß WAGNER mit einem unkommentierten Zitat aus Max Horkheimers Frühschriften schließt, dem

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als eine Institutionentheorie vorliegt und schon von daher die Umsetzung seines Ansatzes in eine Gesellschaftstheorie nicht bzw. nicht hinreichend geleistet wurde und werden konnte, hätte gerade von jener Konzeption einer gesellschaftskritischen Theologie her angemerkt werden müssen, die mindestens systematisch den Stellenwert der Institutionen zentral hervorgehoben hat 112 . Diese übrigens eher gegen eine evangelische als gegen eine katholische Gefahr der Privatisierungstendenz 113 vorgenommene Akzentuierung behält ihre theoretische Berechtigung, selbst wenn die Konkretisierung auch von der Theorie nicht geleistet sein dürfte. Auch hätte die Theologie nicht übersehen dürfen, daß die bei den Protagonisten der Frankfurter Schule und hier nicht zuletzt bei Max Horkheimer in den 30er Jahren vertretenen Konzepte zur notwendigen Destruierung der bestehenden Gesellschaft 114 nicht ausdrücklich genug korrigiert und konstruktiv überwunden worden sind. Und daß die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft eine negative, nämlich illusionäre und in praxi nicht wünschenswerte Utopie darstellte - der Zerfall von Macht und (legitimer) Gewalt führt nicht zum Frieden, sondern zum Machtvakuum und provoziert beliebige illegitime Gewalt -, hätte eine in katholischer Tradition also zustimmt, ohne Horkheimers späte Position zu berücksichtigen. - Meine Anfrage an Habermas stellt die These von HELMUT PEUKERT: Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung (Patmos-Paperback). Düsseldorf 1976, als ganze nicht in Frage. Es bleibt zu hoffen, daß PEUKERT sie angesichts des Fortschreitens der Diskussion weiterführen kann. Bei JOHANN BAPTIST METZ: Kirche und Welt im eschatologischen Horizont. In: DERS., Zur Theologie der Welt (Anm. 8), S. 7 5 - 8 9 , ist zwar im Thema von "Kirche und Welt" als Relationsbegriffen die Rede, in der Durchführung aber findet sich an zentralen Stellen, was gleichfalls berechtigt, aber zu wenig ist, bevorzugt von "Glaube" (vgl. die Thesen 77 und 84); in der späteren Ausarbeitung: Kirche und Welt im Lichte einer "politischen Theologie" (In: EBD., S. 9 9 - 1 1 6 ) steht dann in der Konkretisierung durchweg die "Kirche" in ihrer Bestimmung als "Institution gesellschaftskritischer Freiheit" im Vordergrund (S. 1 0 7 - 1 1 6 ; wobei "gesellschaftskritisch" nur die eine Seite der Münze sein dürfte!). WAGNER

112

113 Daß diese Tendenz sehr wohl mit einer Zwei-Reiche-Lehre und in ihrem Gefolge mit einem dann unkritischen Verhältnis zu Welt, Staat und Gesellschaft einhergehen kann, hat sich gerade in den Zeiten besonderer Betonung dieser Lehre in den 30er Jahren auf fatale Weise gezeigt. - Aus der umfangreichen Literatur hierzu vgl. ULRICH DUCHROW: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre (FBESG. 25). Stuttgart 1970; GOTTES WIRKEN IN SEINER WELT. Zur Diskussion um die Zweireichelehre, hg. von Niels Hasselmann (Zur Sache. Kirchliche Aspekte heute. 19 und 20). Hamburg 1980. 1 1 4 M A X HORKHEIMER: Autorität und Familie ( 1 9 3 6 ) . In: DERS.: Traditionelle und kritische Theorie (Fischer TB. 6 0 1 5 ) . Frankfurt am Main 1 9 7 2 , S. 1 6 2 - 2 3 0 , bes. S. 2 1 7 , 2 2 4 ; vgl. hierzu ERNST FEIL: Kritik der Familie als biographische Erfahrung. In: StZ 1 0 3 , 1 9 7 8 , S. 8 3 3 840.

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stehende Konzeption gleichfalls sensibel machen müssen gegen Defizite auch der späten Vertreter der sog. Frankfurter Schule. Es lagen also hinreichende Gründe vor, einer sich wesentlich auf Marx beziehenden Handlungs- und ggfs. auch Gesellschaftstheorie zu mißtrauen. Wie wiederholt im Laufe der Neuzeit, so lag auch hier das besondere Problem darin, daß von Marx her berechtigte Anliegen und Aufgaben vor allem des 19. Jahrhunderts sowie scharfsichtige Analysen formuliert worden sind. Doch das Scheitern der Marxismen und Sozialismen lag nicht nur an den bösen Menschen, seien diese die Akteure oder aber das Volk, genauer die revolutionäre Klasse, in deren Dienst die Revolution betrieben werden sollte. Und wenn dem tatsächlich so wäre, müßten daraus theoretische Konsequenzen gezogen werden, wenn immer nach Marx die gesellschaftlichen Verhältnisse für die in ihnen lebenden Menschen fundamental sind. Das Heil vom Marxismus zu erwarten, hätte jedenfalls in einer katholischen Tradition als Irrtum diagnostiziert werden können und müssen 115 . Freilich läßt sich eine solche Annahme nicht mehr rein rational erzwingen (wie etwa Habermas weder Karl Popper noch Niklas Luhmann von seiner Konzeption überzeugen konnte, was ja doch nicht einfach die Kontrahenten als intellektuell nicht auf der Höhe oder als obstinat erweist). Demgegenüber lassen sich auf allen Seiten solche grundlegenden Uberzeugungen, die viele Wurzeln und Gründe haben, nicht mehr zu einem Konsens führen, selbst wenn die Ablehnung eines Marxismus schon immer mit hinreichenden und rationalen Argumenten begründet werden konnte. Hier liegt wohl auch der Grund dafür, daß weiterhin mit der Propagierung eines "verbesserlichen Sozialismus" gerechnet werden muß 116 , und auch, daß dieser weiterhin letztlich von Marx her begründet wird. In diesem Zusammenhang scheint mir noch einmal und wiederum aktuell die grundsätzliche Kritik von Michail Bakunin, der Marx "durchseucht" sah vom "Durst nach Autorität" 1 1 7 . Nun mag man dies für eine lediglich individuelle 115 Verwiesen sei hier nur auf die theoretisch falsche marxistische Ablehnung jeglichen Privateigentums, durch die, wie sich gezeigt hat, die gesamten Ressourcen nicht allen zugänglich, sondern verschleudert wurden. 116 Vgl. zu dieser 1971 v o n HEINOFALCKE geprägten Formel: DERS.: Gesellschaft und Kirchen in der D D R im demokratischen Wandel. Bericht im M ä r z 1990. In: WIEVIEL RELIGION BRAUCHT DER DEUTSCHE STAAT? Politisches Christentum zwischen Reaktion und Revolution, hg. v o n Walter Sparn (Zeitzeichen. 5). Gütersloh 1992, S. 23-38, S. 29. 117 S o MICHAIL BAKUNIN: Persönliche Beziehungen zu Marx. In: DERS.: G o t t und der Staat und andere Schriften ( A n m . 80), S. 174-190, S. 178, sowie DERS.: Die C o m m u n e von Paris und der Staatsbegriff. In: EBD., S. 191-209, mit einer grundlegenden Kritik an den "autoritären K o m m u n i s t e n " (S. 200, vgl. S. 175 u.ö.); die Texte lassen deutlich werden, daß die Kritik keineswegs nur Marx gilt, sondern der gesamten v o n ihm vertretenen und sich auf ihn beru-

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Abwertung halten, die übrigens auf Gegenseitigkeit beruht. Doch erscheint das Problem von Macht und Gewalt, wobei letztere nur noch in negativer Konnotation erscheint (und nicht mehr als "potestas" im Sinne eines Vermögens, Könnens), in allen auf Marx zurückgehenden Konzeptionen ungelöst, weil alle staatliche Macht und Gewalt als illegitim, nämlich als herrschende Macht und somit als Macht der Herrschenden dargestellt und angeprangert wird, deren Abschaffung gefordert und nachhaltig gefördert werden muß. Doch sind keinerlei Regelmechanismen einer Gewaltenteilung dieser revolutionären Gewalt vorgesehen, ein Zeichen mehr dafür, daß der neue Totalitarismus nicht regelwidrig, sondern systemkonform und somit unausweichlich vorprogrammiert war. Daß ein von dieser Ideologie ausgehendes System angesichts des wirtschaftlichen Ruins auch die Macht aufgab, stellt die eigentliche Überraschung von 1989 dar. Vom System her gesehen lag hierin ein Fehler. Nicht von ungefähr kann ja auch gegenwärtig diese Entwicklung als Sieg der Konterrevolution interpretiert werden, so daß erneut und mehr noch als zuvor die wahre Revolution in Angriff zu nehmen bleibt 118 . Unser Dilemma bleibt, daß wesentliche Hoffnungen, die im Sozialismus formuliert worden sind, weiterhin höchst berechtigte Hoffnungen von Menschen darstellen, so daß man mit dem m.E. grundsätzlichen und unausweichlichen Scheitern jedes sich auf Marx berufenden Sozialismus die hier geweckten und mindestens verbal geförderten Erwartungen unterdrückter Menschen als legitim und ihre Realisierung als zentrale Aufgabe ansehen muß 119 . Dazu bedarf es der Formulierung neuer gesellschaftstheoretischer Konzepte, die freilich nicht mehr Aufgabe des Theologen sein können. Für den Teilbereich der Wirtschaft wurden solche inzwischen vorgelegt120; sie wären fenden Richtung. In den zitierten Texten erweist sich Bakunin zugleich als extremer Antisemit. Ihm in seiner Kritik an Marx zu folgen, kann keine Zustimmung zu diesem Antisemitismus bedeuten. - Zur autoritär-totalitären Struktur des Marxismus schon von Marx her vgl. A. THOMAS: Das Ende des Mythos Sozialismus. Vom Scheitern der sozialistischen Politik und Theologie (Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie. 15). Frankfurt am Main 1993. 118 Vgl. HANFRIED MÜLLER: Offener Brief an meine Freunde in der SED. In: Weißenseer Blätter 1989, Heft 5, S. 25-38; DERS.: "Wende" - Revolution oder Konterrevolution? In: Ebd. 1994, Heft 5, S. 31-38. 119 Vgl. zur Frage nach dem Scheitern des Sozialismus die Überlegungen von WOLFGANG HUBER: Umkehr wohin? Eine Rede zum Büß- und Bettag 1990. In: WIEVIEL RELIGION BRAUCHT DER DEUTSCHE STAAT? ( A n m . 116), S.151-162, S. 156ff.

120 Vgl. KARL HOMANN: Moral in den Funktionszusammenhängen der modernen Wirtschaft. Zwei Beiträge zur Wirtschaftsethik unter Wettbewerbsbedingungen. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1993; ausführlicher: KARL HOMANN/FRANZ BLOME-DREES: Wirtschafts- und Unternehmensethik (UTB. 1721). Göttingen 1992. - Wie wichtig diesbezügliche

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theologisch auf die Problematik hin zu reflektieren, in welcher Weise der christliche Glaube als eine letzte und letztverbindliche Einstellung, für die sich auch heute noch Menschen das Leben nehmen lassen, relevant sein kann für die zugehörigen ethischen Problemstellungen, ohne damit von seiten der Kirche und Christen allgemein verbindliche Regeln vorschreiben zu wollen, die nicht alle teilen möchten. Fraglich bleibt natürlich, welche Regeln man dem Ermessen von einzelnen bzw. Gruppen überlassen kann und muß, selbst wenn sie Christen unabdingbar scheinen, und welche inzwischen auch menschenrechtlich anerkannt für alle gelten, selbst wenn sie ggfs. wesentlich von christlichen Impulsen geprägt sind. Damit hat sich noch einmal jenes Thema gestellt, das zuvor, bei der Erörterung der "politischen Religion" sich als zentral herausgestellt hatte, nämlich daß im Glauben, d.h. auch und nicht zuletzt im christlichen Glauben eine letztverbindliche Einstellung vollzogen wird, daß er in diesem Sinne und d.h. auch gegenüber der Wahrheitsfrage keine "Neutralitas" einnehmen, aber gleichwohl und gerade so sich tolerant verhalten kann. Wenn in jüngster Zeit die Gegenthese in eindrucksvoller Weise wiederholt wurde, Toleranz gebe es nur, wenn man sich eben zu keiner letzten Uberzeugung bekenne 121 , so gilt gerade ihr entschiedener Widerspruch 122 . In dieser Weise Neutralität nicht für möglich und nicht für nötig zu halten, bedeutet nun nicht, sich jener Bekämpfung der Neutralität anzuschließen, wie sie Carl Schmitt betrieben hat. Der Unterschied liegt, um es kurz zu sagen, in Carl Schmitts Behauptung von 1934, "das Politische als das Totale erkannt zu haben" 123 . Es war eben wohl doch nicht dasselbe, wenn Schmitt ebenso wie Peterson besorgt waren gegenüber einer Neutralisierung, die zugleich eine Entpolitisierung bedeutete 124 .

theoretische Konzepte sind, läßt sich daran ersehen, daß lange Zeit die "Theologie der Befreiung" wesentlich auf der sog. Dependenztheorie beruhte; diese in Frage zu stellen, war vor Jahren ein schieres Sakrileg; inzwischen wurde aber auch sie fundamental korrigiert, vgl. G. GUTIERREZ, Theologie der Befreiung (Anm.10), in dem neuen Vorwort (S. 27). Ihre moralisierende Verwendung war so willkommen, daß eine schon bei Joseph Kardinal Höffner formulierte Kritik sich nicht durchsetzen konnte. 121 FRIEDRICH NŒWÔHNER: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch Von den drei Betrügern. Heidelberg 1988; NLEWÖHNER weist auf überzeugende Weise die Tradition der Ringparabel bis in die Antike nach und folgert aus ihr seine These zur Toleranz. 122 ERNST FEIL: Toleranz, Glaube und Vernunft. In: StZ 116, 1991, S. 425-428. 123 C. SCHMITT, Politische Theologie (Anm. 5), Vorbemerkung zur zweiten Auflage (S. 7). 124 Zur Neutralisierung bei Schmitt vgl. die verschiedenen Hinweise von B. NlCHTWElß, Peterson (Anm. 89), S. 756ff., ferner S. 743 Anm. 174; bei Peterson S. 807; zur Gemeinsamkeit von Schmitt und Peterson S. 762.

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Wenig hilfreich erscheint es mir, im Zusammenhang mit der Letztbegründungsproblematik auf "Religion" zu setzen. Nicht von ungefähr bleibe ich bei meiner Reserve diesem Terminus gegenüber bis hin zu der Redeweise von der "Religion des Volkes" im Zusammenhang mit der "Theologie der Befreiung". "Religion" ist nämlich nicht schon, wie die eingangs zitierte These besagte, in Israel, sondern erst nach 1700 "erfunden" worden, besser gesagt, hat sie sich erst dann aus wohl verschiedenen Wurzeln langsam herausgebildet. Nach wie vor scheint mir dieser Terminus a quo zutreffend bezeichnet zu sein, wie dies erstmalig bei Paul de Lagarde geschah, den Dietrich Bonhoeffer aufgenommen hat; allerdings teile ich darüber hinaus noch einmal Bonhoeffers Meinung 1 2 5 , daß diese vornehmlich protestantische "Religion" zum Erliegen gekommen ist, will man nicht, was ernsthaft auch von kirchlicher Seite versucht worden ist, alle möglichen Bewegungen wie die Ökologie- oder Frauenbewegung sowie die sog. Jugendreligionen als genuine Vertreter eben dieser "Religion" ansehen, die ihre große Zeit im 19. und vielleicht noch beginnenden 20. Jahrhundert gehabt hat 1 2 6 . So bleibt mit Clasen, jeder Instrumentalisierung und Finalisierung nicht nur der "Religion", sondern auch des Glaubens und d.h. nicht zuletzt auch des christlichen Glaubens für ein innerweltliches Ziel zu widerstehen. Was immer aus Glaubensgründen an weltlichem Handeln erfolgt - und Glaube darf nicht folgenlos bleiben -, kann gleichwohl nur die Bedeutung des "alles andere wird euch hinzugegeben werden" haben.

125 Hierzu vgl. bei ERNST FEIL: Ende oder Wiederkehr der Religion? Zu Bonhoeffers umstrittener Prognose eines "religionslosen Christentums". In: Die Präsenz des verdrängten Gottes. Glaube, Religionslosigkeit und Weltverantwortung nach Dietrich Bonhoeffer, hg. von Christian Gremmels und Ilse Tödt (IBF. 7). München 1987, S. 27-49. 126 Vgl. dazu die umfassende Arbeit von FALK WAGNER: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart. Gütersloh 1986, 2. Aufl. 1991, deren These ich freilich nicht zustimmen kann.

Heinz Boberach PFARRER ALS PARLAMENTARIER Evangelische Theologen in der Deutschen Nationalversammlung, im Reichstag und Bundestag 1848-1990 Als am 5. April 1990 die erste frei gewählte Volkskammer der DDR zusammentrat, meldete die Presse, daß ihr 24 evangelische Theologen angehörten, davon 20 ordinierte Pfarrer der Landeskirchen, zwei Methodisten; die meisten, nämlich zwölf, wurden für die SPD gewählt, sieben für die CDU, zwei für das Neue Forum, je einer für Splitterparteien1. Eine Reihe von ihnen wurde am 28. September 1990 für den Rest der Legislaturperiode in den 11. Deutschen Bundestag entsandt, dem damit mehr evangelische Theologen angehörten als jedem anderen gesamtdeutschen Parlament seit der Deutschen Nationalversammlung von 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche. Was sie alle in fast 150 Jahren in ihrer Tätigkeit als Volksvertreter gewollt und bewirkt haben, muß freilich einer umfassenderen Untersuchung vorbehalten bleiben; sie müßte ebenfalls die Landtage und im Wahlkampf unterlegene Kandidaten einbeziehen ber katholische Theologen2. Hier kann nur versucht werden, Parlamentarier nachzuweisen, die aus dem Pfarrerstand oder von den theologischen Hochschulen kamen, und einzelne Beispiele für ihr Tätigkeit anzuführen. Auch das ist nur soweit möglich, wie die Parlamentshandbücher und die Sprechregister zu den Stenographischen Berichten als Quellen ausreichen; in den Handbüchern werden in der Regel nur der Beruf zur Zeit der Wahl und nicht immer die vorangehenden Tätigkeiten angegeben, die Sprechregister setzen erst relativ spät ein. Umso nützlicher ist es, daß für die Deutsche Nationalversammlung von 1848/49 und die Reichstage von 1867 bis 1933 im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln Angaben über 52 Abgeordnete vorliegen, von denen ermit-

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epd-Meldung vom 5.4.1990. Für einen Überblick über katholische Theologen vgl. RUDOLF MORSEY: Prälaten auf der politischen Bühne. Zur Rolle geistlicher Parlamentarier im 19. und 20. Jahrhundert. In: Staat, Kultur, Politik. Festschrift für Dieter Albrecht. Kallmünz 1992, S. 313-323.

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telt werden konnte, daß sie einmal den Beruf eines evangelische Pfarrers ausgeübt oder an einer Hochschule Theologie gelehrt hatten 3 . Relativ die meisten, nämlich 22 evangelische Theologen, hatten ein Mandat in der Paulskirche, darunter ein Privatdozent und neun, die nach kürzerer oder längerer Tätigkeit als Vikare oder Pfarrer in einen anderen Beruf gewechselt hatten. Freilich übten davon nur 13 ihr Amt während der ganzen Sitzungszeit zwischen Mai 1848 und Mai 1849 aus, die übrigen schieden früher aus oder traten als Ersatzmänner erst gegen Ende, manche sogar erst ins Stuttgarter Rumpfparlament ein. Keiner von ihnen hat allerdings in den Beratungen eine führende Rolle gespielt. Ihre politische Heimat fanden die meisten im rechten Zentrum, in der Casino-Fraktion, die mit Schmerling und Gagern von September 1848 bis Mai 1849 die Ministerpräsidenten der Provisorischen Zentralgewalt stellte und bedingt für eine Vereinbarung der Verfassung mit den Fürsten, Bundesstaat und erbliches Kaisertum, in ihrer Mehrheit auch für die Trennung von Osterreich eintrat. Formell gehörten ihr an die Abgeordneten Jürgens, Nerreter, Schwarz und Zittel, aber mit ihr gemeinsam stimmten in der Regel auch die fraktionslosen Abgeordneten Ehrlich, Eisenlohr, Gförer, Götz, Grimmert, Hahn, Matthies, Nöthig, Rättig und Schröter. Karl Jürgens (1801-1860) war seit 1834 Prediger und Diakonus im braunschweigischen Stadtoldendorf, hatte am "Staatslexikon" mitgearbeitet und bereits dem Vorparlament und dem Fünfziger-Ausschuß angehört. Er beteiligte sich als Mitglied an den Beratungen des Verfassungsausschusses, stimmte für die Wahl des Königs von Preußen zum deutschen Kaiser, schloß sich dann aber der neuen Fraktion im "Pariser Hof" an, den Großdeutschen 3

Für die Überlassung der Daten, auf denen die folgenden Ausführungen beruhen, soweit nichts anderes angegeben ist oder allgemeine Nachschlagewerke herangezogen wurden, bin ich Wilhelm Heinz Schröder sehr dankbar. Sie sollen die Grundlage für folgende Publikationen bilden, die von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien herausgegeben werden: HEINRICH BEST/WILHELM WEEGE: Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 (Handbücher zur Geschichte

des Parlamentarismus

und der politischen Parteien.

8). - HEINRICH

BEST/WILHELM HEINZ SCHRÖDER: Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Norddeutschen Reichstags, des Zollparlaments und der Deutschen Reichstage 1867-1918. - WILHELM HEINZ SCHRÖDER: Biographisches Handbuch des Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik 1919-1933. - Für die Mitglieder der Nationalversammlung von 1919 und des Reichstags der Weimarer Republik wurden noch herangezogen: M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Bearb. von Katharina Lübbe und Martin Schumacher. 3. Aufl. Düsseldorf 1991, und für Reichstagsabgeordnete, die auch dem preußischen Landtag angehörten, boten BERND HAUNFELDER: Biographisches Handbuch für das preußische Abgeordnetenhaus 1949-1967, und BERNHARD MANN: dsgl. 1867-1918. Düsseldorf 1994 bzw. 1988, zusätzliche Angaben.

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Heinz Boberach

und Partikularisten. In der Debatte über die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat wandte er sich gegen die Bestrebungen für eine völlige Trennung, betonte aber die Notwendigkeit, die unerträgliche "Staats-Botmäßigkeit" zu beseitigen, die bisher von den Kirchen verlangt worden sei4 . Als Mitherausgeber und Chefredakteur der "Flugblätter aus der deutschen Nationalversammlung" wandte er sich an die Öffentlichkeit. Bevor er nach dem Scheitern des Verfassungswerks sein Mandat niederlegte, äußerte er sich im Parlamentsalbum im Mai 1849 zu den drohenden Erhebungen für die Durchsetzung der Verfassung: "Aufstand darf nicht mutwillig sein, muß gerechtfertigt sein durch Vergeblichkeit aller gesetzlichen Mittel, durch höchste Not sonst ist er Verbrechen und Narrenwerk zugleich"5. 1851 schied er aus dem Pfarramt aus und war nur noch publizistisch tätig 6 . Pfarrer in Fraustadt in der Provinz Posen war seit 1836 der Schlesier Ernst Louis Nerreter (1809-1880); in der Diskussion über die Zulassung der deutschen Abgeordneten aus Posen plädierte er gegen Anträge, die "deutschen Brüder" fallen zu lassen7. Nach dem Ende der Nationalversammlung beteiligte er sich noch an der Gothaer Versammlung, in der die Liberalen neue Wege zur Verwirklichung der Einheit Deutschlands suchten. Bereits seit 1842 hatte Carl Zittel (1802-1871), ein früherer Burschenschafter und seit 1834 Pfarrer in Bahlingen am Kaiserstuhl, der 2. Kammer des badischen Landtags angehört und auch am Vorparlament teilgenommen. In der Grundrechtsdebatte meinte er, den Sturz der kirchlichen Hierarchie müsse das Volk auf dem Boden der Freiheit, müsse der Geist der Zeit herbeiführen 8 . Bis 1851 war er noch, nun Stadtpfarrer in Heidelberg, Landtags-, 1850 auch Abgeordneter im Staatenhaus des Erfurter Unionsparlaments, beschränkte sich dann aber auf führende kirchliche Positionen, u. a. seit 1864 als Mitgründer im Deutschen Protestantenverein. Kein Pfarrer zur Zeit seiner Wahl, sondern seit 1842 Privatdozent für Theologie in Halle war Carl Schwarz (1812-1885), allerdings seit 1845 wegen 4 5

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E Y C K : Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. München 1973, S. 281. P A R L A M E N T S A L B U M . Autographierte Denkblätter der Mitglieder des ersten deutschen Reichstages. Frankfurt 1849, Nachdruck unter dem Titel: Die erste deutsche Nationalversammlung 1848/49. Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder. Hrsg. von Wilfried Fiedler. Königstein/Ts. 1980, Blatt 164. Vgl. auch seine Darstellung "Zur Geschichte des Deutschen Verfassungswerkes 1848/49. 3 Bde. Braunschweig 1850, Hannover 1857, und C H R I S T I A N R. H O M R I C H H A U S E N : Evangelische Christen in der Paulskirche 1848/49. Vorgeschichte und Geschichte der Beziehung zwischen Theologie und politisch-parlamentarischer Aktivität. Bern 1985, S. 79 ff. u. ö. F. E Y C K , Deutschlands Hoffnung (Anm. 4), S. 320. E B D . , S . 2 8 0 ; vgl. auch C. R . H O M R I C H H A U S E N , Christen (Anm. 6), S . 65ff. u. ö. FRANK

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Unterstützung der innerkirchlichen freiheitlichen Reformbewegung der "Lichtfreunde" (bis Sommer 1848) suspendiert, auch er ein früherer, 1837 deshalb zu Festungshaft verurteilter Burschenschafter 9 . In seiner Eintragung im "Parlamentsalbum" kündigte sich sein Ubergang in das eher konservative Lager, der 1849 mit seiner Ernennung zum Professor in Halle belohnt wurde und ab 1856 in die Amter eines Hof- und Oberhofpredigers und Generalsuperintendenten des Herzogtums Gotha führte, bereits an: "Der politische Kampf" sei ein Kampf der "Aristokratie der Einsicht mit der Kopfzahl der Massen", und dem, der "die Freiheit ernstlich liebt, muß das Opfer zugemutet werden, als ihr Gegner zu gelten, wenn er sie tief und dauerhaft begründen will" 1 0 . Von den fraktionslosen Abgeordneten waren die Pfarrer Ludwig Ehrlich (1813-1884) aus Murzyno (Provinz Posen), Carl Grimmert (1795-1865), seit 1842 in Mehringen (Anhalt-Bernburg), der schon nach 12 Tagen seit Mandat niederlegte, Johann Friedrich Hahn (1793-1856) aus Ringleben (Provinz Sachsen) und Abgeordneter von Mai bis August 1848, Heinrich Nöthig (1809-1876) aus Weißholz in Schlesien und Johann Friedrich Karl Schröter (1807-1849) aus Zellin in Brandenburg, der erst im April 1849 in das Parlament nachrückte, kaum bedeutsam. Das gilt weniger für den früheren Diakon in Marbach und seit 1843 Rektor des Lehrerseminars in Nürtingen Theodor Eisenlohr (1805-1869), der als württembergischer Landtagsabgeordneter nur am Rumpfparlament teilnahm und 1849 wegen kirchenkritischer Artikel diszipliniert wurde 11 , den früheren Pfarrer von Ravengiersburg und seit 1838 Direktor der höheren Bürgerschule in Neuwied Lorenz Götz (18101894), der 1835 bis 1837 als Burschenschafter Festungshaft verbüßt hatte, aber erst im Februar 1849 in die Paulskirche kam 1 2 , den Greifswalder Professor der Theologie, später der Philosophie und Rektor Conrad Stephan Matthies (1807-1856), von Januar bis Mai 1849 Abgeordneter, und den früheren Divisions- und Gemeindepfarrer, seit 1833 Regierungs- und Schulrat Carl August Rättig (1794-1852), der den Wahlkreis Potsdam vertrat, am wenigsten für August Gförer (1803-1861), der 1830 als Stadtvikar in Stuttgart ausgeschieden war, um Bibliothekar zu werden, und nach seinem Ubertritt zur katholischen Kirche 1853 im badischen Kirchenkampf leidenschaftlich deren Ansprüche verteidigte; er war im württembergischen Wahlkreis EhingenMünsingen gewählt, schloß sich zuletzt den Großdeutschen an und beendete

9

Vgl. EBD., S. 37f.

10

PARLAMENTSALBUM (Anm. 5), Blatt 20.

11

Vgl. N D B Bd. 4. Berlin 1959, S. 417f.

12

Vgl. PAUL SCHMIDT: Die Wahlen im Regierungsbezirk Koblenz 1849 bis 1867/69. Bonn 1971, S. 73, 241ff. u. ö.

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seine parlamentarische Laufbahn am 26. Juni 1849 mit einem trotzigen "Wir kommen wieder!" 13 Zur Casino-Fraktion stießen am Ende auch zwei preußische Abgeordnete, die zunächst im Café Milani, bei der für Vereinbarung der Verfassung und einen Staatenbund eintretenden konservativen Fraktion ihre politische Heimat gefunden hatten: Von Mai bis Oktober 1848 Pfarrer Eduard Hülsmann (1801-1856) aus dem rheinischen Lennep, ein früherer Burschenschafter, und bis zum Ende Pfarrer Friedrich Evertsbusch (1813-1888) aus Altena in Westfalen, später Superintendent und 1877 bis 1888 Präses der rheinischen Provinzialsynode; er wollte "Fürstenrecht mit Volksrecht, Königsmacht mit Volksfreiheit versöhnen" und mußte sich "vaterlandsfeindliche Wühlereien" und Zusammenarbeit mit den Demokraten vorwerfen lassen, als er im Mai 1849 mit einer Adresse des Konstitutionellen Vereins Altena wegen seiner "unseligen Politik" den Rücktritt des preußischen Ministeriums Brandenburg-Manteuffel forderte 14 . Beim linken Zentrum, der Fraktion im Württemberger Hof, die die Vereinbarung der Reichsverfassung mit den Fürsten ablehnte, gab es vier evangelische Theologen. Von ihnen kamen drei aus Württemberg. Der bedeutendste darunter war Gustav Rümelin (1815-1889), der allerdings nach wenigen Jahren als Vikar in Heilbronn in den Schuldienst gegangen und seit 1845 Rektor der Lateinschule in Nürtingen war. Auch er kam aus der Burschenschaft und hatte sich im Vormärz publizistisch betätigt; für den "Schwäbischen Merkur" berichtete er von Mai 1848 bis Juni 1849 auch nach dem Mandatsverzicht am 24. Mai 1849 aus dem Parlament 15 . Im September verließ er mit anderen Abgeordneten des rechten Flügels die kleindeutsche Fraktion und trat der neuen Gruppierung im Augsburger Hof bei. Seine Teilnahme an der Gothaer Versammlung der Liberalen rechtfertigte er im Parlamentsalbum: "des Vaterlandes Ehre" mache es nötig, mit der Zustimmung zum preußischen Plan einer Unionsverfassung "einem übermächtigen Gegner zu nützen" 16 . Seit 1852 Ministerialrat im württembergischen Kul13

PARLAMENTSALBUM ( A n m . 5), B l a t t 180; vgl. a u c h BERNHARD M A N N : D i e W ü r t t e m b e r g e r

und die deutsche Nationalversammlung 1848/49. Düsseldorf 1975, S. 81ff., 153ff. u. ö.; C. R. HOMRICHHAUSEN, Christen (Anm. 6), S. 102ff. 14 JÖRG VAN NORDEN: Kirche und Revolution 1848. Pfarrer Stephan Friedrich Evertsbusch. In: Hermann de Buhr u. a. (Hg.): Kirche im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft. Festschrift für Günther van Norden. Köln 1993, S. 89-106, das Zitat aus einem Brief vom 19. 6. 1849 dort S. 90 nach KARL REUTER: Der Altenaer Pfarrer Stephan Friedrich Evertsbusch als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. In: Der Märker 22, 1973, S. 98. 15 Nachdruck unter dem Titel "Aus der Paulskirche", hg. von H. R. Schäfer. Stuttgart 1892; vgl. auch B. MANN, Nationalversammlung (Anm. 13), S. 83ff., 287ff. u.ö. 16

PARLAMENTSALBUM ( A n m . 5), B l a t t 181.

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tusministerium, war er von 1856 bis 1861 dessen Chef, 1855-1861 und 18701889 auch Mitglied des Landtags, seit 1867 Inhaber eines Lehrstuhls für Statistik und Staatenkunde an der Universität Tübingen und 1870-1888 ihr Kanzler. Sein Fraktionskollege Friedrich Theodor Vischer (1807-1888) war ebenfalls nur kurze Zeit im Pfarrdienst gewesen, dann Repetent am Tübinger Stift und nach der Habilitation 1836 seit 1844 in Tübingen Ordinarius für Ästhetik und deutsche Literatur, wurde jedoch von 1845 bis 1847 wegen kirchenkritischer und gegen den Pietismus gerichteter Äußerungen in seiner Antrittsvorlesung mit Vorlesungsverbot diszipliniert. Bei der Spaltung des Württemberger Hofs ging er zur "Linken im Frack", der Fraktion Westendhall, deren Programm eine auf der Volkssouveränität beruhende freiheitlichdemokratische Verfassung mit allgemeinem, gleichen und direktem Wahlrecht forderte. Noch im Rumpfparlament trat er dafür ein, wandte sich aber gegen die revolutionären Absichten der radikalen Mehrheit, wenn er auch gemeint hatte, "eine gründliche Revolution" müsse "der Barbarei der modernen Kulturformen ein Ende machen" 17 . Nach elfjähriger Lehrtätigkeit in Zürich kehrte er 1866 auf einen Tübinger, später Stuttgarter Lehrstuhl zurück. Ebenfalls zur Westendhall stieß Konrad Dietrich Haßler (1803-1873), ein Ulmer Gymnasialprofessor, der nach zweijährigem Vikariat schon 1826 den Kirchendienst verlassen hatte. Er hatte sich wegen politischer Agitation im Ulmer Liederkranz 1830 einen Verweis zugezogen, gehörte aber seit 1845 dem württembergischen Landtag an und erwarb sich in der Nationalversammlung Verdienste als Schriftführer und Herausgeber der "Verhandlungen der deutschen verfassungsgebenden Reichsversammlung zu Frankfurt am Main" in sechs Bänden 18 . Lediglich der Pfarrer im brandenburgischen Adamsdorf August Emanuel Pfeiffer (1812-1854) blieb im Württemberger Hof, trat jedoch nicht hervor. Die äußerste Linke bildete die Fraktion Donnersberg, und in ihr gab es zwei evangelische Theologen. Balthasar Friedrich Wilhelm Zimmermann (1807-1878) war von 1840 bis 1847 Pfarrer in Dettingen und Hülben in Württemberg gewesen, bei seiner Wahl Professor an der Oberrealschule in Stuttgart und verlor dieses Amt 1851 wegen seiner radikalen politischen Haltung, die er 1849 bis 1853 auch in der württembergischen Landesver-

17 Eintragung vom 18. April 1849 (EBD., Blatt 115); vgl. auch seine "Briefe aus der Paulskirche". In: Deutsche Rundschau 132, 1907, S. 203-226; Deutsche Revue 34/4, 1909, S. 212-225, 360-368 und 35/1 und / 2 , 1910, S. 115-120, 368-371 bzw. 106-21; B. MANN, Nationalversammlung (Anm. 13), S. 83-85, 287-289 u. ö. 18

EBD., S. 3 8 0

u. ö.

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Sammlung bzw. der Abgeordnetenkammer vertrat; er durfte ab 1852 keine öffentlichen Vorträge halten, und eine Sammlung von Vortragstexten zur neueren Geschichte durfte nicht veröffentlicht werden; aber schon 1854 wurde er wieder Pfarrer, zuletzt Stadtpfarrer in Owen 1 9 . Eine bewegte politische Vergangenheit hatte der Pfälzer Adolf Ernst Theodor Berkmann (1802-1870), der noch für fünf Tage zum Rumpfparlament nach Stuttgart kam. Schon als Burschenschafter war er 1823 in Erlangen relegiert worden, hatte 1832 als Pfarrer in Eiselthum am Hambacher Fest teilgenommen, war 1833 für ein Jahr suspendiert, 1833/34 wegen Aufreizung zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit in Predigten und Flugschriften angeklagt, aber vom Appellationsgericht Zweibrücken freigesprochen worden. 1849 wurde er wegen Hochverrats angeklagt, erneut suspendiert und schließlich aus dem Pfarramt entlassen, konnte aber nach zölfmonatiger Untersuchungshaft 1850 nach Amerika emigrieren, wo er zuletzt als Prediger in N e w York wirkte. Es gab allerdings darüber hinaus in der Paulskirche nicht weniger als 36 weitere Abgeordnete, in deren Lebenslauf verzeichnet war, daß sie einmal evangelische Theologie studiert hatten. Die meisten, nämlich zwanzig von ihnen, waren als Gymnasiallehrer tätig. A m bekanntesten waren zweifellos Ernst Moritz Arndt im Casino und der "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn im Cafe Milani, vom Württemberger, dann Augsburger Hof der Schriftsteller Heinrich Laube. Professoren wie Arndt waren auch die Marburger Staatswissenschaftler Sylvester Jordan (Württemberger Hof, dann Landsberg) und Friedrich Bruno Hildebrand (Westendhall), beide schon im Vormärz wegen ihrer politischen Tätigkeit verfolgt, und der Breslauer Historiker Gustav Adolf Stenzel (Württemberger, dann Augsburger Hof). Als Publizist wurde erst später der junge Rudolf Haym (Casino) einflußreich, während der preußische Diplomat und Reichsgesandte Carl Josias von Bunsen, der sich keiner Fraktion anschloß, und der württembergische Justizminister und faktische Regierungschef Friedrich Römer bereits hohe Positionen erreicht hatten. Im Reichstag des Norddeutschen Bundes von 1867 gab es nur einen evangelischen Pfarrer, den Sachsen Julius Leonhard Heubner (1810-1894), von 1839 bis 1843 1. Landdiakon in Plauen und seitdem Pastor in Mylau 20 . Auch bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag in den Jahren 1871, 1874 und 1877 erhielt jeweils nur ein evangelischer Theologe ein Mandat, von 1878 bis u. ö.

19

EBD., S. 291

20

BERND HAUNFELDER/ KLAUS ERICH POLLMANN: Reichstag des N o r d d e u t s c h e n Bundes 1867-

1870. Historische Photographien und biographisches Handbuch. Düsseldorf 1989, S. 417.

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1881 kam ein zweiter hinzu, aber bis zu 1890 blieb es dann wieder bei einem einzigen. In den Legislaturperioden ab 1890 und 1893 waren es wieder zwei, 1898 und 1903 wurden es drei, und den 1907 und 1912 gewählten beiden letzten Reichstagen des Kaiserreichs gehörten dann sogar fünf bzw. sieben amtierende oder ehemalige evangelische Geistliche an. Insgesamt waren es 18 Theologen, die zwischen 1867 und 1918 im Reichstag politisch wirken wollten und konnten. Mehr als die Hälfte von ihnen gehörte zu einer der bald vereinigten, bald getrennten liberalen Parteien 21 . Die Fraktion der 1861 gegründeten linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei, die im preußischen Verfassungskonflikt über die Bewilligung der Mittel für die Heeresreform ab 1863 die Regierung bekämpft hatte und 1881 mit 59 Mandaten ihren höchsten Stand erreichte, schlössen sich Heubner und im Reichstag von 1871 der im Wahlkreis Bayreuth gewählte Pfarrer Max Kraussold (1832-1901) aus Marktredwitz an. Der ehemaliger Pfarrer und Theologieprofessor Michael Baumgarten (1812-1889), der von 1874 bis 1881 den Wahlkreis Rostock vertrat, war zunächst Hospitant in derselben Fraktion, ab 1878 aber bei den Nationalliberalen, die sich 1867 von der Fortschrittspartei getrennt hatten. Er war Pfarrer in Schleswig, seit 1850 ordentlicher Professor in Rostock gewesen, hatte jedoch wegen seiner Kritik an den hierarchischen Strukturen der Kirche nach einer Auseinandersetzung mit dem mecklenburgischen Oberkirchenrat 1858 die Professur verloren, und sein Bericht über den "kirchlichen Notstand in Mecklenburg" (1861) wie andere Publikationen hatten ihm Geld- und Gefängnisstrafen eingetragen. In der Fraktion der aus dem Zusammenschluß von Fortschrittspartei und Liberaler Vereinigung 1884 entstandenen Deutschen Freisinnigen Partei gab es nur einen, in Schwarzburg-Rudolstadt 1890 gewählten ehemaligen Pfarrer unter ihren 66 Abgeordneten; zu ihrem Programm gehörte die Forderung nach der parlamentarischen Verantwortung der Regierung. Es war Gustav Knörcke (1836-1903), der 1862 bis 1873 Pfarrer in Dertzow in der Neumark gewesen und und seitdem Standesbeamter in Berlin war 22 . Er war Mitglied im Deutschen Protestantenverein, Mitarbeiter kirchlicher und pädagogischer Zeitschriften und setzte sich besonders für die Interessen der Volksschullehrer ein. Von 1875 bis 1903 vertrat er auch einen Berliner Wahlkreis im preu21 Zu den Parteien im Reichstag vgl. DIETER FRICKE U. a.: Lexikon zur Parteiengeschichte 17891945. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände. 4 Bde. Köln 19831986; MAX SCHWARZ: MdR. Biographisches Handbuch der Reichstage. Hannover 1965; zu den liberalen Parteien JAMES J. SHEEHAN: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. München 1983. 22 Vgl. BERNHARD MANN: Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867-1918. Düsseldorf 1988, S. 221.

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ßischen Abgeordnetenhaus. Nach der Spaltung der Partei 1893 kehrte er nicht in den Reichstag zurück, wurde dann aber 1897 und 1898 in Merseburg für die Freisinnige Volkspartei gewählt, die mit 29 Abgeordneten die meisten ehemaligen Anhänger der Freisinnigen Partei vereinigte; unter der Führung Eugen Richters wandte sie sich gegen Militarismus und erstrebte eine "freiheitliche Ausgestaltung" des Staates. Sie vertrat von 1907 bis 1912 auch der ehemalige Diakon, nun Schuldirektor Adalbert Enders (1856-1912) aus Sonneberg in Sachsen-Meiningen, wo er schon 1904 bis 1907 Landtagsabgeordneter gewesen war. Zur Freisinnigen Vereinigung, die aus dem rechten Flügel der Freisinnigen Partei, der die Rüstungspolitik der Regierung unterstützte, entstanden war und mit nur 14 Mandaten ihren größten Erfolg erzielte, gehörte im Reichstag von 1903 bis 1907 der Hamburger Pastor Christian August Hoeck (1849-1930) für den Wahlkreis Tondern in Nordschleswig. Drei Jahre später vereinigten sich Freiheitliche Volkspartei, Freiheitliche Vereinigung und die süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, deren Programm sich u. a. für Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, Parlamentarismus, "freiheitlichen Ausbau der Reichsverfassung" und "Ausgestaltung der Armee zu einem wirklichen Volksheer" aussprach. Unter ihren 1912 gewählten 42 Abgeordneten war Friedrich Naumann (1860-1919), der schon 1907 in Heilbronn für die Freisinnige Vereinigung gewählt worden war und nun Waldeck vertrat. Sein letztes Amt als Geistlicher bei der Frankfurter Südwestdeutschen Konferenz für Innere Mission hatte er freilich schon 1896 aufgegeben, um sich ganz der Arbeit als Herausgeber der "Hilfe" und für den 1896 gegründeten Nationalsozialen Verein zu widmen 23 . Noch zwei weitere Theologen waren in dieser Fraktion: Friedrich Weinhausen (1867- 1925), gewählt in Danzig, der nach dem Theologiestudium nicht ins Pfarramt gegangen, sondern Mitarbeiter Naumanns geworden und seit 1910 Generalsekretär der Partei war, und der Greifswalder Pfarrer Immanuel Heyn (1859-1918) für den Wahlkreis Stralsund. Aus dem Umkreis Naumanns stammte auch Paul Göhre (1864-1928), von 1888 bis 1897 im Pfarrdienst, zuletzt in Frankfurt/Oder und bis 1899 Zweiter Vorsitzender des Nationalsozialen Vereins. Er war Sozialdemokrat geworden und vertrat 1903 für wenige Monate und dann ab 1910 die SPD im

23 Vgl. THEODOR HEUSS: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. 2. Aufl. Tübingen 1949, und zuletzt THOMAS NIPPERDEY: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. I. München 1991, S. 500f. u. ö.

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Reichstag; bei seinem Bruch mit der nationalsozialen Bewegung hatte er sich freilich auch von der Kirche getrennt 24 . Den genannten elf Repräsentanten des Linksliberalismus standen in mehr als 50 Jahren nur drei - mit Baumgarten vier - Pfarrer gegenüber, die sich den Nationalliberalen, deren Fraktionsstärke in den meisten Wahlperioden diejenige aller Freisinnigen und Fortschrittlichen übertraf, angeschlossen hatten. Es waren von 1878 bis 1881 der Plauener Superintendent Gustav Landmann (1824-1901), der aus Hessen-Darmstadt stammte und dort schon von 1872 bis 1875 dem Landtag angehört hatte, von 1898 bis 1910 der frühere Stadtpfarrer und nun Gymnasialprofessor Johannes Hieber (1862-1951) für Cannstatt/Ludwigsburg, in Württemberg auch 1900 bis 1907 Landtagsabgeordneter, und von 1912 bis 1918 der Herforder Strafanstaltsgeistliche Theodor Meyer (1861-1944) für Herford/Halle (Westfalen). Hieber, ein schwäbischer Bauernsohn und in Tübingen Schüler des Paulskirchen-Abgeordneten Rümelin, kam aus der württembergischen Deutschen Volkspartei und vertrat eher linksliberale Ansichten, wenn er in der Auseinandersetzung über eine Erbschaftssteuer den Konservativen 1909 vorwarf, die Selbstsucht einzelner besitzender Kreise habe den Sieg davongetragen 25 . Trotz des oft beschworenen Bündnisses von Thron und Altar waren die Parteien der Rechten nur durch wenige Pfarrer im Reichstag des Kaiserreichs vertreten. Bei der Konservativen Partei gab es von 1893 bis 1898 den langjährigen Militär-, zuletzt Garnisonpfarrer in Spandau und seit 1894 Pfarrer in Kladow (Havel) Martin Schall (1844-1921), von 1894 bis 1903 auch Landtagsabgeordneter. Für die gemäßigteren Freikonservativen, die Deutsche Reichspartei, mit damals nur noch 14 Mandaten war von 1912 bis zu seinem Tod Johannes Zürn (1866-1913), Pfarrer im westpreußischen Bellschwitz (Wahlkreis Marienwerder-Rosenberg), Mitglied des Reichstags. Ihrer Fraktion hatte sich 1881 aber auch der Berliner Oberhofprediger Adolf Stoecker (1835-1909) angeschlossen, der von 1881 bis 1907 mit einer Unterbrechung von 1893 bis 1898 den Wahlkreis Siegen vertrat und von 1879 bis

24

D a t e n bei WILHELM HEINZ SCHRÖDER: S o z i a l d e m o k r a t i s c h e R e i c h s t a g s a b g e o r d n e t e

und

Reichstagskandidaten 1898-1918. Düsseldorf 1986, S. 115f.; vgl. auch T. NLPPERDEY, Geschichte (Anm. 23), S. 501, 515 und GÖHRES Schrift: Die neueste Kirchenaustrittsbewegung aus den Landeskirchen in Deutschland. Jena 1909; dem württembergischen Landtag gehörte seit 1900 mit dem (jüngeren) Christoph Blumhardt (1842-1919) aus Bad Boll ein sozialdemokratischer Pfarrer an, den das Konsistorium zum Amtsverzicht gezwungen hatte (JÖRG SCHADT/WOLFGANG

SCHMIERER:

Die

SPD

in

Baden-Württemberg

und

ihre

Geschichte. Stuttgart 1979, S. 113f., 330). 25 Vgl. EDUARD GEROK: Johannes Hieber. Theologe, Kultusminister und Staatspräsident. In: Lebensbilder aus Schwaben und Franken. Bd. 13. Stuttgart 1976, S. 375-401.

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1898 auch Mitglied des preußischen Landtags war 2 6 . 1878 hatte er die Christlichsoziale Arbeiterpartei (ab 1881 Christlichsoziale Partei) als Gegenbewegung gegen die Sozialdemokratie gegründet. In einem "christlichen Staat" wollte er die durch Liberalismus und Kapitalismus erzeugten sozialen Mißstände beheben, für die er vor allem die Juden verantwortlich machte 2 7 . Auch als er sich 1896 von den Konservativen getrennt hatte, blieben die Siegerländer ihm treu und wählten ihn 1898 und 1903 erneut in den Reichstag, wo er nun mit einem weiteren Abgeordneten die Christlichsozialen vertrat. Sein Nachfolger im Wahlkreis wurde nach einem vergeblichen Versuch bei der Nachwahl von 1909 drei Jahre später sein Schwiegersohn Reinhard Mumm (1873-1932), seit 1905 Pfarrer in Berlin, Generalsekretär der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz und im Krieg Divisionspfarrer. Er war durch Studien in Utrecht von Abraham Kuyper, dem Führer der orthodox-protestantischen Antirevolutionären Partei beeinflußt worden und hatte sich seit 1900 für die Christlichsozialen betätigt, u. a. als Redakteur ihrer Tageszeitung "Das Reich" von 1907 bis 1909. In seiner antisemitischen Haltung noch übertroffen wurde Stoecker von der 1894 gegründeten Deutschsozialen Reformpartei, aus der 1900 die Deutschsoziale Partei hervorging; sie wurde von 1895 bis 1898 von dem Berliner Pastor Karl Friedrich Wilhelm Iskraut (1854-1945), gewählt in Eschwege/Schmalkalden, als einem von insgesamt 16 Abgeordneten antisemitischer Parteien im Reichstag vertreten. Nicht alle diese Abgeordneten sind, soweit es sich feststellen läßt 2 8 , in den Plenarsitzungen durch Reden hervorgetreten; manche haben sich auf Anfragen oder Äußerungen zu speziellen Problemen ihres Wahlkreises beschränkt, wie etwa Hoeck, der sich 1905 und 1906 für das Kanalamt am Kaiser-Wilhelm-Kanal interessierte, und Enders, der mehrfach für die Thüringer Heimarbeiter eintrat. Die parlamentarische Tätigkeit Naumanns zu würdigen, ist hier nicht der Ort 2 9 , aber wenige Beispiele mögen doch zeigen, 26

Vgl. HELMUT BUSCH: Die Stoeckerbewegung im Siegerland. Ein Beitrag zur Siegerländer

27

Eine Würdigung seiner umstrittenen und letztlich bei allen guten Absichten verhängnis-

Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Siegen 1968. vollen Tätigkeit bei GÜNTER BRAKELMANN/MARTIN GRESCHAT/WERNER JOCHMANN: Protestantismus und Politik. W e r k und Wirkung Adolf Stoeckers. H a m b u r g 1982; seine Reden im Reichstag wurden v o n REINHARD MUMM gesammelt und herausgegeben (Schwerin 1914). 28

Erst ab 1909 liegen - zunächst für jede Sitzungsperiode einer Legislaturperiode - mit Band 2 3 8 der STENOGRAPHISCHEN BERICHTE Sprechregister mit Angabe der behandelten T h e m e n vor.

29

T . HEUSS, N a u m a n n (Anm. 23), behandelt S. 245ff., 283ff. und 290ff. Naumanns parlamentarische Tätigkeit, geht aber auf seine Reden im Reichstag nicht ein. Das Sprechregister ( A n m . 28) nennt u. a. als T h e m e n Koalitionsfreiheit und Arbeiterkammern, Förderung der

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wie einige dieser Theologen zu Fragen Stellung nahmen, die Christentum und Kirchen berührten. So äußerte Hieber sich 1905, 1906 und 1907 zu Bemühungen des Zentrums, durch ein Gesetz über die Freiheit der Religionsausübung die Lage der katholischen Kirche zu verbessern und in das Reichsvereinsgesetz auch kirchliche Vereine, Orden und Kongregationen einzubeziehen 30 . Er hielt "eine Ausdehnung der Reichskompetenz auf das staatskirchenrechtliche Gebiet ... für ein nationales Unglück" und befürchtete, sie werde "dem Mißbrauch der Religion und Konfession für politische und Parteizwecke einen geradezu unerschöpflichen Nahrungs- und Agitationsstoff zuführen"; allerdings erinnerte er das Zentrum auch daran, daß die Altkatholiken in Bayern noch nicht gleichberechtigt seien. Eine lebhafte Debatte gab es im Mai 1912 im Anschluß an den Fall Jatho, des Kölner Pfarrers, der im Juni 1911 in einem Lehrzuchtverfahren gegen den Protest einer breiten Öffentlichkeit nach dem kirchlichen Irrlehregesetz von 1910 zum Amtsverlust verurteilt worden war, weil seine Christologie, seine Abendmahlslehre und insbesondere seine pantheistische Gottesvorstellung Anstoß erregt hatten 31 . In einem Zivilgottesdienst in Charlottenburg hatte ein Pfarrer dieses Urteil eines Spruchkollegiums des Evangelischen Oberkirchenrates kritisiert. Offiziere, unter deren Führung Soldaten den Gottesdienst besuchten, hatten diesen deshalb befohlen, die Kirche sofort zu verlassen. Der Pfarrer hatte sie wegen Störung des Gottesdienstes angezeigt, ein Militärgericht sie aber freigesprochen. Mumm verteidigte sie: Sie hätten "in überaus schwerer Stunde Entschlußfähigkeit bewiesen", als der Pfarrer "gegen die geordnete Obrigkeit" gesprochen habe 32 . Ihm trat Heyn entgegen und warf ihm "eine Verleugnung des protestantischen Standpunkts" vor; denn was wäre aus dem Protestantismus geworden, hätte Luther nicht seine "vorgesetzte Behörde" angreifen dürfen? 33 Für den Pfarrer Zürn hingegen hatten die Offiziere richtig gehandelt: "Was den Soldaten gepredigt werden soll, das ist Gottes Wort, das ist der Weg zur Seligkeit und nicht Polemik" 3 4 . Mumm, einer der eifrigsten Parlamentarier überhaupt, zu dessen Reden für jede Legislaturperiode fast 100 Stichworte von "Afrikanische Kirche" und "Animierkneipen" bis "Zündholzsteuer" aufgeführt werden, beteiligte Mission, aber auch der Kleinbauern gegen die Plantagenbesitzer in Deutsch-Ostafrika, die Beleidigung v o n Elsässern durch einen Offizier in Zabern,

Ministerverantwortlichkeit,

Wahlrechtsreform in Preußen, Weingesetz. 30

STENOGAPHISCHE BERICHTE, Bd. 202, S. 4 5 6 0 A ; Bd. 217, S. 2 8 4 6 C ; Bd. 229, S. 2 1 0 7 C .

31

ECKHARD LESSING: In: Geschichte der Evangelischen Kirche der U n i o n . Bd. 2. Hg. v o n J o a c h i m Rogge und Gerhard Ruhbach. Leipzig 1994, S. 406ff.

32

STENOGRAPHISCHE BERICHTE, Bd. 285, S. 1892.

33

EBD., S. 1894.

34

EBD., S. 1895.

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sich 1912 auch an der Diskussion darüber, ob in den Kolonien Ehen zwischen Weißen und Eingeborenen zugelassen werden sollten. Er hielt sie zwar für nicht erwünscht und fand dafür den Begriff "Rassenschande", auf den das "Volksbewußtsein" schärftens reagieren müsse, wollte sie aber nicht verbieten, weil dann auch eine kirchliche Trauung, da sie die standesamtliche voraussetzte, unmöglich werde 35 . Zürn unterschied ebenfalls zwischen "christlichem Empfinden", das die Sicherstellung der Rechte von "Mischlingskindern" fordere, und dem "gesunden nationalen Rassenbewußtsein", das sich gegen jede "Erleichterung der Rassenmischung" wende 3 6 . Als die SPD 1912 beantragte, ein Reichsschulamt zu errichten, befürchteten Mumm wie Zürn davon eine Beschränkung der kirchlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Religionsunterricht 37 . Mumm verlangte aber auch mehr Freiheit für die Kirche, als er 1913 in einer Rede gegen die Aufhebung des Jesuitengesetzes, für das er die Freimaurer verantwortlich machte, darauf verwies, daß die evangelische Kirche viel stärker durch staatliche Aufsicht beschränkt werde, und nach dem Verbot von Gottesdiensten der Gemeinschaftsbewegung in Nordschleswig wegen Gebrauchs der dänischen Sprache wünschte er, daß Gottesdienste nicht "irgendwie durch staatliche Maßnahmen eingezwängt" würden 38 . In die Deutsche Nationalversammlung in Weimar zogen 1919 von den bisherigen Reichstagsabgeordneten Naumann, Weinhausen und Mumm ein. Die beiden ersten gehörten der Deutschen Demokratischen Partei an, die an Fortschritt und Freisinn anknüpfte und zu deren Gründung Naumann aufgerufen hatte; sein Tod wenige Tage nach Verabschiedung der Reichsverfassung im August 1919 zerstörte die Hoffnungen, als ihr Vorsitzender werde er einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Entwicklung der ersten deutschen Republik leisten können. Die DDP wurde auch noch durch den Frankfurter Pfarrer Karl Veidt (1879-1946) vertreten, und für die Nachfolgerin der Nationalliberalen, die Deutsche Volkspartei, wurde Pfarrer Richard Oertel (1860-1932) aus Neuerkirch im Hunsrück gewählt, von 1912 bis 1918 bereits preußischer Landtagsabgeordneter. Stärker als früher waren evangelische Theologen in der konservativen Fraktion der Deutschnationalen Volkspartei repräsentiert. Neben Mumm gehörten ihr der Oberpfarrer im sächsischen Lichtenstein Paul Ende (18741957) und der Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub (1869-1956) an; wegen 35

EBD., Bd. 2 8 5 , S. 1 7 3 3 C .

36

EBD., S. 1 7 3 2 .

37

EBD., B d . 2 8 4 , S. 7 6 6 A , u n d B d . 2 8 7 , S. 3 2 0 9 .

38

EBD., B d . 2 8 8 , S. 3 9 2 5 , u n d B d . 2 8 7 , S. 3 0 8 5 D .

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Unterstützung Jathos war er ebenfalls gemaßregelt worden und hatte von 1913 bis 1918 für die Fortschrittliche Volkspartei ein Mandat im Preußischen Abgeordnetenhaus innegehabt. Traub erwies sich als "bedingungsloser Polemiker gegen alles, was sich mit der Demokratie in Deutschland verändert hatte" 39 . In 33 Reden und Anträgen äußerte er sich zu u. a. Schulfragen, den Arbeiter- und Soldatenräten und den Waffenstillstandsbedingungen, ferner zum Kompromiß von Zentrum und SPD in der Schulfrage und zum Privatschulgesetz. Seine spätere politische Karriere wurde dadurch beeinträchtigt, daß er sich beim Kapp-Putsch als Kultusminister zur Verfügung stellen wollte. Bis 1935 beschränkte er sich auf publizistische Wirksamkeit als Herausgeber der "München-Augsburger Abendzeitung", soll dann aber auch die Bekennende Kirche unterstützt haben. Als weitere Redner traten hervor: Naumann, der u. a. die Finanzierung der Kirchen durch Kirchensteuern, Staatsleistungen und Sicherung ihres Eigentums behandelte, außerdem wieder Mumm mit Beiträgen u. a. ebenfalls zur Kirchensteuer, zum Religionsunterricht und den Theologischen Fakultäten 40 . Weinhausen sprach zu Fragen der Sozialversicherung und zum Betriebsrätegesetz, Ende und Veidt zur Trennung von Kirche und Staat und zur Rechtsstellung freier Weltanschauungsgemeinschaften, Oertel beschränkte sich auf eine Anfrage zur Errichtung von Kleinwohnungen auf dem Lande. In den Reichstagen der Weimarer Republik schwankte die Zahl der evangelischen Theologen unter seinen Mitgliedern. 1920 waren es noch sieben, 1924 fünf, 1928 nur drei, 1930 wieder fünf und nach beiden Wahlen von 1932 wieder drei, von denen zwei auch für den nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 gewählten Reichstag Mandate erhielten. Die D D P stellte davon nur noch drei. Zu Weinhausen, der bis 1924 Abgeordneter blieb, kam 1920 und blieb bis 1928, als er hessischer Arbeitsund Wirtschaftsminister wurde, Pfarrer Adolf Korell (1872-1941) aus dem rheinhessischen Niederingelheim; er befaßte sich überwiegend mit Fragen der besetzten westdeutschen Gebiete, Ubergriffen der Besatzungstruppen 39 MARTIN GRESCHAT: Adolf Stoecker und der deutsche Protestantismus. In: G. BRAKELMANN, Protestantismus (Anm. 27), mit Hinweis auf seine "Lebenserinnerungen" im Nachlaß im Bundesarchiv Koblenz; eine Tübinger Dissertation über ihn ist in Arbeit. 40 Die Anzahl der zu seinen Anträgen und Reden ausgeworfenen Hauptstichwörter beträgt für Nationalversammlung und 1920 bis 1924 nicht weniger als 62 bzw. 55 von "Alkoholismus" bis "Zwangswirtschaft", für 1928 bis 1930 noch 19. Zu den von ihm behandelten Fragen gehörten der Schutz der Jugend vor "Schmutz und Schund", religiöse Darbietungen im Rundfunk, Besteuerung der Kirchen, Pfarrerbesoldung und Militärseelsorge, Reichskonkordat, Konfessionsschule, Schulgebete und Religionsstatistik, aber auch "Verhinderung der Masseneinwanderung aus dem Osten".

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und dem Verhältnis zu Frankreich, einmal auch mit der "Abschiebung und Internierung lästiger Fremdstämmiger". In einer Rede zur Jahrtausendfeier der Rheinlande sagte er "als evangelischer Geistlicher" im Zusammenhang mit der "Hetze gegen Protestanten", die wie er bei der Reichspräsidentenwahl 1925 für den katholischen Kandidaten Marx eingetreten waren, es wäre "das Unheilvollste, wenn der konfessionelle Gegensatz verschärft würde" 4 1 . Für die D D P wurde 1921 Hieber nochmals gewählt; noch als Abgeordneter wurde er, nachdem er schon im November 1918 für 48 Stunden der letzte königliche Kultminister von Württemberg gewesen war und ein Jahr später wieder dieses Amt übernommen hatte, im Juni 1920 als Staatspräsident Chef der Regierung und blieb es bis April 1924. Bei der DVP war Oertel, der bis 1924 Abgeordneter war, der einzige Pfarrer; er verwahrte sich 1920 dagegen, daß "reichstreue Rheinländer" als Separatisten beschimpft würden. Umso stärker wurde die Repräsentanz der evangelischen Theologen bei der D N V P . Zu Veidt, der 1924 nur für einige Monate sein Mandat ausübte, und Mumm, der ihrer Fraktion bis 1928 angehörte und dann - wie auch Veidt als preußischer Landtagsabgeordneter von 1930 bis 1932 - zum Christlich-sozialen Volksdienst wechselte, weil er die Politik des Parteivorsitzenden Hugenberg für unvereinbar mit christlich-sozialen Grundsätzen hielt, kamen: von 1920 bis 1930 der Westfale Hermann Strathmann (1882-1966), seit 1918 Inhaber des Erlanger Lehrstuhls für Neues Testament, der dann 1931 und im November 1932 für den Volksdienst gewählt wurde, 1921 bis 1928 der Superintendent Paul Hensel (1867-1944) aus Johannisburg in Ostpreußen, Begründer des gegen die polnischen Annektionsabsichten gerichteten Masurenbundes und bereits 1913 bis 1918 im preußischen Landtag, von 1924 bis 1928 der Magdeburger Domprediger Ernst Martin (1885-1975) und schließlich von 1930 bis 1932 der Pfarrer in Bad Oeynhausen und Superintendent Karl Koch (1876-1951). Bei Hensel standen Fragen Ostpreußens im Mittelpunkt seiner parlamentarischen Tätigkeit, er wehrte sich gegen Vorwürfe, die D N V P fördere den rechtsextremen Terror, und wirkte als Berichterstatter an der Gesetzgebung über "Schmutz und Schund", Kinos und Theater mit. Mit Schulgesetz, Rundfunkprogramm, Mensurverbot und der Behandlung "vaterländischer Verbände" befaßte sich Pfarrer Martin. Veidt hat sich an offenbar an keiner Debatte beteiligt, aber auch Karl Koch wird als Redner nicht genannt, der doch seit 1927 als Präses der westfälischen Kirche wie auch als Vorsitzender des DNVP-Landesverbandes führende Positionen bekleidete und im Preußischen Landtag, dessen Mitglied er von 1919 bis 1933 ebenfalls war, sich mehrfach zur Schulgesetzgebung und zum Staatsvertrag mit der Evangeli41

STENOGRAPHISCHE BERICHTE, B d . 3 8 6 , S. 2 8 7 8 .

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sehen Kirche äußerte 42 . Als Angehörige der Bekennenden Kirche wurden Koch, der 1935 mit anderen Pfarrern verhaftet wurde, und Veidt, der als Leiter des Landesbruderrates in Nassau-Hessen von der Dienststrafkammer verurteilt wurde und zweimal in Haft war, nach 1933 verfolgt. Die ehemaligen DDP-Abgeordneten Ende und Korell wurden von deutschchristlichen Kirchenleitungen an der Ausübung ihrer Pfarrämter gehindert. Der Ende 1929 gegründete Christlich-soziale Volksdienst, in dem sich der evangelische Christliche Volksdienst in Württemberg mit ehemaligen Anhängern Stoeckers vereinigt hatte, zählte unter seinen wenigen Abgeordneten außer Mumm und Strathmann, der als Mitglied der Nationalpolitischen Arbeitsgemeinschaft aber auch Beziehungen zur Volkskonservativen Partei von Graf Westarp unterhielt, noch zwei Theologen: den Pfarrer Gustav Teutsch (1876-1966) aus Helmstadt in Baden, 1929 bis 1931 auch badischer Landtagsabgeordneter, von 1930 bis 1931, und den Bottropper Pfarrer Albert Schmidt (1893-1945) von 1930 bis 1933. Auch nach der Trennung von den Deutschnationalen blieb Mumm ein Politiker, "der ohne einen Moment des Zögerns gegen die Republik kämpfte" 4 3 . Für Strathmann verzeichnen die Sprechregister Reden und Anträge zur bayerischen Innenpolitik und zu Wissenschaftsangelegenheiten und nennen als Stichworte u.a. "Alkoholismus", "ethischer Nihilismus in Theaterstücken und Presse", "Gefährdung der Ehe", "Kulturbolschewismus", "Religionsschutz", "Schulgebete", "mangelnde Zusammenarbeit des Zentrums mit den anderen christlichen Parteien zum Schutz der christlichen Kultur". Er veröffentlichte 1931 eine Schrift "Nationlsozialistische Weltanschauung", die "zu den besten und treffendsten Analysen der nationalsozialistischen Ideologie im protestantischen Lager" zählt 44 . Seine Fraktionskollegen Teutsch, der schon nach gut einem Jahr sein Mandat niederlegte, Mitglied der N S D A P wurde, aber 1937 wieder aus ihr austrat, und Schmidt, der sich zu Arbeitszeitregelungen,

42 N D B Bd. 12. Berlin 1980, S. 270; der Gegenstand der Reden wird im Sprechregister zu den Verhandlungen nicht angeführt. 43 M. GRESCHAT, Stoecker (Anm. 39), S. 77, unter Hinweis auf die Memoiren von REINHARD MUMM: Der christlich-soziale Gedanke. Bericht über eine Lebensarbeit in schwerer Zeit. Berlin 1933. Der Nachlaß aus der Abgeordnetentätigkeit befindet sich im Bundesarchiv Potsdam. 44 KLAUS SCHOLÖER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. I. Frankfurt/Main 1977, S. 176. 1933 hätte er deshalb fast seinen Lehrstuhl verloren (vgl. HELMUT HEIBER: Universität unterm Hakenkreuz. Bd. 11,2. München 1994, S. 191), wurde dann aber noch 1940 Mitglied der NSDAP, was seine politische Nachkriegskarriere 1946 bis 1950 als Landtagsabgeordneter der CSU, von der er sich 1954 trennte, um erfolglos einen Deutschen Volkdienst als evangelische Partei zu gründen, auf Veranlassung der Militärregierung für einige Zeit unterbrach.

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zum Bau eines zweiten Panzerkreuzers, dem Prozeß gegen die Ulmer Reichswehroffiziere und einem "Mannschaftsersatz aus den evangelischen Jungmännerbünden" für die Reichswehr äußerte, traten weniger hervor; Schmidt wurde jedoch schon im November 1933 wegen Kritik am Nationalsozialismus in einer Predigt angezeigt, erhielt 1937 Redeverbot und kam wegen öffentlicher Verurteilung der Ausschreitungen gegen die Juden in der Reichspogromnacht 1938 längere Zeit in Gestapohaft, an deren Folgen er wenige Monate nach Kriegsende starb 45 . Während sich unter den Sozialdemokraten kein evangelischer Theologe ermitteln ließ - Göhre wirkte von 1919 bis 1923 als Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium - gab es von 1924 bis 1933 einen kommunistischen Abgeordneten, der einmal Vikar gewesen war. Es war Edwin Hoernle (18831952), der aus dem württembergischen Kirchendienst ausgeschieden war, um Journalist zu werden. Als Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen war er an der Gründung des Spartakus-Bundes beteiligt und hatte ab 1919 führende Positionen in der Partei und zeitweise in der Komintern ausgeübt. Im Reichstag befaßte er sich in vielen Anfragen und Reden mit wirtschafts- und sozialpolitischen Angelegenheiten unter den Stichworten von "Arbeitslosigkeit" bis "Zucker", gelegentlich auch mit Schulfragen. Er emigrierte 1933 über die Schweiz nach Moskau und beendete seine politische Laufbahn 1945 bis 1949 als Präsident der Zentralverwaltung für Land- und Forstwirtschaft der Sowjetischen Besatzungszone46. Wieviele evangelische Theologen zu den Mitgliedern des Deutschen Bundestages von 1949 bis 1990 gehörten, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Das von der Bundestagsverwaltung herausgegebene "Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages" muß einräumen, daß es für die 1. bis 8. Wahlperiode oft sogar mehrere Sozial- und Berufsprofile der Abgeordneten gibt, diese jedoch zum Teil erheblich voneinander abweichen, und auch die dort für die späteren Legislaturperioden ab 1980 genannten Zahlen berücksichtigen nicht diejenigen, die ein Theologiestudium absolviert hatten, zur Zeit der Wahl aber einen anderen Beruf ausübten, z. B. im Schuldienst oder bei Verbänden tätig waren 47 . Die folgenden Angaben können 45 M.d.R. (Anm. 3), S. 495. 46

V g l . BIOGRAPHISCHES HANDBUCH DER DEUTSCHSPRACHIGEN EMIGRATION NACH 1 9 3 3 . B d . I.

München 1980, S. 307; zu seinem Nachlaß in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin QUELLEN ZUR DEUTSCHEN POLITISCHEN EMIGRATION. Hg. von Heinz Boberach u. a. München 1994, S. 147f. 47

DATENHANDBUCH ZUR GESCHICHTE DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES 1949-1982. V e r f a ß t u n d

bearb. von Peter Schindler. Hg. vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages. Bonn 1983, S. 197ff.; vgl. auch DASS. 1980 bis 1987. Baden-Baden 1988, S. 194ff. Die dort erwähnten unterschiedlichen Profile, von denen nur einige die Kategorie Pfarrer

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daher nur auf den Lebensläufen in den Amtlichen Handbüchern des Deutschen Bundestages für die einzelnen Wahlperioden beruhen; wenn Abgeordnete es für unerheblich gehalten haben, darin ein früheres Theologiestudium zu erwähnen, konnten sie nicht berücksichtigt werden. Danach ergeben sich für den Bundestag folgende Zahlen für die Zugehörigkeit von Pfarrern und Theologen: 1. WP (1949)48: 1 CDU, 2 SPD; 4. WP (1961) 3 CDU, 3 SPD; 5. WP (1965) 2 CDU, 2 SPD; 6. WP (1969) 1 CSU, 4 SPD); 7. WP (1972) 2 CDU/CSU, 4 SPD); 8. WP (1976) 2 CDU, 3 SPD; 9. WP (1980) 2 SPD; 10. WP (1983) 1 SPD, 1 Grüne; 11. WP (1987) 1 SPD und ab 3. Oktober 1990 als von der Volkskammer der DDR gewählte Abgeordnete 2 CDU, 7 SPD und 3 bei Grüne/Bündnis 90. Unter den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion ist an erster Stelle Eugen Gerstenmaier (1906-1986) zu nennen, nach Habilitation in Rostock ab 1936 Hilfsarbeiter, dann Konsistorialrat im Kirchlichen Außenamt, vom Volksgerichtshof als Angehöriger des Kreisauer Kreises nach dem 20. Juli 1944 zu einer Zuchthausstrafe von sieben Jahren verurteilt, seit August 1945 Leiter des von ihm gegründeten Evangelischen Hilfswerks. Er war von 1949 bis 1969 Abgeordneter, seit November 1954 bis zu seinem Rücktritt nach der Kritik an seinen Wiedergutmachungsforderungen im Januar 1969 als Nachfolger des juristischen Oberkirchenrats Hermann Ehlers49 Bundestagspräsident, vorher stellvertretender Vorsitzender und Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten 50 . Nach den Wahlen von 1953 kam für die C D U ein weiterer Oberkirchenrat in den Bundestag: Adolf Cillien (1893-1960), der nach langjähriger Tätigkeit als Gemeindepfarrer und Superintendent 1937 Leiter des Amtes für Gemeindedienst und 1943 zugleich Mitglied der Kirchenleitung der Ev.-luth. berücksichtigen, sind zusammengestellt in: Die Mitgliederstruktur des Deutschen Bundestages. I.-VII. Wahlperiode. Materialzusammenstellung und Auswahlbibliographie (Materialie Nr. 40 des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. 1973). 48 Nur in dieser Wahlperiode gehörten auch zwei katholische Pfarrer dem Bundestag an, die beide aus dem Sudetenland stammten: Franz Ott, parteilos bzw. Gast in verschiedenen Fraktionen, und Konrad Wittmann, Wirtschaftliche Aufbauvereinigung, zuletzt Gast bei der CDU/CSU. 49 Wie dieser standen auch die CDU-Abgeordneten Oberkirchenrätin Elisabeth Schwarzhaupt, der Reichssekretär des Evangelischen Jungmännerwerks Gustav Adolf Gedat, Ernst von Bodelschwingh und Johannes Kunze aus Bethel im kirchlichen Dienst, ohne Theologen zu sein. 50 Er äußerte sich zu seiner parlamentarischen Tätigkeit in seinem Lebensbericht "Streit und Friede hat seine Zeit" (Frankfurt/Main 1981, S. 301-593) und veröffentlichte "Reden und Aufsätze" in 2 Bänden (Stuttgart 1956 und 1962); eine Aufstellung seiner Reden als Bundestagspräsident bei BRUNO HECK: Widerstand, Kirche, Staat. Eugen Gerstenmaier zum 70. Geburtstag. Frankfurt/Main 1976, S. 242-245.

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Landeskirche von Hannover geworden war. Er hatte 1945 zu den Gründern der C D U in Niedersachsen gehört, von 1946 bis 1951 ihre Fraktion im Landtag geleitet und wurde nun bis zu seinem Tod stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Ebenfalls wurde 1953, 1957 und 1961 für die C D U der Pfarrer in Watzenberg-Steinberg bei Gießen Wilhelm Gontrum (1910-1969) gewählt; er war ab 1962 fraktionslos, nachdem ihm öffentlich Mißwirtschaft und Bereicherung als Vorsitzender des Deutschen Familienferien-Erholung e. V., dessen Konkurs nur mit kirchlichen und Landesmitteln abgewendet werden konnte, vorgeworfen worden w a r 5 1 . Von 1957 bis 1969 war Karl August Bühler (1904-1984) CDU-Abgeordneter, bis 1948 Pfarrer in Thüringen, dann in Schallbach in Baden. Beide theologischen Examina hatte auch der Arzt Berthold Martin (1913-1973) abgelegt, der die C D U von 1957 bis zu seinem Tod vertrat, mehrere Jahre Vorsitzender des Ausschusses für Kulturpolitik. Uber die Landesliste rückte im Mai 1962 Wilhelm Hahn (geb. 1909) nach, von 1937 bis 1950 Pfarrer, zuletzt Superintendent in Minden, seit 1950 Professor für Homiletik in Heidelberg und 1952 kurze Zeit Bischof in Oldenburg; als die "politische Arbeit in Bonn begann, Freude zu machen", u. a. als Leiter einer Studiengruppe des Evangelischen Arbeitskreises der C D U und Mitglied einer Bundestagsdelegation in Ägypten, wurde er im November 1964 zum Kultusminister in Baden-Württemberg berufen, was er bis 1978 blieb, um dann noch eine Wahl in das Europäische Parlament anzunehmen 52 . Als einziger Pfarrer in der Landesgruppe der C S U gehörte von 1969 bis 1976 Hans Roser (geb. 1931) dem Bundestag an; seit 1963 war er nach zweijähriger Tätigkeit in Zell am Main Landjugendpfarrer für Bayern und Geschäftsführer der Evangelischen Landjugend, seit 1969 Landesvorsitzender des von ihm mitbegründeten Evangelischen Arbeitskreises des CSU. 1975 kam als Nachrücker und dann wiedergewählt bis 1980 der frühere Militär-, seit 1967 Gemeindepfarrer in Wuppertal-Elberfeld Manfred Schmidt (geb. 1929) für die C D U nach Bonn, und von 1976 bis 1980 vertrat sie außerdem der Assistent am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg Stephan Reimers (geb. 1944). Nach ihm gehörten erst wieder von Oktober bis zur Wahl im Dezember 1990 zwei Theologen, die von der Volkskammer gewählten Abgeordneten Martin Göttsching (geb. 1944), Pfarrer in Bad Frankenhausen, und Karl Selke (geb. 1944), Pfarrer in Wusterhausen (Dosse), zur CDU/CSU-Fraktion. 51 Vgl. DER SPIEGEL, Jg. 16, Nr. 36 vom 5.9.1962, S. 40, nach einem Bericht des Bundesrechnungshofes vom Oktober 1961. 52 WILHELM HAHN: Ich stehe dazu. Erinnerungen eines Kultusministers. Stuttgart 1981, S. 8895.

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Die SPD wurde seit der ersten Wahlperiode, jedoch erst durch eine Nachwahl ab 1951 und bis zu seinem Tod von Hans Merten (1908-1967) im Bundestag vertreten; er war Pfarrer am Johannesstift in Spandau und bis zum Wehrdienst 1939 in Mörfelden bei Frankfurt/Main gewesen, von 1945 bis 1949 hatte er als Seelsorger Kriegsgefangene, .nternierte und Vertriebene betreut und bis zur Wahl im Bundesvertriebenenministerium das Referat für Kriegsgefangene und Heimkehrer geleitet 53 . Sein Fraktionskollege war von 1949 bis 1957 Fritz Wenzel (1910-1976); der langjährige Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft, der schon 1930 in die SPD eingetreten und als Pfarrer in Breslau von der Gestapo verfolgt worden war 54 , hatte sich in der Flüchtlingsfürsorge der Inneren Mission in Braunschweig und zuletzt als Dozent für Religionswissenschaft an der dortigen Kant-Hochschule betätigt. Dritter Theologe bei der SPD im Bundestag war von 1949 bis 1965 Moritz Ernst Priebe (geb. 1902), von 1934 bis 1939 Pfarrer der Vereinigten Lutherischen Kirche in Amerika in Argentinien und nach dem Wehrdienst Pastor der Freien Evangelischen Gemeinde in Uelzen. Für die SPD gehörten dem Bundestag weiterhin folgende Theologen an: von 1962 bis 1980 Rudolf Kaffka (geb. 1923), Pfarrer in Annweiler in der Pfalz und vorher bis 1956 Seelsorger bei deutschen Labour Service Einheiten; von 1967 bis 1976 Karl-Hans Kern (geb. 1932), nach zweijährigem Vikariat ab 1959 Studienrat in Schwenningen; von 1969 bis 1985 U d o Fiebig (geb. 1935), seit 1963 Pfarrer in Lünen; von 1969 bis 1980 Horst Krockert (geb. 1924), der nach Tätigkeiten als Gemeindepfarrer und am Theologischen Seminar Friedberg von 1962 bis 1966 Studienleiter am Seminar für kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft (Gossner Mission) und dann Leiter des Amtes für Industrie- und Sozialarbeit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gewesen war; ab 1980 Horst Sielaff (geb. 1937), ursprünglich Diakon, 1971 bis 1973 Pfarrer, dann Religionslehrer in Frankenthal. Die Volkskammer wählte 1990 für die SPD hinzu: den Berliner Dozenten für Philosophie und Theologie Konrad Elmer (geb. 1949); den Pfarrer in Marwitz Martin Gutzeit (geb. 1952); den ehemaligen Pfarrer und seit 1979 Geschäftsführer des Diakonischen Werks der Landeskirche Greifswald Hinrich Kuessner (geb. 1943); den Erfurter Pfarrer Edelbert Richter (geb. 1943), der 1989 den "Demokratischen Aufbruch" mitbegründet hatte; den früheren Pfarrer und seit 1977 Dozent für Philosophie an Kirchlichen Hochschulen

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Ü b e r ihn WALTER HENKELS: 99 Bonner Köpfe. Düsseldorf 1963, S. 207-209, und die Sicht seiner Frau ELISABETH HACHTEL: Die politische Witwe. B o p p a r d 1965.

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So die Angaben im MUNZINGER-ARCHIV 1958; KURT MEER: D e r evangelische Kirchenkampf. Bd. 3. Göttingen 1984, S. 305 rechnet ihn zu den deutschchristlichen Luther-Deutschen.

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Richard Schröder (geb. 1943), 1990 Fraktionsvorsitzender der SPD in der Volkskammer; den Naumburger Studenten- und Kreisjugendpfarrer Ulrich Stockmann (geb. 1951). Uber eine offene Landesliste der Grünen wurde 1983 erstmals eine Theologin gewählt: Antje Vollmer (geb. 1943), nach Vikariat und Assistentenzeit von 1971 bis 1974 Pfarrerin in Berlin-Wedding, seitdem Dozentin an der Evangelischen Heimvolkshochschule in Bethel; sie war ab April 1984 eine der drei Sprecherinnen der Fraktion, schied 1985 auf Grund des Rotationsprinzips aus und kehrte 1987 in das Parlament zurück. 1990 schlössen sich der nunmehrigen Bundestagsfraktion Die Grünen/Bündnis 90 die Volkskammerabgeordneten Hans-Jochen Tschiche (geb. 1929), Pfarrer und Studienleiter der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, Gründungsmitglied des Neuen Forums, und Wolfgang Ullmann (geb. 1929) an, der bis 1963 Pfarrer, dann Dozent am Kirchlichen Oberseminar in Naumburg und am Sprachenkonvikt in Ost-Berlin gewesen war, "Demokratie jetzt" mitbegründet und das Amt eines Ministers ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow bekleidet hatte; der ebenfalls für Bündnis 90 gewählte Volkskammerabgeordnete Joachim Gauck (geb. 1940), Pfarrer in Rostock, legte sein Mandat wegen seiner Berufung zum Sonderbeauftragten für personenbezogene Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bereits am 4. Oktober 1990 nieder. Wie die 17 evangelischen Theologen, die bis zum Eintritt der Volkskammerabgeordneten dem Bundestag in 11 Legislaturperioden angehörten, dort ihre politischen Ansichten vertreten und was sie bewirkt haben, kann hier nicht untersucht werden 55 . Wie Vorgänger im Reichstag haben einige sich, z. B. Schmidt, auf mündliche Anfragen beschränkt, die meist spezielle Angelegenheiten ihres Wahlkreises betrafen. Fiebig, Krockert, Priebe und Roser äußerten sich mehrfach zu Jugendfragen, Kaffka und Kern befaßten sich u. a. mit Energiepolitik, Kaffka und Roser mit Entwicklungshilfe. Während Gerstenmaier sich vor allem außenpolitischen Fragen widmete, setzte Merten sich als Vizepräsident des Verbandes der Heimkehrer aus Kriegsgefangenschaft insbesondere für deren Belange ein und war als stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsauschusses von 1957 bis 1963 am Aufbau der Bundeswehr beteiligt. N u r gelegentlich wurde bei Anfragen - z. B. Kaffkas wegen der Teilnahme von 50 Fähnrichen und Offizieren an einem Gottesdienst, die Studenten hindern sollten, ihn zu einer Demonstration zu benutzen - und in Debatten deutlich, daß sich Politiker äußerten, die zugleich Theologen war. 55

Die folgenden Beispiele beruhen, soweit nicht anders belegt, auf den Angaben in den S p r e c h r e g i s t e r n z u d e n STENOGRAPHISCHEN BERICHTEN.

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So geschah es, als am 22. Oktober 1954 ein Gesetz zur Änderung des Personenstandsgesetzes beraten wurde, das vorsah, in die Personenstandsbücher die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft einzutragen und die Strafdrohung für Geistliche, die eine kirchliche vor der standesamtlichen Trauung vornahmen, zu beseitigen56. Dagegen erhob die SPD verfassungsrechtliche Bedenken, und der Abgeordnete Heinz Kühn, der spätere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, zitierte den liberalen Bundesjustizminister Thomas Dehler, der gesagt habe, "es graue ihm vor einem von Prälaten und Oberkirchenräten regierten Deutschland". Ihm antwortete der Oberkirchenrat Cillien und verwahrte sich dagegen; er sei in die C D U eingetreten, weil er dazu beitragen wolle, daß der "konfessionelle Zwiespalt" überwunden werde, und er glaube nicht, daß der Angriff Kühns "im wohlverstandenen Interesse unseres Volkes" liege. Am 4. Juli 1956 stritten die Pfarrer Gontrum und Merten darüber, ob evangelische Geistliche und Theologiestudenten vom Wehrdienst befreit werden sollten 57 . Gontrum sprach dafür, während Merten es ablehnte: da für jeden evangelischen Christen der staatliche Zwang, Waffen zu tragen und sich auf den Krieg vorzubereiten, "eine absolute Gewissensfrage" sei, dürfe man es den Theologiestudenten nicht ermöglichen, der Entscheidung für Wehrdienst oder zivilen Ersatzdienst auszuweichen. Zur Unterstützung eines SPD-Antrags gegen das Wettrüsten hatte Gustav Heinemann im Parlament auf Erklärungen der Synoden der Evangelischen Kirche der Union und der rheinischen Kirche verwiesen. Am 23. Januar 1958 wandte sich Cillien dagegen: "Ich halte es nun allerdings nicht für angebracht, ... von der innersten religiösen, christlichen Einstellung von dieser Tribüne aus zu sprechen", und "es wäre gut, wenn solche Exkursionen in das kirchliche, religiöse, theologische Gebiet hier unterblieben"; auch Gerstenmaier forderte: "Lassen Sie die Theologie draußen!" 58 . Ob und in welchem Umfang das allen evangelischen Theologen gelungen ist, die seit 1848 als Parlamentarier zu wirken suchten, müßten differenziertere Untersuchungen zu ihren Biographien klären 59 . Ihre Tätigkeit zusammenfassend zu beurteilen, ist kaum möglich. Ein Blick auf die landsmannschaftliche Herkunft und die Wahlbezirke zeigt bis 1933 einen verhältnismäßig hohen Anteil von Abgeordneten, die aus Württemberg, darunter

56 57

STENOGRAPHISCHE BERICHTE, B d . 21, S. 2 5 8 0 f f . EBD., B d . 3 1 , S. 8 6 0 1 , 8 8 4 6 , 8864.

Bd. 3 9 , S. 4 1 3 . 59 HARTMUT MAURER: Freiheit und Bindung kirchlicher Amtsträger. Zur politischen Betätigung der kirchlichen Amtsträger, insbesondere der Pfarrer. In: ZevKR 19, 1974, S. 30-72, geht auf Einzelfälle nicht ein. 58

EBD.,

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Tübinger Stiftler wie Hieber und Traub, und Baden und aus dem nördlichen Westfalen stammten oder dort gewählt wurden. Gerstenmaier, Bühler und Hahn setzten diese Tendenz fort. Ob der starke Anteil der Theologen an den Abgeordneten aus den neuen Bundesländern auf die besonderen Bedingungen von 1990 zurückzuführen ist, wird sich erst langfristig herausstellen. Im übrigen muß man sich auf die Feststellung beschränken, daß bis 1918 die Mehrheit im Liberalismus ihre politische Heimat fand und selbst in der Weimarer Republik nicht alle Deutschnationalen die extremen Ansichten von Traub und Mumm in der Nachfolge Stoeckers gebilligt haben dürften. Daß es unter den FDP-Abgeordneten im Bundestag keinen evangelischen Theologen gegeben hat und von 1949 bis Oktober 1990 die gleiche Zahl der C D U / C S U - und der SPD-Fraktion angehört hat, mag mit dem Wandel der beiden großen Parteien von der Weltanschauungs- zur Volkspartei zusammenhängen. Mit wenigen Ausnahmen wird man den Pfarrern als Parlamentariern jedoch zubilligen können, was Gontrum in der Debatte über das Personenstandsgesetz für sich in Anspruch nahm: sich bemüht zu haben, "mit letztem Ernst um unserer Demokratie und um des Christentums willen eine gute Lösung herbeizuführen".

Jonathan R. C. Wright T H E C H U R C H IN POLITICS Reflections on German Protestantism in the 20th Century One of the striking features of the history of the German Protestant Church in the 20th century is the extent to which it is political history. Yet given the extraordinary political history of Germany in the 20th century, this is not surprising. No other nation has experienced an Empire, two liberal democracies and two dictatorships with contrasting ideologies in the same way. This provides a unique range of human experience for the historian, at the same time fascinating and overwhelming. It also provides a series of examples of the actions and influence of the church in politics, which could almost be regarded as a set of test cases drawn from the experience of such varied regimes. A Max Weber or Ernst Troeltsch would no doubt be able to produce a comprehensive typology of the church in politics which would order this vast range of experience into a meaningful pattern. My purpose is much more modest. It is simply to raise the question of what lessons, if any, can be learnt from this history. It seems reasonable to start with the criticisms of the political record of the Protestant church. Pre-1949, they follow a fairly obvious pattern: there would probably be a broad measure of agreement that, with the benefit of hindsight, it was too closely identified with the Empire, too hostile to the Weimar Republic and fell short in its opposition to the Third Reich, and perhaps with more discussion - that under military government in the Western zones of occupation it remained essentially defensive, revealing the continuity of its predominantly nationalist and conservative political culture, rather than an ability to learn from the past and endorse democracy1. After 1949, there is more room for argument. Was the church too close to the Federal Republic, enjoying a new version of the privileges of an alliance of throne and altar or was it too critical, once again denying a democracy its 1

See, for instance, CLEMENS VOLLNHALS: Evangelische Kirche und Entnazifizierung

1945-

1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit (Studien zur Zeitgeschichte. 36). München 1989.

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crucial, moral support as in the Weimar Republic? And in the GDR, did the church eventually succumb to a false compromise or did it maintain a right balance between 'opportunism and opposition' 2 , allowing it to defend its interests and those of others without compromising its integrity? Whatever one's view of the role of the Protestant church in the period since 1949, there is a consensus that its failures in the first half of the century were a consequence of the dominant nationalist and anti-democratic ethos within it. But what consequence? Did the failure lie in its identification of its political values with Christian values, or was the failure a more radical one, as Karl Barth seemed to suggest, to identify any political values with Christian ones and thereby commit the fatal error of natural theology? Are political values simply too uncertain and too human oriented to be part of the revealed truth of the Christian gospel? If so, does the church have any proper political role? If not, what political values may properly be regarded as Christian ones? These questions are obviously not ones which the historian is qualified to answer but the uncertainty generated by them has important consequences. One striking feature of the Barthian position is that paradoxically it allowed considerable latitude for comment. He did not feel inhibited from attacking the Weimar church leadership for what he saw as its self-satisfaction with its achievements in guiding the church as an institution safely through the Republic. This appeared to be an attack on those who saw their task as leading the church to an accommodation with the Republic, even if that was a misunderstanding of what he said3. Yet, looking back, were not those church leaders who tried within their limits to lead the church beyond its conservative and nationalist tradition to a modus vivendi with the Republic showing praiseworthy political wisdom and courage, even if they were wrong to see their achievements as Christian achievements? And why did Barth not recognize their political wisdom? The experience of the Third Reich raises deeper questions. The rallying cry of the total demands of the gospel against political religion was probably the most, and perhaps the only, effective way of rousing a numerically significant resistance within the church to the Deutsche Christen. A church whose politics were predominantly conservative and nationalist could only

2

ALBRECHT SCHÖNHERR: Weder Opportunismus noch Opposition. Kirche im Sozialismus der beschwerliche Weg der Protestanten in der DDR. In: Die Zeit, 47. Jg., No. 7 (7 F e b r u a r y , 1992), p p . 4-5.

3

KARL BARTH: 'Quousque tandem?'. In: ZZ 8, 1930, pp. 1-6. The incident is discussed in ROBERT STUPPERICH: Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten. G ö t t i n g e n 1 9 8 9 , p p . 189-191.

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be mobilised against attempted take-over by a Protestant Nazi church party by appealing to the principle of keeping the church free of politics. This stance was codified and applied to the state itself, not simply a deviant church party, in the classic formula of the Barmen Synod, rejecting 'die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen' 4 . This was clearly a landmark decision against any form of totalitarian state in the name of the independence of the church. The political implications of what was rejected as false doctrine (not simply false politics) were potentially enormous, as many historians have recognized. Yet it also created a dilemma. For how could the church draw the limits between its own sphere which it was right and proper for it to defend and an autonomous political world, the sphere of the state, where the church had no authority to interfere, where indeed it would be committing the sin it imputed to the Deutsche Christen of political religion? And did this distinction in practice set limits to the willingness of the church to take up the cause of those suffering political or racial persecution? One answer to the dilemma might be to maintain the distinction between the political world and the proper sphere of the church but encourage Christians nevertheless to acquire political wisdom and to exercise their political rights as citizens. So a Christian might and perhaps should regard political activity as important but he or she should not confuse politics with religion. Barth seemed to encourage this approach. When the Confessing Church leaders in 1945 were attempting to come to terms with their recent experience and draft the Stuttgart confession of guilt, they talked of 'the powers of darkness1 with which they had been confronted. Barth was impatient of this concept and asked why they did not admit simply that they had been 'politische Narren' 5 . Presumably it might be considered a Christian duty to try not to be a political idiot, without giving up the distinction between the political and religious spheres. At times, however, Barth himself seemed to blur the distinction. When in 1938 he wrote that in the event of war over Czechoslovakia, 'Jeder tschechische Soldat, der dann kämpft und 4

The complex influences which lay behind this formula were illuminated by CARSTEN NICOLAISEN: Der lutherische Beitrag zur Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung. In: Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisensburg 1984. Ed. by: Wolf-Dieter Hauschild/Georg Kretschmar/Carsten Nicolaisen. Göttingen 1984, pp. 13-38 and DERS.: Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934. Neukirchen-Vluyn

5

C. VOLLNHALS, Kirche und Entnazifizierung (Anm. 1), p. 42; EBERHARD BUSCH: Karl Barth. His life from letters and autobiographical texts (English edn., London 1976), p. 328.

1985.

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leidet, wird dies auch für uns und - ich sage es jetzt ohne Rückhalt - er wird es auch für die Kirche Jesu tun' 6 , he was clearly not simply issuing a political statement but also a religious condemnation of the Third Reich. Unsurprisingly this embarrassed and dismayed his former colleagues in the Bekennende Kirche, who issued a formal repudiation and quoted the Barmen declaration against him. Barth's response to political questions after the Second World War is equally instructive. He clarified his position with regard to the Barmen declaration in Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946), arguing that the state was not wholly separate from the Christian community: it was 'außerhalb der Kirche, aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi'. He likened the relationship between church and state to two circles with different diameters but the same centre in Christ. This gave the Christian both a locus standi from which to comment on the political world and indeed a very direct responsibility for its health and welfare, although it still maintained an important distinction between the realms of church and state7. In his Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik in 1958, Barth gave a practical example of what he understood by Christian political comment. He warned against the comparison of Hitler with the "Anti-Christ" or of Communism with "Eurem Widersacher, dem Teufel" and the "brüllender Löwe" of 1 Peter 5, verses 8-9. Communism might be the "Widersacher" but only: 'sofern er die Gestalt und Macht eines Versuchers hat, der die Menschen und insbesondere die Christen zu verkehrten Einstellungen und Verhaltungsweisen ihm gegenüber - etwa zur Angst, zur blinden Unterwürfigkeit, zum blinden Haß, zur Halbherzigkeit, zur Doppelzüngigkeit, zu einer Schlangenklugkeit, deren Wesen nicht die Taubeneinfalt ist, zum Heulen mit den Wölfen oder zur Furcht, von ihnen gefressen zu werden, zum kollaborieren oder zur Obstruktion, zur Sorge und so zum Gebrauch all der falschen Mittel und Waffen nach denen der besorgte Mensch auch anderswo zu greifen pflegt, kurzum: zur tätlichen Gottlosigkeit' 8 . In the light of what has become apparent since 1989, this might be thought to have provided ample grounds for a Christian condemnation of SED rule but Barth was understandably anxious not to identify the church with an anti-Communist crusade in the 1950's. He did this by applying his 6

KJ 60.-71. Jg. 1933-1944. Gütersloh 1948, pp. 265-266.

7

KARL BARTH:

Christengemeinde

und Bürgergemeinde.

München

1946, p p .

9,

20-21;

E . BUSCH, Barth ( A n m . 5), p. 339.

8

KARL BARTH: Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik. Zollikon 1958, pp. 10-12.

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criterion equally to the Western world, including the Federal Republic, claiming that: 'Der heutige Westmacht hat mit jener das durchaus gemeinsam, daß in der ihr eigenen Weise auch sie der Gemeinde das ausreden und praktisch verunmöglich möchte, was sie zur christlichen Gemeinde macht... 1 In developing this argument, he came very close to a condemnation of Western democracy, reminiscent of the anti-democratic political theologians of the Weimar Republic. He wrote of the Christian message: 'Diesem Zeugnis wirkt jedenfalls nicht nur ein östlicher sondern auch ein westlicher Ungeist und Unsinn fast übergewaltig entgegen: nicht nur der offene Totalitarismus bei Ihnen, sondern auch der schleichende bei uns, nicht nur das Schalten und Walten der allmächtigen Partei, Propaganda und Polizei dort, sondern auch das der ebenso allmächtigen Presse, Privatwirtschaft, Protzerei und Publikumsmeinung hier.' 9 Further warnings followed against the "flesh-pots of Egypt" as part of the American way of life and against 'den Geistern und Dämonen im Lande des "Wirtschaftswunders", mit seinem gedankenlosen Anschluß an die Nato, mit seiner Remilitarisierung, seinem Militärseelsorgevertrag, seiner Atomwaffen-Aufrüstung, seiner panischen Russenangst, seinen Kreuzzugsstimmungen, seinen alten Nazis, mit all dem Fatalen, was < B o n n > und C D U dort sachlich und personell auch und nicht zuletzt in der evangelischen Kirche bedeuten' 10 . It is easy to discern the intention behind Barth's majestic prose. He wanted to retain an impartial position, which allowed him both to encourage the hope that the G D R might develop towards a better socialism and simultaneously to warn that this hope might in the end prove vain 11 . He predicted prophetically that the bubble of a pure and evil materialism would burst just as that of an evil idealism (Nazism) had 12 . But he also retained a critical stance towards the West and argued vigorously that it was equally hostile to Christian values. H o w successful was Barth's Brief as an example of Christian political comment? It took its stand clearly on the Christian gospel and the way each state affected the Christian life within its boundaries. This was the central point of the two circles. The application of this principle, however, was affected by his own political judgement and his desire not to make life more difficult for the church in the G D R . When every allowance has been made for the circumstances of the 1950's, the passions aroused by West German 9

IBID., p p . 13-14.

10 IBID., p. 32 and pp. 42-43. 11

IBID., p p . 16-17.

12

IBID., p. 18.

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rearmament and the authoritarian style of Adenauer, one is still bound to ask whether Barth was right to make no distinction between East and West in terms of the degree of difficulty which each put in the way of the Christian. Was this impartial condemnation either an accurate reflection of the facts or the best way to encourage political wisdom? Might it not lead instead to a kind of Christian political nihilism?13 Was there nothing to be said for democratic political processes or the rule of law? Indeed, in this respect, there was a striking contrast between the argument of the Brief and that of Christengemeinde und Bürgergemeinde since the latter had given a clear, if cautious, endorsement of democratic values from a Christian perspective14. The argument of the Brief was obviously affected by the context of the Cold War. But, perhaps Dibelius showed a better understanding of the lessons of the Third Reich and of the reality of the GDR in his pointed challenge to the validity of the Lutheran understanding of Obrigkeit in the modern world, a challenge which was particularly directed at 'totalitarian' regimes. This was naturally uncomfortable for the church in the GDR, although whether his views were less representative of Christian opinion in the G D R than Barth's is open to question15. What conclusions may we draw from these examples? The most obvious is the difficulty of applying Christian principles to politics without making a political judgement. Barth developed the argument that a state could not be condemned by a Christian unless it interfered directly in the substance of the church, as in his view National Socialism had but Communism did not 16 . Dibelius took his stand rather on whether or not a state upheld objective moral standards. Arbitrary justice, whether racially or class determined, negated the claim of the state to legitimacy or Obrigkeit. These were both defensible views but they were different. To argue that one position was 13

Martin Niemöller's comment in 1949 that the Federal Republic had been 'conceived in the Vatican and born in Washington' was not encouraging evidence of the political maturity of Barth's circle, even if it was also not representative of political attitudes in the church. It should be added that Adenauer's reaction to Niemöller's opposition to rearmament as 'Brudermord', namely to accuse him (in cabinet) of 'nackter Landesverrat' also showed some lack of feel for pluralist democracy! FREDERIC SPOTTS, The Churches and Politics in Germany. Wesleyan University Press. 1973, p. 240; ULRICH ENDERS/KARL REISER: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung Bd. 2,1 (Protokolle vom 17. Okt. 1950). Boppard am Rhein 1984, p. 748.

14

K. BARTH, Christengemeinde (ANM. 7), pp. 31-32.

15

VIOLETT-BUCH zur Obrigkeitsschrift von Bischof Dibelius. Frankfurt am Main 1963; OTTO

16

KARL BARTH: Die Kirche zwischen Ost und West. Zürich 1949. See GERHARD BESIER:

DIBELIUS: Obrigkeit. Stuttgart 1963; R. STUPPERICH, Dibelius (Anm. 3), pp. 539-567. "Selbstreinigung" unter britischer Besatzungsherrschaft. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Landesbischof Marahrens 1945-1947. Göttingen 1986, p. 154.

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Christian and another unchristian, as happened in the rearmament debate, was to make assertions which, however passionately they were held, were unverifiable 17 . Did they not perhaps partake of natural theology? Does this mean that we are back where we started, that the application of Christian principles to politics is too difficult to be undertaken with any confidence, and perhaps impossibly difficult? On the other hand, the German experience this century, especially the Protestant experience, shows that an 'apolitical' stance also has political consequences. If there is no escape from the dilemma, are there any guide-lines? Since we cannot escape it, we have after all to face it, however inadequately. I dare to suggest the following conclusions, speaking of course as a mere historian not a theologian: 1. There is a dimension to the political stance of a church which is contingent on circumstance. The Barmen declaration was important because it provided a rallying point for the church as it was then composed, enabling it despite its predominantly conservative and nationalist political attitudes to offer resistance to political religion and the abuse of power by the Third Reich. Similarly, the statements of theologians and church leaders in the 1950's on the East-West conflict had to take account of the situation of the churches in Eastern Europe and, of course, particularly in the G D R . Equally the church in the G D R had to frame its political stance in the context of its own political environment 18 . In this way, in a very immediate sense, the church cannot avoid acting as a political institution. It is part of its existence on earth. 2. The political stance taken by the church does matter. This has been most obvious in 'totalitarian' states in their exaggerated sensitivity to the behaviour of the church. As one of the few, if not the only, institution to enjoy a measure of autonomy, the church is placed willynilly in the position of a potential leader of independent opinion with all the dangers and responsibilities of that position. But though less obvious, because of the role of political parties and other free institutions, the church is also by no means a negligible force in liberal democracies. The analysis of Ernst Troeltsch in the Spektator-Briefe of the weakness of the Weimar Republic and the critical absence of support for it from German Protestantism remains as fresh as when it was written 19 . Adenauer's over-reaction to Niemoller's opposition in the 1950's was an indication of the extent to which he feared Niemoller's

17

F . SPOTTS, C h u r c h e s ( A n m . 13), p p . 125-127, p p . 243-246.

18 HEEMO FALCKE gives a persuasive account of 'Die Kirche im Sozialismus' in: GÜNTHEP HEYDEMANN/LOTHAR KETTENACKER: Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SEDStaat. Göttingen 1993, pp. 258-281. 19 See also KURT NOWAK: Christuskreuz gegen Hakenkreuz. In: EBD., pp. 219-221.

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influence. To vary the examples, Mrs.Thatcher's sensitivity to criticism from the Church of England in the 1980's again showed that in a democracy the church is perceived to be a force to be reckoned with and, in particular circumstances, may touch a raw nerve for the elected government out of all proportion to the number of regular church-goers20. 3. These considerations serve to underline the political responsibility of the church and bring us back to the fundamental question of how it should seek to discharge this responsibility. One rather obvious point emerges from the historical record. If it is true, and it seems to be uncontroversial, that the political failures of German Protestantism in the first half of this century were conditioned by the dominant anti-democratic and nationalist ethos within it, then one might consider whether the growth of a democratic and international ethos, which has been one of the great successes of the Federal Republic, may not have gone a long way to solving the problem. Of course, there remains the objection that this is merely to substitute one fallible political ideology for another, which we may still call the Barthian objection. However, as we have seen, Barth did not allow himself to be constrained by his own definitions when he felt it right to make political statements and inevitably he too made political judgements. One could argue that he also made political misjudgements and that one should not follow him into error but insist on being a stricter Barthian than he! But this only brings us back to the dilemma of where to draw the line between the realm of the church and that of the state. 4. Let us return to Barth and in particular to Christengemeinde und Biirgergemeinde. This text, composed before Barth's perspective was affected by the Cold War, seems to me to provide the best resolution of both the theoretical and practical problems inherent in the subject of 'the church in polities'. The idea of two concentric circles of different diameters, the Christian community being the inner circle and the political community the outer, has the great merit of connecting and distinguishing between the two realms simultaneously. It also suggests that for the Christian there is one centre to guide his behaviour in both realms. No state is a perfect or Christian state but the Christian has a responsibility for the political world. This responsibility must be exercised by applying Christian principles to politics; the 'apolitical' option is clearly rejected. The principles, which Barth suggests, are extraordinarily close to those of a socially responsible democracy: the state exists to serve mankind not the reverse, a Rechtsstaat is alone acceptable (never anarchy or tyranny), social justice, freedom, equality before the 20 See her dismissive comment on the Anglican bishops in: MARGARET THATCHER: The Downing Street Years. London 1993, p. 31.

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law, the separation of legislative, executive and judicial powers, open government, an international ethos, the use of force only as a last resort these are the Christian political principles. It is small wonder that Barth finds himself forced to admit a little coyly that, 'Man mag ... auch dies bemerken, daß die christlich-politische Richtung und Linie, die sich vom Evangelium her ergibt, eine auffallende Neigung nach der Seite verrät, die man gemeinhin und allgemein als die des "demokratischen" Staates zu bezeichnen pflegt.' 21 5. Now that the Cold War is over, there is no reason why we should not return to a Christian endorsement of democratic principles in the manner of Barth in 1946, without fear that in doing so we will add to the hardship of the churches of Eastern Europe or Russia. This endorsement need not and should not be uncritical - there is much to criticize and to remind us that no state is perfect - but it should provide the vital moral support, without which democracies cannot succeed. Indeed, it could be that in the later 1990's and beyond Christian solidarity with democratic principles will be as important as its absence in the inter-war period was tragic.

21

K. BARTH, Christengemeinde (Anm. 7), pp. 10-32, quotation on p. 31.

Herbert Anzinger SOZIALE DEMOKRATIE ODER REVOLUTIONÄRE DIKTATUR? Zur politischen Position Barths während des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der Weimarer Republik Schon vor Jahren hat Carsten Nicolaisen in einem vornehmlich forschungsgeschichtlichen Fragen gewidmeten Vortrag darauf hingewiesen, daß es der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung bisher noch nicht recht gelungen sei, "ihre für den Allgemeinhistoriker so suspekte rein ekklesiologische, binnenkirchliche Interessensausrichtung aufzubrechen und das Thema 'Kirche' im Kontext der sozialen und politischen Entwicklung der Neuzeit zu behandeln"i. Daß dies auch heute noch so zutrifft, wird kaum jemand bestreiten wollen. Dies ist umso bedauerlicher, als sich für das damit angedeutete Forschungsprogramm einer auch sozialgeschichtlich arbeitenden kirchlichen Zeitgeschichte durchaus theologische Gründe angeben ließen. Denn gerade wenn man sich einem ekklesiologischen Konzept verbunden weiß, in dem Kirche wesentlich von ihrem "Dasein für-andere" (Bonhoeffer) her begriffen wird, muß der Erforschung des politischen und gesellschaftlichen Bedingungs- und Wirkungsfeldes von Theologie und Kirche besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dazu gehört als ein zugegebenermaßen etwas am Rande liegendes, dennoch aber nicht unwichtiges Teilgebiet auch die Frage nach der parteipolitischen Verortung führender Kirchenmänner und Theologen. Ich will die Fruchtbarkeit eines Brückenschlags zwischen Theologiegeschichtsschreibung und historischer Parteienforschung exemplifizieren an der bis heute umstrittenen politischen Haltung Karl Barths angesichts des durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Umbruchs und der politischen Konstellation in den ersten Jahren der Weimarer Republik.

1

CARSTEN NICOLAISEN: Kirchliche Zeitgeschichtsforschung in Deutschland. Entwicklung Methoden - Probleme. In Amt und Gemeinde 39, 1988, S. 136.

Soziale Demokratie oder revolutionäre Diktatur?

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I.

1961 stellte Barth im Blick auf seine Haltung während der zwanziger Jahre fest: "Ich begleitete die Bemühungen der wenigen besonnenen Männer, der kleinen gutwilligen Kreise, die die 'Weimarer Republik' und ihre Verfassung ernst nahmen, eine deutsche soziale Demokratie aufbauen und dem Lande einen angemessenen Raum inmitten der ihm zunächst noch mißtrauisch genug gegenüberstehenden Umwelt in loyaler Weise sichern wollten." 2 Dieser Selbsteinschätzung Barths ist in der Forschung zum Teil entschieden widersprochen worden. Nach Klaus Scholder gehört es zu den Merkwürdigkeiten jener Zeit, daß Barth in den Jahren, "als die Republik sturmreif geschossen wurde, jedenfalls im Bewußtsein der weiteren Öffentlichkeit, auf der Seite derer stand, die da mitschossen"; offenbar habe Barth erst 1933 erkannt, was gespielt werde 3 . Andere kritisieren, Barth habe mit seiner "erbarmungslose[n] Fundamentalkritik am Kulturprotestantismus, an der liberalen Theologie und an den Traditionen der idealistischen Philosophie" die Grundlagen der "philosophischen Legitimierung der Demokratie" in Zweifel gezogen4, oder stellen fest, daß seine Liberalismuskritik "faktisch demokratierelativierend" gewirkt habe, wenngleich damit nicht behauptet werden solle, "Barths politische Stellung zur parlamentarischen Demokratie von Weimar [sei] tatsächlich ambivalent gewesen"5. Immerhin habe er sich anders als etwa Ernst Troeltsch - gerade nicht "in der Anfangsphase der Weimarer Republik", sondern "erst in ihrer Endphase öffentlich für die Demokratie" eingesetzt6. Ich möchte im folgenden diese These zum Anlaß 2 3

KARL BARTH: Zwischenzeit. In: Magnum. Die Zeitschrift für das moderne Leben (Heft 35). Köln 1961, S. 38. KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft. Gesammelte Aufsätze, hg. von Karl Otmar von Aretin und Gerhard Besier. Berlin 1988, S. 84f. SCHOLDER verweist dazu auch auf BARTHS Eingeständnis, er habe es während seiner in Deutschland verbrachten Jahre "aus lauter Konzentration auf meine kirchlich-theologische Aufgabe und auch aus einer gewissen Scheu vor der Einmischung des Schweizers in deutsche Angelegenheiten unterlassen ..., vor den Tendenzen, die mir seit ich 1921 den deutschen Boden betreten hatte, in der mich umgebenden Kirche und Welt sichtbar und unheimlich genug waren, zu warnen, nicht nur implizit, sondern explizit, nicht nur privatim, sondern auch öffentlich zu warnen!" (KARL BARTH: An die deutschen Theologen in der Kriegsgefangenschaft [1945], z i t i e r t b e i K . SCHOLDER, S. 85).

4

5 6

So K. D . E r d m a n n

i n e i n e m D i s k u s s i o n s b e i t r a g i n : KARL DIETRICH ERDMANN/HAGEN

SCHULZE (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Düsseldorf 1980, S. 287f. FRIEDRICH WILHELM GRAF: "Der Götze wackelt"? Erste Überlegungen zu Barths Liberalismuskritik. In: EvTh 46, 1986, S. 440. HARTMUT RUÜDIES: Karl Barth und Ernst Troeltsch. Aspekte eines unterbliebenen Dialogs. In: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs

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Herbert Anzinger

nehmen, nach Barths politischem Standort innerhalb des linken Parteienspektrums jener Zeit zu fragen und dabei insbesondere zu prüfen, welchen Stellenwert Barth dem Gedanken der Demokratie beimaß 7 . Dabei muß man sich allerdings klar machen, daß Barth bis 1921 in der Schweiz lebte. Auch die beiden Arbeiten, die ihn in Deutschland bekannt machten, der Tambacher Vortrag von 1919 und die zweite Auflage des Römerbriefkommentars, entstanden noch in Safenwil, wo er sich politisch und gewerkschaftlich engagierte. Es darf darum auch nicht überraschen, daß etwa im Briefwechsel mit Thurneysen der schweizerische Landesstreik vom November 1918 eine größere Rolle spielte als die etwa gleichzeitig in Deutschland stattfindende Revolution oder daß Barth sich mehr für den Kurs der schweizerischen als der deutschen Sozialdemokratie interessierte. Man wird aus diesem Grund jedenfalls gut daran tun, bei Barths Äußerungen vor 1921 auch die spezifisch Schweizer Situation, die sie mit geprägt hat, zu berücksichtigen. II. Ebenso enttäuscht wie von der Haltung der christlichen Kirchen und der Theologie angesichts des Kriegsausbruchs8 zeigte sich Barth auch von der Sozialdemokratie. Statt sich auf ihren Internationalismus zu besinnen und alles zur Verhütung bzw. raschen Beendigung des Krieges zu unternehmen, schloß sie mit den bürgerlichen Parteien einen 'Burgfrieden' und stimmte am 4. August 1914 den Kriegskrediten zu. Obwohl schon nach wenigen Wochen der Reformist Eduard Bernstein diesen Schritt als falsch bezeichnete und Anfang Dezember 1914 Karl Liebknecht als erster aus der Fraktionsdisziplin ausscherte, indem er gegen die zweite Kriegskreditvorlage stimmte was Barth übrigens "wie eine von Noahs Tauben in der Sündflut" vorkam 9 -, und obwohl sich im darauffolgenden Jahr, als die annexionistischen Ziele der Regierung erkennbar wurden, immer mehr SPD-Abgeordnete auf die Seite der Kriegsdienstgegner schlugen, kam es erst im April 1917 zur Spaltung der SPD in Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und Unabhängige

7

8 9

(Troeltsch-Studien. 4), hg. von Horst Renz uund Friedrich Wilhelm Graf. Gütersloh 1987, S. 256 Anm. 137. Auf die eher ideengeschichtlich und ideenpolitisch orientierte Debatte um "Barths Sozialismus", die im Gefolge von FRIEDIRCH-WILHELM MARQUARDTS Buch "Theologie und Sozialismus" vor fast 20 Jahren geführt wurde, möchte ich dabei nicht eingehen. Vgl. dazu im einzelnen HERBERT ANZINGER: Glaube und kommunikative Praxis. Eine Studie zur 'vordialektischen' Theologie Karl Barths (BEvTh. 110). München 1991, bes. S. 98ff. KARL BARTH/MARTIN RADE: Ein Briefwechsel, hg. von Christoph Schwöbel. Gütersloh 1981, S. 125.

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Sozialdemokraten (USPD), in der sich Revisionisten wie Linksradikale fanden, einig nur in ihrer Opposition gegen die deutsche Kriegspolitik10. Ganz ähnliche Strömungen und Diskussionen gab es auch in der schweizerischen Sozialdemokratie, die seit ihrer Gründung 1888 einen eher nichtmarxistischen Kurs verfolgt hatte, wozu auch gehörte, daß sie den Staat auf dem Wege demokratischer Entwicklung in eine sozialistische Demokratie umzuwandeln bestrebt war, die Landesverteidigung bejahte und sich als Volkspartei verstand, die sich nicht nur an die Arbeiterschaft zu wenden habe11. Nach Kriegsbeginn im Sommer 1914 hatte sie der Einsetzung eines siebenköpfigen Bundesrates mit nahezu unbeschränkten Vollmachten zur Sicherstellung der Versorgungslage in der Schweiz zugestimmt; doch mehrten sich seit Oktober 1914, als der kriegsbedingte Einfuhrstopp von Rohstoffen und Nahrungsmitteln zu Arbeitslosigkeit und Lebensmittelknappheit führte, die Stimmen derer, die den 'Burgfrieden' aufkündigen wollten. Lenin, damals noch im Schweizer Exil, versuchte mit der sog. 'Zimmerwalder Linken', zu der u.a. die Schweizer Münzenberg und Platten zählten, die aufgrund des Krieges handlungsunfähige II. Internationale zu liquidieren. Sein Vorschlag, den Krieg für die Revolution zu nutzen, d.h. den Bürgerkrieg auszurufen, wurde zwar in der Partei heftig diskutiert, konnte aber weder bei den deutschen Teilnehmern der Zimmerwalder Konferenzen, der Spartakusgruppe und Vertretern der USPD, noch bei den schweizerischen Sozialdemokraten eine Mehrheit gewinnen12. In dieser Situation trat Barth am 26. Januar 1915 der Sozialdemokratischen Partei des Kantons Aargau bei. Die noch zwei Jahre zuvor geltend gemachten Bedenken traten für ihn jetzt gegenüber dem Wunsch zurück, noch deutlicher als bisher auch politisch Farbe zu bekennen. Wie er am 5. Februar 1915 an seinen Freund Eduard Thurneysen schrieb, wollte er mit diesem Schritt zeigen, "daß der Glaube an das Größte die Arbeit und das Leiden im Unvollkommenen nicht aus- sondern einschließe"; darüber hinaus 10 HARTFRID KRAUSE: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Frankfurt am Main u.a 1975, bes. S. 47 ff. und S. 84 ff.; DETLEF LEHNERT: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983. Frankfurt am Main 1983, S. 110-119. 11 Vgl. dazu CHRISTINE NÖTHIGER-STRAHM: Der deutsch-schweizerische Protestantismus und der Landesstreik von 1918. Die Auseinandersetzung der Kirche mit der sozialen Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie. 44). Bern/Frankfurt am Main/Las Vegas 1981; sowie BENNO HARDMEIER: Geschichte der sozialdemokratischen Ideen in der Schweiz (1920-1945). Winterthur 1957, S. 4ff., 8ff., und MARKUS MATTMÜLLER: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie. Bd. II. Zürich 1968, S. 114ff. 12 H. KRAUSE, USPD (Anm. 10), S. 97ff.; M. MATTMÜLLER, Ragaz H (Anm. 11), S. 164-199.

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wollte er offenbar auch klarstellen, daß seine öffentlich geäußerte Kritik an der Sozialdemokratie nicht als Abwendung von ihren Zielen verstanden werden dürfte, sondern als Versuch, in die parteiinterne Diskussion einzugreifen 13 . Seine Mitwirkung beschränkte er freilich im wesentlichen darauf, seine Beiträge zu zahlen und Vorträge zu halten. Immerhin nahm er 1917 und 1920 als Delegierter an sozialdemokratischen Parteitagen teil. In den Referaten, die er in der Folgezeit vor sozialdemokratischem und kirchlichem Publikum hielt, betonte er die Ubereinstimmung sozialdemokratischer Ziele wie "Freiheit des Menschen vom Geld" und "Ersetzung der Macht durch das Recht und der Klassen- und Völkergegensätze durch den Frieden" mit dem, was auch Jesus gewollt habe 14 . Wenngleich sich in diesen Vorträgen Barths allmähliche Distanzierung von erlebnistheologischen Argumentationsmustern und einer idealistischen Ethik verfolgen läßt, so ist doch deutlich, daß er an seiner in der Vorkriegszeit vertretenen politischen Orientierung trotz der Enttäuschung, die ihm die Sozialdemokratie bereitet hatte, festhielt. Besonders aufschlußreich für seine eigene Position innerhalb der Sozialdemokratie ist eine Passage in dem leider nur als Fragment erhalten gebliebenen Vortrag "Kriegszeit und Gottesreich", den er am 15. November 1915 vor den "Unabhängigen Kirchgenossen" in Basel hielt 15 . Im (verloren gegangenen) ersten Teil, in dem Barth nach dem zeitgenössischen Bericht Paul Wernles die These vertrat: "...die Welt bleibt Welt, vom Teufel regiert, alle Versuche in allen verschiedensten Richtungen, etwas zu bessern & zu helfen, sind wertlos & erfolglos" 16 , faßt Barth seine Kritik am Sozia13 KARL BARTH/EDUARD THURNEYSEN: Briefwechsel. Bd. 1: 1913-1921, hg. von Eduard Thurneysen. Zürich 1973 (im folgenden zitiert: BwTh I), S. 30. 14 KARL BARTH: Christus und die Sozialdemokraten. Vortrag auf dem Bezirkstag der Sozialdemokratischen Partei des Bezirks Lenzburg in Seon (25.4.1915); vgl. auch DERS.: Die innere Zukunft der Sozialdemokratie (12.8.1915); DERS.: Religion und Sozialismus (7.12.1915). Allle drei bisher unveröffentlichten Vorträge befinden sich im Karl Barth-Archiv, Basel (im folgenden KBA), dem ich herzlich für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Texte danke. 15 KARL BARTH: Kriegszeit und Gottesreich (unveröffentlicht, KBA). 1928 überlegte BARTH, ob er den Vortrag in die zweite Auflage des Sammelbandes "Suchet Gott, so werdet ihr leben" aufnehmen sollte (KARL BARTH/EDURARD THURNEYSEN: Briefwechsel. Bd. 2: 1921-1930, hg. von Eduard Thurneysen. Zürich 1974, S. 589); trotz THURNEYSENS begeisterter Zustimmung (EBD., S. 594) verwarf er diesen Plan dann jedoch wieder, weil der Vortrag "zu viel theologisch Ungeschütztes" enthalte (EBD., S. 599; vgl. auch S. 606). 16 Paul Wernle in einem Brief an Martin Rade vom 26.11.1915, zitiert in: FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH: Zwischen Leonhard Ragaz und Karl Barth. Die Beurteilung des 1. Weltkrieges in den Briefen des Basler Theologen Paul Wernle an Martin Rade. In: Z S K G 71, 1977, S. 406. Für Wernle war dieser Vortrag "... aber auch sonst vom Unglücklichsten, was ich je gehört habe in meinem Leben" (EBD.), was nicht verwundern kann, wenn man weiß,

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lismus folgendermaßen zusammen: Entgegen der "Idee der vielberufenen Theorie vom Klassenkampf", dessen Ziel die "Aufhebung der Klassenherrschaft, Freiheit von der Selbstsucht, die die Welt regiert, durch Aufhebung der Selbstsucht überhaupt" gewesen sei, habe sich die "sozialistische Politik ... überall auf den 'realen' Boden der Tatsachen gestellt und als nächstes Ziel die Diktatur des Proletariats und damit den Kampf der Entrechteten gegen die Besitzenden und damit den Kampf der Selbstsucht gegen die Selbstsucht proklamiert." Sie vertrete einen Klassenegoismus, der zum "bürgerlichen Egoismus" in einem "bloß formalen Gegensatz" stehe; dies sei auch der tiefere Grund für das Versagen der Sozialdemokratie bei Kriegsausbruch gewesen: "Die Einstellung des Sozialismus auf den Gegensatz der Klassenegoismen mußte unweigerlich sein 'Versagen' nach sich ziehen im Moment, wo die Klassenegoismen sich im Nationalegoismus die Hand reichten. Es ist kein Zufall, daß die Träger des Nationalismus überall gerade die Gewerkschaften sind." 1 7 Erteilt Barth zunächst der Parole von der zu erstrebenden Diktatur des Proletariats eine deutliche Abfuhr mit der überraschenden Begründung, sie sei eine dem bürgerlichen Klassenegoismus durchaus parallele Forderung, die als solche der nur auf dem Wege der Freiheit zu verwirklichenden Idee der Aufhebung aller Klassenherrschaft widerspreche, so führt er auch die den Internationalismus verleugnende nationalstaatliche Orientierung der Sozialdemokratie auf denselben Interessenegoismus zurück: Dem Klassenegoismus nach innen entspreche der Nationalegoismus nach außen. Mit dieser Ablehnung sowohl der Diktatur des Proletariats als auch der Unterstützung des Krieges nimmt Barth, der zu Beginn betont hatte, daß er selber Sozialdemokrat sei und als Beteiligter und Mitwirkender rede, eine Position ein, wie sie etwa auch von Charles Naine vertreten wurde, der dem pazifistischen Teil des rechten Flügels der Partei angehörte 18 , und die in Deutschland im Herbst 1915 der Haltung der eher reformistischen Gruppe der innerparteilichen Opposition, die sich 1917 zur U S P D zusammenschloß, entsprach 19 . Daran änderte sich im Grunde auch in den folgenden Jahren nichts. Zwar wächst Barths Distanz zum Religiösen Sozialismus infolge der Veränderung, die sein theologischer Ansatz vor allem durch die intensive Beschäftigung mit dem paulinischen Römerbrief erfährt, das Verhältnis zur Sozialdaß Barth ihn als "Generalabrechnung mit Wernle" konzipiert hatte (BwTh I [Anm. 13], S. 101).

17 K. BARTH, Kriegszeit und Gottesreich (Anm. 15). 18 Vgl. CHARLES NAINE: Diktatur des Proletariats oder Demokratie? Zürich 1919; vgl. auch die davon etwas differierenden Anschauungen Robert Grimms, der das "Zentrum", d.h. die Mehrheit der Partei vertrat, dargestellt bei B. HARDMEIER, Geschichte (Anm. 11), S. 14-20. 19 Vgl. H. KRAUSE, USPD, S. 54ff. und 57ff.

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demokratie wird dagegen enger. Im Frühjahr 1917, nach der russischen Februarrevolution und kurz vor dem Kriegseintritt der USA, schrieb Barth am 25. März an Thurneysen, er beteilige sich "Woche für Woche" an den im Arbeiterverein stattfindenden Diskussionen der "Gutachten und Resolutionen über die Militärfrage" 20 . Am 8. Juni nahm er als Delegierter am sozialdemokratischen Parteitag in Bern teil, der sich vor allem mit der Frage beschäftigte, ob die Partei wie bisher die Landesverteidigung unterstützen wolle oder nicht 21 . Tatsächlich beschloß der Parteitag nach längeren kontroversen Beratungen, mit der II. Internationale zu brechen und den Widerstand der Arbeiterschaft gegen eine Beteiligung der Schweiz am Krieg einschließlich der Landesverteidigung zu organisieren22, ein Beschluß, der ganz auf Barths Linie lag. Im Sommer spitzten sich in Barths Safenwiler Gemeinde die Auseinandersetzungen mit Webereibesitzer Hochuli wegen Barths Unterstützung von Gewerkschaftsbildungen zu 23 . Er war also nach wie vor politisch vielfältig engagiert.

in. Daneben entstand seit 1916 Barths Kommentar zum Römerbrief, in dem er sich über seinen veränderten theologischen Standort Rechenschaft ablegte24. Nachdem der Erlebnisbegriff und damit der geschichtlich vermittelte Zugang des Menschen zu Gott durch die Kriegstheologie obsolet geworden war, rückte für Barth, besonders nach der Begegnung mit Christoph Blumhardt im April 1915 die Eschatologie ins Zentrum, d.h. die Orientierung am Reich Gottes als einer der Welt radikal entgegengesetzten Größe. Interessanterweise legt Barth in der zum Jahresende 1918 erschienenen ersten Auflage seines Kommentars zum Römerbrief die Begriffe der paulinischen Rechtfertigungslehre in politischen Kategorien aus. So versteht er beispielsweise den Sünder als Menschen, der selbständig und autonom sein will 20 21

B w T h I ( A n m . 13), S. 186. EBD., S. 207. In der Präsenzliste des Parteitags erscheint Barth als Vertreter des Safenwiler Arbeitervereins (SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DER SCHWEIZ: Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Bern 9. und 10. Juni 1917, im Volkshaus in Bern. Bern 1917, S. 185), nach Ausweis des Protokolls hat er sich aber nicht zu Wort gemeldet.

22

Die Landesverteidigung wurde mit einer überraschend klaren Mehrheit von 222 : 77 Stimmen abgelehnt (vgl. EBD., S. 182).

23

FRIEDRICH-WILHELM MARQUARDT: Der Aktuar. Aus Barths Pfarramt. In: Karl Barth: Der Störenfried? (Einwürfe 3), hg. von Friedrich-Wilhelm Marquardt u.a. München 1986, S. 125128.

24

Vgl. dazu H. ANZINGER, Glaube (Anm. 8), S. 128-236.

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- also Konturen trägt, die dem liberalen Leitbild des Menschen entsprechen -, dabei aber letztlich ein isoliertes, um sich selbst kreisendes Individuum ist, das im anderen nur den Konkurrenten zu erblicken vermag. Die im Liberalismus proklamierte Freiheit enthüllt sich so als die vermeintliche 'Freiheit' der Sünde25, die in Wirklichkeit Unfreiheit ist, nämlich die Unterwerfung unter allerlei von Gott gelöste "herrenlose Mächte und Gewalten" wie "Staat und Kultur und Natur, ... Mammon und 'Persönlichkeit', Kunst und Wissenschaft, Kirche und Tugend", die der sündige Mensch als seine Götzen verehrt 26 . Von daher sind "Kapitalismus, Militarismus, Etatismus..., 'persönliches Leben', Pfaffentum, Bildungsphilisterei, l'art pour l'art" als Folgen des Falls zu begreifen 27 . Während in diesem Sinne die politische Ideologie des Liberalismus zur Veranschaulichung dessen dient, was mit dem theologischen Begriff der Sünde gemeint ist, illustriert Barth anhand des Sozialismus den paulinischen Begriff des Gesetzes. Denn das Gesetz hat die Aufgabe, die Sünde zu benennen und auf die Notwendigkeit ihrer Überwindung durch Gott aufmerksam zu machen. Diese elenchtische Funktion des Gesetzes sieht Barth konsequenterweise überall dort gegeben, wo Menschen im Namen der idealistischen Moral und des kategorischen Imperativs, in denen Barth den Willen Gottes repräsentiert sieht, gegen die Folgen der Sünde: Kapitalismus, Etatismus usw. protestieren. Darum hält es Barth für selbstverständlich, daß Christen "mit Monarchie, Kapitalismus, Militarismus, Patriotismus und Freisinn nichts zu tun" haben und "sich nach Maßgabe der Umstände ... schwerlich anderswohin stellen können als auf die äußerste Linke" 28 . Allerdings will dabei beachtet sein, daß durch dieses Engagement für Demokratie, Sozialismus, Pazifismus usw. nicht schon das Reich Gottes verwirklicht wird. Gegenüber den Vertretern einer positiven, modernen und religiös-sozialen Theologie legt Barth Wert auf die Feststellung: "Kirche und Mission, persönliche Gesinnungstüchtigkeit und Moralität, Pazifismus und Sozialdemokratie vertreten nicht das Reich Gottes, sondern in neuen Formen das alte Reich der Menschen." 29 Damit wird nicht bestritten, daß die genannten Institutionen, Geisteshaltungen und Bewegungen Gegenkräfte gegen die Sünde sind und insofern den Willen Gottes widerspiegeln, wohl aber, daß sie aus sich heraus in der Lage sind, den Willen Gottes tatsächlich 25 KARL BARTH: Der Römerbrief (erste Fassung) 1919, hg. von Hermann Schmidt. Zürich 1985 (im folgenden zitiert: R I), S. 243: "Was soll uns die 'Freiheit' der Sünde, was soll uns der Liberalismus?" 26 EBD., S. 34. 27 EBD., S. 36. 28 EBD., S. 508f. 29 EBD., S. 42.

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auch zu realisieren. Sie haben - theologisch gesprochen - eine lediglich elenchtische Funktion. Wo sie darüber hinaus explizit oder auch implizit den Anspruch erheben, Realisierungen des Reiches Gottes zu sein, kommt es zu unzulässigen Vermischungen zwischen Gott und Welt, hinter denen letztlich wieder der seine Erlösung selbst in die Hand nehmende und sie darum verfehlende Mensch steht. Darum gilt: "Das Göttliche darf nicht politisiert werden, auch nicht zugunsten der Demokratie und der Sozialdemokratie." 30 Genau dies getan zu haben, ist der Vorwurf, den Barth an die Adresse der Religiösen Sozialisten richtet; sie würden wie ihre Gegner - nur unter anderen Vorzeichen - vermischen, was auf alle Fälle unterschieden bleiben müsse. Gegen alle religiösen Überhöhungen menschlichen Tuns sei statt dessen zu fordern: "Sang- und klang- und illusionslose Pflichterfüllung, aber keine Kompromittierungen Gottes! Zahlung des Obolus, aber keinen Weihrauch der Cäsaren! Staatsbürgerliche Initiative und staatsbürgerlicher Gehorsam, aber keine Kombinationen von Thron und Altar, kein christlicher Pazifismus, keine demokratische Kreuzzugsstimmung. Streik und Generalstreik und Straßenkampf, wenn's sein muß, aber keine religiöse Rechtfertigung und Verherrlichung dazu! Militärdienst als Soldat oder Offizier, wenn's sein muß, aber unter keinen Umständen als Feldprediger! Sozialdemokratisch, aber nicht religiös-sozial! 31 Der Verrat am Evangelium gehört nicht zu den politischen Pflichten." 3 2 Die von Barth bewußt parallel zueinander formulierten Sätze über "Streik" 3 3 und "Militärdienst", die beide durch ein ein30 EBD., S. 509; vgl. auch S. 513. 31 Barths Option für die Sozialdemokratie und gegen den Religiösen Sozialismus ist als direkte Antithese zu LEONHARD RAGAZ ZU verstehen, der unter dem Eindruck der Oktoberrevolution schrieb: "Sprechen wir nun das Wort aus: der Sozialismus muß religiöser Sozialismus sein... Einst war unser Weg, die Gottesreichswahrheit in der Sozialdemokratie zu erkennen und zu vertreten und alles, was an Fremdem und Falschem daran hing, zu ertragen und mitzunehmen, wenn auch unter Schmerzen, jetzt ist unser Weg, das Gottesreich allein zu vertreten, das Gottesreich für Alle" (Neue Wege VHI. Unser Sozialismus, S. 612. Vgl. M. MATTMÜLLER, R a g a z II [ A n m . 11], S. 339-346).

32 R I ( A n m . 25), S. 520 f. 33 Der Herausgeber der Neuedition von BARTHS erstem 'Römerbrief1 weist darauf hin, daß die Bemerkung über "Streik und Generalstreik und Straßenkampf" sich nicht im Manuskript finde und vermutlich erst Mitte November 1918 während der Fahnenkorrektur in den Text gelangt sei, als BARTH sich vor der Kirchenpflege wegen seiner angeblichen "Verherrlichung" des schweizerischen Landesstreiks zu verantworten hatte (vgl. R I [Anm. 25], S. 520 Anm. 66a), der vom 12. bis 14. November dauerte und u.a. Parlamentsneuwahlen erzwingen wollte (zu Vorgeschichte und Verlauf vgl. WILLI GAUTSCHI: Der Landesstreik 1918. Zürich/Einsiedeln/Köln 1968; zur Reaktion der kirchlichen Öffentlichkeit darauf: CHR. NOTHIGER-STRAHM, P r o t e s t a n t i s m u s [ A n m . 11], S. 235-295). V o r d e r K i r c h e n p f l e g e b e t o n t e

BARTH, es habe sich bei der in einem Privatgespräch geäußerten Bemerkung über den

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schränkendes "wenn's sein muß" als äußerste Möglichkeiten christlich verantwortbaren Handelns charakterisiert werden, zeigen, daß Barth den harten Realitäten von Krieg und Revolution nicht auswich; sie werfen damit aber die Frage nach Barths politischer Ethik und seiner Auslegung von Rom 13 auf. Es ist bezeichnend für Barths Verständnis von Exegese, daß er aus dem Text keine zeitlose Wahrheit herausfiltert, sondern die historische Situation an den Text heranträgt und auf diese Weise Antworten auf aktuelle Probleme zu gewinnen sucht. In diesem Sinn ist der historische Kontext seiner Exegese von Rom 13 im ersten "Römerbrief" im wesentlichen durch die Oktoberrevolution bestimmt, die auch in der Schweizer Arbeiterschaft große Unruhe auslöste. Unter ihrem Eindruck fragt Barth, wie der Christ sich angesichts des Widerstreits von 'Staat' und 'Revolution' zu verhalten habe. Während aber die reformatorische Tradition im Aufruhr gegen die Obrigkeit einen Affront gegen Gottes Ordnung sah, setzt Barth Staat und Revolution auf eine Stufe. Denn die Revolution beseitigt nicht den Staat als solchen, sondern ersetzt lediglich eine Staatsform durch eine andere; Staat und zwar Gewaltstaat ist "der reaktionäre und der revolutionäre Staat" 34 . Beide, Staat und Revolution, stützen sich "auf Paragraphen und Maschinengewehre" 35 , also auf das Gewaltprinzip, auf das auch im Rechtsstaat zur Durchsetzung des Rechts nicht verzichtet werden kann und das als solches dem Liebesprinzip, das den Gottesstaat regiert, entgegensteht 36 . Als Bürger des Gottesstaates habe der Christ weder mit dem Staat noch mit der Revolution etwas zu schaffen. Dies bedeute aber keineswegs, daß er in einem politikfreien Raum lebe oder den Bereich des Politischen meiden dürfe 37 , sondern vielmehr, daß er auch in der politischen Arena an die Methode der Solidarität mit dem "Feinde" gebunden ist 38 . Weder durch persönliche Vorstöße noch durch persönliche Rückzüge wäre der Sache des Gottesreiches gedient. "Ihr sollt den Staat religiös aushungern, ihr sollt ihm das Pathos,

34 35

36 37 38

Landesstreik "nicht um eine Verherrlichung, sondern um ein ruhiges Begreifen des Generalsteiks" gehandelt. Zur Sache selbst sagte er laut Protokoll der Kirchenpflegesitzung: "Der Gebrauch von Gewalt ist selbstverständlich vom Bösen. Aber mit dieser Feststellung ist die absolute Verurteilung einer solchen Erscheinung noch nicht gerechtfertigt. Es ist übrigens mindestens die Frage, von welcher Seite mit der Drohung oder mit dem Gebrauch von Gewalt der Anfang gemacht worden ist" (R I [Anm. 25], S. 521 Anm. 66a). Vgl. dazu auch F.-W. MARQUARDT, Aktuar (Anm. 23), S. 128 ff. R I (Anm. 25), S. 515. EBD., S. 502 und S. 512. EBD., S. 503f. EBD., S. 516 f. EBD., S. 498f; vgl. auch S. 510f.

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den Ernst und die Wichtigkeit des Göttlichen verweigern, ihr sollt euer Herz nicht bei eurer Politik haben, eure Seelen sind und bleiben den Idealen des Staates entfremdet - aber eure moralische Mitwirkung dürft ihr ihm nicht versagen."39 Auf diese Weise werde die göttliche Weltrevolution vorbereitet, die mit der Aufrichtung des Gottesstaates den Gewaltstaat beseitige. 40 Indem das Christentum am Reich Gottes orientiert sei, konkurriere es "nicht mit dem Staat, es negiert ihn: seine Voraussetzung und sein Wesen. Es ist mehr als Leninismus!"41 Barth interpretiert also die paulinische Forderung, sich den obrigkeitlichen Gewalten zu unterziehen, im Sinne revolutionärer Taktik als Aufruf zur Mitarbeit im Bereich des Politischen, freilich mit der Absicht, Gewalt und Recht, wo immer möglich, durch Liebe zu unterlaufen und so auf die Destabilisierung und schließliche Revolutionierung des im alten Aon gültigen Gewaltprinzips hinzuarbeiten. Zusammenfassend halten wir fest, daß sich Barth in der politischen Ethik des ersten "Römerbriefs" dem Problem stellt, wie der Christ sich im Konflikt zwischen 'Staat' und 'Revolution' verhalten solle. Entgegen der Hauptlinie der reformatorischen Tradition votiert er dabei nicht für ein konservatives Handlungskonzept, freilich auch nicht für das revolutionäre, sondern er hält beide Optionen prinzipiell offen; in concreto müsse zwischen ihnen mittels der Moral, d.h. der im kategorischen Imperativ formulierten Universalisierungsregel der praktischen Vernunft, entschieden werden. Darüber hinaus gibt Barth freilich zu erkennen, daß für ihn die durch den Konservatismus und Liberalismus repräsentierten Handlungs- und Gesellschaftsmodelle eher negativ besetzt sind und theologisch unter den Begriff der Sünde fallen, während die Sozialdemokratie als Protestbewegung gegen Unterdrükkung und Ungerechtigkeit positiv bewertet wird und darum zur Illustration des paulinischen Gesetzesbegriffes herangezogen werden kann. Wichtiger als die politischen Gegensätze ist für Barth allerdings, daß Christen - wo immer sie sich konkret engagieren - sich in ihrem Handeln von der im Reich Gottes geltenden "Solidarität mit dem 'Feinde'" leiten lassen und dadurch de facto zu interessenübergreifenden Konfliktlösungen beitragen. Wenngleich sich die theologische Begründung politischen Handelns für Barth seit der Vorkriegszeit verändert hat, so ist doch seine grundsätzliche politische Orientierung die gleiche geblieben.

39

EBD., S. 5 1 7 .

40 EBD., S. 503f. 41

EBD., S. 5 0 6 .

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IV. Wie bereits erwähnt, hielt Barth den schweizerischen Landesstreik vom November 1918, der sich u.a. zum Ziel gesetzt hatte, die Bundesratwahl nach dem bereits beschlossenen Proportionalwahlrecht durchzusetzen, berechtigt; er bekräftigte diese Auffassung auch gegenüber der ihn zur Rechenschaft ziehenden Kirchenpflege, wenngleich er bestritt, den Generalstreik "verherrlicht" zu haben 42 . Vier von sechs Presbytern nahmen dies zum Anlaß, ihre Demission einzureichen. Die Tatsache, daß bei der daraufhin nötigen Ersatzwahl am 19. März 1919 ausschließlich Sozialisten in die Kirchenpflege gewählt wurden, belegt den starken Rückhalt den Barth in Kreisen der Arbeiterschaft genoß 43 . Wenige Monate später, im August 1919, versuchte die lokale Freisinnig-demokratische Partei und die Bauernpartei eine Besoldungserhöhung für den Pfarrer mit der Begründung zu verhindern, er "verherrliche den Spartakismus und Bolschewismus, treibe sozialistische Propaganda, schreibe Hetzartikel in Arbeiterblättern, nehme an Maiumzügen teil" und "vernachlässige dadurch sein Amt als Seelsorger" 44 . Laut Protokoll verteidigte sich Barth "in ruhiger Weise gegen die ihm gemachten Vorwürfe und Anschuldigungen... Daß er dem Bolschewismus und Spartakismus verherrliche sei eine Lüge; gerade das Gegenteil habe er getan" 45 . Man versteht diesen Vorgang erst dann, wenn man ihn vor dem Hintergrund der gespannten Lage sieht, die in der Schweiz nach dem Landesstreik eingetreten war 4 6 . Während aus Angst vor einer bolschewistischen Revolution überall Bürgerwehren entstanden waren, hatte auf Seiten der Arbeiterschaft die Empörung über das Verhalten der Behörden und die Enttäuschung über den als falsch angesehenen Streikabbruch zu einer weiteren Polarisierung und Radikalisierung geführt. Die Folge war eine latente Bürgerkriegsstimmung, die das innenpolitische Klima in der Schweiz auf Jahre hinaus vergiftete 47 . Innerhalb der Sozialdemokratie wuchs die Zahl derer, die mit 42

Siehe dazu oben A n m . 33.

43

Vgl. F.-W. MARQUARDT, A k t u a r (Anm. 23), S. 128-132.

44

EBD., S.132.

45

EBD.

46

Vgl. dazu über W. GAUTSCHI, Landesstreik (Anm. 33), hinaus: MARKUS BOLLIGER: Die Basler

Arbeiterbewegung

im

Zeitalter

des

Ersten

Weltkrieges

und

der

Spaltung

der

Sozialdemokratischen Partei. Ein Beitrag zur Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung ( B B G W 117). Basel/Stuttgart 1970, S. 121ff. 47

Vgl. dazu etwa auch THURNEYSENS briefliche Äußerungen über die Lage in Leutwil, dem Nachbarort von Safenwil, v o m Frühjahr 1919: "Die Gründung von Bürgerwehren schreitet munter fort", berichtet er am 13. Januar ( B w T h I [Anm. 13], S. 309); und am 7. März: "Die revolutionäre U n r u h e breitet sich bei uns immer mehr aus... Die einen warten auf den jüngsten T a g und die anderen bilden weiße Garden" (EBD., S. 323); und schließlich am 10. April:

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den deutschen Spartakisten oder den russischen Bolschewiki sympathisierten und die parlamentarische Demokratie als hoffnungslos bürgerlich ablehnten. Wie verhielt sich nun Barth in dieser Situation? War er, wie man ihm in bürgerlichen Kreisen vorwarf, tatsächlich ins Lager der Befürworter einer gewaltsamen Revolution übergewechselt? In der Tat beteiligte sich Barth intensiv an der Aufarbeitung des Generalstreiks und an der innerparteilichen Diskussion über den weiteren politischen Kurs 48 . Nachdem Manuskript und Fahnenkorrekturen zum ersten "Römerbrief" abgeschlossen waren, widmete er sich vor allem wieder verstärkt der Mitarbeit im Arbeiterverein. So berichtet er Thurneysen am 13. April 1919 von einer "Serie von Bolschewiki-Abenden im Arbeiterverein über die Leninschen Vorder- und Hintergründe (der Dostojewskische Christus, das Elias-Calvin-Cromwell-Problem 49 des Reiches Gottes!)"50. Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe behandelte Barth am 16. April 1919 unter dem Titel "Demokratie oder Diktatur?" die Frage, ob die Schweizer Sozialdemokratie das russische Vorbild nachahmen sollte. Er räumt zwar ein: "Unsere Demokratie muß dem Leben besser angepaßt werden", denn das Bürgertum habe "seine Stellung mißbraucht. Demokratie und Kirche haben sich nicht bewährt" 51 , gibt gleichzeitig aber zu bedenken, daß es bei dem jetzt überall diskutierten leninistischen Modell einer Diktatur des Proletariats "um die Merkmale der Minoritätsherrschaft, der Exklusivität, der gewaltsamen Umwälzung" gehe und man sich Klarheit darüber verschaffen müsse, ob man das wolle 52 . Dabei sei aber zu berücksichtigen, daß a) eine durch "gewaltsame Umwälzung" errichtete "neue Gesellschaft" im Grunde nicht besser sei als die ebenfalls dem Gewaltprinzip verschriebene alte Gesellschaft, b) durch eine Minoritätsherrschaft "die anerkannten Fehler der Demokratie" nicht beseitigt würden ("Wer schützt uns vor den Fehlern der

48 49

50 51

52

"Unterdessen sucht der Bolschewismus, wenn vielleicht auch nur vorläufig, hart an unsere Grenzen. Eine reaktionäre Strömung breitet sich bei uns aus. Vielleicht steht so etwas wie eine 'Ära Metternich an'" (EBD.). Siehe z.B. BwTh I (Anm. 13), S. 318 und S. 321. Vgl. dazu R I (Anm. 25), S. 431f., 495f. und 498f., wo Elias' Abschlachtung der Baalspriester und die von Calvin veranlaßte Ketzerverbrennung als Negativ-Beispiele vorgeführt werden, denen der Christ, der sich an der im Reich Gottes geltenden Methode der "Solidarität mit dem 'Feinde'" orientiert, unmöglich folgen könne. BwTh I (Anm. 13), S. 324. KARL BARTH: Demokratie oder Diktatur?, zitiert nach: FRIEDRICH-WILHELM MARQUARDT: Verwegenheiten. Theologische Stücke aus Berlin. München 1981, S. 484. - Barth denkt dabei sicher daran, daß die Sozialdemokratie jahrzehntelang durch das Majoritätswahlrecht und eine ungünstige Wahlkreiseinteilung benachteiligt war, und daß weder Bürgertum noch Kirche an diesem ungerechten Zustand etwas geändert haben. EBD.

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Arbeiterführer?"), und c) die proklamierte Exklusivität der Arbeiterklasse dem Ziel des Sozialismus widerspreche, keine neue Klassenherrschaft zu errichten, sondern die Klassen als solche aufzuheben. Als einzig legitimes Mittel zur Eroberung der politischen Macht nennt Barth das überzeugende und darum mehrheitsbildende Argument: "Die Minderheit soll durch ihre Intelligenz herrschen, d.h. zur Mehrheit werden." 53 Das Fazit ist darum eindeutig: Statt für die revolutionäre Diktatur des Proletariats plädiert Barth für die "Ausnützung der jetzigen Lage durch politische Arbeit, mehr Genossenschaftswesen, mehr soziale Bildung!"54 kurz: für das Programm eines demokratischen Sozialismus. Barth war realistisch genug, um zu erkennen, daß die Schweizer Sozialdemokratie mehr und mehr nach links abdriftete. In einem an die Adresse der eigenen Partei gerichteten Artikel vom 15. August 1919 mit der Uberschrift "Das, was nicht geschehen soll" sprach er sich darum gegen einen Anschluß der Sozialdemokraten an die kommunistische HI. Internationale aus55. Denn obwohl der Schweizer Bundesrat aus Furcht vor einer Revolution soziale Reformen einleitete 56 sowie im Oktober 1919 vorgezogene Nationalratswahlen nach dem bereits vor dem Landesstreik beschlossenen Proportionalwahlrecht durchführen ließ 57 und damit wesentliche Forderungen des Landesstreiks erfüllte, gewann die zunächst kleine Gruppe um den Linkssozialisten Platten größeren Einfluß. Ein außerordentlicher Parteitag am 16. und 17. August 1919 in Basel beschloß den Austritt aus der II. Internationale und den von Barth befürchteten Beitritt zur III. Internationale, eine Entscheidung, die allerdings schon einen Monat später revidiert werden mußte, da ihr die Parteibasis in einer Urabstimmung die Zustimmung versagte. Im folgenden Jahr stand die Beitrittsfrage erneut zur Diskussion, da alle Bemühungen um eine nichtkommunistische Internationale gescheitert waren 58 . Inzwischen hatte allerdings der am 19. Juli 1920 in Petrograd eröffnete 2. Kongreß der Komintern 21 Aufnahmebedingungen formuliert, die 53

EBD.

54 EBD., S.484 f. 55 KARL BARTH: Das, was nicht geschehen soll. In: Neuer Freier Aargauer Nr. 188. - Vgl. zum folgenden: HANS BEAT KUNZ: Weltrevolution und Völkerbund. Die schweizerische Aussenpolitik unter dem Eindruck der bolschewistischen Bedrohung 1918-1923. Bern 1981, S. 174ff. 56 U.a. wurde die 48-Stunden-Woche eingeführt. 57 In diesen Wahlen erreichte die Sozialdemokratie eine Verdoppelung ihrer Mandate, während der Freisinn seine bis dahin durch das Majoritätswahlrecht gestützte parlamentarische Hegemonie verlor. 58 Siehe zum folgenden H. B. KUNZ, Weltrevolution (Anm. 55), S. 177ff.

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den meisten Sozialdemokraten unannehmbar erschienen. An dem außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei vom 10. bis 12. Dezember 1920 im Berner Volkshaus, der über den endgültigen Beitritt entscheiden sollte 59 , nahm auch Karl Barth als Delegierter teil60. Am 11. Dezember gab er Thurneysen aus Bern folgenden Stimmungsbericht: "Einen Gruß mitten vom Schlachtfeld. Auf der Tribüne steht die rote Rosa Grimm und wirft ihrem früheren Mann 'Schindluderei' vor. Es geht überhaupt lebhaft zu, und die Parteieinheit ist nur noch eine Frage von Stunden. Die Linke ... ist noch unglaubwürdiger als das 'Zentrum', mit dem ich notgedrungen stimme. Fritz Lieb ... ist auch auf dem Platz, natürlich auf der anderen Seite. 540 Delegierte!! 15 Redner sollen noch zu Wort kommen vor der Abstimmung, 36 waren angemeldet. Langweilig ists keinen Augenblick." Als Postkript fügte er schließlich hinzu: "Beitritt mit 350 zu 213 abgelehnt, Spaltung perfekt!" 61 Die unterlegene Linke, unter ihnen auch Barths Freund Fritz Lieb, damals Mitglied der Sozialdemokratischen Jugendorganisation 'Jungburschen' und des Basler Parteivorstandes62, verließ daraufhin unter Protest den Parteitag63 und beauftragte ein elfköpfiges Gremium, mit den Altkommunisten Fusionsverhandlungen zu führen und ein Programm zu erarbeiten, auf dessen Grundlage schließlich am 5. März 1921 die Kommunistische Partei der Schweiz gegründet wurde64. Ein Mitglied der "Zentrale" der neugegründeten KPS, Willy Handschin65, suchte das Safenwiler Pfarrhaus im Juni 1921 auf, als Barth intensiv 59 EBD., S.189; vgl. auch PETER STETTLER: Die Kommunistische Partei der Schweiz 1921-1931. Ein Beitrag zur schweizerischen Parteiforschung und zur Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung im Rahmen der Kommunistischen Internationale (Helvetia Politica. Series B. Vol. XV). Bern 1980, S. 32f., sowie M. BOLLIGER, Arbeiterbewegung (Anm. 46), S. 273 ff. 60 Vgl. BwTh I (Anm. 13), S. 450. Leider enthält das offizielle Parteitagsprotokoll keine Präsenzliste (vgl. SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DER SCHWEIZ: Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 10. bis 12. Dezember 1920 im Volkshaus in Bern. Zürich 1921). 61 BwTh I (Anm. 13), S. 454. Die Zahl der Delegierten wird auch im Protokoll (vgl. Anm. 60) unterschiedlich angegeben: S. 112 spricht von 570 Delegierten am Morgen des 11.12.1920, S. 168 nennt 552 Delegierte und insgesamt 623 Stimmberechtigte für den Mittag desselben Tages. Zur Abstimmung und dem Auszug der unterlegenen "Neukommunisten" vgl. EBD., S.162ff. 62 Vgl. M. BOLLIGER, Arbeiterbewegung (Anm. 46), S. 238-240. 63 Vgl. dazu auch KARL BARTH: Ein Brief an den Jubilar (Fritz Lieb zum 70. Geburtstag am 10.6.1962). In: EvTh 22, 1962, S. 282f. 64

P . STETTLER, Partei ( A n m . 59), S. 33-42.

65 Willy Handschin, Basler Altkommunist und wie Fritz Lieb führendes Mitglied bei den "Jungburschen", der Sozialdemokratischen Jugendorganisation (SJO), war im März 1921 in

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an der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars arbeitete, um Fritz Lieb, der dort zur Entlastung Barths fünf Wochen lang die sonntäglichen Predigten hielt, der politischen "'Arbeit' wieder zuzuführen" 66 . Nachdem Barth zuvor versucht hatte, Fritz Lieb "in unendlichen Gesprächen ... seine Art zu predigen und das Kommunistenwesen und vor allem den problematischen Zusammenhang zwischen beiden ein wenig unmöglich" zu machen, berichtet er, der Besuch Handschins hätte bei Fritz Lieb bewirkt, daß dieser nun "ziemlich bedäppt" sei, "wahrscheinlich zum letzten Mal über Straßenkämpfe geredet" habe und es nicht unmöglich sei, "daß sich die ganze Wolke von Revolutionsromantik über seinem Haupte nun langsam verzieht.... Daß es mit der kommunistischen Möglichkeit im Grunde nichts ist, das ist mir übrigens bei diesem Anlaß, wo sie als 'Möglichkeit' so durchaus in saftige Erscheinung trat, aufs neue klar geworden" 67 . Fassen wir zusammen: Barth hat sich nach dem Schweizer Landesstreik in öffentlichen Vorträgen und Zeitungsartikeln wie in persönlichen Gesprächen gegen Radikalisierungstendenzen innerhalb seiner Partei ausgesprochen und für einen demokratischen Sozialismus plädiert. Durchaus im Einklang mit seiner im ersten "Römerbrief" vertretenen politischen Ethik hat er versucht, mäßigend auf die einzuwirken, die auf das Prinzip 'Staat' pochten, wie auch auf die, die ihre Hoffnung auf die 'Revolution' setzten. Denn er vertrat die Uberzeugung, daß soziale und politische Forderungen nicht durch gewaltsame Eroberung der politischen Macht, sonder nur auf dem Wege demokratischer Mehrheitsbildung durchzusetzen seien. Nirgends läßt sich erkennen, daß Barth seine Bejahung der republikanischen Staats- und demokratischen Regierungsform, wie sie ihm von der Schweiz her vertraut war und wie sie in etwas anderer Weise durch die Weimarer Verfassung 1919

die zehnköpfige "Zentrale", dem höchsten Leistungsgremium der KPS gewählt, schon im Januar 1922 aber durch Philipp Wildberger abgelöst worden (vgl. M. BOLLIGER, Arbeiterbewegung [Anm. 46], S. 242f. und S. 283; sowie P. STETTLER, Partei [Anm. 59], S. 120 Faltblatt). 66 In einem Brief an THURNEYSEN vom 13. 6. 1921 schildert BARTH diesen Besuch in seiner unnachahmlich anschaulichen Art; er schließt seinen Bericht mit der Bemerkung, Handschin habe ihn "trotz tiefer Verachtung für die 2 l/2te Internationale als nicht ganz unannehmbaren Pfaffen qualifiziert" (BwTh I [Anm. 13], S. 495f.). In Erinnerung daran hat Barth sich später in einer Widmung für Fritz Lieb einen "Vertreter der 2 l/2ten Internationale" genannt (nach F.-W. MARQUARDT, Verwegenheiten [Anm. 51], S. 482), wie die Bolschewiki spöttisch die "Internationale Arbeitsgemeinschaft der sozialistischen Parteien" bezeichneten, die im Februar 1921 in Wien gegründet worden war und sowohl die II. als auch die HI. Internationale ablehnte (vgl. H. B. KUNZ, Weltrevolution [Anm. 55], S. 193f). 67 BwTh I (Anm. 13), S. 496.

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auch für Deutschland in Kraft gesetzt wurde, zu Beginn der Zwanziger Jahre revidiert hätte. Nun waren freilich die meisten der bisher berücksichtigten Äußerungen Barths für einen begrenzten Personenkreis in der Schweiz, keinesfalls aber ein größeres Publikum in Deutschland bestimmt. Wenn man wissen will, in welcher Weise Barths politische Vorstellungen in der Anfangsphase der Weimarer Republik in Deutschland bekannt wurden, muß man auf den 1919 im thüringischen Tambach gehaltenen Vortrag "Der Christ in der Gesellschaft" sowie der 1921 kurz vor dem Wechsel Barths nach Göttingen abgeschlossenen zweiten Auflage des "Römerbriefs" zurückgreifen. V. Noch gespannter und undurchsichtiger als in der Schweiz war natürlich die Situation in Deutschland 68 . Das Bündnis, das MSPD und U S P D auf dem Höhepunkt der Novemberrevolution eingegangen waren, zerbrach schon nach wenigen Wochen an gegensätzlichen Auffassungen darüber, ob die Lage dazu genutzt werden sollte, die Voraussetzungen für eine "soziale Demokratie" einschließlich der Sozialisierung von Schlüsselindustrien zu schaffen oder ob man ihre gesetzliche Regelung einem möglichst rasch zu wählenden Parlament vorbehalten sollte. Die in den von der MSPD dominierten Arbeiter* und Soldatenräten 69 kaum vertretenen Spartakisten, die sich 1917 der U S P D angeschlossen hatten, aber über eigene Organisationsstrukturen verfügten, versuchten mehrfach, die Massen zu mobilisieren und die Revolution voranzutreiben. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und von monarchistischen Führern befehligten Regierungstruppen und Freikorpsverbänden, durch deren Einsatz die Regierung des Rats der Volksbeauftragten empfindliche Prestigeverluste erlitt. Die 68 Vgl. zum folgenden: REINHARD RÜRUP: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19. Wiesbaden 1968; ULRICH KLUGE: Die deutsche Revolution 1918/1919. Frankfurt am Main 1985; EBERHARD KOLB: Die Weimarer Republik. 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. München 1988, S. 1-22; D. LEHNERT, Sozialdemokratie (Anm. 11), S. 119-131. 69 Neuere Untersuchungen zur Rätebewegung haben ergeben, daß das in der älteren Forschung gezeichnete Bild der Novemberrevolution, wonach die parlamentarische Demokratie von der Rätebewegung bedroht gewesen sei, aufgrund der Quellen revidiert werden muß: Die überwiegende Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenräte strebte kein 'Rätesystem' an, sondern setzte sich für eine parlamentarische Republik ein; erst in einer zweiten Phase der Revolution, im Lauf des Jahres 1919, als sich in der Arbeiterschaft Enttäuschung darüber breit machte, daß die erhoffte Demokratisierung von Verwaltung, Armee und Wirtschaft ausgeblieben war, wurde der Rätegedanke zunehmend im Sinne einer proletarischen Diktatur als Alternative zum Parlamentarismus interpretiert. Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei E. KOLB, Weimarer Republik (Anm. 68), S. 153-163.

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wachsende Unzufriedenheit der Arbeiterschaft, die sich im Frühjahr 1919 in einer Streikwelle Luft machte, kam vor allem der nicht an der Regierung beteiligten USPD zugute, die auf ihrem 'Revolutionsparteitag' im März 1919 unter dem Druck ihres linken Flügels die Einführung des Rätesystems diskutierte und Ende des Jahres auf dem Leipziger Parteitag in ihr Programm aufnahm. Sie erhielt in den folgenden Monaten starken Zulauf aus der Industriearbeiterschaft und konnte in Landtags- und Kommunalwahlen Erfolge auf Kosten der MSPD verbuchen; bei den Reichstagswahlen von 1920 errang sie 84 Mandate, fast viermal so viel wie bei den Wahlen zur Nationalversammlung ein Jahr zuvor, die MSPD dagegen nur noch 10270. Die damalige Stimmungs- und Diskussionslage in der USPD war also derjenigen der Schweizer Sozialdemokratie durchaus vergleichbar. Beide lehnten den "Sozialpatriotismus" der Parteien der II. Internationale, der die MSPD angehörte, ab und sahen sich vor die Frage gestellt, ob sie sich der III. Internationale anschließen sollten. In beiden zeigten sich im Laufe des Jahres 1919 Radikalisierungstendenzen, die im Oktober 1920 zur Vereinigung der Links-USPD mit der KPD und im Dezember 1920 zur Abspaltung des linken Flügels der Schweizer Sozialdemokratie und der Gründung der Kommunistischen Partei führte. In beiden ging es dabei mehr und mehr auch um die Alternative: 'Soziale Demokratie' versus 'Rätediktatur 1 . 71 Für unsere Fragestellung ist dies insofern von Interesse, als viele der ca. 100 Teilnehmer der vom 22. bis 25. September im thüringischen Tambach bei Gotha stattfindenden Tagung, bei der u.a. Barth über das Thema "Der Christ in der Gesellschaft" referierte, mit der USPD sympathisierten 72 . Die Einladung zu diesem ersten überregionalen Treffen religiös-sozialer Kreise in Deutschland nach Weltkrieg und Revolution ging von einem Kreis um Otto Herpel und Georg Flemmig aus, der erwartete, für den Aufbau der Bewegung Anregungen von den "Schweizer Väter[n] des Religiös-Sozialis-

70 Die Mitgliederzahlen stiegen von 300.000 im März 1919 auf 750.000 im September desselben Jahres; vgl. dazu H . KRAUSE, USPD (Anm. 10), S. 146. 71 Vgl. zur innerparteilichen Diskussion der USPD vom Frühjahr 1919 bis zur Spaltung 1920: EBD., S. 124-231. 72 Vgl. GÜNTHER DEHN: Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen. München 1962, S. 217f. Darüber hinaus hat die U S P D im Rahmen der Tagung zu einer "Volksversammlung" eingeladen, zu der "Arbeiter der im O r t oder in der Nähe sich befindenden industriellen Unternehmungen" kamen (EBD., S. 218). Vgl. dazu auch FRIEDRICH-WILHELM MARQUARDT: Der Christ in der Gesellschaft 1919-1979. Geschichte, Analyse und aktuelle Bedeutung von Karl Barths Tambacher Vortrag (TEH. 206). München 1980, S. 20.

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mus" zu erhalten 73 . Nachdem Ragaz, der zunächst als Referent nach Tambach eingeladen worden war, abgesagt hatte, sprang Barth ein 74 . Wie Günther Dehn, einer der Teilnehmer, berichtet, erwartete man von Barth, "eine scharfe Absage an die immer noch herrschende kapitalistische Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung zu hören und eine dringende Aufforderung, an der kommenden sozialistischen Neuordnung tatkräftig mitzuarbeiten" 75 . Sein Vortrag, einer der dichtesten und höchst kunstvoll komponierten Texte Barths 76 , beginnt mit einer Gegenüberstellung der im Thema "Der Christ in der Gesellschaft" implizierten Verheißung und Problematik. Denn so hoffnungsvoll es wäre, wenn der Christus - so präzisiert Barth den Begriff des Christen - in der Gesellschaft als "ein neues Element mitten unter all dem Alten" wäre 77 , so muß man sich doch sofort fragen, ob dies wirklich der Fall ist, oder ob diese durch menschliche Praxis vermittelten Synthesen, die das Göttliche und Weltliche miteinander verbinden wollen, nicht tatsächlich die qualitative Differenz zwischen Gott und Welt einebnen, indem sie entweder das Göttliche auf die Ebene des Weltlichen herunterziehen und auf diese 73 So in der Einladung: vgl. F.-W. MARQUARDT, Christ (Anra. 72), S. 11; Herpel (1886-1925) war während des Weltkrieges als Garnisionpfarrer in Metz zu der Erkenntnis gelangt, daß der "Machtstaat" und die "kapitalistische Wirtschaftsordnung ... Inbegriff der organischen Ungerechtigkeit" seien ( O . HERPEL, Frucht des Krieges, zitiert nach ANTJE VOLLMER: Die Neuwerkbewegung 1919-1935. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung. Diss. theol. Berlin 1973, S. 6). Nach dem Krieg setzte er sich als aktives Mitglied der DDP, später der SPD, für lebensreformerische und sozialliberal-demokratische Ziele ein. Obwohl DDP-Mitglied, teilte Herpel offenbar Barths Ablehnung der nationalliberalen Tendenzen Naumanns; jedenfalls scheint er sich von Barth primär eine "Widerlegung von Naumann und Konsorten" erwartet zu haben (so BARTH in einem Brief an THURNEYSEN vom 8.7.1919, in: BwTh I [Anm. 13], S. 336). 74 Vgl. dazu F.-W. MARQUARDT, Christ (Anm. 72), S. 11-18; M. MATTMÜLLER, Ragaz II (Anm. 11), S. 253f. Insgesamt wurden in Tambach drei Themen von einem Schweizer Referenten und einem deutschen Korreferenten behandelt. Rudolf Liechtenhan und Hans Hartmann sprachen über "Der Christ in der Kirche", Hans Bader und Kurt Woermann über "Der Christ im Staat", und Karl Barth und Eberhard Arnold über "Der Christ in der Gesellschaft" (vgl. G. DEHN, Zeit [Anm. 72], S. 218f.; F.-W. MARQUARDT, Christ [Anm. 72], S. 181). 75

G. DEHN, Zeit (Anm. 72), S. 219.

76 Ich zitiere den Aufsatz nach: ANFÄNGE DER DIALEKTISCHEN THEOLOGE. Teil I, hg. von Jürgen Moltmann. 4. Aufl. München 1962 (im folgenden: ANFÄNGE I), S. 3-37. Eine ausgezeichnete Exegese des Textes findet sich bei H. KIRSCH: Zum Problem der Ethik in der kritischen Theologie Karl Barths. Diss. theol. Bonn 1972, S. 115-166; vgl. darüber hinaus aber auch F.W. MARQUARDT, Christ (Anm. 72), der etwas stärker auf die zeitgeschichtlichen Aspekte des Vortrags eingeht. Zur Entstehungsgeschichte des Tambacher Vortrags vgl. EBD., S. 2124. 77

ANFÄNGE I ( A n m . 7 6 ) , S . 3 .

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Weise Christus säkularisieren 78 oder das Weltliche auf die Ebene des Göttlichen emporheben, was lediglich zu einer Klerikalisierung der Gesellschaft führt 79 . Die Lösung dieses Problems, d.h. die wirkliche Synthese, kann - das ist Barths zentrale These - nur von Gott her kommen. Methodisch bedeutet dies, daß eine theologische Erörterung nicht bei der an der Fragwürdigkeit alles Profanen (d.h. vom Göttlichen Abgespaltenen) partizipierenden religiösen Form ansetzen darf, sondern sich auf den göttlichen Inhalt, auf den diese Form im günstigsten Falle Hinweis ist, konzentrieren muß. Sie muß Ernst damit machen, daß der Bewegung Gottes zum Menschen keine Bewegung des Menschen zu Gott korrespondiert, daß der Mensch im Blick auf seine Gottesrelation defizitär ist 80 . Daraus folgt methodisch, daß auch das menschliche Bewegtsein nur als Moment der Bewegung des Reiches Gottes recht verstanden ist. N u n ist aber diese Bewegung Gottes, wie sich in Christus zeigt, eine doppelte: eine "Bewegung des Lebens in den Tod hinein und aus dem Tode heraus ins Leben" 8 1 . Für den Christen in der Gesellschaft ergeben sich daraus zwei Haltungen: Weltverneinung in Sinne einer kritischen Entgegensetzung gegen die Gesellschaft und zunehmende Weltbejahung als solidarische Mitarbeit in der Gesellschaft, wobei die Bewegung des Gottesreiches, in dem beide wurzeln, den Sinn des Ganzen begreifbar machte. Im folgenden versucht Barth dies anhand einer dialektisch-trinitarischen 'Drei-Reiche-Lehre' zu verdeutlichen. Dabei interpretiert er die Bewegung des Reiches Gottes erstens als Schöpfung oder regnum naturae (Thesis), woraus als spezifisch ethische Handlung das bejahende Eingreifen von Christen in die Gesellschaft folgt, zweitens als Erlösung oder regnum gratiae (Anthithesis), woraus das verneinende Angreifen der Gesellschaft von Seiten der Christen resultiert und drittens als Vollendung oder regnum gloriae (ursprüngliche Synthesis), dem ein hoffendes und antizipierendes Begreifen der Gesellschaft durch die Christen entspricht. Es kommt also einmal darauf an, im Bestehenden Gott zu finden ohne das Bestehende zu hypostasieren. Denn die Thesis steht nicht für sich, son78

"Ja, Christus z u m soundsovielten Male zu säkularisieren,

heute z.B. der Sozialdemokratie,

dem Pazifismus, dem Wandervogel zu Liebe, wie ehemals den Vaterländern, dem Schweizert u m u n d Deutschtum, dem Liberalismus der Gebildeten zu Liebe, das m ä c h t e uns allenfalls gelingen" (ANFÄNGE I [ A n m . 76], S. 6). 79 80

EBD., S. 5-8. D a r u m stehen gesellschaftskritische Bewegungen wie die Jugendbewegung, der Spartakusbund oder der Expressionismus, die primär auf Defizite der Gesellschaft, auf tote "Dinge an sich" aufmerksam machen wollen, in einer gewissen Affinität zur Theologie, mögen sie sich selbst auch als atheistisch verstehen (ANFÄNGE I [ A n m . 76], S. 15f.). Vgl. z u m Spartakusbund aber auch B w T h I (Anm. 13), S. 318.

81

ANFÄNGE I (Anm. 76), S. 16.

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dem wurzelt in der ursprünglichen Synthesis. Zu bejahen ist also nicht das Bestehende als solches, sondern das in ihm, das zum Gleichnis des Himmelreichs werden kann. Aufgrund dieser Möglichkeit haben wir dann die Freiheit, uns auch auf dem Boden dieses Äons zu bewegen, z.B. im "Haus des Staates", oder auch "der gottlosen Sozialdemokratie" 82 . Nur so läßt sich der an Naumann zu studierenden Gefahr begegnen, "daß aus solchem weltbejahenden Hindurchschauen auf den Schöpfer doch wieder ein bloßes Schauen der Geschöpfe wird" 83 . Daß das Reich Gottes sich aber als regnum gratiae der Erlösung der Welt annimmt, impliziert gleichzeitig eine Verneinung der Welt, wie sie ist. Auch hier gilt es zu beachten, daß entgegen dem dialektischen Prozeßdenken etwa Hegelscher Provenienz "die Antithesis mehr ist als bloße Reaktion auf die Thesis. In eigener ursprünglicher Kraft entspringt auch sie der Synthesis, die Thesis in sich begreifend und aufhebend" 84 . Nach Lage der Dinge muß sie sogar stärker zur Geltung gebracht werden als die Thesis85. "Gerade indem uns die Gesellschaft zum Spiegel ursprünglicher Gottesgedanken wird, wird sie uns zum Spiegel unserer Not und unserer Hoffnung. So wendet sich das Reich Gottes zum Angriff auf die Gesellschaft". 86 Denn es zeigen sich nun umso deutlicher die Defizite und die Widerstände, die verhindern, daß das zur Erscheinung kommt, was in den Gleichnissen gemeint ist. Auf den Spuren Gottes des Erlösers gilt es, sich als Protest gegen das Bestehende zu beteiligen und die radikale Opposition zu bewähren "in rücksichtslosen Kampfansagen und geduldiger Reformarbeit, heute wohl ganz besonders in einer weitherzigen, umsichtigen und charaktervollen Haltung gegenüber, nein, nicht als unverantwortliche Zuschauer und Kritiker gegenüber, sondern als mithoffende und mitschuldige Genossen innerhalb der Sozialdemokratie" 87 . So ist beides möglich: "schlichte sachliche Mitarbeit im Rahmen der bestehenden Gesellschaft" und "die radikale Opposition gegen ihre Grundlagen" . Beides erhält seine Kraft, seine Begrenzung und seinen Maßstab durch den Blick auf "das ganz andere des Reiches, das das Reich Gottes ist"88. Das Reich Gottes wird weder durch unsere sachliche Mitarbeit noch unsere 82

EBD., S. 26.

83

EBD., S. 22.

84

EBD., S.

85

EBD., S. 28: "Wir stehen tiefer im N e i n als im Ja, tiefer in der Kritik u n d im Protest, als in

27f.

der Naivität, tiefer in der Sehnsucht nach dem Zukünftigen als in der Beteiligung in der Gegenwart." 86

EBD., S. 29.

87 EBD., S. 32. 88

EBD., S. 33.

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radikale Opposition vollendet, sondern nur durch Gott selbst. Es gibt keine Bewegung vom alten zum neuen Aon hinüber, sondern nur den doppelten Eingriff und Angriff Gottes auf die Welt. "Nur in Gott ist die Synthesis zu finden, - aber in Gott ist sie zu finden, die Synthesis, die in der Thesis gemeint und in der Antithesis gesucht ist." 89 Die spezifische ethische Haltung, die aus dem hoffenden Ausblick auf das regnum gloriae folgt, ist die des antizipierenden Begreifens, in dem es "keine ungehemmte Naivität", aber auch "keine ungehemmte Kritik" gibt 90 , und in dem "unsere naive wie unsere kritische Stellung zur Gesellschaft, unser Ja wie unser Nein in Gott ins rechte Verhältnis gesetzt wird", so daß wir uns "weder mit Naumann ins Ja verrennen" noch "mit Tolstoj ins Nein" 9 1 . Von daher läßt sich die Frage: "Was sollen wir tun?", nur beantworten mit der Aufforderung, "dem Tun Gottes aufmerksam zu folgen" 92 . Damit wird, wie schon in der ersten Auflage des "Römerbriefs", ein Typus von Ethik abgelehnt, der situationsunabhängige Verhaltensregeln an die Hand gibt und damit den Schein erzeugt, als wäre der Mensch seiner Verantwortung enthoben, wenn er diesen Regeln nur folgt. Es fällt auf, daß Barth anders als im ersten "Römerbrief" nicht mehr dazu auffordert, den Staat religiös auszuhungern; vielmehr stellt er die sachliche Mitarbeit neben die radikale Opposition und faßt beides im Begriff geduldiger Reformarbeit 93 zusammen. Der gerade entstandene Weimarer Staat, dessen Verfassung erst gut einen Monat zuvor in Kraft getreten war und nun mit den sozialen und politischen Folgen des Krieges fertig werden mußte, stand nicht in Gefahr, religiös überhöht zu werden; er verdiente kritische Solidarität und Unterstützung. Wenn auch nicht ohne Verständnis für die Spartakusbewegung, macht Barth doch deutlich, daß seiner Meinung nach der bejahende Eingriff wie auch der verneinende Angriff auf die Gesellschaft innerhalb der Sozialdemokratie möglich ist. Offenbar bewußt unterläßt Barth, zwischen MSPD und U S P D zu differenzieren. Drohte die MSPD, das auf Veränderung drängende Moment radikaler Opposition zu vernachlässigen, so stand die U S P D in Gefahr, das Moment sachlicher Mitarbeit preiszugeben, während es nach Barth in der Situation von 1919 gerade darauf angekommen wäre, beides gleichermaßen zur Geltung zu bringen. Wenn Barth sich später rühmte, den Religiös-Sozialen in Tambach das Konzept verdorben zu haben, so bezog sich dies vor allem auf den von Barth 89

EBD., S. 34.

90

EBD., S. 33.

91

EBD., S. 36.

92

Ebd., S. 37.

93

EBD., S. 32.

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abgelehnten Versuch, eine religiös-soziale Organisation in Deutschland aufzubauen. Statt dessen plädierte Barth wie schon im ersten "Römerbrief" für eine aktive Beteiligung von Christen innerhalb der Sozialdemokratie, weil ihm eine solche wichtiger erschien als eine zur Sozialdemokratie eventuell in Konkurrenz tretende kirchlich-soziale Bewegung 94 . Die Tambacher Tagung machte Barth mit einem Schlag in Deutschland bekannt und eröffnete ihm eine Fülle neuer Beziehungen. Daß er seine Theologie nun "vor einer größeren Öffentlichkeit zu verantworten haben werde", sei ihm - so notierte er 1927 im Münsteraner Fakultätsalbum - klar geworden, als er "in Tambach zum ersten Mal der gänzlich veränderten Lage im Deutschland der Nachkriegszeit ansichtig wurde ... Hier fand ich auf einmal einen Kreis und Ausblick auf weitere Kreise von Menschen, zu deren Unruhe sich meine Versuche verhielten wie Antworten zu Fragen - Antworten, die mir doch gerade in dem nun anhebenden Verkehr mit diesen deutschen Zeitgenossen unter der Hand selber wieder zu Fragen wurden" 9 5 . Im Zuge dieser Infragestellung auch der eigenen theologischen Versuche entschloß sich Barth im Sommer 1920 seinen Römerbriefkommentar für die zweite Auflage noch einmal ganz neu zu schreiben. VI. Als Barth die Arbeit daran im Oktober 1921 abschloß, hatte sich die Situation in Deutschland gegenüber 1919 eher noch verschärft. Im Januar 1920 war der Versailler Vertrag in Kraft getreten, der im Juni 1919 zum Rücktritt des Kabinetts Scheidemann und zur Bildung einer neuen Regierung unter Gustav Bauer geführt hatte. Zunehmend formierten sich nun auch wieder reaktionäre Kräfte, nachdem Paul von Hindenburg mit seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung im November 1919 die "Dolchstoßlegende", die die Revolution für die militärische Niederlage und den als schmachvoll empfundenen Friedensvertrag ver94 Vgl. dazu auch den Bericht OTTO HERPELS in den "Vertraulichen Mitteilungen für die Freunde" des 'Neuen Werkes', vom Oktober 1919. Die Deutschen "konnten nur sehr schwer und unter manchen inneren Erschütterungen einsehen, daß sie die Kirche zu wichtig nähmen, wenn sie sich um eine Versöhnung zwischen Christentum und Sozialismus bemühten, und daß sie den Christus innerhalb der staatlichen Atmosphäre am besten durch aktive Bejahung der 'atheistischen' Sozialdemokratie ehren könnten" (zitiert nach F.-W. MARQUARDT, Christ, S. 26). Offenbar gab es auch in Tambach Vorbehalte gegen die Sozialdemokratie wegen ihrer atheistischen und antiklerikalen Einstellung. Vgl. zu der auf Tambach folgenden Diskussion des Barthschen Ansatzes und seiner Kritik der Erlebnistheologie in religiös-sozialen Kreisen EBD., S. 24-37. 95 KARL BARTH/RUDOLF BULTMANN: Briefwechsel 1922-1966, hg. von Bernd Jaspert. Zürich 1971, S . 3 0 8 .

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antwortlich machte, gestützt hatte. Am 13. März 1920 versuchten Generallandschaftsdirektor Kapp und Reichswehrgeneral von Lüttwitz mit Hilfe von Freiwilligenverbänden die Regierung Bauer zu stürzen. Als allerdings nach dem Zusammenbruch des Putsches die Schuldigen nicht zur Verantwortung gezogen wurden und es auch nicht zu der von den Gewerkschaften geforderten Säuberung in Verwaltung und Militär kam - zwar mußte der auch bei Sozialdemokraten verhaßte Reichswehrminister Noske zurücktreten, General von Seeckt aber wurde, obwohl er sich Regierungsanordnungen widersetzt hatte, zum Chef des Heeresleitung ernannt -, gingen in Sachsen und Thüringen sowie im Ruhrgebiet bewaffnete Arbeiter ihrerseits zum Angriff auf Freikorps und Reichswehr über. Dieser zunächst von USPDMitgliedern, später auch von Kommunisten organisierte Aufstand konnte erst im Mai 1920 beendet werden. Da die daraufhin vorgezogenen Wahlen zum Reichstag vom 6. Juni 1920 starke Verluste für die Parteien der "Weimarer Koalition" erbrachten, während die Oppositionsparteien DVP, DNVP und USPD starke Gewinne verzeichneten, kam es zur Bildung eines von der SPD tolerierten bürgerlichen Minderheitskabinetts aus Zentrum, DDP und DVP. Auf dem linken Parteienspektrum gewann die KPD durch den sich ihr im August 1920 anschließenden linken USPD-Flügel erstmals eine Massenbasis, die sie im Frühjahr 1921 für einen Aufstand im mitteldeutschen Industriegebiet nutzte ("Märzaktion"), der allerdings innerhalb weniger Tage niedergeschlagen war. Barth, der in dieser Zeit intensiv an der zweiten Auflage seines "Römerbriefs" arbeitete, scheint von all dem keine Kenntnis genommen zu haben. Als am 26. August 1921 der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger durch zwei rechtsradikale ehemalige Marine-Offiziere ermordet wurde, muß Barth bei der Niederschrift seiner Auslegung zu Rom 13 gewesen sein96; im Briefwechsel mit Thurneysen findet dieses Ereignis jedoch keine Erwähnung. Dennoch zeigt eine genaue Analyse des zweiten "Römerbriefs", daß Barth sehr wohl der veränderten Zeitlage Rechnung trug. Der zweite "Römerbrief" unterscheidet sich von der ersten Auflage u.a. darin, daß er noch kompromißloser von der Souveränität Gottes ausgeht und das Sein des Christen in der Äonenwende nicht als ein Zugleich von Elementen des alten und neuen Äons bestimmt, sondern als ein negativ dialektisches Verhältnis zwischen dem Bestehenden und dem kommenden, alles Bestehende dem Gericht unterziehenden Reich Gottes 97 . Dies hat zur Folge, daß Gericht und Gnade unmittelbar aufeinander bezogen werden. Die 96

Vgl. B w T h I (Anm. 13), S. 515f.

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KARL BARTH: D e r Römerbrief. Elfter, unveränderter A b d r u c k der neuen Bearbeitung von 1922. Zürich 1976 (im folgenden zitiert: R D), S. 451 und 427.

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Gnade besteht gerade darin, daß Gott das Gericht über die Sünde spricht, das Gericht ist insofern Gnade, als dem Sünder im Gericht Gottes Zuwendung widerfährt 98 . Im Blick auf die politische Ethik des zweiten "Römerbriefs" bedeutet dies, daß alles Bestehende, also auch der Staat, die Politik, als solches negativ, böse ist, und unter dem Gericht steht. Darum treten die quantitativen Unterschiede innerhalb des alten Äons gegenüber dem qualitativen Unterschied zwischen altem und neuem Äon, zwischen Welt und Gott, in den Hintergrund". Grundlegende Voraussetzung allen christlichen Handelns ist nach Barth die "Buße", die Anerkennung der qualitativen Differenz zwischen Gott und Mensch. Aus ihr als dem "primär ethischen Handeln" folgen alle "sekundären ethischen Handlungen" als "Demonstrationen zur Ehre Gottes". Barth unterscheidet dabei nun zwei Kriterien: Demonstration zur Ehre Gottes ist ein Handeln entweder, wenn es eine bewußte Unterlassung, ein Nicht-Wollen und Nicht-Tun ist, das sich als solches "einfügt in die Verwandlung dieser Welt" 100 , oder, wenn es ein Wollen und Tun der Liebe zu Mitmenschen ist, das sich der "Gestalt dieser Welt" nicht einfügt, sondern gegen sie Protest einlegt 101 . Diese bewußten Handlungen nennt Barth "positive ethische Möglichkeiten", die Unterlassungen "negative ethische Möglichkeiten". Für unsere Fragestellung ist nun von eminenter Bedeutung, daß Barth als Musterbeispiel für die negative Möglichkeit die Auslegung von Rom 13 wählt, und daß er die Aufforderung "Jeder unterziehe sich ..." als Aufforderung zur Unterlassung der Revolution interpretiert. Er beeilt sich freilich hinzuzufügen, daß ebensogut von der Unterlassung der Konterrevolution, der Reaktion, die Rede sein könnte 102 , und er macht an bestimmten Knotenpunkten der Argumentation tatsächlich deutlich, inwiefern das Gesagte auch

98 Darin, daß diese Dialektik keinen prozessualen Übergang von der These zur Antithese, von der Gnade zum Gericht, und eine schließliche Aufhebung des Gegensatzes in der Synthese kennt, hat sie eine gewisse formale Affinität zur Paradoxdialektik Kierkegaards oder der negativen Dialektik Adornos und unterscheidet sie sich von der positiven Prozeßdialektik Hegels. 99 Schon in der ersten Auflage war es BARTH darauf angekommen, die Bedeutung der quantitativen Unterschiede herunterzuspielen. Auch in R I (Anm. 25) waren die Gegensätze z.B. zwischen Monarchie und Demokratie, Kapitalismus und Sozialismus relative Gegensätze, denen gegenüber BARTH für die Revolution Gottes plädierte, d.h. für das Uberbieten dieser Gegensätze durch das Tun der Liebe. 100 R II (Anm. 97), S. 445. 101 EBD., S. 436. 102 Ebd., S. 461.

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in dieser Richtung zu entfalten wäre103. Er wählt "ganz und gar nur zu Belehrungszwecken"104 den revolutionären Menschen, weil es nach Barth "wenig wahrscheinlich ist, daß man auf dem Boden des Römerbriefs ein reaktionärer Mensch wird"105. Denn viel näher liege vom Römerbrief her, das Bestehende als solches zu negieren und revolutionär beseitigen zu wollen: "Es wird sogar zu sagen sein, daß der revolutionäre Titanismus gerade darum, weil er in seinem Ursprung der Wahrheit so viel näher kommt, um so viel gefährlicher und gottloser ist als der reaktionäre. Also auf alle Fälle: der reaktionäre Mensch ist uns die kleine Gefahr, sein roter Bruder aber die große".106 Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Barths Sympathien der Revolution gehören, daß er in ihr die große Versuchung sieht und darum gerade gegen sie anzuschreiben sucht. Er tut dies, nicht indem er den bestehenden Staat verteidigt, sondern indem er dem Revolutionär die Relativität seines Tuns vorhält. Denn auch "die radikalste Revolution kann dem Bestehenden nur das Bestehende entgegenstellen"107. "Es besteht das Präjudiz, nicht für die bestehende Ordnung zwar, aber gegen die Revolution. Das Präjudiz besteht darin, daß die wahre Revolution von Gott kommt."108 Auch hier betont Barth freilich, daß der Verzicht auf die Revolution nicht bedeuten kann, sich aus der politischen Arena zurückzuziehen. Nicht. Quietismus, sondern "ein ruhiges Bedenken von 'Recht' und 'Unrecht'" trete "an die Stelle des revolutionären Kampfes"109. Als Barth dieses Plädoyer für "geduldige Reformarbeit"110 schrieb, Ende August 1921, war die Weimarer Republik noch längst nicht zur Ruhe gekommen, wurde sie immer wieder bedroht und zwar primär von der revolutionären Linken. Gewiß, der KappPutsch und die zunehmende Tendenz nach rechts in Bayern, vor allem die Ermordung Erzbergers, zeigten, daß auch der "reaktionäre Mensch" gefährlich genug war. Angesichts dieser Lage kam es Barth offenbar darauf an, gerade das politisch linke Spektrum für die Reformarbeit zu gewinnen. Bezeichnenderweise sprach er im zweiten "Römerbrief" nicht mehr davon, daß der Staat, obwohl er ihn - wie schon im ersten "Römerbrief" - wieder dem alten Aon zuordnete, "religiös auszuhungern" sei, denn der Weimarer

103 Z.B. EBD., S. 469: Für die Ordnungsmänner ist die Revolution von Gott "eingesetzt" (ebenso S. 472, 473 und 474). 104 EBD., S. 4 6 1 . 105 EBD. 106 EBD., S. 4 6 2 . 1 0 7 EBD., S. 4 6 5 . 108 EBD., S. 4 6 9 . 109 EBD., S. 4 7 2 . 1 1 0 EBD., S. 4 7 3 .

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Staat verstand sich selbst eben (wenn nicht religionslos, so doch) überkonfessionell. Barths Plädoyer gegen die Revolution und für die Reform im zweiten "Römerbrief" ist in dieser Phase ein deutliches Votum gegen die im Unterschied zur Schweizer Sozialdemokratie weiter nach links abgedriftete USPD und die KPD und für die nicht mehr an der Regierung beteiligte MSPD; es ist damit zwar ein Votum für die Demokratie, aber nicht unbedingt ein Bekenntnis zu dem zunehmend rechtslastigen Weimarer Staat111. Insofern scheint mir die These von Hartmut Ruddies, Barth habe sich im Unterschied etwa zu Ernst Troeltsch, der von Anfang an für die Republik eingestanden sei, erst vor den Weimarer Staat gestellt, als dieser schon fast verloren war 112 , jedenfalls modifizierungsbedürftig zu sein. Gerade in der Anfangsphase, als die Republik von linken Revolutionären gefährdet war, hat sich Barth von einer sozialistischen Position aus für den demokratischen Kurs eingesetzt, wenngleich er offenbar das gefährliche rechtsextreme Potential, das die Republik ebenfalls bedrohte und zunehmende Bedeutung gewann, zunächst unterschätzte. Barths Bejahung der parlamentarischen Demokratie schloß aber ein, daß er sich in einem durchaus kritischen Verhältnis zu den sogenannten "staatstragenden" Parteien, vor allem der MSPD und noch mehr der DDP, sah.

vn. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß Barths theologische Texte seinen politischen Standort im Gefüge der zeitgenössischen schweizerischen und deutschen Linksparteien ziemlich genau erkennen lassen. Sie zeigen, daß er als Mitglied der Schweizer Sozialdemokratie einen innerparteilichen Kurs mitvertreten hat, der sich vehement gegen eine Annäherung an die Kommunistische Internationale stellte. Auch später hat er stets die Position eines demokratischen Sozialismus bezogen. Daß er sich in Deutschland anfangs nicht parteipolitisch band, lag - so wird jetzt deutlich - allerdings nicht nur daran, daß er neue Stoffe vorzubereiten hatte, freilich auch nicht nur daran, daß er sich als Schweizer nicht in deutsche Angelegenheiten hat einmischen wollen; es lag - so lautet meine These - in höherem Maße daran, daß er sich in der Linken, der er sich allein zugehörig fühlte, nirgends in ausreichendem Maße repräsentiert sah. Die MSDP war für ihn seit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 desavouiert und die USPD, der er sich anfangs noch am nächsten fühlte, weil sie den Krieg am entschiedensten abgelehnt und zu 111 Gegen FRIEDRICH-WILHELM MARQUARDT: Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths. 3., um ein Nachwort erweiterte Aufl. München 1985. S. 162-168. 112 H. RUDDIES, Karl Barth und Ernst Troeltsch (Aura. 6), S. 256 Anm. 137.

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beenden gesucht hatte, geriet für ihn mehr und mehr ins Zwielicht, als sich bei ihr Tendenzen zeigten, die auf eine Annäherung an die Kommunisten hinausliefen, die er von Anfang an wegen ihrer antidemokratischen und Gewalt akzeptierenden Politik ablehnt hatte. Meines Erachtens stellt sich von diesem Ergebnis aus auch Barths Liberalismuskritik noch einmal in einem neuen Licht dar. Denn gerade die von seiner Liberalismuskritik her naheliegend erscheinende Frage, ob darin nicht zugleich eine Abwertung demokratischer und parlamentarischer Grundregeln impliziert sei, muß verneint werden. Im Begriff der "sozialen Demokratie", der sich bei Barth mindestens seit 1913 nachweisen läßt, lag für ihn zugleich auch eine Bejahung der parlamentarischen Demokratie, die er als Voraussetzung der "wirtschaftlichen, soziale[n] Demokratie" betrachtete113. Wenn sich aber Barths Kritik am Liberalismus nicht als Kritik an der Demokratie interpretieren läßt, wird die konkrete Rückfrage nach dem tatsächlichen Gegenstand jener Kritik umso dringlicher. Möglicherweise - so lautet meine Forschungshypothese, der freilich im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr nachgegangen werden kann - richtet sie sich sogar gegen ein Zuwenig an demokratisch-republikanischem Bewußtsein innerhalb der liberalen Parteien des ausgehenden Kaiserreichs und der beginnenden Weimarer Republik. Bekanntlich war das Staatsideal des Liberalismus damals nicht die parlamentarische Republik, sondern die konstitutionelle, später dann parlamentarische Monarchie 114 . Es wäre deshalb nötig, unter dieser Perspektive einmal danach zu fragen, ob nicht Barths Liberalismuskritik gerade darauf zielte, mehr Demokratie einzufordern.

113 In einer der bisher unveröffentlichten sog. "Sozialistischen Reden" BARTHS vom 1.11.1913 findet sich der Satz. "Ziel: Zur politischen muß die wirtschaftliche, soziale Demokratie kommen. Lassalle!" (zitiert nach F.-W. MARQUARDT, Verwegenheiten [Anm. 51], S. 480). 114 Darin wirkt noch der alte Gegensatz zwischen Liberalen und Demokraten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nach: Die Liberalen lehnten beispielsweise das von den Demokraten geforderte allgemeine und gleiche Wahlrecht ab, weil dies zur Nivellierung und zur Herrschaft der inkompetenten Masse führe (vgl. dazu DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988, S. 20ff.).

Kurt N o w a k RELIGIÖSER SOZIALISMUS IN DER WEIMARER REPUBLIK Historische Reminiszenzen nach dem Ende der bipolaren Welt zu einer umstrittenen Bewegung der zwanziger Jahre 1 Auf den Religiösen Sozialismus kann man nach dem Sturz des "real existierenden Sozialismus" mit ganz verschiedenartigen Empfindungen blicken: mit ernster oder auch hämischer Genugtuung, mit Trauer, mit scharfer Kritik oder auch einfach nur mit der kühlen Neugier des Historikers. Am schnellsten fertig wird man mit ihm, wenn man ihn in das Fadenkreuz der politischen Geschichte nimmt. Innerhalb dieser Optik war er in Deutschland eine Rand- und Begleiterscheinung der Parteigeschichte der SPD und KPD während der Jahre der Weimarer Republik, in nochmals verringertem Umfange dann auch noch der Zeit nach 1945.2 Ein wenig stattlicher nimmt er sich aus, wenn man ihn im Rahmen der kirchenpolitischen Gruppierungen und Fraktionen des Protestantismus zwischen 1918 und 1933 sieht. Neben den Konservativen, den Modern-Positiven und den Liberalen war er bis in die Kirchenparlamente hinein eine eigenständige, wenn auch numerisch kleine Kraft. Es gab seit Anfang August 1926 einen "Bund religiöser Sozialisten Deutschlands".3 Landesgruppen bzw. Landesverbände existierten in Anhalt, Baden, Bayern, Hessen, Pfalz, Sachsen, Thüringen, Rheinland, Westfalen, Württemberg, außerdem (seit 1929) in Lippe und im Saargebiet. Teile der religiös-sozialistischen Publizistik imponierten mit lesenswerten soziologischen und politologischen Analysen, allen voran die "Zeitschrift für 1 2

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Leicht überarbeiteter und mit Anmerkungen versehener Vortrag vom 17. April 1993 in Ludwigshafen. In dem Standardwerk von HEINRICH-AUGUST WINKLER über die Geschichte der Arbeiter und ihrer Organisationen zwischen 1918 und 1933 wird der Religiöse Sozialismus kaum jemals der Erwähnung für wert befunden (Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924. 2. Aufl. Berlin 1985; DERS.: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiter-bewegung in der Weimarer Republik 1924-1930. Berlin 1985; DERS.: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933. Berlin 1987). Organisatorischer Kurzüberblick bei RENATE BREIPOHL: Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewußtsein zur Zeit der Weimarer Republik. Zürich 1971, S. 13FF.

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Religion und Sozialismus" und die "Neuen Blätter für den Sozialismus".4 Durch besondere Aktivität zeichneten sich die badische Landesgruppe unter Erwin Eckert und die thüringische Landesgruppe aus (Emil Fuchs, Aurel von Jüchen, Karl Kleinschmidt, Paul Kohlstock).5 Aber auch so gesehen wäre der Religiöse Sozialismus kaum mehr als eine kirchengeschichtliche Episode. Zweifellos ist er mehr gewesen. 1. Zur Genealogie des Religiösen Sozialismus Für unser historisches und theologisches Urteil über den Religiösen Sozialismus hängt viel von dem Feld der Beziehungen ab, in das wir ihn stellen. Pointiert gesprochen könnte man sagen, daß die religiös-sozialistische Bewegung in Deutschland während der Weimarer Republik ein kleines und vielfach auch getrübtes Prisma von außerordentlich glänzenden Strahlenbündeln gewesen ist. Welche Räume tun sich auf, folgt man einem der denkund wortmächtigsten Deuter des Religiösen Sozialismus, Paul Tillich. Die Deutungen Tillichs verteilen sich über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten, und das heißt zugleich über mehrere politische Systeme und Kontinente. In seinen Chicagoer Vorlesungen vom Frühjahr 1963 unter dem Titel "History of the Protestant Theology in the 19th and 20th Century" meinte Tillich, die Quellen der religiös-sozialistischen Bewegung "liegen in einer Entwicklung, zu der Böhme, Schelling und Oetinger gehören ebenso wie der biblische Realismus, der weder orthodox noch pietistisch war und sich vom doktrinären Luthertum durch sein Interesse an sozialen und politischen Fragen unterschied".6 Die Tillich'sche Genealogie ist wohl erst dann verstehbar, wenn man sie unter das weiträumigste Dach stellt, das für den Religiösen Sozialismus überhaupt vorstellbar ist: Heilung des Universums. "Gott steht in Beziehung zum Universum, und dieses schließt Natur, Geschichte und Persönlichkeit ein." 7 Die Heilung des Universums, damit auch der Geschichte und der Beziehung der Menschen geschieht durch den Heil schaffenden Gott unter menschlicher Mitwirkung. Vielleicht hat Til-

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Weiterführende Literatur findet sich in der neuesten Veröffentlichung: ROTER HIMMEL AUF ERDEN? Der religiöse Sozialismus. Hg. von der Evangelischen Akademie Baden. Karlsruhe 1994 (Herrenaiber Forum. 9). R. BREIPOHL, Sozialismus (Anm. 2), S. 30ff. PAUL TILLICH: Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens. Teil II. Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. und übersetzt von Ingeborg C. Henel. Stuttgart 1972, S. 194f. (Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken Band 2). Zur Textgeschichte der als "Vorlesungen ..." veröffentlichten "History ..." vgl. das Vorwort der Herausgeberin. EBD., S. 195.

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lieh in den heilenden Händen, die Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) im württembergischen Bad Boll den Kranken auflegte, ein Symbol für die universale Heilkraft Gottes gesehen. "Sein Heilen war kein magisches Heilen, das auf Konzentration und Autosuggestion beruht, sondern ein Heilen in der Kraft des göttlichen Geistes, der von ihm ausstrahlte. Seine Erfahrungen auf diesem Gebiet brachten Blumhardt zu der Erkenntnis, daß Gott ein heilender Gott ist, daß er ein Verhältnis zur Welt und zu allen Dimensionen der Wirklichkeit hat und daß es ihm nicht nur um die innere Bekehrung der menschlichen Seele geht."8 Von Blumhardt, dem Vater, geht in Tillichs Deutung des Religiösen Sozialismus eine folgerichtige Linie zu Christoph Blumhardt, dem Sohn (1842-1919). Der Sohn habe die Ideen des Vaters auf die soziale Wirklichkeit angewendet: "Er sprach sich gegen die auf das Individuum konzentrierte Religion des pietistischen Luthertums aus, wie sie damals herrschte. Diese Ideen verbanden sich mit der sozialistischen Bewegung, die um die Jahrhundertwende im Aufstieg begriffen war." 9 In seinen Vorlesungen von Chicago hat Tillich sich dann selber ziemlich umstandslos in diesen Zusammenhang gestellt. Er verwies auf seinen Vortrag "The Kingdom of God and History" auf der Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 und auf seine Arbeit als Vorsitzender eines Ausschusses, dem auch griechisch-orthodoxe Theologen angehörten, und der sich über die Beziehungen der Kirche zu Sozialismus und Kommunismus aussprach. Der Bericht der Vollversammlung erklärte, Gott spreche zur Kirche oftmals entschiedener durch die Feinde der Religion und des Christentums als durch die offiziellen Vertreter der Kirche. Die Konstruktion von Bedeutungszusammenhängen und theologischen Entwicklungsketten gehört beim Religiösen Sozialismus ganz gewiß zu den spannendsten, aber auch zu den umstrittensten Unternehmungen. Sie dienen weithin der Selbstmotivation des Religiösen Sozialismus und seiner Legitimation nach außen. Im kirchen- und theologiegeschichtlichen Durchschnittsbewußtsein existiert mittlerweile ein gleichsam kanonisch fixiertes Bedeutungs- und Entwicklungsbild des Religiösen Sozialismus. In ihm laufen die Linien von den beiden Blumhardts zu den Schweizer religiös-sozialen Pastoren Hermann Kutter (1869-1931) und Leonhard Ragaz (1868-1945), von dort in Widerspruch und Spannung zu Karl Barth, um alsbald in das weitverzweigte Gebiet der deutschen Theoretiker einzumünden: von Georg Wünsch bis Paul Tillich, von Eberhard Arnold bis Georg Fritze, von Emil Fuchs bis Erwin Eckert usf.

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Indes existieren neben diesem Entwicklungsbild noch zahlreiche weitere Bilder. Tillichs Berufung auf Böhme, Schelling, Oetinger deutet es an. Kurz gesagt, sich auf die Genealogie des Religiösen Sozialismus in Deutschland einzulassen, bedeutet die Begehung eines oszillierenden Geländes von Deutungsansprüchen recht unterschiedlicher Art. Die eine oder andere Lesart historisch und theologisch für rechtens und richtig zu erklären, bedeutet dann bereits die Parteinahme für eine bestimmte Strömung oder einen bestimmten Flügel des Religiösen Sozialismus. Teilweise findet sich die Vielfalt bei der Deutung des Religiösen Sozialismus sogar in einem einzelnen Werk. 1963 deutete Tillich den Religiösen Sozialismus anders als 1926 oder 1932. Blenden wir zur Illustration des irritierenden Reichtums in der Selbstdeutung des Religiösen Sozialismus noch einen zweiten Text Tillichs an, diesmal aus der Frühzeit von 1919. In diesem Jahr versah Tillich die "Obliegenheiten eines Stadtvikars für Berlin". Gleichzeitig hielt er als Privatdozent für Systematische Theologie Vorlesungen an der Berliner Universität und verkehrte in einem Kreis von protestantischen Intellektuellen, der sich in gewissen Abständen in einem Berliner Restaurant traf. Weil der bereits in seinem äußeren Habitus als Kind einer neuen Zeit empfundene Stadtvikar und Privatdozent - glattrasiert, Hornbrille - auch auf Parteiversammlungen der SPD sprach,* erregte er das Mißfallen des Konsistoriums. Ein Rechtfertigungstext Tillichs an das Konsistorium behauptete einen inneren Zusammenhang zwischen Religion bzw. Christentum und Sozialismus auf der Basis äußerst großräumiger historischer und soziologischer Grundannahmen. Christentum und Kultur - so der Hauptgedanke - gestalten einander wechselseitig. So habe das Christentums "sich in wechselseitiger Durchdringung verbunden mit den Hauptformen des philosophischen Weltbewußtseins, des ästhetischen Welterlebens, des ethischen Persönlichkeitsideals, so auch mit den großen Formen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. In engste soziologische Verbindung sind nacheinander getreten: die alte Kirche mit der spätrömischen Sklavenwirtschaft, die frühkatholische Kirche mit Cäsarismus und Militarismus, die mittelalterliche Kirche mit Naturalwirtschaft, Lehnsverfassung und Hörigkeit, der Calvinismus mit Kolonialkapitalismus und Demokratie, die lutherische Kirche mit Agrarwirtschaft und absolutistisch-patriarchalischem Obrigkeitsstaat, die moderne Kirche mit Hochkapitalismus, Nationalismus und Militärstaat."10 Diese Grammatik der Zivilisationen war in hohem Maße ein Konstrukt. Dem konsistorial angefragten jungen Theologen diente es als Sprungbrett für die 10 PAUL TILLICH: Christentum und Sozialismus. Bericht an das Konsistorium der Mark Brandenburg. In: DERS.: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen. Hg. von Renate Albrecht. Stuttgart 1972, S. 154-160; hier S. 165.

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Begründung seiner religiös-sozialistischen Option. Das Christentum, argumentierte Tillich dem Konsistorium gegenüber, besitze für "gewisse Formen der Gesellschaftsordnung eine größere Affinität als für andere; die Ethik der Liebe trägt in jeder Gesellschafts- und Wirtschaftsform ein Ferment der Kritik, das um so erregender ist, je mehr sich jene auf Gewalt, Unterdrückung, Eigennutz gründen." Und genau aus diesem Grunde müsse das Christentum "unserer Uberzeugung nach im gegenwärtigen Moment in Opposition treten gegen die kapitalistische und militaristische Gesellschaftsordnung, in der wir stehen, und deren letzte Konsequenzen im Weltkrieg offenbar geworden sind." 1 1 Ich möchte das Kapitel der religiös-sozialistischen Selbstplazierung in Geschichte, Theologie und Politik, das eigentlich ein dickes und farbenprächtiges Buch mit vielen bunten Blättern ist - ein Buch, in dem nicht nur deutsch, sondern auch englisch, französisch, russisch, italienisch geschrieben wird - nicht beiseitelegen, ohne auf zwei seiner gestalterischen Eigentümlichkeiten hingewiesen zu haben. Die eine Eigentümlichkeit heißt, jedenfalls bei einem gewissen Teil seiner Autoren, Schärfe des Gedankens. Die andere Eigentümlichkeit heißt Pathos. Das Pathos ist dem Religiösen Sozialismus in Deutschland durch den religiös-sozialen Erweckungsprediger der Schweiz, Hermann Kutter, eingestiftet worden, und es durchzieht seither alle einschlägigen Texte. "Was für ein Schauspiel wird es sein, wenn nicht nur die Sozialisten aller Schattierungen, nein, wenn die Pfarrer für Recht und Gerechtigkeit gegen Mammon und Schandtat im Namen des Evangeliums auftreten, dessen mächtige Töne den Entscheidungskampf zwischen Wahrheit und Lüge erst wachgerufen haben". So zu lesen in Hermann Kutters "Wir Pfarrer" von 1907 12 . "Muß da nicht alles neu werden? Muß da die vom Sozialismus so energisch postulierte allgemeine Menschheitsverbrüderung nicht ins Dasein treten, wenn Ernst mit dem Evangelium gemacht wird? Groß und erhaben, hinreißend bis in die Tiefen der Seelen erschütternd ist diese Aussicht." Auf das Problem des politischen, des wirtschaftlich-sozialen Sachwissens zur Lösung der Probleme hochindustrialisierter Massengesellschaften reagierte Kutter wiederum mit dem Pathos des Predigers und insgesamt eher abwehrend. "Worum handelt es sich dabei? U m Mehrwert, Lohnaufbesserung, Achtstundentag, gemeinsame Produktion, Abschaffung des Privateigentums, Revolution und Umsturz? Nein. Sondern um Gott, um Gott allein. Hinter den tausend verwirrenden Einzelfragen [...] steht die ungeheuer einfach Kinderfrage: Was dünket dich um Gott?" 1 3 Die Spannung 11

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HERMANN KUTTER: W i r Pfarrer. Leipzig 1907, S. 3f.

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zwischen sozialwissenschaftlicher Kompetenz sowie einer begriffsklaren theologisch-politischen Ethik auf der einen Seite und dem Pathos der Gottesergriffenheit auf der anderen Seite hat den Religiösen Sozialismus in Deutschland tief geprägt. Das macht einen Teil seiner Uneindeutigkeit aus. 2. Zum historischen Erscheinungsbild des Religiösen Sozialismus Auf die Bühne der Zeitgeschichte getreten ist der Religiöse Sozialismus Deutschlands im Jahr 1918/19. Lokale Schwerpunkte sind Karlsruhe und Berlin gewesen. In der Reichshauptstadt schössen im politischen Umbruch vom Kaiserreich zur Republik religiös-sozialistische Gruppen in verwirrender Vielfalt aus dem Boden, sei es die "Soziale Arbeitsgemeinschaft" unter Friedrich Rittelmeyer, sei es die "Vereinigung der Freunde für Religion und Völkerfriede" unter August Bleier, sei es der "Bund sozialistischer Kirchenfreunde" unter Günther Dehn und Bernhard Göring. Am 1. Mai 1919 veranstaltete der "Bund sozialistischer Kirchenfreunde" in der Dorotheenstädtischen Kirche zu Berlin einen Festgottesdienst. Nach einer eigenen Melodie sang die religiös-sozialistische Gemeinde unter Weglassung des Kyrie ein umfangreiches Gloria. Es folgte eine von beflügelnden Kirchenliedern ("Wach auf, du Geist der ersten Zeugen"; "König Jesu, streite, siege") umrahmte Predigt über Offenbarung 21,5 a ("Und der auf dem Stuhl saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu").14 "Wir sind hierher gekommen", redete der Prediger - es war Günther Dehn - die Gottesdienstteilnehmer an, "um den ersten Mai zu feiern, den Weltfeiertag des Proletariats. Unsere Seele ist tief bewegt von der Bedeutung der Stunde. Zum ersten Mal feiert der deutsche Arbeiter seinen Tag ... im vollen, von Staat und Volksvertretung ihm zugebilligten Recht. Und zum anderen, das uns nicht minder bewegt: zum ersten Mal feiern deutsche Sozialisten diesen Tag in einer Kirche ... damit laut vor aller Öffentlichkeit bekundend, daß Sozialismus und Christentum, die sich oft einander befehdet haben, in der Tiefe ihres Wesens doch zueinander gehören und auch in Zukunft zusammen gehören sollen." Im Mittelpunkt von Dehns Predigt stand der "Schrei nach Erlösung", ein anderer Ausdruck für die von Tillich angesprochene Vision der Heilung der Universums: "Erlösung von materieller Not aber ganz gewiß auch von geistiger, Erlösung des Leibes aber ganz gewiß auch der Seele, Erlösung von Lasten, die die Menschheit im Wahn sich selber aufgeladen hat, die sie ver14 Ordnung des Festgottesdienstes am 1. Mai 1919, veranstaltet vom Bund sozialistischer Kirchenfreunde in der Dorotheenstädtischen Kirche zu Berlin (gedrucktes Formular: R. Valand, Berlin NW).

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elenden, zerdrücken, zermalmen, und die sie nun nicht mehr zu tragen vermag." 15 Religiöser Sozialismus steht in der Weimarer Republik für eine Vielzahl von unterschiedlichen Persönlichkeiten und Gruppen - unterschiedlich in ihrem Verständnis von Theologie wie von Politik. Da gab es die "Intellektuellen" wie Tillich und Eduard Heimann, und es gab jene, die ihr christliches Engagement zielstrebig mit gewerkschaftlicher und parteipolitischer Arbeit verbunden haben wie Heinz Kappes, Emil Fuchs, Erwin Eckert. Zwischen den "Intellektuellen" und den "Pragmatikern" bestanden teilweise erhebliche Spannungen. Georg Wünsch, der in der zweiten Auflage der R G G den Artikel "Religiös-sozialistische Bewegung" schrieb, hat selbst noch in der gedrängten Kürze des Lexikonartikels etwas davon spüren lassen: "Die religiösen Sozialisten [...] vertreten keine Intellektuellensache, die zur Gefolgschaft für geistreiche Programme auffordert [...] Die sozialistische Arbeiterschaft gilt als Trägerin der kommenden Sozialgestalt, damit der Forderung Gottes in bezug auf die Gegenwart, als einzige entscheidende vorwärtstreibende Kraft." 16 Zwischen den Polen der "Intellektuellen" und der "Pragmatiker" breitete sich ein vielfarbiges Feld religiös-sozialistisch bewegter Gruppen aus. In der allerersten Anfangsphase war das religiös-sozialistische Anliegen in dem von Georg Wünsch beschriebenen Sinne überlagert von linksliberalen demokratischen Reformideen. Einige der damaligen Aufbruchsgruppen meinten, die Zukunft liege in der Demokratisierung der Kirche und der Gesellschaft. "Bald aber zeigte es sich, daß nicht von der Demokratie, sondern vom Sozialismus die Stoßkraft der Bewegung ausging; die bürgerlichen Elemente schieden von selbst aus, als sie die enge Verbindung mit der proletarischen Arbeiterbewegung merkten." 17 Nach der Lesart von Georg Wünsch, der seit 1927 zunächst als Privatdozent, seit 1931 als Ordinarius für Ethik, Sozialethik und Apologetik in Marburg wirkte, ist die badische Gründung unter Führung des Rechtsanwalts Dr. Dietz und von Pfarrer Rhode ein Ausdruck dieses Wandels gewesen. 1921 bildete sich die "Badische volkskirchliche Vereinigung" zum "Volkskirchenbund evangelischer Sozialisten" um. In diesem Bunde war von den Mitgliedern erwartet (wenn auch nicht befohlen),

15 Predigt, gehalten am 1. Mai 1919 vor dem "Bund sozialistischer Kirchenfreunde" in der Dorotheenstädtischen Kirche zu Berlin von Pfarrer Günther Dehn. 8 Schreibmaschinenblätter (Abschrift). In: EVANGELISCHES ZENTRALARCHIV IN BERLIN, 14/22675).

16 GEORG WÜNSCH: Religiös-Sozialistische Bewegung. In: R G G 2. Aufl., Bd. 4, Sp. 1885-1860; hier: Sp. 1859. 17 EBD., Sp. 1858.

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einer sozialistischen Partei anzugehören - dies bei gleichzeitigem Verbot der Mitgliedschaft in einer bürgerlichen Partei. In einigen religiös-sozialistischen Gruppen lebten die Ideale des AgrarKommunismus, des Syndikalismus und des Anarchismus. Stichworte dafür sind der Habertshof bei Schlüchtern/Hessen und die "Neuwerkbewegung". Seit 1929 gab es in Deutschland zudem eine religiös-sozialistische Bewegung der Katholiken mit Sitz in Köln, geführt von Heinrich Merten und mit dem Organ "Das Rote Blatt der katholischen Sozialisten". Ebenfalls stark katholisch war der Bund in Osterreich unter Führung des Metallarbeiters Otto Bauer. Erwähnenswert ist noch die 1926 von Paul Piechowski gegründete "Bruderschaft sozialistischer Theologen". Die Zahl der Theologen bzw. Pastoren, die dieser Bruderschaft angehörten, wird für das Jahr 1930 auf etwa 160 veranschlagt. Geht man davon aus, daß zwischen der "Bruderschaft sozialistischer Theologen" und dem "Bund religiöser Sozialisten Deutschlands" ein Verhältnis von 3 : 1 bestand, dürften dem Bund nicht mehr als 50 bis 60 Pastoren bei einer Gesamtzahl von etwa 18 000 Pastoren in Deutschland angehört haben. Auch wenn man zwischen dem organisierten Kern und dem Sympathisantenfeld unterscheidet, ist die religiös-sozialistische Bewegung unter den deutschen Pastoren ein Randphänomen geblieben. Was die soziale Struktur der religiös-sozialistischen Bewegung insgesamt angeht, so ist deren Basis durch christliche Arbeiter gebildet worden, ergänzt durch Angestellte, Lehrer, Beamte, Studenten. Der Bund, der sich soziologisch selber stets kontrollierte - nicht zuletzt deshalb, um seine soziale Struktur zu einer Visitenkarte gegen die "bourgeoise Amtskirche" zu machen -, hat für den 5. Bundeskongreß von 1930 in Stuttgart folgende Angaben zu den Teilnehmern überliefert: Arbeiterinnen/Arbeiter Angestellte Lehrer Pfarrer Beamte Studenten Sozialbeamte/freie Berufe

74 35 21 52 6 17 6 18

Eine Schätzung der Gesamtzahl aller jemals zum "Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands" gehörenden Mitglieder ist mühselig. Wahrscheinlich bewegt sie sich zwischen 10 000 und 30 000.

18

SONNTAGSBLATT DES ARBEITENDEN VOLKES Jg. 1928, S. 2 5 9 .

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Sich in dem reichgegliederten Feld des Sozialprotestantismus der Weimarer Republik zu plazieren, war für die religiös-sozialistische Bewegung nicht leicht. Denn keineswegs sind ja die Religiösen Sozialisten allein die Bannerträger sozialer Ideen aus christlich-protestantischem Geist gewesen. Auf der Ebene der zentralkirchlichen Instanzen gab es seit 1922 den "Sozialen Ausschuß" des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses. In den Landeskirchen gab es die nach 1918 verstärkte Institution der Sozialpfarrer. Und es gab auf der Ebene des Vereins- und Verbandsprotestantismus natürlich die Innere Mission als einen mächtigen Arbeitszweig der Kirche und als Teil des Weimarer Sozialstaates. Die sozialen Diskussionspodien, z. B. der "Evangelisch-Soziale Kongreß", und die sozial engagierten protestantischen Parteien ("Christlich-Sozialer Volksdienst" u.a.) sind in dieser Aufzählung noch gar nicht enthalten. Die wohl entscheidende Frage hieß, ob die Stunde der "bürgerlichen Sozialreform" an ihr Ende gekommen und ein neues Paradigma anzuerkennen sei: die Fundamentalkritik des Kapitalismus und die Verschwisterung von Religion und praktischem Sozialismus im Spektrum der politischen Linken. Im Zusammenhang damit sah es der Religiöse Sozialismus als seine Aufgabe an, die Kirche zu einer eindeutigen Stellungnahme zu zwingen. Dabei sind Konflikte unvermeidlich gewesen. Für die Kirchenleitungen stand in der Auseinandersetzung mit ihren religiös-sozialistischen Pastoren freilich nicht die emphatische Suggestion vom welthistorischen Entscheidungskampf auf der Tagesordnung, sondern sehr viel Schlichteres, nämlich das Problem der kirchlichen Disziplinarordnung. Verfehlten oder verletzten religiös-sozialistische Pastoren, die als Redner und Funktionäre einer Partei auftraten, die Würde des geistlichen Amtes? Es dient m. E. der historischen Aufklärung, die Auseinandersetzungen zwischen Kirchenleitungen und religiös-sozialistischen Pastoren am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre nicht sofort zu einem unversöhnlichen Weltanschauungskampf zu stilisieren, sondern sie zunächst einmal disziplinarrechtlich zu sehen. Auch dann ist das hier sichtbare Problem schon gewichtig genug, nämlich die Verteilung der Gewichte zwischen den Anforderungen des geistlichen Amtes und den Rechten und Pflichten des mündigen Staatsbürgers. In welchen Formen dürfen sich Pastoren parteipolitisch betätigen?

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3. Glanz oder Elend des Religiösen Sozialismus? Paul Piechowski, Lizentiat der Theologie, Doktor der Philosophie und Pfarrer in Berlin-Neukölln, stellte seinem Buch "Proletarischer Glaube" von 1927 folgendes Motto voran: "Es krampft und kreißt die Zeit in Leidenswehen, Der Boden bebt, wo starr die Kreuzeszeichen stehen. Der Masse Sehnsucht ringt sich los vom Alten Und will in neuen Formen heilig sich gestalten."19 Die Texte der Religiösen Sozialisten muten oftmals expressionistisch an. Sie sind voll von Metaphern, auch dort noch, wo sie eine wissenschaftliche Gestalt besitzen und das ganze gelehrte Rüstzeug der Theologie und Sozialethik aufbieten. Die Methapher des Lichts spielte eine große Rolle, auch das Wort vom Dornenweg, der zu durchschreiten war, außerdem Begriffe wie Brennpunkt, Entscheidung, Wagnis, Tat, Atem der Geschichte, Schauer des Göttlichen usf. Einige Theologen, die den Ideen des Sozialismus oder der Politik der Sozialdemokratie nahestanden, wie Karl Barth, haben die religiös-sozialistische Bewegung zur Nüchternheit gemahnt. Die Pfade in das Reich Gottes und die Bewegung der Geschichte waren nicht deckungsgleich, und der eine Pfad war nicht die Verlängerung des anderen. Auf der Tambacher Konferenz von 1919 ist dieser theologische Merkposten aufgerichtet worden. Bei einigen Religiösen Sozialisten hat die Einschärfung der Differenz zwischen Gottesreich und Geschichte Wurzeln geschlagen, bei anderen weniger. Letztere dachten immer noch (obschon sie es mitunter gern bestritten) in der Bahn eines linearen Geschichts- und Gottesreichsverständnisses. Für sie lief die Bewegung der Geschichte unaufhaltsam auf die große Menschheitsverbrüderung, auf die klassenlose Gesellschaft und auf das Gottesreich zu. Daß Georg Wünsch sein theologisch-historisches Modell des "gläubigen Realismus" ausarbeitete, in dem der Hauptakzent auf sachlicher Wirklichkeitsbewältigung und der Idee der nicht einholbaren Kontingenz der Geschichte lag, war wohl eine Antwort auf solchen Uberschwang. Auch Erwin Eckerts Solidarisierung mit dem politischen Kampfprogramm der KPD lag vielleicht auf der Linie einer Abkehr von problematischen religiös-politischen Synthesen von Gottesreich und Geschichte. Das kommende 19 PAUL PIECHOWSKI: Proletarischer Glaube in sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen (so der Titel auf Umschlag und Einband). Ausführlicher das Titelblatt: Proletarischer Glaube. Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen. 2. Aufl. Berlin 1927. Das Motto findet sich auf dem Titelblatt.

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Gottesreich in den Kategorien eines historisch-politischen Prozeßgeschehens auszulegen, blieb die große Versuchung des Religiösen Sozialismus. Sie mußte es wohl sein, wenn der Sozialismus als der politische und soziale Baumeister der Welt des Neuen galt. Ein anhaltender Schmerz für die Pastoren der religiös-sozialistischen Bewegung war der militante Atheismus in tonangebenden Schichten der sozialistisch-kommunistischen Bewegung. Sie versuchten, dieses Dilemma auf zweierlei Weise zu bewältigen. Zum einen arbeiteten sie an der Mobilisierung jener Arbeiterkreise, die links wählten und sich trotzdem zum Christentum bekannten. Zum anderen waren sie bestrebt, die historisch gewachsenen Barrieren zwischen Religion, Kirche, Sozialismus, Kommunismus abzubauen. "Tief in den Köpfen und Gemütern der 'Gottlosen' und ihrer Führer (z. B. Lenin, Stalin u.a.) steckt die Überzeugung, daß die Religion [...] der Feind der Befreiung der proletarischen Arbeiterschaft und damit des Volkswohls sei." Die Ursachen für die "kommunistisch-gottlose Haltung" (die ihrerseits zu einer "Religion" geworden sei) lägen in der herrschaftsstabilisierenden Rolle der Kirche in der Vergangenheit sowie in der irrigen Annahme, als angebliches "Jenseits-Phänomen" sei die Religion untauglich für die Mitarbeit an der Veränderung der Welt20. Das forcierte Bemühen mancher Religiöser Sozialisten, die Feindschaft zwischen Kommunismus und Religion selbst dort noch aufzuheben, wo die Flammenzeichen der Christenverfolgung brannten - im stalinistischen Sowjetrußland -, hat ihm um 1930 viele zusätzliche Gegner geschaffen. Eine der am wenigsten bezweifelbaren politisch-theologischen Leistungen des Religiösen Sozialismus, die entschiedene und deutliche Warnung vor dem Nationalsozialismus, ist dabei mit unter die Räder gekommen. Nach langer Ausgrenzung aus dem Diskursspektrum der protestantischen Theologie und Ethik ist dem Religiösen Sozialismus in letzter Zeit die Ehre widerfahren, zu den Erneuerungskräften des Protestantismus im 20. Jahrhundert gezählt zu werden. Der Hamburger Systematiker Hermann Fischer hat ihm neben der Dialektischen Theologie und der Luther-Renaissance dieses Prädikat verliehen21. In der Tat besitzt der im Religiösen Sozialismus verhandelte Zusammenhang von Politik, Geschichte und Gottesreich eine Langzeitwirkung auf den Protestantismus des 20. Jahrhunderts. Allerdings zeigt sich auch, auf welch schmalen und riskanten Grat dieses Thema gestellt 20 KARTÄUSER PFARRBLÄTTER 6. Jg. Nr. 1/2, hg. von Pfr. Fritze (Köln) (Mitte Februar 1932). Reproduktion bei HANS PROLINGHEUER: Der "rote Pfarrer" von Köln. Georg Fritze (1874-1939). Christ, Sozialist, Antifaschist. Wuppertal 1981, S. 227-231. 21 HERMANN FISCHER: Systematische Theologie (Grundkurs Theologie. 6) Stuttgart u.a. 1992, S. 46.

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ist. Überall wetterleuchten die Ideologien. Die Abgründe klaffen dicht neben den Gipfeln. Ernüchternd sind - und auch darauf wird in der letzten Zeit öfters hingewiesen - zwar nicht die politischen, aber manche anderweitigen Verwandtschaften zwischen den Religiösen Sozialisten und den Deutschen Christen. Hier wie dort das gleiche Pathos der Unbedingtheit, hier wie dort die Versuchungen zur Heiligung geschichtlicher Bewegungen, hier wie dort die Verweigerung demokratischen Grundtugenden gegenüber. Die religiös-theologische Überhöhung der eigenen politischen Option ordnete die Religiöse Sozialisten dem für die politische Kultur der Weimarer Republik so ungemein typischen Feld der Gruppen, Bünde und Bewegungen zu, die lediglich innerhalb ihrer eigenen Wert- und Normwelt diskussionsbereit waren und die Andersdenkenden ausgrenzten. Insofern stellt uns der Religiöse Sozialismus vor zwei Fragen: vor die Frage der politischen Rationalität und vor die Frage der Regelung von unterschiedlichen politischen und sozialen Interessen mit den Instrumenten der Demokratie22. 1933 sind die Repräsentanten der religiös-sozialistischen Bewegung unter dem Druck der NS-Herrschaft aus der Öffentlichkeit verschwunden. Teilweise sind sie ins Ausland gedrängt worden, teilweise überdauerten sie in der inneren Emigration. Diese Geschichte ist hier nicht einmal mehr anzudeuten. Abgesehen von den bekannten Einzelbiographien einiger Religiöser Sozialisten ist sie auch noch zu wenig erforscht. Der Religiöse Sozialismus hat eine Neuinterpretation des Symbols "Reich Gottes" versucht. Ob das im Zusammenhang mit jenem Sozialismus gelingen kann, der den Religiösen Sozialisten vor Augen stand, scheint heute äußerst zweifelhaft zu sein. Inwieweit sich ein anders definierter und praktizierter Sozialismus dafür eignet, ist nicht allein eine Frage an Theologie und Kirche, sondern auch an die Politik und das Gemeinwesen. Nach dem Ende der bipolaren Welt fällt die Antwort darauf möglicherweise schwerer als vorher.

22 Zu den theologischen Strukturanalogien bei Religiösen Sozialisten und Deutschen Christen KURT NOWAK: Gottesreich - Geschichte - Politik. Probleme politisch-theologischer Theoriebildung im Protestantismus der Weimarer Republik. Religiöse Sozialisten - Deutsche Christen im kritischen Vergleich. In: PTh 77, 1988, S. 78-97.

Eva-Maria Zehrer ARTHUR DINTERS BEITRAG ZUR DISKUSSION ÜBER DIE FUNKTION DER RELIGION IN EINEM NATIONALSOZIALISTISCHEN STAAT IM JAHRE 1928 I. Bis zum Herbst 1928 besaß die NSDAP kaum reale Aussichten, eine Massenpartei zu werden und ihre Idee von einem nationalsozialistischen Staat zu verwirklichen. Vielleicht ist es etwas übertrieben, wenn behauptet wird, daß Hitler zu dieser Zeit "immer noch ein Sonntagspolitiker" und "außerhalb Süddeutschlands wenig bekannt war"i. Aber in der Öffentlichkeit hat damals nur ein sehr geringes Interesse an der Wirksamkeit der NSDAP bestanden. Gleichzeitig befand sich diese Partei in einer schweren finanziellen Krise. Sie hatte nur noch einen spärlichen Besuch ihrer Versammlungen zu verbuchen und diskutierte die Frage, aus welchen anderen gesellschaftlichen Gruppen als bisher sie neue Mitglieder werben könntet Selbst in Bayern liefen ihr damals viele Getreue davon. In einem Lagebericht der Polizeidirektion München hieß es: "Die von Hitler immer wieder behaupteten Fortschritte der Nationalsozialisten treffen - besonders auch für Bayern - nicht zu. Auf dem Lande und auch in München flauen die Sektionsversammlungen ab." Zusammenkünfte, die 1923 noch von drei- bis viertausend Mitgliedern besucht wurden, bestünden zu jenem Zeitpunkt nur noch aus maximal sechzig bis achtzig Personen3. Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 hatte die NSDAP mindestens mit jenen 211.000 Stimmen gerechnet, die ihr Kandidat Erich Ludendorff bei der Reichspräsidentenwahl im April 1925 erhalten hatte. Tatsächlich aber stimmten 1928 rund 100.000 weniger für sie, "und die Führer der NSDAP, die sich am Abend des 20. Mai im Münchener Parteihauptquartier versammelt hatten, um einen politischen Durchbruch zu feiern", waren in

1 2 3

ALANBULLOCK: Hitler. Düsseldorf 1971, S. 125. JOACHIM C. FEST: Hitler. Frankfurt a.M.; Berlin; Wien 1976, S. 350ff., 356, 361. HAUPTSTAATSARCHIV MÜNCHEN (im folgenden: HStA MÜNCHEN), Geh.StA, MA Pol.Dir. 101235/2 vom 19.1.1928.

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Trübsinn verfallen, "als die Wahlergebnisse, von Boten übermittelt, sich als eine Kette von Hiobsbotschaften" erwiesen4. Angesichts dieser Entwicklungen ist es nicht verwunderlich, daß es damals in der NSDAP auch zu Auseinandersetzungen über die Person Hitlers kam. Es gab einige, die ihn mit einem störrischen Pferd verglichen und meinten, "wir dürfen uns (von ihm) nicht abwerfen lassen, sondern müssen versuchen, es zu zähmen und in die richtige Richtung zu bringen!" Andere meinten, er gliche mehr einem Tiger, der jeden auffrißt, den er abwirft. Doch wollten alle der nationalsozialisten Sache treu bleiben5. Auch außerhalb der NSDAP beobachtete man, daß sich Hitler immer mehr zum Diktator entwickelte 6 . Der thüringische Landtagsabgeordnete und damalige NSDAP-Gauleiter Arthur 7 Dinter stellte angesichts dieser Situation zur Generalmitgliederversammlung der NSDAP am 31. August 1928 den Antrag, dem Parteivorsitzenden einen beratenden Senat an die Seite zu stellen, der aus den fähigsten Köpfen der Partei bestehen und vom Parteivorsitzenden selbst ernannt werden sollte. Dieser Angriff gegen das Führerprinzip stieß sofort auf die entschiedene Ablehnung aller Anwesenden und dürfte für den Ausschluß Dinters aus der NSDAP mitbestimmend gewesen sein. Dinter selbst behauptete jedoch, daß er am 11. Oktober 1928 von der nach dem Zusammenbruch vom 9. November 1923 durch ihn "wiederum mitbegründeten 'Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei'" lediglich wegen seiner Ansichten über "Religion und Nationalsozialismus" ausgeschlossen wurde8. Aus dem von Dinter mit der Bekanntgabe seines Parteiausschlusses veröffentlichten Briefwechsel zwischen ihm und Hitler 9 geht tatsächlich auch lediglich hervor, daß Dinters religiöse Ansichten für den Parteiausschluß maßgeblich waren. Daher stellt sich die Frage, welche religiösen Ansichten Adolf Hitler im Jahre 1928 für so parteischädigend hielt, daß er es ihretwegen auf eine Trennung von einem so treuen, bewährten und von ihm persönlich auch nach wie vor hochgeschätzten Mitkämpfer ankommen ließ.

4

JOHN TOLAND: Adolf Hitler. Bergisch Gladbach 1983, S. 309.

5

EBD., S. 310.

6

HStA MÜNCHEN, Geh.StA, MA Pol.Dir. 101235/2 vom 31.8.1928.

7

So die Schreibweise des Namens laut Gebunsurkunde (ARCHIVES MUNICIPALES DE LA VILLE DEMULHOUSE, n 1254/1876).

8

HStA MÜNCHEN, Geh.StA, MA Pol.Dir. 101235/2 vom 16.10.1928; DAS GEISTCHRISTENTUM. Monatsschrift zur Vollendung der Reformation durch Wiederherstellung der reinen Heilandslehre. Hg.: Arthur Dinter. l.Jg. 1928, S. 353.

9

EBD.

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n. Bei der Abfassung des zweiten Bandes von "Mein Kampf" im Jahre 1927 war Hitler davon ausgegangen, daß die "Welt einer großen Umwälzung entgegen" gehe, und daß es nur noch eine Frage sein könne, ob diese "zum Heil der arischen Menschheit oder zum Nutzen des ewigen Juden aussschlägt"10. Selbstverständlich wollte er ersteres erreichen. Das setzte nach seiner Uberzeugung ein strenges Führerprinzip voraus, den Anti-Parlamentarismus und die religiöse Neutralität. Hitler schrieb deswegen: "Die Bewegung lehnt jede Stellungnahme zu Fragen, die entweder außerhalb des Rahmens ihrer politischen Arbeit liegen, oder für sie als nicht von grundsätzlicher Bedeutung belanglos sind, entschieden ab. Ihre Aufgabe ist nicht die einer religiösen Reformation, sondern die einer politischen Reorganisation unseres Volkes. Sie sieht in beiden religiösen Bekenntnissen gleich wertvolle Stützen für den Bestand unseres Volkes und bekämpft deshalb diejenigen Parteien, die dieses Fundament einer sittlich-religiösen und moralischen Festigung unseres Volkskörpers zum Instrument ihrer Parteiinteressen herabwürdigen wollen." 11 Die Ansicht Hitlers, daß die religiöse Frage für die Zukunft Deutschlands belanglos sei, war 1928 unter den Nationalsozialisten umstritten. So gab es beispielsweise unter ihnen einen Kreis von Personen, der sich zu dem von Houston Steward Chamberlain und Adolf Bartels mitinspirierten "Bund für deutsche Kirche" hielt. Dieser Bund wollte dem herannahenden "Untergang des Abendlandes" nicht allein durch politische Aktivitäten entgegenwirken, sondern auch durch eine "'arteigene Frömmigkeit' in einer interkonfesssionellen Kirche" 12 . Der nordische Mensch habe vor Jahrtausenden von Gottvater den politischen Auftrag erhalten, das Salz der Erde zu werden. Doch wäre er ein "schlechter Amtswalter Gottes gewesen", der die eigene Rasse, wie auch die ganze Welt "entnordet" habe. Ein "Weltvolk", das als "Oberschicht die Erde sich Untertan machen will", müsse jedoch entschieden am Gott-Vater-Glauben festhalten. Tue es dies nicht, versinke es "in fruchtlosem Idealismus" und gehe seelisch, politisch und rassisch zugrunde13. Diese "Deutschkirchler" in der NSDAP und Parteimitglieder aus anderen Strömungen, die mit ihnen sympathisierten, wollten ihre Ideen 10

ADOLF HITLER: Mein Kampf. München 1939 (429.-433. Aufl.), S. 475.

11 EBD., S. 379. 12

Vgl.

KURT MEIER: Der

evangelische

Kirchenkampf.

Bd.

1:

Der Kampf

um

die

"Reichskirche". Halle/S. und Göttingen 1976, S. 71; ebenso KURT NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Weimar und Göttingen 1981, S. 247. 13

GEORG TRAUE: Arische Gottzertrümmerung. Braunschweig 1933 (4.Aufl.), S. 102.

Arthur Dinters Beitrag zur Diskussion über die Religion

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innerhalb der evangelischen Landeskirchen realisieren, indem sie diese "mit deutschem Geist" erfüllten und das Fremde aus ihnen ausschieden, "insbesondere das Jüdische", und in Verbindung damit "selbstverständlich" auch das Alte Testament. Außerdem sollten die Lebensbeschreibungen, Leistungen und Aussprüche "großer deutscher Männer und Geister" zur Bil-dung der Weltanschauung und Gottanschauung herangezogen werden, und selbstverständlich auch die in Mythen und Märchen enthaltenen religiösen und weltanschaulichen Werte der deutschen Wesensart14. Auch Arthur Dinter wollte an einer Symbiose von Politik und Religion festhalten. Doch erschien es ihm illusorisch, dies mit Hilfe eines der bestehenden Kirchentümer zu versuchen. Vielmehr trat er für die Gründung eines neuen Kirchentums ein, das er "Geistchristliche Religionsgemeinschaft" oder auch "Deutsche Volkskirche" nannte. Erst wenn die Deutschen "Blut, Volk und Vaterland herleiten aus ihrem überirdischen, rein geistigen Ursprung", erst wenn sie "den Dienst an Volk und Vaterland bis zur Selbstaufopferung und Hingabe" ihres Lebens "als ihre Religion, als ihre irdische Ewigkeitsaufgabe" erkennen würden, erst dann schlügen die Wurzeln ihres "völkischen Werdens und Wachsens in die Tiefe, weil erst dann (ihr) Fühlen, Denken und Wollen eine einheitliche Richtung auf dem unerschütterlichen Urgrund allen Lebens, allen Seins und Werdens, auf Gott erhält" 15 . Die mit den "Deutschkirchentum" sympathisierenden nationalsozialistischen Kreise gaben 1928 zu, daß es problematisch sein könne, die christlichen Kirchen zu Vehikeln ihrer Ansichten zu machen. Es sei tatsächlich so, meinte beispielsweise Graf Ernst zu Reventlow, daß der Einfluß der Kirchen auf das Volk zunehmend geringer werde, während die marxistischen Parteien kommunistischer wie sozialdemokratischer Prägung mit ihrem atheistischen Ansatz ständig an Einfluß gewönnen. Es stimme auch, daß es seit 1919 zu einer bedenklichen Annäherung der christlichen Kirchen beider Konfessionen an das Judentum gekommen sei. Um die eigene Existenz zu sichern, verbänden sich hier Todfeinde. Der Geist, der sich die Kirchen als Körper erbaut habe, "der religiöse Geist, ist im Entweichen oder entwichen". Es stimme auch, daß die Lehren und die Dogmen der Kirchen nicht das seien, was Jesus gelehrt und gelebt habe. "Viele sehen, daß etwas Wichtiges und Lebensnotwendiges den Deutschen fehlt, daß es (ihnen) an Religion fehlt." In Anspielung auf Arthur Dinter (und wohl auch auf Frau Ludendorff) fügt Reventlow dann aber hinzu: "Wenn in unseren Tagen gebildete Autoren und Autorinnen ernsthaft behaupten, über das göttliche Wesen, die 14

ERNST GRAF ZU REVENTLOW: Für Christen, Nichtchristen, Antichristen. Die Gottfrage der Deutschen. Berlin 1928, S. l l f .

15 So ARTHUR DINTER: Die deutsche Volkskirche als Staatsnotwendigkeit. Leipzig 1933, S. 3.

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menschliche Seele usw. genau unterrichtet zu sein, und vollends darauf eine Religion bauen wollen, so liegt allein darin schon ein Innenzustand, der Religion und religiöses Empfinden ausschließt, und ein geistiger Gesamtzustand, der nur vom Psychiater eingehend gewürdigt werden kann." 16 Auf Reventlows Angriffe reagierte Dinter entsprechend. Er nannte ihn einen "unschöpferischen, lediglich reproduzierenden feuilletonistischen Geist" und einen Mann des "ewigen Fragezeichens", dessen Schriften nicht nur der christlichen Religion abträglich seien, sondern auch den völkischen Kampf untergrüben. Mit den Juden, Jesuiten und Freimaurern halte er Weltanschauung und Religion für Begriffe, die nichts miteinander zu tun hätten, während sie aber im völkischen Sinne ein und dasselbe seien. Das Ziel der völkischen Bewegung sei es, die Einheit von Politik, Religion und Rasse herzustellen. Dies sei die Voraussetzung für die Errichtung eines völkischen Großdeutschland 17 . m. Wer war der Mann, der ein neues Kirchentum bilden wollte, eine "Deutsche Volkskirche", weil er meinte, daß die beiden "judenchristlichen Priestermachtkirchen" - das protestantische und das römisch-katholische Kirchentum Deutschlands - dem Totalitätsanspruch niemals entsprechen würden, der für die Religion eines "künftigen nationalsozialistischen Volksstaates" unverzichtbar sei? Arthur Dinter, bis 1928 einer der engeren Vertrauten Hitlers, wurde am 27. Juni 1878 im elsässischen Mulhouse als Sohn eines preußischen Zollbeamten geboren 18 . Beide Eltern stammten aus Schlesien. Zusammen mit seinen vier Geschwistern wurde er durch seinen Vater Joseph Dinter sehr stark national beeinflußt, oft sogar nationalistisch, während es seiner Mutter Berta 19 vor allem um die religiöse Beinflussung ihrer Kinder ging. Sie scheute keine Mühe, ihre zwei Söhne und drei Töchter im christlichen Glauben römisch-katholischer Prägung zu unterweisen 20 . Die beiden großen Themen, die Arthur Dinter später bewegen sollten, der Nationalismus und die Religion, spielten also bereits im Elternhaus eine große Rolle. Er brauchte sie später nur aufzugreifen und weiterentwickeln.

16

E. GRAF ZUREVENTLOW, Christen (ANM. 14), S. 257ff., 263ff., 281, 286, 298, 308.

17

GEISTCHRISTENTUM 1, 1928, S. 212, 246, 287.

18

Fichier domiciliare du livre d'adresses (ARCHIVES MUNICIPALES DE LA VILLE DE MULHOUSE) .

19

geb. H o f f m a n n (EBD.).

20

DIE RELIGIOSE REVOLUTION. Kampfblatt der Deutschen Volkskirche e.V. Hg.: Arthur Din-

ter. 3. Jg. 1936, S. If.

Arthur Dimers Beitrag zur Diskussion über die Religion

117

Nachdem Arthur Dinter 1894 seine Schulzeit mit der Reifeprüfung beendet und einen etwa einjährigen Militärdienst bei einem elsässischen Infanterieregiment absolviert hatte, mußte er sich über seinen beruflichen Werdegang Klarheit verschaffen. Nach seinen eigenen Worten fühlte er sich damals "von allem Praktischen Wirklichen" sehr stark angezogen21. Er war offensichtlich der Faszination des technisch Neuen ebenso erlegen wie der Herausforderung, es zu beherrschen. Doch spielte auch der Reiz eine große Rolle, für die Beherrschung der Technik bewundert zu werden. Sein besonderes Interesse galt dem Lokomotivbau, den es damals erst reichlich fünfzig Jahre gab, und in dem gerade bahnbrechende Entwicklungen hinsichtlich der Geschwindigkeit und Sicherheit erfolgten22. Dinter stellte dann aber doch das technische Interesse zurück, um seinem "großen Hang zur Naturwissenschaft" nachzugeben23. Die Suche nach der Lebenserfüllung war bei ihm damit aber keineswegs abgeschlossen, sondern drängte sich immer wieder neu hervor. Sie riß den Zweifelnden hin und her, führte ihn existenziell über Höhen und durch Tiefen und kam erst etwa zwanzig Jahre später zum Ziel, als Dinter endlich seine "Berufung" gefunden zu haben glaubte. Von 1895 an studierte er in München Naturwissenschaften24 und ein technisches Ingenieursfach. Gleichzeitig besuchte er Vorlesungen der philosophischen Fakultät. Ein Kaiser-Wilhelm-Stipendium ermöglichte ihm den Wechsel nach Straßburg, wo er bis 1903 studierte und später als Vorlesungsassistent tätig war 25 . Das Stipendium verdankte er der Fürsprache der Fürstin Hohenlohe-Schillingsfürst, der Gattin des damaligen Reichsstatthalters von Elsaß-Lothringen. Sie hatte Dinters Erstlingswerk "Jugenddrängen" gelesen, einen Roman im Tagebuchstil aus dem Jahr 1895 mit zahlreichen autobiographischen Angaben. Besonders bewegt war sie von den heftigen "metaphysischen Zweifeln" des sich überall unverstanden fühlenden Verfassers, von seinem Drang nach Erkenntnis und seinem Streben nach einem echten Halt im Leben 26 . Nach dem Abschlußexamen und der Doktorprüfung, der eine 60-seitige Arbeit über die "Ablagerung von Ammoniak an die Muconsäure ... " 21

ARTHUR DINTER: Die Sünde wider den Geist. Leipzig 1921, S. 236.

22

ARTHUR DINTER: Jugenddrängen. Leipzig und Hartenstein 1919 (3. Aufl.).

23

GEISTCHRISTENTUM 1, 1928, S. 238.

24

GÜNTER HÄRTUNG: Arthur Dinter. Der Erfolgsautor des frühen deutschen Faschismus. In: Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. Hg.: Günter Härtung. HalleWittenberg 1988, S. 58.

25

Die Sünde wider den Geist (Anm. 21), S. 236; ARCHIV DEPARTEMENTAL DU BAS-RHIN A STRASBOURG, A L 103, 3.

26 Jugenddrängen (Anm. 22).

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zugrunde lag, legte Dinter noch ein mühsam erworbenes Examen als Lehrer ab. 27 Dann übernahm er eine Lehramtsstelle in Straßburg, und kurze Zeit später - auch wieder nur für wenige Monate - eine solche in Konstantinopel 28 . Uberraschend schied Dinter bereits im Jahre 1904 aus dem Schuldienst aus und übernahm nach eigenen Angaben die Leitung des elsässischen Theaters in Thann 29 , an dem wenig später sein erstes Bühnenstück uraufgeführt wurde: die elsässische Dialektkomödie "Die Schmuggler". Dieses Stück wurde durch verschiedene kleinere Theater aufgeführt, was bei Dinters späteren "Dichtungen", wie z.B. "Der Dämon" oder "Die schöne Erzieherin" nicht mehr der Fall war 30 . Nach einer kurzen Anstellung im Bereich der Intendanz des Rostocker Stadttheaters ging Dinter 1907 an das Berlin-Charlottenburger Schillertheater. In Berlin gründete er 1908 in Verbindung mit Heinrich Lilienfein und Max Dreyer einen "Theaterverlag des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller", dessen Leitung er übernahm31. Spätestens von diesem Zeitpunkt an bemühte sich Dinter, völkischnationalistisches Gedankengut zu propagieren. Statt Shaw, Strindberg oder Wedekind wollte er Stücke von Eckart, Lienhard und König auf die Bühne bringen32; auf diese Weise gedachte er das Theater zur "moralischen Anstalt" für das deutsche Volk zu erheben. Aber er sah sich von seinen Kollegen und dem Publikum in diesem Anliegen unverstanden und sabotiert33. Auch der Versuch, dieses Vorhaben mit eigenen Stücken zu verwirklichen, wie etwa mit seiner stark nationalistischen und franzosen-feindlichen Tragödie "Das Eiserne Kreuz", mißlang34. Derartige Fehlschläge führten Dinter von einer inneren Krise zur anderen. Hinzu kam seine erfolglose Suche nach einer Frau, mit der er sein Leben und sein Streben nach Höherem und Göttlichem teilen konnte; 1913 mußte er zum dritten Male die Hoffnung auf eine Heirat aufgeben, nachdem ihm der Schriftstellerkollege Hermann Sudermann die Hand seiner jüngeren Tochter Hede verwehrte35. Dinter hat unter solchen Enttäuschungen schwer 27 Die Sünde wider den Geist (Anm. 21), S. 236. 28

ARCHIVES MUNICIPALES DE STRASBOURG, f o n d s H o f f m a n n .

29 A.L. DEGENER (Hg.): Wer ist's? 10. Ausgabe. Berlin 1935, S. 303. 30

GEISTCHRISTENTUM 1 , 1 9 2 8 , S. 239FF.

31 32 33 34 35

EBD., S. 240. ARTHUR DINTER: Weltkrieg und Schaubühne. München 1916. EBD., S. 25. 1912 zum 100jährigen Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig geschrieben. Vgl. den Briefwechsel zwischen Dinter und Sudermann im Februar 1913 (DEUTSCHES LLTERATURARCHIV MARBACH, Cotta, N L Sudermann XV 125).

Arthur Dinters Beitrag zur Diskussion über die Religion

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gelitten, und es scheint so, als habe er nach diesen Erfahrungen seine politischen und ideologischen Ansichten immer extremer und schärfer verfolgt. Im Jahre 1914 wurde Dinter erstmals öffentlich auffällig. Bei dem von Max Reinhardt inszenierten pantomimischen Stück "Das Mirakel" im Berliner Zirkus Busch erhob er sich und rief laut in die nach Tausenden zählende Menge von Akteuren und Zuschauern, daß er sich als "deutscher Christ" von der Wiedergabe des Stoffes36 und durch den Mißbrauch der christlichen Religion für "jüdische Geschäftszwecke"37 angewidert fühle. Dieser Protest kostete ihn seinen Direktorenposten im Theaterverlag und wenig später auch die Mitgliedschaft im Bühnenschriftstellerverband38. Weit wichtiger aber ist, daß Dinter von diesem Tag an einen offenen Kampf gegen diejenigen führte, die er für den nach seiner Uberzeugung ungesunden Zustand der deutschen Nation verantwortlich machte: die Juden. Ein erster Höhepunkt dieser antisemitischen Bestrebungen war die Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Romantrilogie "Die Sünden des Volkes" unter dem Titel "Die Sünde wider das Blut" im Jahre 1918, der allein bis 1921 in 15 Auflagen erschien und der auch danach in über 100.000 Exemplaren wieder aufgelegt wurde39. In ihm werden die Juden als "menschenunähnliche Wesen" beschrieben, die atavistisch einerseits aufs Tierreich zurückgeworfen wurden, nämlich auf die Affen, und andererseits auf das Negertum: "Nach neuesten Forschungen stammen sie aus Afrika". Sie seien für die gesamte Kulturwelt eine große Gefahr, da es "ein bedeutungsvolles und in der Tierwelt ganz bekanntes Rassengesetz" gebe, daß "ein edelrassiges Weibchen zur edlen Nachzucht für immer untauglich wird, wenn es nur ein einziges Mal von einem einer minderwertigen Rasse angehörigen Männchen befruchtet wird" 40 . Dinters antisemitisches Engagement führte ihn in den Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutz-Bund, in dessen Beirat er gewählt wurde. Gelegentlich eines antisemitischen Vortrages für diesen Bund im April 1923 in München lernte er Adolf Hitler kennen, von dessen Auftreten und Ausstrahlung er sofort tief beeindruckt war und dem er sich - wie er 1935 erklärte - "bedingungslos zur Verfügung stellte" 41 . Am "Marsch zur Feldherrnhalle" am 9. November 1923 in München konnte Dinter nicht teilnehmen, weil er sich zu der Zeit mit seiner im 36

GEISTCHRISTENTUM 1, 1928, S. 238.

37

EBD.

38

ARTHUR DINTER: Mein Ausschluß aus dem Verband Deutscher Bühnenschriftsteller. München 1916.

39

GEISTCHRISTENTUM 1,1928, S. 128; 3,1930, S. 36.

40

ARTHUR DINTER: Die Sünde wider das Blut. Leipzig 1929 (246. - 50.Tsd.), S. 263, 305.

41

ARTHUR DINTER: Die religiöse Revolution. 1935, S. 4.

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Eva Maria Zehrer

Wachstum befindlichen Familie 42 auf einem Gut in Pommern aufhielt. Es dürfte sich dabei um das "Gut Damen" der Familie von Kleist-Retzow gehandelt haben, auf dem er schon drei Jahre früher einige Monate verbracht hatte. Damals hatte er dort nicht nur seine Erfahrungen mit spiritistischen Praktiken vertieft, sondern auch eine Schrift abgefaßt mit dem Titel "Der Kampf um die Geistlehre". In dieser Schrift und im zweiten Band seiner Romantrilogie "Die Sünde wider den Geist" schrieb er erstmals nieder, was er fortan "Geistlehre" nannte und was die Grundlage seiner Religion werden sollte: Gedanken über ein gnostisch-spiritistisches System, das mit der Bibel und dem herkömmlichen Christentum kaum etwas gemein hatte und das beides auch weitgehendst ablehnte 43 . Hatte er in diesen Schriften bereits betont, daß eine antisemitischdeutschnationalistische Politik und Kultur nur erfolgreich sein könne, wenn sie eine sittlich-religiöse Vertiefung erfahre, so bemühte Dinter sich bei einem Pommern-Aufenthalt im Sommer 1923, der nationalen Bewegung die Religion zu geben, die dies leisten konnte: seine Geistlehre. Als er die Ideen und Grundlagen für diese "Religion" abfaßte, standen ihm nach seinen eigenen Angaben weder seine Bibliothek noch die Quellen zur Verfügung, die er eigentlich für diese Arbeiten benötigte. Er erklärte auch freimütig, daß er "außer von Latein und Griechisch von alten Sprachen nichts verstehe" und außerdem kein gelehrter Theologe sei. Er sei lediglich "ein einfacher, gottsuchender Christ", der sich nicht auf Fachwissen, sondern nur auf "sein religiöses Empfinden" verlassen könne. Doch war er der festen Uberzeugung, daß die gelehrten Fachtheologen "mit fortschreitender Erkenntnis einst" seine Auffassungen bestätigen würden. Es wurde bereits erwähnt, das solche "Kampfgefährten" wie Reventlow und Bartels Dinters "Theologie" einschließlich seiner "Ekklesiologie" für ein Konglomerat aus theologisch verbrämten Ansichten, populärwissenschaftlichen Halbwahrheiten und nationalistisch gefärbten Behauptungen hielten und sie ablehnten. Dinter jedoch ließ sich davon nicht abbringen und gründete 1928 unabhängig von der N S D A P eine Kirche, seine "Deutsche Volkskirche", die stets nur ein sektenhaftes Winkeldasein führte, mancherorts allerdings bis weit über seinen Tod im Jahre 1948 hinaus.

42 Dinter hat 1921 in zweiter Ehe die um 15 Jahre jüngere Elisabeth Moeller aus Gotha geheiratet. 43 Die Sünde wider den Geist (Anm. 21), S. 235f.

Arthur Dinters Beitrag zur Diskussion über die Religion

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IV. Für die potentiellen Anhänger der von Dinter bereits zu Beginn der zwanziger Jahre geplanten "Geistkirche" veröffentliche er schon 1923 "Das Evangelium unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus nach den Berichten des Johannes, Markus, Lukas und Matthäus, im Geiste der Wahrheit neu übersetzt und dargestellt". Im Geleitwort zu diesem Buch schrieb Dinter: "Dem Deutschen Volke widme ich dieses Buch in der Gewißheit, daß nur die reine, unverfälschte Lehre des Heilandes uns wahrhaft völkisch erneuern und uns die Einigkeit und Kraft geben kann, die deutsche Ehre, Macht und Größe wiederherzustellen." Er habe daher die Berichte der Evangelien aus den griechischen Urkunden nicht nur neu übersetzt, sondern "außerdem von allen Zutaten und Fälschungen befreit und in geordneten Zusammenhang gebracht" 44 . Das Buch, das die alleingültige Heilige Schrift für die Anhänger der neuen Kirche sein sollte, weist eine Reihe von beachtenswerten Besonderheiten auf. So wird darin z.B. das griechische Wort "logos" durchweg mit "Liebe" wiedergegeben. Die Versuchungsgeschichte ist umgestellt; die Versuchung zur Macht steht nur an dritter Stelle, ist also die höchste in der Klimax. Zu Nikodemus soll Jesus lediglich gesagt haben, wenn einer nicht aus Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen. Das Wort "Wasser" und der darin enthaltene Hinweis auf die Taufe fehlen. Zur Sünderin in Lk 7, 36ff. läßt Dinter den "Heiland" sagen: "Dein Vertrauen hat dich erlöst!" Hier klingt seine spätere Lehre von der Selbsterlösung des Menschen an. Auch die Dintersche Bergpredigtmischung wirkt absurd; und seine Uberschrift über "Joh 8, 30-59" (Dinter hatte nebendem eigenen Kanon auch seine eigene Verseinteilung) ist blasphemisch: "Jesus entlarvt den Judengott als den Teufel". 4 5 In Dinters "Erläuterungen" im Anhang zum "Evangelium" heißt es, daß der "jüdisch-paulinische Dogmatismus ... die Heilandslehre von Grund aus verfälscht" habe und daß er deswegen" mit Stumpf und Stiel ausgerottet und hinweggefegt werden muß". Der "Jude Paulus" habe den Grund "zu dieser geistigen Verlogenheit der Kirche" gelegt. Er sei in Wahrheit der "Antichrist" gewesen, der "reißende Wolf im Schafskleid, der erste jener falschen Propheten, vor denen der Heiland seine Jünger gewarnt hatte." Von ihm stamme auch nicht das "wunderherrliche" 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes, denn "solch reiner und erhabener Gedanken ist der schwatzhafte

44

l.Aufl. Langensalza 1923.

45

EBD., S. 1-212.

122

Eva Maria Zehrer

Verfasser des 12. und 14. Kapitels überhaupt nicht fähig." Paulus und dessen Schriften seien deshalb völlig abzulehnen46. Den "Vollblutjuden" Matthäus (Levi) bezeichnete Dinter als "das Gegenstück zu dem jüdischen Schurken Judas". Alle übrigen Jünger Jesu waren für ihn, "wie Jesus selber", nicht Rassejuden, sondern Galiläer. "Jesus ist unter den Juden, jedoch nicht selber als Jude geboren worden." 47 Dinter hielt es für möglich, daß die arische Menschheit einen Juden "als einen verlorenen und wiedergefundenen Geistbruder" der eigenen Rasse ansähe. Voraussetzung dafür sei jedoch, daß ein solcher Jude ein "bescheidenes und zurückhaltendes Leben führt" und sich "in Erkenntnis seiner Rassenschuld" der arischen Menschheit nicht aufdrängt. Aber selbst solchen Juden dürfe kein Einfluß auf das völkische Dasein eingeräumt werden. Es gehöre zu den "heiligen völkischen Pflichten" eines Ariers, sich vor jeder Rassenmischung mit Juden zu bewahren. "Mischlingsleiber" könnten nämlich auch wieder nur "niederen Geistern" eine Wohnstätte bieten. Dinter berichtete, daß er selbst einen "geläuterten" Juden gekannt habe und mit ihm bis zu dessen Tod freundschafltich verbunden gewesen sei. Jedoch trete er trotzdem dafür ein, daß Deutsche, die eine jüdische Heirat eingingen, oder eine Deutsche, die "sich einem Juden oder Neger hingibt", wegen Schändung der "heiligen arischen Rasse" mit Zuchthaus oder dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit bestraft werden sollten 48 . Der "Judengott Jahwe" war für Dinter "nichts anderes als der unter der Maske eines Gottes auftretende Fürst der Welt", ja "der Teufel selber". Die Juden als "vom wahren Gott Abgefallene" und durch ihren Hochmut und ihre Eigensucht tief gefallene Geister seien dessen Lieblinge49. Im Jahre 1926 ergänzte Dinter die Erläuterungen seines "Evangeliums" durch " 197 Thesen zur Vollendung der Reformation. Die Wiederherstellung der reinen Heilandslehre". Mit ihrer Hilfe wollte er noch intensiver als zuvor die paulinische Theologie "samt den in ihr wurzelnden Zwangsglaubenssätzen ... aus der christlichen Religion" ausmerzen50. In diesen Thesen ging Dinter davon aus, daß es eine "arische Urreligion" gebe, die sich nicht aus einer tieferen Stufe zu einer höheren fortentwickelte, sondern von Anbeginn des Menschengeshlechtes rein und hochstehend vor-

46 47 48 49 50

EBD., S. 239-241. Ebd., S. 269. EBD., S. 270-273. EBD., S. 323. l.Aufl. Leipzig 1926, S. 8.

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handen gewesen sei51. Der "Heiland" habe auch keine neue Religion gebracht, sondern nur die "arische Urreligion" erneuert, die dem arischen Urvolk als Uroffenbarungswissen mit auf die Welt gegeben worden sei und die es durch Rassenentartung im Laufe der Jahrtausende verloren habe 52 . Diese Religion sei ursprünglich monotheistisch. Den angeblichen Polytheismus gebe es nur scheinbar, denn dessen sog. "Götter" seien Geschöpfe bzw. "Gottessöhne des Allvaters" gewesen, des "All-einen höchsten Weltengottes". Selbständige und vermenschlichte Gottheiten seien sie erst auf niedrigeren Stufen der arischen Urreligion geworden 53 . Die jüdische Religion des Alten Testamentes war für Dinter eine noch niedrigere Entartung der Urreligion, als es beispielsweise die Religionen der Assyrer, Babylonier und Ägypter waren. Immer wieder betonte Dinter in den "197 Thesen", daß der Judengott Jahwe die Personifikation des Bösen sei, der "Teufel selber". Seine sogenannten Erscheinungen seien ein großer "Theaterbluff" gewesen, auf den die Menschheit hereingefallen sei, bis auf den heutigen Tag. Auch die Sittengesetze der Zehn Gebote seien lange vor ihrer angeblichen Offenbarung auf dem Sinai bei den alten Kulturvölkern in Rechtsgeltung gewesen54. In den Geboten vom Sinai habe der Judengott einerseits die bei den Kulturvölkern längst geltenden Sittengesetze nachgeahmt und andererseits seinen Schützlingen Anweisung gegeben, diese zu übertreten. So würde er zum Beispiel gebieten: "Du sollst nicht ehebrechen", aber gleichzeitig Abraham und Isaak beschützen, wenn diese versuchten, "ihre Weiber zu verkuppeln". Auch habe er geboten: "Du sollst nicht stehlen", aber gleichzeitig die Juden geheißen, den Ägyptern die Gold- und Silberschätze wegzunehmen. Angstlich sei der Jahwe des Alten Testamentes darum bemüht, daß ihm die Maske nicht vom Gesicht gerissen und seine wahre Teufelsnatur nicht erkannt werde. Daher habe er das eines wahren Gottes unwürdige und eifersüchtige Gebot gegeben: "Du sollist keine anderen Götter neben mir haben". Seine Götzeneifersucht ginge soweit, daß er jedem Strafe androhe, der seinen Namen falsch ausspreche. Nur ganz unbegreifliche Verranntheit und dogmatische Verbohrtheit könne sich einreden, daß der Judengott der gleiche Gott sei, den Christus uns gelehrt habe 55 . Der "Heiland" war für Dinter nicht der Erfüller, sondern der erbarmungslose "Zertrümmerer des Alten Testamentes". Die Lehre und die

51 52 53 54 55

EBD., S. 20. EBD., S. 148. EBD., S. 20f. EBD., S. 19-24. EBD., S. 22-24.

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Weltanschauung, die er gepredigt habe, fand sich nach Dinter "in geradezu überwältigender Kraft und Klarheit" im Johannes-Evangelium. Reiner und treuer sei die Heilandslehre nirgends bezeugt worden als dort. Deswegen sei nicht nur das Alte Testament, sondern auch die gesamte neutestamentliche Literatur außer den Evangelien zu verwerfen, und die Berichte der Synoptiker seien am Johannes-Evangelium zu messen. "Im Gegensatz zum lockeren Gemenge der synoptischen Evangelien" sei dieses "so einheitlich, so ganz aus einem einzigen, kristallklaren Gusse", daß " alle Versuche, auch dieses UrEvangelium ... umzufälschen", vergeblich geblieben seien 56 . Nicht einmal Martin Luther sei es gelungen, die Verfälschung des reinen Evangeliums durch den Juden Paulus zu korrigieren. Er habe das Übel nicht mit der Wurzel entfernt, und deswegen sei es die völkische Aufgabe der Gegenwart, Luthers Werk zu vollenden 57 . Bliebe die völkische Bewegung in den Niederungen des nur politischen Kampfes stecken, werde sie gewiß wieder versanden. Sie werde und könne nur siegen, wenn sie die Axt an die geistige Wurzel des Judentums lege, das heiße, an das Judentum in der christlichen Kirche 58 . Die Verteter der "reinen Heilandslehre" würden sich zu einem "allmächtigen, allweisen, alliebenden Vater aller Menschen" bekennen. Sie glaubten, daß dieser Gott die Menschen als "willensfreie Wesen erschaffen hat", und seien der Uberzeugung, daß die Menschen durch den Mißbrauch ihres freien Willens Sünder geworden seien. Alles Leid sei nichts anderes als die gesetzmäßige Folge dieser Sünden. Aber jeder Mensch erhalte die Kraft und Hilfe von Gott, sich von der Sünde und deren Folgen selber zu erlösen, falls er dies möchte. Denn "der Heiland Jesus Christus (ist) von Gott auf die Erde gesandt worden, um den Menschen den Weg zur Selbsterlösung von der Sünde zu zeigen" 59 . Einem völkisch-sozialen (d.h. nationalsozialistischen) Staat sei die Aufgabe zugewiesen, "dies am Gottesreich auf Erden nach Möglichkeit zu verwirklichen". Deswegen habe er die Ausbreitung der "reinen Heilandslehre" zu fördern, ohne die Volksgenossen unter sie zu zwingen. Der nationalsozialistische Staat müsse aber dafür sorgen, daß Religionen, die sich überlebt hätten, nicht durch die Gewährung von Staatsmitteln künstlich am Leben blieben, und zum anderen, daß solchen Kirchen die Daseinsberechtigung abgesprochen werde, die sich wirtschaftlich nicht selbst erhielten.

56 EBD., S. 34-36. 57 EBD., S. 36f. 58

EBD., S. 38.

59

EBD., S.

218f.

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Außerdem müsse er alle Religionsgesellschaften verbieten und auflösen, deren Lehren den Staatsgesetzen zuwiderliefen 60 . Am Ende von Dinters "Thesen zur Vollendung der Reformation (durch) die Wiederherstellung der reinen Heilandslehre" heißt es: "Die Bekenner der reinen Heilandslehre schließen sich zunächst zu einer Religionsgemeinschaft zusammen. Sobald diese durch die ganz natürliche Ausbreitung ihrer sieghaften Idee die Mehrheit der Volksgenossen für sich gewonnen hat, wird sie durch Volksentscheid zur Deutschen Volkskirche erhoben, unter gleichzeitiger Aufrichtung des völkisch-sozialen Staates. Von diesem Augenblick an wird das Staatsoberhaupt nur noch aus dem Kreise ihrer Bekenner gewählt." 61 Nicht irgendeine Religion, sondern allein die von Dinter konzipierte, vertretene und praktizierte, das "Geistchristentum", sollte die tragfähige "Philosophie" eines nationalsozialistischen Staates sein. So jedenfalls hatte es sich Arthur Dinter vorgestellt. In der NSDAP konnten sich 1928 aber jene Kräfte durchsetzen, die den "Bund für deutsche Kirche" als Vehikel für ihre religiösen Ansichten benutzten; eine Gruppierung, die von 1932 an auch in den Reihen der "Deutschen Christen" Einfluß gewann 62 .

60 EBD., S. 220. 61 EBD., S. 222. 62 K. NOWAK, Kirche (Anm. 12), S. 249.

Inge Mager AUGUST MARAHRENS (1875-1950), DER ERSTE HANNOVERSCHE BISCHOFi I. Am 28. Juni 1925 wurde der neunundvierzigjährige Generalsuperintendent des Sprengeis Stade, August Marahrens, als erster Bischof der hannoverschen Landeskirche im Rahmen eines Festgottesdienstes in der Marktkirche von Hannover in sein Amt eingeführt2. Nachdem Ende November 1918 Kaiser Wilhelm II. als oberster Bischof auch der preußischen Provinzialkirchen zurückgetreten war und das jahrhundertelange landesherrliche Kirchenregiment sein natürliches Ende gefunden hatte, wurden überall in Deutschland neue Kirchenverfassungen ausgearbeitet und kircheneigene Leitungsorgane geschaffen. Nach der hannoverschen Neuordnung von 19223 stand der Landesbischof zwar an der Spitze der aus Landeskirchentag, Landeskirchenausschuß, Landeskirchenamt und Kirchensenat bestehenden Kirchenleitung, doch hatte er außer dem Vorsitz im Kirchensenat, dem Nachfolgeorgan des Landesherrn, welches Gesetzesvorlagen vorbereiten, nach der Genehmigung durch den synodalen Kirchentag veröffentlichen und schließlich die leitenden Kirchenbeamten ernennen mußte, nur die geistliche Führung der Landeskirche anvertraut bekommen, d.h. er besaß das Predigtrecht auf allen Kanzeln, er 1

Als Gemeindevortrag konzipiert und im Raum der hannoverschen Landeskirche zweimal gehalten (am 22.4.1990 in Göttingen; am 17.9.1992 in Gifhorn), für den Druck gekürzt und überarbeitet.

2

Die bisher einschlägige Literatur über Marahrens sei vorweggenannt: WALTER KÖDDERITZ (Hg.): D. Augjist Marahrens. Pastor Pastorum zwischen zwei Weltkriegen. Hannover 1952; EBERHARD KLÜGEL: Die Lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof. 2 Bde. Berlin/Hamburg 1964/1965; GERHARD BESIER: "Selbstreinigung" unter britischer Besatzungsherrschaft. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Landesbischof Marahrens 1945-1947 (SKGNS. 27). Göttingen 1986; ERWIN WILKENS: Der Fall Marahrens aus der Sicht eines Zeitzeugen. In: Z E v K R 33, 1988, S. 425-442; KURT SCHMIDT-CLAUSEN: August Marahrens, Landesbischof in Hannover. Wirklichkeit und Legende (Vorlagen. 7). Hannover 1989; EDUARD LOHSE: August Marahrens - Abt zu Loccum. In: K Z G 3, 1990, S. 4 9 9 - 5 0 4 .

3

VERFASSUNG DER EV.-LUTH. LANDESKIRCHE HANNOVERS nebst A n l a g e n . . . H a n n o v e r 1 9 2 5 .

August Marahrens (1875-1950)

127

konnte sich in Kundgebungen an die Gemeinden und Pastoren wenden, und ihm oblag auch die Betreuung u.a. der Predigerseminare wie der Anstalten der Inneren und Äußeren Mission 4 . Wegen dieser geistlichen Akzentuierung des Bischofsamtes wählte Marahrens sich als Motto für seine Amtsführung den aus Art. 28 des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 entnommenen Grundsatz "non vi, sed verbo" ("nicht durch Gewalt, sondern durch das Wort") 5 . Entsprechend predigte er auch in seinem Einführungsgottesdienst am 28. Juni 1925 über l.Kor 2,2: "Denn ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch als allein Jesum Christum den Gekreuzigten". In strenger Konzentration auf die von Paulus und Luther betonte christologische Mitte wollte er seine gesamte Verkündigung und sein bischöfliches Tun ausrichten. Daneben verpflichtete er sich zu unbedingter Gewissenhaftigkeit, die aber die Möglichkeit des Irrtums mit einschließt: "Nicht beansprucht das Amt eines lutherischen Bischofs, frei von Irrtum zu sein. Eins aber beansprucht es: das Vertrauen aller zu der Ehrlichkeit seines um Gottes Willen ringenden Gewissens." Die Predigt gipfelte in dem programmatischen Schlußsatz: "Wem auch immer im Lauf der Zeiten das Bischofsamt anvertraut werden wird, nichts anderes sei Kern seines Amtes, Mittelpunkt seiner Gedanken und Taten, Kraft seines Lebens als Jesu Kreuz". 6 Zum zehnjährigen Bischofsjubiläum im Oktober 1935 predigte Marahrens wieder in der Marktkirche zu Hannover und abermals über l.Kor 2,2. Damals sagte er u.a.: "In entscheidungsvoller Zeit der Kirche erneuern wir das Grundbekenntnis des evangelischen Bischofsamtes: Jesus Christus, der Gekreuzigte, ist der entscheidende Inhalt der Verkündigung der Kirche. Jesus Christus, der Gekreuzigte, ist die alleinige Kraft der Kirche. Jesus Christus, der Gekreuzigte, ist der alleinige Herr der Kirche." Gerade auf dieses letzte kam es ihm besonders an, nachdem er - vielleicht in kritischer Zwiesprache mit der in jener Zeit behaupteten Offenbarung Gottes auch in Natur und Geschichte - richtigstellte, daß das wahre Wesen und Wollen Gottes allein in der Hl. Schrift zu erkennen sei. Danach klingt es fast nach einem stillschweigenden Schuldeingeständnis, wenn es - vermutlich im Blick auf die zurückliegenden turbulenten und an Herausforderungen reichen Jahre 1933/34 - weiter heißt: "Es war wie eine Versuchung, unsere Hand aus Gottes Hand zu ziehen und unser Verhältnis zu Ihm zu lösen ... Wir wollten

4

Vgl. PAUL FLEISCH: Die Entwicklung der leitenden Organe der Evang.-luther. Landeskirche Hannovers 1922-1953. In: J G N K G 51, 1953, S. 174-185; HANS OTTE: Landeskirche und Laienbewegung in der Weimarer Republik. In: Reformation und Kirchentag, hg. von Waldemar R. Röhrbein. Hannover 1983, S. 197f.

5

BSLK, S. 124: "sine vi humana, sed verbo".

6

Auszugsweise abgedruckt in: HANNOVERSCHES SONNTAGSBLATT, Nr. 2 7 , 1 9 3 5 , S. 310.

128

Inge Mager

uns losmachen. Ja, hin und wieder haben wir uns im Trotz freigemacht ... Sein Dienst erschien uns auf einmal wie eine Last. Wir sahen zwar keinen andern Herrn. Aber dieser Herr war uns zu ernst und sein Auftrag zu schwer ... Solche Not und Untreue überwindet nur, wer unter das Kreuz tritt... Der weiß, wer sein Herr ist... Jesus Christus, der Gekreuzigte, ist der alleinige Herr der Kirche." Die Predigt klingt gebetsartig aus: "Gott mache an mir wahr, was ich von Ihm in seiner großen Barmherzigkeit als Träger des Amtes eines evangelischen Bischofs erbat: "Ich halte mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, als allein Jesum Christum, den Gekreuzigten. Amen." 7 Der gesamte Duktus der Predigt erinnert an These I der Barmer Theologischen Erklärung, deren Beratung Marahrens ja am 30. Mai 1934 miterlebt hatte8. Darüber hinaus läßt sie die gewandelten Bedingungen des Christseins und der Verkündigung unter nationalsozialistischer Herrschaft unüberhörbar anklingen. Dem heutigen Leser oder Hörer dieser Worte drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Berufung auf den Gekreuzigten nicht nur fromme Formel, sondern auch Prinzip des Handelns - etwa in Gestalt des Eintretens für Menschen unter dem Kreuz - für den hannoverschen Bischof geworden ist. Wieder zehn Jahre später - jetzt nicht mehr in der Marktkirche, denn diese fiel am 8. Oktober 1943 einem verheerenden Bombenangriff zum Opfer, Deutschland lag ein zweites Mal besiegt und zerstört am Boden, die allenthalben durch Hitler erhoffte Korrektur des vielbeklagten Unrechts von Versailles hatte zu einer ungleich größeren Katastrophe geführt - also wieder 10 Jahre später, am 8. August 1945 gab Marahrens der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft einen Rückblick auf die Kirchenkampfzeit. Darin war die Rede vom "dämonische[n] Geheimnis" der jüngsten Vergangenheit, von "Grenzen menschlicher Einsicht", von Schuld und Versagen der Christen, insbesondere von dem eigenen wie vom Schweigen der Kirche zur Judenvernichtung. Wörtlich trug er vor: "Besonders schwer liegt mir auf ich habe dies schon mehrmals gesagt -, daß die Kirche im ersten Sturm der Verfolgung, der über die Judenschaft losbrach, nicht das lösende Wort fand. Wir mögen im Glauben noch so sehr von den Juden geschieden sein, es mag auch eine Reihe von ihnen schweres Unheil über unser Volk gebracht haben, sie durften aber nicht in unmenschlicher Weise angegriffen werden."9

7 8 9

Auszugsweise abgedruckt bei W. KÖDDERITZ, Marahrens (Anm. 2), S. 39-43. Vgl. CARSTEN NICOLAISEN: Der Weg nach Banften. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934. Neukirchen-Vluyn 1984, S. 51. Abgedruckt bei E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 204.

August Marahrens (1875-1950)

129

Bevor die Stuttgarter Schulderklärung10 von evangelischen Theologen vor Vertretern der Ökumene am 19. Oktober 1945 ohne ausdrückliche Erwähnung des an den Juden begangenen Unrechts formuliert wurde, legte Marahrens schon jetzt ein offenes Schuldeingeständnis ab. Es wurde am 15. August auch in dem an alle hannoverschen Pastoren verschickten "Wochenbrief" abgedruckt. Abermals zwei Jahre später, am 15. April 1947, gab der 71jährige Landesbischof vor der neu gebildeten hannoverschen Landessynode im Schwesternsaal des Henriettenstifts einen Rechenschaftsbericht über seine gesamte 22jährige Amtszeit. Darin gestand er am Ende trotz gewissenhafter Entscheidungen Irrtümer ein und erklärte seinen Rücktritt, um einer ungestörten weiteren Entwicklung der Kirche nicht im Wege zu stehen11. Von den Vorbereitungen zur Bildung der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hatte man ihn ohnehin bereits seit 1945 auf taktlose, für ihn schmerzvolle Weise ausgeschlossen. Unter den jetzt eingeräumten Irrtümern zählte er "ausdrücklich" drei auf, und zwar die - wenn auch kommentierte - Unterzeichnung der von Kirchenminister Kerrl im Mai 1939 abgefaßten fünf Grundsätze, in denen die "nationalsozialistische Weltanschauung" auch "für den christlichen Deutschen [als] verbindlich" reklamiert wird 12 . Zweitens bedauerte er das von ihm mitunterzeichnete Telegramm des Geistlichen Vertrauensrates an Hitler nach Beginn des Rußlandfeldzuges vom 30. Juni 1941, worin der Führer dafür gelobt wird, daß er den bolschewistischen "Pestherd" beseitigen wolle, "damit in ganz Europa unter [seiner] Führung eine neue Ordnung erstehe" 13 . Und drittens gab er nach besserer Einsicht in die "Zusammenhänge des 20. Juli 1944" zu, daß das von ihm mitverantwortete Telegramm des Geistlichen Vertrauensrates an Hitler anläßlich seiner "gnädigen Errettung" einen "Unwürdigen" erreichte14; über die Attentäter verlor er kein Wort.

10

Vgl. GERHARD BESIER/GERHARD SAUTER (Hg.): Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Göttingen 1985.

11

Abgedruckt bei E. KLOGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 205-215.

12

Abgedruckt bei KURT MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 3. Göttingen 1984, S. 80. Marahrens' Kommentar findet sich bei E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 155f.

13

Abgedruckt in: GESETZBLATT DER D E K 1941, Nr. 7, S. 31.

14

Vgl. das für den kommenden Sonntag angeordnete Kirchengebet im KIRCHLICHEN AMTSBLATT FÜR DIE EV.-LUTH. LANDESKIRCHE HANNOVERS 1944, S t ü c k I I , S. 43, u n d die Passage

im sog. "Wochenbrief" Marahrens' vom 24. Juli 1944, S. lf. Es gibt Zeitzeugen, denen Marahrens anvertraute, daß das Telegramm ohne sein Wissen von einem anderen abgefaßt und abgeschickt wurde. Vgl. dazu heute im einzelnen KARL-HEINRICH MELZER: Der Geistli-

130

Inge Mager

Nach dem Rücktritt vom Bischofsamt zog sich Marahrens ins Kloster Loccum zurück, dessen evangelischer Abt er seit 1928 war und bis zu seinem Tode 1950 blieb. Hier in Loccum war 1933 von den Mitgliedern des KaplerAusschusses unter Marahrens' Federführung die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) ausgearbeitet worden; mancher prominente Gast ist hier empfangen worden, und hier fanden insbesondere in den Kriegsjahren viele geistliche Rüstzeiten für erholungsbedürftige Pfarrer statt. Vor allem aber diente die Stille des ehemaligen Zisterzienserklosters dem Bischof selbst in der Hektik und Entscheidungsschwere seines Amtes immer wieder als Refugium, bis er nach knapp dreijährigem Ruhestand seine letzte Ruhe auf dem Klosterfriedhof fand15.

n. Wer war dieser Mann, von dessen Erichsburger Predigerseminarleitung Paul Althaus 1952 rückblickend schrieb: "Wir zählen es zu den besten Gaben unseres Lebens, daß wir diesem Mann in unseren Werdejahren begegnet sind"? 16 Wer war dieser Bischof, der der gewaltsamen Eingliederung der hannoverschen Landeskirche in die bekenntnisneutrale Reichskirche im Mai 1934 nach anfänglichem Zögern eine Absage erteilte, dem bei einer Umfrage im August des gleichen Jahres 80% aller hannoverschen Pfarrer ihr rückhaltloses Vertrauen aussprachen und dem Friedrich Duensing, einer der führenden Geistlichen der hannoverschen Bekenntnisbewegung, anläßlich des 10jährigen Amtsjubiläums 1935 attestierte, daß durch seine Wortverkündigung "die Landeskirche sich wieder gesammelt und ihre Einheit wiedergewonnen" habe?17 Wer war dieser Kirchenpolitiker, dessen Doppelschultrigkeit Martin Niemöller 1937 rügte18, den Hans Joachim Iwand 1946 in einer Göttinger Lehrveranstaltung einen "Verbrecher" genannt haben soll 19 und den anonyme Verfasser eines Zeitungsberichtes 1947 als "bemerkenswert fügsame[n] Untertan der nazistischen Obrigkeit" rügten, weil er "weitgehend Toleranz übte, wo es zu protestieren galt"?20 che Vertrauensrat. Geistliche Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg? (AKZG. B 17). Göttingen 1991, S. 195 Anm. 59. 15

Vgl.

W A L T E R KÖDDERITZ:

Das Kloster und sein 61. Abt. In:

W.

KÖDDERITZ,

Marahrens

(Anm. 2), S. 133-141. 16

PAUL ALTHAUS: Auf der Erichsburg. In: EBD., S. 57.

17

FRIEDRICH DUENSING: Landesbischof Marahrens zehn Jahre im. Amt. In: Evangelische Wahrheit 1935, S. 588.

18

MARTIN NIEMÖLLER: Briefe aus der Gefangenschaft Moabit, hg. von Wilhelm Niemöller. Frankfurt am Main 1975, S. 167.

19 Mitgeteilt bei K. SCHMIDT-CLAUSEN, Marahrens (Anm. 2), S. 8. 20

Abgedruckt in: HANNOVERSCHE PRESSE, 21. Februar 1947, S. 2.

August Marahrens (1875-1950)

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Und ein letztes Mal: Wer war dieser Mann, dem sein Amtsnachfolger Hanns Lilje im Blick auf die Kirchenkampfzeit zugestand, "als ein Christ und ein Bischof" gedacht und gehandelt zu haben 21 , obgleich "es immer die Möglichkeit verschiedener Stellungnahmen gab, auch wenn man es mit dem Evangelium ernst nahm"? 22 Bis in die Gegenwart gehen die Meinungen über August Marahrens auseinander 23 . Wer über Jahrzehnte hin ebensoviele Ankläger wie Verteidiger findet, verdient es, daß man sich vorurteilsfrei bemüht, ihn im Kontext seiner Zeitverhältnisse zu verstehen 24 . Deshalb zunächst ein paar Mitteilungen über die wichtigsten Stationen seines Weges. Bald nach der Gründung des Bismarckreiches 1875 als Sohn eines Lehrers der Stadttöchterschule in Hannover geboren, auf den Universitäten Göttingen und Erlangen von der liberalen Theologie ebenso geprägt wie von der Lutherrenaissance, als Pfarrer, Gefängnisseelsorger und Konsistorialassessor in Hannover mit ersten Amtserfahrungen konfrontiert, nach der Arbeit mit Vikaren auf der Erichsburg als Lazarettpfarrer im Ersten Weltkrieg vom Grauen der Frontrealität gezeichnet, trat er 1920 das Superintendentenamt in Einbeck an, um zwei Jahre später mit dem Generalsuperintendentenamt von Stade betraut zu werden. 1925 wählte der neue Landeskirchentag ihn dann zum ersten hannoverschen Bischof. In den folgenden Jahren der auch von ihm ungeliebten Weimarer Republik lernte er auf unzähligen Reisen durch die Gemeinden unter Wahrnehmung seines Kanzelrechts die wirtschaftlichen und persönlichen Nöte seiner Pfarrhäuser kennen und machte das noch ungewohnte Bischofsamt durch seine geistliche Vollmacht und menschliche Nähe populär 25 . Ohne den auf diese Weise geschaffenen pastoralen Rückhalt wäre der Kirchenkampf im Hannoverschen mit Sicherheit anders verlaufen. Denn daß unsere Kirche trotz der im Mai 1934 gegen den Willen des Bischofs zunächst vollzogenen Eingliederung in die Reichskirche, trotz zeitweiliger Entmachtung des Bischofs sowie der legitimen Leitungsorgane, trotz vielfältiger deutsch-christlicher Behinderun-

21

H A N N S LILJE: N o n v i , s e d v e r b o . I n : W . KÖDDERITZ, M a r a h r e n s ( A N M . 2), S. 84.

22 HANNS LILJE: Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens. Nürnberg 1973, S. 139f. 23

V g l . d i e D i s k u s s i o n z w i s c h e n HANS-VOLKER HERNTRICH, A R N D H E N Z E , HEINZ GÜNTHER KLATT, ULRICH J . T E T Z E u n d GERHARD LINDEMANN i n : L M 2 6 , 1987, S. 2 0 7 f . ; 5 4 4 - 5 4 7 ;

547ff. und LM 27, 1988, S. 68f.; 70f. 24 Vgl. dazu die jüngste Kontroverse zwischen BERNDT HAMM: Schuld und Verstrickung der Kirche. Vorüberlegungen zu einer Darstellung der Erlanger Theologie in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Kirche und Nationalsozialismus, hg. von Wolfgang Stegemann. Neuendettelsau 1990, S. llff. und KARLMANN BEYSCHLAG: In Sachen Althaus/Elert. Einspruch gegen Berndt Hamm. In: HoLiKo, N F 8, 1990/91, S. 153-172. 25

V g l . F . DUENSING, M a r a h r e n s ( A n m . 17), S. 5 8 9 .

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gen und drückender finanzieller Bevormundung 26 aufs Ganze gesehen - wenn auch keine wirklich "intakte"- so doch eine nicht völlig entmündigte Kirche blieb, ist zu keinem geringen Teil der hinter ihrem Bischof stehenden Pastorenschaft zu danken. Weitere Faktoren waren die Marahrens im Mai 1933 entgegen der ursprünglich geistlichen Bischofskonzeption von Landeskirchenausschuß und Kirchensenat übertragenen Vollmachten "zu allen Verhandlungen, Erklärungen und Maßnahmen für die Ev.-luther. Landeskirche Hannovers" 2 7 insbesondere während der Eingliederung im kommenden Jahr sowie ferner das Urteil des Celler Oberlandesgerichts, welches im März 1935 das deutsch-christliche Kirchenregiment unter der Leitung von Gerhard Hahn für rechtsungültig erklärte. Zur Veranschaulichung der Gemeindeund Pastorentreue seien nur zwei Beispiele erwähnt: Inmitten erbitterter Kompetenzkämpfe zwischen Marahrens und der deutsch-christlichen Kirchenleitung, die Ende 1934 sogar eine Gegenbischof ernannte, verabschiedeten mehr als zweitausend Vertreter von Kirchengemeinden am 26. Februar 1935 auf einer spontanen Kirchenversammlung in Hannover eine "Feierliche Verwahrung gegen die Angriffe auf Landesbischof D. Marahrens" 28 . Und nachdem dieser Anfang April 1935 an der Durchführung eines Gottesdienstes in Darmstadt durch vorübergehende Schutzhaft gehindert worden war, schrieben zehn Göttinger Pastoren einen Protestbrief direkt an Hitler und stellten die Integrität ihres bischöflichen Führers heraus 29 . Noch das 1952 von Walter Ködderitz herausgegebene "Gedenkbuch" für Marahrens ist von einer fast kindlichen Verehrung geprägt, die schon im Vorwort durch die Anlehnung an Luthers Erklärung des Elterngebots im Kl. Katechismus sinnfällig zum Ausdruck kommt 3 0 . Andererseits brachte es die Bischofsorientierung der hannoverschen Pastoren mit sich, die seit dem 17. Jahrhundert für ihr auf den Helmstedter Theologen Georg Calixt zurückgehendes mildes, moderates Luthertum bekannt waren, daß von den rund tausend amtierenden Geistlichen der Landeskirche Ende 1934 nach der Entlassung der deutsch-christlichen Kirchenführer und der Konstituierung der neuen 26

Speziell dazu vgl. HEINZ BRUNOTTE: Die Entwicklung der staatlichen Finanzaufsicht über die Deutsche Evangelische Kirche von 1935-1945. In: Z E v K R 3, 1953/54, S. 29-55.

27

Vgl. E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 1, S. 28-30.

28

Abgedruckt EBD., Bd. 2, S. 67f.

29

Konzept v o m 12. April 1935 im ARCHIV DES KIRCHENKREISES GÖTTINGEN-STADT, N r . 1522. Z u m Darmstädter Vorfall und anderen Behinderungen des Bischofs (Predigt- und Einreiseverbot in Lübeck und Thüringen) vgl. K . SCHMIDT-CLAUSEN, Marahrens (Anm. 2), S. 104.

30

W. KÖDDERITZ, Marahrens

(Anm.

2), Vorwort:

"Waren wir unserm

Landesbischof

D. Marahrens bei seinen Lebzeiten schuldig, ihn 'in Ehren zu halten' und ihm zu 'dienen', so ist es uns heute Herzenssache, unsern heimgegangenen Landesbischof 'lieb und wert' zu halten."

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vorläufigen hannoverschen Kirchenregierung durch Marahrens die Zahl der Anhänger der Deutschen Christen auf neunzig zurückgegangen sein soll 31 . Infolge dieser wiedergewonnenen relativen Selbständigkeit der hannoverschen Landeskirche waren ähnlich wie in Bayern und Württemberg die Maßregeln für das Verhältnis zum mehrheitlich deutsch-christlichen Reichskirchenregiment zunächst unter Reichsbischof Ludwig Müller, später unter Kirchenminister Kerrl, dann unter dem Reichskirchenausschuß und zuletzt unter Staatssekretär Muhs und seinen gefürchteten Finanzabteilungen von Anfang an anders geartet als in den sog. zerstörten Kirchen, denen ein deutsch-christliches Kirchenregiment aufgezwungen wurde, so daß die bekenntnistreue Opposition diesem eine illegale bruderrätliche Leitung entgegensetzte, die ungeschützter und entschiedener agieren konnte, da sie ja nichts mehr zu verlieren hatte 32 .

in. Die Bekenntnisbewegung auf Reichsebene war vornehmlich als Protest gegen die Rezeption des "Arierparagraphen" in den Kirchen der Altpreußischen Union im September 1933 aus dem hauptsächlich von Martin Niemöller gegründeten Pfarrernotbund33 hervorgegangen. Im Frühjahr 1934 konstituierte sich dann ein eigenes bruderrätliches Leitungsorgan, das Ende Mai die erste schon erwähnte Reichsbekenntnissynode in Barmen abhielt und nach der Proklamation des kirchlichen Notrechts Ende 1934 in Gestalt des Reichsbruderrats und der ersten Vorläufigen Leitung der DEK beanspruchte, die rechtmäßige Leitung der DEK anstelle des Reichskirchenregiments zu sein. Die hannoversche Bekenntnisgemeinschaft hatte demgegenüber einen etwas anderen Ursprung. Sie ging im Mai 1934 aus der 1933 gegründeten Landeskirchlichen Sammlung als Protestaktion gegen die gewaltsame Eingliederung der Landeskirche zur Wahrung der lutherischen Bekenntnisintegrität und zur Unterstützung der bischöflichen Kirchenpolitik hervor34. Sie stand also nicht wie in den sog. zerstörten Kirchen im Gegenüber zur eigenen Kirchenleitung, sondern gleichsam hinter ihr. Gleichzeitig aber solidari-

31

Mitgeteilt bei KURT MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 1. Göttingen 1976, S. 394.

32

Uber diesen grundsätzlichen Unterschied der kirchlichen Handlungsvoraussetzungen vgl. HANS-WALTER KRUMWIEDE in: J G N K G 5 9 , 1 9 6 1 , S. 1 6 7 .

33

WILHELM NIEMÖLLER: Der Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden Bruderschaft. Hamburg 1973.

34

Über die bereits genannten Gesamtdarstellungen des Kirchenkampfes hinaus vgl. JOHANNES SCHULZE: Mit der Bekenntnisgemeinschaft für die Kirche. In: W. KÖDDERITZ, Marahrens (Anm. 2), S. 101-103. Eine monographische Untersuchung fehlt bedauerlicherweise noch immer.

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sierte sie sich voll mit der Reichsbekenntnisgemeinschaft, gab aber im Unterschied zu deren roten eigene blaue Mitgliedskarten aus. Da zur Bekenntnisgemeinschaft auch Laien gehören konnten, stieg die Mitgliederzahl Ende 1934 auf 52.00035. Marahrens, der sich als "pastor pastorum"36 für alle, auch für die neunzig deutsch-christlichen Geistlichen verantwortlich fühlte, gehörte der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft offiziell nie an, war ihr theologisch und kirchenpolitisch aber eng verbunden. Er nannte sie selbst seine "getreue Opposition"37, von der ihm jedoch kaum eine Rüge zuteil wurde. Vielmehr war er ihr theologisches Gewissen38. Marahrens besaß auch keine rote Mitgliedskarte der Reichsbekenntnisbewegung. Als Martin Niemöller ihm im September 1933 die Leitung des Pfarrernotbundes antrug, lehnte er dieses Angebot bezeichnenderweise mit dem Hinweis ab, die Annahme würde einer Amtsenthebung als hannoverscher Bischof gleichkommen39. Diese zunächst befremdlich anmutende Reaktion hängt mit seinem Kirchenverständnis zusammen, das entsprechend dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen nach CA VIII auch "falsche Christen und Heuchler" einschließt. Eine lupenreine, nur aus frommen Bekennern bestehende Kirche erschien ihm als "schwärmerische" Phantasie40. Trotz dieser wesentlichen Auffassungsdifferenz versagte Marahrens sich nicht als Vorsitzender der vom Reichsbruderrat und den drei intakten lutherischen Kirchen Hannover, Württemberg und Bayern Ende 1934 gebildeten 1. Vorläufigen Kirchenleitung der DEK und hat sich auch nach seinem Rücktritt von diesem Amt, als es auf der Bekennntissynode von Bad Oeynhausen im Februar 1936 über der Frage der Zusammenarbeit mit dem Reichskirchenausschuß zum Zerwürfnis zwischen Reichsbruderrat und intakten Kirchen und damit zur Spaltung der gesamten Bekennenden Kirche kam41, stets als Glied der "Bekennenden Kirche lutherischen Teils" verstanden42. Die Betonung des

35

K. MEIER, K i r c h e n k a m p f Bd. 1 ( A n m . 31), S. 394.

36 So das Motto der von W. KöDDERITZ 1952 herausgegebenen Gedenkschrift (Anm. 2). 37 So im Rechenschaftsbericht vom 15. April 1947; abgedruckt bei E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 214. 38 EBD., Bd.l, S. 82. 39

W . NIEMÖLLER, P f a r r e r n o t b u n d (Anm.33), S. 18.

40 Vgl. den Entwurf eines Schreibens der hann. Bekenntnisgemeinschaft an den Bruderrat der BK von Ende 1934; abgedruckt bei E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 71f. 41 Vgl. KURT MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 2. Göttingen 1976, S. lOlff. 42 So im Rechenschaftsbericht vom 15. April 1947 (Anm. 37), S. 213: "Die Trennung in Oeynhausen und die Gründung des Lutherischen Rates [muß heißen: Lutherrates] konnte um des lutherischen Bekenntnisses willen nicht umgangen werden, so schmerzlich sie uns war. Wir sind damit nicht von der Bekennenden Kirche abgewichen, sondern haben uns stets als 'Bekennende Kirche lutherischen Teils' gewußt."

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lutherischen Bekenntnisses gegenüber den unierten und reformierten Vertretern der Reichsbekenntnisbewegung war neben der durch die relative Intaktheit bedingten Andersartigkeit der hannoverschen Kirchenpolitik ein wesentlicher Grund mit für den Rücktritt der 1. Vorläufigen Kirchenleitung. Außerdem vertrat Marahrens auch einen etwas anders akzentuierten Bekenntnisbegriff. Für ihn besaßen die Bekennntisse des 16. Jahrhunderts mehr als Rechtsurkunden denn wegen ihres Inhalts unüberholte Verbindlichkeit. Vor allem galt ihm der von den Reformatoren eingeschärfte Obrigkeitsgehorsam noch uneingeschränkt. Zu neuen Bekenntnissen als Antwort auf die Herausforderungen der eigenen Zeit oder zu Obrigkeitskritik sah er weder Veranlassung noch Berechtigung43. Vielmehr hielt er sich in allen Konfliktsituationen mit der bekenntnisneutralen Reichskirche an Art. 1 der von ihm mitausgearbeiteten Verfassung der DEK vom 11. Juli 1933, wo es heißt: "Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Hl. Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist".44 Die inhaltliche Konkretion dieses Grundsatzes in der hannoverschen Kirchenpolitik läßt sich allerdings nur sehr schwer finden. Die Differenzen zwischen Hannover und einem Großteil der Bekenntnistheologen zeigte sich besonders deutlich in den auf der Synode in Oeynhausen gehaltenen Reden von Marahrens und Niemöller. Während ersterer unbedingt für das nicht abreißende "umfassende Gespräch mit dem Staat" plädierte - nicht zuletzt um den in Konzentrationslagern inhaftierten Pfarrern zu helfen - , rief Niemöller in der ihm eigenen Diktion dazu auf, "Bagage" und "Troß" zurückzulassen und mit der Waffe des Wortes zu einem "Totalangriff" gegen die "Attacke des Heidentums" überzugehen45. Hier klingt wieder das unterschiedliche Kirchenverständnis an, das neben grundlegenden Differenzen im Bekenntnisund Obrigkeitsverständnis wesentlich zum Zerbrechen der Bekenntnisfront geführt hat. IV. War der hannoversche Kirchenkampf bis 1936, also bis zum Auseinanderbrechen der Bekennenden Kirche, leidlich eingebettet in die gesamtkirchlichen Vorgänge, so setzte seitdem eine stärkere Eigenentwicklung Hannovers ein. Auch der dem Reichsbruderrat nahestehende, von der Theologie

43 Vgl. AUGUST MARAHRENS: Rede auf der Kirchenversammlung vom 20. September 1934. In: Um eine lutherische Kirche deutscher Nation. Göttingen 1934, S. 7-16. 44 Zitiert nach: KTGQ Bd. IV/2, S. 125. 45 EBD., S. 139-141.

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Karl Barths geprägte sog. Osnabrücker Kreis um Pfarrer Richard Karwehl 46 äußerte von dieser Zeit an häufiger Bedenken gegenüber dem hannoverschen Kurs. An einem echten kritischen Gegenüber hat es Marahrens seit dem Ausscheiden aus der 1. Vorläufigen Kirchenleitung der DEK gleichwohl gefehlt. Zwar kam es unmittelbar danach zum Zusammenschluß der drei sog. intakten Kirchen Hannover, Württemberg und Bayern mit einigen lutherischen Bruderräten zum sog. Lutherrat, doch übte sich gerade Marahrens in kirchlicher Besitzstandswahrung und Uberlebensstrategie, so daß er immer mehr die Fähigkeit entwickelte, durch Hinhalten oder geschicktes Taktieren zu Kompromissen mit der Reichskirchenführung zu gelangen, um einen - wenn auch immer enger werdenden - Freiraum für die kirchliche Verkündigung in der eigenen Landeskirche zu wahren und seinen Pfarrern persönliche Schwierigkeiten zu ersparen. Daß er sich dadurch theologisch immer mehr von der Grundausrichtung der Reichsbekenntnisbewegung entfernte, mag z.B. im Protest des Lutherrats gegen die "hochverräterische" Denkschrift der nach Oeynhausen vom Reichsbruderrat gebildeten 2. Vorläufigen Kirchenleitung der DEK an Hitler im Mai 1936 zum Ausdruck kommen. Dabei muß diese durch die offene Verurteilung des Antisemitismus und der Konzentrationslager als eine der mutigsten Äußerungen im ganzen Kirchenkampf bezeichnet werden47. Marahrens sah in ihr nur den Angriff auf die nach seiner Meinung durch Rom 13,1 geschützte Obrigkeit und verhielt sich ablehnend, obgleich er das in der Denkschrift angeprangerte Unrecht eigentlich nicht gebilligt haben dürfte. Doch schon 1935 hatte er programmatisch geschrieben: "Wer für Gottes Ehre ficht, kann nicht wider die Ehre der Obrigkeit streiten." 48 Auch die bekenntniskirchliche Gebets-Liturgie anläßlich des deutschen Einmarsches in die Tschechoslowakei im Herbst 1938 lehnte er aus "religiösen und vaterländischen" Gründen ab, weil sie nach seiner Meinung Geistliches und Politisches vermische und durch die an den zehn Geboten entlanggehenden wiederholten Bußaufrufe den Eindruck "einer scharfe[n] Anklage gegen Stellen politischer Verantwortung" erwecke 49 . Durch derartige Reaktionen empfahl Marahrens sich durchaus für die Übernahme reichskirchlicher Ämter, die ihm viel Verantwortung im Großen aufbürdeten, aber seinen Handlungsspielraum zunehmend einengten und die ihn vor allem nach Kriegsende ins Kreuzfeuer der 46

Uber ihn und sein scharfsichtiges "Politisches Messiastum. Zur Auseinandersetzung zwischen Kirche und Nationalsozialismus" (ZZ 9, 1931, S. 519-543) vgl. die Einleitung und Erläuterung von DIRKGLUFKE in: JGNK.G 90, 1992, S. 201-217.

47

Abgedruckt in: K G T Q Bd. IV/2, S. 142-147.

48

Abgedruckt in: EVANGELISCHE WAHRHEIT 26, 1935, S. 125f; JK 3, 1935, S. 605-607.

49

So im "Wochenbrief" vom 17. November 1938, S. 3. Soweit ich sehe, geht die Bußliturgie am Vaterunser entlang!

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Kritik versetzten. Nach dem Rücktritt des Reichskirchenauschusses 1937 stand er der Kirchenführerkonferenz vor, der er schon seit 1933 nach der Verfassung der D E K angehörte, und ließ sich 1939 als Sprecher in den Geistlichen Vertrauensrat entsenden, der zur Unterstützung der Reichskirchenpolitik während des Zweiten Weltkrieges gebildet worden war. V. Trotz des mäßigen Kredits, den Marahrens wegen seiner Gesprächsbereitschaft auf nationalsozialistischer Seite besaß, galt er ihr doch gleichzeitig bis zuletzt auch als Mann der Opposition. Er wurde bespitzelt, telephonisch abgehört, einmal verhaftet, erhielt Predigt- und Aufenthaltsverbote und befand sich in permanenter Gefahr 50 . Das können die Berichte der Gestapo Hannover ebenso deutlich machen 51 wie die auf den Dörfern vereinzelt kolportierte Parole: "Wer für Marahrens ist, ist gegen Hitler." 5 2 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die erheblichen Spannungen zwischen Marahrens und einem Teil der Göttinger theologischen Fakultät unter dem langjährigen deutsch-christlichen Dekan Emanuel Hirsch 53 , der alle bischöflichen Beeinflussungsversuche der hannoverschen Theologiestudenten, sei es durch namentliche Erfassung, durch Sonderveranstaltungen, Ersatzvorlesungen von bekenntniskirchlichen Dozenten oder Freizeiten peinlich genau registrierte, von eingeschleusten studentischen Beobachtern verfolgen ließ und am Ende meist einen Bericht an das Wissenschaftsministerium in Berlin schickte. Eine dieser Meldungen vom 27. November 1936 gipfelte in der Schlußbemerkung, daß durch die "ständige kirchliche Fühlungnahme" der Studenten "der Erziehungszweck der nationalsozialistischen Universität verfehlt" werde 54 . A m 11. Dezember des gleichen Jahres ging infolge eines Bischofsbesuches in Göttingen eine nicht anders als denunzierend zu bezeichnende Nachricht unter dem Titel nach Berlin: "Störende Einwirkung der Hannoverschen Landeskirche auf Göttinger Theologiestudenten." Beigelegt war das Protokoll eines von Hirsch beauftragten Studen50 Vgl. E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 1, S. 279, Anm. 11. 51 Veröffentlicht von KLAUSMLYNEK (Bearb.): Gestapo Hannovermeldet... Polizei- und Regierungsberichte für das mittlere und südliche Niedersachsen zwischen 1933 und 1937 (VhistKomNS. 39: Niedersachsen 1933-1945. Bd. 1). Hildesheim 1986, passim; auszugsweise zitiert bei K. SCHMIDT-CLAUSEN, Marahrens (Anm. 2), S. 41ff. 52 EBD., S. 107. 53 Uber die Differenzen um die Berufung Walter Birnbaums und die Beteiligung von Göttinger Professoren an den kirchlichen Prüfungen vgl. im einzelnen INGE MAGER: Das Verhältnis der Göttinger theologischen Fakultät zur Hannoverschen Landeskirche während des Dritten Reiches. In: J G N K G 85, 1987, S. 179-196. 54 UNIVERSITÄTSARCHIV GÖTTINGEN, Rektoratsakte 4102: Theol. Fak., Bl. 168v.

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ten über Marahrens' Vortrag im Gemeindehaus der St. Johanniskirche vom 9. Dezember. Hirsch kommentierte ihn als Versuch, "namens des Christentums Mißtrauen gegen Staat und Partei zu säen" 55 . Gerade dieses letzte Votum mag die doppelte Front, zwischen welcher sich Marahrens während der Zeit des Kirchenkampfes befand, verdeutlichen: den Wächtern der Bekennenden Kirche war er zu wenig entschieden; den Wächtern des nationalsozialistischen Staates war er gleichfalls zu wenig entschieden. Den geradezu absurden Gipfel dieses Zwiespaltes stellt eine Geheimmeldung des deutsch-christlichen Finanzbeauftragten Dr. Georg Cölle vom 24. Juli 1944 nach Berlin dar, in welcher Marahrens' (später selbst bedauerte) Reaktion auf das mißglückte Attentat auf Hitler folgendermaßen beurteilt wird: "Daß auch die Kirche für die gnädige Errettung des Führers im Kirchengebet Gott dankt, dürfte als nichts Besonderes, Bedeutungsvolles anzusehen sein. Wesentlich ist jedoch, daß jedenfalls die Hannoversche Landeskirche und Herr Landesbischof Marahrens sich nicht haben dazu aufraffen können, bei diesem Anlaß über grundsätzliche Fragen eine Erklärung abzugeben, etwa in dem Sinne, daß das christliche Deutschland oder das christliche Europa oder die christliche Kultur Europas gegen den Erzfeind kirchlicher, religiöser Haltung, den Kommunismus, im Kampfe steht ... Für mich ergibt sich daraus, daß Kirchenführer von der Art des Landesbischofs niemals mehr die Zeichen der Zeit begreifen und zur Führung einer wohlverstandenen Volkskirche völlig außerstande sind." 56 VI. Angesichts solcher Beurteilungsdiskrepanzen drängt sich die Frage auf: Was wollte Marahrens eigentlich selbst, worin bestanden seine Ziele, welches waren die Kriterien für seine meist schwerwiegenden Entscheidungen? Er selbst umschrieb sein zurückliegendes Verhalten 1945 so:"Ich sah eine doppelte Verpflichtung. Ich war berufen zur Verkündigung des Evangeliums und sah mich an mein Volk auf seinem Wege durch die Zeiten gewiesen."57 1936 nannte er als seine wichtigsten Ziele den Kampf gegen das Neuheidentum sowie gegen die Zerstörung der rechtlichen Ordnung der Kirche 58 . Immer ging es ihm vorrangig darum, seinen Pastoren und Gemeinden einen Freiraum für die evangelisch-lutherische Verkündigung, Seelsorge und Unterweisung gegenüber jeglichen unbiblischen oder atheistischen Infrage55 EBD., BL. 185r-186v. 56 Abgedruckt im Brief von neun hannoverschen Landessuperintendenten an alle "Herren Geistlichen der Hannoverschen Landeskirche" vom 28. Februar 1947 (Privatbesitz), [S.2]. 57 "Wochenbrief" vom 15. August 1945, S. 2. 58 KGTQ Bd. IV/2, S. 139.

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Stellungen offenzuhalten. Dabei trat er dem nationalsozialistischen Staat loyal gegenüber und räumte ihm gleichfalls etwa in bezug auf die Außenpolitik oder den Umgang mit Deutschen jüdischer Herkunft einen Freiraum ein. Hitler war für ihn gottgegebene Obrigkeit nach Rom 13,1, wo Paulus nach seiner Meinung "ganz ohne Vorbehalt...rein positiv von dem göttlichen Auftrag des Staates" rede 59 . Und während Marahrens sich von der deutschchristlichen Theologie ab 1934 entschieden distanzierte und Ludwig Müller als Reichsbischof nie akzeptierte, stand er doch Hitler bis zuletzt mit scheuer Ehrfurcht gegenüber, fühlte sich ihm durch das gemeinsame Ideal der Reinerhaltung des deutschen Volkstums verbunden 60 , nahm ihn gegenüber seinen Mitarbeitern, die seine hohen Ideale vermeintlich verfälschten, in Schutz und besaß offenbar kaum ein Gespür für das Dämonische in ihm. Insbesondere nach Kriegsbeginn vermied er alles, was die Konzentration auf den totalen Einsatz für den Endsieg hätte beeinträchtigen können. Die Berechtigung des Krieges hinterfragte er nie öffentlich. Um der staatlichen Kirchenpolitik entgegenzukommen, erklärte er 1939, wie schon erwähnt, die "nationalsozialistische Weltanschauung" einschließlich ihres Kampfes gegen den "politischen und geistigen Einfluß der jüdischen Rasse auf unser Volksleben" als "auch für den christlichen Deutschen verbindlich" 61 . Gelegentlich gewinnt man bei Marahrens den Eindruck, als stünde der Gehorsam Gott gegenüber mit dem Obrigkeitsgehorsam auf einer Stufe, weil der dem gottgewollten Staat gezollte Gehorsam zugleich Gottesgehorsam für ihn ist. Denn Gott regiert nach der lutherischen Zweiregimente-Vorstellung in beiden Reichen, obgleich in ihnen jeweils andere Gesetze gelten. Der Respekt vor der Göttlichkeit der politischen Ordnung wie vor der Eigengesetzlichkeit und Unabhängigkeit des Politischen - einschließlich der Maßnahmen gegen Deutsche jüdischer Herkunft - blockierten seinen Protest und Widerstand. Wie er den Staat nicht in die Bekenntniskirche hineinregieren lassen wollte, so überließ er dem Staat und dessen Verantwortung auch alles ihn Betreffende. N u r wo innerkirchliche Belange tangiert wurden, erhob er seine Stimme, und das nach Maßgabe der ihm in einer intakten Kirche gebliebenen Möglichkeiten. U m das staatliche Ansehen in der Öffentlichkeit nicht zu gefährden, wählte er in der Regel den Weg privater schriftlicher Eingaben. Dadurch verhinderte er die Ausbildung eines allgemeinen Problembewußtseins auch in seiner Kirche, die sich doch an ihm orientierte. Von einer Wächterfunktion, wie sie lutherische Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts (gemäß Hes 3,17) gegenüber dem gesamten Handeln ihrer Obrig-

59 "Wochenbrief" vom 3. Januar 1935, S. 4. 60 Vgl. oben Anm. 43, S. 9f. 61 Vgl. oben Anm. 12.

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keiten wahrnahmen, scheint Marahrens wegen seines unbedingten Gehorsamspathos keinen Begriff mehr gehabt zu haben. Karl Barths Ruf: "Wenn doch der deutsche evangelische Theologe wach bleiben oder, wenn er geschlafen haben sollte, heute, heute wieder wach werden wollte!" 62 , dürfte nach Hannover kaum gedrungen sein. Erst nach dem Zusammenbruch erschloß sich ihm das ganze Ausmaß des Unheils: "Wenn ich heute Anfang und Ende vergleiche, ist es mir, als ob ich in ein dämonisches Geheimnis sähe und etwas von dem Schauer des Deus absconditus spürte." 63 Vor allem aber wirkte Luthers Zwei-Reiche-Lehre nur in einer verhängnisvoll verkürzten Weise fort. Denn Luther plädierte bei der Unterscheidung von Gottesund Weltreich mit je eigenen Gesetzen, gerade weil der Christ beiden Sphären angehört, nicht für ein beziehungsloses Nebeneinander, sondern dafür, daß der Christ in beiden Reichen dem göttlichen Gebot und der Liebe folgen solle. Im Konfliktfall stehe Gottesgehorsam über Menschengehorsam. Gewaltsamer Widerstand dürfe nicht geleistet werden, wohl aber leidender Ungehorsam und verbaler Widerspruch. 1523 schrieb Luther: "Freuel soll man nicht widderstehen, sondern leyden, Man soll yhn aber nicht billichen." 64 Trotz fortwährender Berufung auf Luther und die lutherischen Bekenntnisschriften ist der Aspekt des verbalen, leidenden Ungehorsams bei vielen lutherischen Theologen während der Kirchenkampfzeit verschüttet geblieben. Bezeichnend für alle ist, was ausgerechnet der judenchristliche Pfarrer Paul Leo aus Osnabrück im Mai 1933 in einem von Marahrens erbetenen Gutachten zur Frage "Kirche und Judentum" schrieb: "Unserer Obrigkeit sind wir nicht Gehorsam schuldig, weil wir ihre Maßnahmen billigen, sondern weil sie uns von Gott gesetzt ist." 65 Es klang verheißungsvoll, wie Marahrens beim Antritt seines Bischofsamtes die Gewalt des Wortes zu seinem leitenden Motto erklärte 66 . Man mag es bedauern, daß er seine verneinende, zurechtweisende Form so selten gebrauchte. Gerade weil er so viele einflußreiche Amter bekleidete, wären seine Einsprüche auf höchster Ebene vielleicht nicht verhallt. Natürlich war es gefährlich zu widersprechen, es stand ja außer dem eigenen Leben eine ganze Landeskirche auf dem Spiel. Aber vielleicht wäre es nicht nur 62 63 64 65

KARL BARTH: Theologische Existenz heute! Heft 1. München 1933, S. 4. "Wochenbrief" vom 15. August 1945, S. 2. WA 11, S. 267. Abgedruckt bei E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S.195. Leo (1893-1958) schied 1934 aus dem kirchlichen Dienst, verbrachte 1938 einige Zeit im Konzentrationslager Buchenwald, wanderte 1939 nach Holland und später nach Amerika aus. Er beschloß sein Leben als Professor für Neues Testament in Dubuque. Uber Juden und Judenchristen in der hannoverschen Landeskirche fertigt Gerhard Lindemann eine Dissertation bei G. Besier an. 66 Vgl. oben Anm. 5f.

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eine Katastrophe gewesen, sondern hätte auch wertvolle Erfahrungen mit sich gebracht, wenn die hannoversche Pastorenschaft ein wenig aus dem Windschatten ihres breitschultrigen Bischofs hätte heraustreten müssen. Ein wohlwollender Kritiker drückte es 1958 so aus: "Den von ihrem Bischof beschützten Pfarrhäusern wurde mit der relativen Verminderung ihrer persönlichen Gefährdung auch der Segen, der auf dem existenziellen Einsatz in statu confessionis liegt, wahrscheinlich nicht selten genommen." 67 U m der historischen Wahrheit willen muß allerdings gesagt werden, daß Marahrens keineswegs zu allem schwieg. 1935 protestierte er gegen die Berufung eines ungeeigneten und unqualifizierten Theologieprofessors nach Göttingen 68 ; zweimal - 1938 und 1944 - setzte er sich für die Freilassung des seit 1937 inhaftierten Martin Niemöller ein69; 194o gab er als Vorsitzender des Geistlichen Vertrauensrates die Kritik des Centraiausschusses für die Inneren Mission an Euthanasiemaßnahmen in Anstalten der Inneren Mission mit einem allerdings nur verhalten unterstützenden Begleitschreiben nach Berlin weiter 70 ; und 1943 trat er in einem persönlichen Schreiben an Reichsinnenminister Frick für Christen jüdischer Herkunft und für den Schutz von "Mischehen" ein71. Dabei ging es ihm allerdings primär um die Gültigkeit der christlichen Taufe und Ehe. Die "Rassefrage" als "völkisch-politische" Angelegenheit überließ er der obrigkeitlichen Zuständigkeit, sprach die Kirche von der Mitverantwortung dafür frei und mahnte nur ganz verhalten vermutlich im Blick auf durchgesickerte Nachrichten über Verstöße gegen die Menschlichkeit - an 72 , daß, sollten die Gerüchte auf Wahrheit beruhen, "Gottes unverbrüchliche Gebote unter allen Umständen gelten" müßten. Allen Eingaben eignet bei näherem Zusehen eine Zurückhaltung, die das jeweils eigene Anliegen teilweise wieder zurücknimmt. Als dann am 9. November 1938 überall die Synagogen brannten und jüdische Bürger verschwanden, sucht man in den regelmäßig an die Pfarrer verschickten "Wochenbriefen" allerdings vergeblich nach einer - wenn auch nur versteckten - Reaktion oder einem hilfreichen Wort. Zwar fand der "Arierparagraph" in der hannoverschen Kirche keine Anwendung, auch wurde das 1933 erlassene Kirchengesetz, nach welchem Pastoren vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden konnten, wenn sie nicht "jederzeit rückhaltlos ... für 67 GÜNTHER KOCH: Was recht und billig ist. In: EvTh 18, 1958, S. 9. 68 Vgl. I. MAGER, Verhältnis (Anm. 53), S. 187ff. 69 Abgedruckt bei E. KLOGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 129f. (Eingabe an den Reichsjustizminister vom 5. März 1938). Vgl. auch K. SCHMIDT-CLAUSEN, Marahrens (Anm. 2), S. 104. 70 Abgedruckt bei E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 2, S. 174-176. 71 EBD., S. 202f.; auch auszugsweise abgedruckt im "Wochenbrief" vom 15. August 1945, S. 2f. 72 EBD., S. 203.

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den nationalen Staat eintreten"73, im Frühjahr 1935 wieder aufgehoben. Doch kam es 1937 zum Erlaß der "Verordnung über die Versetzung eines Geistlichen in den einstweiligen Ruhestand", wenn die "gedeihliche Fortführung des Pfarrdienstes" nicht gewährleistet sei74, so daß bis 1939 alle vier "nichtarischen" Geistlichen z.T. gegen den Protest ihrer Gemeinden, aber mit angeblicher Rücksicht auf sie ihr Amt aufgeben mußten75. Zu Tode kam keiner76; eine besondere Fürsorge durch Bischof oder Landeskirche wurde aber auch niemandem zuteil77. Wie viele andere Theologen fühlte Marahrens sich nur für die Christen jüdischer Herkunft in seiner Kirche zuständig. Er war kein grundsätzlicher Gegner der staatlichen Maßnahmen gegen Deutsche jüdischer Herkunft. Den alarmierenden Antisemitismus in Hitlers "Mein Kampf" erwähnte er bei einer Würdigung des Buches mit keinem Wort 78 ; und noch vor dem Erlaß der Nürnberger Rassegesetze äußerte er sich ausführlich über die Ehe als Zweckgemeinschaft zwischen Volksgenossen79. An der Gleichheit aller Getauften hielt er unbeirrt fest, zeigte sich jedoch dem Gedanken von besonderen "nichtarischen" Gemeindesektionen gegenüber nicht abgeneigt, bezog die große Masse der nichtchristlichen Deutschen jüdischer Herkunft 73 Kirchengesetz, betreffend die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten. Vom 2 3 . S e p t . 1 9 3 3 . A b g e d r u c k t i m KIRCHLICHEN AMTSBLATT FÜR DIE EV.-LUTH. LANDESKIRCHE

HANNOVERS, Stück 39, 5. Oktober 1933. 74 EBD., Stück 6, 8. März 1937. 75 B. Benfey/Göttingen 1937, Lie. P. Leo/Osnabrück 1938, G. Oehlert/Rinteln 1939, R. Gurland/Meine 1939. Vgl. E. KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 1, S. 491ff. 76 Unter den vieren befand sich auch der in Meine amtierende "halbarische" Pastor Rudolf Gurland, der nach seiner Zwangspensionierung als Bibliothekar und Archivar bei der Hermannsburger Mission unterkam und bis zu seinem Tode im Jahre 1947 in der Hermannsburger Gemeinde mitarbeitete. Marahrens scheint sich für ihn wie auch für die übrigen nicht sonderlich eingesetzt zu haben. Anders stand es um den Gifhorner ebenfalls "halbarischen" Candidaten der Theologie Otto Schwannecke, der in Marahrens' Auftrag ordiniert, aber nicht mehr eingestellt werden konnte. Marahrens verschaffte ihm 1939 die Möglichkeit, in England die englische Sprache zu erlernen und wollte ihm dann aufgrund seiner Beziehungen als Präsident des Lutherischen Weltkonventes, der er seit 1935 war, im Ausland eine Tätigkeit vermitteln. Dazu kam es wegen des Kriegsausbruches nicht mehr. Schwannecke meldete sich zunächst als Freiwilliger und fiel nach seiner zweiten Einberufung in die Strafkompanie Todt noch kurz vor Kriegsende im März 1945. Vgl. EBD., S. 495 und die im Entstehen begriffene Dissertation von Gerhard Lindemann, Heidelberg. 77 Z.B. zum Büro Grüber bestanden kirchlicherseits nur kurze Zeit offizielle Kontakte. Vgl. zum Ganzen H A R T M U T LUDWIG: Die Opfer unter dem Rad verbinden. Das "Büro Pfarrer Grüber" (Diss. theol. B. Berlin-Ost 1988; zur Veröffentlichung angekündigt in den HThST, Neukirchen-Vluyn). 78 Vgl. oben Anm. 43, S. 9. 79 "Wochenbrief" vom 7./8. August 1935, S. 4f.

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allerdings nicht in seine Überlegungen ein und scheint kein Problembewußtsein für die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen Menschlichkeit und Lebensrecht entwickelt zu haben. Damit stand er keineswegs allein. Abgesehen von der bereits genannten bekenntniskirchlichen Denkschrift aus dem Jahre 1936 80 stieß bedauerlicherweise erst die 12. Bekenntnissynode der altpreußischen Union in Breslau 1943 ihr beschwörendes "Wehe" darüber aus, "wenn es für berechtigt gilt, Menschen zu töten, weil sie für lebensunwert gelten oder einer anderen Rasse angehören"81. Die volle Tragweite des nationalsozialistischen Antisemitismus ist auch von der Bekennenden Kirche als Ganzer trotzdem nie begriffen worden. VII. Rückblickend und zusammenfassend dürfte es nicht übertrieben sein, Marahrens als den zu bezeichnen, der während der gesamten Kirchenkampfzeit "die Hauptlast der kirchlichen Verantwortung" trug82. Hanns Lilje als Zeitgenosse bestätigte dies 1964: "Er hat um seiner Stellung wie um seiner Fähigkeiten willen in den Auseinandersetzungen immer in vorderster Reihe gestanden, nicht immer in vorderster Reihe der Bekennenden Kirche, aber immer an den Brennpunkten der Auseinandersetzung."83 Wem viel abverlangt wird, der verfügt nicht gleichzeitig über einen Freibrief, daß alles gelingt. Marahrens hat das bereits beim Antritt seines Amtes gewußt und sich am Ende dessen nicht geschämt. Ich wiederhole hier noch einmal die von ihm in seiner Einführungspredigt 1925 gesprochenen Worte, auf die er indirekt in seinem Rechenschaftsbericht vor der hannoverschen Landessynode 1947 anspielte: "Nicht beansprucht das Amt eines lutherischen Bischofs, frei von Irrtum zu sein. Eines aber beansprucht es: das Vertrauen aller zu der Ehrlichkeit seines um Gottes willen ringenden Gewissens."84 An solcher subjektiven Redlichkeit sollte bei Marahrens nicht gezweifelt werden, um Achtung vor dem Menschen, den es zu verstehen gilt, zu wahren. Was wir vielleicht weiter sagen können, ist dies: Marahrens grundsätzliche Entscheidungsvoraussetzungen bestanden in einem ganz bestimmten, vor 1933 ausgebildeten Staats-, Volks-, Kirchen-, Amts- und Bekenntnisverständnis. Vor allem wollte er die Chance einer neuen Volkskirche nicht verpassen und rechnete absurderweise mit einer "Wandlung" des NS-Staates.85 80

Vgl. oben Anm. 47.

81

Abgedruckt: K J 1933-1944, 2. Aufl. Gütersloh 1976, S. 387.

82

Vgl. G. BESIER, Selbstreinigung (Anm. 2), S. 157.

83

HANNS LILJE: Geleitwort zu E . KLÜGEL, Landeskirche (Anm. 2), Bd. 1, S. VII.

84

Vgl. oben Anm. 6.

85

"Wochenbrief" vom 15. August 1945, S. 2.

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In allem denken wir heute anders. Die Schule der Nachkriegsbesinnung hat uns für Totalitarismus, Unmenschlichkeit und völkische Überheblichkeit sensibel gemacht. Deshalb dürften neben redlichem Bemühen um Verstehen auch die Benennung und das Bedauern von Fehlhaltungen und Schuld sowie eine Würdigung der Opfer an der Zeit sein. Daneben erscheint mir die Fruchtbarmachung der gewonnenen Einsichten für die Gegenwart angebracht, etwa in Gestalt von Fragen nach den Versuchungen, Versäumnissen, Fehlhaltungen und Irrtumsmöglichkeiten der eigenen Zeit, um Gewissen zu schärfen, Augen zu öffnen, Denkstrukturen aufzubrechen und Initiativen zu neuem Handeln zu ermöglichen. August Marahrens wollte sich in allem, was er dachte, redete und tat, nur am biblischen Wort orientieren. Ps 119,109 war sein Lieblingsspruch: "Ich trage meine Seele immer in meinen Händen und vergesse deines Gesetzes nicht." 86 Allein viele seiner biblischen Bezüge und Begründungen wirken nach allem, was heute bekannt ist, formelhaft und ungefüllt. Außerdem gibt es kein ein für allemal richtiges und gültiges Verstehen des Wortes und Gesetzes Gottes. In allem Verstehenwollen steckt der Verstehende selbst mit seinen zeitbedingten und irrtumsanfälligen Denkvoraussetzungen drin. Rom 13 wird beispielsweise heute anders als zu Marahrens 1 Zeit verstanden, weniger grundsätzlich, vielmehr als Mahnung des Apostels an möglicherweise enthusiastische Christen zur Loyalität dem heidnischen Staat gegenüber 87 . Gottes Wort ist uns wie ein "Schatz in irdenen Gefäßen" (2.Kor 4,7) anvertraut; und uns wird trotzdem zugemutet, uns als biblisch verankerte Christen in einer Welt voller Herausforderungen zu orientieren und zu bewähren. Es gibt allerdings Zeiten, da lebt es sich einfacher; und es gibt Zeiten, da wiegt jede Entscheidung doppelt und dreifach, so daß dann die Bitte "und führe uns nicht in Versuchung" vor der Bitte "vergib uns unsere Schuld" ausgesprochen werden sollte.

86 Das betonte auch H A N N S LILJE in einer Gedenkpredigt am Vorabend der Beerdigung von A. Marahrens am 7 . Mai 1 9 5 0 : "Unter dem Wort"; abgedruckt in: W. K Ö D D E R I T Z , Marahrens (Anm. 2), S. 26. 8 7 Vgl. E R N S T K Ä S E M A N N : Grundsätzliches zur Interpretation von Römer 1 3 . In: D E R S . : Exegetische Versuche und Besinnungen. Bd. 2. Göttingen 1964, S. 204ff.

Heide-Marie Lauterer GOTTESEBENBILDLICHKEIT DES MENSCHEN U N D GLEICHBERECHTIGUNG V O N F R A U U N D MANN Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986) Rückblickend auf ihre lebenslange Arbeit in Kirche, Gesellschaft und Politik schrieb Elisabeth Schwarzhaupt 1982: "Das Fernziel, das mir vorschwebt, (war und) ist aber eine selbstverständliche Zusammenarbeit von Männern und Frauen an Sachaufgaben, ohne die dumme Frage: 'was sagen Sie als Frau dazu?'"1 Damit benannte die promovierte Juristin ein Thema, das sie nicht erst als Bundesministerin - der ersten in Deutschland seit der Einführung des Wahlrechtes für Frauen im Jahre 1918 - unermüdlich verfolgt hatte. Bereits in ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete der C D U seit 1953 hatte sie an allen Reformgesetzen zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen maßgeblich mitgearbeitet. Elisabeth Schwarzhaupt, 1901 in Frankfurt im Stadtteil Bockenheim geboren^, stammte aus einem bürgerlich-protestantischen, national-liberalen Elternhaus. Beide Eltern lasen Friedrich Naumanns "Die Hilfe" und "Das freie Christentum". Mit ihrem Vater Wilhelm Schwarzhaupt - er war Mittelschullehrer und Rektor einer Frankfurter Schule, später Stadtschulrat und Preußischer Landtagsabgeordneter - besuchte sie regelmäßig den Sonntagsgottesdienst in der Reformierten Kirche am Kornmarkt in der Frankfurter Innenstadt und sprach mit ihm auf dem Heimweg über die Predigt. Ihre Mutter Frieda Schwarzhaupt, geborene Emmerich, die - ungewöhnlich für ihre Generation - eine Lehrerinnenausbildung absolviert, ihren Beruf freilich nach ihrer Heirat nicht mehr ausgeübt hatte, machte sie schon früh mit den Ideen und Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung vertraut; sie sorgte auch dafür, daß die Tochter eine Berufsausbildung erhielt. Schwarzhaupt besuchte in Frankfurt die "Schillerschule" - das einzige Gymnasium, das Mädchen zum Abitur führte - und studierte nach der Rei1

ELISABETH SCHWARZHAUPT: Lebensbericht. In: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Hg. vom Deutschen Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Bd. 2. Boppard 1983, S. 241-281 (S. 268).

2

Zum Folgenden vgl. EBD., S. 241-245.

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feprüfung (1920) und einer Berufsausbildung als Lehrerin (1921) Jura in Frankfurt und Berlin (1921-1926). Mit dem Reichsgesetz vom 11. Juli 19223 war den Juristinnen - wegen der damaligen Einstellungssperre und der Widerstände gegenüber der Anstellung von Frauen - noch nicht die Laufbahn als beamtete Richterin garantiert, jedoch immerhin eine Karriere als Rechtsanwältin freigegeben worden. Damit hatten Frauen Zugang zum allgemeinen Vorbereitungsdienst (und vereinzelt auch zu sog. kommissarischen Stellen als Richterin). So konnte Schwarzhaupt 1926 ihr Referendariat beginnen, das sie nach Berlin, Neuruppin und Frankfurt führte. Erste Berufserfahrungen sammelte sie von 1930 bis 1932 als Gerichtsassessorin an der städtischen Rechtsschutzstelle für Frauen in Frankfurt, - eine Einrichtung, die Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung wie in anderen Städten initiiert hatten. Durch ihre Beratungstätigkeit erhielt sie vor allem Einblick in die soziale Situation der Ehefrauen arbeitsloser Männer und erkannte die Mängel des frauendiskriminierenden Familienrechtes4. Trotz dieser Erfahrungen schloß sie sich, wie manche andere akademisch gebildetete Tochter einer frauenbewegten Mutter, nicht der organisierten liberalen bürgerlichen Frauenbewegung, dem 1894 gegründeten Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), an. Genausowenig hat sich die junge Frau in der Zeit ihrer ersten Berufstätigkeit politisch engagiert. 1932 jedoch warnte sie in einer Wahlkampfbroschüre der Deutschen Volkspartei5 - der Partei ihres Vaters - sowie als Vortragsrednerin besonders die Frauen vor dem erstarkenden Nationalsozialismus. Unterstützt wurde sie dabei von der Frankfurter Journalistin Helli Knoll und der DVP-Politikerin Anne Bringzu6. Die junge Juristin griff drei Aspekte des nationalsozialistischen Gedankengutes heraus, die ihrer Meinung nach "dem tiefsten Wesen der Frau" diametral entgegengesetzt waren: 1. die Idee von der "notwendigen Auswahl der rassisch Tüchtigen" und der "Aufnordnung unserer Rasse";

3 4 5

REICHSGESETZBLATT I 1922, S. 573 (Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege). Lebensbericht (Anm. 1), S. 245f. E. Schwarzhaupt: Die Stellung der Frau im Nationalsozialismus. Vortrag von E. Schwarzhaupt, als Broschüre verbreitet von der Deutschen Volkspartei (ARCHIV FÜR CHRISTLICHDEMOKRATISCHE POLITIK ST. AUGUSTIN [ACDP], 1-048. N r . 012/5).

6

Vgl. ELKE SCHÜLLER: Keine Frau darf fehlen! Frauen und Kommunalpolitik im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Hessen. In: Ulla Wischermann/Elke Schüller/Ute Gerhard (Hg.): Staatsbürgerinnen zwischen Partei und Bewegung. Frauenpolitik in Hessen 1945 bis 1955. Frankfurt am Main 1993, S. 88-149 (S. 93).

Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986)

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2. die Ablehnung von "Liebe, Humanität und Menschlichkeit" und die Propagierung eines neuen, germanisch-männlichen Ideals der Gefolgschaftstreue; 3. die Unterdrückung des Individuellen zugunsten des Typischen, Allgemeinen, und die Uniformierung und Militarisierung des Gemeinschaftslebens.7 Der Nationalsozialismus richtete sich ihrer Meinung nach sowohl gegen humanistische und christliche Werte als auch gegen die Ideen und Errungenschaften der Frauenbewegung: die nationalsozialistische Bewegung gefährde, so Schwarzhaupt, die in der Weimarer Reichsverfassung verbürgten Interessen der Frauen als grundsätzlich gleichberechtigte Staatsbürgerinnen auf "allen Gebieten, in der politischen und beruflichen Stellung, in der Mädchenbildung und in der Stellung als Frau und Mutter" 8 . So deutlich wie Elisabeth Schwarzhaupt erkannten und benannten in der politischen und wirtschaftlichen Krise des Jahres 1932 nur wenige bürgerliche Frauen die Gefahr, die der Nationalsozialismus für die verfassungsmäßig garantierten Rechte der Frauen bedeutete. Trotz vieler Befürchtungen nährten gerade die führenden Frauen im Vorstand des BDF 1932 Hoffnungen auf eine tatkräftige Mitarbeit "am nationalen Aufstieg" 9 . Noch im selben Jahr erhielt Schwarzhaupt ein "Kommissorium", d.h. eine befristete Beamtenstelle als Richterin für Grundbuch- und Zwangsversteigerungssachen, zunächst in Frankfurt und dann in Düsseldorf. Daß sie in der Rezession und ohne längere Wartezeit ein besoldetes Kommissorium erhielt - viele ihrer Kollegen arbeiteten während der Anstellungssperre auf diesen Stellen unentgeltlich - , verdankte sie ihrem Lehrer für bürgerliches Recht und Handelsrecht, Professor Martin Wolff in Berlin10. Schon ein Jahr später geschah jedoch, was Elisabeth Schwarzhaupt vorausgesehen hatte: Nach der "Machtergreifung" Hitlers wurde ihre Stelle im März 1933 nicht mehr verlängert. Auf diese Weise konnten, ohne daß die Beamtengesetze geändert werden mußten, Frauen aus dem Staatsdienst entlassen werden. Erst im Jahre 1935 wurden aufgrund der "Durchführungsvorschriften zur Verordnung über die Laufbahn des Richters und des Staats-

7 8 9

Vgl. Anm. 5, S. 18f. EBD., S. 22. S o z . B . GERTRUD BÄUMER. V g l . DIES.: D i e d e u t s c h e R e v o l u t i o n . I n : D i e H i l f e 39, 1933, S. 65-69.

10 E. Schwarzhaupt: Mein Leben (Entwurf): BUNDESARCHIV KOBLENZ (im folgenden BA KOBLENZ), N L 177, N r . 3 7 (3a).

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anwaltes" vom 26. Juni nur noch männliche "arische" Bewerber in den Probedienst übernommen 11 . So zerschlugen sich Schwarzhaupts berufliche, aber auch ihre persönlichen Hoffnungen: Ihr Verlobter, ein niedergelassener Arzt, mußte emigrieren, da er jüdischer Herkunft war. Er fand in der Schweiz vorübergehend eine Arbeitsmöglichkeit, sie selbst dagegen nicht. Ohne Berufstätigkeit und ohne eigenes Einkommen an der Seite ihres Mannes zu leben, kam für sie nicht in Frage. Das Schicksal ihrer Mutter, die während des Ersten Weltkrieges wider Willen alle Hausarbeiten - auch die schwersten - selbst hatte ausführen müssen, schreckte sie ab. Übrig blieb, vorübergehend ins Elternhaus zurückzukehren. Auch ihr Vater war ein vom NS-Regime Geschädigter - er hatte nicht nur sein Mandat im Preußischen Landtag, das er seit 1914 zunächst für die Nationalliberale Partei, dann seit 1921 für die DVP übernommen hatte, aufgeben müssen, sondern war auch auf eigenes Ersuchen als Oberschulrat vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden 12 . Elisabeth Schwarzhaupt war jetzt arbeitslos und zudem politisch gefährdet, da ihre gegen den Nationalsozialismus gerichteten Artikel und Vorträge schon in ihrer Zeit als Richterin die Mißbilligung einiger nationalsozialistischer Richterkollegen hervorgerufen hatten 13 . Da eine Beamtinnenlaufbahn für sie nun weniger denn je in Frage kam und sie befürchtete, bei einer erneuten Anstellung in die Funktion einer Sekretärin gedrängt zu werden, beschloß sie, an die Universität zurückzukehren und zu promovieren 14 . Der Doktortitel, so hoffte sie, würde ihre beruflichen Chancen in der freien Wirtschaft verbessern. Sie reichte eine Arbeit über die "Währungsklausel im deutschen Schuldrecht" bei dem Frankfurter Handelsrechtler Clausing ein und wurde von diesem promoviert. Noch während sie gegen die Resignation anschrieb, vermittelte ihr 1934 ein Jugendfreund eine Anstellung in der Geschäftsstelle des Reichsbundes der Kleinrentner in Berlin 15 . Zwei Gründe bewogen sie zur Zusage: der finanzielle Aspekt - die Chance, geldlich wieder auf eigenen Füßen zu stehen - und der politische, denn in Berlin konnte sie neu anfangen, ohne daß ihre politischen Aktivitäten zu Beginn der 30er Jahre bekannt waren.

11

REICHSGESETZBLATT 1 1935, S. 812-819.

12 E. Schwarzhaupt: Der Anfang, der ein Ende war. (Manuskript): BA KOBLENZ, NL 177, Nr. 38, S. 3. 13 Lebensbericht (Anm. 1), S. 247. 14 Mein Leben (Anm. 10), S.4. 15 EBD., S. 5; Lebensbericht (Anm. 1), S. 248.

Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986)

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Zu Jahresbeginn 1936 bot sich ihr die Möglichkeit, eine Stelle als Juristin in der Verfassungs- und Rechtsabteilung der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei zu übernehmen 16 . Im Sommer des vergangenen Jahres hatte sich die festgefahrene Situation in der evangelischen Kirche entscheidend geändert 17 . Im Juli 1935 war durch einen von Hitler und den beteiligten Reichsministern unterzeichneten Erlaß die Bearbeitung der kirchlichen Angelegenheiten auf den bisherigen Reichsminister ohne Geschäftsbereich Hanns Kerrl übergegangen. Das "Gesetz zur Sicherung des Deutschen Evangelischen Kirche" vom September 1935 übertrug Kerrl die Vollmacht, Verordnungen mit rechtsverbindlicher Kraft für alle evangelischen Kirchen zu erlassen; es bedeutete faktisch die Entmachtung des bisher amtierenden deutsch-christlichen Reichsbischofs Ludwig Müller. Kerrl, ein alter Mitkämpfer Hitlers, hatte von diesem den Auftrag erhalten, die Auseinandersetzungen um die evangelische Kirche zu beenden. Er berief deshalb nicht nur Vertreter der großen kirchenpolitischen Mittelgruppe, sondern auch einzelne Mitglieder der gemäßigten Bekennenden Kirche in einen nur ihm verantwortlichen "Reichskirchenausschuß" zur Führung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) und übertrug dem über 70jährigen Generalsuperintendenten a.D. Wilhelm Zoellner, der der zur kompromißbereiten Bekennenden Kirche nahestand, die Leitung. Auch Elisabeth Schwarzhaupt entschloß sich in dieser Situation zur Mitarbeit und damit zur Anerkennung der staatskirchenrechtlich gesetzten Leitung der D E K , ebenso wie die von der Bekennenden Kirche im November 1934 herausgestellte "Vorläufige Kirchenleitung" unter bestimmten Bedingungen zur Anerkennung der neuen Leitung der D E K bereit war. Diese Kompromißbereitschaft freilich bewirkte das endgültige Auseinanderfallen der Bekennenden Kirche in zwei Lager. Was bewog die Elisabeth Schwarzhaupt zum Jahresbeginn 1936 zur Mitarbeit in einer Kirchenkanzlei, die auf Grund der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen sowie der ideologischen Überzeugungen der Mehrheit ihrer Mitarbeiter eng mit jenem NS-Regime zusammenzuarbeitete, vor dem sie noch zwei Jahren zuvor gewarnt hatte? Die kirchliche Dienststelle sei ihr wie eine Insel in dem sonst von Nationalsozialisten beherrschten öffentlichen Leben erschienen, schrieb sie später in ihrem Lebensbericht 18 . Mit

16 17

EBD., S. 248. Vgl. dazu z.B.: ÖKUMENISCHE KIRCHENGESCHICHTE. Bd. 3: Neuzeit. Hg. v o n R a y m u n d Kottje u n d Bernd Moeller. München 1983, S. 296-313 (S. 297f.).

18

Lebensbericht (Anm. 1), S. 248. Beim Eintritt Schwarzhaupts wurde die Kirchenkanzlei allerdings nicht mehr von Johannes H o s e m a n n geleitet, der als Direktor des Kirchenbundesamtes bereits im Juni 1933 v o n Ludwig Müller beurlaubt worden war. Die Leitung der Kir-

150

Heide Marie Lauterer

ihrem Vater, der Mitglied der Bekennenden Kirche in Frankfurt war, hatte sie ihren Schritt besprochen. Beide setzten, wie große Teile des gemäßigten Flügels der Bekennenden Kirche, gewisse Hoffnungen in den von Kerrl berufenen und von Zoellner geleiteten Reichskirchenausschuß. Vater und Tochter versprachen sich, freilich ohne Illusionen, die Möglichkeit "einer leidlich freien kirchlichen Arbeit". Dies war die eine Seite. Auf der anderen Seite bot sich der promovierten Juristin eine einzigartige berufliche Chance. Im April 1933 waren auf Grund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" alle politisch und rassisch unliebsamen Beamten und Beamtinnen aus dem Staatsdienst entlassen worden. Das Gesetz richtete sich gegen politisch Andersdenkende, gegen Juden und - unausgesprochen - auch gegen Frauen. Für Elisabeth Schwarzhaupt, die sich bewußt für eine Berufstätigkeit an verantwortlicher Stelle entschieden hatte, eröffnete sich jedoch gerade in dieser Zeit eine Karriere als Beamtin in einem Bereich, der zwar einerseits mit dem von ihr kritisch beurteilten Regime verbunden, andererseits aber doch institutionell von diesem geschieden war. Ihre Hoffnung auf eine Beamtinnenlaufbahn in der Nische des kirchlichen Dienst erwies sich jedoch zunächst als Illusion, denn die Richterin a.D. wurde bei ihrer Einstellung in die Tarifordnung A IH als Angestellte eingestuft 19 . Bei dieser faktischen Degradierung spielte der Status Schwarzhaupts als theologische Laiin keine Rolle. Vorgehalten wurde ihr ein anderes: Die Übernahme einer Frau in das Beamtenverhältnis, so argumentierte man, ließe sich nicht mit dem Charakter der Kirchenkanzlei als Behörde vereinbaren20. Wann Schwarzhaupt ihrer bisherigen Laufbahn im Staatsdienst entsprechend in das kirchliche Beamtenverhältnis übernommen und als Konsistorialrätin21 eingestuft wurde, geht weder aus ihren autobiographischen Berichten noch aus den Akten der Kirchenkanzlei in ihrem Nachlaß hervor. Der beginnende Krieg und die Einziehung vieler Kirchenbeamten zum Kriegschenkanzlei lag von Anfang an bei dem mit Müller sympathisierenden Mitglied der Reichsleitung der Deutschen Christen Friedrich Werner. 19 Sie wurde am 1.4.1936 als juristische Hilfsarbeiterin eingestellt. Vgl. Schreiben Präs. Werners an den Reichskirchenminister vom 6.1.1939 (BUNDESARCHIV ABT. POTSDAM, 51.01 RKM 23710; für diesen Hinweis danke ich Carsten Nicolaisen). 20

E. Schwarzhaupt: Ein Beitrag zur Stellung der Frau in der Kirche. o.D. (BA KOBLENZ, N L 177, Nr. 38). 21 Diese Amtsbezeichnung geht aus den Protokollen des Geistlichen Vertrauensrates hervor. Vgl. KARL-HEINRICH MELZER: Der Geistliche Vertrauensrat. Geistliche Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg? (AKZG. B 17). Göttingen 1991, S. 309 Anm. 45.

Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986)

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dienst wird ihre Verbeamtung gefördert haben. Am 1. April 1944 wurde sie dann zur Oberkirchenrätin ernannt 22 . Spätestens mit dem Rücktritt des Reichskirchenausschusses am 12. Februar 1937 änderte sich die Stimmung in der Kirchenkanzlei gravierend 23 . Dr. Friedrich Werner, führendes Mitglied der Deutschen Christen und Leiter der Kirchenkanzlei, wurde nun auch Leiter der gesamten DEK. So erwiesen sich die Hoffnungen, mit denen Elisabeth Schwarzhaupt angetreten war, als trügerisch. Selbstkritisch schrieb sie in einem Entwurf zu ihrem Lebensbericht zu Beginn der 80er Jahre: "Man war keineswegs abgeschirmt gegenüber nationalsozialistischen Machtansprüchen, was ich bei meinem Eintritt in die kirchliche Verwaltung gehofft hatte. Es war ein Leben in ständigen Konflikten, wenn man versuchte, in einer Kirchenbehörde zwischen den verschiedenen kirchlichen Gruppen unter dem Druck eines kirchenfremden NS-Präsidenten die Lücken zu finden, die auch ein totalitäres System offen läßt." 24 Daß es diese Lücken gab, davon war Elisabeth Schwarzhaupt allerdings weiterhin überzeugt, und sie wollte sie, so gut es ging, ausnutzen, "um den äußeren Bestand der Evangelischen Kirche bis zum Anbruch besserer Zeiten aufrechtzuerhalten" 25 . Schließlich blieben drei Kollegen - die Oberkonsistorialräte Johannes Gisevius und Heinz Brunotte sowie Konsistorialrat Georg Krüger-Wittmack, die mit der Oberkonsistorialrätin dieses Ziel über die Kriegsjahre hinweg verfolgten, - ein Kreis, "der aufs äußerste zusammengeschmolzen war". 26 Mit welchen Aufgaben war die Kirchenbeamtin in ihrem neuen Tätigkeitsfeld beschäftigt? Als Referentin der Kirchenkanzlei arbeitete Schwarzhaupt in der Frage des kirchlichen Sammlungswesens, auf das die freien evangelischen Verbände angewiesen waren, eng mit dem Centraiausschuß für die Innere Mission zusammen 27 , um Restriktionen von Seiten des NS-Staates zu begrenzen. Während der Kriegszeit ging es in vielen Fällen darum, den Spielraum der einzelnen Landeskirchen sowie des 1939 gebildeten Geistlichen Vertrauensrates, in dessen Geschäftsstelle Schwarzhaupt auf Präsident Werners Vor22

V g l . GESETZBLATT DER D E K 1944, S. 38.

23 Vgl. dazu HEINZ BRUNOTTE: Der kirchenpolitische Kurs der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei von 1937 bis 1945. In: DERS.: Bekenntnis und Kirchenverfassung. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte (AKZG. B 3). Göttingen 1977, S. 1-54 (S. 1). 24 Mein Leben (Aran. 10), S. 5. 25 Lebensbericht (Anm. 1), S. 248. 26 EBD., S. 249. 27 Centraiausschuß für die Innere Mission an E. Schwarzhaupt. 28.1.1939 (Kollektenfrage): BA KOBLENZ, N L 177, N r . 6 (82).

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schlag berufen worden war 28 , gegenüber den Werkzeugen des NS-Kirchenministeriums, wie z.B. den seit 1935 eingerichteten Finanzabteilungen, zu bewahren. So war Schwarzhaupt 1942 etwa an der Erarbeitung und Formulierung einer Stellungnahme beteiligt, die sich gegen das zentrale Kontrollrecht der Finanzabteilung bei der Kirchenkanzlei unter der kommissarischen Leitung Georg Cölles wandte 29 . Schwarzhaupt war, wie sie selbst berichtete und wie es Heinz Brunotte in seinem Rechenschaftsbericht vom Mai 1945 bestätigte, vor allem darin erfolgreich, Freistellungen vom Arbeitseinsatz in kriegswichtigen Betrieben für Gemeindehelferinnen, Pastorenfrauen und Vikarinnen beim Reichsarbeitsministerium zu erwirken. Außerdem kam sie nicht nur in engeren Kontakt mit dem Centraiausschuß für die Innere Mission, sondern auch mit den freien evangelischen Verbänden - der Reichsfrauenhilfe und dem Burckhardthaus - , deren Existenz seit 1942/43 auf Betreiben des Kirchenministeriums auf dem Spiel stand. Brunotte und Schwarzhaupt waren es, die die Verhandlungen mit den Verbänden führten; es ging beiden Seiten darum, eine Form zu finden, die nach außen wie eine Angliederung an die Kirche aussah, nach innen den Verbänden aber die nötige Freiheit für ihre Arbeit ließ. Brunotte zufolge entwickelte sich damals ein wachsendes Vertrauensverhältnis nicht nur zwischen diesen Verbänden, sondern auch zu der Referentin und dem Referenten der Kirchenkanzlei 30 . Zwar konnte Schwarzhaupt sich trotz dieser zweifellos eingeschränkten Möglichkeiten für gefährdete Christen und Christinnen einsetzen, aber sie schwieg offenbar zu vielen problematischen Maßnahmen, für die ihre Vorgesetzten verantwortlich zeichneten. Als Beispiel sei die Verordnung des Stellvertretenden Leiters der Kirchenkanzlei Günther Fürle vom 22. Dezember 1941 erwähnt, die die Gemeinden anhielt, "getaufte Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinden" fernzuhalten. 31 In ihrem Lebensbericht jedenfalls ging Schwarzhaupt auf diese oder andere Verlautbarungen ihrer Dienststelle nicht ein. Inwiefern sie selbst daran beteiligt war, diese Verordnungen auf den Weg zu bringen, oder ob sie Disziplinarmaßnahmen gegen Pfarrerinnen und Pfarrer zu bearbeiten hatte, die gegen diese Verordnung verstoßen hatten, auch darüber schweigt Elisabeth Schwarzhaupt in ihrem Lebensbericht. Sie vermied es auch, sich an ihre Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Parteiorganisationen zu erinnern: Sie war zwar nicht

28 Vgl. KJ 1933-1944, 2. Aufl. Gütersloh 1976, S. 452f. 29 BA KOBLENZ, N L 177, Nr. 6 (83): Entwurf zum Sammlungswesen, o.D.; Nr. 6 (85); Nr. 6 (86). 30

V g l . H . BRUNOTTE, K u r s ( A n m . 23), S. 49.

31 KJ 1933-1944, 2. Aufl. Gütersloh 1976, S. 461f.

Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986)

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in die NSDAP eingetreten, gehörte aber dem NS-Rechtswahrerbund, der NS-Volkswohlfahrt, dem NS-Frauenwerk sowie dem Reichsluftschutzbund an 32 . Wiegt man die Chancen und Gefährdungen, die Vor- und Nachteile, die die Arbeit in der Kirchenkanzlei für Schwarzhaupt mit sich brachten, gegeneinander auf, so verdient ein Aspekt besondere Beachtung. Als Juristin hatte Schwarzhaupt eine Position inne, die nur wenige Frauen im "Dritten Reich" erreichen konnten. Als Oberkonsistorialrätin war sie in der Kirchenkanzlei die einzige Frau in dieser Stellung. In der prekären, durch Arbeitskräftemangel gekennzeichneten Situation der Kriegszeit wurde sie ihren Kollegen weitgehend gleichgestellt, vor allem, als die Kirchenkanzlei im Frühjahr 1944 wegen mehrfacher Bombenschäden nach Stolberg in den Harz verlegt wurde. Jetzt kam es auf jede Arbeitskraft an. Männer und Frauen arbeiteten an Sachaufgaben selbstverständlich zusammen, und niemand kam auf den Gedanken, "die dumme Frage" zu stellen, "was sagen Sie als Frau dazu?" In der Kriegszeit wenigstens hatte Schwarzhaupt das, was sie als alte Frau immer noch als Fernziel formulierte, einmal am eigenen Leibe erfahren. Es scheint, als habe Elisabeth Schwarzhaupt das Jahr 1945 nicht als eine Zäsur empfunden, die zu einer radikalen Neuorientierung im kirchlichen Bereich herausforderte. Was die evangelische Kirche anbelangte, war Schwarzhaupt davon überzeugt, daß in der Kirchenkanzlei, die sie zusammen mit ihren Kollegen Brunotte und Gisevius über das "Dritte Reich" hinübergerettet hatte, der Kern der neuen Kirche liegen sollte33. Aus diesem Grunde sah sie in dem Anliegen Martin Niemöllers, beim Neuaufbau an die Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem anzuknüpfen, nur Anlaß zu tiefen Meinungsverschiedenheiten, die es zu überwinden galt. Niemöller, für den die Bekennende Kirche seit 1934 die alleinige rechtmäßige Vertreterin der DEK war, hatte am 18. Juli 1945 rigoros die Abwicklung aller Amtsstellen in der Kirche, die aus der Nazizeit stammten, gefordert und dabei explizit die Kirchenkanzlei, die DEK und deren Bischöfe genannt. In Brunotte sah er deshalb einen Gegner 34 . Dieser hatte sofort nach Kriegsende die Leitung der Kirchenkanzlei übernommen und bei seinen eigenen Vorschlägen zu einer Neuordnung der Kirche an die Verfassung der DEK von 1933 angeknüpft, ohne das Dahlemer Notrecht in seine Uberle-

32 Vgl. Schreiben Präs. Werners an den Reichskirchenminister vom 6.1.1939 (Anm. 19). 33 Lebensbericht (Anm. 1), S. 251. 34

V g l . G E R H A R D BESIER/HARTMUT LUDWIG/JÖRG THIERFELDER/RALF TYRA ( H g . ) :

Kirche

nach der Kapitulation. Das Jahr 1945 - eine Dokumentation. Bd. 2: Auf dem Weg nach Treysa. Stuttgart u.a. 1990, S. 11.

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gungen miteinzubeziehen. Zusammen mit Schwarzhaupt hatte sich Brunotte außerdem sofort daran gemacht, nach Aktenlage Denkschriften über die Arbeit der DEK während des "Dritten Reiches" zu deren Rechtfertigung anzufertigen. Schwarzhaupt hatte die Arbeit über die "Inanspruchnahme kirchlichen Besitzes und zur Verfügungstellung staatlichen Raumes für kirchliche Zwecke in den Jahren 1938-1945" 35 übernommen und überprüfte die Kirchengesetze der DEK aus den vierziger Jahren auf eventuelle nationalsozialistische Inhalte hin. Beide gingen davon aus, daß mit den alten Gesetzen nach ihrer Reinigung von NS-Gedankengut weitergearbeitet werden konnte. Anders als Brunotte blieb Elisabeth Schwarzhaupt nach 1945 Referentin der neuen Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD); sie mußte sich nun aber mit Hans Asmussen auseinandersetzen, der als Präsident der nach Schwäbisch Gemünd verlegten Kirchenkanzlei Schwarzhaupts Vorgesetzter wurde36. Aufgrund seiner Erfahrungen mit den Deutschen Christen in der Amtskirche gehörte auch Asmussen als Mitglied der Bekennenden Kirche zu den unerbittlichen Gegnern Brunottes (der seinerseits ebenfalls der Bekennenden Kirche nahestand). Obwohl Schwarzhaupt mit der Bekennenden Kirche sympathisiert und während der Kriegszeit auch Werke Karl Barths und Rudolf Bultmanns gelesen hatte, war sie - wegen ihres Amtes - kein aktives Mitglied der Bekennenden Gemeinde gewesen. Daß sie als Frau dennoch unter Asmussen weiterbeschäftigt wurde, mag darauf hindeuten, daß ihre neuen Vorgesetzten auf ihre Sachkompetenz nicht verzichten wollten und von ihrer Integrität während der NS-Zeit überzeugt waren. Aber gerade deshalb überrascht, daß Schwarzhaupt in ihrem Lebensbericht mit keinem Wort auf die NS-Verbrechen, die auch die kirchlichen Verbände getroffen hatten und in die sie auf tragische Weise verstrickt waren, einging. Hinter Schwarzhaupts Schweigen könnte sowohl die Dankbarkeit dafür, daß sie im "Dritten Reich" ihren Beruf hatte ausüben können, als auch ihre Bemühung um die Kontinuität der Kirchenbürokratie in den Jahren des Umbruches nach 1945 gestanden haben. Wenn der Versuch, das eigene Handeln zu rechtfertigen, bei vielen die Bereitschaft zum Neubeginn in der Kirche hemmte, so besaß Elisabeth Schwarzhaupt jedoch diese Bereitschaft, wenn auch in einem anderen Bereich. Als sie 1947 im Kirchlichen Außenamt unter Niemöller ein juristisches Referat übernahm und an den Versammlungen des Weltkirchenrates in Amsterdam (1948) und Evanston (1952) teilnahm, interessierte sie sich vor 35

B A KOBLENZ, N L 177, N r . 5.

36 Lebensbericht (Anm. 1), S. 252.

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allem für die Fragen der Frauen. Sie wurde Mitglied der 1948 gebildeten Kommission "Zusammenarbeit von Mann und Frau in Kirche und Gesellschaft". 1947 hatte sie bereits die ehrenamtliche Geschäftsführung der "Evangelischen Frauenarbeit" übernommen. In dieser Funktion war sie - als Voraussetzung für ihre ökumenische Arbeit - mit verschiedenen deutschen Frauenverbänden in Berührung gekommen und hatte in deren gemeinsamen Rechtsausschuß an Stellungnahmen zu allen Reformgesetzen die Frauen betrafen, mitgearbeitet 37 . An ein parteipolitisches Engagement dachte Schwarzhaupt in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht, auch dann nicht, als sie zwei Mitbegründerinnen der Frankfurter CDU 3 8 1949 zur Kandidatur für den Bundestag auf einem sicheren Listenplatz aufforderten. Die Kirchenbeamtin hegte - abgesehen davon, daß sie damals eher zur FDP tendierte - Bedenken gegen eine Partei, die sich christlich nannte. Solche grundsätzlichen Einwände hatte der Schweizer Theologe Karl Barth bereits im Herbst 1945 auf einer Vortragsreise durch deutsche Großstädte geltend gemacht 39 , und es ist möglich, daß Schwarzhaupt von ihm ihre Argumente bezog. 1952 gelang es jedoch dem Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers, der stellvertretender Bundesvorsitzende der CDU und Sprecher des protestantischen Flügels der Partei 40 war, Schwarzhaupts Bedenken zu zerstreuen 41 . Mit Ehlers, den sie von ihrer Arbeit im Verfassungsausschuß der EKD her kannte, vertrat sie die Auffassung, das Wort "christlich" könne lediglich auf die Union von Protestanten und Katholiken zielen, da es unmüglich sei, aus der Bergpredigt oder den zehn Geboten direkte Normen für eine christliche Politik abzuleiten. Kritische Einwände, die Partei diene als Sammelbecken antidemokratischer Kräfte, die Karl Barth z.B. im Blick auf Mitglieder der Bekennenden Kirche, die in die C D U eingetreten waren, vorgebracht hatte oder die Zentrumsvorsitzende Helene Wessel in Bezug auf ehemalige Nationalsozialisten, hinderten Schwarzhaupt nicht daran, in die Partei einzutreten.

37 EBD., S. 255. 38 EBD., S. 254. Sie nennt "Frau Dr. Schiffler und Frau Rhabanus". 39 KARL BARTH: Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960. Hg. von Karl Kupisch, Berlin 1964, S. 98-100. Vgl. DERS.: Christengemeinde und Bürgergemeinde. Stuttgart 1946. 40 Vgl. GERHARD BESIER: Hermann Ehlers. Ein evangelischer CDU-Politiker zur Frage der deutschen Einheit. In: Wolfgang Huber (Hg.): Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland. München 1990, S. 93-123. 41 Mein Leben (Anm. 10), S. 7.

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Im Bundestag, dem sie als Fraktionsmitglied der C D U von 1953 bis 1969 angehörte, arbeitete sie im Rechtsausschuß mit. Von ihren männlichen Kollegen wurden ihr bald alle die Reform des Familienrechtes betreffenden Fragen übertragen 42 . Sie bemühte sich, den Gleichberechtigungsgrundsatz des Grundgesetzes umzusetzen. In der Frage des Letztentscheidungsrechtes des Ehemanns in der Erziehung stellte sich Schwarzhaupt mit ihrem Plädoyer für die Gleichberechtigung und ihrem Argument, der Staat könne die Willensbildung innerhalb der Familie nicht durch ein Gesetz regeln, gegen ihre Parteikollegin Helene Weber 43 . Diese befürwortete als Katholikin das Letztentscheidungsrecht des Vaters und vertrat damit ein traditionell katholischpatriarchalisches Familienbild. Schwarzhaupt dagegen knüpfte in ihrer Argumentation an ihre durch die Frauenbewegung geprägten Erfahrungen in der Frankfurter Rechtsschutzstelle, den protestantischen Frauenverbänden sowie der Ökumene an. Es gelang ihr, an ihrem dort gewonnenen, unabhängigen Standpunkt festzuhalten, auch gegen ihre katholischen Fraktionskolleginnen. In der Debatte um den Letztentscheid im Bundestag am 12. Februar 1954 konnte sie sich freilich nicht gegen ihre Kolleginnen, die Fraktion und den dahinterstehenden katholischen Klerus durchsetzen. Helene Weber jedoch ließ sich durch ihren gegensätzlichen Standpunkt nicht daran hindern, 1961 bei Bundeskanzler Konrad Adenauer ein Ministerium zu reklamieren, das von einer Frau besetzt werden sollte44. Sie schlug Elisabeth Schwarzhaupt vor und setzte sich zusammen mit ihren Fraktionskolleginnen hartnäckig für die Protestantin ein. Für Schwarzhaupt wurde schließlich ein zusätzliches CDU-Fachministerium - das Gesundheitsministerium - geschaffen. Ein Ministerium für Frauenfragen war 1961 dagegen im Kabinett der kleinen Koalition noch nicht durchzusetzen. Doch während die Politikerin als Abgeordnete vor allem mit Frauenfragen befaßt war, so wurde sie als Ministerin (1961-1966) gar zu einer "Klagemauer für Frauen" 45 . Ihrem Verantwortungsbereich im Ressort Gesundheit entsprach diese Aufgabe nur zu einem kleinen Teil, ebensowenig wie ihrer Ausbildung als Handelsrechtlerin und ihrer praktischen Erfahrung als Kirchenrechtlerin. Aber der Umstand, daß in den 50er und 60er Jahren die Reformgesetze nach Art. 3,2 Grundgesetz verabschiedet wurden, bewirkten, daß Schwarzhaupt, die hier andererseits auch ihre Aufgabe erkannte, verstärkt auf ihre Berufserfahrungen in der Rechtsschutzstelle und den Frauenverbänden zurückgreifen mußte. Allerdings widersprach eine solch einsei42 Lebensbericht (Anm. 1), S. 261. 43 EBD., S. 262. 44

B A KOBLENZ, N L 177, N r . 19 ( A k t e n v e r m e r k v o m 18.10. 1961).

45 Lebensbericht (Anm. 1), S. 267.

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tige Ressortbildung Schwarzhaupts Politikverständnis ebenso wie ihrer Auffassung von der Zusammenarbeit von Männern und Frauen in der Politik, und sie gestand sich selbstkritisch ein, daß ihre politische Begrenzung nicht zuletzt dem Vorurteil ihrer Kollegen entsprang, Frauen seien zuallerst mit Familienfragen zu beschäftigen. Hinter Schwarzhaupts beruflichem und ehrenamtlichem Engagement für die Verwirklichung der Gleichberechtigung standen die aufklärerischen Ideen der bürgerlichen Frauenbewegung und ihre Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Frau und Mann. Politik war für sie weder Männer- noch Frauensache, sondern eine Aufgabe, die beiden Geschlechtern "als Bürgern unseres Staates und als Christen gemeinsam" gestellt war. Schwarzhaupt dachte dabei aber nicht an eine bloße Angleichung der Standpunkte der Frauen an die der Männer. Es ging ihr auch nicht in erster Linie um den ungehinderten Zugang von Frauen zu politischen Spitzenpositionen und um die gleiche Beteiligung an der Macht. Die Zusammenarbeit von Männern und Frauen in der Politik sollte ihrer Ansicht nach sicherstellen, daß die besonderen Erfahrungen der Frauen und ihre Beurteilungsweisen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen fruchtbar gemacht werden konnten 46 . Daß Frauen andere Erfahrungen als Männer machten, vor allem aufgrund der Tatsache, daß sie in ihrer aktivsten und bildungsfähigsten Lebenszeit an ihre Familien und ihre Kinder gebunden waren, davon war die unverheiratete Politikerin überzeugt. Hier sah sie aber auch einen wichtigen Grund dafür, daß nur wenige Frauen leitende Stellen einnahmen. Ohne die traditionelle Rollenverteilung prinzipiell in Frage zu stellen, kämpfte Schwarzhaupt deshalb gegen alle Hindernisse, die einer politischen Partizipation von Frauen im Wege stand. Ihre Ansichten zusammenfassend schrieb Elisabeth Schwarzhaupt 1964: "Erst Mann und Frau gemeinsam sind der Mensch. Beide müssen dazu beitragen, daß in unserem Staat eine gerechte und menschliche Ordnung geschaffen wird." 47 Am Ende ihrer Amtszeit als Ministerin erfuhr sie schließlich am eigenen Leibe, daß es vielen ihrer Fraktionskollegen nicht um ihre Ziele der Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Gleichberechtigung ging; sie kämpften vielmehr um "die reine Macht und jedes Mittel war ihnen dazu recht". Müde geworden, bat sie 1966 Bundeskanzler Erhard um ihren Abschied. Eines jedoch wollte sie auch künftig gesichert wissen: Auf alle Fälle sollte wieder eine Frau ins Kabinett berufen werden 48 . Bis 1969 blieb 46 BA KOBLENZ, N L 177, Nr. 38 (E. Schwarzhaupt: Politik - ist das Männersache?). 47

EBD.

48 BA KOBLENZ, N L 177, Nr. 23 (E. Schwarzhaupt an E. Brückeischen. 17.10.1966).

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sie noch als Abgeordnete für die C D U im Bundestag. Sie war Mitglied des Deutschen Evangelischen Frauenbundes und übernahm weitere ehrenamtliche Tätigkeiten: den Vorsitz des von Agnes von Zahn-Harnack und MarieElisabeth Lüders gegründeten Deutschen Akademikerinnenbundes und den Vorsitz des deutschen Frauenrates, einem Zusammenschluß von über dreißig Frauenverbänden. Elisabeth Schwarzhaupt starb am 29. Oktober 1986 in Frankfurt am Main. Elisabeth Schwarzhaupts Bedeutung lag sicherlich nicht nur in ihrem Engagement für die Rechte der Frauen oder in ihrem vorausschauenden Bemühungen für die Reinhaltung von Wasser und Luft als Gesundheitsministerin. Mich beeindruckt besonders ihre "Bürgernähe"; sie betrachtete die Bürger und Bürgerinnen, die sich in unzähligen Briefen immer wieder an ihre Bundestagsabgeordnete wandten, nicht in erster Linie als Wählerinnen und Wähler, deren Stimme sie sich sichern wollte. Sie nahm ihre Sorgen selbstlos ernst und bemühte sich, sich für die Ratsuchenden einzusetzen. Dies entsprach ihrer Auffassung von Politik als einem Instrument zur Schaffung einer menschlicheren Gesellschaft. Eine solche Vision befähigte sie auch, neuartige Themen zu bedenken - so dachte sie bereits 1980 über das heute vieldiskutierte Problem der Gleichheit und Differenz der Geschlechter nach. Als Frau in Männergremien, als Protestantin in einer überwiegend katholischen Partei, als Liberale in der CDU, als jüngere Politikerin unter weitaus älteren und erfahreneren Kolleginnen bewahrte sie sich ihre eigene unabhängige Meinung und den ihr eigenen Stil. Daß ihr dafür von manchen wohlgesonnenen Männern das Etikett "weiblich" verliehen wurde, wird ihr nicht gefallen haben.

Hannelore Braun "IM N I E D E R D E U T S C H E N L U T H E R T U M IST EIN ENGERER ZUSAMMENSCHLUß NOTWENDIG" Kirchen auf dem Weg zur Einheit In den Zusammenhang des Einigungsprozesses der deutschen lutherischen Kirchen, genauer gesagt der Vorgeschichte der am 8. Juli 1948 in Eisenach gegründeten Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) wie auch der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, die am 1. Januar 1977 ins Leben trat, gehört u.a. der sogenannte "Lüneburger Pakt" vom 7. Oktober 1935. In der Uberlieferung wird damit der vereinbarte Text wie auch gelegentlich das ihn vereinbarende Gremium aus Bruderratsvertretern niederdeutscher Kirchen (Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Hamburg, Lübeck, Schleswig-Holstein, Mecklenburg) bezeichnet. Zur klaren Unterscheidung wird die Beratungsrunde im folgenden durchgängig "Lüneburger Konferenz" genannt1. Die Lüneburger Konferenz und ihr Abkommen haben für den Zusammenschluß des deutschen Luthertums keine nachhaltige Rolle gespielt, und der Pakt wird in der Literatur meistens nur als Episode erwähnt. Dennoch soll seine Entstehung kurz skizziert werden, weil die wenig spektakuläre Rolle der angesprochenen lutherischen Kirchen zwischen 1934 und 1936 in engem Zusammenhang mit den überregionalen Anstrengungen maßgeblicher Lutheraner im Deutschen Reich gesehen werden muß, das lutherische Lager 1

Von den Zeitgenossen ist das Gremium im Lauf der Jahre wechselweise auch als: Lüneburger Arbeitskreis, Lüneburger Treffen, Lüneburger Besprechung, Lüneburger Verhandlung oder auch nur Zusammenkunft der norddeutschen lutherischen Kirchen bezeichnet worden und in den Akten dementsprechend so unterschiedlich überliefert Vgl. dazu beispielsweise die A k t e n aus d e m LANDESKIRCHLICHEN ARCHIV SCHWEREM (im folgenden: L K A SCHWERIN):

Konvent der norddeutschen Lutherischen Bruderräte 1934-1940. Lüneburger Verhandlungen 1936-1938 (zitiert: Konvent) und Handakten von Propst Koch, Güstrow, über die Lüneburger Zusammenkünfte, 1936-1938 (zitiert: HA Koch). Ich bin Herrn Kirchenarchivrat Erhard Piersig, dem Leiter des Archivs der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, zu großem Dank verpflichtet, daß er mir dieses Material für einige Wochen überlassen hat. In Ergänzung dazu konnte ich Akten benützen, bei deren Ermittlung freundlicherweise auch die Landeskirchlichen Archive in Braunschweig, Hannover und Kiel sehr geholfen haben.

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in feste kirchliche Formen zu überführen. Das Hauptaugenmerk gilt dabei ausdrücklich dem (nicht-deutschchristlichen) Vertretungskörper der niederdeutschen 2 Kirchen als Gruppe 3 innerhalb dieses lutherischen Konsolidierungsprozesses. Die Einzelheiten der hinreichend bekannten Entwicklung im kirchlichen Raum, die temporäre Ohnmacht gegenüber so nicht gekannten staatlichen Eingriffen und dem strukturverändernden Einfluß der Deutschen Christen sowie der wachsende innerkirchliche Widerstand gegen häretische Kirchenregimente bleiben dabei soweit wie möglich ausgeblendet; aber auch die lutherische, speziell preußische Unionsproblematik 4 wird nicht ausgebreitet. Auf die innerkirchlichen Vorgänge der im Lüneburger Pakt verbundenen Landeskirchen wird nur dann eingegangen, wenn es um des Zusammenhanges willen unbedingt nötig ist; dies umso mehr, als für nahezu alle diese Kirchen während der Zeit des sog. Kirchenkampfes mehr oder minder zureichende ausführliche Darstellungen vorliegen, in denen freilich, mit einer Ausnahme 5 die Lüneburger Konferenz kaum erwähnt ist. 2

Die Zeitgenossen verwenden in der herangezogenen Überlieferung anstelle der verschieden auslegbaren Bezeichnung "niederdeutsch" wechselweise auch niedersächsisch, nordwestdeutsch, oder norddeutsch.

3

Das Interesse an der Beschäftigung mit dieser Gruppe erwuchs während der editorischen Vorbereitung der Meiser-Niederschriften; vgl. hierzu: HANNELORE BRAUN/CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser. Bd. 1: Sommer 1933 bis Sommer 1935. Bd. 2: Herbst 1935 bis Frühjahr 1937 (AKZG. A 1 und A 4). Göttingen 1985 und 1993.

4

Vgl. hierzu allgemein den Sammelband: DAS DEUTSCHE LUTHERTUM UND DIE UNIONSPROBLEMATK IM 19. JAHRHUNDERT. Hg. von Wolf-Dieter Hauschild. (Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten. 13). Gütersloh 1991. Zur Beurteilung der Unionslutheraner (v.a. in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union) im lutherischen Lager der 30iger Jahre vgl. für viele andere Stimmen etwa THOMAS BREIT: "Für die in der Verwaltungsunion mit reformierten Gemeinden lebenden Lutheraner bedeutet der Grundsatz 'lutherisches Kirchenregiment für lutherischen Gemeinden' die Notwendigkeit, über eine sachgemäße Auflösung des bisherigen Unionsverbandes nachzudenken und in verstärktem Maße Anschluß an die ordnungsgemäß verfaßten lutherischen Bekenntniskirchen zu suchen (Die Lage des deutschen Luthertums in Deutschland. In: AELKZ 68, 1935, Sp. 1236-1242, hier Sp. 1239).

5

Vgl. hierzu EBERHARD KLÜGEL: Die lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933-1945. 2 Bde. Berlin und Hamburg 1964/1965, hier Bd. 1, S. 264ff. - Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien noch folgende landeskirchliche Darstellungen aufgeführt: NKLOT BESTE: Der Kirchenkampf in Mecklenburg von 1933 bis 1945. Geschichte - Dokumente Erinnerungen. Berlin (Ost) und Göttingen 1975; HERMANN TIMM: Ringen um die Erneuerung der Kirche im Kirchenkampf 1933-1939 in Mecklenburg. Aus den Lebenserinnerungen eines Beteiligten. 4 Bde. München 1984-1991 (Selbstverlag; JOHANN BLELFELDT: Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein (AGK. E 1). Göttingen 1964; KARL FRIEDRICH REIMERS: Lübeck im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Göttingen 1963; HEINRICH WILHELMI: Die Hamburger Kirche in der nationalsozialistischen Zeit 1933-1945. Göttingen 1968

Kirchen auf dem Weg zur Einheit

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Der bayerische Oberkirchenrat und nachmalige Vorsitzende des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands Thomas Breit hat Ende 1935 in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung das deutsche Luthertum beschrieben und dabei in verschiedene Fraktionen eingeteilt6. Davon ausgehend, daß die theologische Situation des deutschen Luthertums "von spürbaren Spannungen und Gegensätzen" beherrscht sei, und es eine "einheitliche Theologie derer, die sich in Deutschland als Lutheraner empfinden", nicht gebe, nannte er "drei bzw. vier Schichten" [sie!]: a. die von Karl Barth beinflußten Theologen; b. die im engeren Sinne konfessionelle d.h. "Erlanger" Theologie; c. das südwestliche, am württembergischen und schweizerischen Pietismus orientierte Luthertum und schließlich d. die Gruppe der Deutschen Christen 7 . Die aktuelle grundsätzliche Neubesinnung des deutschen Luthertums könne nur von dem richtig verstanden werden, der sich darüber klar sei, "daß es sich hier nicht um eine durch den kirchenpolitischen Kampf verursachte Bewegung, auch nicht nur um eine Frage der Kirchenordnung und Kirchengestaltung handelt, sondern um eine im letzten Grunde theologische Angelegenheit. So stark selbstverständlich die Fragen der Theologie, der Kirchenordnung und der Kirchenpolitik dauernd ineinandergreifen, so deutlich ist doch, daß der Schlüssel für die das deutsche Luthertum beschäftigenden Probleme das Verständnis der theologischen Situation im lutherischen Deutschland ist" 8 . Es soll nicht bestritten werden, daß die Klärung theologischer Positionen in der kirchlichen Aufbruchssituation seit 1933 einen ganz neuen Stellenwert bekam. Dennoch vermittelt sich gerade bei der Betrachtung der niederdeutschen kirchlichen Wege der Eindruck, Breit habe zu einseitig geurteilt, wenn er, landeskirchliche Traditionen und überkommene Strukturen, auch Personenkonstellationen weithin außer acht lassend, der Theologie so eindeutig den Vorrang vor der Kirchenpolitik gab. Unter dem Druck des natio-

6 7

(dort auf S. 215 oben eine Verwechslung des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, des sog. Lutherrats, mit dem sog. Lutherischen Pakt der Landeskirchen Hannover, Bayern und Württemberg vom 12. Februar 1935); REINHARD RLTTNER: Intakte oder zerstörte Kirche - Oldenburg in der Zeit des Reichskirchenauschusses 1935-1937. In: Beiträge zur Oldenburgischen Kirchengeschichte. In Zusammenarbeit mit Inge Mager und Rolf Schäfer hg. von Reinhard Rittner. Oldenburg 1993, S. 159-183 und LXVÜ-LXXXI. Hilfreiche materialreiche Abrisse über die Entwicklung in allen Landeskirchen finden sich bei KURT MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. 3 Bde. Halle/Saale und Göttingen 1976-1984. T. BREIT, Lage (ANM. 4). BREIT formuliert zu den Deutschen Christen: "[...] die grotesken Versuche, lutherische Lehrelemente zur Befestigung des deutschchristlichen Synkretismus zu verwenden" (EBD., S p . 1237).

8

EBD., Sp. 1236.

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nalsozialistischen Regimes brachen innerhalb kirchlicher Gruppen Kämpfe auf, kam es zu parteiischen Vorentscheidungen, noch bevor der geregelte theologischen Diskurs, wie Breit ihn vor Augen hatte, einsetzte. Am 3. Oktober 1935 lud der hannoversche Landesbischof August Marahrens die "lutherischen Bruderräte Niederdeutschlands" zu einem Treffen am 7. Oktober 1935 in das Gemeindehaus an der Reeperbahn in Lüneburg ein9 und schrieb: "Von den anwesenden Vorsitzenden der lutherischen Bruderräte Niedersachsens [sie!] bin ich bei Gelegenheit einer anderen Zusammmenkunft gebeten worden, zum Zweck einer wesentlichen Förderung des Luthertums in Niedersachsen [sie!] und zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen die niederdeutschen [sie!] Bruderräte zusammenzurufen. Dabei wurde von den beteiligten Vorsitzenden die Bitte ausgesprochen, daß an dieser Zusammenkunft sämtliche Mitglieder der Bruderräte beteiligt sein möchten." 10 Die Erwähnung einer "anderen Zusammenkunft" hat letztlich dazu angeregt, den Hintergrund der Aussprache in Lüneburg etwas auszuleuchten. Die angesprochenen niederdeutschen Kirchen lebten aus naheliegenden (geographischen, sprachlichen und konfessionellen) Gründen seit langem in dem Bewußtsein, eine Gruppe von Kirchen zu bilden, die ihr unterschiedliches je eigenes Luthertum wenig hinterfragten. Auf der Basis eines solchen Zusammengehörigkeitsgefühls hatten sie nach dem Fortfall des Summepiskopats in der Weimarer Republik damit begonnen, in offiziellen institutionalisierten Verhandlungen zum Zwecke einer Annäherung bzw. eines Zusammenschlusses Fragen des Kirchenrechts und der Kirchenordnung zu diskutieren. Ihre Kirchenleitungen bzw. Beauftragte der landeskirchlichen Verwaltungsbehörden pflegten ohne übermäßige Eile und mit sehr unterschiedlichem Elan (in einer "Bischofskonferenz") über die Voraussetzungen dafür zu beraten, wobei sie zumindestens jene doppelte Zielsetzung vor Augen hatten, die die deutschen Lutheraner seit dem 19. Jahrhundert beschäftigte: Sie wollten in der kirchenpolitischen Landschaft eine bessere Vertretung des niederdeutschen Kirchen und (damit) zugleich die Stärkung des Luthertums überhaupt erreichen11. Tonangebend bei allen diesen Einigungsbemühungen war die hannoversche Kirche und hier vor allem ihr

9

Dieser Versammlungsort wurde beibehalten, bis nach Kriegsausbruch aus verkehrstechnischen Gründen öfter in Uelzen getagt werden mußte; vgl. das entsprechende Material (LKA SCHWERIN, Konvent). 10 Einladung (EBD., H A Koch). 11 Die in diesem Zusammenhang auch diskutierte Frage der Kontakte mit dem Weltluthertum, insbesondere dem 1923 gegründeten Lutherischen Weltkonvent, bleibt hier außer Betracht.

Kirchen auf dem Weg zur Einheit

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Geistlicher Vizepräsident Paul Fleisch12, der bis Frühjahr 1933 den regionalen Prozess voranzutreiben suchte und sich auch in den Jahren danach unermüdlich in den Dienst einer künftigen deutschen lutherischen Kirche stellte. Eine Führungsrolle ist den Hannoveranern, wenn auch mit teilweise anderen Repräsentanten, danach während des ganzen sog. Kirchenkampfes erhalten geblieben. Es ist in der Rückschau auffallend, welch hohen Stellenwert die Reichsreform, jedenfalls gegen Ende der Republik, in den genannten kirchlichen Beratungen einnahm, über die in Gremien des Deutschen Reiches und der Länder jahrelang mit letztlich negativem Ergebnis verhandelt wurde. Zur Umstrukturierung ihres Kirchenraumes schien den damit befaßten niederdeutschen Lutheranern eine Neueinteilung der politischen Landkarte Norddeutschlands unumgänglich, und das Thema "Reichsreform" war auch später während des "Dritten Reiches" nie ganz vom Tisch13. Die Verfahrensfragen, d.h. Überlegungen, auf welche Weise die kirchlichen Forderungen am wirksamsten und angemessensten in den politischen Beratungsprozess einzubringen seien, absorbierten die niederdeutschen Gesprächspartner auf ihrer Sitzung vom 5. April 1932 so sehr, daß Landesbischof Marahrens sich lt. Protokoll am Ende veranlaßt sah, "eine intensivere Pflege der begonnenen

12 Fleischs Nachlaß ist nicht erhalten geblieben (Auskunft von Herm Archivdirektor i.K. Dr. Hans Otte, Hannover). Von seinen Publikationen, die nach wie vor eine wichtige Quelle für die Entwicklung des deutschen Luthertums bis zurück ins 19. Jahrhundert darstellen, sind für den erwähnten Zusammenhang zu nennen: PAUL FLEISCH: Das Werden der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und ihrer Verfassung. In: ZevKR 1, 1951, S. 15-53 und S. 404-418; Erlebte Kirchengeschichte. Erfahrungen in und mit der hannoverschen Landeskirche. Hannover 1952; Für Kirche und Bekenntnis. Geschichte der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz. Berlin 1956. 13 Vgl. hierzu etwa H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. 217 (Breit) und S. 222 (Beste) sowie die Leitsätze "Welche Aufgabe stellt die kleine Reichsreform [d.i. die Bildung von Groß-Hamburg, der Anschluß von Lübeck an Preußen und der Austausch von Gebietsteilen zwischen Preußen, Oldenburg und Mecklenburg im Jahr 1937] dem niederdeutschen Luthertum?", die der schleswig-holsteinische Pfarrer Johannes Tonnesen im Sommer 1937 der Lüneburger Konferenz zur Diskussion vorlegte. Es heißt darin: "Es stellt sich damit die Sachlage so, daß die kleine Reichsreform eine große Kirchenreform im Räume des niederdeutschen Luthertums zwangsläufig auslöst. Denn nur das niederdeutsche Luthertum als Ganzes kann die Kräfte frei machen [...]." Es wurde angeregt, "Festlegungen" über den Gemeindeaufbau, den Gottesdienst, die Agende und Liturgie, das Gesangbuch, die Ausund Fortbildung der Geistlichen, das Unterichtswesen, die Volksmission und die kirchliche Gemeindepresse" zu erarbeiten (LKA SCHWERIN, HA Koch; zur Behandlung des Themas vgl. dort auch die Niederschrift vom 30.6.1937 und die handschriftlich von Propst Koch ergänzte Tagesordnung vom 28.7.1937).

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Zusammenarbeit der niederdeutschen lutherischen Landeskirchen" anzumahnen14. Die Gruppe, die sich, etwas zögerlich, als "Föderation der niederdeutschen lutherischen Kirchen" verstand, wurde schließlich ohne nennenswerte positive Ergebnisse von den hier im einzelnen nicht dazustellenden rasanten politischen und kirchenpolitischen Veränderungen im Zusammenhang mit der sog. Machtergreifung der NSDAP überrollt. Sie konnte und wollte Ende März 1933 nicht einmal mehr den vorsichtig formulierten "Entwurf eines Statuts für die niederdeutsche Föderation" ratifizieren15. Der Intention, als kirchenpolitische Gruppe zu agieren, entsprach nicht die Entschlußkraft, dafür die Voraussetzungen zu schaffen - eine Beobachtung, die unter stark veränderten Konditionen auch für die folgenden Jahre gilt. Die gewohnten Beratungen brachen im Frühjahr 1933 ab, weil spätestens zu diesem Zeitpunkt ein neues Thema die kirchliche Öffentlichkeit beherrschte: die junge, den Nationalsozialisten eng verbundene Bewegung der Deutschen Christen hatte in einer im kirchlichen Milieu ungewöhnlich forschen Gangart die Diskussion über die Neuordnung der Kirche(n) bzw. die Schaffung einer "Reichskirche" auch in die Landeskirchen getragen. Es war unumgänglich, daß sich die Vertreter der "Föderation" auf ihrem letzten Treffen am 29. März 1933 in Braunschweig ebenfalls mit der zentralistischen, am Führerprinzip orientierten Variante einer Reichskirche befaßten. Am Ende wurde diese Reichskirche schließlich mit der Annahme der von Paul Fleisch verfaßten Thesen abgelehnt16, nach denen "eine Ausgestaltung des föderativen Zusammenarbeitens" bei möglichstem Erhalt der Landeskirchen, "soweit sie noch ein wirkliches Eigenleben haben", und die "Herstellung eines Ringes der deutschen lutherischen Landeskirchen innerhalb des deutschen evangelischen Kirchenbundes"17 anzustreben war. Das 14 Vgl. Niederschrift der Verhandlungen der niederdeutschen evangelisch-lutherischen Landeskirchen vom 5.4.1932 (LKA KIEL, Nachlaß Knolle K 12). 15 Danach hätte der Zusammenschluß lediglich zu einem Bund "unter Vorbehalt der Selbständigkeit der einzelnen Kirchen in Verfassung und Verwaltung" führen sollen. Abdruck: P. FLEISCH, Werden (Anm. 12), S. 405; vgl. hierzu E. KLOGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 264: "Auf die Zersplitterung [des lutherischen Niederdeutschlands] war nicht zum wenigsten die geringe Widerstandskraft eines Teiles der lutherischen Kirchengebiete gegen den Vormarsch der D C zurückzuführen." 16 In diesen Thesen wurde die Reichskirche verworfen, "weil weite lutherische Kreise nicht mitmachen würden" und "weil das Luthertum [...] entscheidendes Gewicht legt [...] auf die pura doctrina und auf ein über die Reinheit der publica doctrina wachsendes Kirchenregiment, während eine evangelische Reichskirche mehrere doctrinae anerkennen muß"; Abdruck: P. FLEISCH, Werden (Anm. 12), S. 404-406; vgl. dazu auch den Kommentar von P. FLEISCH, Erlebte Kirchengeschichte (Anm. 12), S. 155. 17 P. FLEISCH, Werden (Anm. 12), S. 405.

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Papier drückt Ratlosigkeit aus, denn es enthält gegenüber früheren Äußerungen und Verlautbarungen keinerlei neue Elemente. Auch eine Initiative, dem Deutschen Evangelischen Kirchenbund, dem Dachorgan aller Landeskirchen, in letzter Stunde eigene "nordwestdeutsche" Lösungen vorzuschlagen, schlug fehl 18 . In dieser völlig offenen Situation dürften die Kirchen von Braunschweig, Schaumburg-Lippe, Oldenburg, Hannover, Schleswig-Holstein, Hamburg, Lübeck und den beiden Mecklenburg ihre Vertreter nur allzu gern am 14. Mai 1933 zu einem Treffen deutscher lutherischer Kirchen nach Würzburg entsandt haben, zu dem der kurz zuvor gewählte bayerische Landesbischof Hans Meiser spontan geladen hatte. Es gelang Meiser, dem Neuankömmling in der Runde der Kirchenführer, die versammelten Amtsbrüder davon zu überzeugen, daß hier und jetzt gehandelt werden müsse; er gewann sie für den Zusammenschluß der Kirchen zu einem "lutherischen Zweig innerhalb der werdenden Deutschen Evangelischen Kirche", der das lutherische Bekenntnis vertreten und aus konkretem Anlaß im Zusammenhang mit den Beratungen über die Reichskirchenverfassung einen lutherischen Reichsbischof fordern sollte19. Fleisch hatte entscheidenden Anteil an der Formulierung eines Textes, auf dessen Grundlage der lutherische Zweig sich ein sechsköpfiges Direktorium unter Vorsitz Meisers gab; für den niederdeutschen Raum gehörten ihm je ein hannoverscher und ein schleswig-holsteinischer Vertreter an20. Obwohl dieses Direktorium auf die Reichskirchenverhandlungen nicht den erhofften Einfluß ausüben konnte und nur bedingt Wirkungen erzielte, verhalf Meiser den versammelten Lutheranern aus allen Teilen des Deutschen Reiches auf dieser Veranstaltung zu einem ermutigenden Gruppenkonsens, an den sie sich in späteren Jahren wehmütig erinnerten21. Mit seiner Initiative hatte sich der Bayer Meiser in Abwesenheit des einflußreichen älteren hannoverschen Amtskollegen Marahrens, der in entscheidenden Wochen des Frühjahrs und Sommers 1933 in die Verfassungsverhandlungen in Berlin und Loccum eingebunden war, fast über Nacht in den Leitungskreis der lutherischen Kirchenführer hineinschieben können. Er genoß von da an Anerkennung und Achtung auch in den Kirchen des Nor18

Zu den Einzelheiten vgl. P. FLEISCH, Erlebte Kirchengeschichte (Anm. 12), S. 155ff.

19 Vgl. hierzu die "Niederschrift über die zu Würzburg abgehaltene Besprechung der Bischöfe der Evang.-Luth. Kirchen Deutschlands" (LKA NÜRNBERG, Personen X X X V I , Meiser 77; H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 1 [Anm. 3], S. XXVIff.). 20 21

Vgl. EBD. und P. FLEISCH, Kirchen (Anm. 12), S. 59ff. Vgl. dazu E. KLÜGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 259, der für die Zeit von 1935 an vom klaffenden Riß "in der Gemeinschaft des Würzburger Abkommens" spricht, und unten S. 178 Anm. 81.

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dens. Kurz darauf gelang es ihm, die 1927 von der - seit dem 19. Jahrhundert bestehenden - Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz (Lutherisches Einigungswerk) etablierte lutherische "Bischofskonferenz" zu aktivieren und damit Bischöfe und Kirchenpräsidenten in den Wochen vor der Entstehung der Reichskirche an einem quasi offiziellen lutherischen Tisch zu versammeln. Selbstverständlich beteiligten sich nun auch die niederdeutschen Repräsentanten je gesondert für ihre Kirchen an den ungewöhnlich dramatischen Beratungen dieses mehrmals im Sommer 1933 tagenden Gremiums, das freilich im fortgeschrittenen Jahr in eine deutschchristliche und eine nicht-deutschchristliche Gruppe zerfiel und sang- und klanglos in der Versenkung verschwand22. Zusammen mit allen anderen unterschrieben die niederdeutschen "Landeskirchenführer" am 11. Juli 1933 schließlich auch die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), nach der alle Landeskirchen territorial unangetastet blieben. Damit waren Fakten geschaffen, die der Durchführung älterer Pläne zu niederdeutscher Vereinigung und lutherischer Konsolidierung wenig günstig schienen; alle Forderungen nach wirksamer Zusammenfassung der Luthertümer resp. Kirchen bis hin zu einer "lutherischen Reichskirche"23, - die möglicherweise eine niederdeutsche Sonderregelung hätten überflüssig machen können, waren zunächst vom Tisch. Das hätte sich allerdings rasch ändern können, wenn die nach den vom Staat oktroyierten Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 bereits mehr oder minder deutschchristlich orientierten Kirchenleitungen in Kiel, Hamburg, Schwerin, Neuruppin, Wolfenbüttel, Oldenburg und Lübeck 24 dem Plan von Ministerialdirektor August Jäger, dem nachmaligen "Rechtswalter" des 22 Zu den von Meiser selbst dokumentierten sieben Sitzungen der "Bischofskonferenz" zwischen Juni und September 1933 vgl. H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 6ff„ 23f., 39, 55f„ 77f., 94ff., 102ff. Ab November 1933 trafen sich die nicht-deutschchristlichen lutherischen Kirchenführer separat. 23 Vgl.hierzu die Sitzungsniederschrift der Besprechung von Vertretern der lutherischen Bekenntnisgemeinschaft Nordwestdeutschlands in Lüneburg am 25.6.1934, gez. Duensing: "Es kommt zum Ausdruck, daß das Luthertum die Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland so sehen muß, daß die bisherige Dreiteilung lutherisch - reformiertuniert - aufhört - und daß eine lutherische Reichskirche herausgearbeitet wird" (LKA SCHWERIN, Konvent). 24 Die Ablösung der bisherigen Bischöfe Adolf Mordhorst und Eduard Völkel (Schleswig-Holstein), Simon Schöffel (Hamburg), Heinrich Rendtorff (Mecklenburg-Schwerin), Gerhard Tolzien (Mecklenburg-Strelitz), Alexander Bernewitz (Braunschweig), Kirchenpräsident Heinrich Tilemann (Oldenburg) und Hauptpastor und Senior Alfred Stülcken (Lübeck) durch die deutschchristlich orientierten Nachfolger Adalbert Paulsen, Franz Tügel, Walter Schultz, Wilhelm Beye (bzw. Helmuth Johnsen), Johannes Volkers und Erwin Balzer vollzog sich seit Spätsommer 1933 das Jahr 1934 hindurch.

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neuen Reichsbischofs Ludwig Müller, zugestimmt hätten, der im September 1933 das Thema der niederdeutschen Vereinigung noch einmal auf den Tisch legte und in einem Kraftakt die niedersächsische Großkirche unter einem einzigen Bischof errichten wollte 25 . Der einige Monate später unfreiwillig aus dem Amt scheidende hamburgische Bischof Simon Schöffel lehnte eine solche Lösung mit dem Argument ab, es sei für das "Luthertum von auschlaggebender Bedeutung", "daß wir mit einer großen Zahl von lutherischen Kirchenführern an der Gestaltung der Verhältnisse beteiligt sind" 26 . Die Bereinigung überkommener landeskirchlicher Strukturen war selbst dort nicht durchzusetzen, wo theoretisch die (stufenweise geplante) Reichskirche bejaht wurde27. Bereits im Vorfeld der erwähnten Kirchenwahlen, deren Vorbereitung in vielen Landeskirchen mit einer Scheidung der Evangelischen in deutschchristliche und nicht-deutschristliche Gruppierungen einhergegangen war, die sich allerdings unter dem Eindruck der sog. Sportpalastkundgebung der Glaubensbewegung Deutsche Christen im November 1933 stark veränderten 28 , hatte bei Theologen und Laien ein neues Bewußtsein eingesetzt: Es begann die Einsicht Platz zu greifen, daß die Entwicklung in den Kirchen nicht nur das lutherische Bekenntnis, sondern das Bekenntnis überhaupt gefährdete. Die Gründung des Pfarrernotbundes am 21. September 1933 führte, wie andernorts im Reich, auch in niederdeutschen Kirchen dazu, daß sich mit regionalen Varianten 29 Pfarrernotbundgruppen und, bis zum Sommer 1934 teils vor, teils nach der Barmer Bekenntnissynode vom 29. bis 31. Mai, Bekenntnisgemeinschaften bzw. Bruderräte zu bilden begannen30. Ihre Vertreter nahmen den Kontakt zur werdenden Bekennenden Kirche auf. Die einflußreiche Rolle, die der bereits am 15. Februar 1934 in den Ruhestand versetzte rührige Altonaer Pfarrer Hans Asmussen bei ihrem Aufbau auch in 25

Vgl.den Verfassungsentwurf und die "halbamtliche" Diskussion mit Deutschen Christen im Preußischen Kultusministerium am 7.9.1933: CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. I: Das Jahr 1933. München 1971, S. 128 und 201ff.

26

H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 99.

27

Vgl. hierzu etwa das wenig enthusiastische Votum Paulsens: "Der Staat ist in einer Bewegung zur Einheit. Es paßt zu dem Staat und seinen Leitern wenig, wenn die Kirchen in ihren kleinen Formationen bestehenbleiben"; das weitere lautet: "Es ist nicht daran gedacht, daß das [ - d i e Schaffung der Großkirche] zusammenhängen könnte mit einer Beseitigung der einzelnen Bischöfe" (EBD.).

28

Vgl. etwa J . BIELFELDT, Kirchenkampf (Anm. 5), S. 58.

29

In Schleswig-Holstein begründeten z.B. Pfarrernotbundmitglieder in der zweiten Oktoberhälfte 1933 eine "Not- und Arbeitsgemeinschaft schleswig-holsteinischer Pastoren" (vgl.EBD., S. 51f.).

30

Zu Einzelheiten vgl. die oben in Anm. 5 genannte Literatur.

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seiner engeren Heimatregion gespielt hat, soll hier wenigstens erwähnt werden. An der entscheidenden Besprechung des Arbeitsauschusses (des sog. Nürnberger Auschusses) zur Vorbereitung der ersten Bekenntnissynode in Barmen nahmen am 11. April 1934 aus dem niederdeutschen Raum als Gäste zumindest die Pfarrer Wolfgang Prehn (Schleswig-Holstein) und Hermann Timm (Mecklenburg), wahrscheinlich aber noch andere Vertreter teil31. Superintendent Johannes Bosse (Hannover) gehörte diesem Vorbereitungsausschuß als reguläres Mitglied an und wurde ggf.von Friedrich Duensing vertreten32. Die "Kundgebung der evangelischen Bekenntnisfront in Deutschland", die am 22. April 1934 in Ulm verlesen wurde, unterschrieben Asmussen und Duensing, außerdem Walter Spitta (Oldenburg), Hans Friedrich Koch (Mecklenburg), Kurt Dietrich Schmidt und Volkmar Herntrich (Schleswig-Holstein) und Brand (Lübeck)33. Auf die Bekenntnissynode von Barmen entsandten die bekennenden Gruppen aus den niederdeutschen Kirchen 16 Synodale (von insgesamt 138 Teilnehmern und etwa 300 Gästen)34. Ungefähr zeitgleich mit dieser ersten Organisationsphase der Bekennenden Kirche gliederte "Rechtswalter" August Jäger zwischen dem 9. Mai und 20. Juli 1934 die hier behandelten Kirchen in die Reichskirche ein35. Sie unterstanden damit offiziell dem Regiment des Reichsbischofs Ludwig Müller, das die Bekenntnisfront als bekenntniswidrig verurteilt hatte. Das Bedürfnis in den bekennenden Kreisen, zusammenzurücken und die Lage gemeinsam zu beraten, ist nach alledem durchaus verständlich. Am 20. Juni 1934, d.h. drei Wochen nach der Barmer Bekenntnissynode, lud Bosse namens der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft "zwecks engerer Zusammenarbeit der Bekenntnisgemeinschaften der lutherischen Kirchen im niedersächsischen Raum" zu einer vorbereitenden Besprechung am 25. Juni 1934 ein, die "in der Linie der Barmer Vereinbarung" liegen und "als Ziel die

31 CARSTEN NICOLAISEN: Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934. Neukirchen-Vluyn 1985, S. 16. 32

Vgl. H . B R A U N / C . NICOLAISEN, V e r a n t w o r t u n g 1 ( A n m . 3), S. 274.

33 Namen nach JOACHIM GAUGER (Hg.): Chronik der Kirchenwirren. Erster Teil. Elberfeld o.J. (1934), S. 181. 34 Nach GERHARD NIEMÖLLER (Hg.): Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evanglischen Kirche zu Bannen. II: Text - Dokumente - Berichte (AGK. 6). Göttingen 1959, S. 11-15; vgl. auch C. NICOLAISEN, Weg (Anm. 31), S. 47.- Für Lübeck, das offiziell keinen Vertreter entsandt hatte, nahm Pfarrer Wilhelm Jannasch als Gast teil. 35 Vgl. WILHELM NIEMÖLLER (Hg.): Die zweite Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Dahlem (AGK. 3). Göttingen 1958, S. 17 und ergänzend für Mecklenburg N. BESTE, Kirchenkampf (Anm. 5), S. 90.

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Stärkung unserer lutherischen Front in Niedersachsen" haben sollte36. Als "Vereinbarung" bezeichnete Bosse dabei ganz offensichtlich den zweiten Beschluß der Barmer Bekenntnissynode vom 31. Mai 1934, wonach die Theologische Erklärung den "Bekenntnisskonventen zur Erarbeitung verantwortlicher Auslegung von ihren Bekenntnissen aus"37 übergeben wurde. In den Gesprächen am 25. Juni 1934 war das "Urteil über die Bedeutung der Barmer theologischen Erklärung", so hält Duensing es in der Sitzungsniederschrift fest, "nicht eindeutig"; daß die Ausarbeitung "eine Anregung" für die lutherischen Theologen sei, um eine "weitere Klärung der theologischen Lage vom Bekenntnis her zu erarbeiten", konnten nicht alle Anwesenden nachvollziehen38. Der damals unüberwindliche konfessionelle Dissens unter Lutheranern, ob die Barmer Theologische Erklärung den Bekenntnisschriften als ein neues Bekenntnis zuzurechnen sei oder nicht 39 , hielt schon bei diesem ersten Treffen Einzug in das niederdeutsche Beratungsgremium und schuf Fraktionen für die lutherische Gruppe strenger Observanz um Landesbischof Meiser und die Vertreter eines neuen Kirchenverständnisses unter maßgeblichem Einfluß Asmussens, noch bevor die Zusammenarbeit unter lutherischem Vorzeichen recht begonnen hatte. Doch ungeachtet dieser Spannungen trafen sich die landeskirchlichen Bruderratsvertreter erneut am 17. Juli 1934. Anstelle eines nicht zu verwirklichenden "Gesamtbruderrates"40 bildeten sie schließlich eine "Arbeits-

36

Die Adressaten der Einladung sind nicht namentlich angegeben, es sollten einfach zwei bis drei Vertreter aus jeder Landeskirche teilnehmen; vgl. die Einladung (LKA SCHWERIN, Konvent). Es kamen Duensing, Johann Feltrup, Wilfried Wolters und Friedrich Jacobi (Hannover), Simon Schöffel, Dr. Hermann Junge und Wilhelm Remé (Hamburg), Wilhelm Jannasch (Lübeck), K. D. Schmidt, Volkmar Herntrich, Reinhard Wester und Hans Claussen (Schleswig-Holstein), Dr. Hans Schmidt (Oldenburg) sowie zwei später eintreffende Vertreter Mecklenburgs; vgl. die Sitzungsniederschrift (LKA BRAUNSCHWEIG, G 489). Kurz darauf bat auch die braunschweigische Bekenntnisgemeinschaft um Beteiligung an solchen Verhandlungen; vgl. das Begleitschreiben Duensings vom 9.7.1934 zur Sitzungsniederschrift vom 25.6.1934 (LKA HANNOVER, S 1 / E 1 6 5 3 ) .

37

Vgl. z. B. DIE BARMER THEOLOGISCHE ERKLÄRUNG. Einführung und Dokumentation. Hg.

38

Vgl. Anm. 36.

von Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth. 5. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1993, S. 62. 39

Vgl. EBD.; zu dieser grundsätzlichen Kontroverse vgl. auch die kritische Erwiderung von E. KLOGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 263f. Anm. 55 auf Anmerkungen von Gerhard Niemöller.

40

Den Plan zur Bildung eines regionalen "Gesamtbruderrats" aus den Vorsitzenden der "Einzelbruderräte", versehen mit einem "Notbischofsamt", favorisierten die "zerstörten" Kirchen, angeführt von Oldenburg; er wurde verworfen, weil eine solche Konstruktion für Hannover unter Landesbischof Marahrens nicht möglich war; vgl. Sitzimgsniederschrift der

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gemeinschaft" unter der Leitung von Kloppenburg sowie zur weiteren Beratung über die Theologische Erklärung einen nord(west)deutschen "Konvent" 4 1 , mit dem nicht alle Beteiligten einverstanden waren 42 . Die "Lutheraner im deutschen Norden", so hatte es das Protokoll noch vier Wochen zuvor formuliert, wollten "an der Arbeit des unter der Leitung von Bischof Meiser zu bildenden lutherischen Konvents nicht unbeteiligt sein" 43 . Wer an einer streng lutherischen Auslegung der Theologischen Erklärung mitarbeiten wollte, war bereit, sich Meiser anzuschließen, dem ganz am Ende der Synodalverhandlungen in Barmen hastig und fast formlos der Vorsitz über einen de facto noch nicht existierenden lutherischen Gesamtkonvent angetragen worden war 44 . Vorausgegangen waren vor und während der Bekenntnissynode spezifische lutherische Zusammenkünfte, darunter zwei "Konventssitzungen" unter Asmussens Leitung zwecks Beratung über den Entwurf der Theologischen Erklärung; der Zugang zu diesen Veranstaltungen war frei, und sie verliefen, soweit wir wissen, wenig geordnet. Meiser seinerseits hatte vor Eröffnung der Synode zur Beratung zusamnordwestdeutschen Bekenntnisgemeinschaften, gez. Remé, vom 17.7.1934 (LKA HANNOVER, S 1 / E I 653). 41

EBD.

42 Was sich im Juni/Juli 1934 bei den Besprechungen im Lager die niederdeutschen Bekenntnisgemeinschaften im einzelnen abgespielt ist, ist aus den Quellen nicht ganz klar zu entnehmen. Die Doppelkonstrukion Arbeitsgemeinschaft - Konvent ist Ausdruck eines Kompromisses, eine Garantie für die Bindung an die Lutheraner um Meiser (vgl. dazu unten S. 173) und an die Bekenntnissynode. Der Konvent sollte die Arbeitsgemeinschaft geistlich beraten, aber nicht verantwortlich handeln. Kloppenburg allerdings scheint in seiner Eigenschaft als Leiter der Arbeitsgemeinschaft gegen den Willen der hannoverschen Brüder (vgl hierzu ohne Nennung von Namen E. KLUGEL, Landeskirche 1 [Anm. 5], S. 263) auch die Konventsarbeit vorangetrieben zu haben (vgl. hierzu den Titel seines "Mitteilungsblatts" [unten S. 173f.J. In den Akten (vgl. LKA SCHWERIN, Konvent) sind verschiedene Einladungen überliefert, wonach er im Sommer und Herbst 1934 zu Vorträgen und Beratungen u.a. über die "Schaffung einer verantwortlichen Führung für das gesamte norddeutsche Luthertum [...]. Einheitliches Handeln in allen norddeutschen Landeskirchen", zusammenrief, Kontakte mit Thomas Breit herstellte, der in der 1. VKL der DEK die lutherischen Belange vertrat etc., aber es gibt keine Sitzungsniederschriften. Wer diese Zusammenkünfte besucht hat und wann und unter welchen Umständen die Arbeit des regionalen Konvents abbrach, geht aus dem Material nicht hervor. Der hannoversche Pfarrer Klügel lud später zu einer Sitzung des Theologischen Konvents ausschließlich der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft auf den 16./17. Juni 1936 nach Hannover mit folgenden Worten ein: "Infolge der starken kirchenpolitischen Belastung der Bekenntnisgemeinschaft während der vergangenen Monate ist die Arbeit des theologischen Konvents länger als wünschenswert unterbrochen gewesen [,..]"(LKA SCHWERIN, Konvent). 43 Vgl. Sitzungsniederschrift vom 25.6.1934 (LKA BRAUNSCHWEIG, G 489) 44 Vgl. G. NIEMÖLLER, Barmen II (Anm. 34), S. 159.

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mengerufen, schon dort Kritik an der entstehenden Theologischen Erkärung geübt und die fehlende gemeinsame Arbeit an dem Text angemahnt45. Wieviele der niederdeutschen Synodalen auf diesen verschiedenen lutherischen Sonderveranstaltungen in Barmen anwesend waren, ist nicht bekannt; es sind, abgesehen von Asmussen, noch Bosse und Kloppenburg als Teilnehmer belegt46. Doch als Meiser den Konvent nicht einberief, weil er wohl erkannt hatte, daß er seine dezidierten Vorstellungen über personelle Zusammensetzung, Aufgaben und Arbeitsstil des Gremiums nicht würde durchsetzen können 47 , geriet das lutherische Lager und damit die niederdeutsche Bruderratsgruppe in eine erste Krise48. Das Scheitern des Gesamtkonvents machte einen lutherischen Sammlungsversuch auf Reichsebene auf andere Weise unerläßlich; denn in der gegebenen kirchenpolitischen Situation bedurften die Lutheraner dringend eines Kreises, der das theologische Gespräch koordinierte und die Kommunikationsstrukturen so verbesserte, daß künftig mit einer lutherischen Stimme gesprochen werden könnte. Für Meiser und seine Weggefährten stand bei solchen Überlegungen stets die Begründung einer deutschen lutherischen Kirche im Hintergrund. Um den Stillstand zu überwinden, griff Marahrens ein. Nach Angabe Kloppenburgs49 veranlaßte ihn auch die von den Deutschen Christen majorisierte Nationalsynode vom 9. August 1934, rasch zu handeln und für den 24. und 25. August 1934 lutherische Repräsentanten zu einer überregionalen Besprechung nach Hannover einzuladen. Die zweitägige Veranstaltung endete damit, daß die Anwesenden nach Marahrens1 Devise: "Es soll ein enger Zusammenschluß des Luthertums herbeigeführt werden", die Bildung eines "Lutherischen Rats" beschlossen50. Soweit die nicht eben reichlichen Quellen ausweisen, gingen der Gründung lebhafte Beratungen voraus, auf denen die unterschiedlichsten Meinungen über Konzeptionen, Namensgebung und Personen auf einen Nenner zu bringen waren. Schließlich wurde

45 Vgl. hierzu H.

BRAUN/C.

NICOLA ISEN,

Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 279f. und 285;

C . NICOLAISEN, Weg (Anm. 31), S. lOlff. und 141.

46 Vgl. H. B R A U N / C . NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 285. 47 Vgl. EBD., S. 299f., insbesondere Anm. 8. 4 8 Vgl. hierzu E . KLÜGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 2 6 3 . - Der dort in Anm. 55 erwähnte Brief von Asmussen und Fiedler an Meiser stand mir leider nicht zur Verfügung. 49 Vgl. "Streng vertraulicher nur persönlich geltender Bericht" Kloppenburgs über die Tagung des Lutherischen Rats vom 24./25.8.1934 (LKA BIELEFELD, 5,1 Nr. 762 Fase. 2). 5 0 Der folgende Abschnitt stützt sich auf H. B R A U N / C . NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 322ff.

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als Bezeichnung weder "Führerrat" noch "Konvent", sondern "Rat" gewählt51. Marahrens gab auf der Sitzung bekannt, die Einladung habe die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz (Lutherisches Einigungswerk) ausgesprochen (deren Vorsitzender er selbst war); gleichzeitig sei "der Gedanke von den lutherischen Kirchen ausgegangen, zusammenzukommen" 52 . Diese Ausssage erklärt die Auswahlkriterien für die Gesprächsrunde. Es traf sich eine handverlesene Gruppe ausgewiesener Lutheraner: Kirchenführer, Theologieprofessoren und Kirchenjuristen53 zur Beratung, unabhängig davon, ob sie der Bekennenden Kirche angehörten oder an der Barmer Bekenntnissynode teilgenommen hatten. Qualifikationsmerkmale für ihre Wahl waren ihr Luthertum, Erfahrung in Fragen der Kirchenleitung und des Kirchenrechts und Kompetenz in der wissenschaftlichen Lehre. Von den Kirchen(leitungen) waren die "intakten" lutherischen Kirchen von Hannover, Bayern und Württemberg vertreten; ob und welche der Bekenntnisgemeinschaften aus "zerstörten" Kirchen, etwa aus Sachsen und Thüringen, angeschrieben wurden, ist nicht bekannt. Offenbar zögerten die Verantwortlichen im Spätsommer 1934 aus kirchenrechtlichen Überlegungen noch, die "illegalen" lutherischen Brüder in den intendierten Konsolidierungsprozeß miteinzubeziehen. Die Bekenntnisgemeinschaften des niederdeutschen Raumes, Hannover ausgenommen, waren jedenfalls nicht einzeln vertreten. Für sie nahm ausschließlich Kloppenburg teil; Marahrens hatte ihn offenbar in seiner noch jungen Funktion als Vorsitzender der nordwestdeutschen Arbeitsgemeinschaft hinzugezogen und schien auf ihn zu setzen; denn er wurde während der Sitzung auch in den vierköpfigen Arbeitsauschuß des Lutherischen Rats gewählt54. Otto Zänker, Bischof der (lutherischen) schlesischen Provinzialkirche, hatte sich auf der Nationalsynode eindeutig auf die Seite der Opposition gegen das Reichskirchenregiment gestellt55; er nahm als einziger Kirchenführer aus dem Raum der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union teil. Der im Ruhestand lebende Generalsuperintendent der westfälischen Provinzialkirche Wilhelm Zoellner, letztlich auch der abgesetzte Bischof Schöffel dürften eher als erfahrene lutherische Persönlichkeiten denn als Repräsentanten ihrer Kirchen dazugebeten worden sein,

51

Vgl. EBD., aber auch die Interpretation bei Kloppenburg unten S. 174.

52

Vgl. H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 325.

53

Vgl. EBD., S. 322.

54

Die persönliche Einladung erwähnt Kloppenburg (vgl. oben Anm. 49). Zur Mitgliedschaft im Arbeitsauschuß vgl. unten Anm. 62.

55

Vgl. GERHARD EHRENFORTH: Die schlesische Kirche im Kirchenkampf 1932-1945 (AGK. E 4). Göttingen 1968, S. 55.

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so wie es bei der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz von altersher Brauch gewesen war. Nach ähnlichen Maßstäben wurde auch die endgültige Mitgliederliste für den Lutherischen Rat zusammengestellt56, und hier ist unübersehbar, wie diese Auswahlkriterien Meisers Bedingungen für die Zugehörigkeit zu "seinem" lutherischen Konvent entsprachen57. Insoweit kann von einer Ubereinstimmung zwischen Marahrens, Meiser (und dem württembergischen Landesbischof Theophil Wurm) über die Grundlagen einer legitimen lutherischen Vertretung ausgegangen werden. Dennoch gab es einen kirchenpolitischen, vielleicht auch nur taktischen Unterschied in der Vorphase: Während Marahrens vorab ein lutherisches Gremium seiner Wahl und danach die Beziehungen zur Bekenntnissynode etablieren wollte 58 , bemühte sich Meiser (der zusammen mit Schöffel erst am zweiten Tag in Hannover eintraf), noch während der Veranstaltung vergeblich, die Verbindung mit dem Büro des Präsidiums der Bekenntnissynode in Bad Oeynhausen herzustellen und Präses Karl Koch, Hans Asmussen oder den Juristen Eberhard Fiedler zuzuziehen. Doch alle drei Männer waren verreist59, und die Schadensverhütung mißlang. Damit stand ab sofort der Verdacht im Raum, daß "die Bischöfe" mit dem Lutherischen Rat (neben den Deutschen Christen und der bruderrätlichen Bekennenden Kirche) eine "dritte Front" aufgebaut hätten. Kloppenburg, von der Gründungsveranstaltung und der Person Meisers sichtlich beeindruckt, bemühte sich, das Mißtrauen seiner Amtsbrüder abzubauen60. In der ersten Nummer des von ihm verantworteten "Mitteilungsblattes für den norddeutschen lutherischen Konvent der Bekenntnisgemeinschaft der DEK" 6 1 schrieb er, einmal vage und ein anderes 56 Vgl. H . BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 327. 57 EBD., S. 299, Namensliste in Anm. 8. 58 Es ist überliefert, daß Marahrens am 25.8.1934 zwar für die "enge Fühlung mit Oeynhausen" plädierte, aber später auf derselben Sitzung "eine klare, eindeutige Vertretung des Luthertums" als "das Primäre" forderte, um fortzufahren: "Dann fragen wir: Wie stehen wir zu Oeynhausen?" (EBD., S. 322 und 325). 59 Vgl.dazu auch im Bericht Kloppenburgs (oben Anm. 49): "Wie steht dieser Rat zu Oeynhausen und dem lutherischen Konvent. D. Meiser betonte mit großer Deutlichkeit - für die ihm aufrichtiger Dank gebührt - die unbedingte Verbundenheit mit Oeynhausen. Die Arbeit des Rates könne nur mit Oeynhausen geschehen." 60

Das gilt insbesondere für Asmussen, der über diese Zusammenkunft sehr irritiert war; vgl. Asmussen an Duensing, Bosse und Kloppenburg (die bei der Gründung des Lutherischen Rates anwesend waren), 29.8.1934: L K A BIELEFELD, 5,1 Nr. 762 Fase. 2); Kloppenburg an Asmussen, 30.8.1934 (LKA NÜRNBERG, Personen X X X V I , Meiser 114).

61 Undatiert, wohl vom August 1934. Als vertrauliches Manuskript vervielfältigt (LKA SCHWERIN, Konvent).

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Mal deutlich, aber insgesamt um Verständnis werbend, über das bekanntgewordene interne lutherische Treffen an sie: "Es ist in Hannover zu der Gründung des 'Lutherischen Rates' für das deutsche Luthertum gekommen. Damit ist die Zusammenfassung des Luthertums innerhalb der Bekenntnisfront, die mit der Gründung des 'Lutherischen Konventes1 erstrebt wurde, vollzogen. Ich weiß, daß in der Personenfrage noch manches zu klären ist und manche Fragen bestehen. Aber es ist doch zweierlei wichtig: a) Der Lutherische Rat bedeutet in keiner Weise eine Errichtung einer 'dritten Front', sondern der Rat will in engster Fühlung mit Oeynhausen arbeiten. Er ist also eine grosse Verstärkung der Bekenntnisfront, b) zu diesem lutherischen [sie!] Rat gehören eine Anzahl von Persönlichkeiten, die sich kirchenpolitisch bislang zurückhielten, deren positive Mitarbeit aber von sehr grosser Bedeutung ist. Uber die Namen selber wird hoffentlich bald etwas mitgeteilt werden können [...]." Es sei also deutlich, fuhr Kloppenburg fort, "daß wir im Augenblick am Beginn eines völlig neuen Abschnitts im kirchlichen Kampfe stehen, der gekennzeichnet wird durch die Mobilisierung der lutherischen Kräfte der Bekenntnisfront. Das bedeutet für uns alle im Norden neue Kraft und die Verpflichtung zu weiterem Ausharren. Es bedeutet eine Stärkung unserer Front in jeder einzelnen Landeskirche."62 Kloppenburgs Rolle bleibt unscharf. Inwieweit er tatsächlich als beauftragter Sprecher der Niederdeutschen im Arbeitsauschuß des Lutherischen Rates mitgearbeitet hat, bedarf noch der Uberprüfung; denn für die erste Zeit nach der Gründung des neuen Gremiums weisen Dokumente bislang vor allem sein Bemühen aus, den nordwestdeutschen Konvent zu aktivieren63. Nachdem er im Herbst 1934 von der Bekenntnissynode in den Reichsbruderrat berufen worden war und zusehends die Position des sog. dahlemitischen Flügels in der Bekennenden Kirche vertrat, muß es zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten gekommen sein. Es vermittelt sich bislang der Eindruck, daß vor allem der bayerische Pfarrer Christian Stoll, Vertreter des sog. konfessionellen Luthertums, im ständigen Kontakt mit Meiser in München64 für den Lutherischen Rat den Löwenanteil der Theologischen Arbeit geleistet hat. Kloppenburg nahm zwar auf der entscheidenden Sitzung 62 EBD. ES heißt weiter: "Für mich persönlich ist für die Mitarbeit im Arbeitsausschuß des Rates eine enge Fühlung mit den nordeutschen außerhannoverschen (Hannover ist selber vertreten) Bruderräten dringend nötig. Ich bitte deshalb die Empfänger dieser Mitteilungen herzlich, mich über das, was in den einzelnen Landeskirchen die Brüder bewegt, auf dem Laufenden zu halten." 63 Vgl. oben Anm. 42. 64 Stoll war am 1. Juli 1933 als theologischer Hilfsarbeiter in den Münchner Landeskirchenrat einberufen worden und unterhielt dort ganz offensichtlich die "Geschäftsstelle" des Lutherischen Rats.

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des Lutherischen Rats am 9. April 1935 in Halle noch teil65, schied aber dann im Laufe des Jahres 1935 aus der lutherischen Arbeit aus66. Die mit seiner Person verbundene institutionalisierte Anbindung der niederdeutschen Kirchen an den Lutherischen Rat war Zumindestens gestört. Ein Neuanfang wurde versucht. Der "Fortsetzungsausschuß" des Lutherischen Rates hatte binnen eines Jahres soweit vorgearbeitet, daß vom 2. bis 5. Juli 1935 in Hannover der "Deutsche Lutherische Tag" zusammentreten konnte, eine Versammlung, auf der einige Tage lang Vertreter lutherischer Kirchen unterschiedlicher Prägung, insbesondere auch sog. Unionslutheraner und Abgesandte von Freikirchen miteinander diskutierten. Jeder Anwesende hatte mit seiner Anmeldung - in deutlicher Unterscheidung zur Augsburger Bekenntnissynode vom Vormonat 67 - , einen Revers unterschrieben, daß er "die Augsburger Konfession von 1530 und die Katechismen Luthers als Lehrbekenntnisse der Lutherischen Kirche" anerkenne und sich an die "Richtlinien des Lutherischen Rates gewiesen" wisse68. Die konfliktträchtige Frage nach dem Bekenntnischarakter der Barmer Theologischen Erklärung blieb auf dieser Veranstaltung bewußt ausgeklammert69; es wurde vielmehr ein grundsätzliches lutherisches Positions- bzw. Konsenspapier verabschie-

65

Vgl. H . BRAUN/C. NICOLAISEN, V e r a n t w o r t u n g 1 ( A n m . 3), S. 389f.

66 Kloppenburgs Kurs innerhalb der Bekennenden Kirche bedarf noch der eingehenderen Untersuchung (vgl. dazu auch oben Anm. 42). Er nahm im Juli 1935 nicht am Deutschen Lutherischen Tag und dessen Ausschuß für das niederdeutsche Luthertum teil (vgl. H . B R A U N / C . NICOLAISEN, Verantwortung 1 [Anm. 3], S . 403 und 408). Am 26.8.1935 wurde er gegen seinen Willen nicht mehr zu dessen Fortsetzungstagung zugelassen (vgl. Niederschrift, hier das Votum Ahlhorns, daß er nicht als Vertreter der oldenburgischen Kirche legitimiert sei: LKA SCHWERIN, Konvent) und verließ dann den Lutherischen Rat (vgl. Meiser an Kloppenburg, 5.12.1935 und Kloppenburg an Meiser, 7.12.1935: LKA OLDENBURG, I A 7 ) . Auf der Sitzung, die am 7.10.1935 den "Lüneburger Pakt" beschloß (vgl. unten S. 181), war er einer der oldenburgischen Vertreter, trat aber wenige Monate später im Zusammenhang mit der Kontroverse über die Anerkennung der von Reichskirchenmnister Hanns Kerrl eingesetzten Kirchenausschüsse wieder aus. 67 Meiser (der wegen seines "Hausarrests" nicht auf der Dahlemer Bekenntnissynode anwesend gewesen war) hatte vor der Bekenntnissynode von Augsburg im Juni 1935 vergeblich versucht, die Zulassung zum lutherischen Konvent an eine Verpflichtungsformel auf die ungehinderte Augsburgische Konfession und die beiden Katechismen Luthers in der Einladung zu binden; vgl. die lange Vorgeschichte bei WILHELM NIEMÖLLER (Hg.): Die dritte Bekenntnissnode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Augsburg (AGK. 20). Göttingen 1969, S. 9ff., hier besonders S. 28. 68 Vgl. das Anmeldeformular (LKA SCHWERIN, Konvent); Abdruck der Richtlinien des Lutherischen Rates (in denen er fälschlicherweise "Lutherrat" heißt): H . B R A U N / C . NICOLAISEN, Verantwortung 1 (Anm. 3), S. 327f. 69 Vgl. E. KLÜGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 259.

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det 70 , und es konnte scheinen, als sei nach dieser synodenähnlichen Veranstaltung die Schaffung einer lutherischen Kirche in den Bereich des Möglichen gerückt. Im Rahmen dieses überregionalen Treffens trat u.a. auch ein besonderer "Ausschuß des niederdeutschen Luthertums" zusammen, der von den Diskutanten durchaus als Fortsetzung der älteren Bemühungen verstanden wurde71. Bevor auf ihn näher eingegangen wird, muß jedoch eine weitere Gründung im lutherischen Lager vorgestellt werden. Am 12. Februar 1935, fünf Monate vor dem Deutschen Lutherischen Tag, hatten der bayerische, der württembergische und der hannoversche Bischof einen "Lutherischen Pakt" geschlossen, mit dem sie mehrere Zwecke verfolgten. Der Pakt, der sich vom Lutherischen "Rat" dadurch unterschied, daß für ihn allein die Bischöfe namens ihrer drei "intakten" Kirchen auftraten, wollte als Gremium legaler Kirchen an der Wiederherstellung geordneter Zustände im Verfassungs- und Rechtsleben der DEK "sowie der Landeskirchen" mitwirken. Auf der Ebene der drei Paktkirchen wurde eine generelle Gemeinschaft in Fragen der Verwaltung und der Kirchenordnung vereinbart 72 . Darüber hinaus jedoch hegten die Bischöfe, allen voran Meiser73, die dezidierte Vorstellung, mit dem Lutherischen Pakt eine Art Zelle anzubieten, der sich bekenntnismäßig zu akzeptierende andere Kirchen anschließen könnten 74 . Das Interesse der Amtsbrüder aus "zerstörten" Kirchen70 "Lehre, Gestalt und Ordnung der Evangelisch-Lutherischen Kirche", 5.7.1935. In: CHRISTIAN STOLL: Der Deutsche Lutherische Tag von Hannover. München 1935, S. 45ff. 71

H . B R A U N / C . NICOLAISEN, V e r a n t w o r t u n g 1 ( A n m . 3), S. 4 0 8 ; E . KLÜGEL, L a n d e s k i r c h e 1

(Anm. 5), S. 263. 72 Vgl. den Text der Vereinbarung bei JOACHIM GAUGER (Hg.): Chronik der Kirchenwirren. Bd. HI. Elberfeld o.J. (1936), S. 453ff., der folgendermaßen eingeführt wird: "Nachdem die Vereinheitlichung der Landeskirchen in einer bekenntnislosen Reichskirche mißlungen ist, die der Reichsbischof Ludwig Müller und der 'Rechtswalter' der DEK, Ministerialdirektor Jäger, mit Gewalt und Unrecht erzwingen wollten, kommt nunmehr freiwillig [Hervorhebung in der Vorlage] Sinne der Reichskirchenverfassung vom 11 .Juli 1933 (Abschnitt II) zustande folgende 'Vereinbarung der Landesbischöfe von Hannover, Württemberg und Bayern'". 73 Es blieb Meisers Anliegen bis in die Gründungsgespräche für den Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche (Lutherrat) im Spätwinter 1936 hinein, den Lutherischen Pakt zu erweitern, vgl. hierzu S. 179, sowie seine Äußerungen vom 27.2.1936 und 11.3.1936; vgl. H . B R A U N / C . NICOLAISEN, V e r a n t w o r t u n g 2 ( A n m . 3), S . 192 A n m . 3 4 u n d S. 195 A n m . 3 .

74 Punkt 6 der Vereinbarung lautete: "Der Beitritt zu dieser der praktischen Aufbauarbeit für die DEK gewidmeten Vereinbarung steht weiteren Landeskirchen frei, soweit sie in ihrem Bekenntnisstand und ihrer bekenntnismäßigen Haltung entsprechende Gewähr bieten" (EBD., S. 457).

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"gebieten", wie sie um der Präzision willen mehr und mehr genannt wurden, war offensichtlich; gerade diese Bekenntnisgemeinschaften wollten sich durch einen Beitritt zum Lutherischen Pakt quasi unter den Schutz der "intakten" Kirchen begeben75. Doch ein solcher Wunsch war problematisch und aus juristischen Gründen nicht ohne weiteres zu realisieren: einer Körperschaft aus Vertretern legaler Kirchen mit geordneter Kirchenleitung einerseits und vom Staat nicht anerkannten Bekenntnisgemeinschaften oder Bruderräte (Notregimente bzw. geistlicher Leitungen) andererseits wäre das Recht zur Mitwirkung bei der Wiederherstellung einer geordneten DEK abgesprochen worden. Der nominelle Anschluß mußte also verweigert werden; doch ungeachtet dieser Einschränkung ist der Lutherische Pakt ein Jahr lang ganz konkret Vorbild und Anlaufstelle für die Bruderäte geblieben, die, den Verfolgungen durch Staat, NSDAP und deutschchristliche Kirchenleitungen ausgesetzt, nicht aufhörten, auf einen lutherischen Zusammenschluß zu drängen. So gesehen, gehört der Lutherische Pakt in die unmittelbare Vorgeschichte des am 11./18 März 1936 gegründeten "Rates der EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands" (Lutherrat)76. Er hat in diesem Zusammenhang konzeptionell eine größere Rolle gespielt, als bisher gesehen wurde, wohl weil seine wenig aufsehenerregenden Arbeit bisher wenig beachtet wurde77. Auch der oben erwähnte "Ausschuß für das Niederdeutsche Luthertum" des Deutschen Lutherischen Tages befaßte sich mit dem Lutherischen Pakt. Er tagte auf Einladung Marahrens' bereits am 26. August 193578 und behandelte eingehend die Frage, wie die niederdeutschen Kirchengebiete dem Lutherischen Pakt verbunden werden könnten. Heinrich Forck (Hamburg) 75

Zu einer entsprechenden Bemühung Sachsens vgl. K. MEIER, Kirchenkampf 2 (Anm. 5), S. 350. In diesem Zusammenhang ist zu ergänzen, daß Bekenntnisgemeinschaften bereits Anfang 1935 auf verschiedene Weise "Schutz" gesucht hatten: Die hannoversche und die mecklenburgische Bekenntnisgemeinschaft schlössen am 31.1.1935, d.h. zeitlich parallel, aber noch vor dem Lutherischen Pakt, eine Arbeitsgemeinschaft zur Förderung "der Einheit innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche und zur Förderung gemeinsamer Aufgaben", wobei im Unterschied zu dem späteren

"Lüneburger Pakt"

(vgl. unten S. 181) die

"Selbständigkeit beider Bekenntnisgemeinschaften innerhalb ihrer Landeskirchen und der Deutschen Evangelischen Kirche (Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche, Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche)" durch die Vereinbarung nicht berührt wurde (LKA HANNOVER, S 1 / E 1 6 5 3 ) .

Ein ähnliche Übereinkunft trafen die

Bekenntnisgmeinschaften von Hannover und Lübeck am 25.2.1935 (LKA KLEL, Bestand Kirchenkampf Lübeck 59). 76 77

Vgl. H . BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. 187ff. So jedenfalls E. KLÜGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 258. Ungeachtet dessen bedürfte die Arbeit des Lutherischen Paktes der historischen Aufarbeitung.

78

Vgl. die fünfseitige Niederschrift: L K A SCHWERIN, Konvent).

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und Lic. Karl Adolf von Schwanz (Braunschweig) prüften vor ihren Zuhörern den Text der Paktbestimmungen zunächst daraufhin, "wieweit die Notorgane der zerstörten Kirchengebiete praktisch an dieser Vereinbarung [ = dem Lutherischen Pakt] teilnehmen" könnten. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß Fragen der Verwaltung und Gesetzgebung (d.h. die in Punkt 1 und 4 des Lutherischen Paktes behandelten sog. äußeren Kirchenfragen) zurückgestellt werden müßten, "daß aber in den Fragen der gottesdienstlichen Ordnungen und des geistlichen Amtes die Mitarbeit möglich und notwendig erscheint" 79 . Theoretisch waren damit eingeschränkte kirchenrechtliche Möglichkeiten zu einer Beteiligung zerstörter Kirchen am Lutherischen Pakt vorgegeben. Praktisch berichtete Christhard Mahrenholz (Hannover) zur Information und wohl auch als Anregung, wie vorgegangen werden könne, auf welchen Feldern die Paktkirchen seit Februar des Jahres vorangekommen waren80. In einem der Beschlüsse wurde optimistisch davon gesprochen, daß "im niederdeutschen Luthertum die Entwicklung weiter gediehen" sei "als in anderen Teilen des Reiches", und die baldige Einberufung einer Synode des niederdeutschen Luthertums vor [Hervorhebung der Verf.] einer allgemeinen deutschen lutherischen Synode verlangt, wie sie auf dem Deutschen Lutherischen Tag ins Auge gefaßt worden war81. Das Protokoll vermittelt im nachhinein den Eindruck, als seien die Anwesenden in einer gewissen Aufbruchsstimmung bereit gewesen, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Doch nicht alle Beteiligten scheinen das so positiv gesehen zu haben. Der tatkräftige mecklenburgische Bruderratsvorsitzende Niklot Beste (dessen vermittelnde Rolle zwischen den verschiedenen Flügeln der lutherischen Bekennenden Kirche, auch über den niederdeutschen Raum hinaus, noch nicht hinreichend gewürdigt ist), schien dem Frieden nicht zu trauen. Er hielt es jedenfalls für nötig, das Thema erneut aufzugreifen und Meiser in die weitere Planung miteinzubeziehen. Anlaß dazu bot ihm eine "Informationsbesprechung der Vorläufigen Kirchenleitung" vom 13. September 1935 in Berlin, an der beide Männer in einer großen Runde von Kirchenführern und landeskirchlichen Vertretern teilgenommen hatten82. Zwei 79

EBD.

80

EBD.

81

Die weiteren Beschlüsse umfaßten eine Bitte an die Paktkirchen, "dazu zu helfen, daß mit den Leitungen der zerstörten Kirchengebiete in den Fragen, in denen es praktisch möglich ist, die Gemeinsamkeit der Arbeit aufgenommen wird"; außerdem sollte das Direktorium von 1933 (vgl. oben S. 165) wieder "in Aktion" gesetzt werden. Eine Prüfung hatte ergeben, daß das Direktorium "noch heute in der Lage ist, den lutherischen Zweig der DEK rechtlich zu vertreten" (EBD.).

82

Vgl. H. BRAUN/C. NICOLABEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. llff.

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Tage später schrieb Beste an Meiser, nach seinem Eindruck sei dort "in erster Linie die Evangelische Kirche der Union zu Wort gekommen", und er habe die "Empfindung, als ob das Schwergewicht der kirchlichen Entwicklung wieder irgenwie auf die Seite der altpreußischen Union gelegt" sei. Er bat Meiser, die Möglichkeit zu "einer festeren Verbundenheit" der lutherischen Kirchen zu erwägen. Der Lutherische Pakt habe bisher für die zerstörten lutherischen Kirchen wenig Bedeutung gehabt: "Es wäre uns doch vielleicht eine Hilfe, wenn die lutherischen Kirchen versuchen würden, auch uns irgendwie [Hervorhebung der Verf.] an dem Pakt teilnehmen zu lassen. Die Anfänge dazu sind ja schon auf auf den Besprechungen in Hannover gemacht. Aber es wäre vielleicht auch gut, wenn wir kirchenpolitisch [Hervorhebung der Verf.] stärker zusammenhielten."83 Meiser gab Beste recht, griff die Anregung unverzüglich auf, verständigte sich mit Marahrens84 und rief zu einer Besprechung am 1. Oktober 1935 nach Hannover. In der Einladung formulierte er ausdrücklich, es sollten "die praktischen [Hervorhebung der Verf.] Möglichkeiten eines Anschlusses der zerstörten lutherischen Kirchen an den sogenannten lutherischen [sie!] Pakt erwogen [...] werden"85. Nach dem Vorgespräch vom 26.August 193586 konnte er davon ausgehen, daß die Anwesenden seine etwas verklausulierte Formulierung verstanden, bestimmte Punkte der Lutherischen Paktes setzten "einen auch staatsrechtlich anerkannten Verhandlungspartner voraus"; gleichzeitig zeigte er lt. Protokoll Möglichkeiten auf, wie sich die Bruderräte dem Lutherischen Pakt anschließen könnten87. Das Interesse der Bruderatsvorsitzenden war groß. Die ähnlich wie am 26. August zusammengesetze Gesprächsrunde88 beriet noch einmal eingehend und engagiert über das Notwendige und Machbare und beschloß - zur großen Enttäuschung des thüringischen Vertreters Ernst Otto - einen sofortigen engeren Zusammen-

83 EBD., S. 562f. 84

EBD., S. 5 6 3 A n m . 5 .

85 Vgl. Meiser an Wester, 24.9.1994 (LKA KIEL, Rep. Archiv der Bekennenden Kirche Schleswig-Holstein 38). 86 Vgl. oben S. 177. 87 Vgl. die Niederschrift über die Zusammenkunft der lutherischen Bischöfe mit den Vertretern der Bruderräte aus den "zerstörten" lutherischen Kirchen vom 1.10.1935 in Hannover: H. B R A U N / C . NICOLAISEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. 34 Anm. 12. 88 Vgl. oben Anm.76 und die Teilnehmerliste bei H. B R A U N / C . NICOLAISEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. 32: am 1.10.1935 kamen von den insgesamt 15 Teilnehmern nur 5 (Meiser, Marahrens, Prälat Mayer-List aus Stuttgart, Stoll und als thüringischer und sächsischer Vertreter Ernst Otto) nicht aus den niederdeutschen Bekenntnisgemeinschaften.

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Schluß der niederdeutschen Bruderräte, konkret deren Unterstellung unter die "geistliche Leitung der Hannoverschen Landeskirche" 89 . Auf eben diese "andere Zusammenkunft" vom 1. Oktober 1935 hatte sich Marahrens also bezogen, als er auf den 7. Oktober 1935 nach Lüneburg einlud 90 , wo sich 32 Theologen und Laien (Marahrens eingeschlossen) einfanden 91 . Ein regelrechtes Protokoll dieser Sitzung scheint nicht zu existieren; aber Lic. von Schwartz 92 , einer der Teilnehmer, hat über die Verhandlungen in einem, wohl an Heinrich Lachmund zur Information der Braunschweiger Amtsbrüder gerichteten Brief, noch am selben Tag berichtet. Es läßt sich daraus nicht entnehmen, inwieweit die vielerlei Pläne und Anregungen der Treffen vom 26. August und vom 1. Oktober 1935 noch einmal Verhandlungsgegenstand waren. Volkmar Herntrich 93 eröffnete die Zusammenkunft mit einem Referat, in dem er zu gemeinsamem Handeln aufrief, und für die künftige Arbeit folgende Schwerpunkte hervorhob: "1. Ein verbindliches Wort der Lehre über Gestalt und Ordnung, zumal im Gegensatz zu Neutralen unter Ablehnung des Gegensatzes Legal und Nichtlegal. 2. Verbindliches Wort gegen Irrlehre der Deutschkirche und der politischen Ideologien. Ist eine Deutschkirchliche Taufe giltig? 3. Bezeugung des Willens zum Zusammenschluß - ohne 89 So in der Niederschrift Stolls (vgl. oben Anm. 87); ähnlich die Überlieferung bei Meiser; vgl. H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. 39; vgl. dort das letzte Votum Bosses. 90 Vgl. oben S. 162. 91 Die Bitte an die Bruderratsvorsitzenden, "daß an dieser Zusammenkunft sämtliche Mitglieder der Bruderräte beteiligt sein möchten" (vgl. die Einladung, oben Anm. 10) konnte ebenso den Wunsch nach deutlicher Unterstützung eines neuen Starts wie nach Anwesenheit der "richtigen" Leute ausdrücken. - Mecklenburg hatte 9, Hannover 8, Schleswig-Holstein 6, Braunschweig 3, Oldenburg und Hamburg je 2 und Lübeck 1 Vertreter entsandt, jedenfalls nach den Unterschriften der an diesem Tage verabschiedeten Entschließung (vgl. unten Anm. 92). - "Wir wissen", hatte Kühl am 5.10.1935 an Marahrens geschrieben, "daß für das Gelingen dieser Zusammenkunft ihr möglichst baldiger Termin die Voraussetzung ist", und er bat, ihn nicht zu verschieben, obwohl bis auf Johannes Schulz wegen anderer dienstlicher Verpflichtungen alle Mitglieder des Lübecker "Rates der Bekennenden Kirche", d.h. des Leitungsorgans, unabkömmlich seien. Es sei aber Ludwig Heitmann aus Hamburg, "der unsere Lage und unsere Gedanken kennt", bevollmächtigt, für den Lübecker Bruderrat teilzunehmen (LKA KIEL, Kirchenkampf Lübeck 66) 92 v. Schwartz "klopfte" seinen Brief offensichtlich direkt in die Schreibmaschine und ließ sich, wie er selbst schreibt, die letzte Fassung der Entschließung (vgl. unten Anm. 97) von Paul Barg diktieren (LKA BRAUNSCHWEIG, Pfarrernotbund 1935). 93 Ein Referat Herntrichs über die Aufgabe der lutherischen Kirchen war im Rahmen des nordwestdeutschen Konvents schon für den 19.2.1935 angekündigt gewesen; ob es damals gehalten wurde, hat sich nicht feststellen lassen; vgl. die Einladung Kloppenburgs vom 13.2.1935 ( L K A SCHWERIN, K o n v e n t ) .

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Antiquitäten - diese wollen nur die DC! 4. Unter Feststellung des Unaufgebbaren offen für Reumütige. 5. Lutherische Kirche in Niederdeutschland nur im Anschluß an das Bischofsamt Marahrens, der nie D C war. 6. Eine lutherische Synode müßte geistliche Leitung herausstellen, die nicht nur für Volksmission oder dergl. Grundsätze gibt, sondern die Entscheidungen der Bekennenden Gemeinden resp. Kirchen dirigiert. Schwierigkeiten an einzelnen Stellen gehen alle an." 94 Selbst diese spärliche Aufzeichnung erlaubt die Annahme, daß der Referent unter voller Berücksichtigung der Situation in den niederdeutschen Kirchen eine Zustands- und Wegbeschreibung für das gesamte deutsche Luthertum auf dem Stand des Herbstes von 1935 gegeben hat. Seine aktuellen Forderungen: Grundlagen der lutherischen Identität zu formulieren (ein verbindliches Wort der Lehre etc.), theoretisch und praktisch Irrlehre(n) abzuwehren, und, nicht zuletzt, sich gegenseitig landeskirchlich übergreifenden Beistand zu leisten, waren ebenso als konkrete Handlungsanweisungen für die anwesenden Bruderratsvertreter wie als programmatischer Ausblick für einen lutherischen Zusammenschluß in Deutschland zu verstehen. Der zweite Tagesordnungspunkt war der Aussprache und den Beschlüssen gewidmet95. Die Besprechung endete mit einer Entschließung - eben dem "Lüneburger Pakt" - folgenden Inhalts: "Die Bruderräte der niederdeutschen lutherischen Landeskirchen berufen als geistliche Leitung einen Auschuß. Er steht unter der Leitung von Landesbischof D. Marahrens. Dieser Ausschuß übernimmt die Verantwortung für die lutherische Kirche im niederdeutschen Räume in ihrer Gesamtheit und in allen ihren Teilen. Die Bruderräte werden in ihrer Landeskirche nur Lösungen der Kirchenfrage zustimmen, die die Zustimmung dieser geistlichen Leitung gefunden haben." 96 Der neu gebildete Ausschuß setzte sich, wie im nachhinein der Presse zu entnehmen war, aus den Vorsitzenden der Bruderräte zusammen und sollte

94

LKA BRAUNSCHWEIG, Pfarrernotbund 1935 (die Rechtschreibung ist beibehalten, eindeutige Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst).

95

v. Schwartz hat davon nur in knappster Form zu Papier gebracht, was Marahrens den Anwesenden vier Tage, nachdem Reichskirchenminister Hanns Kerrl die Einsetzung von Kirchenauschüssen verkündet hatte, angesichts der neuen Lage mitteilte und riet (EBD.).

96

Text: Maschinenschriftliche Fassung mit Unterzeichnern u.a.: LKA KIEL, Bestand Kirchenkampf Lübeck Nr. 103; Abdrucke: Rundschreiben Nr. 42/1935 der Bekenntnisgemeinschaften der evangelisch-lutherischen Landeskirchen Hannovers, Braunschweig, Lübecks, Mecklenburgs, Schleswig-Holsteins und der evangelisch-lutherischen Arbeitsgemeinschaften Ostpreußens und Schaumburg-Lippes. Als Manuskript gedruckt. Hannover, 18.10.1935: LKA KIEL, Nachlaß Bischof Halfmann B VH, Monatssammlung Oktober 1935; J K 3, 1935, S. 982 (mit Unterzeichnern); AELKZ 68, 1935, Sp. 1029; E. KLOGEL, Landeskirche 2 (Anm. 5), S. 131.

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sich ergänzen können 97 . Damit war der eine Woche zuvor gefaßte Beschluß, die zusammengeschlossenen Bruderräte der geistlichen Leitung der hannoverschen Landeskirche zu unterstellen 98 , entscheidend verändert worden. Es gibt keine Belege über die Diskussion, in der dieser Text durchgesetzt wurde, der in der gegebenen Situation einen komplizierten und konfliktträchtigen Entscheidungsfindungprozeß vorschrieb. Das Abkommen hätte zum einen, wenn es in dieser absoluten Form tragfähig gewesen wäre 99 , im auffallenden Gegensatz zu vorausgegangenen bilateralen Vereinbarungen von Bekenntnisgemeinschaften der Region 100 , die Selbständigkeit der einzelnen Bekenntnisgemeinschaften preisgegeben; zum anderen enthielt die Entschließung nicht zu übersehende Vorbehalte gegen die kirchenpolitische Linie und den Führungsstil von Marahrens, die den Zusammenhalt der Bekenntnisgemeinschaften stark belasteten 101 . Im Gegensatz zu der vom

97 AELKZ und Rundschreiben Nr. 42/1935 (vgl. oben Anm. 96). 98 Vgl. oben S. 177. 99 In der Folge wurde in der Lüneburger Konferenz eine sehr viel praktikablere Textfassung zu einer neuen Entschließung vorgelegt und beraten; vgl. die Erklärung zum Lüneburger Abkommen, die, anders als bei E. KLÜGEL, Landeskirche 1 (Anm. 5), S. 131, angegeben, schon früher im Jahr 1936 kursierte. - In den Akten des Lutherats (LKA HANNOVER, D 15 I Nr. 17) findet sich auf einem Blatt unbekannter Herkunft unter dem Text des Lüneburger Paktes vom 7.10.1935 ebenfalls die "Möglichkeit einer Neufassung" mit sehr viel bescheideneren Zielen: Es ist dort nicht von geistlicher Leitung die Rede; ein lutherischer Arbeitskreis bestellt einen Auschuß, dieser wiederum einen Vorsitzenden und einen Geschäftsführer. Vor allem der letzte Satz unterscheidet sich: "Die Glieder des Lutherischen Kreises verpflichten sich bei allen grundsätzlichen Angelegenheiten rechtzeitig vorher miteinander Fühlung zu nehmen und bei allen gesamtkirchlichen Entscheidungen nach Möglichkeit gemeinsam zu handeln." Vgl. hierzu auch das grundsätzliche Votum Herntrichs vom 27.2.1936: "In Lüneburg wurde versucht, über die Geistlichen der Landeskirchen hinweg eine Einheit darzustellen. Lüneburg ist zerbrochen": H. BRAUN/C. NICOLAISEN, Verantwortung 2 (Anm. 3), S. 192. 100 Zu den "bilateralen" Vereinbarungen von Bekenntnisgemeinschaften vgl. oben Anm. 75. 101 Das Mißtrauen gegen Marahrens, der selbst nicht der Bekennenden Kirche angehörte, auf der Bekenntnissynode in Barmen nur als Gast anwesend gewesen war und sich aus der Sicht von Vertretern der Bekennenden Kirche "dahlemitischer" Richtung in seiner eigenen Landeskirche sowie als Vorsitzender der VKL I zu sehr "arrangierte", führte im Winter 1935/1936 zum Rücktritt der VKL I, deren Vorsitzender er gewesen war. Am 6.12.1935 sagte Marahrens ohne Rücksprache mit den Mitgliedern der Lüneburger Konferenz dem Reichskirchenausschuß die Bereitschaft seiner Kirche zur Mitarbeit zu (vgl. dazu H. BRAUN/ C. NICOLAISEN, Verantwortung 2 [Anm. 3], S. 135 Anm. 21), was zu einer scharfen Kontroverse und zur Unterbrechung der Zusammenkünfte bis zum Frühjahr 1936 führte, vgl. hierzu Marahrens' Brief an Lachmund vom 14.12.1935 über den zu erwartenden Bruch innerhalb der Bekennenden Front (LKA BRAUNSCHWEIG, Pfarrernotbund 1935).

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1. Oktober 1935 überlieferten Absprache 102 übernahm nun nicht Marahrens die geistliche Leitung für die Bekenntnisgmeinschaften, sondern die Bekenntnisgemeinschaften sicherten als Kollegialorgan, als gemeinsame geistliche Leitung, ihre Entscheidungsrecht und banden Marahrens, auf dessen traditionelle Führung kraft seiner Stellung im deutsche Luthertum nicht zu verzichten war, mit Hilfe des letzten Satzes an das Gremium der Bruderräte103. Der Text der Entschließung, an eher unauffälliger Stelle in kirchlichen Presseorganen veröffentlicht m , erlaubt, wie das Herntrichsche Referat, niederdeutsche und gesamtlutherische Auslegungen, doch ist die starke Betonung der niederdeutschen Bedürfnisse nicht zu übersehen. Hatte doch auch Marahrens namens der Bruderratsvorsitzenden die Bruderräte zum "Zweck einer wesentlichen Förderung des Luthertums in Niedersachsen [sie!]" zusammengebeten und, mit seinen Formulierungen an frühere Gemeinsamkeiten erinnernd, Mut zu einem Neuanfang machen wollen105. Solche Zusammenhänge waren allen Beteiligten geläufig, und auch die kirchliche Presse, soweit sie die Lüneburger Erklärung vom 7. Oktober 1935 übernahm, konnte mit einem entsprechenden Vorverständnis rechnen. Die Junge Kirche veröffentlichte den Text ohne weitere Erklärung nur unter der Uberschrift "Ein Schritt zur Lutherischen Kirche im niederdeutschen Raum" 106 . Die AELKZ ergänzte den Abdruck der Entschließung durch einen Kommentar, der ausdrücklich auf die bis 1926 zurückreichenden Bestrebungen zu einem engeren Zusammenschluß der niederdeutschen Kirchen verwies, nicht ohne zu kommentieren, die "Entwicklung" habe nun "einen gewissen Abschluß" gefunden" 107 . Obwohl es nahelag, immer wieder auf die ältere niederdeutsche Tradition hinzuweisen, war dies in der Tat eine höchst verwunderliche und groteske Fehleinschätzung der völlig veränderten kirchenpolitischen Situation, in der statt wie früher offizielle Kirchenrepräsentanten nun "illegale" Bruderräte getagt hatten. 102 Vgl. oben S. 179f. 103 Wie schwer es Marahrens fiel, mit dieser Art von Beauftragung umzugehen, läßt sich ablesen. Er bat am 28.10.1935 die in Lüneburg vertretenen Bruderräte der Bekenntnisgemeinschaiten um einen Uberblick über den Stand der Arbeit und die geplanten Maßnahmen für einen Neuansatz kirchlicher Arbeit in ihren Kirchen(gebieten) u.a. mit dem grammatikalisch verräterischen Satz: "Um nunmehr nach meiner Rückkehr aus Paris die Aufgaben der geistlichen Leitung in Angriff zu nehmen, bitte ich die Bruderräte [...]" (LKA SCHWERIN, Konvent) 104 105 106 107

Vgl. oben Anm. 96. Vgl. oben S. 162. Vgl. oben Anm. 96. AELKZ 68, 1935, Sp. 1029.

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Hannelore Braun

Ein im nachhinein hellsichtig zu nennender Verfasser "D" (hinter dem sich mit großer Wahrscheinlichkeit der in Lüneburg anwesende Friedrich Duensing verbirgt), gab unmitelbar nach der Lüneburger Konferenz in dem für den Kreis der betroffenen Bekenntnisgemeinschaften bestimmten Rundschreiben den beschlossenen Text bekannt und beurteilte die neue Konstellation vorsichtig und reserviert eine Woche später unter der Überschrift ein "Fortschritt im Niederdeutschen Raum" 1 0 8 : "Soweit wir hören, gehört es zu den Aufgaben dieses Ausschusses, zunächst die geistliche Zusammenarbeit der Niederdeutschen lutherischen Kirchen planmäßig zu fördern und darüber hinaus die Vereinheitlichung der lutherischen Niederdeutschen Kirchengebiete zu betreiben". Ergänzend rekapitulierte der Schreiber "D." den Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung: "Soweit die rechtlichem Möglichkeiten bestehen, sollen die Kirchengebiete in entsprechender Form an der Vereinbarung der lutherischen Landeskirchen Bayern, Württemberg, Hannover beteiligt werden. Das bedeutet praktisch, daß nunmehr auch für den niederdeutschen Raum eine organische Fortentwicklung in der Richtung auf die Vereinheitlichung der in diesem Gebiet verhältnismäßig zahlreichen Landeskirchen beschritten ist. Wie die Erfahrungen mit der Vereinbarung Bayern, Württemberg, Hannover lehren, ist damit nun mehr auch für Niederdeutschland eine Entwicklung eingeleitet, die wachstümlich [sie!] ist und deshalb weitreichende und fruchtbare Auswirkungen entwickelt. Es kann sein, daß in der Auswirkung der Lüneburger Beschlüsse in absehbarer Zeit weitere Ausschüsse und Zusammenkünfte [sie!] zusammentreten [sie!] und daß damit die in den letzten Jahren kräftig vorangekommene Verbindung der Landeskirchen bald zu dem Postulat auf verfassungsmäßiger [sie!] Veränderungen und Weiterentwicklungen führen wird." 1 0 9 . Nach bisheriger Kenntnis tagte die Lüneburger Konferenz zwischen Herbst 1935 und Herbst 1940, evt. gelegentlich auch noch später, mit teilweise mehrmonatigen Unterbrechungen aus ganz unterschiedlichen Gründen, rund über dreißig mal. Die Gesprächsrunde umfaßte selten mehr als ein Dutzend Theologen und Juristen aus den angeschlossenen Bekenntnisgemeinschaften, bei weitem nicht immer waren die Vorsitzenden der Bruderräte pesönlich anwesend; gelegentlich kamen Gäste hinzu. Vorläufige wie endgültige Einladungen mit Tagesordnungen, Erinnerungen oder Meldungen über Terminverschiebungen ließ über die Jahre hin ausschließlich Marahrens 108 Daß der Text in der (nicht zur Verfügung stehenden) Nr. 41 mitgeteilt wurde, ergibt sich auch der Nummer 42/1935 des Rundschreibens (vgl. oben Anm. 96). 109 EBD.

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mit großer Pünktlichkeit hinausgehen; im Verhinderungsfall sorgte er gewissenhaft für eine Vertretung im Vorsitz. Nicht für alle, aber über viele Sitzungen existieren ein- bis zwei seitige Mit- oder Niederschriften. Die Zusammenkünfte dienten, zeitbedingt, insgesamt mehr der gegenseitigen Information über die kirchenpolitische Vorkommnisse in den Landeskirchen und in der DEK als der zusammenhängenden Arbeit über Fragen der Kirchenordnung, Agende etc. Gelegentlich, besonders in den Anfangsjahren, berichtete Marahrens auch in seinen sog. Wochenbriefen, jenen hektographierten Blättern für die hannoverschen Pfarrer, die weit über die Grenzen der Landeskirche hinaus gelesen wurden, über die Treffen in Lüneburg. Die Tagesordnungen zeigen unverkennbar seine Handschrift und sein ununterbrochenes Bemühen, in und mit der Lüneburger Konferenz eine Verbindung zum überregionalen lutherischen Lager aufrechtzuerhalten. Der Lüneburger Konferenz ist weder von ihren Mitgliedern noch von den Historiographen nach dem Zusammenbruch von 1945 ein großer Stellenwert zugebilligt worden. Warum das so ist, muß noch untersucht werden; es wird dann auch zu fragen sein, was es für die Lüneburger Konferenz bedeutete, daß sich eine größere Anzahl der niederdeutschen Kirchen einzeln nacheinander dem im März 1936 gegründeten Rat der EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (Lutherrat) angeschlossen haben.

Hans Maier CHRISTLICHER WIDERSTAND IM DRITTEN REICH Der Widerstand gegen Hitler war keine einheitliche Bewegung. Er entwickelte sich bei verschiedenen Anlässen, wurde von unterschiedlichen Gruppen getragen, trat zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise in Erscheinung. Seine Formen bewegten sich auf einer breiten Skala, die von Nonkonformität und Verweigerung bis zu Protest, Rebellion und - im äußersten Fall - Verschwörung und Attentat reichte i. Und wie die Formen des Widerstands vielgestaltig waren, so auch die Motive und Begründungen: die Männer und Frauen des Widerstands führten für ihr Tun sowohl politische und juristische als auch moralische und religiöse Argumente an, und die Diskussion im Kreis der Widerstandsgruppen reichte von tagespolitischen Erwägungen bis zu verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und ethischen Fragen so der Frage, wann ein Regime tyrannisch sei, unter welchen Umständen Widerstand erlaubt und geboten sei, und ob man Tyrannen im äußersten Fall töten dürfe oder töten müsse. Welchen Anteil hatten christliche Kräfte, christliche Uberlieferungen und Haltungen am Widerstand gegen den Nationalsozialismus? In welcher Weise ist durch sie Widerstand ausgelöst, begleitet, legitimiert, intensiviert oder auch problematisiert, gehemmt, verzögert worden? Diese Fragen sind in den letzten Jahren mit steigender Intensität erörtert worden. Sie sind mittlerweile vom Rand in die Mitte der Forschung gerückt. So haben Heinz Hürten, Klaus Scholder, Peter Steinbach, Gerhard Besier und Kurt Meier

1

Zur Differenzierung des Widerstandsbegriffs vgl. EBERHARD BETHGE: Dietrich Bonhoeffer. Theologe-Christ-Zeitgenosse. 3. Aufl. München 1970, S. 890 (BETHGE unterscheidet den einfachen passiven Widerstand, den offenen ideologischen Gegensatz, die Mitwisserschaft an Umsturzvorbereitungen, aktive Vorbereitungen für das Danach und endlich die aktive Konspiration). MARTIN BROSZAT (Bayern in der NS-Zeit Bd. IV. München; Wien 1981, S. 691ff.) weitet den Widerstandsbegriff aus in die Sphäre der "alltäglichen" Verweigerungen, Loyalitätsentzüge, Proteste der einzelnen. Eine Systematisierung sowohl nach Trägerschaft wie n a c h I n t e n s i t ä t des W i d e r s t a n d s bei KLAUS GOTTO/HANS GÜNTER HOCKERTS/KONRAD

REPGEN: Nationalsozialistische Herausforderung und kirchliche Antwort. Eine Bilanz. In: KLAUS GOTTO/KONRAD REPGEN: Die Katholiken und das Dritte Reich. 3. Aufl. Mainz 1990, S. 173ff.

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nach dem Verhältnis der Kirchen zum Widerstand gefragt2. Beate Ruhm von Oppen und Klemens von Klemperer haben die Frage nach den Motiven christlicher Einzelner im Widerstand, nach der "Frömmigkeit" des Widerstandes aufgeworfen3. Peter Hoffmann hat das Handeln der Widerstandsbewegung im ganzen, zumal in den letzten Kriegsjahren, in einer außen- und innenpolitisch aussichtslosen Situation, als "Selbstopfer" charakterisiert4 Deutungen, die auch in der Kunst anklingen, so in Udo Zimmermanns Opernszenen "Weiße Rose", die den Weg der Geschwister Scholl und ihrer Freunde als christlichen Opfergang in der Nachfolge Jesu beschreiben. Im folgenden möchte ich aus dem weiten Feld des christlichen Widerstands im Dritten Reich drei Fragen herausgreifen: 1. die Haltung der christlichen Kirchen zum Nationalsozialismus und zum Widerstand, 2. die Entscheidung einzelner Christen zum Widerstand und was sie für ihre Kirchen bedeutete, 3. Motive und Begründungen eines christlichen Widerstands. 1. Die christlichen Kirchen, das "Dritte Reich" und der Widerstand Der Nationalsozialismus - man kann es nicht oft genug betonen - war eine revolutionäre Bewegung von elementarer Wucht. Er brach sich Bahn 2

3

HEINZ HÜRTEN: Verfolgung, Widerstand und Zeugnis. Kirche im Nationalsozialismus. Fragen eines Historikers. Mainz 1987; KLAUS SCHOLDER: Die Krise der dreißiger Jahre als Fragen an Christentum und Kirchen (1985). In: DERS.: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft. Gesammelte Aufsätze, hg. von Karl Otmar von Aretin und Gerhard Besier. Berlin 1988, S. 113ff.; Der Widerstand von Kirchen und Christen gegen den Nationalsozialismus (In: KZG 1, 1988), darin Aufsätze von KLEMENS VON KLEMPERER, PETER STEINBACH, GERHARD BESIER, HEINZ HÜRTEN und anderen; VICTOR CONZEMIUS: Katholische und evangelische Kirchengeschichtsschreibung im Vergleich: Phasen, Schwerpunkte, Defizite. In: VICTOR CONZEMIUS/MARTIN GRESCHAT/HERMANN KOCHER (Hg.): Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Göttingen 1988; KURT MEIER: Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich. München 1992, bes. S. 197ff., 225ff.

Religion and Resistance to Nazism. Princeton 1971; KLEMENS Glaube, Religion, Kirche und der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: VZG 28, 1980, S. 293ff.; DERS.: Sie gingen ihren Weg ... Ein Beitrag zur Frage des Entschlusses und der Motivation zum Widerstand. In: JÜRGEN SCHMADEKE/PETER STEINBACH (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. München; Zürich 1985, S. 1097ff.; DERS.: Naturrecht und der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: VZG 40, 1992, S. 323ff. PETER HOFFMANN: Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen BEATE R U H M VON OPPEN:

VON KLEMPERER:

4

Hitler.

4. Aufl. München

1985; DERS.: Motive. In: J . ScHMÄDEKE/P. STEINBACH,

Widerstand (Anm. 3), S. 1089ff.: "Das Handeln angesichts solcher Einsichten und angesichts der fast völlig aussichtslosen Situation kann nur noch als Selbstopfer verstanden werden mit dem Ziel der Beendigung des Krieges und des Sterbens sowie der Rettung eines Restes der Ehre Deutschlands" (S. 1094).

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Hans Maier

auf vielen Wegen, in der Politik, im Pressewesen, in den Jugendorganisationen, in Schulen und Universitäten. Nach 1933, nach der "Machtergreifung", dem Ermächtigungsgesetz schien er so mächtig zu sein, daß ihm nichts mehr widerstehen konnte. Es gab gegenüber der siegreichen NS-Bewegung im Prinzip nur drei Verhaltensweisen: Mitmachen, Dagegensein oder Sich-Zurückziehen. Wer mitmachte, der konnte kaum mehr "aussteigen", er war der Bewegung auf Gedeih und Verderb verbunden; er tauchte unter in einer Woge, verlor seine Selbstbestimmung, seine Identität. Wer sich ihr entgegenstellte, der lief Gefahr für Leib und Leben; denn es gab im Nationalsozialismus, wie in totalitären Regimen überhaupt, keine legitime Opposition; schon die leiseste Kritik wurde als Widerstand betrachtet und dementsprechend verfolgt und bestraft. Die dritte Möglichkeit, die des Rückzugs, war nur theoretisch vorhanden: wer sich dem Nationalsozialismus entziehen wollte in eine "innere Emigration", der stieß auf den Anspruch einer alle Lebensbereiche erfassenden und durchdringenden Politisierung, die ein Ausweichen, eine Existenz im gesellschaftlichen Abseits fast unmöglich machte 5 . Die christlichen Kirchen waren im "Dritten Reich" allen drei Gefahren konfrontiert: dem Identitätsverlust, der drohenden Vernichtung im Kirchenkampf, der Abdrängung ins Private, Unverbindliche. Sie reagierten auf den Angriff des totalen Staates in durchaus unterschiedlicher Weise. Dabei spielten Verschiedenheiten der Kirchenverfassung, der Theologie, des Amtsverständnisses eine Rolle - und noch mehr vielleicht die historischen Ungleichzeitigkeiten von Protestantismus und Katholizismus in Deutschland. Der Protestantismus war in Deutschland lange Zeit durch seine Staatsnähe geprägt - war doch der aus der Reformation hervorgegangene evangelische Territorialstaat, nach einem Wort Kurt von Raumers, selbst ein "um die Kirche bereicherter" Staat. Die Religion war in den Staat verwebt; der christliche Amtsgedanke, die religiöse Auffassung der Herrschaft und eine strikte Pflichtbindung der Regierenden prägten das öffentliche Leben. Daher strebte das protestantische Denken in Deutschland - anders als in den angelsächsischen Ländern - nicht vom Staat weg, sondern zum Staat hin 6 . Diese 5

6

Den raschen Fortschritt der Politisierung aller Lebensbereiche schildert an einem lokalen Beispiel PETER C. HARTMANN: Die Gleichschaltung im Bayern 1933 unter besonderer Berücksichtigung von Passau. In: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch 29, 1987, S. 172ff. Zur Gesamtatmosphäre im "Dritten Reich" vgl. die immer noch unübertroffene Analyse von WANDAVONBAEYER-KATTE: Das Zerstörende in der Politik.-Eine Psychologie der politischen Grundeinstellung. Heidelberg 1958. WILLIAM O. SHANAHAN: Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage. München 1962, S. 118ff.; HANS MAIER: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. 2. Aufl.

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Staatsnähe des Protestantismus blieb auch im Zweiten Kaiserreich erhalten ja sie stellte sich, in der Auseinandersetzung mit dem römischen Katholizismus im Kulturkampf, aufs neue her. Umso härter war für die evangelische Kirche der Einschnitt von 1918/19: der deutsche Protestantismus verlor mit dem Wegfall des landesherrlichen Summepiskopats zugleich den Kern seiner öffentlichen, politischen Repräsentation. Er hat ein Äquivalent in den Jahren der Weimarer Republik nicht wiedererlangt. Anders verlief die Entwicklung im deutschen Katholizismus. Dieser entfernte sich im 19. Jahrhundert immer mehr vom Staat - und zwar im gleichen Maß, in dem dieser Staat ein mehrheitlich protestantischer, ein nationalliberaler, kulturliberaler Staat wurde.7 Gleichzeitig wandte er sich, aus seiner Minoritäts- und Defensivsituation heraus, mehr und mehr der Demokratie zu, der freien Selbstorganisation in Vereinen, Verbänden, Parteien. So entstand der soziale und politische Katholiszismus als eine wirksame Stütze der hierarchischen Kirche. Den Ubergang von der Monarchie zur Republik vollzog der deutsche Katholizismus leichter als der Protestantismus: seine öffentliche Repräsentation in der Dreigestalt von Papst, Bischöfen, Zentrum war nicht gefährdet, obwohl die Katholiken auch in der Weimarer Republik nur ein knappes Drittel der Bevölkerung darstellten. Man konnte sich auf die Republik auch innerlich einlassen, konnte den Weg vertraglicher Vereinbarung mit den neuen demokratischen Obrigkeiten beschreiten, den Weg zum Bayern-, Baden-, Preußenkonkordat. Diesen Ausgangspunkt muß man im Auge behalten, wenn man die Lage der Kirchen und die Möglichkeiten kirchlichen Widerstands richtig einschätzen will. Die nationalsozialistische Revolution traf im protestantischen Bereich auf eine Kirche, deren Verhältnis zum Staat disponibel geworden war und die zugleich nach ihrer eigenen inneren Form suchte. Das innerkirchliche Verfassungsproblem und die Schwierigkeiten einer politischen Ortsbestimmung kamen zusammen und steigerten die Unsicherheit. Von daher war die Versuchung groß, die eigene, undeutlich gewordene Gestalt im Einklang mit der nationalen Bewegung neu zu festigen und zu formen oder schärfer formuliert: sie von dieser Bewegung vorgeben zu lassen. Eben

München 1980, S. 133ff., 168f., 278ff.; MICHAELSTOLLEIS: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1 (1600-1800). München 1988, S. 82ff., 273ff. 7

MARGARET L. ANDERSON: Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks. Düsseldorf 1988; WILFRIED LOTH: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschland. Düsseldorf 1984; DERS. (Hg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne (KoGe. 3). Stuttgart 1991; WOLFGANG ALTGELD: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Zur Bedeutung religiöser Gegensätze in der Geschichte des deutschen Nationalsozialismus (VKZG. B 59). Mainz 1992.

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dies widerfuhr der Evangelischen Kirche im Deutschchristentum8. Die deutschchristliche Bewegung eroberte 1933 in den meisten kirchlichen Wahlgremien die Mehrheit. Sie verdrängte die alten Kirchenleitungen und ließ nur drei Landesbischöfe - Meiser in München, Wurm in Stuttgart, Marahrens in Hannover - im Amt. In München, Stuttgart und Hannover bestand die Kirchenleitung fort; man sprach von "intakten Kirchen". In den anderen größeren Landeskirchen spaltete sie sich: den deutschchristlichen Bischöfen traten freie bruderrätliche Leitungen gegenüber. Man sprach von "zerstörten Kirchen". Da die Pfarrer und Gemeinden entscheiden konnten, welchem Regiment sie sich unterstellten, konnte die Kirche nicht mehr mit einer Stimme sprechen. Neben den deutschchristlichen Bischöfen standen die "intakten Kirchen", die einen gemäßigten Kurs zwischen Anpassung und Widerstand steuerten, während sich die Bekennende Kirche vor allem in den "zerstörten Gebieten" stärker auf Positionen der Verweigerung, der Resistenz, des Widerstands hinbewegte. Führte der Nationalsozialismus im evangelischen Bereich zu einer Polarisierung, einem Auseinanderfallen der Kirche in Deutschchristentum und Bekenntnisgemeinden, so schien es der katholischen Kirche anfangs besser zu gelingen, gegenüber der nationalsozialistischen Revolution ihre Autonomie und Handlungsfreiheit zu bewahren. Verfassungsprobleme gab es hier nicht, und die Anfälligkeit katholischer Wähler für die Bewegung war, wie die letzten freien Wahlen zeigten, sehr gering9. Der hierarchische Zusammenhalt der Kirche in Papst und Bischöfen schien stark und dicht genug zu sein, um den Verlust demokratischer Repräsentation, den Untergang des Zentrums und die Verdrängung des Laienapostolats aus der Öffentlichkeit auszugleichen. Im Reichskonkordat versuchte die Kirche mit vertraglichen Mitteln ihre Struktur und Identität zu wahren, ihren Aktionsraum aus dem Bereich totalitärer Gleichschaltung auszugrenzen10. Sie zog sich auf ihren Kernbereich, auf Amt und Seelsorge zurück und gab die - schon weitgehend zerstörten - Vorwerke des sozialen und politischen Katholizismus preis. Erhaltung und Sicherung kirchlicher Funktionen blieb während des ganzen "Dritten Reiches" die Hauptsorge der Bischöfe. Der Akzent lag auf der Selbstbehauptung; der Widerstand der Kirche galt vor allem - wenn auch nie

8

Zum folgenden K.LAUS SCHOLDER; Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1. Frankfurt am Main u.a. 1977, S. 124ff., 277ff., 701ff.; DERS.: Kirchenkampf (1975) und Politischer Widerstand oder Selbstbehauptung als Problem der Kirchenleitungen (1985). In: DERS.: Ges. Aufsätze (Anm. 2), S. 131ff., 204ff.

9

JÜRGEN W . FALTER: Hitlers Wähler. München 1991, S. 169ff., 186ff.

10

H . HÜRTEN, Verfolgung (Anm. 2), S. 23ff.

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ausschließlich - der Verletzung ihres inneren Bereichs; er war kirchlich motiviert, nicht politisch. Hier weist die Verteidigungslinie der katholischen Bischöfe deutliche Parallelen mit dem Verhalten der evangelischen Landesbischöfe in den "intakten Kirchen" auf. In der Flut einer Bewegung, die alles zu überschwemmen drohte, versuchte man ein Stück eigener Existenz, eigener Integrität zu retten. Die Kirche wurde zum réduit, zum Rückzugs- und Schutzgebiet - im günstigen Fall zu einer Insel des Andersseins, der Nonkonformität. Man suchte sich dem Gleichschaltungsdruck des allgegenwärtigen Staates und seiner Ideologie zu entziehen. Das war angesichts des totalitären Herrschaftsanspruchs nicht wenig. Widerstand beginnt ja nicht mit großen Entschlüssen - er beginnt mit kleinen Nonkonformitäten, mit dem Beharren auf Sphären und Lebensformen, die nicht gleichgeschaltet sind. Es war schon ein Stück Widerspruch, wenn in einem kirchlichen Raum eben kein Hitlerbild hing, sondern eine Mariendarstellung oder ein Luthervers. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Zeugnis von Predigern und Religionslehrern, an Bekenntnissonntage, an Jugendtreffen im Kirchenbereich. Man wußte früh, in welcher Schule, welchem Verlag, welcher Behörde die Nazis dominierten und wo es "Nischen" von Andersdenkenden gab. Auch die Mitglieder der "Weißen Rose" haben solche Inseln kennengelernt: bei der Truppe, in kirchlichen Gruppen, im Hochland-Kreis in München, in der Bibliothek Carl Muths in Solln, in den Vorlesungen Kurt Hubers an der Münchner Universität. Sie spürten staunend (denn sie waren ja in gleichgeschalteten Jugendorganisationen und im "völkischen Denken" aufgewachsen!), daß es hier ein Potential anderer Denkmöglichkeiten, ein Arsenal von Alternativen gab. Aber genügte das als Gegengewicht gegen die öffentlichen Zustände? Genügte es, das Wahre im Stillen zu behüten, ohne es mit den Leidenden in die Welt hinauszuschreien? War das Beharren auf Glaube und Sitte, auf Integrität im kirchlichen Binnenraum genug angesichts der Greuel der Verwüstung draußen? Die Frage verschärfte sich in der Kriegszeit. Das NS-Regime hatte inzwischen alle Rücksichten abgelegt und war zu den Vernichtungsaktionen gegen Geisteskranke, Juden, Regimegegner übergegangen, die wir kennen. Angesichts dieser Lage, so schien es vielen, genügte die Position von Rückzug und Bewahrung nicht mehr. Durch die Flugblätter der "Weißen Rose" geht wie ein Aufschrei der Appell zur Tat hindurch. Quälend wird der Widerspruch zwischen Schein und Sein empfunden. Da ist ein altes Kulturvolk, die Deutschen, das sich die schändlichste Korruption der Mächtigen gefallen läßt, das seiner verbrecherischen Führung wie eine willenlose Herde folgt. Da ist das Wahre, Schöne und Gute, reichlich beschworen in Literatur, Kunst, Musik und daneben steht das zerstörte Menschenbild, die zertretene Menschen-

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würde. Da ist eine intakte christlich-bürgerliche Innenwelt - aber wo ist ihre Wirkung nach draußen? In jugendlich-prophetischem Ton, der doch von tiefem Ernst erfüllt ist, klagt ein Flugblatt das Zeugnis der Christen ein: "...überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den Einzigen Gott hinwiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten. Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, dem Sturme preisgegeben, wie ein Säugling ohne Mutter, wie eine Wolke, die sich auflöst." 11 Es ist nicht so, daß Bischöfe und Kirchenleitungen solche Stimmen nicht gehört hätten. Es gab sie ja von Anfang an. Doch sie vermochten die geschilderte Linie kirchlicher Defensión und Selbstbewahrung nicht wirksam zu durchbrechen - in beiden Kirchen nicht. So ist christlicher Widerstand im "Dritten Reich" mehr ein Aufstand einzelner Christen als der Kirchen im ganzen gewesen - so mutig viele Bischöfe und Kirchenführer für ihre Sache eingetreten sind und so vielfältig sie denen Deckung boten, die weiter gehen wollten 12 . Widerstand in einem totalitären Staat war kein gebahnter Weg. Wer sich auf ihn einließ, machte sich auf eine ungewisse und gefährliche Reise. Er mußte nicht nur kirchliche Traditionen überdenken, die jahrhundertelang gegolten hatten - Römer 13, die Zwei-Reiche-Lehre -, er fand in der theologischen Uberlieferung auch wenig Wegweisung für den Extremfall aktiven Kampfes gegen den Staat13. Es zeigte sich, daß man in Deutschland allzu11

INGE AICHER-SCHOLL: Die Weiße Rose. Erw. Neuausgabe Frankfurt am Main 1983, Viertes Flugblatt.

12

Die früher in der Forschung vorherrschende Meinung, es habe Widerstand nur von Seiten christlicher Einzelner, nicht von Seiten der Kirchen gegeben, ist auf Grund der inzwischen vorliegenden Quellenpublikationen nicht mehr zu halten. Zweifellos gab es neben den Vorstößen der Laien auch amtliche, "amtskirchliche" Initiativen, so in der Gefängnis- und KZ-Seelsorge und der Hilfe für Juden, die im Sinn des Regimes Widerstandshandlungen darstellten; man denke an katholische und evangelische Bischöfe und Geistliche wie Lichtenberg, von Galen, Gröber, W u r m , v. Preysing, Grüber und andere. Dazu kamen Widerstandshandlungen, die von den Kirchenleitungen zwar nicht initiiert und ausgelöst, aber nachträglich gedeckt und gegenüber Gestapo und S D verteidigt wurden. Richtig ist freilich, daß auch innerhalb der geistlichen Leitungsgremien die Vorstöße Einzelner (oder oppositioneller Gruppen wie etwa des Ordensausschusses der Bischofskonferenz) überwogen - oft zum Leidwesen der auf Ausgleich und "stille Diplomatie" hoffenden Mehrheiten der Leitung.

13

Hierzu E BETHGE,

Bonhoeffer (Anm. 1), S. 889ff., 894ff.; HANS MAIER: Das Recht auf

Widerstand. In: Rudolf Lill/Heinrich Oberreuter (Hg.): 20. Juli. Porträts des Widerstands. Düsseldorf 1984, S. 63ff.; HEINZ EDUARD TÖDT: Der schwere Weg in den aktiven Widerstand. In: Gotthard Fuchs (Hg.): Glaube als Widerstandskraft. Edith Stein, Alfred Delp,

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lange im gläubigen Vertrauen zu einer guten Obrigkeit gelebt hatte; man war nicht gerüstet für den Fall der Perversion gerechter Herrschaft - den Unrechtsstaat, die Tyrannis, das Tier aus der Tiefe. Es gab in Deutschland wie Dietrich Bonhoeffer beklagte - zwar viel Tapferkeit, aber wenig Civilcourage, viel Dienst am Ganzen, aber wenig freie Verantwortung und freies Glaubenswagnis 14 . Das begrenzte nicht nur den Widerstand, den die Kirchen als Institutionen leisten konnten, es erschwerte auch den eigenverantwortlichen Widerstand einzelner Christen, dem wir uns nun zuwenden wollen. 2. Christliche Einzelne im Widerstand Christlicher Widerstand im "Dritten Reich" entzündete sich meist an sehr konkreten Vorfällen. Die Hitlerjugend legte ein Geländespiel auf die Zeit, in der ein Gottesdienst stattfand. Parteistellen befahlen die Beflaggung kirchlicher Gebäude zur Schlageter-Feier. Die Verbreitung von Hirtenbriefen wurde verboten. Kreuze sollten aus den Schulen geholt werden. Gingen solche Vorstöße nicht glatt über die Bühne, wurden sie umgangen, sabotiert, konterkariert, so haben wir bereits eine einfache Form des passiven Widerstands vor uns. Widerstand dieser Art war weitverbreitet. Liest man die Berichte des Sicherheitsdienstes und der Gestapo über die Kirchen, so hat man den Eindruck, daß das Regime ihn ernstnahm und sogar fürchtete 15 . Im Bereich der katholischen Kirche sind nach der bekannten Statistik von Hehls ein Drittel aller Geistlichen mit dem Regime in Konflikt gekommen das reichte von Verwarnungen und Strafen bis zu Prozessen, Gefängnis- und KZ-Haft 16 . Auch im Bereich der Bekennenden Kirche war die Zahl der Konflikte hoch. Im Kirchenkampf setzte der Staat alle Mittel der Zermürbung ein. Und im Umfeld der Kirchen betätigten sich halblegal oder im Untergrund eine Reihe von Vereinigungen: Jugendgruppen, Wissenschaftler, christliche Gewerkschaftler und Politiker.

Dietrich Bonhoeffer. Frankfurt am Main 1986, S. 194ff.; ROMAN BLEISTEIN: Alfred Delp. Geschichte eines Zeugen. Frankfurt am Main 1989, S. 266ff. 14 DIETRICH BONHOEFFER: Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943. In: DERS.: Widerstand und Ergebung. Neuausgabe München 1970, S. l l f f . (14 f.). 15 HEINZ BOBER ACH (Hg.): Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934-1944 (VKZG. A 12). Mainz 1971; DERS.: Chancen eines Umsturzes im Spiegel der Berichte des Sicherheitsdienstes. In: J. SCHMÄDEKE/P. STEINBACH, Widerstand (Anm. 3), S. 813ff. 16 ULRICH VON HEHL: Priester unter Hitlers Terror (VKZG. A 37). Mainz 1984, bringt ausführliche tabellarische Darstellungen darüber, wie die einzelnen Vergehen bestraft wurden, welche Strafen von welcher Instanz verhängt wurden, wie sich die Maßnahmen auf die Jahre verteilen usw. (S. LXXXIÜff.).

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Über diese Formen passiven Widerstands reichte es hinaus, wenn einzelne Bischöfe und Pfarrer - ich nenne auf evangelischer Seite Niemöller und Wurm, auf katholischer Seite von Faulhaber und Graf Galen - den Anordnungen des NS-Regimes grundsätzlichen, öffentlich begründeten Widerstand entgegensetzten. Der spektakulärste - und erfolgreichste - Fall war wohl die berühmte Predigtreihe des Münsteraner Bischofs Galen im Sommer 1941 gegen den Mord an Geisteskranken 17 . Hielt sich dieser Protest noch im kirchlichen Bereich - obwohl er deutlich genug das Thema der Menschenrechte anschlug -, so ging anderes darüber hinaus. In diesem Zusammenhang sind kirchliche Hilfsaktionen für die Juden zu nennen, so die des Büros Grüber, oder die von Gertrud Luckner in Freiburg; sie sind deswegen interessant, weil hier christliche Einzelne mit dem kirchlichen Amt oder kirchennahen Institutionen zusammenwirkten. Es konnte sein, daß Kirchenleute freiwillig-unfreiwillig Mitwisser von Umsturzplänen wurden, so Dibelius, Asmussen, von Preysing; es konnte sein, daß katholische Geistliche im Beichtstuhl davon erfuhren. Hier sind wir an der Grenze von passiver Mitwisser- zu aktiver Mittäterschaft. Bewußt und reflektiert haben den Schritt zum aktiven politischen Widerstand jedoch nur zwei Gruppen vollzogen: diejenigen, die Pläne für den Tag danach vorbereiteten (ohne selbst den Umsturz zu betreiben), und diejenigen, die zu den aktiven Verschwörern zählten. In der ersten Gruppe nimmt der Kreisauer Kreis um Graf Helmut James von Moltke, den Urgroßneffen des Feldmarschalls, eine dominierende Stellung ein 18 . Ihm gehörten nicht nur junge ostelbische Adelige an, sondern auch Sozialisten wie Mierendorff, Haubach, Reichwein und Julius Leber. Das religiöse Element verband die beiden Flügel. Es wurde auf katholischer Seite repräsentiert durch die Münchner Jesuiten Alfred Delp, Lothar König

17

PETER LOFFLER (Hg.): Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933-1946. 2 Bde. ( V K Z G . A 42). Mainz 1988; HEINRICH PORTMANN: Kardinal von Galen. 17. Aufl. Münster 1948, 1981; MAX BLERBAUM: Nicht Lob, nicht Furcht. Das Leben des Kardinals von Galen nach unveröffentlichten Briefen und Dokumenten. Münster 1955, 8. Aufl. 1978; RUDOLF MORSEY: Clemens August Kardinal von Galen - Größe und Grenze eines konservativen Kirchenfürsten (1933-1946). In: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1990, S. 5ff.

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Zum folgenden: GER VAN ROON: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. München 1967; DERS.: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. 5. Aufl. München 1990, S. 141ff.; DOSSIER: KREISAUER KREIS. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Aus dem Nachlaß von Lothar König SJ hg. und kommentiert von Roman Bleistein. Frankfurt am Main 1987; R. BLEISTEIN, Delp (Anm. 13); HELMUTH JAMES VON MOLTKE: Briefe an Freya 1939-1945, hg. von Beate Ruhm von Oppen. München 1988.

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und den Provinzial Augustin Rösch, auf evangelischer durch die Mitglieder der Bekennenden Kirche Harald Poelchau, den Gefängnisgeistlichen von Tegel, und Eugen Gerstenmaier. Der Kreisauer Kreis konzentrierte sich in seinen Beratungen ganz auf die Zeit nach Hitler; er hielt Distanz zu Verschwörertätigkeit und Putschplänen. Moltke war der Ansicht, daß das Unheil erst seine volle Bahn durchlaufen müsse - vorzeitige Aktionen könnten zu einer neuen Dolchstoßlegende führen. Für den Wiederaufbau sah man im Kreisauer Kreis zwei Grundvoraussetzungen: eine freiheitlich gesonnene Arbeiterschaft und eine Erneuerung des Christentums. "Rechristianisierung" war in den Erziehungsplänen des Kreises ein wichtiges Stichwort - es wurde zugleich zu einem der Hauptvorwürfe beim Prozeß gegen Moltke und Delp vor dem Volksgerichtshof. "Nur in einem", sagte Freisler, "sind das Christentum und wir gleich: wir fordern den ganzen Menschen."19 Moltke war, wie andere Mitglieder des Kreises, erst unter dem Eindruck des Nationalsozialismus zu einer entschiedenen christlichen Haltung gelangt. Vor dem Krieg sei er der Meinung gewesen, schrieb er im April 1942 seinem englischen Freund Lionel Curtis von Stockholm aus, "daß der Glaube an Gott nicht wesentlich sei... Heute weiß ich, daß ich unrecht hatte, ganz und gar unrecht. Sie wissen, daß ich die Nazis vom ersten Tag bekämpft habe, aber der Grad der Gefährdung und Opferbereitschaft, der heute von uns verlangt wird und vielleicht morgen von uns verlangt werden wird, setzt mehr als gute ethische Prinzipien voraus..."20. Ahnliche Äußerungen sind auch von anderen Mitgliedern des Kreisauer Kreises bekannt. Ein Mitglied, Theodor Haubach, trat der evangelischen Kirche bei, andere wandten sich in der Haft oder unter dem Eindruck der Verfolgung dem Christentum zu. Ahnlich wie Moltke haben auch die Münchner Jesuiten Augustin Rösch, Lothar König und Alfred Delp unmittelbare politische Aktionen abgelehnt. "Sinn und Zweck der Kirche", so heißt es in einer Aufzeichnung für Moltke im Vorfeld der 2. Kreisauer Tagung vom Herbst 1942, "ist weder die Politik noch das Politische. Die weltliche Aufgabe der Kirche umfaßt die Rühmung Gottes, die Vermittlung des übernatürlichen Heiles an die Menschen, die Sorge um die gottgesetzte Ordnung des Lebens. Die Kirche würde in gefährlicher Weise ihre Grenzen überschreiten, wollte sie zu direkten politischen Aktionen übergehen." Doch zur rechten Ordnung des Lebens gehört auch das ius nativum der Kreatur: dazu rechnen das Naturrecht, die vorstaatlichen Rechte des einzelnen, der natürlichen Gemeinschaften, und die eigenständi19 So nach dem Brief Moltkes an seine Frau vom 11.1.1945 (EBD., S. 608). 20 Zitiert von Beate Ruhm von Oppen in ihrer Einleitung (EBD., S. 52).

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gen und ursprünglichen Gesetze und Zuständigkeiten des Staates. "Da die heute bestehende staatliche Ordnung das ius nativum aufhebt, hat jedes Eintreten der Kirche für das ius nativum auch unmittelbare politische Konsequenzen." Aufgabe der Kirche ist es, mitarbeitsfähige und -willige kirchliche Menschen zur Ausarbeitung einer auf dem ius nativum aufbauenden zeitgemäßen Lebensordnung anzuhalten. "Die Durchsetzung des gewonnenen Ordnungsbildes als gültige politische Ordnung ist Aufgabe der aus echter Einsicht handelnden politischen Menschen." 21 Vor allem Delp hat sich keine Illusionen darüber gemacht, daß dies ein schwieriges, ja fast unmögliches Unternehmen sei. Im Gefängnis, zwei Jahre später, schreibt er: "Alle die direkten religiösen Bemühungen halte ich in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde für ohne dauerhafte Fruchtbarkeit. Solange der Mensch an der Straße liegt, blutig geschlagen und ausgeplündert, wird ihm der der Nächste und damit der Zuständigste sein, der sich seiner annimmt und ihn beherbergt, nicht aber einer, der zum 'heiligen Dienst' vorbeigeht, weil er hier nicht zuständig ist." 22 Noch radikaler spricht er im gleichen Zusammenhang von der Gottunfähigkeit des gegenwärtigen Menschen: dieser Mensch ist nicht nur faktisch gott-los, er ist "in eine Verfassung des Lebens geraten, in der er Gottes unfähig ist". "Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege. Soll der Fremdling ihn noch einmal aufheben?" 23 Wir sind mit diesen Gedanken Delps schon in der Nähe jenes Theologen angelangt, der sich unter den christlichen Widerstandszeugen wohl am intensivsten mit der Lage der christlichen Botschaft in der modernen Welt auseinandergesetzt hat: Dietrich Bonhoeffer. Mit ihm treten wir in den engeren Kreis des aktiven Widerstandes ein, einen Kreis, in dem Widerstand die Gestalt der Verschwörung annahm, nachdem alle Wege einer gesetzmäßigen Opposition abgeschnitten waren. Bonhoeffer war von Beruf Theologe und Berater der Bekennenden Kirche; zugleich war er V-Mann der Abwehr. Er nahm im Widerstand das Odium eines Doppellebens auf sich und verzichtete - nach dem Wort seines Biographen Eberhard Bethge - am Ende gänzlich auf "das Begleitetwerden von Befehl und Beifall und allgemeiner Meinung". An politischer Bedeutung war Bonhoeffers Stellung im Widerstandskreis "nicht hoch einzuschätzen" ...

21

DOSSIER: KREISAUER KREIS (Anm. 18), S. 184ff. Hier zitiert nach der abschließenden Überarbeitung durch Lothar König (S. 192). Die handschriftlichen Entwürfe Delps sind abgedruckt bei R . BLEISTEIN, Delp (Anm. 13), S. 270ff.

22

ALFRED DELP: Gesammelte Schriften, hg. von Roman Bleistein. Bd. IV: Aus dem Gefängnis. Frankfurt am Main 1984, S. 316.

23

EBD,S. 321.

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"Unter dem Gesichtspunkt der Deutung und der geistigen Durchdringung des umstürzlerischen Tuns können wir Bonhoeffer allerdings wohl zum engsten Täterkreis rechnen." 24 Dieser Mann hat zu Weihnachten 1942 - zu der Zeit also, in der die "Weiße Rose" in München und anderen Städten aktiv war - seinen Mitverschworenen Hans v. Dohnanyi, Hans Oster und Eberhard Bethge eine "Rechenschaft" überreicht. Ein Exemplar wurde unter Dachsparren des Elternhauses in Charlottenburg, in der Marienburger Allee 43, aufbewahrt. Aus ihm will ich einige Abschnitte zitieren. Ein einleitender Text trägt die Überschrift: "Wer hält stand?" Illusionslos kritisiert Bonhoeffer hier traditionelle Annäherungen an ungewöhnliche Lagen: die Wege der Vernunft, der Reinheit des Prinzips, des Gewissens, der Pflicht, der Tugend, der Freiheit der Entscheidung, um am Ende nur den Glauben und den Ruf zu gehorsamer und verantwortlicher Tat in alleiniger Bindung an Gott übrigzulassen. In einer zerstörten Welt gelten die alten Orientierungen nicht mehr: "Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen."25 Ein weiterer Abschnitt heißt "Civilcourage". Hier rechnet Bonhoeffer mit einer zentralen Figur deutscher und deutsch-protestantischer Geschichte ab, mit dem Gehorsam: "Wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage gefunden, auch bei uns selbst nicht. Es wäre eine zu naive Psychologie, diesen Mangel einfach auf persönliche Feigheit zurückzuführen. Die Hintergründe sind ganz andere. Wir Deutschen haben in einer langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft des Gehorsams lernen müssen ... Wer wollte dem Deutschen bestreiten, daß er im Gehorsam, im Auftrag, im Beruf immer wieder das Äußerste an Tapferkeit und Lebenseinsatz vollbracht hat? Seine Freiheit aber wahrte der Deutsche darin - und wo ist in der Welt leidenschaftlicher von der Freiheit gesprochen worden als in Deutschland von Luther bis zur Philosophie des Idealismus? -, daß er sich vom Eigenwillen zu befreien versuchte im Dienst des Ganzen. Beruf und Freiheit galten ihm als zwei Seiten derselben Sache. Aber er hatte damit die Welt verkannt; er hatte nicht damit gerechnet, daß seine Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den Auftrag mißbraucht werden könnte zum Bösen. Geschah dies, wurde die 24 E. BETHGE, Bonhoeffer (ANM. 1), S. 894f. 25 D. BONHOEFFER, Nach zehn Jahren (Anm. 14), S. 12.

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Ausübung des Berufes selbst fragwürdig, dann mußten alle sittlichen Grundbegriffe des Deutschen ins Wanken geraten. Es mußte sich herausstellen, daß eine entscheidende Grunderkenntnis dem Deutschen noch fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag ... Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht." 26 Vom Leiden spricht ein anderer Abschnitt: "Es ist unendlich viel leichter, im Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenster verantwortlicher Tat. Es ist unendlich viel leichter, in Gemeinschaft zu leiden als in Einsamkeit. Es ist unendlich viel leichter, öffentlich und unter Ehren zu leiden als abseits und in Schanden. Es ist unendlich viel leichter, durch den Einsatz des leiblichen Lebens zu leiden, als durch den Geist. Christus litt in Freiheit, in Einsamkeit, abseits und in Schanden, an Leib und Geist, und seither viele Christen mit ihm." 27 Endlich, als Fazit, der Schlußabschnitt: "Sind wir noch brauchbar?" "Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden - sind wir noch brauchbar?"28 3. Christlicher Widerstand: Motive und Begründungen Ich sagte anfangs: der Widerstand gegen Hitler war keine einheitliche Bewegung. Demgemäß verfügte er auch nicht über eine einheitliche Begründung für sein Handeln; er entwickelte keine systematische, in sich geschlossene Tyrannomachie. Vielfach suchte man Halt an älteren Denktraditionen. Manche bemühten sich, die verschütteten Lehren über Widerstandsrecht und Tyrannenmord neu zu entdecken. Naturrechtliche Argumente wurden ins Feld geführt zur Begründung einer neuen politischen Ordnung. Dabei standen für Katholiken thomistische und naturrechtliche Uberlieferungen im Blick, für Protestanten lutherische, calvinische oder aufklärerische Traditionen. Das Zeitalter des staatsrechtlichen Positivismus hatte die Uberreste der alten Tyrannis- und Widerstandslehren aus den Lehrbüchern und aus dem 14f.

26

EBD., S.

27

EBD., S. 24.

28

EBD., S. 27.

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akademischen Unterricht getilgt29. So standen die zum Widerstand Entschlossenen den Ungeheuerlichkeiten des Nazismus ohne rechte philosophische und juristische Auskunft gegenüber. Dies zwang sie, unmittelbar an die Traditionen der Hochscholastik und der Reformation anzuknüpfen. Es kam im Widerstand zu einer Renaissance rechtsphilosophischen und theologischen Denkens. Dabei zeigte sich, daß die moderne Tyrannis nicht mehr, wie in der klassischen Theorie, als Entartung des monarchischen Prinzips begriffen werden konnte. Vielmehr handelte es sich beim Nationalsozialismus, der auf einer Massenbewegung beruhte und zur Zeit seiner Erfolge breitester Zustimmung sicher sein konnte, um eine neue Form "demokratischer Tyrannis". Demgemäß rückten gegenüber der älteren Thematik des unrechten Herrschaftserwerbs andere Probleme in den Vordergrund: der schwer faßbare Umschlag vom legitimen Führungsauftrag zu persönlicher Willkür, die Aushöhlung und Zerstörung der Verfassung, die Identifikation von Partei und Staat. Das Wort Tyrann war z.B. bei den Verschwörern des 20. Juli ein geläufiges Wort. Es wurde in den meisten Fällen in ähnlichem Sinn gebraucht wie bei Augustinus, Luther oder Calvin, nämlich um die innere Verderbtheit, die perversitas eines Menschen zu kennzeichnen. Dieses Tyrannenbild hatte zahlreiche Schattierungen und war durchaus nicht einheitlich; es konnte das Gegenbild einer verfassungsmäßigen Ordnung bezeichnen 30 oder - als Spitze neuzeitlicher Entwicklungen - die von moralischen Bindungen freigesetzte "Dämonie der Macht" 31 ; es konnte aber auch ein eschatologischer Zug hineinspielen, vor allem, wenn man den lutherischen Begriff der anomia auf die konkrete staatliche Situation anwandte. Im Kreis der katholischen Theologen, die der Widerstandsbewegung nahestanden, neigte man dazu, in Ergänzung thomistischer Ansätze ein Recht der kollektiven Notwehr zu entwickeln - wie es als Prinzip bereits der alten Lehre vom gerechten Krieg zugrundelag. Bei Thomas von Aquin war jedes gewaltsame Vorgehen gegen den Tyrannen streng an die publica auctoritas, die öffentliche Ermächtigung gebunden, wofern es sich nicht einfach um einen Usurpator handelte, der durch jedermanns Hand fallen durfte. Eine Weiterentwicklung dieses Gedankens mußte in Rechnung stellen, daß die 29 HELLA MANDT: Tyrannisiere und Widerstandsrecht. Darmstadt; Neuwied 1974, S. 105ff., 205ff. 30 Hier liegt ein - aus persönlichem Erleben erwachsener - Ursprung der modernen Totalitarismustheorien bei Waldemar Gurian, Carl Joachim Friedrich, Gerhard Ritter. 31 So das vielgelesene Buch von GERHARD RITTER, dessen Titel auf ein Referat im "Freiburger Konzil", einem Kreis der Widerstandsbewegung, zurückging; vgl. CHRISTIANE BLUMENBERG-LAMPE: Das wirtschaftspolitische Programm der 'Freiburger Kreise'. Berlin 1973, S. 19.

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Möglichkeiten eines modernen Tyrannen, zum Angreifer auf ein Volk zu werden, durch die Mittel der Technik und der Massensuggestion ins Ungeheure gewachsen waren. Auch konnte die Ermächtigung zum Handeln in einem modernen, mit totalitären Mitteln ausgerüsteten Staat nur stillschweigend von der besseren Mehrheit des Volkes gegeben werden. Verfügte doch das Regime über genügend Möglichkeiten, öffentliche Zeichen des Widerstands zu unterdrücken - so daß nicht einmal mehr der Akt des Martyriums ausstrahlende und aufrüttelnde Kraft gewinnen konnte. Wieweit bei solchen Erwägungen im Extremfall auch der Tyrannenmord gerechtfertigt oder doch entschuldigt wurde, muß nach den Quellen offen bleiben. Der SS-Bericht über die Sitzungen des Volksgerichtshofes erwähnt ein bezeichnendes Detail: demnach habe der Freiherr von Leonrod, einer der Verschwörer, sich bei seinem Münchner Beichtvater Kaplan Wehrle erkundigt, ob Tyrannenmord Sünde sei. Dieser habe nach genauer Überlegung verneint, jedoch von einer Beteiligung am Attentat abgeraten. Vom Volksgerichtshof wurde Kaplan Wehrle später zum Tod verurteilt, bezeichnenderweise mit der Begründung, er habe wissen müssen, daß mit dem Tyrannen nur Hitler habe gemeint sein können! 32 Eine Verpflichtung zum Widerstand ergab sich für beide Konfessionen auch aus der Tatsache, daß der Nationalsozialismus die Kirchen verfolgte. In der Tat scheint hier besonders für evangelische Kreise ein Ansatzpunkt zur Opposition gelegen zu haben. Es war ja das Kriterium des Tyrannen bei Calvin gewesen, daß er den Gehorsam gegen Gott zu hindern suchte. Mit zunehmender Deutlichkeit zeigte sich aber auch, daß der Staat selbst einem Zustand der Gesetzlosigkeit entgegentrieb, da er aus einem Rechtsstaat zu einem Unrechtsstaat wurde. In der Vermischung geistlicher mit weltlichen Ansprüchen lag für viele evangelische Christen das Widergöttliche des NS-Staates: der religiöse Widerstand erwachte, als der Staat selbst zu einem pseudoreligiösen Gebilde wurde. Ob dabei der Begriff der anomia (der bei Luther allein im Hinblick auf die als "tyrannisch" empfundene Papstkirche gebraucht wird) auch auf den weltlichen Staat und seine möglichen Entartungen anwendbar ist, kann hier außer Betracht bleiben; entscheidend ist, daß der Protestantismus sich an dieser Stelle auf seine ursprünglichen Widerstandstraditionen besann, die seit dem pietistischen Rückzug aus der Welt verloren gegangen waren.

32 WALTER WAGNER: Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat. Stuttgart 1974, S. 698ff.; THEO SCHMIDKONZ: Hermann Josef Wehrle - Priester und Märtyrer. In: Georg Schwaiger (Hg.): Das Erzbistum München und Freising in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Bd. II. München 1984, S. 227ff.

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Da und dort stößt man auf noch radikalere Ansätze einer theologischen Widerstandsbegründung. Dabei herrschen meist eschatologische Blickrichtungen vor. So soll Dietrich Bonhoeffer bereits im Jahre 1940 gegenüber dem Bischof von Chichester die Uberzeugung geäußert haben, Hitler müsse "eliminiert" werden. Bischof Bell berichtet über das Gespräch: "We know of the despair which seized all those who were engaged in subversive activities in July and August 1940. We know of a meeting held at that time where it was proposed that further action should be postponed so as to avoid giving Hitler the character of a martyr if he should be killed. Bonhoeffer's rejoinder was decisive: 'If we claim to be Christians, there is no room for expediency. Hitler is the Anti-Christ. Therefore we must go on with our work and eliminate him whether he be successful or not'." 33 Die Differenz zwischen einer mehr aktiven und einer mehr passiven Haltung des Widerstands - sie teilt die deutsche Opposition gegen Hitler in zwei deutlich unterschiedene Gruppen - ist keineswegs nur der Ausdruck besonderer zeitgeschichtlicher Umstände. Sie hat mit grundsätzlichen Fragen christlicher Lebens- und Glaubenshaltung zu tun und gehört damit in einen größeren historischen Zusammenhang. Das Christentum hatte der griechischen Verherrlichung des Tyrannenmordes den Gedanken der Duldung entgegengesetzt. Das paulinische Wort "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit!" wurde bekräftigt durch den Hinweis, daß jede Gewalt von Gott sei, Widerstand daher Auflehnung gegen Gott bedeute. Freilich war dieser Satz bereits im alten Christentum nicht unumstritten34, und wenige Jahrhunderte später hat der Zusammenprall geistlicher und weltlicher Gewalten im Investiturstreit die überlieferte Dulder* und Märtyrerphilosophie gegenüber neuen, zum Teil sehr radikalen Widerstandstheorien zurücktreten lassen. Thomas von Aquin unterschied, um der Schwierigkeiten Herr zu werden, zwischen göttlicher Einsetzung und bloßer Zulassung des Herrschers durch Gott: Widerstand gegen unrechte Gewalt war damit möglich; doch von einer generellen Erlaubnis zum Widerstand - und gar zum Tyrannenmord - konnte noch keine Rede sein. Fragen dieser Art entziehen sich ja meist einer Festlegung im vorhinein; fast immer kann nur nachträglich entschieden werden, ob eine Tat verwerf33

E. BETHGE, Bonhoeffer (Anm. 1), S. 811. Es sei erwähnt, daß BETHGE aufgrund genauer Kenntnis des Bonhoefferschen Denkens die Authentizität des vielzitierten Satzes über Hitler als Antichrist bezweifelt.

34

Der Widerstand gegen den Kaiserkult bildet die älteste Ausnahme von der Regel der "politischen Indifferenz" des frühen Christentums; vgl. ARNOLD A. T. EHRHARDT: Politische Metaphysik von Solon bis Augustin. Bd. II (Die christliche Revolution). Tübingen 1959, S. 21ff.

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lieh oder billigenswert sei; im voraus sind nur gewisse Anhaltspunkte, historische Erfahrungen, Analogieschlüsse gegeben. Aus der göttlichen Duldung des zum Tyrannen entarteten Herrschers ergibt sich in der Tradition, daß der Widerstand sich zunächst in gesetzmäßigen Formen halten muß; erst wenn diese erschöpft sind, kommen andere Mittel in Betracht. Ein solches Vorgehen in Schritten ist aber in einem totalitären Staat moderner Prägung nur schwer möglich; der Widerstand käme auf diese Weise nicht zum Ziel. Immerhin haben zahlreiche Repräsentanten des christlichen Widerstands für sich den Vorbehalt gemacht, daß Widerstand von Christen sich nur in defensiven Formen äußern dürfe. Vor allem der Kreisauer Kreis um den Grafen Moltke hat sich lange - wenn auch nie ausschließlich - in solchen Gedankengängen bewegt. "Ich sterbe nicht für meine Handlungen oder Verschwörungen, sondern allein für meine Gedanken", hatte Graf Moltke in seinem Abschiedsbrief geschrieben, damit einen Trennungsstrich ziehend zwischen sich und der aktiven Gruppe der Widerstandskämpfer35. Wir wissen heute freilich, daß auch der Kreisauer Kreis die Anwendung von Gewalt nicht prinzipiell ausgeschlossen hat 36 . Um diese Fragen wurde zwischen den Teilnehmern heftig gerungen. Der größte Nachdruck wurde von Anfang an auf die geistige Uberwindung des Nationalsozialismus gelegt: das Wirken der Kreisauer zielte auf die Wiederherstellung des zerstörten Menschenbildes. Der politische Widerstand unter äußersten Bedingungen war für die Christen unter den Widerstandskämpfern letztlich kein juristisches, kein staatsrechtliches Problem - er war ein religiöses Problem. Das gilt vor allem für eine Reihe der Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Mag eine genaue Analyse der Planungen und Absichten der Verschwörer noch so viel an politischen Motiven zutagefördern - die Tatsache bleibt bestehen, daß das Attentat auf Hitler gerade in einem Augenblick geschah, in dem die Aussichten auf eine schnelle Beendigung des Krieges und ein Entgegenkommen der Alliierten gegenüber der deutschen Opposition praktisch auf Null gesunken waren. Der Tat kam in hohem Maße Zeichen- und Symbolcharakter, in viel geringerem Maße realpolitische Bedeutung zu. Es sollte sichtbar werden, daß nicht alle Deutschen Hitler besinnungslos folgten, daß es eine beträchtliche Opposition, ein "anderes Deutschland" gab. Dabei lag die persönliche Tragik der Verschwörer darin, daß sie von beiden Seiten mißverstanden wurden: vom Ausland, das sie für Reaktionäre hielt 37 , ebenso wie von den Nationalisten in Deutschland, die in ihnen Verräter sahen. 35

HELMUTH JAMES GRAF VON MOLTKE: Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel. 9. Aufl. Berlin

36

Hierzu P. HOFFMANN, Widerstand (Anm. 4), S. 457f.

37

HANS ROTHFELS: Die deutsche Opposition gegen Hitler. 2. Aufl. Krefeld 1951, S. 156ff.

1963, S. 62.

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Was verband christliche Einzelne im Widerstand miteinander? Was verband den evangelischen Konsistorialrat Gerstenmaier mit dem katholischen Bauern und Kriegsdienstverweigerer Franz Jägerstetter, den Gutsherrn von Moltke mit dem Sozialisten Haubach, den Prediger Rupert Mayer mit dem Historiker Gerhard Ritter, Sophie Scholl mit Eleonore von Trott? Es war letzten Endes etwas sehr Allgemeines, Menschliches (bei durchaus verschiedenen politischen Motiven): gemeinsamer Abscheu vor den Verbrechen des Regimes, gemeinsames Erschrecken über die vielen, die ihm blind und ergeben folgten - und das Bewußtsein einer hier und heute wahrzunehmenden persönlichen Verantwortung. Die christlichen Einzelnen waren dabei ihren Kirchen an Mut und Entschlossenheit weit voraus. Sie appellierten an eine gemeinsame ökumenische - und politische! - Tat. Das blieb zunächst vergeblich; sinnlos war es nicht. Denn es gab Anlaß zur Uberprüfung des altüberlieferten Denkens bezüglich Staat, Kirche, öffentlicher Ordnung in der Nachkriegszeit - ein Prozeß, der bis zur Stunde andauert.

Siegfried Bräuer "GEHORSAM G E G E N D E N IN DER VÖLKISCHEN GESCHICHTE WIRKENDEN G O T T " Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933 Nach Helmut Thielickes Urteil war Hanns Rückert in den Jahren des Neubeginns nach 1945 "die wohl zentrale Figur" der Tübinger Theologischen Fakultät. Während Thielicke zum kirchenpolitischen Engagement des Praktischen Theologen Karl Fezer in den dreißiger Jahren deutlich Position bezieht, übergeht er diese Phase im Leben seines älteren Freundes Rückert. Möglicherweise klingt doch einmal etwas davon an, wenn er mit Bedauern erwähnt, daß der theologische Austausch mit ihm nicht ganz dem "Grad" der "menschlichen Verbundenheit entsprach". Den Grund hierfür vermutet er allerdings in der zu verschiedenen geistigen Konstitution 1 . Deutlicher sind die Hinweise auf eine gewisse Verschlossenheit des Tübinger Hochschullehrers in den Äußerungen einiger seiner Schüler. So erinnert Martin Brecht in einem Gedenkwort daran, daß es Rückert "mit seinen konkreten Stellungnahmen anderen und sich selbst nicht immer leicht gemacht" habe. Ausführlicher hat er 1990 in seinen Reflexionen über die Schuldfrage im Lichte der Einsichten Luthers noch einmal auf das Exempel Rükkert zurückgegriffenz. Genauer hat jedoch erst Leonore Siegele-Wenschkewitz diese Problematik in ihrem Beitrag über Rükkerts Auseinandersetzung mit Karl Barth im Jahre 1946 untersucht. Sie hat die Konsequenzen für Rückerts Geschichtsverständnis genauso aufgezeigt wie sie die Voraussetzungen in der Zugehörigkeit zur Holl-Schule und in der Mitgestaltung der Tübinger Fakultätspolitik einsichtig gemacht hatf. Mit meinem Beitrag möchte ich 1

HELMUT THIELICKE: ZU Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen. Hamburg 1984, S. 215f.

2

MARTIN BRECHT: Zum Gedenken an Professor D . Hanns Rückert. In: B W G K 73/74, 1973/74, S. 183f., bes. S. 184 (schon damals wies Brecht auf Rückerts Aufsatz von 1936: "Luther und der Reichstag zu Augsburg" hin); DERS.: Weder leichtfertige Überheblichkeit, noch Verzweiflung. Luthers Umgang mit der Schuld. Beobachtungen zu einem aktuellen Thema. In: K Z G 4, 1991, S. 462-475, bes. S. 467ff.

3

LEONORE SLEGELE-WENSCHKEWITZ: Geschichtsverständnis angesichts des Nationalsozialismus. Der Tübinger Kirchenhistoriker Hanns Rückert in der Auseinandersetzung mit Karl

Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

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den umgekehrten Weg einschlagen. Nicht von den späteren, mehr oder weniger verschlüsselten Versuchen einer Verarbeitung soll auf die Äußerungen und das Verhalten im Jahre 1933 rückgeblendet werden. Anhand der schriftlichen Quellen soll vielmehr der Weg eines jungen Kirchenhistorikers aus der Schule Karl Holls nachgezeichnet werden, der zum zeitweiligen Engagement für die Glaubensbewegung Deutsche Christen führte. Rückerts öffentliche Parteinahme für Ludwig Müller in einer Tübinger Studentenkundgebung am 17. Juni 1933 bietet sich als zeitliche Grenze für unsere Untersuchung an. Das zweite Halbjahr 1933, für das vor allem Äußerungen Rückerts zum Lutherjubiläum vorliegen und an dessen Ende nicht nur die Abwendung von Müller, sondern von den Deutschen Christen insgesamt steht, soll einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben 4 . I.

"Rückert ist Holls Lieblingsschüler, der ihn sehr hoch einschätzte, und mit Recht." Mit diesem Testat empfahl ihn Hans Lietzmann für den vakanten Tübinger kirchengeschichtlichen Lehrstuhl Anfang 19315. Rückert selbst hat schon in seiner Licentiatenarbeit das enge Verhältnis zu seinem Lehrer bestätigt 6 . In seiner Antrittsrede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat er 1960 noch einmal bezeugt, von den theologischen Lehrern habe nur Holl "formend und bestimmend" auf ihn gewirkt. Vor allem durch sein Lutherbuch verdanke er ihm den Zugang zur gesamttheologischen Problematik seiner Generation. Er habe ihn auch "gelehrt, daß es keinen anderen fruchtbaren Weg zur Mitarbeit an dieser theologischen Gesamtproblematik gibt, als den von der Geschichte her". Rückert verwendet für den prä-

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Barth. In: DIES, und CARSTEN NICOLAISEN (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993, S. 113-144. An der Auseinandersetzung mit Barth war übrigens auch Thielicke beteiligt (vgl. HERMANN DLEM: Ja oder Nein. 50 Jahre Theologe in Kirche und Staat. Stuttgart/Berlin 1974, S. 153-159). Vgl. HANNS RÜCKERT: Luther als Deutscher. In: DTh. Luther- Sonderheft 1933, S. 10-23. Dazu L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Geschichtsverständnis (Anm. 3), S. 123, 126-128 (der Titel des Vortrags bei der Fakultäts-Lutherfeier am 18. November 1933 wird irrtümlich mit "Luther, der Deutsche" wiedergegeben). Außerdem hat sich im handschriftlichen Nachlaß Rückerts eine Ansprache zum Reformationsfest in der evangelischen Morgenfeier des Süddeutschen Rundfunks am 5. November 1933 erhalten (UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 207/64). KURT ALAND (Hg.): Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892 - 1942). Berlin/New York 1979, S. 637 Nr. 709 (Lietzmann an Gerhard Kittel, 10. Februar 1930). HANNS RÜCKERT: Die Rechtfertigungslehre auf dem Tridentinischen Konzil. Bonn 1925, S. V: In seiner theologischen Entwicklung sei "das Entscheidende Karl Holls Einfluß" gewesen.

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genden Einfluß des akademischen Lehrers auf seine Entscheidung für die Kirchengeschichte und auf seine theologische Existenz überhaupt, den Begriff "Befreiung"7. Bereits 1926 in Rückerts Nachruf auf Holl ist von der "große(n) befreiende(n) Wirkung" die Rede, die der Lehrer mit der Verbindung von Historie und Systematik auf die junge Generation ausgeübt habe8. An den vier Grundfragen der Theologie Luthers habe Holl ihnen diese Verbindung existentiell nahegebracht, der Gottesfrage mit ihrem Zentrum in der Rechtfertigungslehre, der Gewissensethik mit ihrer Einschärfung der Pflicht, Stiftung einer neuen Kirche mit dem Gemeinschaftsgedanken in Gestalt einer Volkskirche, der Weisung an die Welt als Arbeitsgebiet des Christen. Die Persönlichkeit Holls habe entscheidend dazu beigetragen, daß seine wissenschaftlichen Erkenntnisse eine derart prägende Wirkung auf seine Schüler hatten. Da sei einmal auf "die große Existenzfrage" hinzuweisen, die Luther erschüttert hat und die Holl selbst vernommen habe9. Johannes Wallmann hat nachgewiesen, daß Holls neue Luthererkenntnis auf die Zeit des Ersten Weltkriegs zu datieren und sein "Lutherbuch ... tatsächlich ein Produkt des Kriegserlebnisses" ist 10 . Zum anderen nennt Rückert das Auftragsbewußtsein, das die Schüler dem Lehrer abspürten: "Seine wissenschaftliche Arbeit hat er getan, sein akademisches Lehramt geführt in dem Bewußtsein, von Gott 'berufen' zu sein." 11 Rückert war nicht der einzige, dem das Studium bei Karl Holl und die wissenschafltiche Arbeit unter dessen Anleitung zum prägenden Erlebnis für die theologische Existenz überhaupt wurde12. Wohl keiner hat aber wie er diese Erfahrung immer wieder in Worte gefaßt. Zeitbezogene Äußerungen aus Rückerts Berliner Zeit sind nicht überliefert. Nach Holls frühem Tod 1926 hat er, erst wenige Monate als Privat7

Antrittsrede von HANNS RÜCKERT in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. In: ZThK 72, 1975, S. 334-336, bes. S. 334. 8 HANNS RÜCKERT: Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie. Tübingen 1972, S. 361. 9 EBD., S. 366. 10 JOHANNES WALLMANN: Karl Holl und seine Schule. In: ZTHK. B 4, 1978, S. 1-33, bes. S. 31. In seiner Skizze über Holl für die von Hans Jürgen Schultz hg. Theologiegeschichte in Porträts "Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert" (Stuttgart 1966) hat RÜCKERT dagegen die Vermutung geäußert, Holl sei wahrscheinlich "von Luther überwältigt und festgehalten worden, als er sich in der Zeit des Tübinger Extraordinariats bei der Ausarbeitung der reformationsgeschichtlichen Vorlesungen in ihn vertiefte" (zitiert nach: Vorträge [Anm. 8], S. 370). 11 EBD., S. 367. 12 Beispielsweise hat Rose Hirsch, Emanuel Hirschs Frau, brieflich am 14. Januar 1935 Lietzmann gegenüber bezeugt: "... ich weiß, welche Flamme er (sc. Holl) in meinem Mann angezündet hat" (K. ALAND, Glanz [Anm. 5], S. 801 Nr. 898).

Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

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dozent tätig, die Vorlesungen seines Lehrers übernehmen müssen. Seitdem las er im Turnus mit Lietzmann die großen kirchengeschichtlichen Kollegs. Er war nicht nur durch sein Lehrprogramm und sein Amt als Inspektor des Johanneums, sondern auch durch seine Pläne für wissenschaftliche Veröffentlichungen weitgehend ausgelastet13. Von diesen Publikationsvorhaben ist allein der "Grundriß der evangelischen Religionskunde auf geschichtlicher Grundlage" erschienen. Hans Lietzmann hat ihn und Hermann Wolfgang Beyer für dieses Projekt gewonnen. Der ihm befreundete Holl-Schüler Beyer, seit 1926 Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte in Greifswald, bearbeitete die Teile Neues Testament bis Mittelalter sowie das 20. Jahrhundert, Rückert das Alte Testament und den Zeitraum von der Reformation bis zum 19. Jahrhundert. Es verwundert nicht, daß die Darstellung der Reformation und besonders Luthers bis in die Begrifflichkeit deutlich den Einfluß von Holl erkennen läßt. Holl selbst kommt mit längeren Zitaten zu Wort 14 . Ausgesprochen nationale Anklänge fehlen15. In dem von Beyer verfaßten Kapitel "Die religiöse und kirchliche Lage in der Gegenwart" wird die deutschnationale Position des Autors dagegen ganz unverdeckt sichtbar. Der evangelische Glaube wird als an Luther orientierte persönliche Gewissenserfahrung und die Aufgabe der Kirche als geistige Erneuerung des Volks auf der Grundlage dieser Erfahrung beschrieben. Bei Beyer sind schon von der Thematik her die Nahtstellen zu der 1933 häufig anzutreffenden theologischen Argumentation zahlreich16. Ob Rückert die Situation nach dem

13

EBD., S. 535 Nr. 570 (Lietzmann an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 29. Januar 1927) und S. 562 Nr. 609 (Lietzmann an Hans Emil Weber).

14

H(ERMANN) W(OLFGANG) BEYER/H(ANNS) RÜCKERT: Grundriß der evangelischen Religionskunde auf geschichtlicher Grundlage. (Hilfsbücher für den Religionsunterricht an höheren Schulen. V). Leipzig/Berlin 1927, S. 142f. (z.B. Holl-Zitate zur religiösen Entwicklung und zum Rechtfertigungserlebnis Luthers).

15

EBD., S. 150: Luthers Heirat wird ausschließlich als Zeugnis für die reformatorische Erkenntnis verstanden. In der Jubiläumsrede "Luther als Deutscher" vom 18. November 1933 (vgl. Anm. 4) heißt es: "Luther ist der erste, der ganz Christ und zugleich ganz Ehemann, ganz Deutscher - ich möchte sagen: ganz Mensch gewesen ist". Das schließt auch ein, "Glied eines Volkstums und einer Rasse und aktiv mitarbeitender Staatsbürger zu sein" (S. 20). Die Enttäuschung des Volkes über Luthers Haltung im Bauernkrieg wird in der üblichen Form auch 1927 erwähnt. Die anschließende Bemerkung klingt wie ein Vorgriff auf die Diktion von 1933: "Diese Scheidung vom Volk griff Luther tief ans Herz" (H. W. BEYER/H. RÜCKERT, Grundriß [Anm. 14], S. 149).

16

Vgl. z.B. EBD., S. 259: "Die Gewissensreligion dagegen (sc. im Vergleich zum Offenbarungsverständnis der Aufklärung und der Dialektischen Theologie) erlebt Gott überall da, wo er sein Wesen - und das heißt seinen Willen - den Menschen kund tut, in der Natur und in der Geschichte." Vgl. auch EBD., S. 249 u.ö. Zu Beyers Ekklesiologie vgl. ECKHARD LESSING: Zwischen Bekenntnis und Volkskirche. Der theologische Weg der Evangelischen Kirche der

208

Siegfried Bräuer

Weltkrieg und die Aufgabe der Kirche in derselben Diktion beschrieben hätte, wissen wir nicht. Fest steht, daß er den deutschnationalen Standpunkt teilte. Im Vorwort betonen beide Autoren, "das äußere und innere Zusammenarbeiten zwischen ihnen" sei so eng gewesen, daß sie glauben dürften, "etwas Einheitliches vorzulegen"17.

n. Zur politischen Situation liegen ebenfalls keine Äußerungen Rükkerts während seines Intermezzos als Lehrstuhlinhaber in Leipzig vor. Nach vergeblichen Bemühungen, ihn mit Unterstützung Lietzmanns und anderer, mit einer Professur 1926 in Tübingen, 1927 in Kiel und Halle, ebenfalls 1927 in Bonn, zu versorgen, gelang es Emanuel Hirsch, ihn 1928 als Nachfolger Heinrich Boehmers durchzufechten, wie Hirsch selbst angibt18. Rückert faßte in Leipzig schnell Fuß und wurde in die illustre Coronella aufgenommen, zu deren Mitgliedern so unterschiedliche Gelehrte wie der Althistoriker Helmuth Berve, der Physiker Werner Heisenberg, der Orientalist Hans Heinrich Schaeder und der Religionsphilosoph Joachim Wach gehörten 19 . Er wandte sich auch zeitgenössischen wissenschaftlichen Fragestellungen zu, vor allem dem Verhältnis von Christentum und Germanentum. So ließ er sich von Konstantin Reichardt, der ebenfalls der Coronella zugehörte, in die altnordische Sprache und Literatur einführen20. Die konfessionelle Frage forderte ebenfalls zu Beginn der dreißiger Jahre neu zur Auseinandersetzung heraus. Rückert wurde von der Leitung der 13. Tagung christlicher Akademiker in Freudenstadt 1930 gebeten, neben Karl Fezer und den beiden befreundeten Holl-Schülern Hermann Wolgang Beyer und Emanuel Hirsch eins der Referate zur Thematik "Der römische Katholizismus und das Evangelium" zu halten. In seinen Ausführungen über "Meßopfer und Abendmahl" vertritt er den Standpunkt von Luthers theologia crucis. Gegen den katholischen Substanzbegriff und dessen Vorstellung von der Bindung Gottes an Dinge betont er Gottes Handeln als Herr der altpreußischen Union (1922 - 1953) unter besonderer Berücksichtigung ihrer Synoden, ihrer Gruppen und der theologischen Begründungen, Bielefeld 1992, S. 205-211 (Lessing zieht auch den "Grundriß" mit heran). 17 18

H . W . BEYER/H. RÜCKERT, Grundriß (ANM. 14), S. VIH. K. ALAND, Glanz (Anm. 5), S. 572 Nr. 622 (Hirsch an Lietzmann, 19. Mai 1928). Vgl. EBD., S. 525 N r . 557 (Tübingen 1926), S. 535 Nr. 570 (Kiel), S. 548 N r . 593 (Halle), S. 560 Nr. 607 (Bonn).

19

HEINRICH BORNKAMM: Hanns Rückert (Nachruf). In: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1975. Heidelberg 1976, S. 88-91, bes. S. 89.

20

Vgl. HANNS RÜCKERT: Die Christianisierung der Germanen. Ein Beitrag zu ihrem Verständnis und ihrer Beurteilung. 2. Aufl. Tübingen 1934, S. 32.

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Welt durch den Geist: "Jeder Augenblick ..., jeder O r t . . . kann plötzlich von seiner (sc. Gottes) Gegenwart erfüllt werden, wenn Gott es will. Jede Pflicht meines Berufes, jede Begegnung mit einem Menschen kann mir zum Wort Gottes werden und mich unmittelbar vor sein Angesicht stellen, dann nämlich, wenn sein Geist mein Herz anrührt und mich dessen inne werden läßt, daß diesmal dies die Maske ist, die Gott sich vorbindet, um sich mir in der Verhüllung zu offenbaren". 21 Rückert bleibt mit seiner Interpretation im theologisch-kirchlichen Bereich. Aus heutiger Sicht werden jedoch die Ansatzpunkte deutlich sichtbar, an denen sich das an Luther orientierte Offenbarungs- und Geschichtsverständnis des Holl-Schülers den Geschehnissen des Jahres 1933 öffnen konnte. Weniger deutlich lassen sich solche Ansätze in einem Referat über "Theologie als Wissenschaft" aufweisen, das Rückert auf einer AbiturientenFreizeit für künftige Theologen im März 1931 in Dresden-Klotzsche gehalten hat. Mit seelsorgerlichem Ernst, der dem Leser noch heute Respekt abnötigt, bemüht er sich, die Kursteilnehmer auf die spannungsvolle Existenz als Theologe, d.h. der Wahrheit der Wissenschaft genauso wie der Wahrheit der Kirche verpflichtet zu sein, vorzubereiten. Wiederum geht es ihm um eine Wahrheit, über die man nicht besitzmäßig verfügen kann, die es auch nicht nur zu bewahren und zu bewähren gilt, sondern die "Gott in mir durch Christus in jedem Augenblick ... neu schaffen will" und um die unter Anfechtung zu ringen ist22. Als ein ständig Werdender hat der Theologe eine Mission in der universitas litterarum, er hat die Grundfragen, die Korrelation von Erkennen und Sittlich-sich-entscheiden, wachzuhalten. Die Theologie "verwaltet auch als Wissenschaft in ihrer Welt das Wort..., sie ist von Gott an diesen Ort gestellt, um es zu sagen, und sie hat zu glauben, daß es nicht leer zu ihr zurückkommt" 23 . Unter dem Eindruck der großen Leistungen der außertheologischen Wissenschaften, von denen "ein unerlöster Zauber" ausgehe, seien die Theologen "nicht dazu gerufen, im stillen Winkel 21

HANNS RÜCKERT:

Meßopfer und Abendmahl.

In:

Hermann

Wolfgang

Beyer/Karl

Fezer/Emanuel Hirsch/Hanns Rückert: Der römische Katholizismus und das Evangelium. Reden gehalten auf der Tagung christlicher Akademiker Freudenstadt 1930. Stuttgart 1931, S.143 - 173, bes. S. 169. Beachtenswert ist auch, wie RÜCKERT gegen "den Gedanken vom objektiven Dasein Gottes an und für sich" schroff den reformatorischen Protest anmeldet: "Das verfälscht den christlichen Gottesbegriff an seiner Wurzel. Gott ist Wirken, seine Gegenwart ist Tat" (EBD.). 22

UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 207/218 (handschr. Manuskript von 18 Bl. DIN A5), S. 7. Das Referat ist am zweiten Tag der Abiturienten-Freizeit gehalten worden. Am vorangehenden Tag stand das Universitätsstudium und akademische Leben im allgemeinen im Mittelpunkt, am dritten Tag das Verhältnis von Theologie und Kirche.

23

EBD., S. 13 und S. 1 1 .

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Siegfried Bräuer

... die Hände in den Schoß zu legen", sondern "in schwerster Gefahr, durch Anfechtung und Sünde hindurch das Werk zu errichten, das Gott uns aufgibt". In der Gewißheit der zugesagten Vergebung Gottes erfüllten sie "eine göttliche Aufgabe", wenn sie Theologie treiben24. Mit seinen aktualistisch akzentuierten Formulierungen konzentriert sich Rückert seelsorgerlich auf die Grundfragen von Wissenschaft und Theologie. Er unterläßt es, Konsequenzen für kirchenpolitische oder politische Positionen anzudeuten. Nicht zuletzt mit der Sendungsgewißheit der Theologie ist aber eine der Nahtstellen für eine Erweiterung der Funktion von Theologie und Kirche angedeutet, wenn die Situation diese notwendig macht. III. Durch Hirschs Absage für den durch Gustav Anrichs frühen Tod freigewordenen kirchengeschichtlichen Lehrstuhl in Tübingen, wurde der Weg für Hanns Rückert frei. In der Fakultätssitzung am 14. Februar 1931 schlug ihn Gerhard Kittel an erster Stelle von jüngeren Kandidaten vor. Die beschlossene Liste führt dann tatsächlich Rückert an, Heinrich Bornkamm folgt auf Platz zwei 25 . Seine akademische Antrittsrede hielt Rückert am 25. Mai 1932 über "Die Christianisierung der Germanen". Mit der völkischen Bewegung um Arthur Bonus hatte sich bereits Rückerts Vorgänger in Leipzig in seiner wichtigen Untersuchung über "Das germanische Christentum" kritisch auseinandergesetzt26. Rückert tritt gewissermaßen in Boehmers Fußstapfen, als er sich bereits in Leipzig in diese Thematik einarbeitete. Als erste Frucht dieser Forschungen veröffentlichte er 1931 einen Aufsatz, der dann in einigen Partien wieder Eingang in die Tübinger Antrittsrede fand 27 . In dieser gelangte er zu folgendem Ergebnis: "Die altgermanische Religion war geschichtslos, ja sie war nichts anderes als die Vergöttlichung einer vorgeschichtlichen Rasse. Deshalb hat sie auf die neuen religiösen Fragen, die für den germanischen Menschen aufbrachen, als er in der Völkerwanderungszeit in die Geschichte eintrat, keine dem Leben genügenden Antworten geben können. In dieser religiösen Krise ist das Christentum angenommen worden, weil es mit seiner Verkündigung einer Gottesoffenbarung in der Geschichte eine göttliche Sinngebung der Geschichte und die Kraft zu geschichtsmächti24

25

EBD., S. 17f.

UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 162/1 (Protokollbuch der theol. Fak. vom 1. April 1875 bis 27. April 1946), S. 311f. Vgl. auch L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Geschichtsverständnis (Anm. 3), S. 130. 26 HEINRICH BOEHMER: Das germanische Christentum. In: ThStKr 86, 1913, S. 165-280. 27 HANNS RÜCKERT: Die kulturelle und nationale Bedeutung der Missionierung Germaniens für das deutsche Volk. In: LMJ 44, 1931, S. 7ff.

Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

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gern Handeln brachte." 28 Mit dieser These eröffnete Rückert die Beiträge der Kirchenhistoriker zur Germanenfrage im Vorfeld des Dritten Reiches. Sie wurde sofort zur Kenntnis genommen, erfuhr Widerspruch von sehen der völkischen Bewegung, aber auch Zustimmung durch die Vertreter der theologischen Apologetik 29 . Partielle Kritik an der Interpretation der germanischen Religion kam aus engeren Fachkreisen, z.B. von dem Religionsgeschichtler Walter Baetke, der insgesamt dem Volks- und Rassegedanken im Gefolge der "nationalen Revolution" weniger Verständnis abgewann als Rükkert 30 . Der neue Tübinger Ordinarius hatte eingangs auf den "weltanschaulichen Umschwung" hingewiesen, der "in der nationalsozialistischen Revolution zum Durchbruch gekommen" sei. Auch die wissenschaftliche Arbeit sei "weithin getragen von der produktiven Leidenschaft einer Bewegung, die die Bedeutung der Rasse als Wurzelboden alles völkischen und individuellen Lebens" erkenne. "Der ganze energische Wille des Nationalsozialismus zur Gestaltung einer neuen deutschen Gegenwart und Zukunft" setze "sich hinein in die Bemühungen um eine klarere geschichtliche Erkenntnis der germanischen Frühzeit, aus der sich ja die Inhalte unseres rassischen Erbgutes in besonderer Reinheit und Kräftigkeit erheben lassen" müßten. Einflußreiche Gruppen leiteten aus dem "großen Kampf um die nähere Ausgestaltung dieser nationalsozialistischen Weltanschauung" eine neue und christentumskritische Sicht der deutschen Geschichte ab. Die wertvollen Anregungen dieser neuen Betrachtensweise müßten auch von der Kirchengeschichtsschreibung beachtet werden31. Wenn 28

29

RÜCKERTS eigene Zusammenfassung 1934; vgl. DERS.: Noch einmal: Die Christianisierung der Germanen. Antworten an Dr. Bernhard Kummer. In: Dth 1, 1934, S. 119-131, bes. S. 119. Vgl. z.B. WALTER KÜNNETH/HELMUTH SCHREINER (Hg.): D i e N a t i o n v o r G o t t . Z u r Bot-

schaft der Kirche im Dritten Reich. Berlin 1933, S. 243 (Johannes von Walter), S. 330 und S. 338 (Gerhard Gloege). Zur Thematik insgesamt vgl. GOTTFRIED MARON: Luther und die "Germanisierung des Christentums". Notizen zu einer fast vergessenen These. In: Z K G 94, 1983, S. 313-337; KNUTSCHÄFERDIEK: Germanisierung des Christentums. In: T R E Bd. 12, S. 521-524. 30

WALTER BAETKE: Arteigene germanische Religion und Christentum. Berlin/Leipzig 1933, S. 6 (zu Rückert vgl. S. 15f., 29, 31, 37). Mit seinen Kritikern setzte sich RÜCKERT in seinem Aufsatz in der "Deutsche(n) Theologie" von 1934 (wie Anm. 28) und in der verbesserten Fassung des Druckes seiner Antrittsrede auseinander (HANNS RÜCKERT: Die Christianisierung der Germanen. Ein Beitrag zu ihrem Verständnis und ihrer Beurteilung [Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte. 160], 2. Aufl. Tübingen 1934).

31

H. RÜCKERT, Christianisierung (Anm. 30), S. 7f. RÜCKERT meint, es "müßte von hier aus die ganze deutsche Geschichte neu durchdacht werden" (EBD., S. 8). Als auf einen "feinen Ansatz" dazu verweist er auf ERICH VOGELSANG: Ehre und Liebe. Ein Beitrag zur inneren

212

Siegfried Bräuer

Rückert auch in der Frage der Christianisierung auf Grund der eindeutigen Quellen romantisierende Vorstellungen beiseite räumt, seine Lernbereitschaft gegenüber der kräftig aufkommenden völkischen Fragestellung ist offenbar bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten beträchtlich. Sie führt ihn am Ende seiner Antrittsrede dazu, "zu bekennen, daß der germanische Mensch vom Herrn der Kirche berufen war, ein neues und tieferes Verständnis des Christentums zu erschließen". Umgekehrt sollte gleichfalls "unvergessen sein, daß wir das, was heute noch durch die große deutsche Geschichte hindurch an germanischem Erbgut, an Kräften und Werten Midgarts auf uns gekommen ist, niemandem anderen verdanken als der christlichen Verkündigung vom Reich Gottes als dem Sinn und Ziel der Geschichte" 32 . Rückert hat die völkische Ideologie auf ihre Grenze im Proprium der christlichen Botschaft hingewiesen, zugleich aber ein Maß von Verständigungsbereitschaft gezeigt, das für eine weitere Annäherung offen ist. Von diesem direkten Zeitbezug findet sich wenig im zweiten öffentlichen Vortrag Rükkerts, den er im Rahmen des Zyklus "Die Universität" im Wintersemester 1932/33 am 16. November 1932 über "Die Stellung der Reformation zur mittelalterlichen Universität" gehalten hat. Streng sachbezogen zeichnet er Luthers theologischen Neuansatz und dessen Konsequenzen für die Universitätsreform, die Bibelwissenschaft (Hermeneutik) als Grundwissenschaft und den existentiellen Charakter der Erkenntnis nach. Melanchthons Veränderungen (Dogmatik statt Hermeneutik, erlernbares Wissen statt existentielle Erkenntnis) werden ebenso nur angedeutet wie die nachfolgenden Modelle einer Universitätsreform (Pietismus, Aufklärung, Idealismus). Abschließend äußert sich Rückert zum Eindruck, daß auch Aufklärung und Idealismus kein Bau für die Ewigkeit gewesen seien und

32

Auseinandersetzung von Deutschtum und Christentum. In: D T h 1, 1934, S. 89-96. VOGELSANG schließt: "Im deutschen Sozialismus und in der SA Adolf Hitlers aber ringen zum dritten Male (sc. wie vorher im preußischen Ordensrittertum und im Preußentum des 2. Reiches) Liebe und Ehre um die Macht, um an dem deutschen Charakter und Schicksal zu formen" (S. 96). H. RÜCKERT, Christianisierung (Anm. 30), S. 31. Erstaunlicherweise ist die Antrittsrede unverändert in ihrem Textteil (Kürzungen betreffen vor allem die zeitgebundene Auseinandersetzung mit Kritik aus dem "Hause Ludendorff") in dem Sammelband "Vorträge und Aufsätze" (Anm. 8) aufgenommen worden (EBD., S. 19-42). Auch die Anmerkung, in der von der Uberwindung des Liberalismus und der Wiedererringung des Wissens um Religion auch als Grundlage des völkischen Lebens die Rede ist, ist erhalten geblieben (EBD., S. 25f. Anm. 18). Bei dem Hinweis auf den Ansatz bei E. VOGELSANG, Ehre (Anm. 31), ist allerdings das Adjektiv "feinen" gestrichen worden (S. 22 Anm. 10). RÜCKERT hat sich im Vorwort zu dem Grundsatz "Sint ut sunt aut non sint" bekannt und dazu aufgefordert, die Zeit mitzuberücksichtigen, in der die Aufsätze entstanden seien (S. VII).

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213

"daß etwas Neues werden will und daß vielleicht schon unsere Generation berufen ist, es zu gestalten". Was und wieviel dabei von Luthers Gedanken zu gebrauchen sei, werde davon abhängen, "welche Macht das Christentum im deutschen Volke" darstelle. Eine neue Universität wachse "nicht aus organisatorischen Veränderungen, sondern aus einem Neuaufbruch der Religion"33. Überlegungen zu einer fälligen Hochschulreform wurden im Herbst 1932 vielfach und mit zunehmender Leidenschaft in Deutschland diskutiert. Im Oktober beschäftigte sich der VII. Deutsche Hochschultag in Danzig mit dieser Thematik34. Gegen das sozialistische Hochschulprogramm in Paul Tillichs Beitrag "Fachhochschulen und Universität" für die Artikelserie der Frankfurter Zeitung "Gibt es noch eine Universität?" hatte bereits zu Jahresanfang der Tübinger Staatsrechtler Hans Gerber eine Presseabwehrkampagne organisiert35. Wie das Referat Rückerts in diesen Diskussionszusammenhang einzuordnen ist, bedarf noch genauerer Untersuchung36. IV. Der Politik des Dritten Reiches nach der Machtergreifung Hitlers wandte sich die Tübinger Universität auf Grund der überwiegend deutschnationalen Uberzeugung des Lehrkörpers in großer Geschlossenheit zu37. Einstimmig beschloß der Große Senat am 25. Februar 1933 eine Kund33

34

35

36

37

HANNS RÜCKERT: Die Stellung der Reformation zur mittelalterlichen Universität (In: Vorträge [Anm. 8], S. 71-95, bes. S. 95). Das Referat ist außer in der Sammelpublikation "Die Universität. Öffentliche Vorträge der Universität Tübingen, Wintersemester 1932/33. 1933, S. 63-96" auch noch separat erschienen als Heft der "Württembergischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften". Stuttgart 1933 (ohne Anm.). Vgl. WOLFGANG KALISCHER (Hg.): Die Universität und ihre Studentenschaft. Stifterverband für die deutsche Wissenschaft. Jahrbuch 1966/67, S. 207-216, vor allem EDUARDSPRANGERS Eröffnungsvortrag "Über Sinn und Grenzen einer Hochschulreform" (EBD., S. 213-216). Vgl. WALTER JENS: Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik. München 1981, S. 325 und S. 400f.; PAUL TLLLICH: Impressionen und Reflexionen. In: Gesammelte Werke Bd. 13. Stuttgart 1972, S. 144-149. RÜCKERT kannte selbstverständlich die Diskussion um die Problematik Fachschule/Hochschule, wie eine längere Passage seines Eröffnungskollegs zum Sommersemester 1933 belegt (vgl. HANNS RÜCKERT: Der völkische Beruf des Theologen. Ein theologisches Kolleg, gehalten in Tübingen zu Beginn des Sommersemesters 3. Mai 1933. Tübingen 1933, S. 7f.). Vgl. UWE DIETRICH ADAM: Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich. Tübingen 1977, S. 32. Die Homogenität der Theologischen Fakultät hat sich bereits beim "Fall Dehn" bewährt. In der Fakultätssitzung am 28. Oktober 1931 wurde protokolliert: "Auf Wunsch des Kollegen Heim, der sowohl von K. Barth - Bonn, wie von Schmitz - Münster um Unterzeichnung der von den betreffenden verfaßten Erklärungen für D. Dehn - Halle gebeten worden war, wird die Angelegenheit in der Fakultätssitzung

214

Siegfried Bräuer

gebung, die den "heiße(n) Wille(n)" der Hochschullehrer bekräftigt, "an der Rettung und dem Aufbau unseres großen deutschen Vaterlandes mit allen Kräften mitzuarbeiten". Die Art der politischen Betätigung wird allerdings dem einzelnen überlassen38. Auf der bekannten Erklärung von 300 deutschen Universitäts- und Hochschullehrern zur Reichstagswahl am 5. März 1933 findet sich unter den Unterzeichnern nur einer der Tübinger Theologen39. Rückerts Stellung hierzu bleibt mangels Quellen genauso im Dunkeln wie der Verlauf seiner Hinwendung zum nationalen Aufbruch des Jahres 1933 in seinen einzelnen Etappen. Bis zum Ende des Wintersemesters 1932/33 liegen keine Äußerungen zur politischen Situation vor. Während der Semesterferien im März/April 1933 war die Gleichschaltung der Universität in wesentlichen Teilen vollzogen worden. Am 25. April 1933 wird in der Fakultätssitzung vom Protokollanten Georg Wehrung außer der Bestimmung der drei Tübinger Vertreter für den außerordentlichen Fakultätentag am 27. April in Berlin (Hermann Faber, Karl Fezer, Arthur Weiser) als Positionsbeschreibung festgehalten: "Fakultät ist sich einig, daß eine positive Stimmung zur neuen Volksbewegung ebenso nötig ist wie Wahrung dessen, was die Kirche als Kirche des Wortes ist." 40 Vom Bemühen der Fakultät um eine positive Stellungnahme zum nationalen Aufbruch unter Vorbehalt ist nichts mehr spürbar in dem theologischen Kolleg, mit dem Rückert das Sommersemester am 3. Mai 1933 eröffnete. Er weiß sich eingangs einig mit den Hörern, daß es "ganz gehörige Besinnung und Uberwindung" koste, Herz und Gedanken wieder der wissenschaftlichen Arbeit zuzuwenden. Der Atem stockte "einem noch unter den Erkenntnissen" aus den letzten beiden Monaten. Wie gebannt starre man noch in den Abgrund, an dessen Rand man ahnungslos gewandelt habe. Rückert versucht darauf, das offensichtlich schwer verständlich zu machende Erlebnis in Worte zu fassen: "Dann sind wir bis zum Wirbel untergetaucht besprochen und beschlossen, keiner der beiden Erklärungen als Fakultät beizutreten, dem einzelnen

Fakultätsmitglied

aber

die

Freiheit

des

Handelns

zu

lassen.

Fezer"

(UNIVERSITÄTSARCHIVTÜBINGEN, 1 6 2 / 1 , S. 320). 38

Vgl. "TREU UND FEST HINTER DEM FÜHRER". D i e Anfänge des Nationalsozialismus an der

Universität Tübingen 1926 - 1934 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen. R 2, H 10). Tübingen 1983, S. 20. 39

EBD., S. 17: der Kirchenhistoriker Ernst Stracke, der am 1. Mai 1933 gemeinsam mit Karl Fezer, Gerhard Kittel und Arthur Weiser der N S D A P beitrat (vgl. U . D. ADAM, Hochschule [Anm. 37], S. 38). Nach einem handschriftlichen Eintrag in eine Aufstellung über die Parteizugehörigkeit von Mitgliedern der Ev.-Theol. Fakultät Tübingen (vermutlich vom 4. September 1945) ist Weiser erst seit 3. Mai 1933 Parteigenosse geworden (vgl. UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 1 6 2 / 5 8 6 ) .

40

UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 1 6 2 / 1 , S. 3 3 4 .

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215

Erlebnis in Worte zu fassen: "Dann sind wir bis zum Wirbel untergetaucht in der hinreißenden Bewegung des eigenen Volkes." Dieses habe seine allerletzte Möglichkeit erkannt. Das bedeute soviel "wie Mobilmachungsbefehl und Verhängung des Kriegszustandes", für den ganz andere Gesetze als im Frieden gelten würden. Das müsse bejaht werden. Der Heerwurm des aufbrechenden Volkes "gehe mit vollem Fug und Recht" über alle hinweg, die sich "auf eine stille Insel retten wollten 41 . Dann heißt es noch tiefer begründend: "Wir müssen uns selbst mitsamt dem Kostbarsten, das wir kennen, mitten hineinwerfen in die Gefahr. Denn unseres Volkes Schicksal ist unser Schicksal." Alles Gesicherte, Existenz, Moral, Universität, Kirche wäre schon dadurch dem Tode verfallen, "daß es sich vom Mutterboden völkischen Schicksals gelöst habe" (5). Wo auch immer Menschen "eine große Stunde erleben und ihrer wert erfunden werden sollen", müßten der mit Gott ringende Glaube und Furcht und Zittern zusammenkommen. Auch die einfachste christliche Wahrheit müsse jetzt wieder neu gelernt werden, weil es "um das Wahrhaftigwerden des christlichen Menschen im immer erneuten Stirb und Werde" gehe. Die "Bereitschaft für diese große Stunde" wolle in täglicher äußerster Anspannung errungen sein, damit der Glaube nicht in leichtfertigen Optimismus oder in unfruchtbare Kritik ausarte (5). Rückert stellt seinen Hörern die Frage, ob es angesichts der sich auftürmenden Gegenwartsaufgaben möglich sein wird, sich für acht Wochen zur Wissenschaft zurückzuzwingen. Er selbst habe den 1. Mai, den Tag der nationalen Arbeit, "erlebt als ein Bekenntnis des neuen Staats und des erneuerten Volks" zu dem nüchternen Goethewort, daß jeder seine Lektion zu üben habe. Die Zeit "der Besinnung auf den völkischen Sinn unserer Arbeit", als es nur darum ging, "den Sturmwind tüchtig um die Ohren und ins Herz hineinbrausen zu lassen", sei nötig gewesen (6). Der Semesterbeginn mache deutlich, daß es nicht Sinn und Absicht der nationalen Erhebung ist, "eine ungesunde Inflation des Politischen im engeren Sinne heraufzuführen", vielmehr würden Männer gebraucht, die das, was sie meisterhaft beherrschen, ihrem Volk und seiner politischen Führung rückhaltlos und opferbereit zur Verfügung stellen" (7). Uber aller erstrebenswerten politischen Bildung sollten die Kommilitonen nicht vergessen, daß sie ihrem Volk dienen können, wenn sie ihren Beruf verstünden. Die Hochschule habe letztlich nur die Funktion, dem Leben des Volkes zu dienen mit der Solidität der durch sie vermittelten Bildung42. Die Theologen hätten es ganz besonders

41

HANNS RÜCKERT, Beruf (Anm. 36), S. 4 (die weiteren Zahlenangaben im Text beziehen sich auf die Seitenzahlen dieses Druckes). 42 RÜCKERT setzt sich hier ausführlich mit der Gefahr einer Auflösung der Universität in Fachschulen auseinander. Diese Gefahr habe in den letzten Jahren nicht nur von außen gedroht,

216

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leicht, von den Geschehnissen der letzten Wochen den Weg in den Hörsaal zurückzufinden und dann wieder den Weg aus dem Hörsaal hinaus zu der lebendigen und fruchtbaren Teilnahme an der Arbeit des völkischen Wiederaufbruchs" (9). Rückert gesteht, daß er als Theologe seine Lage, von der aus ihm in seiner Wissenschaft alles neu geworden sei, nicht mit der eines Botanikers eintauschen möchte. Es sei ein großes Glück, daß in die Welt der Theologen "der Wind sehr spürbar, sehr scharf hineinpfeif(e)" (9). Viele evangelische Christen würden die Vorgänge der letzten Wochen, soweit sie die Kirche betreffen, als von außen herangetragen oder als Versuch, die Kirche einer politischen Partei dienstbar zu machen, beurteilen. In diesem Fall sei man nur vor eine diplomatische Aufgabe gestellt. Rückert, der zur Kenntnis gibt, daß er weder Mitglied der N S D A P , noch der Deutschen Christen sei, sieht sich hier zu einer klaren Stellungnahme herausgefordert: "Wenn die Kirche sich auf diesen Standpunkt stellt, ist sie rettungslos verloren" (10). Mit Diplomatie werde man gegenüber dem neuen Staat nicht weit kommen, denn: "Der neue Staat wird schonungslos Macht gegen Macht setzen". Die Kirche werde zweifellos den Kürzeren ziehen. Rückert "würde eine solche Entwicklung für ein namenloses Unglück halten, nicht nur für die Sache der Kirche und des Evangeliums, sondern auch für ein namenloses nationales Unglück" (10). Dem Einwand, der Gehorsam gegen Gottes Wort, ja Gottes Wille selbst, könne ja zur Märtyrerkirche führen, begegnet er mit einer persönlichen gleichsam prophetischen Erkenntnis: "Ich glaube mit aller Deutlichkeit zu sehen, daß Gott anders aus den Ereignissen unserer Tage zu uns spricht und daß er einen ganz anderen Gehorsam von uns fordert. Es handelt sich in der Erhebung unseres Volkes nicht um ein säkulares Geschehen, von dem die Verkündigung der Kirche unbeeinflußt bleiben dürfte oder an der sie sich gar gegensätzlich orientieren müßte. In der Geschichte dieser Wochen und Monate offenbart sich Gott" (11). Er kenne seinen Luther gut genug und wisse, daß jede Offenbarung in der Geschichte mehrdeutig sei. Er könne "es niemandem beweisen, daß Gottes Siegerkraft mit den Bataillonen dieser nationalen Erhebung sein" werde. Rükkert fügt hinzu, "Das muß man glauben", und zitiert, ohne die Bibelstelle zu nennen, Hebr 11,1 (11). Jedem Christen könne er allerdings zeigen, "daß das Kreuz von Golgatha das große Ja Gottes zu seiner Schöpfung ... und damit auch zu den von ihm geschaffenen, in seiner Kraft lebenden und von ihm mit bestimmten geschichtlichen Aufträgen begnadeten Völkern" sei (12). Gott habe ihn in dieses Volk hineingestellt und ihm seine ganze physische und geistige Existenz aus den Kräften dieses Volkes geschenkt, damit er sondern sei auch durch die Hochschule selbst mit ihrer Tendenz zu organisatorischer und weltanschaulicher Verabsolutierung der Einzelwissenschaften mit bewirkt worden (S. 7f.).

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als Jünger Jesu Christi "bis zum letzten Atemzug an sein endliches Ja zu diesem Volk glauben solle." Gott habe "seine Kirche in dieses Volk hineingestiftet und ihr aus dessen Eigenart in einer tausendjährigen Geschichte immer neue, tiefe Einblicke in das Wesen seines Evangeliums zuwachsen lassen, nicht damit sich diese Kirche eines schönen Tages aus dem Schicksal des Volkes löse, sondern damit sie mit ihm stehe und falle und in jede völkische Not und jede völkische Freudenzeit die Kräfte des Evangeliums hineingebe" (12). Wer die Zeitlichkeit gegen die Ewigkeit der Kirche ausspiele, begehe einen Frevel. Gott könne sein Reich bauen auch gegen unsere Sünde. "Aber fährt Rückert in direkter paränetischer Anrede fort - von uns wird einmal die Seele unseres Volkes gefordert werden, und wehe uns, wenn wir dann antworten müßten: Wir dachten, es käme darauf nicht so an" (12). Dem seherischen Urteil fügt Rückert mehr rationale Überlegungen an, wenn er den Kommilitonen zur Kenntnis gibt, er könne sich "bestimmte, im Gesamtbild gar nicht übersehbare Erscheinungen in der nationalsozialistischen Bewegung nicht anders erklären, als daß in ihr ein tiefes, vielfach vielleicht unklares und nach falschen Richtungen tappendes, im Grunde aber sehr gesundes und echtes Bewußtsein um diesen Existenzzusammenhang von Volk und Kirche lebendig" sei (13). Er verstehe "im Glauben", wie er in Parenthese hinzusetzt, die Rede von der Kirchenreform "nicht primär als die Ansprüche einer machthungrigen Partei, sondern als Äußerungen eines ungestillten Bedürfnisses nach der christlichen Vertiefung völkischen Lebens" (13). Die verantwortliche Führung rufe nach der Mitarbeit, weil man das Christentum kenne oder wenigstens ahne "als die stärkste und innerlichste Kraft der Erneuerung". Als Deutscher und Christ sehe er "keine Möglichkeit für die Kirche, sich diesem Ruf zu versagen,"wenn ihr Volk sie" rufe und von ihr erwarte, "daß sie ihm in seine Not und seinen Siegeswillen hinein das Wort Gottes" sage, dann sei "die Zeit der Verhandlungen vorbei". Die Kirche habe dann "aus der Pflicht christlicher Liebe heraus einfach zu sagen: Da habt ihr mich; ich bin eure Kirche" (13). Untreue gegen Gott sei nicht zu befürchten. Die ewige Kraft des göttlichen Worts in der Kirche werde sich immer wieder selbst Gehorsam schaffen. Es sei ein Ehrentitel der evangelischen Kirche, "daß sie schneller und vielleicht auch gründlicher in die Erschütterungen dieser Wochen" hineingezogen werde als die katholische Kirche (14). Rükkert sieht darin das Zeichen, "daß das deutsche Volk selbst die evangelische Kirche recht eigentlich als seine Kirche empfindet und von ihr zuerst erwartet, daß sie ihm Gottes Willen mit dem deutschen Volk richtig deutet" (14). Die Kirche müsse sich jedoch selbst innerlich erneuern, wenn sie sich als die Kirche dieses Vertrauens" nicht nur "auf ihre nationale oder nationalsozialistische Zuverlässigkeit" sondern auch "auf ihren Gehorsam gegen den

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in der völkischen Geschichte wirkenden Gott" würdig erweisen wolle (14). Dazu sei zweierlei notwendig, eine verantwortliche Führung, aber auch Pfarrer und Religionslehrer, "die aus eigener Verbundenheit mit dem Volkstum heraus ... die ganze Wirklichkeit völkischen Lebens, die ganzen brennenden Fragen des deutschen Menschen unter das erlösende Licht des Evangeliums rücken" (14f.). Rückert bezeugt zur Frage der Führung seine "ganz feste Hoffnung, daß die geeigneten Männer vorhanden sind und "daß es gelingt, sie an die Stellen zu bringen, an die sie gehören" (15). Die zweite Voraussetzung zu schaffen, sei Aufgabe der theologischen Ausbildung. Er bittet seine Hörer, diese Aufgabe gemeinsam anzugehen und gegenwartsnah Theologie zu treiben. Dann beteuert er: "Sie können es mir glauben: Die Führer der neuen deutschen evangelischen Kirche werden Theologen sein" (15f-)Mit der in kriegerische Worte gekleideten Absage Ulrich von Huttens an den Zweifel stiftenden Teufel bei Conrad Ferdinand Meyer schließt Rückert sein ungewöhnliches Kolleg ab, dessen Argumentation weitgehend nicht der vertrauten theologischen Reflexion entnommen ist und dessen Diktion streckenweise konfessorische Form hat. Der Vergleich mit einer Erwekkungspredigt ist nicht ganz abwegig. Einen realen Hintergrund hatten dagegen die Hoffnungen auf eine baldige neue Führung der evangelischen Kirche. Am 27. April 1933 war Karl Fezer zum "Vertrauensmann des Fakultätentages in den zu lösenden Kirchenfragen" gewählt worden. Er hatte den Auftrag, sich den entscheidenden "Behörden und Persönlichkeiten zur Mitarbeit zur Verfügung zu stellen" und begann Anfang Mai bereits mit seinen Berliner Antrittsbesuchen 43 . Möglicherweise hat Rückert auch Ludwig Müller, den Hitler am 25. April als seinen Bevollmächtigten für die Angelegenheiten der evangelischen Kirche berufen hatte, bereits mit unter die Hoffnungsträger eingereiht 44 . V. Das Thema der Tübinger Universitätsvortragsreihe für das Sommersemester 1933, "Deutsche Gegenwart und ihre geschichtlichen Wurzeln", ist bereits im Wintersemester 1932/33 festgelegt worden. Rückerts Beitrag für diesen Zyklus, "Das Wiedererwachen reformatorischer Frömmigkeit in der Gegenwart", stand ebenfalls seit langem fest. Auf die inzwischen völlig ver43 Vgl. Leonore SIEGELE-WenschkeWITZ: Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs. I. Karl Fezer und die Deutschen Christen, in: ZThK. B 4, 1978, S. 34-52, bes. S. 42f. 44 Fezer hat nach seiner Wahl zum Vertrauensmann sofort Müller aufgesucht (vgl. Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1. Frankfurt/Berlin/Wien 1977, S. 403).

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änderte Situation geht er am Anfang seines Referates am 17. Mai 1933 ein. Erneut ist vom "Mobilmachungsbefehl" für die Kirche die Rede. Sie sei "von der Geschichte vor die Frage gestellt, ob sie die innere Kraft" besitze, "um eine große Wende des deutschen Schicksals von Gott her zu deuten und gestaltend an ihr Anteil zu nehmen"45. Der Referent macht einleitend weiterhin auf eine mehrfache Schwierigkeit aufmerksam, die mit seiner Thematik gegeben ist, die abstandslose Beurteilung der Gegenwart, noch dazu eines so tiefgreifenden Umbruches, die historische nicht unmittelbar faßbare Größe "Frömmigkeit", die besonders enge Bindung des Christentums an die Geschichte. Außerdem seien zwei Faktoren beteiligt, die sich der wissenschaftlichen Kontrolle entziehen, "ein Glaube, der Großes hofft" und "eine ernste Sorge", den Erfordernissen nicht gerecht zu werden. Er werde deshalb "von einem Wiedererwachen reformatorischer Frömmigkeit in der Gegenwart nur reden können", indem er "es von der Zukunft erhoffe" (2). Für ihn steht fest, daß die Bindung des deutschen Menschen an das Evangelium durch die Person Luthers hindurchgeht, "bis uns die Geschichte zwingend unter den Größeren beugt", der geistesmächtiger, treuer und tiefer im Volk verwurzelt, die eine christliche Wahrheit dem deutschen Menschen verkündigt." Solange dieser andere nicht erschienen sei, sei "neues Leben in unserer Kirche wiedererwachende reformatorische Frömmigkeit" (3). Zwei Faktoren hätten den deutschen Protestantismus "in ihrer prästabilierten Harmonie ... zu einer Vertiefung in Luther hineingeführt: Der neue Aufschwung der Lutherforschung und die religiösen Auswirkungen des Kriegs- und Nachkriegserlebnisses" (4). Auf dem Hintergrund des Lutherverständnisses im 19. Jahrhundert zeichnet Rückert zunächst eindrucksvoll die erste der beiden Linien nach, Karl Holls Lutherbild, das in seinen entscheidenden Zügen schon vor dem Weltkrieg feststand, aber durch den Dammbruch von Krieg und Nachkriegszeit zur Wirkung kam. Als er sich der zweiten Linie zuwendet, gesteht er, daß nach seiner Einsicht "das Kriegserlebnis des Frontsoldaten" an der neuen Empfänglichkeit für Einflüsse der lutherischen Frömmigkeit am tiefstgreifenden mitgewirkt habe (12). Er könne als einer der Jungen nicht aus eigener Anschauung mitreden. Er habe aber die Wirkung von Holls Lutheraufsätzen auf die Frontheimkehrer erlebt. Er fordert die Jungen unter seinen Hörern auf, sich Gedanken darüber zu machen, "wo draußen wohl ein Lebensgefühl erwachsen ist, Situationen aufgebrochen und Erkenntnisse gewonnen sind, die den ... Stimmungsgehalten der Frömmigkeit Luthers entsprechen" (13). Als weitere 45

HANNS RÜCKERT: Das Wiedererwachen reformatorischer Frömmigkeit in der Gegenwart (Württembergische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften). Stuttgart 1933, S. 1. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Separatdruck.

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Faktoren führt er den "Krisencharakter der letzten Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre" (13), aber auch die Erschütterung im Selbstgefühl des Menschen an. Es könne aber keine Rede davon sein, daß sich nun der Mensch der Nachkriegszeit oder auch "nur der deutsche evangelische Christ der letzten 20 Jahre diese seine neuen Erkenntnisse und Stimmungen von Luther her hätte deuten lassen" (15). In der Theologie werde Holls Werk weitergeführt. Es sei "stellenweise fast schon des Guten zuviel, wie man alle brennenden Fragen der Gegenwart zu ihm (sc. Luther) und ihn zu allen Aufgaben unserer Zeit in Beziehung" setze (15). Auch durch Karl Barth habe die junge Pfarrergeneration "noch einmal einen besonders nachdrücklichen Hinweis auf bestimmte, wenn auch einseitig überspitzte Elemente der reformatorischen Frömmigkeit" erhalten. In den Bemühungen um die Neuordnung der Kirche in den letzten Jahren sei ebenfalls die reformatorische Frömmigkeit mitgestaltend am Werk gewesen. Das Bekenntnis der Altonaer Pastoren, aber vor allem das Schwinden der alten theologischen und kirchenpolitischen Gegensätze seien Merkmale dafür, "daß etwas Neues im Werden war" (16). Er gibt zu, ein wirklicher Durchbruch sei das nicht gewesen. Man habe auf eine organische Entwicklung vertraut. Nun sei die Lage grundlegend verändert. Die D ä m m e seien diesmal auf breitester Front gebrochen. Rükkert wagt die Deutung: "Heute erlebt ein ganzes Volk den Gott, der stürmische Bewegung ist, der vom Menschen die Entscheidung verlangt, der nur die Ganzen will und die Halben umkommen läßt, und es streckt sich sehnsüchtig aus nach der Kraft zu wagender Tat, zu äußerster Anspannung ... Es ruft nach dem Ethos der Pflicht und des Opfers, nach dem starken Gemeinschaftsbewußtsein ... Wahrlich, dem Wiedererwachen reformatorischer Frömmigkeit ist eine große Tür geöffnet" (17). Es werde nun zum einen darauf ankommen, ob die von Luther ausgegangene kirchliche Strömung stark genug ist, "... ob sie die ganze Kirche mithineinreißen kann in den Strudel dieser Bewegung, in der alles Alte und Morsche zerschellt". (17). Für die Kirche gehe es um wagende Tat und "opferbereite Liebe zum Volk, die nichts für sich zu retten sucht". Zum anderen sei das evangelische deutsche Volk gefragt, ob es diese Kirche um des Luther willen, der in ihr angefangen hat, lebendig zu werden, für seine Kirche nehmen wolle. Die benötigten Kräfte würden ihm jedoch nur zuwachsen, wenn es den ganzen Luther wolle, den trotzigen Helden von Worms und den Mann der Klosterkämpfe, den Deutschen, "der als einer der ersten die Judenfrage erkannt und mit tausend Schmerzen durchlitten" habe und der zugleich "den Juden Jesus Christus als den Heiland der ganzen Welt anbetete" (17). Das Ethos der Pflicht und der Nächstenliebe wachse nur aus dem Glauben an Gott als Schöpfer des Volkstums und ... Herr(n) der Geschichte", aber auch an Gott als

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"Erlöser von Sünde und Schuld" (18). Wenn beide Seiten bereit seien, könne "eine neue gesegnete Epoche in der an Schuld und Versäumnissen reichen Geschichte des Verhältnisses von Christentum und Deutschtum anheben, in der die zentrale Frage völkischer Kultur gelöst wird. Auf dem Nationalsozialismus und auf der Kirche von heute "liege" die Verantwortung dafür, ob nach Jahrhunderten der Entfremdung die beiden wieder zusammenfinden, die zusammenghören: das deutsche Volk und der Luther, der gesagt hat: 'Germanis meis natus sum; eis serviam; für meine Deutschen bin ich geboren; ihnen will ich dienen'" (18).46 VI. Die Sorge, die hinter Rückerts Appell vom 17. Mai stand, an wessen Ohr jetzt der Mobilmachungsbefehl nicht dringe, habe "wohl für absehbare Zeit das innere Recht verwirkt, in der deutschschen Geschichte eine Rolle zu spielen" (1), betraf in erster Linie die Kirche. Rückert nahm dabei die theologischen Hochschullehrer keinesfalls aus. Nach seinem Verständnis sind sie mitverantwortlich, Gottes Willen zu erfassen und zu vertreten, zuförderst im universitären Bereich, angesichts der nationalen Not aber für das Ganze, für Kirche und Volk. In Berlin wurde diese Verantwortung an zentraler Stelle an der Seite Ludwig Müllers, seit Anfang Mai durch Fezer wahrgenommen. Nachdem es Fezer gelungen war, die radikalen Richtlinien der Deutschen Christen zeitweilig durch die wesentlich von ihm verantwortete gemäßigte Fassung vom 15./16. Mai zu ersetzen, scheint er seinen Tübinger Kollegen genauso wie dem Leitenden Geistlichen der Württembergischen Landeskirche, Theophil Wurm, Vertrauen in die eingeschlagene Richtung vermittelt zu haben. N u n wird auch Rückert Mitglied bei den Deutschen Christen. Offensichtlich bestimmte Fezer im Juni 1933 den kirchenpolitischen Informationsstand an der Tübinger Fakultät und in weiten Kreisen der Württembergischen Kirche 47 . 46

Diese seinerzeit allgemein überinterpretierte Lutheräußerung, die sich nur auf seine Publikationsvorhaben bezieht: WA Br 2, S. 397, 34. Im Falle RÜCKERTS ist die an Mißbrauch grenzende Lutherzitierung um so verwunderlicher, weil er strenge Maßstäbe in der Quellenarbeit vertrat und den Brief selbst gerade in der Clemenschen Ausgabe ediert hatte (vgl. Luthers Werke in Auswahl. Bd. 6. Hg. von Hanns Rückert. Berlin 1933 [Vorwort vom 1. März 1933]).

47

Das Protokoll über die Tübinger Fakultätssitzung vom 2. Juni 1933 hält nicht nur Fezers Abwesenheit in Berlin fest, sondern unter Punkt 1: "Bericht von Herrn D. Weiser über die Vorgänge bei der Reichsbischofswahl nach genauen Mitteilungen von Herrn D. Fezer" (UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 162/1, S. 336). Vgl. auch Fezers Bericht auf einer Veranstaltung des Ev. Volksbundes in Stuttgart am 7. Juni 1933 bei GERHARD SCHÄFER (Hg.): Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Bd. 2. Stuttgart

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Als nach der Wahl Friedrich von Bodelschwinghs die D C zu Protestkundgebungen aufforderten und für eine Neuwahl warben, um ihren Kandidaten Müller doch noch durchzusetzen, stellte sich auch Rückert dieser Kampagne zur Verfügung. Vor Beginn einer Kundgebung der Deutschen Studentenschaft für "Wehrkreispfarrer Müller" lud er im Einvernehmen mit dem Amt für politische Bildung am 17. Juni 1933 früh zu einer Rede über die "Glaubensbewegung Deutsche Christen" in den Festsaal der Universität ein. Zugegen war u.a. der "Beauftragte mit besonderen Vollmachten an der Universität", der "Kommissar" Gustav Bebermeyer 48 . Rückert will seinen Hörern, bevor sie mit ihrer Stellungnahme in die Reichsbischoffrage eingreifen, Rechenschaft über die D C und "über die großen völkischen und kirchlichen Zusammenhänge" geben. Zunächst macht er darauf aufmerksam, daß man die D C nicht verstehen könne, wenn man in ihnen nur eine politische oder nur eine christlich-kirchliche Bewegung sehe. Ihr Wesen bestehe vielmehr darin, daß in ihren Augen die beiden letzten Bindungen, in denen "der Deutsche evangelische Christ steht, die an den in Christus offenbarten Gott und die an die Bluts- und Schicksalsgemeinschaft, schlechterdings in eins fallen" (2)49. Der Wille zur Volkserneuerung und zur Kirche brenne in einer heißen Flamme bei den DC. Den Sieg der nationalen Revolution hätten sie "in einem großen Glücksgefühl erlebt, in dem die Hoffnung auf den völkischen Wiederaufstieg und die Hoffnung auf eine neue Blüte der deutschen evangelischen Kirche wunderbar zusammenklingen" (2). Deshalb lesen sie "aus dieser Stunde der Geschichte für viele selbst auch nur einen Auftrag ab, in dessen Erfüllung sie dem Herrn der Kirche und der Stimme des deutschen Blutes gleichermaßen zu gehorchen" meinten: Dafür sorgen, "daß diese Stunde nicht vorübergehe, ohne daß das deutsche Volk und die deutsche evangelische Kirche ... ihre Schicksalsgemeinschaft ... erkannt und handelnd bejaht" hätte (2f.).

1972, S. 118f. Verharmlosend hat WURM seine Entscheidung für Müller und gegen Friedrich von Bodelschwingh als Reichsbischof auch mit den "beruhigenden Mitteilungen" Fezers begründet (vgl. THEOPHIL WURM: Erinnerungen aus meinem Leben. Stuttgart 1953, S. 88). 48 Vgl. G. SCHÄFER, Landeskirche (Anm. 47), S. 170. Zum Rundschreiben der DC-Reichsleitung vom 1. Juni 1933 mit der Aufforderung, "eine Versammlungswelle stärkster Art bis ins kleinste Kirchspiel hinein zu organisieren", vgl. HANS BUCHHEIM: Glaubenskrise im Dritten Reich. Stuttgart 1953, S. 103-105. 49

E i g e n h ä n d i g e s K o n z e p t i m UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 2 0 7 / 2 2 1 (19 Bl.), S. l f . D i e

zahlreichen Abkürzungen wurden in den Zitaten stillschweigend aufgelöst, fehlende Artikel ergänzt. Die vielfachen Korrekturen von der Hand des Verfassers wie auch die Diktion der mündlichen Rede legen nahe, daß es sich um Rückens Redevorlage handelt. Der Schluß (vermutlich nur wenige Sätze auf Bl. 20) ist nicht erhalten geblieben. Auf dieses Konzept beziehen sich im folgenden die Seitenangaben im Text.

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Solange das nicht erreicht sei, gliedere sich die eine Aufgabe in zwei. Zum einen wollten die D C "wieder werben um das Vertrauen des Volkes zum Christentum und zur Kirche" (4). Sie könne dabei nur dort anknüpfen, wo sie sich mit den Kameraden und Parteigenossen und allen aufbauwilligen Kräften eins" wisse, "beim Willen zum Dritten Reich" (4). Es werde der Hoheit des Evangeliums nichts vergeben, wenn man darauf hinweise, "daß es eine Macht ist, die völkische Widerstandskraft und nationalen Siegerwillen auslöst, daß es die stärkste Macht ist, um Menschen und Völker zu erziehen zum Gemeinschaftsbewußtsein, zu Zucht und Ordnung, zu Gehorsam und Opferbereitschaft, zum wagenden Glauben und zur verantwortungsfreudigen Tat" (4f.). Als solche Kraft habe sich das evangelische Christentum je und je bewährt in der deutschen Geschichte "und je größer die Stunde", desto tiefer sei sie "durchlebt" worden in der Besinnung auf die Gottesfrage (5). "Unsere Führer" wüßten längst, daß weder Organisation noch Zahlengröße "den Sieg des Jahres 1933 errungen" habe, "sondern der Geist der Bewegung". Sie wüßten auch, die nächsten Etappen der nationalen Revolution können nur erreicht werden, "wenn der Geist des Nationalsozialismus das Volk von innen heraus erneuert". Ebenfalls wüßten sie, "daß das Christentum die tiefste Kraft der inneren Erneuerung ist" (5). Insofern vollstreckten die D C nur den Willen der Führer, wenn sie im erwachenden evangelischen Volk für die evangelische Kirche werben. Die Kommilitonen seien zwar "zunächst heute noch weiter nichts ... als Mitkämpfer in der braunen und grauen Front" 50 , es sei aber eine Schicksalsfrage für Kirche und Volk, "ob und wie sich die Kirche in den neuen Staat eingliedert" (6). Die Verantwortung dafürliege auch bei ihnen. Sie könnten sie nur ergreifen, "weil wir uns mit denen auf Leben und Tod verbunden wissen, denen gegenüber wir sie haben" (6). Eine zweite Aufgabe sei den D C gegenüber der evangelischen Kirche deshalb auferlegt, weil sie in ihr mit beiden Füßen stünden. Auch hier komme es vornehmlich darauf an, um Vertrauen "zu den großen kirchlichen Möglichkeiten ... in der gegenwärtigen Situation ..., zum Nationalsozialismus" zu werben. In den letzten Jahrzehnten sei die Kirche immer mehr auf den festgeschlossenen Kreis ihrer Glieder angewiesen gewesen. Der Staat habe sich für desinteressiert erklärt und das Volk wenig Notiz von ihr genommen. Dieses Abgeschnittensein "von einer unmittelbaren Berührung mit der Wirklichkeit" sei "die furchtbare Bedrohung der Kirche" gewesen (7). Diese Zeit habe natürlich auch ihr Gutes gehabt, Verläßlichkeit der Gleichgesinnten, Selbstbesinnung, theologisches Durchdenken von Problemen, Gestaltung des kirchlichen Lebens mit relativ gutem theologischem 50 Ursprünglich: "der braunen und schwarzen Front" (S. 6).

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Gewissen. Nun aber wollten Staat und Volk etwas von der Kirche. Da wollten die D C "in der Kirche den Standpunkt zum Siege führen", die Kirche dürfe nicht auf das sehen, was sie verliert, "die Sicherheit und Geborgenheit ihrer Existenz, die theologische Korrektheit, die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit ihres Lebens" (8). Die Kirche dürfe Staat und Volk "nicht als Eindringlinge in ihrem Gehege ansehen, die sie zu ihr fremden partei-politischen Zielen vergewaltigen wollen". Vielmehr solle sie "aus den Forderungen heraushören, daß man sie braucht" (8). Es handele sich ja nicht um eine politische Partei, sondern darum, "daß ein Volk das Recht hat, von seiner Kirche Hilfe zu fordern, wenn es sich anschickt, die schwerste Notzeit zum nationalen Wiederaufbau von innen heraus auszunutzen" (9). Für die Kirche sei es ihre christliche Liebespflicht ..., sich hier bedingungslos und opferbereit zur Verfügung zu stellen". Nur ein Opfer dürfe sie nicht bringen, das "Opfer des Evangeliums und des Glaubens, die ihr unverbrüchlich anvertraut sind und die zu wahren ihre höchste Pflicht ist". Doch deren Preisgabe werde niemand von ihr fordern, denn das seien "ja gerade die Kräfte, die Staat und Volk durch die Kirche zur Hilfe rufen" (9). Sie solle das Geschehen auffassen "als das Aufgehen einer großen Tür, als das Auftauchen ... der Möglichkeit, wieder in unmittelbare Berührung zu kommen mit dem Volk als ganzem, wieder zur echten Volkskirche zu werden" (9). Die Kirche solle "glauben, daß Gott es ist, der in unseren Tagen mit dem deutschen Volke handelt und sein in Schöpfung und Erlösung besiegeltes Ja zu der völkischen Gliederung der Menschheit nun wiederum auch über ihm spricht" (10). Sie solle es auf diesen Glauben hin mit dem neuen Staat und dem Volk wagen. Aus dieser Doppelaufgabe, die nur eine sei, "weil das Wohl von Volk und Kirche im gegenwärtigen Augenblick ein und "dasselbe ist" (10), ergeben sich für Rückert ohne weiteres die in den DC-Richtlinien genannten Punkte 51 . In den ersten drei Forderungen einer neuen Kirchenverfassung, einer einheitlichen Leitung und einer Deutschen Evangelischen Kirche hätten die D C "nur Gedanken aufgenommen, die schon lange ... in den Herzen der besten Söhne der Kirche als Wünsche lebendig gewesen" seien (10f.)52. 51

RÜCKERT bezieht sich auf die im wesentlichen von Fezer formulierten DC-Richtlinien vom 15./16. Mai 1933. Die Fassung, die seine Tübinger Hörer am 17. Juni "in Händen halten" (S. 16), ist die des Flugblattes "Der neue Kurs der Glaubensbewegung 'Deutsche Christen', bestätigt vom Reichskanzler Adolf Hitler".

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V g l . K U R T D I E T R I C H SCHMIDT ( H g . ) : D i e B e k e n n t n i s s e u n d g r u n d s ä t z l i c h e n Ä u ß e r u n g e n z u r

Kirchenfrage des Jahres 1933. Göttingen 1934, S. 143: "... fordern wir 1. eine neue Kirchenverfassung, welche die Organe kirchlichen Lebens nicht nach dem demokratischen Wahlsystem bestellt, sondern nach der Eignung, die sie im Dienst an der Gemeinde bewiesen haben; 2. eine einheitliche Leitung unter einem geistlichen Führer, der die maßgebenden Entscheidungen persönlich zu treffen und zu verantworten hat; 3. Vereinigung der evangeli-

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Nur weil die D C "die ganze Stoßkraft der nationalsozialistischen Bewegung für diese Forderungen eingesetzt" hätten, seien sie bereits grundsätzlich verwirklicht (12). Die Kirche verdanke es dem Nationalsozialismus und den DC, "daß sie gute Leute besitzt, nach denen sich schon unsere Großväter ebenso gesehnt haben wie wir vor einem halben Jahr" (12). Gleichfalls um vertraute Gedanken aller, "die es mit der Kirche gut meinen", gehe es in den sieben Punkten in den Richtlinien, für die die D C eintreten, nämlich um die beiden großen Aufgaben, Vertiefung des kirchlichen Lebens und Durchdringung des deutschen Volkslebens mit den Kräften des evangelischen Glaubens (12). Rückert geht nur exemplarisch auf den ersten und wichtigsten Punkt ein, der zunächst festlegt, daß die D C keine Veränderungen der kirchlichen Lehre anstreben 53 . Die D C wüßten "sich so gut wie nur irgendeine Gruppe in der Kirche als Hüterin reformatorischen Erbes" (13). Sie fordere die Weiterbildung des Bekenntnisses ... aus der Erkenntnis her, daß jede Generation in der Kirche vor der Aufgabe steht, sich das Evangelium anzueignen." Gott stelle jedes Geschlecht durch das Schicksal, das er es erleben läßt, vor neue Fragen und Aufgaben, deren Lösung es im Gehorsam gegen sein Wort selber finden muß." Daraus erwachse nicht für jede Generation die Pflicht des Bekenntnisses, wohl aber "sei" der status confessionis dann gegeben, wenn große geschichtliche Wenden eintreten und ein ganzes Volk verlangt nach einer Wegweisung in einer neuen Lage ... und so sollte auch heute wieder die Kirche die Kraft aufbringen, in (sie!) Bekenntnis dem deutschen Volk die gegenwärtige Stunde von Gott aus zu deuten. Es hätte, wie die reformatorischen Bekenntnisse neben urkirchlichen, so dieses unser Bekenntnis neben dem reformatorischen zu treten" (13). Die konfessionellen Unterschiede seien nicht außer Kraft gesetzt, aber "im gegenwärtigen Augenblick völkischer Not" fühlten sich deutsche evangelische Christen so eng miteinander verbunden, daß das Trennende nicht in den Vordergrund rücke (14). Von den abschließenden Sätzen des 1. Punktes aus dem Abschnitt "Wir treten ein" werden von Rückert besonders die Konsequenzen für die Pfar-

schen Landeskirchen zu einer Deutschen Evangelischen Kirche bei pietätvoller Wahrung geschichtlich begründeter Eigenart." 53 Die kurze (gegenüber der EBD. wiedergegebenen) Flugblatt-Fassung, auf die sich Rückert bezieht: "Wir treten ein: 1. für die völlige Wahrung des Bekenntnisstandes der Reformation, verlangen aber eine Weiterbildung des Bekenntnisses im Sinne scharfer Abwehr aller modernen Irrlehren, des Materialismus, Mammonismus, Bolschewismus und des unchristlichen Pazifismus" u. a. in den Anmerkungen Stoevesandts zu KARL BARTH: Theologische Existenz heute! (1933). Neu hg. und eingeleitet von Hinrich Stoevesandt (TEH. 219). München 1984, S. 130.

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rerausbildung begrüßt54. Um die traditionsbelastete und lebensfremde Fachsprache zu überwinden, bedürfe es "stetiger Selbstzucht von professoraler und studentischer Seite und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit von Lehrern und Lernenden" (14f.). Die Forderung der Freigabe der Wortverkündigung für erweckte Laien nehme den in Vergessenheit geratenen Gedanken Luthers vom allgemeinen Priestertum wieder auf. Mit der Forderung der D C , von der Pastorenkirche weg und hin zur verantwortlichen Mitarbeit, könne wieder lebendige Gemeinde entstehen. Damit sollten auch Gedanken des Pietismus zum kirchlichen Allgemeingut werden. Die Erwähnung des Pietismus gibt Rückeit das Stichwort für den "letzten Gegenstand" seiner Betrachtung, nämlich dem Verhältnis der Deutschen Christen zu anderen kirchlichen Bewegungen und Gruppen (16). Nach dem Sieg der nationalen Revolution und nachdem dadurch "der Stein der kirchlichen Reform ins Rollen gekommen" sei, hätten sich die D C von einer Kampforganisation "umgestellt auf vertrauensvolle gemeinsame Arbeit mit allen aufbauwilligen Kreisen in der Kirche". Das Hauptverdienst an dieser sofortigen Umstellung hätten Wehrkreispfarrer Müller und der Tübinger Kollege Fezer. Die neuen Richtlinien seien das Dokument dieses Willens zur Zusammenarbeit. Sie blieben maßgebend für die weitere Arbeit. Leider sei "der Geist des Vertrauens und der gemeinsamen Arbeit, von dem die Anfänge der kirchlichen Reformverhandlungen in Berlin und Loccum getragen" gewesen seien, "empfindlich gestört worden durch den Konflikt in der Frage des Reichsbischofs" (17). Die Zeiten des Kampfes seien zurückgekehrt. An der Wandlung der Dinge wüßten sich die D C unschuldig. Sie hätten stets erwartet, "die Kirchenregimenter" würden die Verdienste um die Reform durch die Berufung des Führers der Bewegung an die Spitze der neuen Kirche würdigen. Die Notwendigkeit eines Reichsbischofs, "der das Vertrauen des Volkskanzlers besitzt", sei ihnen ebenfalls selbstverständlich gewesen55. Sie hätten aber von ihren Erwartungen im Vertrauen auf die Loccumer Abmachung geschwiegen, "nach der die Personenfrage hinter der Ausgestal54

Vgl. die längere Flugblatt-Fassung (EBD., S. 131): "Die Kirche soll in ihrer Sendung als deutsche reformatorische Kirche uns die Waffen für den Kampf gegen alles unchristliche und volkverderbende Wesen liefern. Die ewige Wahrheit Gottes, wie sie uns in Jesus Christus geschenkt ist, soll in einer den deutschen Menschen verständlichen Sprache und Art verkündet werden. Die Ausbildung und Führung der Pfarrer bedarf einer gründlichen Umgestaltung im Sinne größerer Lebensnähe und Gemeindeverbundenheit. Der Wortverkündigung durch erweckte, nicht akademisch vorgebildete Glaubensgenossen soll der Weg freigemacht werden." Bei K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse (Anm. 52), S. 143, fehlen die letzten drei Sätze.

55 Die Forderung gehörte zu den drei Kriterien, die bei der außerordentlichen Führertagung der D C am 23. Mai 1933 in Berlin für die Person eines Reichsbischofs aufgestellt wurden (vgl. JOACHIM GAUGER: Chronik der Kirchenwirren. Teil 1. Elberfeld 1934, S. 81).

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tung der kirchlichen Verfassung zurückgestellt werden sollte" (17). Die Nominierung Bodelschwinghs sei auf Grund einer Falschnachricht über die Absichten der D C und ohne Kontakt sowohl zu Müller, als auch zur Reichsregierung vorgenommen worden 56 . In dem Augenblick, als sich die D C "ganz als Mitarbeiter fühlten", hätten sie sich wieder "zur Partei gemacht" gesehen. Rückert beläßt es nicht dabei, den "tiefen Schmerz" zu artikulieren und den Verlauf der Reichsbischofsnominierung aus der Sicht der DC-Reichsleitung und damit vermutlich nach den Informationen Fezers, zu schildern. Er demonstriert Entschlossenheit: "Wir nehmen den Kampf auf und sind entschlossen, ihn mit allen Mitteln zu führen, über deren Wahl nicht wir, sondern unsere Führer entscheiden" (18). Der Kampf richte sich nicht gegen die achtungswürdige Person Bodelschwinghs. Um die kirchlichen Kreise, die "ehrlich im völkischen und kirchlichen Aufbauwillen" mit den D C im Grundsätzlichen einig seien und sich dennoch gegen Müller stellen, würden sie werben. (19) Nach Beilegung des Konflikts müßten sie sich um des eben erst begonnenen Reformwerkes willen wieder zusammenfinden. Sie kämpften vielmehr "gegen die Mächte und Gesinnungen, die zu Bodelschwinghs Ernennung gewirkt haben ..., gegen den Geist der Diplomatie, der rechnet, wo er wagen sollte, der Angst hat, wo Vertrauen am Platze wäre, der sichergehen will, wo die Unsicherheit das uns allen vom gnädigen Gott gesetzte Schicksal ist" (19). Der Reichsbischof sei "juristisch, politisch und kirchlich gleich unmöglich" in sein Amt gekommen, deshalb kämpften sie gegen ihn. Sie hätten Grund "zu fürchten, daß hier Kräfte am Werke sind,die ein Interesse daran haben, eine Kluft aufzureißen zwischen dem deutschen Volk und der evangelischen Kirche und so beide um die Frucht ihrer großen Stunde zu bringen" (19). Weil die Bewegung "zu allem Neuen den Anstoß gegeben" habe, sei die "Leitung durch Müller auch " das "richtige Symbol" (19). Im Anschluß an Rückerts Rede fand eine Vertrauenskundgebung der Deutschen Studentenschaft für Müller im Ehrenhof statt. Die SA war aufmarschiert. Stadtpfarrer Dr. Immanuel Schairer aus Stuttgart-Hedelfingen, der Landesleiter der D C Württembergs, sprach über die Geburtsstunde des deutschen Volkes, "eine Stunde, wie sie in tausend Jahren nur einmal komme." Nicht die Juristen und die Politiker könnten ein "Gebilde schaffen, das dem Geiste Gottes Heimat bietet". Das werde vielmehr der "unbekannte deutsche Christ" schaffen. Mit dem Gesang des Deutschland-

56

Zu den Vorgängen vgl. K.

SCHOLDER,

Kirchen (Anm. 44), S. 409-431.

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liedes wurde die Werbeveranstaltung abgeschlossen 57 . Über ihre Wirkung ist, von lokalen Presseberichten abgesehen, nichts bekannt 58 . Rückerts Engagement für die gemäßigte Linie der D C hielt in den folgenden Monaten, trotz zunehmender Spannungen mit der radikalen Richtung, an. Als im Herbst 1933 die "Glaubensbewegung" in Wittenberg durch die radikale Gruppe um Wilhelm Rehm in die Zerreißprobe kam, stellte sich Rückert als Vermittler zur Verfügung, um beide Richtungen in der Landesleitung beisammmenzuhalten. Rehm lehnte ab 59 . Wie Fezer stand er bis zu den Auseinandersetzungen um Joachim Hossenfelder und dem Sportpalastskandal zu dem schwankenden Reichsbischof Ludwig Müller. Als verantwortlicher Schriftleiter ist er sicher mit an der Entscheidung beteiligt gewesen, dem Reichsbishof das Geleitwort für das erste Heft, das Luthersonderheft vom November 1933, der neuen theologischen Zeitschrift "Deutsche Theologie" anzutragen 60 . Erst mit dem Jahresende 1933 ging auch die "Zeit der Illusionen" gegenüber den Deutschen Christen zu Ende. Gemeinsam mit Fezer und Weiser berichtete er am 1. Dezember 1933 im Tübinger Auditorium maximum den Theologiestudenten über den Konflikt mit der Reichsleitung der D C und die Gründe der Trennung von ihr 61 . Das Ringen um eine neue Volkskirche im Dritten Reich war auch für Rückert damit nicht beendet. In seinem Beitrag zur Kontroverse zwischen Paul Tillich und Emanuel Hirsch teilte er Hirschs Uberzeugung im Blick auf den Vorwurf, das Zeitgeschehen zur zweiten Offenbarungsquelle gemacht zu haben, "daß Karl Barth und das Barmer Bekenntis dem deutschen Protestantismus einen schlechten Dienst getan haben, als sie das theologische Problem des Kirchenstreites auf diese Formel gebracht haben" 62 . In seinem Gutachten 57 Vgl. G. SCHÄFER, Landeskirche (Anm. 47), S. 171f. 58 Zu weiteren Kundgebungen für Müller in anderen Landeskirchen vgl. K. SCHOLDER, Kirchen (Anm. 44), S. 431-433. 59 Vgl. EBD., S. 673f.; G. SCHÄFER, Landeskirche (Anm. 47), S. 640 (Wurms Bericht an Müller vom 13. Oktober 1933). Während der Krise der württembergischen D C war ein Führerschulungskurs geplant, bei dem am 20. September Rückert über "Die Christianisierung der Germanen" und Heinrich Bornkamm über "Luther als Deutscher" referieren sollten ( EBD., S. 446). 60 Müller hat in seinem Geleitwort nur die üblichen Formeln, aber in flacherer Ausgabe, zu bieten: Der Nationalsozialismus sei "in gewisser Hinsicht zu einer leibhaftigen Bußpredigt für die Theologie geworden". Gott habe "nach seinem Ermessen in unser politisches Geschick und seelisches Schicksal eingegriffen". Die Aufgabe: "von der Kirche her die Erneuerung des Volkes zu festigen". Die Forderung für die Theologie, die "der Kirche zur Verfügung gestellt werden" soll: "Sie soll eben deutsch wie evangelisch sein!" 61 Vgl. L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Fakultät (Anm. 43), S. 49f. 62 HANNS RÜCKERT: Echte Probleme und falsche Parolen. Zur Auseinandersetzung zwischen Hirsch und Tillich. In: DTh 2 1935, S. 36-45, bes. S. 43.

Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

229

"Für und wider die Theologie Bultmanns" hat er es später gewürdigt, daß während des Kirchenkampfes "alles darangesetzt werden mußte, gegen die Bedrohung der christlichen Substanz durch den Einbruch der nationalsozialistischen Gedanken in die Theologie eine möglichst klare und wirksame Grenze zu ziehen" 63 . Wann begann diese Sichtveränderung und wie vollzog sie sich? Wann vor allem verdichtete sich ihm die kritische Erkenntnis über das Dritte Reich insgesamt, das er später als "nationalsozialistische^) Spuk" bezeichnete?64 Hierzu sind neue Untersuchungen notwendig, für die allerdings keine klaren Selbstaussagen Rückerts aus der Zeit des Dritten Reiches zur Verfügung stehen. VII. Bei dem Versuch, Rückerts Weg zum Engagement für den nationalen Aufbruch und besonders für die Deutschen Christen anhand seiner schriftlichen Äußerungen nachzuzeichnen, ist er selbst zunehmend in ausführlichen Zitaten zu Wort gekommen. Auf diese Weise wurde deutlicher als bisher erkennbar, wie stark er der theologischen Arbeit seines Lehrers Holl, vor allem dessen Lutherverständnis, verpflichtet ist. Rückerts Bereitschaft, sein theologisches Lehramt als Berufung zu verstehen und sich mit relevanten Fragestellungen der Gegenwart wissenschaftlich auseinanderzusetzen, wird ebenfalls durch Holls Vorbild wesentliche Anstöße erhalten haben. Sein Bemühen, der völkischen Bewegung, bei aller Kritik, Impulse für die kirchengeschichtliche Arbeit zu entnehmen und die Aufgeschlossenheit gegenüber den sich formierenden nationalen Bestrebungen weist auch eigene Konturen auf. Ansatzstellen für eine weitergehende Öffnung deuten sich in den Referaten vor 1933 immer wieder an, ohne daß damit die vehemente Hinwendung zur nationalen Erhebung im Frühjahr 1933 schon festgestanden hätte. Ein ungedrucktes Manuskript illustriert diesen Tatbestand. Im Wintersemester 1932/33 wurde Rückert von den Studentenverbindungen Verein deutscher Studenten, Wingolf, Nibelungen um einen Abendvortrag über die Frage, ob die Reformation kulturfördernd oder kulturhemmend gewirkt habe, gebeten. Er änderte das Thema und sprach über "Die Stellung der Reformation zur Kultur". Rükkert konzentrierte sich auf eine eindrückliche Darstellung von Luthers reformatorischer Erkenntnis. Den zentralen theologischen Satz, daß der Christ simul iustus et peccator ist, entfaltete er nicht nur in seiner Bedeutung für den Gerechtfertigten selbst. Er führte auch die unverzichtbaren Konsequenzen in der Liebe, in der Arbeit "in der Gemein-

63

In: H. RÜCKERT, Vorträge (Anm. 10), S. 408.

64

EBD., S. 342 ("Kirche und Amt in der Diskussion der evangelischen Theologie").

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schaft, im Volkstum, im Staat, in der Familie, in der Gesellschaftsordnung, im Beruf, in der Kirche" aus. "Nur in ihnen" könne "er das Leben des iustus führen, nur im Verhältnis zum Nebenmenschen das Werk des Glaubens tun" 65 . Die Ansatzstellen sind auch hier erkennbar. Der Akzent liegt aber noch auf der Bedeutung des Rechtfertigungsvorgangs für den einzelnen Glaubenden selbst. Die zeitgenössische Diskussion erscheint in dem Referat noch vor allem als Auseinandersetzung mit Ernst Troeltschs Lutherauffassung. Wenige Wochen später hat sich bei Rückert der Akzent verschoben. Die Situation in Gestalt der nationalen Erhebung erhält für den iustus eine ganz andere Dringlichkeit. Sicher ist dabei die Rolle der Tübinger Theologischen Fakultät, der zeitweilig vor allem durch die kirchenpolitische Tätigkeit Fezers eine führende Stellung zuzufallen schien, mit zu bedenken 66 . Entscheidend war vermutlich für Rückert, daß ihm, wie vielen anderen Deutschen, der Sieg Hitlers und des Nationalsozialismus zum wirklichen Erlebnis mit bekehrungsähnlichen Zügen wurde. In seiner Werberede für Ludwig Müller kommt er auf diese erlebte "Zeitenwende" zu sprechen: "Ich kann es von mir selbst bezeugen, daß diese Zeit (sc. vor 1933) ihre Werte hatte, für die gearbeitet und mich begeistert zu haben, ich mich auch heute noch nicht schäme. Nun sind wie mit einem Schlage die Mauern von außen her eingerissen, und der Staat und das Volk wollen auf einmal etwas von der Kirche" (8). Ihm ist selbst in seiner "Wissenschaft alles neu geworden", wie er in seiner Semestereröffnungsrede bekennt (9). Bis in die Sprache wird deutlich, daß hier einer spricht, der von einer wunderähnlichen Erfahrung überwältigt worden ist. Da ist nicht nur die Rede vom "Aufgehen einer großen Tür", vom "Auftauchen einer großen Möglichkeit". Die Naturgewalten-Metaphorik, bei Rückert vor allem Sturm und Wind, ist ebenso zeittypisch wie der Aktionismus, die Betonung von Entscheidung und Tat 67 . Mobilmachung ist angesagt, es herrscht der Ausnahmezustand. Der Rück-

65 UNIVERSITÄTSARCHIV TÜBINGEN, 207/223 (43 BL.), BL. 38. Vgl. EBD., BL. 38f.: "Die natürlichen Gemeinschaften, in denen sich der Christ schöpfungsmäßig-geschichtlich vorfindet, sind das Feld, auf dem christliches Leben spielt und der Dienst an Gottes Zielen geleistet werden will. Es gibt keine andere Möglichkeit, für Gott da zu sein als die Mitarbeit in der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit kultureller Gemeinschaftsformen." 66 Vgl. L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Geschichtsverständnis (Anm. 3), S. 134f. 67 Vgl. z.B. PAUL ALTHAUS: Kirche und Staat nach lutherischer Lehre. Leipzig 1935, S. 14: "Die neue Ordnung hat Türen aufgestoßen". Zur Entscheidungsbegrifflichkeit als Ausdruck antidemokratischer Geisteshaltung vgl. KURT SONTHEIMER: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. 3. Aufl. München 1992, S. 259-263.

Hanns Rückert und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

231

griff auf die Kriegsmetaphorik ist bei Theologen im Einflußbereich der Deutschen Christen ebenfalls üblich 68 . Durch die lutherische Tradition und durch Holl ist Rückert der Volksbzw. der Gemeinschaftsgedanke vertraut. Er erhält jedoch erst mit dem Machtantritt des Nationalsozialismus für ihn eine elementare Bedeutung. Rückert rechnet nicht nur rational mit der Möglichkeit für die Kirche, nach langer Zeit "wieder in unmittelbare Berührung zu kommen mit dem Volk als ganzem, wieder zu echter Volkskirche zu werden und tätig mitzuarbeiten an der großen Sache der deutschen Geschichte", wie er in seiner Werberede für Müller äußert (9). Für ihn ist das eine geschichtstheologische Erkenntnis. Er meint, aus den sich überstürzenden Geschehnissen der nationalen Erhebung Gottes Wirken ablesen zu können. Diese "Theologie der deutschen Stunde", wie sie Walther von Loewenich genannt hat, teilt Rückert mit vielen Professoren der dreißiger Jahre 69 . Bei ihm hat sie ein prophetisches Gefälle. Vermutlich sah er sich durch seine Beschäftigung mit Luther und durch sein an Holl orientiertes Berufsverständnis mit dazu herausgefordert. Seinem Lehrer hat er ja 1933 als eins der vier Elemente eines großen Historikers "eine ans Divinatorische grenzende Feinfühligkeit für die Zeichen der eigenen Zeit" zugesprochen70. Die Zeichen zu deuten, sieht er als einen Akt des Gehorsams gegenüber Gott. Damit ist es für ihn aber nicht getan. Er sieht sich verpflichtet, auch seine Verantwortung als theologischer Lehrer der studentischen Jugend gegenüber wahrzunehmen und sie für den volksverbundenen Pfarrerberuf vorzubereiten. Dazu gehört eine solide theologische Bildung. Zugleich heißt das, schon während der Ausbildung in den kirchenpolitischen Entscheidungen und in der Rückgewinnung des Volkes für die christliche Botschaft nicht beiseite zu stehen. In seiner Rede am 17. Juni fordert er seine Hörer regelrecht zu werbenden volksmissionarischen Gesprächen auf. Sie sollen "vor ihre Kameraden im Kampf für die nationale Erhebung hintreten mit ihrem Bekenntnis zum evangelischen Christentum" und sagen: "Sieh, Du kennst mich als einen, der nach denselben Zielen ringt wie Du, der wie Du dem Führer geschworen hat, nichts anderes zu wollen als das Reich. Meinst Du, ich wäre noch evangelischer Christ, wenn mein Glaube im Widerspruch stünde zu diesen Zielen oder wenn ich ihn auch nur für belanglos halten müßte im Kampf für sie? Meinst Du, der Führer würde

68

Vgl. HANS-JOACHIM SONNE: Die politische Theologie der Deutschen Christen. Göttingen

69

WALTER VON LOEWENICH: Erlebte Theologie. Begegnungen, Erfahrungen, Erwägungen.

1982, S. 1 0 7 - 1 1 0 (Kampfaietaphorik). München 1979, S. 176 (auf Paul Althaus bezogen). Vgl. auch H.-J. SONNE, Theologie (Anm. 68), S. 102-105. 70

H . RÜCKERT, Wiedererwachen (Anm. 45), S. 6.

232

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es sagen, wenn es nicht wahr wäre, daß er die Kraft zu seinem Werk immer wieder aus dem Bewußtsein geschöpft habe und schöpfe, von Gott beauftragt zu sein? Meinst Du, es stünde im Programm unserer Partei der Satz vom positiven Christentum, wenn es gleichgültig wäre für unseren Kampf, wie wir uns dazu stellen?" (3f.). Es ist schon erstaunlich, wie weit sich Rükkert, der selbst nie Mitglied der NSDAP wurde, in der Uberzeugung von seinem missionarischen Auftrag auf Gedanken und Diktion des Nationalsozialismus einlassen konnte. Wie ein Gegenentwurf zu Rückerts Reden vor Studenten im Sommersemester 1933 wirkt Karl Barths Rede, mit der er am 30. Mai 1933 die Sitzung seiner homiletischen Übung eröffnete: "Welches auch der Sinn dieser merkwürdigen Zeit sein mag - wir sind im besonderen aufgerufen, Kirche zu sein." 71 Die Beweggründe für Rückerts Engagement sind uns im einzelnen nicht bekannt. Darauf wurde eingangs schon hingewiesen. Wurm hat im Herbst 1933 Fezer gegenüber dessen allzu lange Bindung an die Reichsleitung der DC als Sühne dafür gedeutet, daß die Bildungsschicht versagt habe und Hitler sich genötigt sah, "sich subalterner Persönlichkeiten zum Aufbau seines Staates zu bedienen". Wurm fügt hinzu, bei Rückert seien ihm kürzlich ähnliche Gedanken begegnet72. Solche Erwägungen haben sicher eine Rolle gespielt. Vermutlich sind das Erleben der nationalen Erhebung und die theologische Interpretation der Situation, verbunden mit dem Auftragsbewußtsein des theologischen Lehrers, wichtiger gewesen. In dem bereits 1925 von ihm herausgegebenen Calvin-Quellenheft findet sich ein Satz des Genfer Reformators, der auch aus der Feder des Herausgebers während der turbulenten Monate des Jahres 1933 hätte stammen können: "Ich könnte mir nichts Schöneres wünschen als Muße und wissenschaftliche Arbeit, wenn mir nur der Urlaub gäbe, unter dessen Fahne ich diene."73 Rückert mußte allerdings nach wenigen Monaten erkennen, daß er sich in der Interpretation der Situation geirrt hatte. Wie weit diese Erkenntnis reichte, ob sie auch sein Auftragsverständnis mit einschloß und wieviel er davon die Studenten in der erwähnten Versammlung im Auditorium maximum am 1. Dezember 1933 wissen ließ, entzieht sich unserer Kenntnis. Uber eine theologische oder geistliche Verarbeitung der Erfahrungen des Jahres 1933 existieren gleichfalls keine eindeutigen Zeugnisse. Martin Brecht hat, wie erwähnt, vorgeschlagen, Rückerts Interpretation von Luthers Coburg-Briefen als "seine heimliche

71

K. BARTH, Theologische Existenz (Anm. 53), S. 10.

72

G. SCHÄFER, Landeskirche (Anm. 47), S. 643 (20. Oktober 1933).

73

HANNS RÜCKERT (Hg.): Calvin (Religionskundliche Quellenhefte. 11). Leipzig/Berlin 1925, S. 28.

Hanns Rücken und das Jahr der nationalen Erhebung 1933

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Rechenschaft über seinen eigenen kirchenpolitischen Weg" zu verstehen 74 . Das ist denkbar. Im gleichen Jahr hat Rückert eine von ihm am 8. November 1935 gehaltene "studentische Morgenandacht" über Joh 21, 17 veröffentlicht. Er schließt mit den Worten: "Du weißt, daß ich dich lieb habe; denn du bist der vergebende Gott. Im Vertrauen auf dich wage ich es, zu leben und zu arbeiten." Er geht in dieser Andacht auch auf die "schwerste Aufgabe ..., die uns als Christen gestellt ist, nämlich Verantwortung zu tragen für die Gemeinde", ein 75 . Vielleicht ist es nicht nur eine Unterstellung, anzunehmen, daß Hanns Rückert rückblickend auch sein kirchenpolitisches Engagement des Jahres 1933 in dieses Vertrauen mit einbezogen wußte. Unverchlüsselt in Worte gefaßt hat er das vermutlich nie. In schriftlicher Form findet sich weder in seinen Veröffentlichungen, noch in seinem Nachlaß eine entsprechende Äußerung. Gerade angesichts der Verantwortung für die studentische Jugend macht dieser Tatbestand nachdenklich. Mit seiner zurückhaltenden oder gar verschlüsselten Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Position im Jahr der nationalen Erhebung 1933 steht Rückert allerdings in einer großen Gemeinschaft von theologischen Lehrern, vor allem den Herausgebern und Mitarbeitern an der Monatsschrift für die Deutsche Evangelische Kirche, die "Deutsche Theologie", denen Dietrich Bonhoeffer als "akademischen Hoftheologen" am liebsten "ein Lehrzuchtverfahren an den Hals" gehängt hätte 76 . Zu den Fragen, die an den Tübinger Kirchenhistoriker zu richten sind, gehört auch die eine von grundsätzlicher Art: Warum finden sich so wenige klare Worte von Theologen über ihre Irrwege und ihre Parteinahme für Hitler, den Nationalsozialismus oder für den 2. Weltkrieg? Oder deutlicher: Warum fällt es gerade Theologen so schwer, ihre Mitschuld in deutliche Sätze zu fassen und sich von ihren einstigen Äußerungen eindeutig zu trennen?

74 Vgl. oben Anm. 2. 75 HANNS RÜCKERT: Andacht über Joh 21, 17. In: DTh 3, 1936, S. 35f. 76 DIETRICH BONHOEFFER: Werke, Bd. 13 (London 1933 - 1935). Hg. von Hans Goedeking, Martin Heimbucher, Hans Walter Schleicher. Gütersloh 1994, S. 63 (Brief an Erich Seeberg, 2. Januar 1934).

Petra Ritter-Müller und Armin Wouters DIE ADVENTSPREDIGTEN KARDINAL MICHAEL V O N FAULHABERS IM JAHRE 1933 Eine kritische Betrachtung Die vom Münchner Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber gehaltenen Predigten an den Sonntagen des Advents und am Silvestertag des Jahres 1933 haben ein ungewöhnlich großes Echo und harsche Reaktionen von NSDAP-Vertretern gefunden, weit über München und die Erzdiözese hinaus1. Dies mag aus heutiger Sicht verwundern, denn die Uberzeugungskraft der Predigten hängt nicht an ihrem theologischen Gehalt, sondern hat andere Gründe. Diese Gründe skizzenhaft aufzuzeigen, darum soll es im folgenden zu tun sein. Dabei spielt neben den zeitgeschichtlichen Umständen auch die Person Faulhabers als katholischer Bischof und wissenschaftlicher Theologe eine bedeutende Rolle. Diesen beiden Aspekten soll das Hauptaugenmerk gewidmet sein. 1. Michael Faulhaber und seine Laufbahn als Theologe^ Michael Faulhaber wurde am 5. März 1869 in Klosterheidenfeld bei Schweinfurt geboren. Nach der Schulzeit in Schweinfurt und Würzburg sowie nach dem einjährigen Militärdienst begann er am 1. Oktober 1889 mit dem Theologiestudium. Dies scheint er mit Begeisterung und Begabung betrieben zu haben. Bereits im zweiten theologischen Jahr, statt wie sonst üblich im dritten, nahm er 1891 mit einem von Herman Scheit gestellten

1

Zu Reaktionen auf die Predigten in kirchlichen Kreisen vgl. LUDWIG VOLK (Hg.): Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917-1945. Bd. I (VKZG. Q17). Mainz 1975, S. 849f., Dokument 405; S. 852f., Dokument 409M; S. 883f., Dokument 433; S. 893f., Dokument 438; zu Reaktionen bei Vertretern der NSDAP S. 835f., Dokument 395; S. 850f., Dokument 405.

2 3

Ausführlicher dazu EBD., S. X X X V - L X X X I (Lebensbild). Herman Schell (1850-1906), Professor der Apologetik und vergleichenden Religionsgeschichte in Würzburg seit 1884. - Näheres bei KARL J . RLVINIUS: Integralismus und Reformkatholizismus. Die Kontroverse um Herman Schell. In: Winfried Loth (Hg.): Deut-

Die Adventspredigten Kardinal Faulhabers im Jahre 1933

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Thema "Historisch-kritische Darstellung der griechischen Apologeten des 4. und 5. Jahrhunderts" am fakultätsinternen Wettstreit teil. Am 1. August 1892 wurde er zum Priester geweiht und nach kurzer Seelsorgstätigkeit 1893 zum Präfekten im Bischöflichen Knabenseminar ernannt. Die Zeit im Seminar nutzte er, um sich auf das mündliche Doktorexamen vorzubereiten. Als schriftliche Arbeit reichte er die oben genannte Preisarbeit ein. Die Promotion "summa cum laude" verhalf ihm zu einem Universitätsstipendium, mit dem er die Studien fortsetzen konnte. Der Dekan der Fakultät, der Exeget Anton von Scholz 4 , hätte ihn gerne in Berlin zur Entzifferung der assyrischbabylonischen Keilschrifttafeln gesehen, doch Faulhaber entschied sich dagegen und ging nach Rom. Dort wandte er sich auf den Rat des damaligen Würzburger Kirchengeschichtlers, Albert Ehrhard 5 , der Katenenforschung6 zu. In der Vatikanischen Bibliothek stieß er dabei auf die Katenenhandschrift eines bisher unbekannten Autors, den er im Verlauf seiner wissenschaftlichen Arbeit mit dem Priester Hesychius von Jerusalem (gest. nach 450)7 identifizieren konnte. Mit dieser Arbeit habilitierte er sich 1899 in Würzburg für das Fach Patristik 8 . Die Probevorlesung zum Thema "Vergleichende Darstellung exegetischer Leistungen der alexandrinischen und antiochenischen Schule" war, wie schon die Habilitationsschrift, an der Väterexegese orientiert. Bis zu seiner Berufung nach Straßburg lehrte Faulhaber als Privatdozent Themen aus den Bereichen Biblische Altertumskunde, Psalmen und Jeremia; den Bereich Pentateuch, der in der zeitgenössischen Exegese Hauptgegenstand der neuen historisch-kritischen Forschung war, sparte er aus. Damit versuchte er auch, den zwischenzeitlich aufgekommenen Konflikt mit dem Ordinarius für Altes Testament, v. Scholz, zu entschärfen.

4

Anton von Scholz (1829-1908), seit 1872 Professor in Würzburg für Alttestamentliche Exegese und Biblisch-orientalische Sprachen (vgl. LThK Bd. IX, Sp. 449).

5

Albert Joseph Maria Ehrhard (1862-1940) war von 1892 bis 1898 Professor für Kirchengeschichte in Würzburg, später, 1902 bis 1920, in Straßburg. Er arbeitete auch auf den Gebieten Kulturgeschichte, Patristik und Byzantinistik und erwarb große Verdienste um die Periodisierung der Kirchengeschichte. Durch einige Schriften geriet er in Konflikt mit der Kirche (vgl. LThK Bd. DI, Sp. 719).

6

Katenen sind kettenartig aneinandergereihte Erläuterungen eines frühkirchlichen Schriftstellers zu einem Bibeltext.

7

LThK Bd. V, Sp. 308f.

8

Anton von Scholz blockierte die Habilitation Faulhabers für das Fach Altes Testament. Statt Faulhaber förderte er Johannes Hehn (1873-1932), der der bedeutendste Schüler Scholz' war und 1907 dessen Nachfolger wurde. Vgl. auch HANS WERNER SEIDEL: Die Erforschung des Alten Testaments in der katholischen Theologie. Frankfurt 1993 ( - Diss. theol. Hamburg 1962), S. 164 und unten Anm. 42.

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Aus dem befürchteten lebenslangen Privatdozentendasein wurde er 1903 durch die Berufung auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für alttestamentliche Exegese in Straßburg befreit. Dort widmete er sich der Interpretation einzelner Bücher, wie Jesaja, Samuel, Daniel, Ijob, Richter - aber auch hier fehlte der Pentateuch. In seiner Lehrtätigkeit blieb er nicht bei der als kühl distanziert angesehenen Textkritik stehen, sondern begeisterte seine Studenten für den theologischen Gehalt der biblischen Bücher. 1911 wurde Faulhaber zum Bischof von Speyer ernannt 9 ; bereits 1917 verließ er die Stadt wieder, um Erzbischof von München und Freising zu werden. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tode im Jahre 1952 aus. Das Leben Faulhabers umfaßt damit eine Zeitspanne, die von großen und entscheidenden Umbrüchen in politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht geprägt ist. Sie reicht von der Gründung des Deutschen Reiches über den Niedergang der Monarchie, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis hin zur heutigen demokratisch verfaßten Bundesrepublik Deutschland, vom I. Vaticanum bis zu den Vorboten des II. Vaticanums.

2. Das theologische Umfeld der Adventspredigten 2.1 Theologische Entwicklungslinien Zur Beurteilung der Theologie in Faulhabers Predigten scheint die Darstellung seiner wissenschaftlichen Laufbahn angebracht zu sein. Während sich in den meisten theologischen Disziplinen schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Hinwendung zur historischen Betrachtungsweise vollzog, geschah diese im Bereich der katholischen Exegese nur äußerst zaghaft und vorsichtig 10 . Verbunden war damit gleichzeitig die Auseinandersetzung um 9

Sein Bischofswappen trägt einen siebenarmigen Leuchter als "Sinnbild für seine bisherige Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der alttestamentlichen Wissenschaft" und eine Taube für den Heiligen Geist, Sinnbild für seine zukünftige Weihetätigkeit, sowie den Wahlspruch "Vox temporis, vox Dei".

10 Die Exegese, besonders die alttestamentliche, wurde sogar kritisch beäugt, zeichnete sich doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich der Siegeszug der historisch-kritischen Methode ab, deren Ergebnisse Angst machten, den wahren Glauben zu verlieren. Zur Reaktion der katholischen Kirche darauf im Zusammenhang mit der Inspirationslehre vgl. unten S. 238f. Kennzeichen der historisch-kritischen Methode war es, den Werdeprozeß der Heiligen Schrift in seinen einzelnen Schritten nachzuzeichnen. Eine oft zu findende antikirchliche Haltung ihrer Vertreter wurzelte darin, daß nur das als für Glaube und Kirche verbindlich gehalten wurde, was chronologisch ursprünglich greifbar wird. Der weitere Entstehensprozeß war in ihrem Glauben und ihrer Theologie nicht integrierbar. In gewisser Weise war die Angst vor der historisch-kritischen Methode sogar berechtigt, wenn man die Haltung einiger Vertreter betrachtet. Ein extremes Beispiel war Paul de Lagarde (1827-1891), ein hervorra-

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die Frage der Inspiration der Heiligen Schrift. In der protestantischen Exegese hatte schon früher eine Verschiebung von der biblischen Theologie zur israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte stattgefunden 11 . In seinem wissenschaftlichen Schaffen war Faulhaber für die neue historisch-kritische Betrachtungsweise offen, aber er wendete sie nicht auf den biblischen Urtext selbst an, wie es sein Zeitgenosse und Gründer der Ecole biblique in Jerusalem Marie-Joseph Lagrange propagierte 12 , sondern auf die Bibelauslegung der Väter. Mit Hilfe dieser Methode gelangen ihm bedeutsame Entdeckungen wie in seiner Habilitationschrift. Es handelt sich dabei also um eine Forschungsarbeit über eine alte Textauslegung, nicht um eine eigene Textauslegung mittels des historisch-kritischen Instrumentariums. Daß Faulhaber letztlich nicht risikofreudig genug war für ein neues wissenschaftliches Terrain, zeigt sich in seiner Biographie an der "Weggabelung" Berlin oder Rom. Hingegen hat sein Würzburger Lehrer Anton von Scholz als erster katholischer Alttestamentler eine neue, eigene Hypothese zur Entstehung des Pentateuchs vorgelegt. Revolutionär war daran, daß der Pentateuch in seiner jetzigen Gestalt als Schlußpunkt eines längeren Entstehungsprozesses erkannt wurde. Indem sich Faulhaber aber gegen Berlin entschied, entschied er sich auch gegen den wissenschaftlichen Weg seines Lehrers. Während er in Berlin neues und ihm fremdes religionswissenschaftliches Terrain betreten hätte, wendete er sich Rom zu, Zentrum der Kirche und katholischer Lehrtradition. Hauptthema der lehramtlichen Diskussion war zu dieser Zeit die Irrtumslosigkeit der Schrift und die Inspiration, also eher systematische als exegetische Fragen. Die katholische Exegese war der Systematik nachgeordnet und wurde von ihr bestimmt. Auch für Faulhaber war die Exegese letztlich eine Hilfswissenschaft der systematischen Theologie. Insofern wird verständlich, daß Faulhaber während seines Romaufenthalts in seinen zweifelnden Momenten überlegen konnte, zur Dogmatik oder zum Kirchenrecht überzuwechseln.

gender Semitist, der wertvolle Ergebnisse für die alttestamentliche Wissenschaft brachte, aber gleichzeitig in seinen "Deutschen Schriften" und "Ausgewählten Schriften" rassistische, antijüdische Auffassungen vertreten konnte. Vgl. FRANZ-HEINRICH PHILIPP: Protestantismus nach 1848. In: Kirche und Synagoge. Bd. 2. München 1988, S. 307; CARSTEN NICOLAISEN: Die Auseinandersetzung um das Alte Testament im Kirchenkampf 1933-1945. Diss. theol. Hamburg 1966, S. 6. 11

H E N N I N G GRAF REVENTLOW: H a u p t p r o b l e m e

Jahrhunderts. Darmstadt 1982, S. 5. 12 H. W. SEIDEL, Erforschung (Anm. 8), S. 75.

d e r a l t t e s t a m e n t l i c h e n T h e o l o g i e des

20.

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2.2 Inspiration der Schrift und die Aufgabe des Exegeten In mehreren kirchenamtlichen Dokumenten wurde die Lehre der Inspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift entwickelt und präzisiert. Sie standen im Zusammenhang mit den kritischen Anfragen seitens der Naturwissenschaften und der historischen Forschung und wollten den Wahrheitsanspruch biblischer Aussagen sichern. Obwohl die Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift zum Grundbestand der Theologie von alters her zählt, fallen gerade in die Zeit von Faulhabers Studien- und Lehrjahren wichtige Entscheidungen seitens der kirchlichen Autoritäten zu diesem Thema. Schon bei den ältesten Kirchenschriftstellern wie Ignatius von Antiochien (gest. um 110), Justin der Märtyrer (gest. um 165) und Gregor von Nyssa (gest. 394) findet sich die Auffassung, daß sowohl die Schriften des Alten als auch des Neuen Testaments Gott zum Urheber, zum "auctor" haben13. Diese Auffassung der Inspiration der Schrift lag auch dem Konzil von Trient zugrunde, als diese Kirchenversammlung den Kanon der Heiligen Schrift für die katholische Kirche erneut verbindlich definierte (vgl. DH 1 4 1501-1507). Aber erst das I. Vaticanum nahm in seiner 3. Sitzung am 24. April 1870 ausführlich zu der Frage der Inspiration Stellung. Damit fand eine Diskussion ein Ende, die über 200 Jahre lang innerhalb der katholischen Kirche geführt worden war. Dabei pendelten die Meinungen zu diesem Thema im wesentlichen zwischen zwei Positionen. Die erste, vertreten durch den Löwener Professor Leonhard Lessius (gest. 1623) und von Daniel Bonifatius von Haneberg (gest. 1876), Bischof von Speyer, ging davon aus, daß die Bücher der Schrift deshalb heilig seien, weil sie von einem Propheten, einem Apostel oder einem Apostelschüler geschrieben und von der Kirche als "inspiriert" approbiert wurden. Die zweite, vertreten durch Louis-Ellies Du Pin (gest. 1719) und Martin Johann Jahn (gest. 1816) in Wien, war dagegen der Meinung, daß die Bücher der Schrift von Autoren geschrieben worden seien, die durch den Heiligen Geist nur vor Irrtum bewahrt wurden, ansonsten aber in der Darstellung eigenen Kompositionen folgen konnten. Innerhalb dieser Diskussion erklärte nun das I. Vaticanum, daß die Heiligen Bücher, wie sie das Konzil von Trient genannt hatte, weder heilig und kanonisch seien aufgrund menschlicher oder kirchlicher Entscheidung noch aufgrund einer Bewahrung vor Irrtum, sondern ausschließlich deshalb, weil 13

In der Folgezeit konnten dann auch die Bischofskandidaten im 5./6. Jahrhundert gefragt werden, ob sie daran glaubten, daß Gott der Autor des Gesetzes, der Propheten und der Apostelgeschichte sei. Vgl. JOSEF SCHARBERT: Sachbuch zum Alten Testament. Aschaffenburg 1981, S. 118f.

14

DH -

HEINRICH DENZINGER: Enchiridion symbolorum definitionum et dedarationum de

rebus fidei et morum. Hg. von Peter Hünermann, Freiburg i. B. u.a. 37. Aufl. 1991.

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Gott alleiniger Urheber der Schrift sei und der Heilige Geist sie den menschlichen Autoren offenbart habe (DH 3006). Damit entschied sich das I. Vaticanum für die Annahme der Verbalinspiration der Heiligen Schrift. Als heilige und von Gott inspirierte Schriften wurden sie dann der Kirche übergeben. Darüber hinaus erklärte das I. Vaticanum in einem Anathem, daß jeder, der eines der Bücher aus dem Kanon entfernen möchte oder an der Inspiration zweifle, aus der Kirche ausgeschlossen sei (DH 3029). Hier liegt schon eine Wurzel offen zutage, aus der sich Faulhabers Argumentation später speist. Jeder Angriff auf das Alte Testament mußte von Faulhaber als Bischof und nicht nur als Exeget als Angriff auf die Lehre der katholischen Kirche begriffen werden. Diese Lehrentscheidung des I. Vaticanums wurde von Leo XII. in seiner Enzyklika "Providentissimus Deus" vom 18. November 1893 näher umschrieben und vor allem im Hinblick auf die daraus sich ergebende Aufgabe des Exegeten ausgelegt. So ist es nach Auffassung des kirchlichen Lehramts Aufgabe des Exegeten, die Schrift nach den folgenden abgestuften Richtlinien zu erklären: An erster Stelle stehen alle Erklärungen der Schrift, die sich in der Schrift selbst finden (die Schrift legt sich selbst aus). Dann sind all die Deutungen heranzuziehen, die sich in Entscheidungen des Lehramts finden, denn auch diese Deutungen sind unter dem Beistand des Heiligen Geistes erfolgt. Erst wo sich keinerlei Erklärungsversuche in diesen beiden Bereichen finden, ist es dem Exegeten erlaubt, gemäß dem vom katholischen Glauben geprägten Verständnis der Schrift Stellen selbst auszulegen15. Dabei hat er sich zuallererst an die Auslegung der Kirchenväter zu halten. In einem zweiten Schritt kann er sich dann auf das Urteil der Fachgelehrten stützen. Um über diese Art der Schriftauslegung zu wachen und Gefahren zu wehren, die sich aus der aufkommenden und oft kirchenfeindlichen historisch-kritischen Forschung ergaben, wurde am 30. Oktober 1902 von Leo XIII. die päpstliche Bibelkommission gegründet16. Vor diesem Hintergrund lehramtlicher Entscheidungen erscheint Michael Faulhaber als kirchlich gebundener Wissenschaftler, der Väterinterpretation der Schrift verpflichtet, aufgeschlossen für Neues, doch letztlich der kirchlichen Einordnung der Schriftexegese gehorsam.

15

Dabei hat er allerdings auch zu bedenken, daß nicht alles in der Schrift verstanden werden muß, gerade dann nicht, wenn sich Widersprüche zu heutiger Praxis ergeben sollten. Der Sinn der Schrift kann auch Geheimnis bleiben (DH 3294).

16

Diese Bibelkommission bestätigte noch einmal in einem Entscheid vom 18. Juni 1915 die katholische Lehre von der Inspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift (DH 3628-3630).

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3. Das zeitgeschichtliche Umfeld der Predigten 3.1 Das Jahr 1933 Nachdem Hitler Ende Januar Reichskanzler geworden war, hoffte Kardinal Faulhaber, der Monarchie stark verbunden, noch im Februar, daß sich Bayern gegen die Nationalsozialisten auflehnen und den bayerischen König wieder einsetzen könnte 17 . Bereits Jahre zuvor hatten die deutschen Bischöfe mit Faulhaber eine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus mit seinen "Irrlehren"18 eingenommen. Doch diese kritische Haltung des deutschen Episkopats wich der Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz von katholischer Kirche und Staat durch Hitlers kirchenfreundliche Worte in seiner Rede anläßlich des Ermächtigungsgesetzes am 23. März. Das vor allem von Vizekanzler von Papen forcierte Konkordat zwischen katholischer Kirche und dem Deutschen Reich bestärkte die Erwartung, daß wenigstens die Kirche nicht einer Gleichschaltung anheimfallen und ihre Eigenständigkeit bewahrt würde 19 . Doch die Zeit der Illusionen währte nicht lange. Schon im Sommer kam es zu Terrorakten seitens der SA u. a. gegen Teilnehmer am Kolpingsgesellentag und zur Inhaftierung kritischer Geistlicher. Darüber hinaus wurden in Bayern die Träume von einer eigenständigen, vom Norden unabhängigen Landesregierung schnell zerstreut. Nicht nur Faulhaber, auch dem Heiligen Stuhl war am Ende des Jahres 1933 klar, daß es sich nicht nur um eine politische, sondern auch um eine weltanschauliche Machtergreifung handelte und der "Kulturkampf" 20 in vollem Gange war. Der Papst plante ein öffentliches Wort zur nationalsozialistischen Weltanschauung und zu den Rechtsbrüchen der Regierung Hitler, welches aber nicht gesprochen wurde, um die Lage der deutschen Katholi-

17 Vgl. L. VOLK, Akten (Anm. 1), S. 648, Dokument 267. 18 So die bayerischen Bischöfe in ihrer Pastoralen Anweisung "Nationalsozialismus und Seelsorge" vom 10. Februar 1931, in der sie den Katholiken die Mitarbeit in der nationalsozialistischen Bewegung untersagten. Und schon 1923 lehnte Faulhaber bei seiner Allerseelenpredigt Feindschaft gegen bestimmte Volksgruppen ab und vertrat die Ansicht, daß auch das Leben eines Israeliten kostbar sei. Vgl. RUDOLF LILL: Die deutschen Katholiken und die Juden in der Zeit von 1850 bis zur Machtübernahme Hitlers. In: Kirche und Synagoge. Bd. 2. München 1988, S. 405. 19 Da Konkordate die dauernde Regelung sämtlicher die beiden Vertragspartner berührenden Angelegenheiten zum Ziel haben, ist diese Hoffnung mittels dieses altbewährten Instruments verständlich. Sie mußte aber enttäuscht werden angesichts einer Partei, die sich dem Staat und seiner Verträge übergeordnet und nicht an sie gebunden verstand. 20

Das Wort "Kulturkampf" wurde von Faulhaber öfter verwendet: vgl. L. VOLK, Akten (Anm. 1), S. 809, Dokument 373, und S. 831, Dokument 391.

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ken nicht zu erschweren21. Insofern wurden die Predigten Faulhabers als kleiner Ersatz angesehen. Einem international wirksamem Papstwort konnten sie nicht nahekommen. Erst Jahre später, 1937, meldet sich der Papst mit seiner Enzyklika "Mit brennender Sorge" zu Wort, an deren Formulierung Faulhaber wesentlich beteiligt war. 3.2 Der Anlaß der Predigten Daß Faulhaber die Predigten unabhängig von möglichen Verlautbarungsplänen des Papstes in Angriff genommen hat, zeigt sein Weihnachtsschreiben an Pius XI. vom 19. Dezember 1933. Darin führt er aus, daß mehr noch als die Rechtsbrüche der Regierung und Inhaftierungen von Geistlichen das Entstehen einer nordisch-germanischen Konfession im katholisch und lutherisch geprägten Deutschland ihn bedrückten: "Gegen diese Strömungen halte ich zur Zeit Adventpredigten in der größten Kirche in München, in St. Michael ... Zwei weitere Kirchen sind durch Lautsprecher angeschlossen und auch bis auf den letzten Platz gefüllt." 22 Somit wird deutlich, daß diese Predigten nicht aus liturgischen Notwendigkeiten heraus gehalten wurden, denn auch ein Blick auf den Leseplan zeigt keine alttestamentlichen Lesungen für jene Adventsonntage. Weiterhin war es damals üblich, Predigten außerhalb einer Meßfeier zu halten, was Faulhaber auch bei den Adventspredigten genutzt hat. Einen Tag nach dem Brief an den Papst, am 20. Dezember 1933, schreibt Faulhaber an Abt Schachleiter23: "Ebenso ist Euer Gnaden vielleicht bekannt, daß im Entwurf der neuen Kirchensteuerordnung als 3. Konfession in Deutschland bereits das nordisch-germanische Bekenntnis vorgesehen ist, und daß unter den Augen der Reichsregierung der Kampf gegen die Juden und die Katholiken ganz offen zu einem Kampf gegen das Christentum überhaupt geworden ist." 24 Es zeigt sich also, daß Faulhaber die Predigten aus einer nach seiner Ansicht bedrohlichen Situation für das Christentum heraus gehalten hat. In dieser Gefahr sieht er sich gemeinsam mit dem Judentum und dem lutherischen Bekenntnis auf den Plan gerufen. Als Kar21 Vgl. KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934. Frankfurt/Main u. a. 1977, S. 658. 22 L. VOLK, Akten (Anm. 1), S. 828f, Dokument 389. 23 Albanus Schachleiter OSB, vormals in Kloster Emaus in Prag, kritisierte am 1. Februar 1933 den Hirtenbrief des Bischofs von Linz und damit auch die Haltung der deutschen Bischöfe im "Völkischen Beobachter" (vgl. auch CARSTEN NICOLAISEN: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. I: Das Jahr 1933. München 1971, S. 25f.). Er wurde von Rom wegen Gehorsamsverletzung, nicht wegen politischer Angelegenheiten suspendiert. 24 L. VOLK, Akten (Anm. 1), S. 830f, Dokument 391.

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dinal Faulhaber die Adventspredigten hielt, war er 64 Jahre alt. 23 Bischofsjahre hatte er bereits hinter sich, davon 16 Jahre in München. 4. Kurze Darstellung der Adventspredigten Die Predigten handeln im wesentlichen von der Bedeutung des Alten Testaments. Die erste Adventspredigt 25 , die später unter der Uberschrift "Das Alte Testament und seine Erfüllung im Christentum" veröffentlicht wurde, stellt die Kontinuität und Gültigkeit der vorchristlichen und nachchristlichen Offenbarung dar, die durch die Inspiration gewährleistet ist. Christus hat im neuen Bund den alten erfüllt und vollendet (I, 1026). Auch die Christen sollen die alttestamentlichen Ordnungen erfüllen durch Psalmengebet, Fasten, Almosen und im geistlichen Sinne die Reinigungs- und Opfergesetze (I, 18ff). In der zweiten Predigt 27 mit dem Titel "Die sittlichen Werte des Alten Testaments und ihre Aufwertung im Evangelium" bezeichnet Faulhaber das Alte Testament als Lehrbuch der sittlichen Ordnung. "Lichter" der alttestamentlichen Sittenlehre sind für ihn z. B. die Zehn Gebote und die zugehörige innere Gesinnung. Vorbilder sind ihm Joseph, Moses, Ijob, u.a. Als "Schatten" der alttestamentlichen Sittenlehre greift Faulhaber vor allem die Punkte auf, die die Gegner des Alten Testaments anbringen: Onan, Thamar, die Töchter Lots, Rahab u. a. empfindet Faulhaber ebenfalls als anstößig. Christus habe jedoch mit den Schattenseiten aufgeräumt, die biblischen Charakterbilder seien sich ihrer Schuld bewußt gewesen, und Gott könne auch auf krummen Linien gerade schreiben, denn Gottes Gnade vollende sich in der Schwachheit. In der dritten Adventspredigt 28 mit der Uberschrift "Die sozialen Werte des Alten Testaments" bezeichnet Faulhaber diese als Bausteine für das Gemeinschafts- und öffentliche Leben der Menschen und zieht besonders das "mosaische Fünfbuch" und die Propheten als Erläuterungen heran (III, 2f). Die Predigt ist in sechs Punkte unterteilt und behandelt das "altbiblische" Armen-, Privat- und Arbeiterrecht, Rechtspflege, Wirtschaftslehre und -Ordnung sowie den religiösen Unterbau der sozialen Ordnung. Dennoch über25 26

Predigttext Mt 5,17f. Die römischen Ziffern I-IV beziehen sich auf die einzeln (bei Verlag H. Huber) veröffentlichten Textfassungen der jeweiligen Adventspredigten. V bezeichnet die Silvesterpredigt, veröffentlicht in: JUDENTUM, CHRISTENTUM, GERMANENTUM. München o. J., S. 101-124. Die arabischen Ziffern sind die Seitenzahlen in den entsprechenden Ausgaben. 27 Predigttext Rom 15,4. 28 Predigttext Lev 19,9-19.

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höhe das Evangelium die altbiblischen Gesetze, was Faulhaber am Beispiel des Ehescheidungsverbots ausführt. Die Genialität der alttestamentlichen Gebote sieht er als Beweis für die göttliche Inspiration. "Der Eckstein zwischen Judentum und Christentum" ist der Titel der vierten Predigt 29 . Durch die Ablehnung seines Volkes wurde Christus der Schlußstein des Alten und Stifter des Neuen Bundes. Schon im Alten Testament gibt es Hinweise auf Christus. Das Evangelium enthält ewig gültige Bausteine zum Bau der christlichen Welt- und Lebensordnung (TV, 15). Die fünfte, zu Silvester gehaltene Predigt 30 trägt den Titel "Christentum und Germanentum". Sie geht nicht mehr direkt auf die zuvor gehaltenen Adventspredigten ein und erwähnt das Alte Testament nur noch hilfsweise an einigen Stellen. Dennoch gehört sie, sozusagen als Endpunkt, zu den Adventspredigten, denn sie ist aus derselben Motivation heraus gehalten: das Christentum zu verteidigen vor dem Hintergrund der Einführung eines nordisch-germanischen Bekenntnisses und den Vorwurf zu widerlegen, das Christentum störe die "artgetreue" Entwicklung des Germanentums (V, 102f). Im Gegenzug prophezeit Faulhaber: "Das deutsche Volk wird nämlich entweder christlich sein oder es wird nicht mehr sein" (V, 103). Er gliedert seine Predigt in vier Fragen, wovon er die erste folgendermaßen formuliert: "Wie es bei den alten Germanen in ihrer vorchristlichen Zeit ausgesehen hat". Anhand der Geschichtsquelle "Germania" des römischen Geschichtsschreibers Tacitus stellt er in kurzen Zügen das Leben der Germanen dar. Faulhaber beschreibt die Zivilisierung der Germanen durch das Christentum und seine Entwicklung zu einem Kulturvolk als Antwort auf die zweite Frage "Wie das Christentum bei den alten Germanen eingeführt wurde". Im Zusammenhang mit der dritten Frage "Wie sich das Christentum zur germanischen Rasse stellt" weist er auf den übernatürlichen Charakter des Christentums hin, bei dem der Rassegedanke keine Rolle spielt. Die vierte Frage lautet: "Wie sich das Christentum zu den germanischen Volksbräuchen stellt". Dabei erinnert Faulhaber daran, daß einige Bräuche israelitischen, altbiblischen Ursprung haben, ebenso wie manche Wortbildungen in der deutschen Sprache. Bei allem plädiert er für eine differenzierte Geschichtsbetrachtung und erinnert an den guten Ruf der deutschen Wissenschaft.

29 Predigttext Hebr l,lf. 30 Predigttext Hebr 13,8.

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5. Theologische Schwerpunkte 5.1 Die Rolle des Alten Testaments Eine Predigtreihe eines Kardinals über das Alte Testament war in der damaligen Zeit ungewöhnlich 31 . Es stand nicht im Mittelpunkt des Interesses. Diese Haltung zeigte sich auch an der Interessenlage der damaligen wissenschaftlichen katholischen Theologie, in der die Fächer der Systematik den ersten Rang einnahmen. Daß Faulhaber einmal Professor für Altes Testament gewesen war, erkennt man noch an vielen Stellen in den Predigten. Manchmal erscheinen sie wie eine Einleitungsvorlesung. So z. B. wenn Faulhaber, besonders in der zweiten und dritten Predigt, die biblischen Bücher erzählend wiedergibt. Auch die Dinge, die er erklärt, zeigen, daß er bei seinen Hörern nicht allzuviel Wissen über das Alte Testament voraussetzt. Er erklärt das Wort "Testament" (I, 5), zählt Thora, Psalmen, Weisheitsbücher und prophetische Ermahnungen auf (I, 4) und weist darauf hin, daß der Talmud als nachchristliche jüdische Schrift nicht inspiriert und auch nicht von der Kirche übernommen worden sei 32 . Durch die göttliche Inspiration war vor Jesu Auftreten Israel der "Träger der Offenbarung" (I, 4). Weiterhin stellt Faulhaber positive Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese dar, die einen Vergleich mit anderen altorientalischen Kulturen ermöglichen und zeigen, daß das Volk Israel die höchsten religiösen Werte (I, 7) wie den Erlösungsgedanken und den Gottesgedanken (I, 9-12) hervorgebracht und das Alte Testament hohen erzieherischen Wert in sittlicher (II) und sozialer (III) Hinsicht hat. Besonders in der zweiten Adventspredigt im Zusammenhang mit den sittlichen Werten des Alten Testaments fällt auf, daß Faulhaber neben den "Lichtern" auch "Schatten" feststellt. Während er den von den Deutschen Christen in ihrer Entschließung vom 13. November 1933, kurz vor den Adventpredigten, formulierten Vorwurf der "jüdischen Lohnmoral" (II, 13) zurückweist mit dem Argument vom Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit und ihnen Heuchelei vorwirft (II, 13-15), empfindet er andere Stellen ebenfalls als anstößig und gibt ihnen so indirekt recht. Er meint, daß anstößige Texte nicht "in die Hand der unreifen Schuljugend" gehörten. Die Synagoge habe es genauso gehalten (II, 16f). In diesem Punkt geht Faulhaber völlig konform mit der damaligen katholischen Praxis, gekürzte Bibelausga31 Die geringe Bedeutung des Alten Testaments zeigt sich z. B. daran, daß es bis zur Liturgiereform durch das Zweite Vatikanische Konzil innerhalb der katholischen Messe im ganzen Jahreskreis so gut wie keine alttestamentlichen Lesungen gab. 32 Offenbar hält er gerade diesen Punkt für erwähnenswert. Das setzt voraus, daß Altes Testament und Talmud aus Unwissenheit damals undifferenziert vermischt wurden.

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ben zu drucken und der breiten katholischen Bevölkerung anzubieten, in denen anstößig empfundene Texte ausgespart wurden 33 . Faulhaber spricht über das Alte Testament, er zitiert oder paraphrasiert den Text, aber eine Auslegung eines Einzeltextes bietet er nicht. Bei einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Text selbst wäre die theologische Aussage auch der als anstößig wirkenden Texte deutlich geworden. Wie schon die Titel der ersten und vierten Predigt zeigen, betrachtet Faulhaber das Alte Testament nicht für sich, sondern in Verbindung mit dem Neuen Testament und dem Christentum. Dies macht einen großen Teil der Predigten aus. Innerhalb des Alten Testaments unterscheidet Faulhaber zwischen dem, was vorübergehenden, zeitlichen Wert hatte, und dem, was ewigen, überzeitlichen Wert hat. Zu ersterem rechnet er die "langen Stammregister" (I, 5) und die vielen Vorschriften für die Opferliturgie und "Reinigungsbräuche" (I, 5f). N u r mit den ewigen, auch im Christentum gültigen "Werten", z. B. den zehn Geboten (II, 4), will er sich in seinen Predigten beschäftigen. Die hohen religiösen Werte des Alten Testaments wie der Gedanke des einzig wahren Gottes und der Erlösungsgedanke werden im Neuen Testament erfüllt und überhöht (I, 9-12). Das Alte Testament "erfüllen" heißt für Faulhaber "vollenden", "fertigmachen". Er vergleicht es mit einem Hohlmaß, das aufgefüllt wird 34 , und zieht 1 Kor 13,10 zur Argumentation heran (I, 16; siehe auch IV, 18). Das Neue Testament hat den "ersten Ehrenplatz" (I, 12), aber da auch das Alte Testament inspiriert ist, ist es der Kirche heilig und kostbar. "Christus hat, was aus dem Alten Bund ewigen Wert hatte, in den Neuen und ewigen Bund eingebaut" (TV, 16), den Wortlaut seiner Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe aus dem "mosaischen Fünfbuch" und die Gebete aus dem Alten Testament in seine "Liturgie" übernommen (TV, 17). Entsprechend dem Artikel 24 des Parteiprogramm der NSDAP von 1920 war das Alte Testament vor allem als Verstoß "gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse" Zielscheibe von Angriffen. Besonders in der zweiten und dritten Predigt zeigt Faulhaber dagegen die bleibenden Werte der sittlichen und sozialen Ordnung des Alten Testaments, die auch zu seiner Zeit aktuell waren und richtungsweisend sein können, wie er am Beispiel des Aufkaufs verarmter landwirtschaftlicher Anwesen in Oberbayern nach dem ersten Weltkrieg zeigt (HI, 17). Ansonsten geht Faulhaber

33

Vgl. z. B. KATHOLISCHE HAUSBIBEL. Große Volksausgabe. Biblische Geschichte für das katholische Volk von Jakob Ecker. Vier Bände. Trier 1904. 34 Faulhaber bezieht sich dabei auf Mt 5,17 und entscheidet sich dafür, "erfüllen" quantitativ zu verstehen, d. h. Jesus gleicht den Mangel aus. Zu anderen Interpretationsweisen vgl. ULRICH Luz: Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1/1). Zürich u. a. 1985, S. 232.

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davon aus, daß das Alte Testament Basis des in Christus vollendeten Gottesglaubens ist. Diese Vollendung sieht Faulhaber vor allem in der Fortführung des Gottes- und Erlösungsgedankens. Trotz der propagierten Hochachtung für das Alte Testament kann er dennoch sagen: "Das Christentum wurde durch die Übernahme dieser Bücher keine jüdische Religion" (I, 13), und erläutert später: "Soviel sind wir über das Judentum des Alten Testaments hinausgewachsen, soviel wir Christusgeist und Christusliebe in uns haben" A,

20).

5.2 Die Rolle des Judentums Faulhaber führt eine strikte Unterscheidung des vorchristlichen vom nachchristlichen Judentum durch (I, 4). Obwohl er sich explizit nur mit dem vorchristlichen Judentum beschäftigen will, impliziert dies letztendlich nicht ein Schweigen über das zeitgenössische. Faulhaber war sich nämlich durchaus bewußt, daß seine Aussagen über das Alte Testament nicht ohne Folgen für die Einschätzung des zeitgenössischen Judentums sein können. Zunächst bestimmt er im Zusammenhang seiner Predigt das Verhältnis zwischen Kirche und Israel. Nach dem Tode Christi sei Israel aus dem Dienst der Offenbarung entlassen worden, der Bund zwischen dem Herrn und seinem Volk sei zerrissen. "Die Tochter Sion erhielt den Scheidebrief und seitdem wandert der ewige Ahasver ruhelos über die Erde." In dieser Redeweise verbergen sich drei typische Auffassungen von der Rolle Israels in seinem Verhältnis zur Kirche: Die eine Auffassung, die Franz Mußner 35 als "Substitutionsmodell" bezeichnet, bedeutet in diesem Zusammenhang: Die Kirche übernimmt den "Dienst der Offenbarung" vom vorchristlichen Israel. Das reine Substitutionsmodell hätte zur Folge, daß Israel zu einem Volk unter den Völkern wird und in die heilsgeschichtliche Bedeutungslosigkeit versinkt. Für Faulhaber bleibt das nachchristliche Israel ein Bestandteil im Heilsplan Gottes. Denn Israel, das auch nach dem Tod Jesu "noch ein 'Geheimnis'" ist, wird am Ende der Zeiten an der "Stunde der Gnade" teilhaben (I, 4f). Diese von Faulhaber an Rom ll,25f entwickelte Sichtweise von Kirche und Israel kann mit Mußner auch als "bedingtes Repräsentationsmodell"36 verstanden werden, denn nur bis zum Ende der Zeiten hat die Kirche den Dienst Israels übernommen. Faulhabers Rede vom "Geheimnis" Israels erklärt vielleicht, warum er die "Abneigung gegen das heutige Judentum" nicht weiter thematisiert. Eine dritte Auffassung, nach Mußner 37 als "Integrationsmodell" zu 35 Zu den Modellen vgl. F R A N Z MUSSNER: Art. "Judentum". In: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. 2. München 1984, S. 259. 36

EBD.

37

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bezeichnen, zeigt sich, wenn Faulhaber die Apostel und Jünger um Jesus mit dem "Restsamen" nach Jes 6,13 identifiziert, aus dem ein "neues Reich" erwächst (V, 10)38. Im großen und ganzen ist aber das bedingte Repräsentationsmodell in den Predigten vorherrschend39. Faulhaber, der fordert, durch Christi Geist und Liebe über das Alte hinauszuwachsen (I, 20; II, 23f.), mahnt seine Hörer, Haß sei keine christliche Tugend, "gleichviel gegen wen sie sich richtet", sondern "Rachsucht sei Rückfall in die jüdische Vorzeit" (II, 24). An keiner Stelle der Adventspredigten wendet Faulhaber sich direkt gegen den Haß gegen Juden40. Dennoch gelingt es ihm in einer geschickten Argumentationstrategie, den Judenhaß zu verurteilen, denn wer haßt, fällt zurück in die jüdische, also schlechte Vorzeit, oder anders gewendet: Wer Juden haßt, verhält sich selbst wie ein vorchristlicher Jude. Eine ähnliche Strategie legt Faulhaber an den Tag, wenn er die Betonung von Blut und Rasse indirekt dadurch kritisiert, daß er sagt, bei keinem Volk würden "Blut und Rasse so stark betont wie bei den Israeliten des Alten Bundes" (V, 117f). Auch hier wird wieder ausgedrückt: Diejenigen, die Blut und Rasse betonen, verhalten sich wie die vorchristlichen Israeliten, und das Verdikt gegen das Judentum fällt auf sie selbst zurück. Das Christentum hat das Naturdenken der Blutsbeziehungen überwunden (V, 117). Folgerichtig formuliert Faulhaber seinen berühmten Satz: "Wir sind nicht mit deutschem Blut erlöst. Wir sind mit dem kostbaren Blut unseres gekreuzigten Herrn erlöst" (V, 118). Dennoch war Faulhaber ein Kind seiner Zeit - einer Zeit, die durch einen latent vorhandenen Antisemitismus geprägt war. An einigen Stellen seiner Predigten kann man diesen Zeitgeist nachspüren. Er zeigt sich dadurch, daß Faulhaber nur über das vorchristliche Judentum reden will und daß er so deutlich, neben der Wertschätzung für das Alte Testament, die Höherwertigkeit des Christentums hervorhebt und mehrmals betont, daß das vorchristliche Judentum das geistig hochstehende Alte Testament nicht durch sich selbst hervorgebracht hat, sondern es ein Ergebnis der göttlichen Inspiration ist (I, 7.13).

38 Möglicherweise ist dieser Teilvers von Jes 6,13 sekundär. Vgl. Biblia Hebraica Stuttgartensia zur Stelle. 39 Obwohl Faulhaber in seiner ersten Predigt vom Tod Jesu durch die Hand der Juden spricht (I, 4), erhebt er weder den stereotyp vorgetragenen Vorwurf des Christusmörders, noch beteiligt er sich an Strafforderungen. 40 Anders in der Allerseelenpredigt 1923.

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Ein weiteres Indiz für den antisemitischen Zeitgeist ist die Verwendung des Begriffs pharisäisch, Pharisäer, Pharisäismus (I, 20; II, 16.23), der von einigen Evangelienstellen herrührt, die die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern darstellen, und so als Schimpfname für Scheinheiligkeit und Heuchelei steht 41 . Während Faulhaber das Adjektiv in der ersten Predigt im Zusammenhang mit der Höherwertigkeit des Christentums verwendet, zeigt sich in der zweiten Predigt bei der Verwendung der Substantive zusätzlich wieder Faulhabers Strategie, seine Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen. Diejenigen, die dem vorchristlichen Judentum bzw. dem Alten Testament Sittenlosigkeit (II, 16) zusprechen und ihm deshalb Haß entgegenbringen (II, 23), verhalten sich selbst pharisäisch. Am deutlichsten zeigt sich Faulhabers Strategie, die Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen, in der Gegenüberstellung von Glauben an die Inspiration des Alten Testaments und der Auffassung, das Alte Testament sei Ergebnis allein menschlichen Denkens und Schreibens. In seinen Predigten hatte Faulhaber nachgewiesen, daß das Alte Testament in religiöser, sittlicher und sozialer Hinsicht nicht hoch genug bewertet werden kann. Wer die Inspiration ablehnt, ist zu dem Schluß genötigt, Israel sei das Ubervolk, die genialste Rasse der Weltgeschichte (III, 22)42. Das "Ubervolk", "die genialste Rasse der Weltgeschichte" zu sein, beanspruchten die Nationalsozialisten für die arische Rasse. Da sie bei dieser Auffassung bleiben und die Genialität für die Juden selbstverständlich ablehnen mußten, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Inspiration der Heiligen Schrift zu akzeptieren. Faulhaber beantwortet die Alternative lakonisch mit dem Satz: "Wir glauben an die Inspiration." Mit dieser Äußerung stellt sich Faulhaber ganz auf den Boden der kirchlichen Position hinsichtlich der damals aktuellen Inspirationslehre. Gleichzeitig gelingt es ihm damit, das Alte Testament aus jeglicher antisemitischen Diskussion herauszunehmen, ja sogar dem Antisemitismus ein argumentatives Standbein zu entziehen. Insgesamt gesehen bleibt Faulhabers Haltung dem zeitgenössischen Judentum gegenüber ambivalent. Während für ihn einerseits das Christentum höherwertiger ist als das Judentum und er nicht eindeutig Partei für die jüdischen Mitbürger ergreift, mahnt er andrerseits, wenn auch allgemein, andere Völker und Rassen nicht abzulehnen. Auch die Tatsache, daß er

41 42

Art. "Pharisäer". In: LThK Bd. VIII, Sp. 440f. Vgl. auch Mt 23 parr. Damit spielt Faulhaber möglicherweise auch auf den ihm von Scholz vorgezogenen Schüler Johannes Hehn an, der 1912 in seiner Schrift "Die biblische und babylonische Gottesidee. Die israelitische Gottesauffassung im Lichte der altorientalischen Religionsgeschichte", die These vertrat, Mose sei "das größte Genie des semitischen Altertums" gewesen. Die Schrift wurde 1925 indiziert. Vgl.dazu H.W. S E I D E L , Erforschung (Anm. 8), S. 164 . JOSEF SCHMID:

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überhaupt über das Alte Testament predigt und seinen hohen Wert darstellt, ist so ungewöhnlich für die damalige Zeit, daß dieses Plädoyer schon fast einer Parteinahme für die Juden gleichkam. Wie auch aus dem Brief Faulhabers an Abt Schachleiter hervorgeht, sieht Faulhaber die Juden und Katholiken gemeinsam bedroht. Möglicherweise erklärt sich aus dieser Gemeinsamkeit heraus sein Vermeiden einer deutlicheren Sprache, um die Lage beider nicht zu verschlimmern 43 . 6. Bedeutung und Wirkung der Adventspredigten Zentrales theologisches Argument gegen den Ruf "Los vom Alten Testament" ist für Faulhaber die kirchliche Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift. Der Angriff auf das Alte Testament ist für ihn deshalb ein Angriff auf diese Lehre und damit auf die Kirche. Als Bischof, weniger als Fachwissenschaftler, antwortet er nach eigenem Bekunden auf diese "Irrlehre" 44 . Daß er sich auf seine Fachkompetenz beruft (I, 3), dient der Vorwegnahme möglicher Einwände, weist er sich doch dadurch als Kenner der Materie aus und bietet damit in diesem Punkt keine Angriffsfläche. Diese Fachkompetenz ist nicht unbedeutend und kommt dann ins Spiel, wenn er die herausragende Bedeutung des alttestamentlichen Ethos, der alttestamentlichen Gottesverehrung und des alttestamentlichen Gesetzes im Kontext der Umwelt des Alten Testaments und in ihrer Bedeutung für die christlich geprägte Kultur seiner Gegenwart herausstellt. Doch aus der Darstellung der Hochwertigkeit des Alten Testaments allein würden sich dies war ihm bewußt - seine Gegner nicht zwingen lassen, vom Ruf "Los vom Alten Testament" abzulassen. Der Rekurs auf die Inspiration, die den gleichen Gott als Urheber des Alten und des Neuen Testaments feststellt, ermöglicht es Faulhaber mit seiner geschickten Strategie, das Alte Testament als unverzichtbare Basis und Quelle christlichen Glaubens zu sichern und letztlich die Gegner in die "Zwickmühle" zu bringen: Entweder Glaube an das Alte Testament als Offenbarung des einen, auch von den Christen verehrten Gottes, oder Aufgabe des Christentums und Rückfall in die von den Gegnern allzu "verhaßte Vergangenheit" des Judentums 45 . Faulhaber zielt letztlich damit auf das weltanschauliche Problem, das hinter der Kampagne gegen das Alte Testament steht und nimmt diesen Kampf vor allem in seiner 43 44

Im Gegensatz dazu vgl. die Allerseelenpredigt 1923. Besonders eindrucksvoll in der ersten Predigt der wiederholte Ausruf: "dazu kann der Bischof nicht schweigen" (1,3). 45 Vgl. auch das Anathem des I. Vaticanums, das alle Leugner der Inspiration von der Kirche ausschließt.

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Silvesterpredigt auf. In rhetorisch eindrucksvoller Rede beschwört er seine Hörer, diese weltanschauliche Auseinandersetzung wahrzunehmen. Faulhaber zerrt sie ans Licht und stellt diesen Kampf in den Mittelpunkt. Im Jahr 1933, das gekennzeichnet war von Verhandlungen, aber auch Gegnerschaft zwischen Staat und Kirche, ein mutiges Wort, da gerade Schweigen, um Erfolge nicht zu gefährden, die zunächst eingeschlagene kirchliche Linie war. Daß die weltanschauliche Auseinandersetzung zunehmend an Bedeutung gewinnen würde, zeigte sich schon während des Advents an der innerkirchlich einsetzenden Diskussion um das Sterilisationsgesetz46. So sehr Faulhaber betonte, nur vom vorchristlichen Judentum zu sprechen, und dies später auch gegenüber dem jüdischen Weltkongreß so vertrat 47 , ist sein Schweigen zum gegenwärtigen Judentum doch ein sehr beredtes. Wenn er das Alte Testament gegen Angriffe sichert, sichert er auch für das Judentum die verbindliche Urkunde seines Glaubens und zwingt die Gegner in ihrer antisemitischen Haltung zur Differenzierung. "Der Jude" kann nun nicht mehr mit alttestamentlichen Zitaten verhöhnt und charakterisiert werden. Differenzierung aber ist kein Mittel der Propaganda. Faulhabers Predigten sind damit als "Störfeuer" gegen staatliche und parteiliche Agitation zu verstehen, und als solches sind sie auch verstanden worden 48 . Faulhaber mag überrascht gewesen sein über die Reaktionen auf seine Predigten. Aber daß ein katholischer Bischof und.Kardinal im Jahre 1933 sich in Predigten vor Tausenden von Hörern des Alten Testaments annahm, war damals eine Sensation, denn auch innerkirchlich war ja das Alte Testament nicht unbedingt hoch geschätzt und der Weg zur Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum durch das II. Vaticanum noch weit (vgl. "Nostra aetate"). Die Frage, ob Faulhaber deutlicher hätte reden müssen, ist schwierig zu beantworten. Die Antwort hängt aber davon ab, ob Faulhaber auch aufgrund seines persönlichen Werdegangs deutlicher hätte reden können. Seine wissenschaftliche Laufbahn zeigt, daß er sich nicht entschließen konnte, neue Wege der Forschung zu gehen, sondern vor allem dem kirchlichen Auftrag der Väterexegese treu blieb. Deshalb war es ihm auch nicht möglich, die alttestamentlichen Schriften nicht so sehr unter der Rücksicht ihrer eigenen Bedeutung und Geschichte zu betrachten, sondern er konnte sie immer nur 46 L. VOLK, Akten (Anm. 1), S. 825f.-828, Dokumente 386, 387, 388; S. 83 lf., Dokument 392; S. 833f., Dokument 394. 47 LUDWIG VOLK: Kardinal Faulhabers Stellung zur Weimarer Republik und zum NS-Staat. In: StZ 177, 1966, S. 184. 48 Das zeigt auch der Anschlag auf den Kardinal am 27./2S. Januar 1934, bei dem Schüsse auf das Erzbischöfliche Palais abgegeben wurden; der Kardinal blieb aber unverletzt (vgl. L. VOLK, Akten [Anm. 1], S. 848, Dokument 404).

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als "Vorläufer" auf Christus hin sehen. Damit hatte die Glaubensgeschichte Israels für Faulhaber auch keinen eigenen Wert unabhängig von Christus. Der Respekt vor dem Glauben des Volkes Israels war innerhalb der traditionellen katholischen Theologie verstellt durch die über Jahrhunderte bewahrte Sicht auf das Volk, das den Erlöser nicht erkannt hatte und deshalb seine Existenz als Gottesvolk zu rechtfertigen habe. Da Faulhaber die traditionellen Wege der alttestamentlichen Wissenschaft einschlug, war er nicht in der Lage, anders über das Judentum zu denken. Sein bewahrender und am Sicheren orientierter Charakter tat dazu sein übriges. Er war vor allem Bischof, zuständig für seine katholischen Gläubigen. Das Judentum sollte, und dies war von ihm nicht abfällig gemeint, für sich selbst sorgen49. Wenn man die Widerstände bei der Verabschiedung des Dekrets zu den nichtchristlichen Religionen beim II. Vaticanum betrachtet50, dann wird vielleicht verständlich, warum ein katholischer Bischof im Jahre 1933 seine Verantwortung für Menschen anderen Glaubens nicht in dem Maße wahrgenommen hat, wie es aus heutiger Sicht zu wünschen gewesen wäre. So wird man sagen müssen, daß Faulhaber im Jahr 1933 von seinem Selbstverständnis und von dem ihm zur Verfügung stehenden theologischen Gedankengut her wahrscheinlich nicht hätte mehr und deutlicher reden können. Die Kirche, für die er sich allein zuständig fühlte, war zu dieser Zeit eben noch nicht in dem Maße angegriffen wie in den folgenden Jahren. Daß Faulhaber und die katholischen Bischöfe insgesamt später hätten deutlichere Worte finden müssen, steht außer Zweifel. Enttäuschend bleibt, daß Faulha^ ber den aus den Predigten entstandenen Konflikt mit dem weltanschaulichen Gegner nicht durchgehalten hat. Im Gegenteil, er setzte alles daran, den aufgerissenen Graben zuzuwerfen, indem er das Honorar für die Veröffentlichung der Predigten dem NS-Winterhilfswerk zur Verfügung stellte und Ende Februar 1934 dem Münchner Gauleiter mit dem Hitler-Gruß begegnete51.

49 Vgl. EBD., S. 705, Dokument 300. 50 Vgl. JOHANNES OESTERREICHER: Kommentierende Einleitung [zur Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen]. In: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil II. Freiburg i. B. u. a. 1967, S. 406-478. Vgl.auch die Einführung zu eben diesem Dokument in: KARL RAHNER/HERBERT VORGRIMLER: Kleines Konzilskompendium. Freiburg i. B. 17. Aufl. 1984. 51 Vgl. HERBERT IMMENKÖTTER: Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus. Verurteilen - Vertrauen - Verweigerung: In: Der Nationalsozialismus. Machtergreifung und Machtsicherung: Bd. 1. Hg. von Johannes Hampel. München 1985, S. 241.

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Petra Ritter-Müller und Armin Wouters

Insgesamt stellen die Adventspredigten Faulhabers einen wichtigen Versuch dar, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aufzunehmen, in einer Zeit, in der diese Weltanschauung zur Macht gekommen war. Was schon 1930 erkannt wurde, wird hier fortgesetzt 52 . Leider bricht Faulhaber mit diesen Predigten seinen Versuch der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten und ihren Lehren ab. Andere katholische Bischöfe werden zu Leitfiguren im weltanschaulichen Kampf.

52 Vgl. das Referat Anton Scharnagls bei der Diözesansynode 1930 (L. VOLK, Akten [Anm. 1], S. 509-513, Dokument 213) und die pastorale Anweisung des bayerischen Episkopats (EBD., S. 541-543, Dokument 236).

Hinrich Stoevesandt EIN T A G IM FRÜHJAHR 1934 Im August 1993 hat mir mein 89jähriger Freund Hellmut Traub einen Vorfall erzählt, den er als junger Mann, damals kurz vor seinem - durch ein Verbot seitens der deutsch-christlichen Kirchenbehörde in Koblenz zunächst verhinderten - ersten theologischen Examen stehend, miterlebt hat. Am 9. September 1993 hat er den Kern dieser Geschichte zu Papier gebracht und mir übergeben mit dem Wunsche, ich möge dafür sorgen, daß sie der Nachwelt nicht so unbekannt bleibe, wie sie es bis jetzt allem Anschein nach geblieben ist. Ein Historiker, der das von dem staunenden Zeugen Traub zufällig miterlebte Ereignis genauer in seine geschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen vermöchte und mit den beiden handelnden Personen besser vertraut wäre, wäre gewiß ein berufenerer Ubermittler als ich, dem der Auftrag der Weitergabe nun einmal zugefallen ist. Daß aber mir dieser Auftrag zuteilwurde, versetzt mich in die Lage, dieses anvertraute Gut dem ungleich kompetenteren Carsten Nicolaisen an seinem Geburtstag in die Hände zu legen. Und das erscheint mir um so passender, als jener Vorfall in großer zeitlicher Nähe zu dem Tag stattgefunden hat, an dem Carsten Nicolaisen zur Welt kam. Die Phantasie eines noch so kompetenten Historikers freilich dürfte überfordert sein, wollte er abschätzen, wie die Geschichte weitergelaufen wäre, wenn das, was sich in jenem Moment anbahnte, zur Ausführung gekommen wäre. Es war, so erinnert sich Traub, um die Osterzeit des Jahres 1934. Er war in Berlin und begab sich dort in das Gebäube des "Deutschen Herrenclubs"1. Dieser Club, 1924 hervorgegangen aus dem 1919 gegründeten Juni-Club 2 , war ein Treffpunkt von Persönlichkeiten großenteils aus dem Adel, der Wirtschaft und der Wissenschaft, die verschiedensten politischen Lagern 1

Dieser hatte seinen früheren Sitz an der Motzstraße 22 (vgl. ARMIN MÖHLER: Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. 3. Aufl. Darmstadt 1989, S. 60) inzwischen vertauscht mit einem überaus noblen Domizil am Pariser Platz in nächster Nähe des Brandenburger Tores (Mitteilung von H . Traub).

2

Vgl. dazu KLEMENS VON KLEMPERER: Germany's New Conservatism. Its History and Dilemma in the Twentieth Century. Princeton 1957, S. 102ff.; WALTER BußMANN: Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik. In: H Z 190, 1960, S. 55-77, dort S. 64-77.

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Hinrich Stoevesandt

angehörten, zumeist aber dem Parteiensystem der Weimarer Republik im Geist der "konservativen Revolution" distanziert gegenüberstanden, ohne monarchistisch-restaurativ zu denken. Unter dem Präsidium des Grafen Bodo von Alvensleben-Neugattersleben wirkte als der geistige spiritus rector Arthur Moeller van den Bruck und als organisatorisches Talent der thüringischem Adel entstammende, Friedrich Schiller zu seinen Ahnen zählende Freiherr Heinrich von Gleichen-Russwurm (1883-1959)3. Das durch seine spätere politische Karriere am bekanntesten gewordene Mitglied des Herrenclubs war Franz von Papen 4 . Daß die Ideologie des aufkommenden Nationalsozialismus in den Reihen des Herrenclubs auf schroffe Ablehnung stoßen mußte, stellte sich bereits 1922 heraus, als eine Gastrede Hitlers im Juniclub als schiere Peinlichkeit wirkte und Moeller van den Bruck zu dem Ausruf veranlaßte, "wenn Hitler die Konzeption des Dritten Reiches für Machtzwecke mißbrauche, dann werde er, Moeller van den Bruck, Selbstmord begehen" 5 . Ein jüngerer Intellektueller, dem seit 1930 die Zweigorganisationen des Herrenclubs als Forum mancher Vorträge dienten, war der Münchner Rechtsanwalt Edgar Jung (1894-1934), der im Herbst 1932 während Papens Kanzlerschaft mit diesem in Verbindung trat 6 und seit dem Wahlkampf im März 1933 viele von dessen Reden verfaßte. Auch ihm stand mindestens Gleichen nicht ohne Kritik gegenüber7. Vor Jahren schon hatte der Herrenclub den aus Menschen jüngeren Lebensalters bestehenden "Jungkonservativen Club" in sich aufgenommen 8 . Diesem letzteren - und damit auch dem ersteren - gehörte etwa seit seinem 20. Lebensjahr Hellmut Traub an, durchaus in Opposition zu seinem deutsch-national gesinnten Vater Gottfried Traub. Im Kreise der Jungkonservativen führte man nicht nur politische Gespräche, sondern trieb z.B. auch gemeinsame Platon-Lektüre. Dank laufender Information durch füh3

4

Die Lebensdaten nach A. MÖHLER, Revolution (Anm. 1), S. 404; die Angaben über die Herkunft nach K. VON KLEMPERER, Conservatism (Anm. 2), S. 103. Ihm, Gleichen, ist ARTUR MOELLER VAN DEN BRUCKS Buch "Das dritte Reich" (Berlin 1923) gewidmet. In seiner Autobiographie "Der Wahrheit eine Gasse". München 1952, S. 138, zitiert FRANZ VON PAPEN eine Definition des namengebenden Elementes im Vereinstitel durch Alvensleben: "In unserem Lande ist der Begriff 'Herr' geknüpft an Name, Besitz oder Stellung. Tatsächlich hat er damit gar nichts zu tun. Der Begriff ist rein eine Frage der Persönlichkeit, und nur sie entscheidet darüber, ob der Arbeiter wie der Fürst ein Herr ist." - Als Ehrengast des Herrenclubs hielt Papen am 16. Dezember 1932 eine Rede im Rückblick auf seine kurz zuvor beendete Kanzlerschaft (vgl. EBD., S. 253f.).

5 6

W. BUßMANN, Ideologien (Anm. 2), S. 72. KARL MARTIN GRASS: Edgar Jung, Papenkreis und Röhmkrise 1933/34. Diss. Heidelberg 1966, S. 37f. u.ö.; F. VON PAPEN, Wahrheit (Anm. 4), S. 363f.

7

K . M . GRASS, J u n g ( A n m . 6), S. lOf.

8

Dies und das Folgende nach mündlicher Auskunft von H. Traub, 10. Januar 1994.

Ein Tag im Frühjahr 1934

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rende Mitglieder des Herrenclubs verfügte Traub, der zunächst Jurist gewesen war, auch zur Zeit seines Theologiestudiums - nach Anfangssemestern in Tübingen dann in Bonn, vornehmlich bei Karl Barth, mit dem er auch dasselbe Haus bewohnte - stets über sehr interne politische Kenntnisse. An einem Frühlingstage des Jahres 1934 also betrat er das Berliner Clubhaus, um den Freiherrn von Gleichen aufzusuchen, und traf bei diesem schon einen anderen Besucher an, in dem er, obwohl er Gleichen gegenüber mit dem Rücken zur Tür saß, sofort den Vizekanzler von Papen erkannte. Ihm war bekannt, daß Gleichen von Papens Charakter und politischer Fähigkeit keine hohe Meinung hatte. Doch weder Gleichen noch Papen nahmen Anstoß an Traubs Anwesenheit, und so wurde er unfreiwilliger und diskreter Zeuge einer überaus brisanten Szene. Hier sein Bericht (stilistisch von mir leicht geglättet): "Damals hielt er [Gleichen] es für die allerhöchste Zeit, daß Papen gegen Hitler und den Nationalsozialismus öffentlich auftrete. Die Gelegenheit schien noch einmal günstig. Ein immerhin großer Teil der Bevölkerung war durch den seit Anfang des Jahres stark sichtbar werdenden Widerstand der zerbrochenen evangelischen Kirche grundsätzlich betroffen und begann dem Staat kritisch gegenüberzustehen. Zu den kritisch Eingestellten gehörten auch die, die über die Ernennung Rosenbergs zum weltanschaulichen Führer des Nationalsozialismus [24. Januar] und über die fortschreitende 'Gleichschaltung', besonders die Übertragung der Hoheitsrechte der Länder auf das Reich [30. Januar] tief erschrocken waren. Als Zeichen wichtig genommen wurde die Ernennung Himmlers zum Chef der Gestapo [20. April], denn sie zeigte an, was 'im Volk' vor sich ging: die Erwartung der versprochenen 'Deutschen Revolution', unter der das neue Reich ausgerufen worden war. Man erwartete Revolutionäres von der SA. Schlief sie? Papen muß heraus, heraus mit der Sprache: Das haben wir nicht gewollt. Hitler muß von der Bühne. - Das Gespräch endete - unvergeßlich! - damit, daß Gleichen eine bereitgelegte Pistole herausholte und sie Papen mit den Worten reichte: 'Sie sind der einzige, der noch unkontrolliert zu ihm gehen kann. Hier! Nehmen Sie, geladen, entsichert! Drei Schuß - einen für ihn, dann zwei für Sie!' Nur ein kurzer Augenblick Zögern. Dann nahm Papen die Pistole, steckte sie ein und sagte deutlich: 'Ja'. Er stand auf, um zu gehen. Gleichen stürzte hinter ihm her und rief: 'Aber auch tun! tun!' Papen, leicht sich zurückwendend, sagte klar 'Ja' - und ging." Traub fügt diesem Bericht hinzu: "Ich habe meinen Ohren nicht getraut, hielt es später manchmal für eine Phantasie von mir. 1947 begegne ich Gleichen in Volksdorf [bei Hamburg], Dabei spreche ich ihn auf diese Geschichte an. Er hat sie mir genau so - die Stellen in Anführungszeichen wörtlich - wiederholt."

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Hinrich Stoevesandt A n s c h e i n e n d haben die drei Menschen, die v o n dieser folgenlos - z u m i n -

dest o h n e die v o n G l e i c h e n geforderte u n d v o n Papen bejahte Folge - geblieb e n e n Episode w u ß t e n , völliges Stillschweigen b e w a h r t . M i r steht es nicht zu, eine V e r m u t u n g d a r ü b e r anzustellen, w a r u m Papen sie in seinen z w a r apologetischen, aber detailreichen u n d z i e m l i c h o f f e n h e r z i g w i r k e n d e n , auch S e l b s t k r i t i k nicht m e i d e n d e n M e m o i r e n nicht e r w ä h n t 9 . Angesichts dessen, w a s P a p e n in den f o l g e n d e n drei M o n a t e n bis Ende J u n i 1 9 3 4 1 0 i m m e r h i n riskierte, hätte i h n ein Eingeständnis des v o n i h m ü b e r n o m m e n e n u n d dann nicht ausgeführten A u f t r a g s Gleichens in den A u g e n w o h l w o l l e n d e r Leser, an die das Buch d u r c h g e h e n d gerichtet ist, nicht unbedingt diskreditieren müssen. W i e Papens V e r h a l t e n w ä h r e n d der Szene i m Haus des Herrenclubs auch z u deuten sein mag: o b sein J a u n a u f r i c h t i g w a r , das einfachste M i t t e l , sich der u n a n g e n e h m e n Situation z u entziehen, oder o b er m o m e n t a n w i r k l i c h entschlossen w a r , G l e i c h e n s A u f t r a g a u s z u f ü h r e n u n d m i t der Beseitigung H i t l e r s sein eigenes L e b e n dranzugeben, später aber zu einem anderen Entschluß k a m 1 1 - w a s Papen in der Folgezeit tatsächlich u n t e r n a h m , zielte fak9

K. M. GRASS, Jung (Anm. 6, passim) benutzt sie häufig als eine durchaus seriöse Geschichtsquelle. In dem Quellenwerk URSACHEN UND FOLGEN. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hg. u. bearb. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler unter Mitwirkung von G. Scheel. Bd. 10. Berlin o.J., S. 189-191, ist ein Passus aus PAPENS Memoiren abgedruckt. 10 Die genaue Datierung des von Traub berichteten Auftritts ist leider nicht möglich. Traubs Angabe "um Ostern 1934" ist sicher cum grano salis zu nehmen. Denn ebenfalls "um Ostern 1934" hielt sich PAPEN laut seines Eigenberichts (Wahrheit [Anm. 4], S. 372) drei Wochen lang ferienweise in Süditalien auf und verbrachte anschließend noch einige Tage in Rom bei dem deutschen Botschafter Ulrich von Hasseil, kam dort zu einer unverhofften Begegnung mit Mussolini und arrangierte Hitlers Treffen mit diesem, das Mitte Juni in Venedig stattfand. - Ostern fiel 1934 auf den 1./2. April. 11 Ein indirektes Licht auf diese Frage werfen zwei Äußerungen PAPENS in seinen Memoiren zu den Ereignissen aus späteren Phasen seines Lebens. Im April 1943 wurde er erstmals in die Pläne der Wierstandsbewegung eingeweiht, die dann zu dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 führten. Er ließ sich für diplomatische Aktionen in Zusammenarbeit mit den Verschwörern gewinnen, bemerkt jedoch zu deren Plänen: "Ich war und bin kein Anhänger der Theorie von der Erlaubtheit des politischen Mordes. Mord bleibt Mord, und hier war es offenbar, daß eine Gefangennahme und Aburteilung Hitlers einer späteren 'Dolchstoßlegende' sehr viel weniger Raum lassen würde als seine Beseitigung durch ein Attentat" (Wahrheit [Anm. 4], S. 567). Und nach dem Kriege begegnete ihm das Problem im Rückblick noch einmal. Im Nürnberger Prozeß freigesprochen, war er unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis von der bayerischen Polizei erneut verhaftet und von einem deutschen Gericht zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Bei der Revision dieses Prozesses im Januar 1949 hieß es im Urteil: "Das Recht, den Sturz des Verbrecherregimes zu betreiben, steigere sich bei Beamten, die an entscheidender Stelle stehen, zur Pflicht." Und

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tisch in die Richtung, in die Gleichen ihn hatte drängen wollen: wenn auch nicht auf Hitlers physische Liquidation, so doch auf seinen Ausschluß von der Macht oder mindestens auf deren Domestizierung, diesmal mit tauglicheren Mitteln als den bei der Kabinettsbildung vom 30. Januar 1933 angewandten. Ersteres war der Plan Edgar Jungs, den er mit der von ihm verfaßten, höchstes Aufsehen erregenden Marburger Rede Papens vom 17. Juni 1934 verfolgte 12 , letzteres zehn Tage später, als Jung (seit dem 25. Juni) bereits verhaftet und die Situation krisenhaft geworden war, der etwas vorsichtigere der Papen-Mitarbeiter Fritz-Günther von Tschirschky und Bögendorff und Herbert von Bose 13 . War Papen in die Einzelheiten auch dieses zweiten, in seiner Vizekanzlei erdachten Planes vermutlich nicht eingeweiht14, so spielte er doch in dessen durch seine Marburger Rede eingeleiteter Ausführung die Hauptrolle. Mag Papen selbst an der Abfassung dieser vor einem zahlreichen intellektuellen Publikum gehaltenen und mit gewaltigem Beifall aufgenommenen Rede ganz unbeteiligt gewesen sein - ihr von Jung verfaßter, seit Monaten vorbereiteter und in verschiedenen Fassungen im Freundeskreis diskutierter Text soll Papen erst bei seiner Abreise nach Marburg ausgehändigt, Papen an korrigierenden Eingriffen sogar durch Tschirschky verhindert worden sein 15 -, auf jeden Fall verstand auch Papen diese Rede 16 als eine nahezu gar

dann: "Nach alledem macht das Weiterdienen oder die Übernahme eines neuen Amtes einen Beamten noch nicht zum Mitschuldigen eines Regimes. Andererseits genügt bei den Inhabern höherer Amter eine noch so verdienstvolle Widerstandsleistung nicht zur Rechtfertigung der Amtstätigkeit, wenn jene nicht zugleich rückhaltlos auf den Sturz des Regimes gerichtet war. So liegen die Dinge bei von Papen." Diese Urteil kommentiert PAPEN sarkastisch: "Der von dem Urteilsspruch geforderte 'rückhaltlose Wille zum Sturz des Regimes' wäre nur erweisbar - die Beweispflicht obliegt in diesem Gesetze dem Angeklagten -, wenn ich die Absicht ausgeführt hätte, Hitler mit eigener Hand zu beseitigen. Über die Zulässigkeit des Tyrannenmordes gibt es eine umfangreiche Literatur. Die Kirche lehrt uns, daß wir verpflichtet seien zum Gehorsam gegen jede Obrigkeit. Nur mit legalen Mitteln dürfen wir sie bekämpfen, und nur, wenn etwas von uns verlangt wird, was den Geboten der Kirche widerspricht, verlangt sie ein entschlossenes 'Nein'. Das Problem liegt demnach so, daß man mich mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte bestrafte, weil ich keinen Tyrannenmord beging" (EBD., S. 659ff.; Zitat S. 663f.). 12 K. M. GRASS, Jung (Anm. 6), S. 235. Jung dachte an eine neue Regierung mit Rückendekkung durch Hindenburg und unter dem Schutz der Reichswehr; Papen sollte in diesem Kabinett erneut Reichskanzler, Jung selbst Innenminister werden. 13 EBD., S. 264f. Sie wünschten an der Regierungsspitze ein von Hindenburg einzusetzendes Direktorium, das aus Fritsch, Papen, Hitler, Göring, Brüning und Goerdeler bestehen sollte. 14 Vgl. EBD., S. 266. 15 EBD., S. 227; anders, freilich in diesem konkreten Fall etwas undeutlich, PAPENS eigene Darstellung (Wahrheit [Anm. 4], S. 363f.).

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nicht mehr camouflierte Generalabrechnung mit Hitler und dem Nationalsozialismus, und sie wurde auch von den Zuhörern sowie in der Öffentlichkeit, in der sie trotz massiver Unterdrückungsmaßnahmen von Goebbels in kürzester Frist weithin bekannt wurde, so verstanden und in diesem Sinne von vielen begrüßt. Der Umsturzplan zählte auf den - freilich imaginären - Realitätsgehalt der Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden Putsch der SA unter Ernst Röhm. Diese Gerüchte, später als irrig aufgedeckt, scheinen in der undurchsichtigen Lage jener Wochen schier überall, auch in der Parteispitze selbst, Glauben gefunden zu haben. Das erwartete Losschlagen Röhms hätte der Umgebung Papens und ihm selbst die Gelegenheit zum Gegenschlag und zumindest einer Teilentmachtung Hitlers geben sollen. Daß man mehr als eine solche in Papens nächster Umgebung nicht (mehr) erstrebte, war nicht zuletzt in der Befürchtung begründet, "bei einer Absetzung Hitlers und einem Vorgehen gegen die ganze Partei auf einen Schlag, Hitler zum Märtyrer zu machen, NSDAP und SA zum gemeinsamen Widerstand zu provozieren und die Sympathien der Bevölkerung für einen konservativen Regierungskurs zu verlieren" 17 . Es gehört keine Phantasie zu der Annahme, daß dieser befürchtete Effekt bei einer Ermordung Hitlers durch Papen ebenfalls, ja erst recht eingetreten wäre. So lassen sich dafür, daß Papen den Auftrag Gleichens nicht ausführte, unschwer jedenfalls auch Gründe politischer Klugheit finden, ob Papen nun von solchen Gründen geleitet wurde oder nicht. Daß alles fehlschlug und Hitler aus der ihm drohenden Gefahr aufs höchste gestärkt hervorging und ihn nichts mehr hindern konnte, sich unmittelbar nach Hindenburgs Tod (am 2. August 1934) auch das Reichspräsidentenamt anzueignen, ist eine Folge des brutalen, in solcher Mißachtung von Gesetz und Recht von niemandem erwarteten Präventivschlags, mit dem sich Hitler am 30. Juni der ihm unbequemen und potentiell bedrohlichen SA-Führung und der Vizekanzlei zugleich entledigte. Edgar Jung und Herbert von Bose wurden an diesem Tage wie so viele andere ermordet, die Vizekanzlei geschlossen, Papen selbst aus Opportunitätsgründen relativ glimpflich behandelt. Daß er bei allen Aktionen, die seitens der Vizekanzlei in den vorangehenden Wochen unternommen wurden, nicht die treibende Kraft war, daß von seinem naiven Glauben an eine Beeinflußbarkeit Hitlers selbst nach dem 30. Juni noch ein Rest erhalten blieb, daß er gar Anfang August den ihm von Hitler aufgedrängten Posten des deutschen Gesandten in Wien annahm, daß er endlich, nachdem am 14. März 1938 16 Zu ihrem Inhalt K. M. GRASS, Jung (Anm. 6), S. 227-234; F. VON PAPEN, Wahrheit (Anm. 4), S. 3 4 6 - 3 4 8 .

17 K M. GRASS, Jung (Anm. 6), S. 264.

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beim deutschen Einmarsch nach Österreich auch noch ein weiterer Mitarbeiter und persönlicher Freund von ihm, Wilhelm Freiherr von Ketteier, in Wien durch die Gestapo ermordet worden war, noch einmal einen diplomatischen Auftrag annahm und als Botschafter nach Ankara ging - das alles nimmt nicht weg, daß Papen damals mit großem persönlichem Mut Schritte in der Richtung tat, in die Heinrich von Gleichen ihn zu ungleich radikalerem Handeln gedrängt hatte. Was seine Marburger Rede betrifft, so macht sich Klaus Scholder das Urteil von Karl Martin Graß uneingeschränkt zu eigen: "Papens Marburger Rede war die schärfste öffentliche Kritik, die der Nationalsozialismus je in Deutschland in solchem Umfange und solcher Wirkungsbreite von einem führenden Manne erfahren hat. Selbst wenn Papen die gesamte politische Konzeption hinter dieser Rede nicht übersah, so muß der Mut hervorgehoben werden, mit dem er diese rhetorisch und politisch explosive Rede vortrug." 18 Edgar Jung, der Verfasser dieser Rede, soll sich seinerseits "ganz privat" mit dem "Gedanken an ein Attentat auf Hitler in jenen Wochen" getragen haben, wovon einige seiner Freunde Kenntnis hatten 19 . Man wird schwerlich annehmen dürfen, daß Papen zu den Eingeweihten gehörte, so wenig wie dieser seinerseits Jung gegenüber etwas von Gleichens Auftrag wird haben durchblicken lassen. Jungs nähere und konkretere Absicht, die er mit Papens Marburger Rede verfolgte, ging auf eine Beseitigung Hitlers ohne Blutvergießen20. Jungs Einfluß auf Papen war offensichtlich stärker als derjenige Gleichens, wie auch Papens Verhältnis zu Jung enger war als das zu Gleichen 21 . Und da Jung an Papens Marburger Rede längst feilte, als es zu jener Begegnung zwischen Gleichen und Papen kam, wäre es wohl allzu kühn, damit zu rechnen, daß Gleichens stürmischer Auftritt auch nur wesentlich dazu beigetragen habe, Papen den Mut zu seinem gewagten Schritt in die Öffentlichkeit zu stärken. Aber schließlich: Wer kann das wissen? Wäre es doch so gewesen, dann wäre die von Traub miterlebte Szene doch nicht gänzlich folgenlos geblieben. Die Marburger Rede und also Jungs Initiative blieb keineswegs folgenlos, auch wenn die tatsächlich eingetretenen Folgen das Gegenteil der beabsich18

EBD., S. 234. Den ersten dieser beiden Sätze zitiert KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. II. Berlin 1985, S. 415, Anm. 10. Sachlich übereinstimmend SCHOLDERS eigenes Urteil EBD., S. 241.

19 20

K. M. GRASS, Jung (Anm. 6), S. 234f., und dazu die Anm. 600, EBD., Teil II, S. 63f. Bereits aus dem Frühjahr 1933 ist ein Ausspruch Jungs überliefert: "Wir sind mit dafür verantwortlich, daß 'dieser Kerl' an die Macht gekommen ist; wir müssen ihn wieder beseitigen" (zitiert EBD., S. 47).

21

Zu Gleichens kritischer Einstellung gegenüber Papen vgl. oben in Traubs Bericht. In PAPENS Memoiren wird Gleichens Name nirgends erwähnt.

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Hinrich Stoevesandt

tigten waren. Es scheint mir - aber darüber mögen Berufenere urteilen - nicht ganz unberechtigt, auf das Verhalten der Männer um Papen und womöglich Papens selbst die Sätze zu beziehen, mit denen Walter Bußmann seinen Aufsatz schließt: "Wenn man bedenkt, daß der Begriff der Tragik untrennbar mit dem der Schuld verbunden ist, so dürfen die Repräsentanten der 'konservativen Revolution' 'tragische', d.h. gleichzeitig zum Scheitern verurteilte Existenzen genannt werden. Bekenntnisse dieser Schuld22 sind vorhanden und bestätigen in solchen Fällen nur die Erfahrung, daß sich moralische Respektabilität und politisches Versagen nicht ausschließen."23

22 In PAPENS Memoiren klingen solche nur recht verhalten an. Aber sie fehlen nicht ganz. 23 W. BußMANN, Ideologien (Anm. 2), S. 77.

Eberhard Bethge LEBEN AUS DEM WIDERSPRUCH! "Leben aus dem Widerspruch"? Aus welchem eigentlich? Ist jede Verweigerung einfach gut und richtig? Sprengt jede Rebellion Verkrustungen von Kirche, Staat und Gesellschaft und schafft Atemluft? Ich könnte erzählen von endlich gewagten Schritten, die mit der neuen Situation ungekannte Erneuerung schufen; privat, sozial, beruflich, spirituell, kirchlich - und neue Sichten freigaben. Bonhoeffer sagte am Beginn seiner "Nachfolge", daß "eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen wird"2. Umgekehrt sagt das aber auch: ohne Existenzänderung - jetzt sagen wir: ohne "Leben aus dem Widerspruch" herrscht Blindheit - oder: Ohne Leben aus dem Widerspruch bleibt man zur Dummheit verurteilt! Allerdings - einfach mit einem Ideal halsstarrigen Widersprechens ist es auch nicht getan. An mir und an Freunden habe ich in turbulenten Jahrzehnten wahrgenommen, daß es so etwas wie ein pathologisches Bedürfnis nach der Minderheit gibt. Als ob man sich erst wohlfühlte, wenn man wieder Anschluß an die Opposition gefunden hat - die linke, versteht sich. Unsere erste Frage bleibt also stehen: welcher Widerspruch, wann und wo und wem? Damit ist aber zu fragen nach seinen Umständen, seinem Zeitpunkt, seinen Bedingungen, Trägern und Adressaten. Demnach fällt nämlich seine jeweilige Gestalt aus, seine Gewißheit; sein plurales "Leben", sein vieldeutiges ja sogar widersprüchliches Bild; evtl. schockierend widersprüchliches, damit Erneuerungen von "Leben" noch erwartet werden können! Ein paar persönliche Rückblicke Für mich und meine Freunde fiel biographisch die Zeit zu eigenen Entscheidungen, besser: zu selbständigen Standortfindungen zusammen mit dem fatalen Jahr 1933. Wir waren keine fixen Berliner, sondern country-boys aus der Provinz Sachsen ohne Weltpresse und Radio. Uns beherrschte 1933

1

Vorgetragen auf dem Kirchentag in München am 12. Juni 1993.

2

DIETRICH BONHOEFFER: Nachfolge. Hg. von Martin Kuske und Ilse Tödt (DBW. 4). München 1989, S. 38.

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Eberhard Bethge

zunächst ein merkwürdiges Bild, dessen Widersprüche wir erstmal gar nicht bemerkten. Politisch zeigten wir uns im Frühsommer bereit, uns dem Schwung des nazistischen Neubeginns hinzugeben; die allgemeine enthusiastische Uniformierung der Universitäten mitzumachen; bei den Aufmärschen gegen "Versailles" mitzuspielen. Demokratische Tradition gab es in unseren Häusern nicht. Unsere zuständige theologische Fakultät in Halle-Wittenberg war damals "Erlangisch-Lutherisch"; kein Barthianer zimmerte an einer Barriere gegen die Herrschaft der deutschen, diktatorischen "Gemeinwohl"-Ideologie. Vaterlandsverrat hielten wir für etwas sehr Böses - und wir wähnten zu wissen, wer verriet und wer nicht! Kirchlich aber sahen wir uns in den Hallenser Konvikten merkwürdigerweise sofort ganz bei der Minderheit, die sich anschickte, "aus dem Widerspruch zu leben". Vielleicht unterlagen wir doch schon einer Fernwirkung des damals Bonner Professors Karl Barth. Unser Widersprechen entzündete sich an der stürmisch einsetzenden Nazifizierung von Glauben, Theologie, Gestalt und Handeln der Kirche. Es kam in den Konvikten schnell zu lärmenden, ja handgreiflichen Auseinandersetzungen. Und das, auch wenn bei genauerem Hinsehen von heute aus jeder von uns ein mehr oder weniger milder Antisemit gewesen ist. Trotzdem starteten wir alsbald mit Ungehorsamsschritten gegen kirchliche Obrigkeiten. Der Beginn dieses "Lebens aus dem Widerspruch" zeichnete dabei eine ziemliche Selbstgewißheit aus. Nein, eine Übernahme der sogenannten Arierparagraphen-Verordnung aus dem zivilen Bereich in den kirchlichen das durfte nicht sein. Das Blut nun als konstitutive Grundlage für die Zugehörigkeit zur Gemeinde anstelle der Taufe, dem widerstanden wir ohne Zögern. (Andere Unmöglichkeiten erkannten wir allerdings auch überhaupt noch nicht, wie etwa das bereitwillige Urkundenerstellen aus den Kirchenbüchern durch die Pfarrämter zum Zwecke des Nachweises der arischen Abstammung staatlicher Beamter). So geschah es, daß anderthalb Jahre nach der "Machtergreifung" Hitlers und ein gutes Jahr nach dem großen Wahlsieg der nazistischen "Deutschen Christen" wir den Schritt in die Illegalität der "Dahlemiten" taten (Okt. 1934 beschloß die Dahlemer Bekenntnissynode aufzufordern, den nazistischen Kirchenbehörden nicht mehr zu gehorchen, obwohl sie über die Schlüssel und Kassen verfügten!). Praktisch hieß das: Hinauswurf aus den dotierten alten Ausbildungsstätten; Streichung von den Gehaltslisten der Volkskirche; Erschwerung von Eheschließung. Unter solchen Begleiterscheinungen trieben wir nun allerdings verändert Theologie, lasen mit neuen Augen die Quellen, Bibel und Bekenntnisschriften (siehe Schilderun-

Leben aus dem Widerspruch

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gen aus "Finkenwalde"); und wir fanden uns ungewohnt bereit zu Selbstverpflichtungen und zu Gemeinschaftsbindungen. Das alles bedeutete noch kein Wissen von dem, was wir endlich heute ahnen: nämlich daß unser Credo antijüdische Elemente weiterträgt, daß wir eine Theologie der Stärke (wir sind es jetzt und nicht mehr Ihr, die Juden; theology of contempt, USA !) auch in der Bekennenden Kirche betrieben. Kein Wissen, daß mit der sog. "Kristallnacht", dem 9. November 1938 und unserem Schweigen dazu unsere bisherige Gestalt von "Leben aus dem Widerspruch" sich als blind, taub und stumm erwies, so daß Juden heute mit Recht uns dem Nazismus eher nahe als fern stehend sehen und empfinden. Dennoch bleibt es dabei: es hat im sogenannten Kirchenkampf eine aufweisbare und bleibende Phase gegeben, in welcher ein "Leben aus dem Widerspruch" (einem wohlbegründeten Widerspruch) das Sprüchemachen hinter sich gelassen hat. Wenigstens für eine Weile! Beruf, Kanzel und Gehalt aufs Spiel gesetzt; Gefängnismauern von innen kennen gelernt! Aber dann holte uns eine Grunderfahrung ein, die wir freilich erst viel später zu begreifen anfingen. Nämlich die Erfahrung, daß ein "Leben aus dem Widerspruch" in jener Form der kirchlichen Illegalität zerbröckeln mußte, wenn jene Aufteilung von 1933 bestehen blieb zwischen einem politischen Ja zum Nationalsozialismus und dem kirchlichen Nein. Die Verbrechen unserer Geschichte eskalierten. Was nun die Wilhelmstraße, das Braune Haus und die Prinz-Albrecht-Straße in Gang setzten, verurteilte die bisherige Gestalt unseres "Lebens aus dem Widerspruch" zur Bedeutungslosigkeit. Ganz andere Worte, Taten und vor allem Risiken und auch Bundesgenossen wurden notwendig. Die eindeutige Widersprechensformel von Barmen 1934 transportierte fast nichts mehr an Widerspruch und, nur noch repetiert, wurde sie ungewollt zum faktischen Stabilisierer des Verbrechens - und Barmen wird es nie mehr ohne Stuttgart (Schuldbekenntnis vom Oktober 1945) geben können! Seine Eindeutigkeit konnte nur noch beansprucht bleiben, wenn Risiken kostspieliger Zweideutigkeiten eingegangen waren, ungekannte Zweideutigkeiten. Bonhoeffer wußte genau, was ihm sein Schritt von 1940 in die Konspiration beschert hatte und wie das konkret aussah, als er zu Weihnachten 1942 schrieb: "Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen. Wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig

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Eberhard Bethge

bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden - sind wir noch brauchbar?"3 Mein Lebenslauf hat mich seit 1935 in die Nähe dieses Mannes geführt, der - besonders seit dem 9. November 1938 - um sein Durchhalten eines "Leben aus dem Widerspruch" gerungen hat, eines verantwortbaren und darum noch lebenswerten Lebens. Das geschah in Experimenten von Vorwärts- und Rückwärts-Schritten, die nur ganz wenige Zeitgenossen und Freunde gleich durchschauen oder wissen konnten bzw. wissen durften. Durchaus Nebenwege, Umwege, Abwege, die 1940 endeten, mitten in der Konspiration zur Beseitigung Hitlers, aus der es keine Umkehr gab. Eines Tages befand man sich im Zwielicht des Doppelspieles, so daß ein paar Tage lang selbst Karl Barth in der Schweiz überlegte, als ihn Bonhoeffer 1942 in Basel besuchen wollte: wie konnte nun wohl dieser deutsche Pfarrer mit Paß und Devisen in die Schweiz reisen; konnte er denn nun wirklich noch der sein, der 1933 ein "Leben aus dem Widerspruch" führte; gehörte er nun auch zu den Stabilisierern des verbrecherischen Systems? - und auch wenn es sich um konspirative Aktionen handelte, mußte er nicht auch dann nun schweigen und die Entwicklung z.B. der Deportation aus dem Reich viel zu lange laufen und laufen lassen? Auschwitztransporte viel zu lange sich entwickeln lassen? In der Tat, die veränderte Gestalt dieses "Lebens im Widerspruch" nahm rätselvolle, ja fragwürdige Formen an. Bonhoeffer war das klar bewußt 4 . Wir haben eben Franz Müller zugehört und bewegt an die "Weiße Rose" gedacht; der strahlendsten, bis heute eindeutigsten und ermutigendsten Erscheinung eines "Lebens im Widerspruch" in diesem deutschen Jahrhundert; unbezweifelbares Beweisstück, daß und wie bis heute Todesbereitschaft Leben schafft. Die einzigen Namen aus deutschem Widerstand jetzt im Washington Holocaust-Memorial! Und im Zuhören bezeugen wir bewegt, daß hier Opfergang Leben aus dem Tode schafft. Freilich ich gestehe, daß mir dabei noch etwas anderes einfällt: nämlich die qualvolle Situation der Berliner Konspiratoren in jenen Wintermonaten 1942/43. Genau als Freisler in München die Schölls vernichtete, steckten jene Berliner mitten in einer sehr sorgfältig vorbereiteten, umfassenden Putschphase, endend im März mit zwei mißlingenden Attentaten auf Hitler: am 13. März die Bombe im Flugzeug Hitlers von Smolensk (Tresckow, Dohnanyi, Schlabrendorff) und am 21. März die Granate im Berliner Zeug3

DIETRICH BONHOEFFER: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. von Eberhard Bethge. Neuausgabe München 1970, S. 27.

4

Vgl. sein Gedicht "Jona" (EBD., S. 234).

Leben aus dem Widerspruch

265

haus (Major von Gersdorff). Nicht nur, daß für den Münchener Galgen dies alles viel zu lange gedauert hatte und zu spät war. Unter einem anderen Gesichtspunkt kommt mir die gewagte Parallele zum Problempaar Manfred Stolpe - Bärbel Bohley in den Sinn. Beispiele, welche zeigen, daß "Leben aus dem Widerspruch" zu Zeiten mit beinahe sich ausschließenden Gegensätzlichkeiten seines jeweiligen Verwirklichens rechnen muß. Hier nun, wenn man gegenüber normalen Zeiten und Umständen außergewöhnliche, ja ganz und gar außergewöhnliche Gestalten des "Widersprechens" wagen muß. München erregte die Berliner Freunde tatsächlich aufs tiefste: jetzt diese Störung kompliziertester Planungen und Vorbereitungen kurz vor ihrem Ziel durch unkoordinierte Studenten! Welches Dilemma, tatenlos und schweigend dem Untergang solcher zusehen zu müssen, die einem offensichtlich am nächsten standen. Ja noch mehr. Falck Harnack erzählte später, daß und wie er in diesen Monaten versuchte, den Schollkreis mit den Bonhoeffers zusammenzubringen. Dazu ist es nicht gekommen. Ja, es durfte dazu nicht kommen, unter keinen Umständen! Die innere Logik derartig unterschiedlicher Gestalten von "Leben aus dem Widerspruch" im Winter 1942/43 in Nazideutschland im Krieg erlaubte das nicht. Im Gegenteil, Kontakte, Hilfsüberlegungen waren sogar sorgfältig zu meiden bzw. abzuleugnen. Im Namen des kommenden Umsturzes hatte man sich jetzt gar pronazistisch zu geben. Nichts schlimmer, als wenn jetzt Aufdeckungen von Beziehungen zu München und zu den Schölls passierten. Tatsächlich - schrecklich, es auszusprechen - bedeutete der Vollzug der Todesurteile in München am 22. Februar 1943 eine Erleichterung: keine Verbindung war nachgewiesen. So nahm die Störung der Veränderungs-Umsturz-Pläne etwas ab. N u n spekuliere ich theoretisch: Im Fall des Uberlebens könnten heute Glieder der Schollkreise mit Recht Vorwürfe aussprechen, die Berliner Widerständler hätten weder protestiert noch interveniert; sie hätten im Gegenteil jeden Kontakt sorgfältig vermieden; ja, nichts damit zu tun haben wollen. Und so hat es sich in der Tat verhalten. Und Bonhoeffer hat gewußt, wovon er sprach, wenn er von seiner Gruppe sagte: "Zeugen böser Taten ... Künste der Verstellung ... Wahrheit und das freie Wort schuldig geblieben ... unerträgliche Konflikte" 5 . Ich glaube, Manfred Stolpe und Ulrich de Maziere haben in unseren Tagen diese Bonhoeffer-Sätze mit Recht zitiert - bei allen Einwänden gegen 5

Vgl. Anm. 2.

266

Eberhard Bethge

die Fragwürdigkeit der Parallelisierung von Fakten der vierziger und der achtziger Jahre. Im Fall Bonhoeffers und seiner Freunde folgten dem März 1943 noch anderthalb Jahre weiterer Ausschwitz-Morde. Auch die besten Widerständler konnten dem Makel des Komplizentums mit den Verbrechern nicht mehr entfliehen. Niemand konnte mehr etwas von ihrem "Leben aus dem Widerstand" sehen - und das Schuldkonto stieg objekitiv ohne Aufenthalt. Deshalb steht in Bonhoeffers Brief vom Tag nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli 1944, nun angesichts des eigenen Todes, jener lange unbeachtete Satz von seinem nun dennoch "dankbaren und friedlichen Denken auch an Gegenwärtiges!"6 Das heißt: Denken an den gestrigen Tag mit seiner Vernichtung aller persönlichen und politischen Hoffnung als dennoch unersetzliche "Station auf dem Wege zur Freiheit." 7 Ja, mißlungen, vorbei! Aber nun endlich vor aller Welt befreit von der erdrückenden Komplizenschaft mit den gotteslästerlichen und menschenverachtenden Mordgesellen der eigenen Nation. Und nun noch eine Antwort auf die Anfangsfrage, ja welcher Widerspruch denn, aus welchem Leben und Erneuerung kommen? Sie zielt in die Richtung von Verantwortung. Doppelt: die Verantwortung für Vergangenes, dem niemand entrinnt, und der Verantwortung für das Kommende. Bonhoeffer schrieb 1942: "Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare - wenn auch vorübergehend sehr demütigende - Lösungen entstehen."8 Solche Verantwortung prüft nüchtern Bedingungen, Zeitpunkt, Träger und Adressaten von Widerspruch für die Freiheit. Sie erwartet heute nicht alles von Computeranalysen, aber vieles vom Glauben und von der Gemeinschaft der Glaubenden, aber sucht zugleich das Urteil von (jeweils) Sachverständigen. Sie scheut sich nicht vor Schuldübernahme und stellt sich dem Wagnis, ohne das es kein "Leben aus dem Widerspruch" gibt. Sie verschätzt sich nicht in der Selbstbeurteilung, sondern öffnet sich der kritischen Funktion des Glaubens. Deshalb kann sie auch beides durchhalten, Niederlage und Erfolg. In jener Rechenschaftsablage von Weihnachten 1942 steht bei Bonhoeffer: "Allein (der hält stand), dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein

7

6

D. BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung (Anm. 2), S. 402. Vgl. EBD., S. 403.

8

EBD., S. 16.

Leben aus dem Widerspruch

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Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?"9

9

EBD., S. 14.

Gertraud Grünzinger "FÜRBITTE HILFT IM KAMPF. F Ü R B I T T E TRÖSTET IN DER EINSAMKEIT. F Ü R B I T T E ERHÄLT IN DER TREUE." Die Fürbittenlisten der Bekennenden Kirche 1935-1944 Disziplinarische Maßnahmen staatlicher oder kirchlicher Stellen gegen unbotmäßige Pfarrer, Theologen, Theologinnen und Laien hatte es zwar schon seit 1933 gegeben, aber erst unter dem wachsenden staatlichen Druck begannen zentrale und regionale Gremien der Bekennenden Kirche, die Namen gemaßregelter evangelischer Christen und Christinnen systematisch zu erfassen, um der Betroffenen in Gottesdienst und Andachten fürbittend zu gedenkeni. Obwohl die äußeren Bedingungen immer schwieriger wurden, gelang es der Bekennenden Kirche noch bis 1944, die Daten zusammenzutragen und die Listen zu verteilen. Waren die Fürbittenlisten in der Zeit des "Kirchenkampfes" ein wesentlicher Bestandteil innerkirchlicher Information, so sind sie heute eine wichtige Quelle zur empirischen Erforschung widerständigen Verhaltens in der evangelischen Kirche. Bereits 1956 hatte Wilhelm Niemöller ihm vorliegende Fürbittenlisten ausgewertet, aber angesichts der Problematik dieser Quelle die resignierte Auffassung vertreten, daß "wirklich zuverlässige Zahlen nicht zu gewinnen sind"2. Auch später galten die Listen als nicht quantifizierbar und damit kaum als Quellengrundlage geeignet, um eine vergleichbare Erhebung vorzu-

1

WILHELM NIEMÖLLER belegt, daß bereits im November 1933 den Mitgliedern des Pfarrernotbundes der "allererste Vorschlag für eine Fürbitte im Gemeindegottesdienst" übermittelt wurde (Der Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden Bruderschaft. Hamburg 1973, S. 43).

Bereits

auf der

2.

Bekenntnissynode

der

Deutschen

Evangelischen

Kirche

(19./20.10.1934) kursierte eine Statistik mit der Überschrift "Maßregelung von Pfarrern und Kirchenbeamten (Juristen) usw.", die 1.043 Fälle aufführte; vgl. WILHELM NIEMÖLLER (Hg.): Die zweite Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Dahlem. Text Dokumente - Berichte (AGK. 3). Göttingen 1958, S. 17; der RUNDBRIEF DES PRÄSES DER BEKENNTNISSYNODE DER D E K Nr. 22 vom 3.11.1934 enthält auf S. 4 einen Hinweis über Maßregelungen. 2

WILHELM NIEMÖLLER: Die evangelische Kirche im Dritten Reich. Handbuch des Kirchenkampfes. Bielefeld 1956, S. 303.

Die Fürbittenlisten der BK 1935-1944

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legen, wie sie die Kommission für Zeitgeschichte bereits 1984 unter ganz anderen methodischen Voraussetzungen erstellt hatte3. Erst 1986 beschloß die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte auf Anregung ihres Mitgliedes Ltd. Archivdirektor i.R. Dr. Heinz Boberach, die in den kirchlichen Archiven verwahrten Fürbittenlisten zu sammeln und mittels einer maschinenlesbaren Datei für ein Verzeichnis zu bearbeiten. In den folgenden Jahren wurden neben dem Evangelischen Zentralarchiv in Berlin alle landeskirchlichen Archive, auch diejenigen in der DDR, angeschrieben, ebenso das Archiv des Diakonischen Werks in Berlin, das Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Anstalten, die Brüder-Unität, das Karl Barth-Archiv in Basel, der Martin-Luther-Bund in Erlangen sowie die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland4. Die meisten Archive und Kirchen verwahrten Fürbittenlisten und überließen sie in Kopie der Geschäftsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft. Schließlich konnten annähernd 500 Listen im Computer erfaßt werden, auf denen insgesamt 1.497 Pfarrer und Laien (inklusive evt. Doppelungen) wenigstes einmal vermerkt waren5. Neben vielen bekannten Theologen und Theologinnen werden auf den Fürbittenlisten auch zahlreiche Namen von Pfarrern, einfachen Gemeindegliedern und Laien genannt, die bislang nicht im allgemeinen Bewußtsein

3

4

5

ULRICH VON HEHL (Bearb.): Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung (VKZG. A 37). Mainz 1984. Uber keine Fürbittenlisten verfügten: das Archiv des Diakonischen Werkes, das Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, das Evangelische Landeskirchenarchiv Greifswald, die Evangelisch-Reformierte Kirche, der Martin-Luther-Bund, die BrüderUnität (keine Nachricht), das Archiv der Evangelischen Landeskirche Anhalts, das Kirchenarchiv Hamburg, das Archiv der Landeskirche Kurhessen-Waldeck und das Archiv der bremischen Kirche. Bremische Pastoren und Laien sind zwar auf anderen Fürbittenlisten aufgenommen; nach Auskunft des dortigen Archivars sind aber weitere zehn gemaßregelte Personen niemals auf Fürbittenlisten gekommen (Schreiben Colbergs vom 29.3.1993 und vom 21.9.1994). Es handelt sich dabei um die Lehrerinnen Hedwig Baudert (1899-1991), Anna Elisabeth Dittrich (1899-1981), Maria Schröder (1901-1984), Tusnelde Forck (1897-1972), die Studienrätin Elisabeth Forck (1900-1988), die Pfarrer Emil Felden (1875-1959), Gustav Greiffenhagen (1902-1968), Adolf Richtmann (geb. 1883), Gustav Wilken (1889-1980) sowie den Kaufmann Nicolaus Freese (1864-1958).

Zur Anzahl gemaßregelter Personen vgl. die Zusammenstellungen bei W. NIEMÖLLER, Kirche (Airai. 2), S. 303ff. oder K U R T MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 3: Im Zeichen des zweiten Weltkrieges. Göttingen 1984, S. 613, Anm. 1727. Nach NIEMÖLLERS Meinung sind etwa 3.000 evangelische Pfarrer, also ein Sechstel der gesamten Pfarrerschaft während der NS-Zeit einmal im Gefängnis gewesen. Zusammenstellungen der Gestapo über Maßnahmen gegen evangelische Geistliche in den Jahren 1938, 1939 und 1940 befinden sich i n BUNDESARCHIV A B T . POTSDAM, 5 1 . 0 1 R K M 2 2 2 6 8 (BL. 2 5 7 , 2 9 2 , 3 0 6 ) .

270

Gertraud Grünzinger

standen. Auf der Basis des erhobenen Materials ist es möglich, weiteren Einzelschicksalen nachzugehen und so zu einem anschaulichen Bild des "evangelischen Widerstandes" zu kommen. Die wissenschaftliche Auswertung der Fürbittenlisten als zeitgeschichtliche Quelle erwies sich auf der formalen ebenso wie auf der inhaltlichen Ebene als schwierig. U m anhand dieses Materials zu einer gesicherten Zahl aller gemaßregelten Personen im protestantischen Raum zu kommen, war es nötig, alle 25.000 Einträge zu überprüfen. Angesichts der vielen differierenden und falschen Schreibweisen von Namen und Orten war es aber auch nach umfangreichen Recherchen nicht möglich, alle auftretenden Personen zweifelsfrei zu identifizieren. Erschwert wurde diese Arbeit dadurch, daß auf den Listen häufig die Zuordnung zu Landes- und Provinzialkirchen nicht stimmte; so wurde etwa öfters die sächsische Landeskirche mit der Provinzialkirche verwechselt. Besondere Probleme bereitete es den Bearbeitern, diejenigen Pfarrer und Laien, die in den ehemaligen preußischen Provinzialkirchen wie Ostpreußen oder Schlesien tätig gewesen waren und die nach dem Zweiten Weltkrieg entweder gar nicht mehr oder nur in Restbeständen (Görlitz) zur E K D gehörten, zu identifizieren. Gerade aus diesem Personenkreis waren viele gefallen, galten als vermißt oder waren auf der Flucht umgekommen. Zwar hatten einzelne Hilfskomitees dieser "zerstreuten" Kirchen aus dem Osten oder auch engagierte Einzelpersonen Listen und Verzeichnisse zusammengetragen, aber trotz solcher Hilfsmittel konnte nicht lückenlos geklärt werden, welche Ostpfarrer überlebten und in den Dienst einer westlichen Landeskirche übernommen wurden. Die hohe Fehlerquote läßt sich freilich durch die Bedingungen erklären, unter denen die Listen entstanden. Die Existenz konkurrierender Kirchenleitungen, die die innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche provozierten, führte dazu, daß überkommene Ausbildungswege und "Berufskarrieren" nicht mehr beschritten bzw. realisiert werden konnten. Auch nach ihrer Ordination konnten die jungen Pfarrer oft kein Pfarramt übernehmen, sondern wurden weiterhin als "fliegende Truppe" bei Vakanzen und plötzlichem Ausfall von Amtsträgern als Aushilfen bzw. Pfarrverwalter eingesetzt 6 . Zwangsmaßnahmen wie Suspension oder Ausweisung/Aufenthaltsverbot führten zu vielen Ortswechseln und kurz dauernden Beschäftigungsverhältnissen, gelegentlich auch über die landeskirchlichen Grenzen hinweg. Gerade bei vielen illegalen Pfarrern und Vikaren der Bekennenden Kirche differierten die Ortsangaben 6

HANS THIMME: Die westfälische Bruderschaft der Hilfsprediger und Vikare im Kirchenkampf 1933-1945. In: JVWKG 85, 1991, S. 289.

Die Fürbittenlisten der BK 1935-1944

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auf den Fürbittenlisten häufig mit denjenigen, die jetzt aus Archiven oder der Sekundärliteratur recherchiert werden konnten. Mit Beginn des Krieges 1939 wurde es für die Aussteller noch mühsamer, präzise Informationen zu erhalten, und die Listen, die ja die Verhältnisse in allen Landes- und Provinzialkirchen berücksichtigen sollten, stets auf den neuesten Stand zu bringen 7 ; die Angaben werden dürftiger, und die kargen Listen, immer seltener als "Fürbittenliste" bezeichnet, nennen schließlich nur noch die im Konzentrationslager und in der Haft Befindlichen 8 . Um alle Personen möglichst vollständig zu erfassen, berücksichtigten die Bearbeiter für die Auswertung auch derartige Zusammenstellungen, die im formal strengen Sinn nicht unter den Begriff "Fürbittenliste" fielen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Listen fungierte die 2. Vorläufige Kirchenleitung (VKL II) als Aussteller; aber anders als von Wilhelm Niemöller angegeben, hat auch der Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Lutherrat) in den Jahren 1937 und 1938 Fürbittenlisten herausgegeben9. Gelegentlich verschickte man die von der VKL II und dem Lutherrat zunächst getrennt erhobenen Daten später auf einer Liste 10 . In den Jahren 1937 und 1938 kursierten viele Listen mit eng beieinander liegenden Daten, da die Listen der verschiedenen örtlichen Aussteller fortge7

Am 28.4.1937 schrieb die VKL II an die angeschlossenen Kirchenregierungen und Landesbruderräte: "Leider sind wir noch nicht in der Lage, wie es von verschiedenen Seiten gewünscht worden ist, etwas ausführlichere Angaben zu sämtlichen Namen herauszugeben, da unsere Bitte an die infrage kommenden Landesbruderräte, uns Material zuzusenden, bish e r n u r g e r i n g e s E c h o g e f u n d e n h a t " : E v . ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR KIRCHLICHE ZEITGE-

SCHICHTE MÜNCHEN (im folgenden: EvAG MÜNCHEN), Ordner: Fürbittenlisten, Nr. 51; in Ergänzung der Fürbittenliste vom 12.6.1937 teilte die VKL mit, daß die Geschäftsstelle des Rates der Ev. Kirche der APU "seit Ende der vorigen Woche" geschlossen sei und deshalb "Nachrichten über polizeiliche Maßnahmen nur sehr unvollkommen bekannt gegeben werden" könnten (EBD., Nr. 119). 8 9

1942 gibt es Listen, die lediglich in die Rubriken I und II gegliedert sind, ohne die Maßnahmen noch zu nennen (20.4.1942; 7.7.1942). W. NIEMÖLLER, Kirche (Anm. 2), S. 303. - Am 26.10.1935 übermittelte die V K L I ihren angeschlossenen Kirchenregierungen und Landesbruderräten ein Formblatt, auf dem sie Angaben bzw. Zusammenstellungen von gemaßregelten Pfarrern erbat. Auf diesem Formblatt sollten, nach Landeskirchen oder Art der Maßnahme geordnet, Name, Beruf und Dienstsitz bzw. Heimatort angegeben werden (EvAG MÜNCHEN, Kirchliche Quellen A. 1.9). Am 21.7.1937 verschickte die VKL II einen Fragemusterbogen für Verhaftungen: LANDESKIRCHLICHES ARCHIV HANNOVER ( i m f o l g e n d e n : L K A HANNOVER), D 1 5 1 6 .

10 Beispielsweise übersandte Hannsludwig Geiger für das Sekretariat des Lutherrates am 3.9.1937 den angeschlossenen Kirchenleitungen, Bruderräten und ihm verbundenen Stellen eine solche Fürbittenliste, gleichzeitig stellte er anheim, "in welcher Weise die Mitteilungen dem fürbittenden Gedenken für die bedrängten Glieder der Kirche nutzbar gemacht werden s o l l e n " ( L K A BRAUNSCHWEIG, G 414).

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Gertraud Grünzinger

schrieben, also ergänzt oder berichtigt wurden. Von solchen zum Großteil identischen Listen haben die Bearbeiter in der Regel lediglich die neu hinzugekommenen Namen erfaßt. Eindeutige Dubletten wurden ausgeschieden 11 . Das von der Verfasserin auf der Basis der Fürbittenlisten vorbereitete "Gedenkbuch" wird 1995/96 unter dem Titel "Fürbitte" erscheinen. Die Fürbittenlisten als Quelle zum "Widerstand" in der Bekennenden Kirche Hinter dem gesamten Komplex der Fürbittenlisten, ihrer Erstellung, Verbreitung und Verlesung verbergen sich Probleme über das Selbst- und Staatsverständnis der Bekennenden Kirche überhaupt. Theologisch und kirchenpolitisch wenig gerüstet, fand sie sich binnen kurzem in das Spannungsfeld von staatlicher Reglementierung und Behauptung ihrer kirchlichen Eigenständigkeit gestellt. Die unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Landeskirchen erschwerte es, zu verbindlichen Lösungen und Handlungsanweisungen zu kommen, die von allen getragen werden konnten. Zwar wurde das Anliegen der Fürbitte von der gesamten Bekennenden Kirche unterstützt, aber offensichtlich kam ihr in den "intakten" Landeskirchen zunächst nicht die Bedeutung zu wie in den "zerstörten" - also deutschchristlich beherrschten - Kirchen, und wurde deshalb in ersteren auch weniger strikt durchgeführt. Uber die Notwendigkeit eines allgemeinen Fürbittegebetes bestand sicherlich immer Einverständnis, schwieriger aber war es, einen Konsens über die namentliche Fürbitte herzustellen. Hier spielten kirchliche und theologische Auffassungen, persönlicher Mut, aber auch die Situation in der Gemeinde eine wichtige Rolle. Sicherlich waren Pfarrer und Laien in den "zerstörten" Kirchen von Anbeginn an größeren Anfechtungen ausgesetzt als in den intakten; sie mußten sich für ein Kirchenregiment entscheiden und kamen, sofern sie sich der Bekennenden Kirche anschlössen, in Konflikt mit ihren deutsch-christlichen Kirchenbehörden oder auch mit staatlichen Behörden. Die vielen Pfarrer und Laien auf den Fürbittenlisten aus der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (APLJ) belegen dies eindrucksvoll. Betroffen waren aber auch Pfarrer und Laien in den "intakten" Landeskirchen, wenn sie sich staatlichen Anweisungen widersetzten. Der Erstellung von Fürbittenlisten gingen im altpreußischen Bruderrat beispielsweise grundsätzliche Debatten voraus, ob staatlichen oder polizeilichen Anordnungen, wie etwa dem Ausweisungsbefehl, überhaupt Folge 11 Aus diesem Grunde wurde darauf verzichtet, die Zahl, wie oft eine Person insgesamt auf den Listen steht, auszuwerfen, da diese eher willkürlich gewesen wäre; sie kann aber aus der Datenbank bei der EvAG MÜNCHEN abgerufen werden.

Die Fürbittenlisten der BK 1935-1944

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geleistet werden dürfe. Es wurde gefragt, ob der an sein Ordinationsgelübde gebundene Pfarrer ein staatliches Ausweisungsverbot überhaupt befolgen müsse und seine Gemeinde verlassen dürfe. Der altpreußische Bruderrat hatte bereits am 7. September 1934 befunden, daß jeder Pfarrer "allen Versuchen der [deutsch-christlichen] Kirchenregierung, ihn aus der Arbeit [...] zu entfernen, entschieden Widerstand zu leisten" habe. Der Pfarrer sollte sich staatlichen Anweisungen allerdings nur solange widersetzen, als er nicht "durch Staatsgewalt an der Ausübung seines Amtes tatsächlich gehindert" werde 12 . In den folgenden Jahren wurden viele der sog. Jungen Brüder, ordiniert von Mitgliedern der Bekennenden Kirche, von deutsch-christlichen Behörden bzw. der Gestapo aus ihren Gemeinden ausgewiesen. In Brandenburg hatte sich beispielsweise der Vikar Johannes Pecina, der vom Leiter des berlin-brandenburgischen Ausbildungsamtes Martin Albertz ordiniert worden war, geweigert, dem Ausweisungsbefehl Folge zu leisten und war daraufhin mit Gefängnishaft bestraft worden 13 . Die sich häufenden Ausweisungen führten dazu, daß das Thema immer wieder diskutiert wurde, aber zu einer "gemeinsamen, klaren Entscheidung" ist es in dieser Frage nicht gekommen 14 . An der Praxis der Fürbitte wurde oft deutlich, inwieweit Pfarrer und Laien bereit waren, den Entscheidungen ihrer Kirchenleitungen zu folgen. Die Auseinandersetzungen um sie belegen aber auch, daß einzelne Kirchenglieder sich von ihrer Kirchenleitung nicht genügend unterstützt sahen. Für Klaus Scholder war gerade die Bedeutung der Haltung des Einzelnen unbestritten. Denn nach seiner Auffassung wurde auf gemeindlich-individueller Ebene viel mehr Widerstand geleistet denn auf kirchenleitender: "Was an tatsächlichem Widerstand gegen das Regime von den Kirchen ausging, kam durchweg von unten, von Pfarrern, Gemeinden und einzelnen Christen. Sie hatten, wie die Listen der Opfer ausweisen, auch die ganze Last der Verfolgung zu tragen. Nicht selten haben Kirchenleitungen den aus politischen Gründen Inhaftierten und Verurteilten die Solidarität verweigert." 15

12

WILHELM NIESEL:

ßischen Union 13

Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreu(AGK. E 11). Göttingen 1978, S. 46.

1933-1945

L K A BIELEFELD, 5,1, N r . 111-112; vgl. DIE STUNDE DER VERSUCHUNG. Gemeinden im Kir-

chenkampf 1933-1945. Selbstzeugnisse. Hg. von Günther Härder und Wilhelm Niemöller. München 1963, S. 145-157; W. NIESEL, Kirche (Anm. 12), S. 45f. 14 EBD., S. 47f. 15 KLAUS SCHOLDER: Politischer Widerstand oder Selbstbehauptung als Problem der Kirchenleitungen. In: D E R WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. Hg. von Jürgen Schmädecke und Peter Steinbach. München 1985, S. 262.

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Gertraud Griinzinger

Strittig war innerhalb der Bekennenden Kirche, die in ihrem bruderrätlichen und ihrem bischöflichen Flügel konträre kirchenpolitische Konzeptionen verfolgte, wie weit die Solidarität mit Gemaßregelten gehen dürfe. Aber auch in der Pfarrerschaft herrschten unterschiedliche Meinungen, in welcher Weise die Fürbitte zu leisten sei und, damit verbunden, in welche Position man sich gegenüber den Forderungen des Staates stellte. Die Auffassung von Eberhard Bethge, der mit der namentlichen Fürbitte einen hohen ethischpolitischen Anspruch verbindet, wurde zur Zeit des "Kirchenkampfes" durchaus nicht von jedem Pfarrer der Bekennenden Kirche geteilt. Wenn beispielsweise in einem Fürbittegottesdienst der Name von Katharina Staritz, der Vikarin aus Breslau, die mutig für sog. nichtarische Christen eintrat und deshalb im Konzentrationslager saß, genannt wurde, "wußte man, worum es sich handelte" 16 . Die Empfehlung zur Fürbitte und die Verlesung des Namens bedeutete in ihrem Fall einen wichtigen Akt der öffentlichen Solidarisierung: "Wer sich solidarisierte mit einem Gemaßregelten, widersprach ja der Maßnahme." 17 Die Fürbitte diente nach Bethges Auffassung so nicht nur der geistigen und psychischen Stärkung der Betroffenen, sondern auch der dringend erforderlichen Kommunikation innerhalb der Bekennenden Kirche. Ihre Brisanz erhielt die öffentliche Fürbitte für ihn aber erst dann, "wenn man sich um Information kümmert, Analyse angestellt, Identifikation und Solidarität mit Betroffenen hergestellt hat - und das reicht tief in das politische Feld." Sofern die Fürbitte das politische Umfeld nicht miteinbezieht, bleibt nach Bethges Meinung "solch Gebet eine verbale AlibiBemühung" 18 . O b die Fürbitte im Verständnis der damit Befaßten auch einem politischen Zweck genügen sollte, hing freilich davon ab, wie die Bekennende Kirche ihren ethischen Auftrag definierte, wie sie ihr Selbstverständnis formulierte, wie sie mit dem politischen Widerstand, den einzelne zu leisten bereit waren, umging. Eberhard Bethge beschrieb anschaulich die mentale Verfassung eines jungen "Illegalen": "Wir verstanden unsere Entscheidung noch in keiner Weise als eine zwischen Christus oder Hitler, nicht als eine zwischen Kreuz oder 16 EBERHARD BETHGE: Dietrich Bonhoeffer. Theologe. Christ. Zeitgenosse. 4. Aufl. München 1978, S. 837; zum Lebensweg von Katharina Staritz vgl. GERLDMD SCHWÖBEL: "Ich aber vertraue." Katharina Staritz eine Theologin im Widerstand. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1990. Erwähnt wird Staritz auch in dem Bericht von DLETFRLD KRAUSE-VILMAR: Evangelische und katholische Geistliche im Lager Breitenau (1941-1944). In: JHKGV 44, 1993, S. 127-141; in dem Lager waren u. a. auch die Pfarrer Reinhold und Zimmermann inhaftiert. 17 Gespräch mit E. Bethge am 19.11.1993 in Wachtberg-Villiprott. 18 EBERHARD BETHGE: Zwischen Bekenntnis und Widerstand: Erfahrungen in der Altpreußischen Union. In: WIDERSTAND (Anm. 15), S. 292.

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dem Hakenkreuz, und erst recht nicht als eine zwischen Demokratie oder Führerstaat. Statt dessen sahen wir die Entscheidung als eine zwischen dem Kreuz und einem verhakenkreuzten Kreuz und für das damals gängige 'Kirche muß Kirche bleiben'." Er zog daraus die entsprechende Schlußfolgerung: "Und als junge Lutheraner waren wir für so etwas wie politischen Widerstand ziemlich unvorbereitet." 19 Diese individuelle Analyse scheint zutreffend für die Verfaßtheit weiter Teile der evangelischen Kirche in der ersten Phase des Kirchenkampfes: Die Bekennende Kirche definierte sich zwar als innerkirchliche Opposition gegen den Einbruch der deutsch-christlichen Irrlehre in die evangelische Kirche, sie war aber gleichzeitig darauf bedacht, daß ihre Mitglieder als loyale Staatsbürger angesehen wurden. Die dritte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Augsburg vom 4. bis 6. Juni 1935 machte beispielsweise besorgt auf die vielen Pfarrer, Altesten und Gemeindeglieder aufmerksam, die "um ihres christlichen Glaubens und Bekennens willen Maßnahmen ausgesetzt sind, wie sie über Feinde des Staates, Verbrecher gegen sein Recht und Störer seiner Ordnung verhängt werden" 20 . Die 1. Vorläufige Kirchenleitung, die die Bekennende Kirche im November 1934 herausgestellt hatte, schrieb aus ebensolchem Verständnis an Reichskirchenminister Hanns Kerrl: "Es schmerzt uns tief, daß aus Ihren letzten Ausführungen der Verdacht politischer Unzuverlässigkeit herausklingt. Wir verweisen auf die unzähligen von uns abgegebenen Versicherungen, daß wir in Treue zu Staat, Volk und Führer stehen, und wiederholen die Bitte, daß man uns als deutschen Männern diese Versicherung glauben möchte." 21 Gemessen am Anspruch des absoluten weltanschaulichen Primats des nationalsozialistischen Staates, der Deutungsmuster anderer Provenienz nicht dulden wollte, konnte die Kirche - ungeachtet ihrer grundsätzlich

19

EBD., S. 285.

20

WILHELM NLEMÖLLER (Hg.): Die dritte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Augsburg. Text - Dokumente - Berichte (AGK. 20). Göttingen 1969, S. 86. Der Hilfsprediger Hans Brunotte, selbst wegen einer Kollekte für die Bekennende Kirche und des angemaßten Titels "Pfarrer" aus Thüringen ausgewiesen, schrieb am 28.9.1937 an das Geheime Staatspolizeiamt Weimar: "Ich betone: Die Gemeinde Neuhaus und ich haben kein anderes Anliegen als dies, im neuen Deutschland als getreue Gefolgsleute unseres Führers unseren Christen-Glauben zu leben": Ev. ZENTRALARCHIV IN BERLIN (im folgenden: E Z A BERLIN), 50/37.

21

KURT DIETRICH SCHMIDT (Hg.): Dokumente des Kirchenkampfes II. Die Zeit des Reichskirchenausschusses 1935-1937 (AGK. 13). Göttingen 1964, S. 297.

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staatsloyalen Haltung - zum "objektiven Störfaktor" avancieren22. So fand die von der VKL II - die Kirchenleitung der bruderätlichen Bekennenden Kirche seit März 1936 - für den 30. September 1938 vor dem Hintergrund der "Sudetenkrise" herausgegebene Gebetsliturgie, in der "unsere Sünden und unseres Volkes Sünden" angeklagt wurden, nicht nur "die Mißbilligung" Kerrls; der Minister diffamierte die für die Liturgie Verantwortlichen, Pfarrer Friedrich Müller-Dahlem, Superintendent Martin Albertz und Pfarrer Hans Böhm, darüber hinaus endgültig als "Volksverräter". Sie wurden ebenso wie weitere 30 Pfarrer, die sich hinter die VKL II gestellt hatten, "auf Anordnung des Herrn Ministers in völlige Gehaltssperre genommmen" 23 . Erst unter den zunehmend bittereren Erfahrungen des "Kirchenkampfes" setzten bei der Mehrzahl der leitenden Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche Prozesse ein, die das Bewußtsein gegenüber Unrechtshandlungen des Staates schärften. Als Reaktion auf den bedrohlicher werdenden Einfluß der "weltanschaulichen Distanzierungskräfte", die den Kirchen nur mehr eine marginale Position in der Gesellschaft zukommen lassen wollten, wuchs im nicht deutsch-christlichen Protestantismus zwar "die Bereitschaft zu Widersetzlichkeiten" 24 , sie entwickelte sich aber nicht zu einer grundsätzlichen Opposition. Eine letzte Kraftprobe mit dem Staat war aus theologischen, kirchlichen wie auch persönlichen Gründen nicht gewünscht. Noch unberührt von der erst später einsetzenden Diskussion um den allzu schematischen Begriff "Widerstand", konnte Wilhelm Niemöller in den 60er Jahren kurzerhand die Praxis der Fürbitte in der Bekennenden Kirche als Widerstand einstufen: "Widerstand war jede rechtschaffene Predigt und jede Kanzelabkündigung [...] Widerstand war [...] die Ausbildung, Prüfung, Ordination und Amtseinführung der jungen Theologen [...] Widerstand war die Verlesung der Namen der Verfolgten im Gottesdienst und die Fürbitte für sie. Widerstand war die Ablehnung einer Ausweisung und die Überschreitung eines Redeverbotes." 25 Niemöller stand bei dieser Aufzählung in erster Linie die widerständige Kraft der bruderrätlich orientierten Bekennenden Kirche vor Augen, während er den lutherischen, insbesondere den "intakten" Kirchen (Bayern, Hannover, Württemberg), eine solche Kraft kaum zugetraut haben dürfte.

22 K. MEER, Kirchenkampf DI (Anm. 5), S. 588; vgl. dazu auch den gesamten Sachexkurs: Der evangelische Kirchenkampf als Widerstandsproblem (EBD., S. 587-616). 23 EZA BERLIN, 50/562. 24 GÜNTHER VAN NORDEN: Zwischen Kooperation und Teilwiderstand: Die Rolle der Kirchen u n d K o n f e s s i o n e n . I n : WIDERSTAND ( A n m . 15), S. 2 2 8 . 25

WILHELM NIEMÖLLER: E v a n g e l i s c h e r W i d e r s t a n d . I n : J K 2 4 , 1963, S. 2 5 0 .

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Angesichts einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Widerstandsforschung 26 , die nicht mehr länger nur die "heroische", alles riskierende, auf den Umsturz zielende Tat der Männer des 20. Juli 1944 als gesellschaftlich wirksamen Widerstand ansieht, wurde die Frage aktuell, inwieweit innerhalb des Protestantismus von anderen Formen wie Resistenz, Verweigerung oder Teilwiderstand gesprochen werden kann. Zu partiellen Negierungen des Systems war es durchaus innerhalb des gesamten Protestantismus gekommen, politischer Widerstand aber wurde auch in den verschiedenen Lagern der Bekennenden Kirche immer nur von einzelnen herausragenden Persönlichkeiten geleistet; d.h. auch die Mehrzahl derjenigen, die sich als kirchliche Opposition verstanden, verhielt sich letztlich "höchst staats- und politikkonform" 27 . Kurt Nowak hat an Einzelbeispielen herausgearbeitet und belegt, daß "trotz erheblicher Defizite im Widerstandshandeln von Kirchen und Christen sich dennoch über die ganze Breite der Kirche hinweg Aktivitäten und Konstellationen aufweisen lassen, die von unserem gängigen Urteil abweichen", nämlich dem, daß der lutherische Protestantismus widerstandsunfähig gewesen sei28. Im lutherischen wie im gesamten kirchlich-christlichen Widerstand habe es sich, wie die Forschung heute übereinstimmend feststellt, allerdings jeweils nur um "Teil-Widerstände" gehandelt29. Die Aufnahme in die Fürbittenlisten Mit vielen Namen auf den Fürbittenlisten verbinden wir heute auf Anhieb keine besonderen Geschehnisse oder herausragend beispielhafte Haltungen. Andere Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer oder Paul Schneider sind in das kollektive Bewußtsein als Märtyrer der evangelischen Kirche eingegangen. Wieder andere werden wir vergeblich auf den Fürbittenlisten der Bekennenden Kirche suchen, obwohl auch sie ihre kritische Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime mit dem Leben bezahlten. Dazu gehört beispielsweise der Lübecker Pastor Karl-Friedrich Stellbrink, 26 Aus der reichhaltigen Literatur zum Widerstand sei hier nur auf den Band über die Internationale Konferenz zum 40. Jahrestag des 20. Juli 1944 hingewiesen, die vom 2. bis 6.7.1984 in Berlin stattfand (Anm. 15). 27 G. VAN NORDEN, Kooperation (Anm. 24), S. 230. 28 KURT NOWAK: Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 in Deutschland. In: Carsten Nicolaisen (Hg.): Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981 (AKZG. B 13). Göttingen 1982, S. 228, bes. S. 232f. 29 KURT NOWAK: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München 1995, S. 284; vgl. EBD. den Abschnitt "Verfolgung und Widerstand" (S. 282-288).

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der erst anläßlich seines 50. Todestages rehabilitiert und von der nordelbischen Kirchenleitung als "Märtyrer" gewürdigt wurde. Stellbrink war nach kritischen Äußerungen über die Kriegführung nach einem Luftangriff auf Lübeck 1942 verhaftet und wegen Zersetzung der Wehrkraft, Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechen am 24. Juni 1943 zum Tode verurteilt worden. Noch 1948 erklärte der damalige Lübecker Bischof Johannes Pautke, selbst Mitglied der Bekennenden Kirche, auf die Anfrage Wilhelm Niemöllers, ob Stellbrink in die Liste der "bekennenden Christen und Blutzeugen" aufzunehmen sei, in einem Brief an diesen: "Auch seine [Stellbrinks] Verhaftung hat nicht eigentlich kirchliche Gründe, sondern politische. Es ist weniger der Kampf um das Evangelium und um die Kirche Jesu Christi gewesen, der ihn das Leben gekostet hat, als ein politischer Kampf um das Dritte Reich." 30 Von den 1948 bekannten "Blutzeugen der Evangelischen Kirche in Deutschland" - nämlich den Pfarrern Treuherz Behrendt, Dietrich Bonhoeffer, Helmut Hesse, Paul Richter, Paul Schneider, Ludwig Steil und Werner Sylten, dem Volksmissionar Ernst Kasenzer, dem Justitiar Friedrich Justus Pereis sowie Landgerichtsdirektor Friedrich Weißler -, "die als Bekenner ihres christlichen Glaubens in den Konzentrationslagern und Gefängnissen ihr Leben ließen" 31 , waren zur Zeit ihres Martyriums keineswegs alle in die 30 31

MARTIN THOEMMES: "Ich sehe ganz düster in die Zukunft". In: Rheinischer Merkur Nr. 43 vom 28.10.1994, S. 25. AMTSBLATT DER EKD vom 15. Januar 1 9 4 8 , S . 1. Zu Anzahl und Person der Blutzeugen und Märtyrer vgl. auch WERNER OEHME: Märtyrer der evangelischen Christenheit. 3 . Aufl. Berlin 1 9 8 5 ; BERNHARD HEINRICH FORCK (Hg.): Und folget ihrem Glauben nach. Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche. Stuttgart 1 9 4 9 ; HEINZ GOLLWITZER/KATHE KUHN/REINHOLD SCHNEIDER (Hg.): Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . München o. J. ( 1 9 5 4 ) ; ANNEDORE LEBER: Das Gewissen steht auf (mit Lebensbildern von Elisabeth von Thadden, Martin Gauger, Karl-Friedrich Stellbrink, Friedrich Justus Pereis, Dietrich Bonhoeffer u.a. Berlin; Frankfurt am Main 1 9 5 4 . - Zu einzelnen Persönlichkeiten vgl.: EIN VOLLENDETES LEBEN. Gedenkbüchlein für den im KZ Dachau verstorbenen Pfarrer Ludwig Steil. Gladbeck ( 1 9 4 7 ) ; MATTHIAS SCHREIBER: Friedrich Justus Pereis. Ein Weg vom Rechtskampf der Bekennenden Kirche in den politischen Widerstand (HUWJK. 3 ) . München 1 9 8 9 ; RUDOLF WENTORF: Der Fall des Pfarrers Paul Schneider. Eine biographische Dokumentation. Neukirchen-Vluyn 1989; vgl. auch ALBRECHT AICHELIN: Paul Schneider. Ein radikales Glaubenszeugnis gegen die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus (HUWJK. 6 ) . Gütersloh 1 9 9 4 ; AICHELIN geht auch ausführlicher auf die Problematik der Verlesung der Fürbittenlisten im allgemeinen und im Fall Schneider ein (S. 2 4 4 - 2 5 3 ) ; RAINER PÖCHE: Botschafter - Mahner - Tröster. Pfarrer Paul Richter starb am 13. August 1942 im KZ Dachau. In: Der Sonntag. Wochenzeitung der Ev.Luth. Landeskirche Sachsens Nr. 3 2 vom 9 . 8 . 1 9 9 2 , S. 2 ; EBERHARD RÖHM: "Die Welt erkennen so, wie sie ist und dann sie zu lieben...". Werner Sylten ( 1 8 9 3 - 1 9 4 2 ) . In: Diakonie 19, 1 9 9 3 , S. 3 2 0 - 3 2 5 . - Im November 1 9 9 1 beschloß die Synode der EKD auf Antrag des

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öffentliche Fürbitte aufgenommen worden. Neben Weißler fehlen auf den Listen die Namen von Behrendt, Hesse, Steil, und Kasenzer. Weißler, wegen ungeklärter Umstände im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Denkschrift der Bekennenden Kirche 1936 verhaftet, war während seiner Haft nicht auf die Fürbittenliste gesetzt worden. Erst nach seinem Tod wurde seiner fürbittend gedacht32. Seltsamerweise tauchen daneben auch einige der von Wilhelm Niemöller erwähnten Pfarrer und Gemeindeglieder, die bis zuletzt auf Fürbittenlisten gestanden haben sollen 33 , in den uns vorliegenden Listen nie auf; dazu gehören neben den oben bereits erwähnten Steil und Weißler die Namen von Kayser, Hanschkatz, Voget und Hildegard Schaeder, die 1943 wegen "Judenbegünstigung" von der Gestapo verhaftet worden war 34 . Der Begründung für die damalige Entscheidung, diese Personen nicht auf die Fürbittenlisten aufzunehmen, kann hier nicht nachgegangen werden. Innerhalb der Bekennenden Kirche bestand allerdings sicherlich Konsens darüber, daß Personen, deren Aktivitäten in den politischen Widerstand mündeten, nicht auf die Fürbittenliste gesetzt werden sollten. Die Haltung der Bekennenden Kirche gegenüber der radikalen Entscheidung Dietrich Bonhoeffers war deshalb für die Zeitgeschichtsforschung schon immer von besonderem Interesse. Eine Position wie diejenige Bonhoeffers, der vom theologisch begründeten Protest gegen die Ausgrenzung der "nichtarischen" Christen zum konspirativen Widerstand gekommen war, konnte und wollte die Bekennende Kirche nicht decken. Bonhoeffer selbst hatte darauf beharrt, als er 1943 im Militärgefängnis Tegel einsaß, daß zwischen kirchlich und politisch motiviertem Widerstand unterschieden werden müsse. Er lehnte es damals ab, auf der namentlichen Fürbittenliste Synodalen Hans-Joachim Barkenings, den zweiten Leiter des Hilfswerkes der V K L II für verfolgte Juden, Pfarrer Werner Sylten, "der diesem Dienst sein Leben geopfert hat, mit einer Gedenktafel am Ort seines Todes zu ehren" (EPD-DOKUMENTATION Nr. 49 vom 11.11.1991, S. 43). 32

Vgl. K. MEIER, Kirchenkampf III (Anm. 5), S. 607; zur Person Weißlers und seinem Schicksal vgl. EBERHARD R Ö H M / J Ö R G THIERFELDER: J u d e n , C h r i s t e n , D e u t s c h e

1933-1945.

Bd. 2: 1935 bis 1938. Teil I. Stuttgart 1992, S. 184. Die Konferenz der Landesbruderräte beschloß am 2.8.1939, die Landesbruderräte zu bitten, am Geburtstag Schneiders, der im K Z Dachau umgekommen war, seiner Familie fürbittend zu gedenken (WOLFGANG LEHMANN: Hans Asmussen. Ein Leben für die Kirche. Göttingen 1988, S. 95). 33

WAS WURDE AUS IHNEN? Nachrichten über Pfarrer und Gemeindeglieder, die bis zuletzt auf der Fürbittenliste standen. In: Informationsmaterial. Erste Folge. Hg. vom Bruderrat der EKD. Schwäbisch Gmünd 20.5.1946; zitiert bei W . NLEMÖLLER, Kirche (Anm. 2), S. 308.

34

Vgl. ihre "Biographische Notiz". In: HILDEGARD SCHAEDER: Ostern im KZ. Berlin 1947, S. 50 und GERLIND SCHWÖBEL: Viel gelitten - fast vergessen: Hildegard Schaeder. In: Informationen. Studienkreis Deutscher Widerstand. 18. Jg., Nr. 37/38, November 1993, S. 8f.

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der Bekennenden Kirche zu erscheinen, da nach seiner Meinung nur solche auf diese Listen gehörten, "die um ihrer Verkündigung oder um ihres Verhaltens im unmittelbaren kirchlichen Dienst willen gemaßregelt oder verhaftet sind, nicht jedoch die, bei denen der Grund eine - im engeren Sinne politische Betätigung ist" 3 5 . Eberhard Bethge bestätigte die Auffassung, daß Bonhoeffer, dessen Name seit Januar 1938 auf der Fürbittenliste unter "Aufenthaltsverbot für Berlin" gestanden hatte, nach dem Gefängnisaufenthalt nicht mehr auf die Liste gesetzt werden sollte: "[...] nicht nur, weil sie [die Bekennende Kirche] in einer gefährlichen Lage vorsichtig sein mußte, auch nicht nur deshalb, weil sie noch nicht alle Details der konspirativen Tätigkeit kannte; sondern doch wohl auch, weil sie noch nicht in den Kategorien zu denken vermochte, mit denen es Bonhoeffer unternahm, den außerordentlichen Anspruch der Lage zu beantworten" 36 . Bonhoeffer war nun in konspirative Zusammenhänge verwickelt, und damit konnte die Kirche nicht befaßt werden, "weil es für die Kirche undenkbar war, an einer Konspiration beteiligt zu sein" 37 . Der Grundsatz, daß auf den Fürbittenlisten nur Personen erfaßt werden sollten, die aus kirchlichen Gründen gemaßregelt wurden, führte innerhalb der Bekennenden Kirche zu Vorsicht bzw. Zurückhaltung gegenüber aller politisch motivierten Opposition. Wie schwer die Unterscheidung im einzelnen zu leisten war, thematisierte eine Ausarbeitung der württembergischen Bekenntnisgemeinschaft vom April 1938, mit der sie Antwort auf die Frage gab, ob die Brüder und Schwestern auf den Fürbittenlisten, "auch wirklich um des Evangeliums willen in Bedrängnis geraten sind oder ob sie nicht etwa mit Recht um politischer Vergehen willen bestraft sind" 3 8 . Nach Auffassung der Bekenntnisgemeinschaft müsse der Christ davon ausgehen, daß von Seiten des Staates sein Ungehorsam immer als "politischer Widerstand" angesehen werde, gerade deshalb aber solle er sich nicht von politi35 WOLF-DIETER ZIMMERMANN: Wir nannten ihn Bruder Bonhoeffer. Einblicke in ein hoffnungsvolles Leben. Berlin 1995, S. 122. 36 E. BETHGE, Bonhoeffer (Anm. 16), S. 893, 924; vgl. dazu auch BETHGES Beschreibung der "fünf verschiedenen Stufen des Widerstandes in der nationalsozialistischen Zeit" (EBD., S. 889-896).

37 Gespräch mit E. Bethge am 19.11.1993 in Wachtberg-Villiprott. - Auch in einem harmloseren Fall wich der altpreußische Bruderrat nicht von seinem Grundsatz ab, Pfarrer, die wegen politisch motivierter Vergehen belangt worden waren, nicht auf die Fürbittenliste zu setzen; vgl. zum Fall Staemmler, der einen politischen Witz erzählt hatte: W. NlESEL, Kirche (Anm. 12), S. 265f. 38 GERHARD SCHÄFER: Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf. Bd. 5: Babylonische Gefangenschaft 19371938. Stuttgart 1982, S. 516ff.

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sehen Erwägungen leiten lassen "und sich an keinen politischen Obstruktionsbestrebungen gegen die Obrigkeit beteiligen". Für die Aufnahme in die Fürbittenliste werde aber auch, wenn der Betroffene diese Grenze überschritten habe - also politische Gründe mitspielten - , maßgeblich sein, ob "die Verfolgung [...] letzten Endes um des Evangeliums willen geschah". Letztlich dürfe jedoch "die Fürbitte nicht als Demonstration gegenüber der Obrigkeit oder als Mittel zur Aufputschung der Gemeinde angesehen und betätigt werden". Eine besondere Brisanz kam den Fällen zu, in denen entweder landeskirchliche "nichtarische" Pfarrer betroffen waren oder aber Männer und Frauen, die sich bemühten, dem scheinbar mechanischen Ablauf jüdischer Schicksale entgegenzuwirken. So wird auf einer Liste von 1938 vermerkt: "Als Nichtvollarier sind folgende Pfarrer verhaftet (nicht auf eine Liste zu setzen): 1. Pfarrer Leo, Osnabrück 2. Pfarrer i.R. Dr. Ehrenberg, Bochum (in Sachsenhausen) 3. Superintendent i.R. Schweitzer, München, früher Wustermark 4. Pfarrer i.e.R. Benfey, Wernigerode, früher Göttingen". Am 6. Februar 1937 aber hatte Pastor Wilhelm Jannasch für die VKL II gebeten, Benfey in die sonntägliche Fürbitte aufzunehmen: "Pastor Benfey hatte im Zusammenhang mit einigen von ihm begangenen Ungeschicklichkeiten gegen sich ein Dienststrafverfahren beantragt, das für ihn mit einem Verweis endete. Als er am Sonntag vor Bußtag 1936 erstmalig wieder predigte, gab es - Pastor Benfey ist Rassejude - vor der Kirche Krawalle, ebenso am Bußtag selbst. Pastor Benfey wurde dann vorübergehend in Haft genommen und bald darauf aus Göttingen ausgewiesen."39 Aufsehen über die Kirche hinaus erregte 1938 der Fall des württembergischen Pfarrers Julius van Jan. Dieser hatte in seiner Predigt am Bußtag 1938, also nach der sog. Reichskristallnacht, die gewalttätigen Ausschreitungen gegen jüdische Menschen und deren religiöse und soziale Stätten in Deutschland angeprangert. Daraufhin wurde der Oberlenninger Pfarrer am 25. November 1938 verhaftet. In der von der württembergischen Bekenntnisgemeinschaft für ihn beschlossenen Fürbitte hieß es tapfer: "Pfarrer von Jan, 39 E v A G MÜNCHEN, Ordner: Fürbittenlisten, Korrespondenz etc. und Ordner: Fürbittenlisten 1937, Mecklenburg. - Benfey machte erst nach dem Krieg seinen Anspruch auf die Pfarrstelle in Göttingen wieder geltend; zum Aufenthalt Benfeys in den Niederlanden vgl. EBERHARD RÖHM/JÖRG THIERFELDER: Juden, Christen, Deutsche 1933-1945. Bd. 3: 1938-1941. Teil II. Stuttgart 1995, S. 263-268. - Pfarrer Paul Leo (Osnabrück) - auch er steht auf den Listen war nach dem Krieg in den U S A geblieben; devisenrechtliche Bestimmungen verhinderten eine Übernahme in seine alte Landeskirche (vgl. das Referat von GERHARD LLNDEMANN: "Der Umgang mit der Schuldfrage in der hannoverschen Landeskirche unter besonderer Berücksichtigung der christlichen 'Nichtarier'" auf der Tagung der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte in Hannover am 26.9.1993).

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der in seiner Gemeinde als treuer und gewissenhafter Prediger und Seelsorger bekannt ist, hat in der Predigt am Landesbußtag ein klares, kraftvolles und biblisch voll berechtigtes Zeugnis gegen die Versündigung unseres Volkes in den Ausschreitungen gegen die Juden abgelegt."40 Auf einer Liste vermutlich aus der provinzialsächsischen Kirche -, die über "neue Verhaftungen" informierte, befand sich der Name von Jans unter denjenigen, die "nicht auf eine Fürbittenliste zu setzen" waren 41 . Diese Empfehlung aber wurde keineswegs durchgängig eingehalten, denn der Oberlenninger Pfarrer taucht durchaus auf anderen Listen auf. In weniger spektakulären und damit die Betroffenen auch weniger gefährdenden Fällen reichte oft die gegenseitige Unterrichtung aus; dabei funktionierte auch die sonst längst unterbrochene Zusammenarbeit von VKL II und Lutherrat, die ihre Bruderräte bzw. angeschlossenen Kirchenregierungen meist in Form von Rundbriefen über die aktuelle Lage und den neuesten Stand der Maßregelungen informierten. Am 26. August 1936 bat etwa die VKL II, die verhafteten sächsischen Pfarrer Kircher und Hänichen in die Fürbitte der Gemeinde aufzunehmen. Hänichen war am 3. Mai 1936 verhaftet worden und am 22. Juli 1936 in Schutzhaft gekommen, weil er angeblich Mitglieder der Reichsregierung und der NSDAP angegriffen hatte. Der bayerische Landesbischof Hans Meiser vermerkte in seiner Mitschrift der Sitzung des Lutherrates vom 5./6. November 1936 trotz solch "politischer" Gründe: "Pfarrer Hänichen-Hohenfichte ist noch immer verhaftet, obwohl nichts vorliegt, was die Verhaftung rechtfertigen könnte. Fürbitte für einen solchen Bruder. Landesbruderrat in Sachsen hat darum gebeten, es möchte den Kirchen das nahegelegt werden." 42 Der Aufruf zur Fürbitte In der Bekennenden Kirche der Evangelischen Kirche der A P U wurde die Bedeutung der Fürbitte für den Kampf der Kirche früh erkannt. Bereits auf seiner Sitzung am 16. November 1934 hatte der altpreußische Bruderrat 40

V g l . THEODOR DIPPER: D i e E v a n g e l i s c h e B e k e n n t n i s g e m e i n s c h a f t i n W ü r t t e m b e r g

1933-

1945 (AGK. 17). Göttingen 1965, S. 268f. und E. RÖHM/J. THIERFELDER: Juden, Bd. 3/1 (Anm. 39), S. 69-92. - Verwiesen sei auch auf den Fall Rackwitz: "Übertritt eines nichtarischen Gelehrten zur evangelischen Kirche" (EBD., Bd. 2/1 [Anm. 32], S. 84). 41 Diese Anweisung betraf auch Pastor Traub, Potsdam, Pfarrer Braune, Zollin, Pfarrer Iwand, Dortmund, und Pfarrer Lenz, Wohnbach/Hessen. - Zum Lebensweg von Hellmut Traub vgl. HARTMUT LUDWIG: "Wie Jesus eindeutig Partei nehmen". In: JK 55,1994, S. 407-410. 42

HANNELORE BRAUN/CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): V e r a n t w o r t u n g f ü r d i e K i r c h e . S t e n o -

graphische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Bd. 2: Herbst 1935 bis Frühjahr 1937 (AKZG. A 4). Göttingen 1993, S. 340 (Hervorhebung in der Vorlage).

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"die öffentliche Fürbitte für die Verhafteten und Gemaßregelten" besprochen43. Am 2. Mai 1935 empfahl er, jede Woche Bittgottesdienste "für die gefangenen und ausgewiesenen Pfarrer und Altesten und ihre Gemeinden" abzuhalten; in diesen besonderen Gottesdiensten sollten die Gemeinden auch über das Los der Betroffenen "in eingehenderer Weise" unterichtet werden 44 . Gleichzeitig ergingen Weisungen zur Gestaltung dieser Gottesdienste, bestimmte Fürbittgebete wurden vorgeschlagen sowie die Namen der Gefangenen und Ausgewiesenen genannt. Auch andere Landeskirchen übernahmen diese Empfehlungen45. Neben den inhaftierten Pfarrern wurden besonders die ausgewiesenen Brüder in die Fürbitte aufgenommen, während die in anderer Weise Gemaßregelten wohl nicht immer erwähnt wurden. Am 9. Juli 1936 etwa bat die VKL II die angeschlossenen Kirchenregierungen und Landesbruderräte, "daß die Fürbitte für die ausgewiesenen und gefangenen Pfarrer nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig erfolgt" 46 . Der hannoversche Landesbischof August Marahrens meinte, er habe in seiner Hausandacht schon immer des verhafteten Niemöllers gedacht; eine öffentliche Fürbitte könne erst nach dem Prozeß erfolgen, der vielleicht "schwere Überraschungen" bringe. Außerdem schränkte er ein, daß er als Landesbischof "die Fürbitte nicht allen Gemeinden zur Pflicht machen" könne 47 . Die Kirchenführerkonferenz beschloß am 17. März 1938 die sonntägliche Fürbitte für Niemöller "in einer Form, die der einzelnen Kirchenleitung überlassen bleibt" 48 . Als im ersten Halbjahr 1937 das Gerücht aufkam, es würden bereits am 27. Juni Kirchenwahlen stattfinden, und sich der Druck auf die Kirche, besonders in der Evangelischen Kirche der APU vermehrte, wandte sich 43

W. NLESEL, Kirche ( A n m . 12), S. 30.

44 Nach JOACHIM GAUGER (Hg.): Chronik der Kirchenwirren Bd. ID. Elberfeld o.J. (1936), S. 491; vgl. auch AMTLICHE MITTEILUNGEN des Präses der Bekenntnissynode der Ev. Kirche der A P U N r . 13 vom 9.5.1935. 45 Beispielsweise rief die Bekenntnisgemeinschaft Schleswig-Holstein in ihrem RUNDSCHREIBEN Nr. 14 vom 9.5.1935 unter Berufung auf 1 Thess. 1, 2 und 3 zur Fürbitte auf; ebenso die Bekennende Gemeinde Bremen (RUNDBRIEF N r . 15 vom 18.5.1935). 46

L K A NÜRNBERG, L K R I V , 582, Bd. I. A m 2.7.1937 teilte etwa Landesbischof Meiser seinen Pfarrern mit: "Am 6. Sonntag nach Trinitatis 4. Juli 1937 oder bei nächster Gelegenheit ist die folgende Fürbittenliste, soweit dies nicht schon am vergangenen Sonntag geschehen ist, mit den Abkündigungen im Gottesdienst zu verlesen. In das allgemeine Kirchengebet ist eine entsprechende Fürbitte einzuschalten" (EBD.); A. AICHELIN führt für die nach seiner Auffassung generell zurückhaltende Einstellung der intakten Landeskirchen zur namentlichen Fürbitte den bayerischen Landesbischof an (Paul Schneider [Anm. 31], S. 245f., bes. Anm. 87).

47 Auf der Sitzung des Lutherrats am 27./28.1.1938 (LKA NÜRNBERG, Personen X X X V I , Nachlaß Landesbischof D. Meiser, Wachstuchheft 9, S. 419). 48 Sitzung der Kirchenführerkonferenz vom 17.3.1938 (EBD., S. 507).

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Pfarrer Karl Fischer im Namen des sächsischen Vertrauensrates an die Vertrauensleute mit der Bitte, "den Wahltag am Vorabend durch einen Bittgottesdienst und durch Fürbitte im Gemeindegottesdienst am Sonntag einzuleiten, die Namen der Verhafteten der Gemeinde bekanntzugeben und sie in die Fürbitte einzuschließen" 49 . Trotz der Observation durch polizeiliche Stellen riefen die altpreußischen Bekenntnissynoden dennoch immer wieder zur Fürbitte auf. Diese Appelle erhielten in der zunehmenden Bedrängnis mehr und mehr den Charakter bindender Synodalbeschlüsse. Auf der Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der APU in Halle vom 10. bis 13. Mai 1937 wurden im dritten Beschluß der Synode die Gemeinden ermahnt: "Die Synode erwartet, daß in den sonntäglichen Gottesdiensten nicht nur im allgemeinen, sondern ganz persönlich Fürbitte getan wird unter Nennung der Betroffenen."50 In einem undatierten Aufruf des Rates der Evangelischen Kirche der APU zur Fürbitte heißt es: "Die Aufforderung zur Fürbitte ist erst wieder einzustellen, wenn sie ausdrücklich durch besondere Verfügung aufgehoben wird." 51 Die Bekennende Kirche beharrte auch nach dem Reichsgerichtsurteil vom 22. September 1938, wonach die Bekanntgabe der Verhaftung und Zusätze bei der Namensverlesung für die Fürbitte als Verstoß gegen den "Kanzelparagraphen" angesehen wurde, darauf, an der namentlichen Fürbitte festzuhalten 52 . Dies versuchte auch die Synode der Bekennenden Kirche der APU vom 8./9. November 1941, als sie im 9. Beschluß formulierte: "Im Ringen um die Beibehaltung der namentlichen Fürbitte für die bedrängten Brüder und Schwestern ruft die Synode die Provinzialbruderräte auf, die Brüder zu bitten, die namentliche Fürbitte ganz ernst zu nehmen" 53 ; sie mahnt sie, "nur in besonderen Fällen Dispens zu erteilen" 54 . Die Synodalen der Reichsbekenntnissynode konnten sich nicht auf so klare Aufforderungen bezüglich der Fürbitte verständigen. Im 18. Beschluß der Augsburger Synode (1935) wird in der "Weisung an die in der Amtsführung behinderten Pfarrer der Bekennenden Kirche" lediglich auf die Verantwortung der gesamten Kirche für die Betroffenen hingewiesen, gleichzeitig aber eingeräumt, daß sie diesen keine "allgemein gültige bindende Wei49 HERMANN KLEMM: Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer (AGK. E 14). Göttingen 1986, S. 297; vgl. auch EBERHARD KLÜGEL: Die lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933-1934. Berlin und Hamburg 1964, S. 272. 50

K J 1933-1944, S. 184.

51

L K A BIELEFELD, 5 , 1 , N r . 111-112.

52 W. NIESEL, Kirche (Anm. 12), S. 207. 53

EBD., S. 2 4 2 .

54 W. NIEMÖLLER, Kirche (Anm. 2), S. 300.

Die Fürbittenlisten der BK 1935-1944

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sung für ihr Verhalten zu geben" vermöge; der Gemaßregelte aber könne sich wissen "in der Gemeinschaft der Bekennenden Kirche, [...] die ihn mit ihrer Fürbitte trägt und ihn mit ihrem brüderlichen Rate dient" 55 . Uber alle trennenden Erfahrungen und Auffassungen hinweg hielt die Bekennende Kirche auch nach ihrer Spaltung im Februar 1936 an dem gemeinsamen Anliegen fest, die Fürbitte für ihre gemaßregelten Pfarrer und Laien zu einem festen Bestandteil des Gottesdienstes werden zu lassen. In einer Besprechung des "Kasseler Gremiums" - Vertretern der Kirchenführerkonferenz, des Lutherrates und der VKL II - am 5./6. Juli 1937 wurde ausführlich die Problematik der Fürbitte und des Fürbittegottesdienstes diskutiert. Das Mitglied der VKL II Pfarrer Martin Albertz bezeichnete die Fürbitte als ganz wesentlich; sie solle geleistet werden "für den Staat und die Regierung, daß sie Gott geben, was Gottes ist, zweitens für unsere verhafteten Brüder, drittens für unsere wahre Kirchenregierung" 56 . Er betonte, daß die Einigkeit der Bekennenden Kirche nach außen, dem Staat gegenüber im "geistlichen Dienst der Fürbitte" sich erweise. Der Vorsitzende des Lutherrates Thomas Breit stimmte dem zu und ergänzte, daß die Aufforderung zur Fürbitte mit dem Hinweis auf die Lage erfolgen müsse - eine Auffasssung, die der württembergische Landesbischof Theophil Wurm unterstützte; dies solle jedoch - nach Meinung Breits - in der Weise geschehen, daß nicht der Vorwurf der Illoyalität erhoben werden könne; auch Pfarrer Heinz Kloppenburg und der Vizepräsident im bayerischen Landeskirchenrat Hans Meinzolt sprachen sich dafür aus, die dringend notwendige Einigkeit in der Bekennenden Kirche nicht wegen dieses Punktes zu gefährden 57 . Die Kirchenführerkonferenz, die VKL II und der Lutherrat riefen dann in einem gemeinsamen Wort die Gemeinden für den 11. Juli 1937 auf, sich in "besonderen Abendgottesdiensten zur Fürbitte" zu vereinen. Nach der Fürbitte für die Regierung und für die "Herstellung eines ehrlichen Friedens zwischen Staat und Kirche" wurden die Gemeinden aufgefordert zu beten für alle "verhafteten Brüder und Schwestern und für die bedrückten und verwaisten Gemeinden! Betet auch für uns, daß wir allezeit die Ehre unseres Herrn Jesus Christus vor Augen haben und daß wir der Obrigkeit geben, was sie nach Gottes Ordnung von uns fordern kann." 58

55 W. NIEMÖLLER, Bekenntnissynode Augsburg (Anm. 20), S. 87f. 56 LKA NÜRNBERG, Personen XXXVI, Nachlaß Landesbischof D. Meiser, Wachstuchheft 8, S. 183. 57 EBD., S. 194. 58 KJ 1933-1944, S. 194.

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Gertraud Grünzinger

Die Verlesung der Fürbittenlisten wird polizeilich verfolgt Die öffentliche Fürbitte im Gottesdienst, ein schon urchristliches Anliegen59, wurde unter dem nationalsozialistischen Regime, das mit juristischen Maßnahmen und polizeilicher Einschüchterung die Glieder der Kirche zu disziplinieren suchte, mehr und mehr zum Politikum. Von Anfang an wurde die Handhabung der Fürbitte von staatlichen Stellen aufmerksam verfolgt, ohne daß es immer zu unmittelbaren Verboten gekommen wäre. Reichsinnenminister Wilhelm Frick verzichtete 1935 darauf, gegen die Verlesung von Fürbitten in den Gottesdiensten einzuschreiten; zwar bleibe "sicherheitspolizeiliches Eingreifen, soweit erforderlich" davon unberührt, Maßnahmen seien jedoch "nicht innerhalb der Kirche und während des Gottesdienstes durchzuführen" 60 . Auch Reichskirchenminister Kerrl entschied im Juni 1936, nicht gegen eine Kanzelabkündigung des altpreußischen Bruderrates vom 18. Mai vorzugehen; es sollten jedoch die Personalien derjenigen Pfarrer mitgeteilt werden, "die die Abkündigung verlesen, bzw. Fürbitte leisten" 61 . Die Geheime Staatspolizei beobachtete mißtrauisch, welche Art von Anliegen mit der althergebrachten Tradition des Fürbittegebetes in den Gottesdiensten der Bekennenden Kirche verknüpft war. Sie sah die Verlesung der Listen als Demonstration gegen staatliches Recht und nationalsozialistischen Machtanspruch an. Deshalb wurden die Fürbittegottesdienste und die Verbreitung der Fürbittenlisten, in deren Versendung die Gestapo "eine Aufforderung zum Verstoß gegen § 130a StGB" sah, von ihren Stellen zunehmend verfolgt und entsprechend geahndet 62 . Hannsludwig Geiger vom

59 Vgl. dazu den Artikel von HANS URNER: Fürbitte. In: RGG 3. Aufl. 1958, Bd. H, Sp. 11701172. Vgl. auch ERHARD LERCH: Die Obrigkeit im Spiegel evangelischer Fürbittegebete (1700-1990). In: Beiträge aus der Ev. Militärseelsorge 1, 1991, S. 50-70. An zeitgenössischen Äußerungen zur Problematik der Fürbitte für Verfolgte und Obrigkeit vgl. HARMANNUS OBENDIEK: Bitte und Fürbitte im Kampf der Kirche. In: JK 5, 1937, S. 432-438 und HERMANN STÖHR: Die Fürbitte für die Obrigkeit. Stettin 1937 (EZA BERLIN, T h 7115). Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes stellte HELMUT THIELICKE grundsätzliche theologische Überlegungen zur Fürbitte an (EZA BERLIN, 50/562 mit handschriftlichem Vermerk "Thielicke"; bei W. NLEMÖLLER, Kirche [Anm. 2], S. 308 aufgeführt mit der Bemerkung: "Verfasser und Zeit unbekannt"). 60 MANFRED KOSCHORKE (Hg.): Geschichte der Bekennenden Kirche in Ostpreußen 1933-1945: Allein das Wort hat's getan. Göttingen 1976, S. 166. 61

GERTRAUD GRÜNZINGER/CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): D o k u m e n t e z u r Kirchenpolitik

des Dritten Reiches. Band Dl: Von der Errichtung des Reichsministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten bis zum Rücktritt des Reichskirchenausschusses (Juli 1935-Februar 1937). Gütersloh 1994, S. 201. 62 W. NIESEL, Kirche (Anm. 12), S. 181; E. BETHGE, Bonhoeffer (Anm. 16), S. 147.

Die Fürbittenlisten der BK 1935-1944

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Sekretariat des Lutherrates in Berlin wurde am 4. Februar 1938 bei der Gestapo vorgeladen, die ihm Strafe androhte, wenn er weiter Fürbittenlisten verbreite 63 . In der sächsischen Landeskirche berichtete Otto Riedel, daß Pfarrer Karl Fischer, zusammen mit Konsistorialrat Erich Kotte und dem Geschäftsführer des sächsischen Landesbruderrates Reimer Mager, ihn 1940 "vor den Folgen einer Anzeige beim Volksgerichtshof wegen einer Fürbitte für die Bedrängten bewahrt habe" 64 . In Bremen wurde der Hilfsprediger Rudolf Brock zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er Fürbittenlisten verlesen hatte 65 . Der Lübecker Hauptpastor Wilhelm Jannasch, wegen eines Fürbittegottesdienstes zum 50. Geburtstag Martin Niemöllers von der Gestapo verfolgt, bemerkte, daß die "Bestrafung der gottesdienstlichen Fürbitte für Gefangene" immer häufiger werde 66 . In den Prozessen zur Verbreitung und Verlesung der Fürbittenlisten wurde folgerichtig durchaus zwischen dem althergebrachten Gebetsanliegen und der "provokativen" Nennung von Namen oder kritischen Anmerkungen zu staatlichen Maßregelungen unterschieden. Die Juristen verfuhren in der Regel nach dem Grundsatz, daß keine strafbare Handlung vorliege, "wenn der Pfarrer sich damit begnügt, nach seiner Predigt die kirchlichen Gefangenen unter namentlicher Nennung, jedoch ohne jeden eine Kritik andeutenden Zusatz in das Schlußgebet einzubeziehen" 67 . Später allerdings änderte sich die Rechtsprechung dahingehend, daß "allein schon das Nennen der Namen als strafbar, als Verstoß gegen den § 130a, den Kanzelparagraphen angesehen" wurde 68 . Mit einem verschärften Urteil, das das Sondergericht Breslau am 5. Juni 1944 fällte, wurde die strafbare Handlung in die subjektive Haltung dessen, der die Fürbitte hielt, verlagert. Die Auffassung, daß eine derartige nicht überprüfbare Absicht vorliege, ließ der Justiz für willkürliche Annahmen viel Raum: "Es kommt nach der Uberzeugung des Gerichts weniger darauf an, ob die Benennung der inhaftierten Pfarrer mit oder ohne besonders darauf hindeutenden Zusatz [nämlich der Kritik an der Verhaftung] erfolgt ist, sondern vielmehr darauf, welchen Sinn diese Handlungsweise nach dem Willen des Angeklagten haben sollte, und welche Wirkung durch sie bei den 63

L K A NÜRNBERG, L K R 1 1 0 2 , B d . m .

64 H. KLEMM, Dienst (Anm. 49), S. 379 Anm. 355. 65 Schreiben Colbergs an die Verf. vom 21.3.1989. 66 Schreiben an Landesbischof Theophil Wurm vom 27.12.1944; vgl. WILHELM NIEMÖLLER: Verkündigung und Fürbitte. Der Prozeß des Hauptpastors Wilhelm Jannasch. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze II (AGK. 26). Göttingen 1971, S. 162. 67 Urteilsbegründung des Landgerichts Berlin im Prozeß gegen Jannasch vom 20.11.1942; vgl. EBD., S. 145; vgl. auch EZA BERLIN, 50/56. 68 Wortlaut bei W. NIEMÖLLER, Verkündigung (Anm. 66), S. 144.

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Zuhörern erzielt wurde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Fürbitte innerhalb des Gottesdienstes erlaubt ist und in keiner Weise eine strafbare Handlung darstellen kann. Die namentliche Zusammenstellung der Geistlichen, die vom Staat aus zwingenden Gründen ihrer Freiheit beraubt worden sind, und deren Verkündung, wenn auch im Mantel einer Fürbitte, muß aber als eine Demonstration und versteckte Kritik an staatlichen Maßnahmen angesehen werden." 69 Noch im Jahre 1944 fürchtete der schlesische Pfarrer Alfred Kellner, wegen Kanzelmißbrauchs angeklagt, da er "für die Bekenntnispastoren und für den Grafen Solms gebetet" hatte, eine Verschärfung der Rechtsprechung. Er schrieb an den Rat der Bekennenden Kirche in Breslau: "Ich habe das Gefühl, daß dieser Prozeß von einiger Wichtigkeit werden könnte, weil es hier um das zentrale Anliegen der Kirche, die Fürbitte, geht." 70 Pfarrer verweigern die Verlesung der Fürbittenlisten Inwieweit die einzelnen Pfarrer und ihre Gemeinden den Aufrufen zur Fürbitte und besonders der namentlichen Nennung tatsächlich nachkamen, ist nicht leicht zu beantworten, da die Äußerungen und Berichte darüber oftmals widersprüchlich sind. Sicherlich aber wurden die Appelle zur öffentliche Fürbitte keineswegs immer befolgt, auch nicht von Pfarrern der Bekennenden Kirche 71 . Am 30. Januar 1937 ermahnte der Rat der Evangelischen Kirche der APU die Provinzialbruderräte, weiterhin regelmäßig Fürbitte zu halten; diese werde zwar für mancherlei Gemeindeglieder geleistet, aber "für die ausgewiesenen und im Konzentrationslager befindlichen Glieder der Kirche einzutreten, ist für viele Pfarrer leider noch immer eine Sache, die den Gottesdienst stört" 72 . Ein Schreiben von Pfarrer Müller vom 17. Mai 1936 an den Bruderrat in Magdeburg belegt einen solchen Fall von Verweigerung. Müller teilte mit, daß er "der Weisung, heute der 5 ausgewiesenen bzw. verhafteten Pfarrer namentlich zu gedenken, nicht Folge geleistet" habe. Als Gründe dafür gab er an, daß die Fürbitte für ihn "in das persönliche Gebet gehöre [...] und auch nur die leisteste Absicht, damit auf Menschen zu wirken, muß für sie 69

Zitiert nach Schreiben von Rechtsanwalt Holstein (EZA BERLIN, 50/56); zu anderen Gerichtsurteilen vgl. W. NIEMÖLLER, Kirche (Anm. 2), S. 256-260.

70

Schreiben vom 6.12.1944 (EZA BERLIN, 50/56).

71

Gespräch mit E. Bethge am 19.11.1993 in Wachtberg-Villiprott.

72

E v A G MÜNCHEN, Ordner: Fürbittenlisten; vgl. dazu auch ERNST HORNIG: Die Bekennende Kirche in Schlesien 1933-1945. Geschichte und Dokumente (AGK. E 10), S. 45, wonach von der Gestapo bedrohte Pfarrer vom Provinzialbruderrat von der Pflicht der öffentlichen Fürbitte befreit werden konnten.

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verderblich sein". Besonders unangemessen erscheine ihm an der Fürbitte für Pfarrer die "starke Heraushebung des Pfarrerstandes". Schließlich sei im Falle Wolters "seine Ausweisung um seines Verhaltens bei der Wahl willen" erfolgt; ihm aber erscheine es bedenklich, "eines Bruders öffentlich in der Kirche zu gedenken, wenn es sich nicht um ein Leiden ausgesprochen um der Kirche willen handelt" 73 . Viele Pfarrer verweigerten die öffentliche Fürbitte mit dem Argument, ihre Gemeinden wüßten damit nichts anzufangen oder würden dadurch unnötig beunruhigt 74 . Landesbischof Marahrens hatte in der Sitzung des Kasseler Gremiums am 28. September 1937 erklärt, daß in der hannoverschen Landeskirche die Fürbitte immer wieder zur Pflicht gemacht würde, nachdem Kloppenburg mitgeteilt hatte, daß in Oldenburg die Fürbitte durch die Kirchenbehörde verboten worden sei, weil diese "mit dem Wesen des lutherischen Gottesdienstes nicht vereinbar sei". Daraufhin schlug Marahrens vor, in einer offiziellen Eingabe Kloppenburg "die Berechtigung und Notwendigkeit der Fürbitte" zu bescheinigen75. In Thüringen mit seinem rigiden deutsch-christlichen Kirchenregiment wurden "Fürbittenlisten für Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter, die vom NSStaat bzw. den Deutschen Christen gemaßregelt, verhaftet, verurteilt oder in Konzentrationslager verbracht wurden", verbreitet, allerdings wurden sie in den lutherischen Kirchen bzw. Bekenntnisgemeinschaften "im allgemeinen im Gottesdienst nicht verwendet. Es wurde damit begründet, daß das gottesdienstliche Gebet nicht politischen oder kirchenpolitischen Demonstrationen dienen dürfe. Das dürfte theologisch vertretbar sein, wenn es auch ein brauchbares Alibi war, mit den staatlichen Stellen nicht in Konflikt zu kommen. In den Versammlungen der Luth. Bekenntnisgemeinschaft wurde aber auf Grund dieser Listen Fürbitte gehalten." 76 Die bayerische Pfarrerbruderschaft mahnte in ihren Rundbriefen häufig zur Fürbitte 77 ; die Sorge, ob diese auch immer mit der notwendigen Beharrlichkeit geleistet würde, äußerte sich in einem Bericht vom 23. November 1937, nachdem kurz zuvor sechs bayerische Pfarrer vom Landeskirchenrat zum Dienst in ostpreußische Gemeinden abgeordnet worden waren. Die Pfarrer (Eduard Putz, Kurt Fror, Dekan Georg Kaeßler, Hans-Martin Hel73 EZA BERLIN, 50/33 (Hervorhebung in der Vorlage). 74 Gespräch mit E. Bethge am 19.11.1993 in Wachtberg-Villiprott. 75 LKA NÜRNBERG, Personen XXXVI, Nachlaß Landesbischof D. Meiser, Wachstuchheft 7, S. 255. 76 Mitteilung von OKR Erich Stegmann (Weimar) mit Schreiben des Landeskirchenarchivs Thüringen (Koch) an die Verf. vom 8.5.1989 (EvAG MÜNCHEN, Ordner: Fürbittenlisten, Korrespondenz etc.). 77 Schreiben an die Obleute vom 23.6.1937 (LKA NÜRNBERG, KKU 17/V1).

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bich, Wilhelm Steinlein und Heinrich Grießbach) mußten wiederholt hören, "wie verwundert man darüber ist, wenn man in Bayern, etwa im Urlaub, weder die Fürbittenliste verlesen, noch überhaupt ein Wort der Fürbitte für die bedrängten Brüder im Gottesdienst hört. Sollte es das unter uns noch geben?"78 Bonhoeffer, dem die Fürbitte im Predigerseminar Finkenwalde immer wichtig war, kam 1940 während seiner Visitationsreisen in Ostpreußen aber durchaus in viele Orte, "in denen ihm der Zutritt zur Kirche verwehrt wurde, weil die namentliche Fürbitte für die gefangenen Brüder nicht geduldet wurde" 79 . Gelegentlich mußten die Verantwortlichen vor Ort überlegen, ob die namentliche Fürbitte nicht eine zusätzliche Gefährdung bzw. ein nicht abzuschätzendes Risiko bedeutete80. So wurden in den Betheler Anstaltskirchen keine Fürbittgottesdienste abgehalten, obwohl sich Wilhelm Brandt, der Leiter des Betheler Kandidatenkonvikts, ebenso wie Friedrich von Bodelschwingh zur Bekennenden Kirche hielt, aber dieser achtete als Anstaltsleiter darauf, daß in "Bethel selbst keine Veranstaltungen der Bekennenden Kirche stattfanden, um keine Handhaben für Eingriffe von Partei oder Staat zu schaffen" 81 . Wer wird belangt? Die überlieferten Listen geben keinen Aufschluß über die Ursachen für die Maßregelungen und die Stellen, die sie veranlaßten bzw. durchführten. Verstreut finden sich aber Hinweise auf Hintergrund und Hergang in Schil78

EBD.; vgl. auch RAINER KIMMEL: Die bayerische Pfarrerbruderschaft in der Zeit des Kirchenkampfes bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Magisterarbeit München 1994, bes. S. 39. Zum Dienst der bayerischen Pfarrer in Ostpreußen vgl. M. KOSCHORKE, Geschichte (Anm. 60), S. 292ff.

79

E. BETHGE, Bonhoeffer (Anm. 16), S. 782; Bonhoeffer hatte Werner Koch nach dessen Verhaftung und Einlieferung in ein K Z in die Fürbittenlisten von Finkenwalde aufgenommen, da die Bruderräte ihn nicht aufnehmen wollten (EBD., S. 613).

80

In der Sitzung des Kasseler Gremiums vom 28.9.1937 teilte Stoltenhoff mit, daß in Schlesien mit der Freilassung Benckerts [?] zu rechnen sei, wenn die Fürbitte für ihn eingestellt würde (LKA NÜRNBERG, Personen X X X V I , Nachlaß Landesbischof D. Meiser, Wachstuchheft 7, S. 255). In einem Erlaß vom 23.12.1938 wies Wurm darauf hin, daß "jede Erwähnung der von staatlicher Seite getroffenen Maßnahmen im Gottesdienst, auch im Interesse der beteiligten Geistlichen, zu unterlassen ist" (GERHARD SCHÄFER: Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf. Bd. 6: V o n der Reichskirche zur Evangelischen Kirche in Deutschland 1938-1945. Stuttgart 1986, S. 8; dort S. 8ff. einige Beispiele zur Fürbitte).

81

Schreiben Kätzners vom 25.1.1989 an die Verf.

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derungen und Berichten, die den Listen beiliegen82; daneben liefern auch Prozeßakten hilfreiche Informationen zu wichtigen Einzelfällen83. Bestimmte Vergehen zogen unweigerlich Verfolgung und Maßregelungen mit unter Umständen schwerwiegenden Folgen wie Verlust des Amtes oder Einweisung in ein Konzentrationslager nach sich. Gefährdet waren schon junge Theologen und Theologinnen, die ihre Ausbildung in den Einrichtungen der Bekennenden Kirche absolvierten, ihre Prüfungen nicht vor der zuständigen Kirchenbehörde, dem deutsch-christlichen Konsistorium, ablegten und somit in die Illegalität gedrängt wurden. Ein Beispiel dafür ist u. a. das Predigerseminar der ostpreußischen Bekennenden Kirche in Blöstau. Dessen Leiter Hans Joachim Iwand und alle Teilnehmer wurden am 24. Mai 1937 ausgewiesen; sie fanden eine neue Heimat in Dortmund, aber bereits im Winter wurde das gesamte Seminar dort verhaftet. Daraus erklärt sich, daß viele ostpreußische Vikare (Beuter, Frindte, Garlipp, Hof[f]meister, Karwinski, Kuhrke, Molsen, Symanowski, Wolbrandt) in den Listen unter der westfälischen Provinzialkirche erfaßt sind84. Das Konsistorium in Ostpreu82 Zu derartigen Quellen im KARL BARTH-ARCHIV, Basel, vgl. Schreiben Dr. H. Stoevesandts an die Verf. vom 7 . 2 . 1 9 8 9 ; ebenso Schreiben von OKonsR Wagner (Kirchenprovinz Sachsen) an die Verf. v o m 6.3.1989.

83 Viele Beispiele, besonders über Prozesse Betroffener, beinhaltet die "Sammlung Härder" (EZA BERLIN, Bestand 5); einzelne davon sind bereits veröffentlicht (vgl. dazu GERHARD BESIER: Die Bekennende Kirche und der Widerstand gegen Hitler. Einzelbeobachtungen. In: WuD 1985, S. 197-203); vgl. dazu auch die Zusammenstellung bei W. NIEMÖLLER, Kirche (Anm. 2), S. 245-256. 84 HUGO LINCK: Der Kirchenkampf in Ostpreußen 1933 bis 1945. Geschichte und Dokumentation. München 1968, S. 135-138 und S. 139ff.; H. THMME, Bruderschaft (Anm. 6), S. 287346. - 1989 veranstaltete das Pastoralkolleg der rheinischen Kirche anläßlich des 80. Geburtstages seines früheren Rektors Eberhard Bethge eine Kurswoche "Die Illegalen im Kirchenkampf"; die dort gehaltenen Vorträge sind - mit Ausnahme desjenigen von Scherffig - veröffentlicht in: KARL-ADOLF BAUER (Hg.): Predigtamt ohne Pfarramt? Die "Illegalen" im Kirchenkampf. Neukirchen-Vluyn 1993. Von WOLFGANG SCHERFFIG sind inzwischen erschienen: Junge Theologen im "Dritten Reich". Dokumente, Briefe, Erfahrungen. Bd. 1: Es begann mit einem Nein. Bd. 2: Im Bannkreis politischer Verführung 1936-1937. NeukirchenVluyn 1989 und 1990; vgl. auch So IST ES GEWESEN. Briefe im Kirchenkampf 1933-1942 von Gerhard Vibrans aus seinem Familien-und Freundeskreis und von Dietrich Bonhoeffer. Hg. von Dorothea Andersen, Gerhard Andersen, Eberhard Bethge und Elfriede Vibrans (Dietrich Bonhoeffer Werke, Ergänzungsband). Gütersloh 1995. - Uber die Auseinandersetzungen um Theologiestudentinnen und Theologiestudenten, die trotz des Erlasses von Reichserziehungsminister Rust vom 18.9.1936 Ersatzveranstaltungen der Bekennenden Kirche besuchten, informiert H A R T M U T LUDWIG: Theologiestudium in Berlin 1937: Die Relegierung von 29 Theologiestudierenden von der Berliner Universität. In: Leonore SiegeleWenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993, S. 303-315; vgl. dazu auch JÖRG THIERFELDER: Ersatz-

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ßen verlangte 1938 für die Legalisierung der Kandidaten der Bekennenden Kirche außer deren Nachprüfung auch die "Unterlassung der namentlichen Fürbitte für Personen, 'gegen die staatlicherseits Maßnahmen veranlaßt sind'" 85 . Sehr oft wurden Pfarrer und Laien mit disziplinarischen Maßnahmen belegt, wenn sie grundsätzliche Äußerungen der Bekennenden Kirche verlasen und deren Schriften verbreiteten. In Bremen etwa wurde Dr. Karl Stoevesandt verhaftet, "weil er entgegen einem auf eine Weisung des Reichskirchenministeriums zurückgehenden Verbot der Bremer Kirchenbehörde das Wort des Reichsbruderrates an die Gemeinden zur Verlesung weitergegeben hatte" 86 . 1935 waren mehr als 500 Pfarrer verhaftet worden, nachdem sich viele von ihnen geweigert hatten, eine Erklärung zu unterschreiben, daß sie auf die Verlesung der Kanzelabkündigung der altpreußischen Bekenntnissynode gegen das Neuheidentum, die für den 17. März geplant war, verzichten würden 87 . Die Pfarrer, die die Denkschrift der VKL II vom Mai 1936 in abgeänderter Fassung von den Kanzeln verlasen, wurden aber "merkwürdigerweise" nicht zur Rechenschaft gezogen 88 . Häufig wurden Pfarrer auch wegen verbotener Kollekten für die Bekennende Kirche belangt. Beispielsweise hatte Franz Hildebrandt nach Niemöl-

veranstaltungen der Bekennenden Kirche. In: EBD., S. 291-301; über die Situation der ehemals Illegalen bei der Bildung neuer Kirchenleitungen 1945 berichtet HARTMUT LUDWIG: Der Kirchenkampf blieb Episode. In: J K 56, 1995, S. 418-422. 85

M. KOSCHORKE, Geschichte (Anm. 60), S. 269. - Das Konsistorium Berlin-Brandenburg verlangte 1940 die Unterzeichnung eines Reverses, wonach sich die Kandidaten verpflichteten, auf die "Fürbitte für die gefangenen Brüder, insbesondere für Martin Niemöller" zu verzichten, nachdem beispielsweise Asmussen wie auch andere immer wieder Fürbittegottesdienste für den gefangenen Dahlemer Pfarrer abhielten; zitiert nach H . KLEMM, Dienst (Anm. 49), S. 386; vgl. auch W . LEHMANN, Asmussen (Anm. 32), S. 96.

86

Die V K L II teilte in diesem Zusammenhang mit, "daß Dr. Koopmann, dessen Vermittlung angegangen worden war, weil er Mitglied des zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung in der Kirche eingesetzten Reichskirchenausschusses ist, ausdrücklich erklärte, er rühre keinen Finger in dieser Sache, da die Kreise, von denen er jetzt um Hilfe gebeten werde, den Reichskirchenausschuß nicht als Kirchenleitung anerkennten" (Schreiben an die angeschlossenen Kirchenregierungen und Landesbruderräte vom 26.8.1936: E Z A BERLIN, 50/136).

87

KURT DIETRICH SCHMIDT: Der kirchliche Widerstand (1964). In: Gesammelte Aufsätze. Hg. von Manfred Jacobs. Göttingen 1976, S. 296; vgl. dazu auch WILHELM NIEMÖLLER (Hg.): Die Preußensynode zu Dahlem. Die zweite Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Geschichte - Dokumente - Berichte (AGK. 29). Göttingen 1975, S. 25ff.; W . NIESEL, Kirche (Anm. 12), S. 62ff.

88

K. D. SCHMIDT, Widerstand (Anm. 87), S. 300; vgl. dazu auch W . NIESEL, Kirche (Anm. 12), S. 120f.

Die Fürbittenlisten der B K 1935-1944

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lers Festnahme am 12. und 18. Juli 1937 Gottesdienste in Berlin-Dahlem übernommen und dabei, wie vom Bruderrat angewiesen, sowohl die Fürbittenlisten wie die Bekenntnis-Kollekten abgekündigt; daraufhin wurde er ebenfalls von der Gestapo verhaftet89. Verstöße gegen das "Heimtückegesetz" wurden ebenso geahndet wie Kanzelmißbrauch oder die Abkündigung von Kirchenaustritten90. Die staatlichen Strafmaßnahmen wurden oft "recht vage" einfach mit "staatsabträg-lichem Verhalten" begründet; gleichzeitig "verfielen die Möglichkeiten und Rechte der Betroffenen, sich gegen die Maßnahmen des Staates zu wehren" 91 . Mit schweren Strafen hatten diejenigen zu rechnen, die sich für "nichtarische" Bürger und Bürgerinnen einsetzten, wie das Schicksal von Hildegard Schaeder, Katharina Staritz und Julius von Jan zeigt. Unter den Laien finden sich neben ehrenamtlich Tätigen oder besonders kirchlich Engagierten viele Frauen; entweder handelte es sich dabei um Pfarrfrauen oder Frauen, die wegen ihres Einsatzes für die Bekennende Kirche belangt wurden92. So wurde die Sekretärin des altpreußischen Bruderrates Senta Maria Klatt in den Jahren des "Kirchenkampfes" vierzigmal verhört und etliche Male verhaftet; Liselotte Lawerenz, als Vikarin im Reisedienst des Burckhardthauses tätig, wurde 1943 verhaftet, weil sie in einem Gottesdienst in Fehrbellin Niemöller in der Fürbitte genannt hatte93. Wie bereits erwähnt, wurde es zunehmend riskanter, öffentlich Fürbitte für bereits Inhaftierte oder anderweitig Gemaßregelte zu leisten. Beispielsweise wandte sich ein anonymer deutscher Pfarrer an die Schweizer Brüder wegen Auseinandersetzungen um die Fürbitte in Hessen, in die sich sogar der Reichsstatthalter eingeschaltet hatte. Dort waren Pfarrer wegen ihres 89

E. BETHGE, Bonhoeffer (Anm. 16), S. 657; anläßlich eines Fürbittegottesdienstes wurden Vikar W . Jentsch und die Töchter von Dibelius verhaftet (WERNER JENTSCH: Ernstfälle. Erlebtes und Bedachtes. Moers 1992, S. 96-102); wegen regelmäßiger Abhaltung von Fürbittegottesdiensten wurde auch Friedrich Onnasch verhaftet (KARL PAGEL/BRIGITTE METZ: W i r können's ja nicht lassen. Der Weg des Friedrich Onnasch unter dem Gebot seines Gewissens. Hg. von Matthias Gürtler, o. O . und o. J . [1995], bes. S. 154f.).

90

Der altpreußische Bruderrat rief am 17.6.1937 "zur Fürbitte für den Ausgetretenen auf und für alle Glieder der Gemeinde, [...] welche in derselben Gefahr und Versuchung stehen"; er begründete dies damit, daß die "Nennung der Namen derer, die sich von der Gemeinde trennen", schon der "ältesten Christenheit ein Anliegen (vgl. 2. Tim. 4, 10)" war (KJ 19331944, S. 192).

91 92

BERND HEY: Die Kirchenprovinz Westfalen 1933-1945 ( B W F K G . 2). Bielefeld 1974, S. 293. Zu Motivation und Haltung von Frauen im Widerstand vgl. CHRISTL WICKERT: Frauen zwischen Dissens und Widerstand. In: Lexikon des deutschen Widerstandes. Hg. von Wolfgang Benz und Walter H . Pehle. Frankfurt am Main 1994, S. 141-156, bes. S. 150f.

93

BEATE SCHRODER/GERDI NÜTZEL: Die Schwestern mit der roten Karte. Gespräche mit Frauen aus der Bekennenden Kirche. Berlin 1992, S. 98f. und S. 57f.

294

Gertraud Grünzinger

Widerstandes gegen das Kirchenregiment von Landesbischof Dietrich in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert worden. Dieser Pfarrer sollte fürbittend gedacht werden "unter gleichzeitiger Abwehr [...] des neuen deutschen Heidentums." Nachdem der Polizeipräsident diese Fürbitte aber verboten hatte, "änderte man noch in der Nacht die Botschaft, indem alles ausgelassen und umgestaltet wurde, was politisch gedeutet werden konnte." Wiewohl staatliche Stellen das vom Polizeipräsidenten verfügte Verbot und die Verhaftung der verlesenden Pfarrer letztlich für unrecht erklärten, kam es nicht zur Freilassung, weil der Reichsstatthalter sich hinter den Polizeipräsidenten stellte. Die Fürbitte wurde auch für den folgenden Sonntag verboten 94 . Die unterschiedlichen Erwartungen und Anforderungen an die Fürbitte bewogen die VKL II, 1937 einen Text kursieren zu lassen, der den Gliedern der Bekennenden Kirche die Bedeutung der Fürbitte in bedrückender Zeit ausloten sollte, "da hinsichtlich der Fürbitte für unsere verhafteten und bedrängten Brüder mancherlei Unklarheit besteht." In dieser Meditation erläutert der nicht namentlich genannte Verfassser unter Bezug auf Rom 15, 30-33 Wesen, Auftrag und Sinn der Fürbitte, um deren Dienst schon Paulus die Gemeinden gebeten hatte. Durch die Fürbitte nehmen die Christen teil "an dem Kampf, der um des Evangeliums willen in dieser Welt, wider den Fürsten dieser Welt ausgefochten werden muß." Aber in der Fürbitte "stellen wir uns selbst und den, für den wir beten, unter den Willen Gottes. Das macht das Herz still. Das läßt den Frieden einziehen in unsere Seele. Wissen wir doch, daß der Herr selbst seine Sache führt und daß wir uns nur ihm zu überlassen brauchen. Dreierlei vermag schließlich die rechte Fürbitte: "Fürbitte hilft im Kampf. Fürbitte tröstet in der Einsamkeit. Fürbitte erhält in der Treue." 95 Diese drei Funktionen der Fürbitte und des fürbittenden Gebetes wurden als Instrument der Anklage gegen staatliche Eingriffe in die Evangeliumsverkündigung, aber auch als Ausdruck der Stärke christlicher Glaubenshaltung in einer Weise virulent, die die Repräsentanten der nationalsoziali94

"Aus dem Briefe eines deutschen Amtsbruders vom 9. April 1935" (KARL BARTH-ARCHIV, BASEL); vgl. auch den Fall Pfarrer Buchholtz, Berlin-Tempelhof (LKA OLDENBURG, Präsidium der Bekenntnissynode). Reichsinnenminister Frick ordnete erst im Juni 1935 die Freilassung der inhaftierten Pfarrer an; vgl. dazu CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band II: 1934/35. München 1975, S. 315f. Zu denjenigen, die Fürbitte für die hessen-nassauischen Pfarrer geleistet hatten, gehörte auch der "nichtarische" sächsische Pfarrer Ernst Lewek (vgl. dazu E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden, Bd. 3/1 [Aran. 39], S. 300-315).

95 Versandt mit Schreiben vom 8.11.1937 an die angeschlossenen Kirchenregierungen und Landesbruderräte (LKA OLDENBURG, Präsidium der Bekenntnissynode).

Die Fürbittenlisten der B K 1935-1944

295

stischen Weltanschauung als Bedrohung, ja als Zumutung empfanden. Mit der namentlichen Fürbitte wurde zumindest eine begrenzte Öffentlichkeit für die Betroffenen hergestellt, und somit konnten die Fürbitten auch als bescheidenes Druckmittel gegenüber dem Staat eingesetzt werden 96 . Die Praxis der Fürbitte konnte, vielleicht abgesehen von den Gottesdiensten für Martin Niemöller, nicht die Qualität eines öffentlichen Fanals gegen das Regime erreichen, aber sie war eine kirchliche Demonstration gegen den Unrechtsstaat 97 .

96

Im Zusammenhang mit der in Aussicht stehenden Wahl einer Generalsynode nach dem Erlaß Hitlers vom

15.2.1937 übersandte die V K L II Reichsminister Rudolf Heß am

19.2.1937 eine Liste "der zur Zeit staatlicherseits gemaßregelten Pfarrer und Gemeindeglieder, deren die Kirche jeden Sonntag fürbittend gedenkt", mit der Bitte, "die Aufhebung der gegen die genannten Personen verhängten Maßnahmen unverzüglich anordnen zu wollen" (EvAG MÜNCHEN, Ordner: Fürbittelisten, Korrespondenz etc.). 97

Vgl. dazu E . LERCH, Obrigkeit (Anm. 59), S. 58-63.

Heiner Faulenbach EIN BRIEF VON OTTO OHL AN HEINZ DUNGS Der in Mülheim a.d. Ruhr wirkende DC-Pfarrer Heinz Dungs schrieb am 15. März 1935 an den geschäftsführenden Direktor des Rheinischen Provinzial-Ausschusses für Innere Mission, D.i Otto Ohl? in Langenberg: Im Blick auf den bevorstehenden Volkstag der Inneren Mission^ bitte er um Verständnis, wenn er sich als Leiter der Gaupressestelle der Deutschen Christen und als Schriftleiter des rheinischen DC-Sonntagsblattes "Der Weckruf" in Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Jahres, speziell im Blick auf die kirchenpolitische Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Verbände und Verbände nicht mit der gleichen Freudigkeit einsetzen könne wie im Vorjahr. Trotzdem habe er sich entschlossen, sowohl in seiner Mülheimer Gemeinde als auch im "Weckruf" für die große Aufgabe der Inneren Mission einzutreten. Er möchte jedoch zuvor von Ohl in Erfahrung bringen, "wie die verantwortlichen Führer der rheinischen Inneren Mission zu den bekannten Vorgängen stehen". Außerdem bittet er Ohl, der in der Krefelder Lokalausgabe des "Weckruf" für den Volkstag 1934* einen Artikels verfaßte, erneut um einen Beitrag im Blick auf 1 2

Lic.theol. h.c. am 1.8.1923 und Dr. theol. h.c. am 25.6.1930, beides in Bonn (vgl. Album promotorum der Ev.- theol. Fakultät Bonn). Eine Ohl-Biographie ist angesichts der Bedeutung seiner Tätigkeiten z.B. als Bundesagent des Ostdeutschen Jünglingsbundes 1911/12, als Vereinsgeistlicher des Rheinischen Provinzialausschusses für Innere Mission ab 1912, als stellvertretender Präsident des Central-Ausschusses für Innere Mission ab 1934, als Vorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft ab 1949, als 1. Vorsitzender der Diakonischen Konferenz ab 1957 und Vizepräsident des Diakonischen Rates dringend erforderlich. Vgl. Pfarrerkartei und Personalakte Ohl (LANDESKIRCHLICHES ARCHIV DÜSSELDORF [ i m f o l g e n d e n : L K A DÜSSELDORF]) s o w i e die i h m

gewidmete Festschrift WERK UND WEG. Erstrebtes und Erreichtes auf dem Arbeitsfeld der Inneren Mission. Essen 1952, erweiterte Neuauflage Essen 1986 u.a. mit dem kleinen Beitrag von FRIEDRICH MÜNCHMEYER über Ohl, entnommen aus: THEODOR SCHOBER (Hg.): Haushalterschaft als Bewährung des christlichen Glaubens. Gnade und Verpflichtung. Ludwig Geißel zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1981, S. 434-438. 3

Der zweite Volkstag der Inneren Mission war am 14.4.1935 (vgl. JK 3, 1935, S. 338f., 581).

4

Z u m e r s t e n V o l k s t a g a m 1 4 . / 1 5 . 4 . 1 9 3 4 vgl. J K 2 , 1934, S. 2 8 7 - 2 8 9 , 3 8 7 ; D E R WECKRUF, J g . 2 , N r . 15 v o m 1 5 . 4 . 1 9 3 4 , S. 194.

Ein Brief von Otto Ohl an Heinz Dungs den V o l k s t a g

1 9 3 5 d e r Inneren Mission. A u c h

solle O h l

297 ihm

weitere

geeignete M i t a r b e i t e r , die allerdings nicht "aus d e m Lager der Bekenntnisf r o n t " k o m m e n d ü r f e n , f ü r den "Weckruf", der m i t elf l o k a l e n Sonderausgaben die gesamte K i r c h e n p r o v i n z erreicht, e m p f e h l e n 6 . O h l v e r f a ß t e u m g e h e n d seine A n t w o r t . A m 16. M ä r z 1 9 3 5 brachte er den hier p u b l i z i e r t e n langen Brief zu Papier. Dieses Schriftstück ist unabhängig v o m k o n k r e t e n A n l a ß als Selbstzeugnis ü b e r O h l s kirchenpolitische H a l t u n g w ä h r e n d des "Dritten Reiches" zu v e r s t e h e n 7 . In der Forschung, die dieses S c h r i f t s t ü c k bisher nicht berücksichtigt hat, ist die z u n e h m e n d e

Distanz

O h l s z u m "Dritten Reich" beachtet w o r d e n 8 . O h l s Brief hat einen eigen5

Ohl äußerte sich zum aktuellen Thema "Was will der Volkstag der Inneren Mission"; vgl. Anm. 22 und den Brief von H. Dungs an Ohl vom 23.3.1935 (ARCHIV DER E v . - L U T H . KLRCHE IN THÜRINGEN [im folgenden: LKA EISENACH], Akten der DC-Presse- und Nachrichtenstelle in Weimar, C V 4). In "Ziele und Wege. Monatsschrift des Westfälischen Provinzialverbandes für Innere Mission", Jg. 10, H. 1/2, 1934, S. 14-21, schrieb OHL unter dem Titel "Zur Besinnung auf die Grundlage unserer Arbeit", daß diese auch "in einer Zeit, die, wie die gegenwärtige, radikal und revolutionär alles in Frage" stelle, nur einem stehe und falle: unserem Herrn. Die Form der Arbeit sei zeitgebunden, der Auftrag' der Inneren Mission aber ewig. Es komme darauf an, daß Gottes Wort Tat werde. Eindeutig formuliert er, daß die Innere Mission niemanden und nichts aufgeben müsse, daß es keine unverbesserlichen Fälle, keine rettungslos Versinkenden, keine Unheilbaren gebe, deren Seele und Leben Gott nicht mit Frieden, Freude und Seligkeit füllen wolle. Das ist Ohls Stellung zum "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14.7.1933, das er auf der Linie von Forderungen sieht, die seit 15 Jahren aus Kreisen der Inneren Mission erhoben wurden; vgl. "Der Weckruf" 2, 1934, S. 232. In einem "im Juni 1934" datierten Brief an die evangelischen Pfarrämter im Rheinland (LKA DÜSSELDORF, Akte Ohl) schreibt Ohl u.a.: "Die völlige Umstellung, die, wie auf politischem, sozialen und kulturellen Boden, so auch auf dem Gebiet der fürsorgerischen Arbeit sich vollzogen hat, ist nicht nur eine organisatorische. Sie treibt stark in die weltanschauliche Erfassung der Probleme hinein. Es ist deutlich, daß organisatorisch unsere Arbeit und Arbeitsform mancherlei Veränderungen unterliegen wird. Es ist aber ebenso deutlich, daß die verantwortlichen Kreise der Staatsführung mit einem vollen Einsatz der in der Inneren Mission lebendigen Kräfte rechnen. Er kann nur geleistet werden aus der Besinnung auf die Wurzeln und Kräfte, aus denen alle evangelische Liebesarbeit erwächst". Ohl übersieht, daß seine Unterscheidung zwischen der Arbeitsform und dem Arbeitsauftrag von einer ideologisch verblendeten Staatsführung nicht geteilt werden konnte. Ohls positive Einstellung zur Staatsführung bedingt seine Fehleinschätzung der Bedeutung des Erbgesundheitsgesetzes bzw. seiner Umsetzung durch den Nationalsozialismus.

6

LKA EISENACH, Akten der DC-Presse- und Nachrichtenstelle in Weimar, B 2: Pressestelle Rheinland - Der Weckruf - Mitarbeit 1934/35. EBD., DC- Presse- und Nachrichtenstelle in Weimar, C V 4 d, Kirchenpolitisches Archiv/Rheinland. Vgl. über das Register die Belege zu Ohl bei JOCHEN-CHRISTOPH KAISER': Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914-1945. München 1989. KAISER bringt S. 227, vgl. S. 229f., einen Auszug aus einem Vortrag von Ohl aus

7 8

298

Heiner Faulenbach

ständigen Wert; dies insbesondere dadurch, weil er eine zeittypische, vermittelnd-aktive, neutral wirkende Haltung in der Mitte zwischen den Kirchenparteien zu begründen versucht, ohne daß diese öffentlich vorgetragen wurde. Ohls Antwortschreiben an Dungs lautet: "Sehr verehrter Herr Kollege! Nehmen Sie verbindlichen Dank für Ihr Schreiben, das heute hier eingeht. In erster Linie danke ich Ihnen natürlich sehr herzlich für Ihre Bereitschaft, uns in der Durchführung des Volkstages sowohl in Ihrer Gemeinde wie in der Provinz durch Ihr Blatt tatkräftig zu vinterstützen. Besonders dankbar bin ich Ihnen aber auch dafür, dass Sie so offen mich Einblick gewinnen lassen in die Bedenken, die Sie zu überwinden hatten. Ich will Ihnen darum ebenso offen auf Ihre Frage antworten mit der herzlichen Bitte, dass es bei dieser Offenheit zwischen uns bleiben möge. Es liegt, glaube ich, viel daran, dass in unseren Tagen Menschen, die einander aus früherer (durch kirchenpolitische Kämpfe noch nicht vergifteten) Zeit kennen, das Vertrauen zueinander behalten, dass sie offen miteinander reden können und dass sie, wenn auch vielleich garnicht Zustimmung, so doch Verständnis bei dem anderen finden für die Lauterkeit des Willens und der Gedanken, die die eigene Haltung bestimmt. Ich leide, gerade als Arbeiter der Inneren Mission natürlich sehr stark darunter, dass unsere Kirche durch ihren Bruderkampf sich der Möglichkeit einer tatkräftigen Einflussnahme auf die Gestaltung deutschen Lebens und deutschen Wesens in dieser Umbruchzeit beraubt hat und fort und fort beraubt. Aber daneben macht mir am meisten innerlich zu schaffen etwas, was ich als einen moralischen Zusammenbruch empfinde, im wesentlichen innerhalb unserer Pfarrerkreise. In meine Studienzeit 9 ragte noch die üble Methode des Kampfes zwischen positiver und liberaler Theologie hinein: die Methode, dass man den theologischen Gegner moralisch verdächtigte und disqualifizierte. Diese üblen Reminiszenzen tauchen jetzt in dem kirchenpolitischen Kampf wieder in der hässlichsten Form auf. Das empfinden viel mehr Menschen auch unter den Laien, als wir vielleicht glauben. Sie sehen in diesen Kampfmethoden dann nicht, wie manche der Kämpfer gern möchten, die Forschheit des Angriffs; sie sehen kaum mehr, dass es letzten Endes um die Wahrheitsfrage geht, sondern sie sehen nur die ethische Haltung der kämpfenden Brüder gegeneinander und empfinden den Widerspruch zwischen Verkündigung des Evangeliums und dieser Haltung gegenüber den Brüdern. Weil mir das viel Not macht, begrüsse ich immer wieder mit herzlicher Freude die Fälle, in denen das offene Wort gegeneinander gesprochen werden kann in

dem Februar 1935 zum Abdruck, der seine anfängliche pro-nationalsozialistische Einstellung erkennen läßt. KAISER sieht richtig, daß Ohl seine Kritik am Nationalsozialismus nicht öffentlich bekundete. 9

Ohl studierte in Tübingen SS 1904-WS 1904/05, Berlin SS 1905-WS 1905/06 und Bonn SS 1906-SS 1907.

Ein Brief von Otto Ohl an Heinz Dungs

299

der Hoffnung, dass der andere, wenn auch nicht Zustimmung, so doch Verständnis findet für das ehrliche Wollen. Und [ich] möchte immer gern hoffen, dass diese Fälle nicht nur wie ein Rest aus vergangenen Tagen sind, sondern wie ein Anfang neuer Gemeinschaftsbildung unter uns Theologen. Sie werden verstehen, dass ich diese Offenheit Ihnen persönlich gegenüber zeigen möchte: dem Pastor Heinz Dungs, mit dem ich mich durch mancherlei gemeinsame Arbeit, nicht zuletzt durch die Sorge um die evangelische Kirche am Rhein herzlich verbunden weiss, nicht aber dem Kirchenpolitiker, nicht dem Redakteur eines kirchenpolitisch bestimmten Sonntagsblattes. Sie verstehen, was ich damit sagen will. Meine Offenheit soll Ihnen persönlich sagen und zeigen, wie ich zu den Dingen stehe; soll, wie ich hoffe, Ihnen das gute Gewissen geben, dass Sie sich für den Volkstag der Inneren Mission und für die Innere Mission, wie ich sie meine, einsetzen können und dürfen - ich bitte sie aber [, dies] als eine vertrauliche Aeusserung Ihnen gegenüber zu betrachten und zu achten. Sie sollte nicht in die kirchenpolitische Diskussion mithineingezogen werden, in der heute jedes Wort so leicht missverstanden und dann nur zu leicht verändert kolportiert wird und schliesslich anstatt seinen Zweck, Brücken zu schlagen (zu "sammeln und nicht zu zerstreuen"), zu erfüllen, verwendet wird, um Gräben zu ziehen, Misstrauen zu säen, usw. konkreter gesprochen, ich darf Sie bitten, dies als persönlich anzusehen und nicht zu irgend welchen Veröffentlichungen zu benutzen. Sie fragen, wie die verantwortlichen Führer der rheinischen Inneren Mission zu den bekannten Vorgängen ständen, und denken dabei besonders an die kirchenpolitische Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Verbände 10 . Ich denke, Sie wissen um meine Stellungnahme bezügl. der Haltung der Inneren Mission gegenüber dem kirchenpolitischen Kampf. Ich habe mir persönlich völlige Zurückhaltung auferlegt. Ich habe keiner kirchenpolitischen Gruppe mich verschrieben oder angehört; nicht aus einer Gleichgültigkeit gegenüber den grossen schweren Fragen und Problemen, um die es da geht, aber in der Meinung, dass mir meine Stellung die Verpflichtung auferlegt, von der Inneren Mission die Zerrissenheit fernzuhalten, die unsere Kirche aufspaltet. Nicht weil der Inneren Mission diese Kämpfe gleichgültig wären oder weil sie sie gar für unnötig hielte, aber weil sie um ihres Auftrages willen an den Hilfsbedürftigen Möglichkeit und Raum schaffen muss, dass auf ihrem Boden Persönlichkeiten aus den verschiedenen Lagern sich zu gemeinsamer Arbeit finden; dass sie darum ihren führenden Persönlichkeiten in den einzelnen Provinzen und am einzelnen Ort am besten eine Zurückhaltung von der eigenen Aktivität im kirchenpolitischen Kampf nahelegen muss. Das ist meine Einstellung gewesen und darum habe ich diese Zurückhaltung mir zunächst selbst auferlegt. 10 Vgl. das Schreiben der obersten Führer der missionarischen und diakonischen Verbände an Reichsbischof L. Müller vom 15.9.1934: J K 2, 1934, S. 958 f.; JOACHIM GAUGER (Hg.): Chronik der Kirchenwirren Bd. E. Elberfeld 1935, S. 309, 311.

300

Heiner Faulenbach

Ich habe bei meinen Spezialkollegen in anderen Landesteilen und Provinzen auch meine Beobachtungen machen können. Es sind darunter solche, die sich zunächst sehr aktiv in den Kampf hineingestellt haben, die dann aus dem einen in das andere Lager hinübergewechselt sind. Ich habe gesehen, wie diese Haltung das Bemühen, das Arbeitsfeld der Inneren Mission beiden Gruppen zu vertrauenvoller Zusammenarbeit offenzuhalten, sehr erschwert hat. So bin ich bis zur Stunde dem kirchenpolitischen Kampf ferngeblieben und habe mich für den Versuch vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen den Lagern eingesetzt. Nicht nur hier im Rheinland, sondern auch in der gesamten Inneren Mission. Es hat Zeiten gegeben, in denen der Kreis, der mit mir dieses Ziel verfolgte, nur noch aus ganz wenigen bestand11. Darunter Persönlichkeiten, die aus beiden Lagern kamen. Das, was unser persönliches Anliegen zu sein scheint, hat dann der Central-Ausschuss bei der Neubildung seines Vorstandes 12 sich zur Richtschnur gemacht. Die erste Sitzung des neuen Vorstandes13 begann mit einer gemeinsamen Morgenandacht mit der ganzen Gefolgschaft. Dabei sprach Bodelschwingh über das Wort aus dem PhilipperBrief: "Wenn nur Christus gepredigt wird, so will ich mich freuen" 14 . Er konnte der Gefolgschaft gegenüber aussprechen, dass sich in diesem neuen Vorstand Männer zusammenfänden 15 , die im kirchenpolitischen Kampf mit ihrem Herzen vielleicht in sehr verschiedenen Lagern ständen, die aber dennoch den Versuch machen wollten zu gemeinsamer Arbeit an den Aufgaben der Inneren Mission. In diesem Bewusstsein: "Wenn nur Christus gepredigt wird, so will ich mich freuen". Die Zusammenarbeit in dem Vorstand, die Zusammenarbeit in den Geschäftsführerkonferenzen hat inzwischen bewiesen, dass wir an grossen gemeinsamen Aufgaben in innerster Gemeinschaft miteinander arbeiten können, auch wenn wir kirchenpolitisch uns verschieden orientiert haben. Nun hat man im Lager der Deutschen Christen an der Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Verbände stark Anstoss genommen. Ich persönlich gehöre, in Konsequenz meiner grundsätzlichen Haltung, der Arbeitsgemeinschaft nicht an. Aber ich habe trotzdem ihre Bildung zunächst sehr begrüsst. Sie ist geschaffen worden in einem ausserordentlich kritischen Zeitpunkt. Als die Dahlemer Botschaft von jedem Angehörigen der Bekenntnisfront den Abbruch der persönlichen und Arbeitsbeziehungen zu dem anderen Lager forderte 16 , war eine überaus schwierige Situation geschaffen für die Persönlichkeiten in der Inne11 12 13 14 15

Vgl. J.-C. KAISER, Protestantismus (Anm. 8), S. 249f., 261, 268, 275, 284, 293f., 297, 300. Vgl. EBD., S. 309-315. Neukonstituierung am 18.12.1934 (vgl. EBD., S. 311. Vgl. Phil 1, 18. Zum neuen Vorstand unter Constantin Frick gehörte auch Ohl; vgl. J.-C. KAISER, Protestantismus (Anm. 8), S. 314. 16 Vgl. K U R T DIETRICH SCHMIDT (Hg.): Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage. Bd. 2: Das Jahr 1934. Göttingen 1935, S. 159f.

Ein Brief von Otto Ohl an Heinz Dungs

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ren Missions-Arbeit, die zur Bekenntnisfront gehörten. Sie sahen sich zweifellos vor die Forderung gestellt, hier Disziplin zu halten. Das aber hätte einen völligen Riss mitten durch alle Arbeit der Inneren Mission bedeutet, deren einzelne Arbeitsstellen doch auf Hand-in-Hand-Arbeiten angewiesen sind; deren Anstalten, auch wenn sie von einem Mann der Bekenntnissynode geleitet sind, doch das dringende Interesse haben müssen, über ihre Patienten und Zöglinge sich mit dem Pfarrer des Pfarrbezirks, aus dem der Betreffende stammt, zu verständigen und zu unterhalten, auch wenn dieser Pfarrer im anderen Lager steht. Aus der Erkenntnis dieser grossen Gefahr hat Bodelschwingh die Arbeitsgemeinschaft gebildet 17 . Sie sollte die umfassen, die sich innerlich zur Bekenntnissynode gehörig 18 fühlten, auch ihr kirchenpolitisches Anliegen dort im wesentlichen vertreten sahen, die aber diese Methode des kirchenpolitischen Kampfes, bei der jede Beziehung zur anderen Seite abgebrochen wird, um ihrer Arbeit willen nicht auf sich nehmen wollten. Sie war also zweifellos in dem Augenblick, in dem sie gegründet wurde, als ein Instrument der Befriedung und der Verhinderung weiterer Aufspaltung gedacht. Wir haben sie darum begrüsst und verdanken ihr wesentlich mit, dass die Durchführung des genannten scharfen Dahlemer Beschlusses für den Bereich der Inneren Mission unterblieb. Dass mir persönlich eine Festlegung der Arbeitsgemeinschaft auf völlige Zurückhaltung aus dem kirchenpolitischen Kampf lieber gewesen wäre, brauche ich Ihnen nach den obigen Darlegungen nicht zu versichern. Sie wäre aber wohl kaum zu erreichen gewesen, ohne dass einzelne Gebiete (geographisch und arbeitsmässig gesehen) sich dann restlos auch den Kampfmethoden der Dahlemer Beschlüsse angeschlossen hätten. So musste man wohl damit zufrieden sein, dass wenigstens die Inneren MissionsAnstalten und Verbände, die sich zur Bekenntnisfront zählten, von der Schärfe dieses Kampfes abrückten. Es wird Ihnen wohl nicht leicht, die Dinge unter diesem Gesichtspunkt zu sehen und doch darf ich Sie bitten, es einmal zu versuchen und dazu bitten, die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft gegenüber der Persönlichkeit des Reichsbischofs nicht so schwer zu nehmen 19 . Es ist ja doch kein Geheimnis, dass auch führende Persönlich-

17 Gegründet am 24./25. 10. 1934 in Hannover; vgl. JK 2, 1934, S. 973; J.-C. KAISER, Protestantismus (Anm. 8), S. 307; DERS.: Die Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände 1934/35. In: JVWKG 80, 1987, S. 201f. 18 Vgl. auch das "Wort der deutschen evangelischen Mission zur gegenwärtigen Stunde" vom 23.10.1934. In: WILHELM NLEMÖLLER: Die evangelische Kirche im Dritten Reich. Handbuch des Kirchenkampfes. Bielefeld 1956, S. 326-328. 19 Mit anderen hatte die Arbeitsgemeinschaft am 6.11.1934 November 1934 unter Bezug auf ihr Schreiben vom 15.9.1934 den Reichsbischof zum Rücktritt aufgefordert; vgl. K.D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1934 (Anm. 16), S. 163-165; J . GAUGER, C h r o n i k II ( A n m . 10), S. 365-367.

302

Heiner Faulenbach

keiten Ihrer Bewegung davon überzeugt sind, dass ein Wechsel auf diesem Posten dringend erwünscht wäre. Alles in allem: es ist mir natürlich völlig deutlich, dass der Versuch, die Innere Mission ganz aus dem kirchenpolitischen Kampf herauszuhalten oder sie zum mindesten von den schärfsten Kampfesmethoden zurückzuhalten, nur auf absehbare Zeit durchgeführt werden kann. Ob es möglich sein würde, eine einheitliche Innere Mission zu erhalten, wenn wir mit einer in zwei Teile aufgespaltenen Kirche als endgültigen Zustand rechnen müssten, ist mehr als fraglich. Vorläufig aber hoffen wir doch auf eine Vermeidung solcher Aufspaltung, hoffen doch auf eine Beendigung des Kampfes 20 , bei dem es, das habe ich wieder und wieder ausgesprochen, m.E. keine Sieger und Besiegte geben kann; bei dem nicht die eine Gruppe restlos Recht behält und behalten kann gegenüber der anderen, die restlos ins Unrecht gesetzt würde; bei dem vielmehr beide sich besiegt geben müssen und nur einer Sieger bleiben kann: der Herr, der seine Kirche bauen will. Und weil ich die Hoffnung darauf noch nicht aufgeben kann und will, möchte ich in der Inneren Mission die Möglichkeit offen halten, und wenn nötig, wieder schaffen, dass die Brüder aus den getrennten Lagern sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden; dass in solcher Zusammenarbeit der eine den anderen kennen lernt auf einem Gebiet, auf dem es nicht um Formulierungen, sondern um Taten der Liebe geht. Verzeihen Sie, dass ich so weit ausgeholt habe. Mit einer kurzen Antwort aber hätte ich kaum sagen können, was ich Ihnen in aller Offenheit sagen wollte. Noch einmal: es ist für Sie bestimmt und nicht für eine Veröffentlichung. Aber es soll das Band, das zwischen uns bestanden hat, wiederum fest knüpfen. Es geht um unseren gemeinsamen Dienst an unserer Kirche. Und nun zu Ihren anderen Fragen: gern bin ich bereit, Ihnen einen Artikel zu schreiben. Sollte es mir wider Hoffen und Erwarten nicht möglich sein, ihn bis zum 3. April Ihnen zu liefern - die Zeiten sind sehr unruhig und voller Arbeit, dann bitte ich, den Aufsatz aus dem vergangenen Jahr 2 1 ruhig noch einmal abzudrucken 22 . Sie fragen mich aber auch nach anderen Mitarbeitern: Ich glaube, dass Sie bei nachstehenden Herren nicht vergeblich anfragen würden (sie sind ausgesucht unter dem von Ihnen erbetenen Gesichtspunkt): Lic. Dr. Gerhardt, Kaiserswerth, Diakonissenanstalt. Pfarrer Weinsheimer, W.-Elberfeld, Genügsamkeitsstr. 3. 20 Ohl übergeht den in voller Entfaltung stehenden Kampf gegen das "Neuheidentum". Vgl. die Eingabe des Bruderrates der Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Werke und Verbände in der DEK vom 23.3.1935 an den Reichsinnenminister. In: JOACHIM BECKMANN (Hg.): Briefe zur Lage der evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland. Neukirchen-Vluyn 1977, S. 301 f.; J. GAUGER, Chronik II (Anm. 10), S. 493. 21 Vgl. Anm. 5. 22 Ein neuer Aufsatz ist im "Weckruf" nicht erschienen, so folgte Dungs dem Vorschlag eines Neuabdrucks (vgl. DER WECKRUF, Kölner Ausgabe, Jg. 3, Nr. 15 vom 14.4.1935, S. 232f.).

Ein Brief von Otto Ohl an Heinz Dungs

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Pfarrer Eichholz, Aachen. Pfarrer Dr. Kühler, Köln, Hohenstaufenring 47. Pfarrer Hennes, Koblenz. Sie sind nicht nur warmherzige Freunde der Inneren Mission, sondern Kenner ihres Wesens und ihrer Arbeit und sie stehen z.T. kirchenpolitisch Ihrer Gruppe 23 nahe, oder werden auch ohne das zur Mitarbeit 24 bereit sein. 23 MARTIN GERHARDT, ausgewiesener Kenner der Geschichte der Inneren Mission, war deutschchristlich orientiert; er sprach auf der theologischen Tagung der Reichsbewegung Deutsche Christen (Berliner Richtung), 21.-23.10.1935, in Wittenberg über "Das kirchliche Erbe des 19. Jahrhunderts". Der Vortrag wurde publiziert in: Evangelische Theologie vor deutscher Gegenwart (Kirche und Bewegung und Entscheidung. Schriftenreihe der Deutschen Christen im Rheinland, hg. von Pfarrer Friedrich Grünagel, Aachen, Heft 24), Bonn 1935, S. 13-28; vgl. J K 3, 1935, S. 992, 1042f. Auch GERHARDTS Schriften "Volksmission im Geiste Wicherns" (Bonn 1934) und "Zur Vorgeschichte der Reichskirche. Die Frage der kirchlichen Einigung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert" (Bonn 1934) erschienen in der gleichen Schriftenreihe. Im Sommersemester 1937 wurde Gerhardt als Dozent zunächst mit der Verwaltung der kirchengeschichtlichen Professur in Göttingen beauftragt; diese Stelle war nach dem Wechsel von Emanuel Hirsch auf den Lehrstuhl für "Systematische Theologie und Geschichte der Theologie" durch Georg Wobbermins Weggang nach Berlin vakant. Ein Jahr später war Gerhardt als ordentlicher Professor regulärer Lehrstuhlinhaber; vgl. J K 5, 1937, S. 415; J K 6, 1938, S. 124; INGE MAGER: Göttinger theologische Promotionen 1933-1945. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993, S. 349f. - Heinrich Weinsheimer war Deutscher Christ; vgl. GÜNTHER VAN NORDEN (Hg.): Kirchenkampf im Rheinland. Die Entstehung der Bekennenden Kirche und die Theologische Erklärung von Barmen 1934 (SVRKG. 76). Köln 1984, S. 90. - Zu den D C gehört auch der PG Walter Wilhelm Eichholz. Er wendet sich 1936 der Bekennenden Kirche zu; vgl. HERMANN KORTH (Hg.): Gemeinde Aachen im Dritten Reich. Sitzungsprotokolle der kirchlichen Körperschaften von 1933-1943 (SVRKG. 58). Köln 1980, S. 100 -102, 221f., 226; JOACHIM BECKMANN (Hg.): Karl Immer, Die Briefe des Coetus reformierter Prediger 1933-1937. NeukirchenVluyn 1976, S. 251-253. - Der fünfundzwanzigjährige Hilfsprediger Dr. phil. Johannes [gerufen: Hans] Friedrich Benjamin Kühler war ab 1.9.1933 in Köln tätig. Er wurde alsbald durch die Deutschen Christen zum Leiter des Jugend- und Wohlfahrtamtes der Ev. Kirche in Köln gemacht. Die Kölner Diakonie leitete Kühler nach dem Führerprinzip, und mit anderen setzte er sich für die Eingliederung der evangelischen Jugend in die HJ ein. Nach eigenen Angaben gehörte Kühler weder der NSDAP noch einer ihrer Organisationen an. Auch war er kein Mitglied bei den Deutschen Christen. Im Jahr 1937 wurde gegen ihn aufgrund des "Heimtückegesetzes" vom 20.12.1934 ein Strafverfahren eingeleitet, weil er in einer Predigt über Matth 16, 1-4 geäußert haben soll, die Zeit werde kommen, da das Wort Gottes nicht mehr von den Kanzeln gepredigt, die Kirchen geschlossen und das deutsche Volk genauso wie das jüdische in alle Welt zersplittert würde. Kühler machte zu seiner Verteidigung glaubhaft, daß er lediglich Äußerungen aus Luthers Tischreden angeführt habe mit dem Hinweis, das dessen Prophezeiung noch nicht eingetreten sei. Das Verfahren gegen Kühler wurde am 20.10.1937 mit einer Verwahrnung abgeschlossen, da ihm staatsfeindliche Äußerungen nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden konnten; vgl. LKA DÜSSELDORF, Pfarrer-

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Heiner Faulenbach

Mit herzlichem Gruss und Heil Hitler [gez.] Ihr Otto Ohl" Mit einem Brief vom 23. März 1935 bedankte sich Dungs bei Ohl für dessen "wertvolle Ausführungen" 2 5 . Dungs geht nicht näher auf Ohls Einlassungen und Haltung ein. Er versprach jedoch, die Möglichkeiten des "Weckruf" voll und ganz für den Volkstag der Inneren Mission einzusetzen. Zu seiner eigenen Haltung bemerkt er allerdings, daß er sich "nie als Kirchenpolitiker bezw. Redakteur eines kirchenpolitisch bestimmten Sonntagsblattes empfunden habe". Er ist Meinung, mit dem "Weckruf" ein gemeindegemäßes Sonntagsblatt zu schaffen, "das um eine neue Haltung in der Ausrichtung auf die Bedürfnisse, vor allen Dingen auch unserer Männerwelt, ringt". Es gehe ihm "um die positive Herausstellung des Geistes eines männlichen, volksverbundenen und zeitnahen Christentums". Kirchenpolitik schlage sich in seinem Blatt nur aufgrund "der Entwicklung des in seinen Methoden so hässlichen und unglücklichen Kirchenkampfes" nieder. Dungs möchte mit seinem Blatt "vor allen Dingen positiv in Erscheinung treten". Daher hofft er auf den Tag, der die Möglichkeit zu sachlicher Arbeit wiederbringt. Die beiden referierten Briefe von Dungs führen vor die noch einer klärenden Untersuchung harrende Frage nach der von ihm betriebenen deutsch-christlichen Pressepolitik, den Intentionen, tatsächlichen Inhalten, möglicher Wandlung seiner Einstellung und dem ihm zu Gebote stehenden Mitarbeiterkreis. Mag es so scheinen, daß Dungs sich in diesen beiden an Ohl gerichteten Briefen zurückhaltend und gemäßigt äußert, von Weimar aus propagierte er später als Leiter der Nachrichtenstelle der Thüringer Landeskirche radikale nationalkirchliche Parolen. kartei; HAUPTSTAATSARCHIV DÜSSELDORF, Bestände NW 1049-21835 und Gerichte Rep. 12/10792: Entnazifizierungsakte und Sondergerichtsakte Kühler; G. VAN NORDEN, Kirchenkampf, S. 113, 291f.; HANS PROLINGHEUER: Der vergessene Diakoniepfarrer [Ludwig Friedrich Fuckel]. In: "Der Weg", Kölner Ausgabe, Nr. 1/2, 9.1.1983. - Fritz Hennes war ebenfalls DC-Mitglied; vgl. G. VAN NORDEN, Kirchenkampf, S. 45. 24 DUNGS gibt in seinem Brief vom 23.3.1935 (vgl. Anm. 6) zu erkennen, daß er Lic.Dr. Gerhardt "um einen Aufsatz über Führerpersönlichkeiten der Inneren Mission" und Pfarrer Weinsheimer um einen Beitrag bitten will. Tatsächlich erschien im "Weckruf" (Jg. 3, Nr. 15 vom 14.4.1935, S. 229-231) von GERHARDT, der den Lesern als "Sachbearbeiter für Fragen der Inneren Mission im Gauarbeitsstab der Deutschen Christen, Gau Rheinland," vorgestellt wird, der Beitrag "Die Väter der Inneren Mission". Wichern wird von GERHARDT "als ein echter Vorläufer des Nationalsozialismus" angesehen! 25 Fundort vgl. Anm. 6.

Thomas Martin Schneider KOLLABORATION ODER VERMITTLUNG IM DIENSTE DES EVANGELIUMS? Zum Verhältnis Friedrich von Bodelschwinghs zum Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten Friedrich von Bodelschwingh (junior) ist vor allem als erfolgreicher und beliebter Leiter der Betheler Anstalten - als Nachfolger seines Vaters -, als engagierter Verfechter der Sache der während der Zeit des Nationalsozialismus vom Tode bedrohten Behinderten und der Inneren Mission, als "diakonischer Glaubenszeuge" (Karl Heinz Neukamm) bekannt gewordenn.i Außerdem stand er als designierter Reichsbischof im Mai/Juni 1933 "Dreißig Tage an einer Wegwende deutscher Kirchengeschichte"2. Durch seine - rechtlich nicht ganz einwandfreie - Nominierung zum obersten Repräsentanten des deutschen Protestantismus hatten die Vertreter der Landeskirchen versucht, einer drohenden nationalsozialistischen bzw. deutschchristlichen Gleichschaltung der evangelischen Kirche zuvorzukommen*. Weniger bekannt ist, daß Bodelschwingh auch noch nach seinem erzwungenen raschen Abtritt von der kirchenpolitischen Bühne - auf die er sich nicht gedrängt hatte und auf der er sich wohl auch nicht so recht wohl fühlte 1

Zu Leben und Werk Bodelschwinghs vgl. MANFRED HELLMANN: Friedrich von Bodelschwingh d. J. - Widerstand für das Kreuz Christi. Wuppertal und Zürich 1988 (Taschenbuchausgabe 1990) und vor allem WILHELM BRANDT: Friedrich v. Bodelschwingh 1877-1946. Nachfolger und Gestalter Bielefeld-Bethel 1967 (unveränderter Nachdruck 1984). Zu Bodelschwinghs Persönlichkeit vgl. auch CARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER: Fritz von Bodelschwingh. In: Joel Pottier (Hg.): Christen im Widerstand gegen das Dritte Reich. Stuttgart und Bonn 1988, S. 94-100. Weitere Literaturangaben BBKL Bd. 1, 1975, Sp. 649651.

2

So der Titel eines von Bodelschwingh in Ebenhausen verfaßten unveröffentlichten Manuskripts über diese Zeit, das vom 29. Oktober 1935 datiert ist (HAUPTARCHIV BETHEL [im folgenden: H A BETHEL], E 17).

3

Vgl. hierzu KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934. Frankfurt am Main und Wien 1977, S. 388-452 und KURT MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 1: Der Kampf um die "Reichskirche". 2. Aufl. Halle (Saale) und Göttingen 1984, S. 90-108.

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Thomas Martin Schneider

- kirchenpolitisch sehr aktiv war. Er reiste des öfteren zu Verhandlungen mit führenden Staatsvertretern nach Berlin4, traf sich u.a. mit Vizekanzler Franz von Papen5, Reichsinnenminister Wilhelm Frick6, Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk7, Staatsminister Otto Meißner8 und Gestapo-Chef Rudolf Diels9. Auch mit führenden Vertretern der von den Deutschen Christen beherrschten Reichskirche führte er Gespräche10, sogar mit Ludwig Müller, seinem "Gegenspieler" und Nachfolger im Amte des Reichsbischofs11. Besonders intensiv scheinen die - bislang noch nicht erforschten - Kontakte Bodelschwinghs zu dem im Sommer 1935 als Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten eingesetzten Hanns Kerrl 12 gewesen zu sein. Zwischen Ende August 1935 und Anfang Dezember 1937 kamen die beiden Männer mindestens sechsmal zu z.T. mehrstündigen Unterredungen 4 5 6 7 8

9

Vgl. die Briefkonzepte Bodelschwinghs an Heise, 31.10.1934; an Jasper, 5.3.1935; an Vietor, 6.5.1935 (sämtlich HA BETHEL, 2/39-35). Vgl. Bodelschwingh an Schulz, 15.1.1934, Konzept (HA BETHEL, 2/39-44). Vgl. die Briefkonzepte Bodelschwinghs an Braune, 12.10.1934; an Buttmann, 20.4.1935 (beide HA BETHEL, 2/39-35). Vgl. Bodelschwingh an Pastor Frick, 6.4.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-183). Vgl. die Aufzeichnungen Bodelschwinghs über das Gespräch am 25.4.1938 (HA BETHEL, 2/39-53). Bodelschwingh hatte in einem Brief an Meißner vom 16.4.1938 (Konzept EBD.) um die Unterredung gebeten. Wenn es in dem Brief heißt: "Ihrer gütigen Fürsprache habe ich einen Empfang bei dem verewigten Herrn Reichspräsidenten [von Hindenburg] zu verdanken", so zeugt dies davon, daß Bodelschwingh die Machenschaften Meißners nicht durchschaute, der gerade gegen einen für den Reichsbischof designatus sehr bedeutsamen Empfang bei Hindenburg im Mai/Juni 1933 erfolgreich intrigiert hatte. Vgl. hierzu THOMAS MARTIN SCHNEIDER: Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit (AKZG. B 19). Göttingen 1993, S. 133f. Vgl. Bodelschwingh an Diels, 16.2.1934, Konzept; Diels an Bodelschwingh, 19.2.1934 (beide H A BETHEL, 2/39-44).

10 Vgl. Bodelschwingh an Titius, 22.10.1934, Konzept (HA BETHEL, 2/39-35). 11

Vgl. TH. M . SCHNEIDER, M ü l l e r ( A n m . 8), S. 183.

12

Zu Kerrl und seinem Ministerium vgl. CARSTEN NICOLAISEN: Art.: Kerrl, Hanns. In: NDB Bd. 11. Berlin 1977, S. 534; JOHN S. CONWAY: Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1 9 3 3 - 1 9 4 5 (deutsche Fassung von C . Nicolaisen). München 1 9 6 9 , S. 1 3 6 - 1 5 9 ; LEONORE (SIEGELE-)WENSCHKEWITZ: Zur Geschichte des Reichskirchenministeriums und seines Ministers. In: Tutzinger Texte. Sonderbd. 1. München 1 9 6 9 , S. 1 8 5 - 2 0 6 ; DIES.: Politische Versuche einer Ordnung der Deutschen Evangelischen Kirche durch den Reichskirchenminister 1937 bis 1939. In: Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2 (AGK. 2 6 ) . Göttingen 1 9 7 1 , S. 1 2 1 - 1 3 8 ; GERTRAUD GRÜNZINGER/CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. III: 1 9 3 5 - 1 9 3 7 . Gütersloh 1994, S. XVI-XXVI. Wissenschaftlichen Ansprüchen wohl kaum genügen kann der Aufsatz von HARTMUT HOHNSBEIN: Des Teufels Kirchenminister. In: Neue Stimme 1 1 / 1 9 8 7 , S. 2632.

Kollaboration oder Vermittlung im Dienste des Evangeliums?

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zusammen13. Des öfteren sprach Bodelschwingh mit engen Mitarbeitern Kerrls. Außerdem existiert ein recht umfangreicher Schriftwechsel Bodelschwinghs mit Kerrl und seinem Ministerium14. Sah Bodelschwingh, da Kerrls Mandat die faktische Entmachtung des Reichsbischofs bedeutete, die Chance einer Revanche gegen Müller? Hat er sich gar, um wieder zu kirchenpolitischem Einfluß zu gelangen, der Kollaboration mit einem Kabinettsmitglied des nationalsozialistischen Unrechtsregimes schuldig gemacht? Bei einer ersten, oberflächlichen Betrachtung der Quellen finden sich in der Tat einige Belege, die diesen Verdacht zu erhärten scheinen. Die Zusammenkünfte von Bodelschwingh und Kerrl hatten in gewisser Weise konspirative Züge. Am 9. November 1935 trafen sich die beiden fernab vom tagespolitischen Geschehen und von der Öffentlichkeit in dem kleinen Ort Ebenhausen in Bayern15. Im Juli 1937 schlug Bodelschwingh eine Besprechung mit Kerrl vor und schrieb dazu: "Am besten würde das in möglichst unauffälliger Weise und außerhalb von Berlin geschehen."16 Am 26. November 1937 fand ein Gespräch "unter vier Augen"17 statt, und vor dem Treffen 13 Belegt sind Treffen am 23.8.1935, am 9.11.1935, am 24.11.1935, am 24.1.1936, am 26.11.1937 und am 2.12.1937. Vgl. die Aufzeichnungen Bodelschwinghs über die Besprechungen (HA BETHEL, 2/39-44; 46; 53) sowie die Briefkonzepte Bodelschwinghs an Kerrl, 6.12.1935 und 25.1.1936; an von Detten, 11.11.1935 (sämtlich HA BETHEL, 2/39-46). Belege im - bislang noch nicht aufgearbeiteten - Bestand des Reichskirchenministers (BUNDESARCHIV ABT. POTSDAM [im folgenden: BA A B T . POTSDAM], 51.01 RKM) waren - trotz intensiver Recherche - nicht aufzufinden. Bei der Anzahl der Treffen Bodelschwinghs mit Kerrl ist zu bedenken, daß beide in dem fraglichen Zeitraum längere Zeit krank waren. Zur Erkrankung Bodelschwinghs ab Herbst 1935 vgl. u.a. die zahlreichen Hinweise in den Akten HA BETHEL, 2/39-35; 44; 46; zur Erkrankung Kerrls im Jahre 1936 vgl. etwa Reichskirchenministerium an Oberbürgermeister Will (Königsberg), 13.10.1936, Konzept (BA ABT. POTSDAM, 51.01 RKM 23.483, Bl. 11). Ein kurzer Hinweis auf ein Gespräch von Bodelschwingh und Kerrl im Jahre 1940, an dem auch der Leiter der Anstalten Lobetal, Pastor Paul Gerhard Braune, teilnahm und bei dem es um die von den beiden Pastoren bekämpfte Tötung Behinderter durch die Nazis ging, bei M. HELLMANN, Bodelschwingh (Anm. 1), S. 160f. Ansonsten fehlen bei HELLMANN und auch bei W. BRANDT, Bodelschwingh (Anm. 1), Hinweise auf Kontakte zwischen Bodelschwingh und Kerrl. Zu den Treffen am 23.8.1935 und am vgl. aber die Hinweise bei KURT M E E R : Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 2 : Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher 'Rechtshilfe'. Halle (Saale) und Göttingen 1976, S. 74 und 232. Zahlreiche Belege in den Akten HA BETHEL, 2/39-35; 44; 46; 53. Zum Bestand des Reichskirchenministers vgl. Anm. 13. Bodelschwingh an von Detten, 11.11.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-46). Bodelschwingh hielt sich in Ebenhausen zur Kur auf. Bodelschwingh an von Wernsdorff, 10.7.1937, Konzept (HA BETHEL, 2/39-53). Bodelschwingh an Graf von Lüttichau, 3.12.1937, Konzept (HA BETHEL, 2/39-46). 24.1.1936

14 15 16 17

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Thomas Martin Schneider

am 2. Dezember 1937 bat Bodelschwingh Kerrl in einem Brief, die Aussprache möge wie die vergangene "einen persönlich-vertraulichen Charakter" behalten 18 . Es fällt auch auf, daß Bodelschwingh in verschiedenen Briefen an Vertraute den Reichskirchenminister nur als "Herrn K." oder "K." bezeichnete 19 . Einzelne Äußerungen Bodelschwinghs scheinen, für sich betrachtet, auf ein aus heutiger Sicht sehr bedenkliches Maß an Unterstützung Kerrls hinzudeuten. So heißt es etwa in einem Briefkonzept Bodelschwinghs an Kerrl vom 6. Dezember 1935: "Sie wissen, Herr Minister, mit welcher Wärme und inneren Teilnahme ich Ihre Arbeit von Anfang an verfolgt und ... unterstützt habe." 20 Einen Teil seines eigenen Votums bei einer Besprechung von Kirchenvertretern mit dem Reichskirchenminister am 23. August 1935 gab Bodelschwingh stichwortartig wie folgt wieder: "Wir wollen gern seine Gehilfen sein. Dabei kann es nicht mißlingen. Die Haltung ist entscheidend: Nicht Passivität. Der Dank für das Neugewordene. Noch nie so lebendig wie seit Luther. Eine Lust zu leben. Uberall Vormarsch. ... Wir sind die Stütze des Staates."21 Kerrl war offensichtlich von diesen Worten angetan. Er dankte, so Bodelschwinghs Aufzeichnungen, "sofort" 22 und dann noch einmal in einem Brief vom 11. Oktober 1935, in dem er zugleich die Hoffnung äußerte, Bodelschwingh möge "auch weiterhin für die Lösung der kirchlichen Aufgaben zur Mitarbeit bereit" sein23. Die Kontakte des Ministers und des Pastors reichten sogar in den privaten Bereich hinein. Am 4. September 1935 übermittelte Kerrl dem erkrankten Bodelschwingh telegraphisch "beste wünsche für baldige gesundung und kräftigung zu verantwort-

18

B o d e l s c h w i n g h a n K e r r l , 3 0 . 1 1 . 1 9 3 7 , K o n z e p t ( H A BETHEL, 2 / 3 9 - 5 3 ) .

19 Vgl. etwa die Briefkonzepte Bodelschwinghs an seinen Bruder Gustav von Bodelschwingh, 5.8.1935 (HA BETHEL, 2/39-35); an Karl Koch, 24.8.1935; an Marahrens, 2.9.1935; an Graf von Lüttichau, 21.9.1935 (sämtlich H A BETHEL, 2/39-44); an Winckler, 10.11.1935 (HA BETHEL, 2/39-54). 20 HA BETHEL, 2/39-46. 21 HA BETHEL, 2/39-44. Nach KURT DIETRICH SCHMIDT (Hg.): Dokumente des Kirchenkampfes II (AGK. 14). Göttingen 1965, S. 1375, sagte Bodelschwingh: "Wir danken Ihnen, daß Sie Ihre Aufgabe mit solchem Ernst anfassen. Wir wollen Ihre Gehilfen sein. Die evangelische Kirche ist die Vertrauensreserve für den Nationalsozialismus, namentlich im Westen." Er fügte dann allerdings - nach der bei SCHMIDT abgedruckten Quelle - hinzu: "Die Lösung der Kirchenfrage muß ganz behutsam und langsam behandelt werden. Wir hören noch manches andere aus den Worten Christi als Sie. Sie müssen noch manches lernen, marschieren Sie doch noch auf dem eingeschlagenen Wege weiter." Zu der Besprechung vgl. auch HANNELOREBRAUN/CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Bd. 2 (AKZG. A 4). Göttingen 1993, S. 1-11 (dort zu Bodelschwinghs Votum kein Eintrag). 22 H A BETHEL, 2/39-44; vgl. auch K. D. SCHMIDT, Dokumente H (Anm. 21), S. 1375. 23

V g l . G . G R Ü N Z I N G E R / C . NICOLAISEN, D o k u m e n t e , B d . H I ( A n m . 12), S. 102.

Kollaboration oder Vermittlung im Dienste des Evangeliums?

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licher mitarbeit am werk der befriedung der evangelischen kirche" 24 . Bodelschwingh antwortete umgehend: "Ihr gütiges Gedenken war mir große Freude. Ich danke Ihnen herzlich und hoffe, bald wieder für den Dienst zur Verfügung zu stehen." 25 Zum 50. Geburtstag des Ministers am 11. Dezember 1937 schrieb er: "Zu Ihrem weiteren Wirken für Staat und Kirche wünsche ich von Herzen Gottes Segen."26 Einer genaueren Untersuchung der Quellen hält der Verdacht der Kollaboration nicht stand. Die Kontakte zwischen Bodelschwingh und Kerrl müssen sehr viel differenzierter gesehen werden. Bodelschwingh verband zweifellos mit der Ernennung Kerrls zum Reichskirchenminister große Erwartungen. Er, der stets auf Ausgleich Bedachte 27 , hoffte, daß nach einem endgültigen Rückzug Müllers28 und einem Verzicht des Staates auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Kirche 29 mit Hilfe der von Kerrl eingesetzten Kirchenausschüsse30 ein Ende des unseligen Kirchenkampfes möglich sein würde. Dabei war er zumindest zunächst - wie etwa auch August Marahrens und sogar Martin Niemöller 31 - vom guten Willen Kerrls überzeugt und sicherte diesem grundsätzlich seine Unterstützung zu32. Er gab sich freilich keinem blinden Optimismus hin, sondern äußerte im Gegenteil verschiedentlich bereits von Anfang an Skepsis. So schrieb er etwa dem Münchener Oberkirchenrat Thomas Breit unmittelbar nach seiner ersten Begegnung mit Kerrl: "Was an gutem Willen spürbar wurde und in wohlwollenden Zusicherungen Ausdruck fand, war überraschend. Aber niemand von uns wird sich dadurch zu Illusionen verleiten lassen. Denn es ist die Frage, wie weit die Kraft ausreicht, den angedeuteten neuen Kurs

24

H A BETHEL, 2/39-44.

25

Konzept vom 5.9.1935 (HA BETHEL, 2/39-46).

26

Konzept vom 11.12.1937 (EBD.).

27

Vgl. u.a. die Einschätzung von CARSTEN NICOLAISEN: Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934. Neukirchen-Vluyn 1985, S. 10.

28

Vgl. u.a. den Bericht Kählers über die Ausführungen Bodelschwinghs bei einer Besprechung mit von Detten und Stahn am 28.9.1935 (G. GRÜNZINGER/C. NICOLAISEN, Dokumente, Bd. HI [Anm. 12], S. 92-98).

29

Vgl. etwa Bodelschwingh an von Detten, 1.10.1935, Konzept (EBD., S. 98-101). Vgl. auch unten im Text.

30 31

Vgl. hierzu u.a. K . MEIER, Kirchenkampf, Bd. 2 (Anm. 16), S. 66-154. Vgl. Marahrens an Bodelschwingh, 5.9.1935; Niemöller an Marahrens, 29.8.1935, Abschrift (beide H A BETHEL, 2/39-44).

32

Vgl. u.a. Bodelschwingh an Knak, 5.10.1935, Konzept (EBD.).

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Thomas Martin Schneider

durchzusetzen."33 Auch rechnete Bodelschwingh auf Seiten des Kirchenministers mit "Schwankungen der Stimmungen und Entschlüsse"34. Gleichwohl war er zu Zugeständnissen bereit, allerdings nur innerhalb klar festgelegter Grenzen. Er versprach Kerrl, sich zu bemühen, "für ein fruchtbares Zusammenarbeiten zwischen der Bekenntniskirche und den Ausschüssen einen Weg zu zeigen"35. Er war sogar bereit, "die kirchliche Gemeinschaft mit den Deutschen] C[hristen] und den Neutralen aufrechtzuerhalten", hielt es "für eine Ubergangszeit... für möglich, daß die ordnenden Funktionen einem staatlichen Kirchenausschuß übertragen werden, dem auch Männer aus den D C und den Neutralen angehören", vorausgesetzt, "auf geistlichem und seelsorgerlichem Gebiet" werde völlige Freiheit gewährleistet36, vorausgesetzt, es gelinge dem Ausschuß, "sich durch wahrhaft kirchliche Entscheidungen das allgemeine Vertrauen zu erwerben"37, und vorausgesetzt, es werde "deutlich festgelegt", daß es sich bei dem Ausschuß lediglich um ein "Ubergangsorgan" handele, "das keine geistliche Führung beansprucht" 38 . Auch warnte Bodelschwingh "dringend" davor, bekenntniskirchliche Institutionen zu verbieten39 -diesen maß er vielmehr eine bleibende Bedeutung bei - oder gar mit Hilfe der Geheimpolizei gegen Vertreter der Bekennenden Kirche vorzugehen40. Die bereits vor der offiziellen Ernennung Kerrls zum Reichskirchenminister eingerichteten staatlichen Finanzabteilungen bei den Behörden der Landeskirchen41 wollte Bodelschwingh akzeptieren, sofern auch nur der Anschein vermieden werde, "als

33 Briefkonzept vom 26.8.1935; ähnliche Formulierungen auch in den Briefkonzepten Bodelschwinghs vom 24.8.1935 an Präses Koch und an Graf von Lüttichau (sämtlich EBD.). 34 Bodelschwingh an Graf von Lüttichau, 24.8.1935 (EBD.). 35 Bodelschwingh an Kerrl, 25.1.1936, Konzept (HA BETHEL, 2/39-46). Ende 1935/Anfang 1936 fanden die sogenannten "Betheler Verhandlungen" von Vertretern der Bekennenden Kirche und der Kirchenausschüsse statt, an denen Bodelschwingh teilnahm. Vgl. hierzu K. MEIER, Kirchenkampf, Bd. 2 (Anm. 16), S. 96ff. 36 Bodelschwingh an Präses Koch, 13.12.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-55). 37 Bodelschwingh an Kerrl, 6.12.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-46). Bodelschwingh fügte hinzu: "So weit sind wir aber heute leider noch nicht." Bereits am 4.11.1935 hatte Bodelschwingh Kerrl geschrieben, die Kritik an den Ausschüssen werde "verstummen in dem Maß, als es den Kirchenausschüssen gelingt, sich durch wahrhaft kirchliche Entscheidungen das allgemeine Vertrauen zu erwerben" (Konzept HA BETHEL, 2/39-44). 38 Bodelschwingh an Kerrl, 6.12.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-46). 39 Bodelschwingh an Kerrl, 24.11.1935, Abschrift (EBD.); vgl. etwa auch Bodelschwingh an von Detten, 1.10.1935, Konzept (vgl. Anm. 29). 40 Vgl. etwa die Aufzeichnungen Bodelschwinghs über seine Besprechung mit Kerrl am 26.11.1937 (HA BETHEL, 2/39-53). 41 Vgl. hierzu u.a. K. MEIER, Kirchenkampf, Bd.2 (Anm. 16), S. 41f.

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wenn auf dem Wege bürokratischer Verwaltung die Lebensinteressen der Bekenntniskirche erstickt werden sollten" 42 . Obwohl Bodelschwingh seine Konzessionsbereitschaft an ganz bestimmte Bedingungen knüpfte, hoffte Kerrl - wohl auch wegen der stets freundlichen, verbindlichen persönlichen Art des Betheler Pastors ihn für eine aktive, offene Mitarbeit in den Ausschüssen gewinnen zu können. Die Absicht des Reichskirchenministers ist offensichtlich. Da Bodelschwingh in weiten kirchlichen - nicht nur bekenntniskirchlichen - Kreisen großes Ansehen genoß, hätte ein solches Engagement die Ausschußpolitik aufgewertet und dazu beigetragen, Kerrl die für seine Arbeit so dringend benötigte Vertrauensgrundlage zu schaffen. Von dem Leiter der Betheler Anstalten war ferner zu erwarten, daß er auch von einem Großteil der geschwächten und unter dem neuen Reichsleiter Wilhelm Rehm um einen gemäßigten Kurs bemühten Deutschen Christen akzeptiert werden würde, denn Bodelschwingh war ja kein exponierter Vertreter der Bekennenden Kirche, betonte vielmehr verschiedentlich sogar, daß er "organisatorisch nach keiner Seite gebunden" sei43. Bodelschwingh verweigerte sich dem hartnäckigen Werben des Kirchenministers konsequent, und zwar nicht nur aus Krankheitsgründen 44 , sondern auch, weil er die Gefahr seiner Vereinnahmung im Interesse der nationalsozialistischen Kirchenpolitik klar erkannte. Bereits am 5. September 1935 bat er den Ministerialrat im Reichskirchenministerium Erich Ruppel, seinen Chef darauf aufmerksam zu machen, daß er "weder für kirchenregimentliche noch gar für kirchenpolitische Funktionen" zur Verfügung stehe, denn sein Platz sei im "Raum der Beratung, Seelsorge und Verkündigung ..., wobei zum Bereich der Seelsorge freilich auch Kirchenführer und andere Leute gehören können, die eine Verantwortung für bestimmte Gruppen oder Arbeitskreise tragen." 45 Gegenüber dem Ministerialdirigenten Hermann von Detten und dem Ministerialrat Julius Stahn, die Kerrl beauftragt hatte, Bodelschwingh zur Mitarbeit zu überreden, wurde Bodelschwingh deutlicher: "... ich muß Wert darauf legen, daß mein Name ... nicht als Fassade mißbraucht wird für Dinge, die ich nicht vertreten kann." Eine Beteiligung an der Arbeit der Ausschüsse sei überhaupt nur dann mög42 Vgl. Bodelschwingh an von Detten, 1.10.1935, Konzept (vgl. Anm. 39); vgl. auch den Bericht Kühlers über die Ausführungen Bodelschwinghs bei einer Besprechung mit von Detten und Stahn am 28.9.1935 (vgl. Anm. 28) sowie Bodelschwingh an Präses Koch, 24.8.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-44). 43 Bodelschwingh an Kerrl, 20.11.1937, Konzept (HA BETHEL, 2/39-53). Vgl. auch G. GRÜNZINGER/C. NICOLAISEN, Dokumente, Bd. DI (Anm. 12), S. XXIf. 44 So Kahler an Bodelschwingh, 12.11.1935, Durchschrift (HA BETHEL, 2/39-44). 45 Bodelschwingh an Ruppel, 5.9.1935, Konzept (HA BETHEL, 2/39-44).

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lieh, wenn ihm "eine gewisse Möglichkeit der Linienführung gegeben" werde 46 . In einem Brief an den Berliner Missionsdirektor Siegfried Knak schrieb er: "Auch abgesehen von meiner augenblicklichen körperlichen Behinderung würde ich persönlich große Bedenken haben gegen eine Mitarbeit". Falls überhaupt, könne er "einen solchen Dienst, wenn er auch formal vom Staat zugewiesen würde, doch in Wirklichkeit nur als Beauftragter der Bekennenden Kirche, also im ausdrücklichen Einvernehmen mit der Vorläufigen Kirchenleitung übernehmen ... Sonst würde man von vornherein in eine unhaltbare Lage kommen." 47 Selbst eine Mitwirkung im untergeordneten westfälischen Provinzialkirchenausschuß - zunächst war offenkundig an eine Leitungsfunktion im Reichskirchenausschuß gedacht worden - lehnte Bodelschwingh entschieden ab48. Auch einem zweiten, nicht minder durchsichtigen Ansinnen des Reichskirchenministers verweigerte Bodelschwingh sich. Ministerialdirigent von Detten bedrängte ihn vergeblich, ein Wort zur kirchlichen Lage zu veröffentlichen, in dem seine "positive Einstellung" zur "Befriedungsarbeit" Kerrls zum Ausdruck komme und das man "allen Zweiflern und Bedenklichen" entgegenhalten könne 49 . Wenn Bodelschwingh bei seinen Kontakten mit Kerrl das Licht der Öffentlichkeit scheute, so ist dies also wohl angesichts der Bemühungen Kerrls um eine öffentliche Unterstützung durch Bodelschwingh nicht nur kein Indiz für eine Kollaboration, sondern eher sogar ein Indiz für eine kritische Verweigerungshaltung. Auch der Inhalt der Briefe Bodelschwinghs an Kerrl sowie der persönlichen Gespräche zeugt weitgehend von einer kritischen Haltung des Betheler Pastors. Stets höflich und sachlich, aber dennoch recht offen sprach er zahlreiche "Gravamina" im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Kirche an und scheute sich dabei auch nicht, Kerrl persönlich zu kritisieren. So schrieb er diesem am 6. Dezember 1935: "Diese Beunruhigung [sc. in der Kirche] ist ich bitte, das einmal offen aussprechen zu dürfen - durch Ihre in der Öffentlichkeit gehaltenen Ansprachen wesentlich verstärkt worden." Man könne "den Eindruck gewinnen, als wollten Sie ihre eigenen religiösen Anschauungen zum Maßstab und zur Grundlage kirchlichen Handelns machen. Diese Anschauungen entfernen sich aber in wesentlichen Stücken von der Bot46 Bericht Kählers über die Besprechung Bodelschwinghs mit von Detten und Stahn am 28.9.1935 (vgl. Anm. 28, hier S. 97f.). 47 Briefkonzept vom 5.10.1935 (HA BETHEL, 2/39-44). 48 Bodelschwingh an Kerrl, 30.1.1936, Konzept (HA BETHEL, 2/39-46). Vgl. auch K. MEER, Kirchenkampf, Bd. 2 (Anm. 16), S. 232. 49 von Detten an Bodelschwingh, 5.11.1935; vgl. auch Bodelschwingh an von Detten, 3 1 . 1 0 . 1 9 3 5 , K o n z e p t ( b e i d e H A BETHEL, 2 / 9 2 - 4 6 ) .

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schaft des Neuen Testamentes und von dem Bekenntnis der Kirche, auf das die Pfarrer durch ihr Ordinationsgelübde verpflichtet sind." Kerrls Ausführungen hätten "die Sorge verstärkt, daß das Fundament kirchlicher Verkündigung angetastet werde und die Ausschüsse dazu die Hand bieten sollen." 50 In einem Gespräch am 24. Januar 1936 wies Bodelschwingh den Minister auf die "unmögliche Lage" an den theologischen Fakultäten hin, die durch das Berufsverbot verschiedener bekenntniskirchlich orientierter Professoren entstanden sei51. In einem Briefkonzept an Kerrl vom 7. April 1936 protestierte er gegen eine völkisch-religiöse "Feuerrede" für eine nationalsozialistische "Osterfeier" und gegen das Verbot zweier kirchlicher Zeitungen 52 . In einer Besprechung am 26. November 1937 wies Bodelschwingh den Minister "auf die untragbare Haltung der Partei gegenüber dem echten Christusbekenntnis" und den entsprechenden "Druck in den Schulen, in den Schulungslägern" hin, ebenso auf die "Gewaltmaßnahmen und ... Verhaftungen", durch die das "Rechtsempfinden des Volkes ... schwer erschüttert" werde, und widersprach der Behauptung Kerrls, "die Geheime Staatspolizei sei dabei nicht beteiligt" 53 . Sechs Tage später trafen sich die beiden Männer erneut. Bodelschwingh, der gemeinsam mit Oberkirchenrat Breit gekommen war, forderte vehement, "daß ... die Verkündigung des biblischen Evangeliums, wie sie der Kirche aufgetragen ist, in vollem Maße Raum und Recht im neuen Staat behalte und daß durch die Staatsführung mit aller Kraft dafür gesorgt wird, die Ehrfurcht vor dem, was uns heilig ist, zu schützen." Die Angriffe und Blasphemien Alfred Rosenbergs könne und werde "die Kirche sich nicht gefallen lassen."54 Konkret verlangte er u.a.: "Freilassung der in Schutzhaft sitzenden Pastoren. ... Beschleunigung der ordentlichen Gerichtsverfahren. ... Freigabe der Abwehrschriften gegen Rosenberg." 55 Besonders setzte er sich für seinen verhafteten ehemaligen Mitarbeiter - während seiner Zeit als designierter Reichsbischof - Martin Niemöller ein56, dessen Verhältnis zu Bodelschwingh mittlerweile nicht ganz spannungsfrei war (vgl. unten). Recht energische Kritik an verschiedenen kirchen- und religionspolitischen Maßnahmen des Staates äußerte Bodelschwingh wiederholt auch gegenüber Mitarbeitern Kerrls 57 . 50 Konzept EBD. 51 Aktennotiz Bodelschwinghs vom 1.2.1936 (EBD.). 52

EBD.

53 54 55 56 57

Aufzeichnungen Bodelschwinghs über die Besprechung (HA BETHEL, 2/39-53). Protokoll: Besprechung im Reichskirchenministerium am 2.12.1937 (EBD.). Aufzeichnungen Bodelschwinghs über die Besprechung (EBD.). Vgl. Anm. 54 und 55. Vgl. u.a. die Briefkonzepte Bodelschwinghs an von Detten, 1.10.1935 (vgl. Anm. 39); 11.11.1935 und 8.2.1936 (HA BETHEL, 2/39-46); an Stahn, 8.1.1938 (HA BETHEL, 2/39-53)

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Bodelschwingh war kein Kollaborateur des Reichskirchenministers. Dennoch entfernte er sich mit seiner grundsätzlichen Bereitschaft, die kirchliche Gemeinschaft mit den Deutschen Christen aufrechtzuerhalten und die Befriedungspolitik der Ausschüsse zu unterstützen, von den Beschlüssen der Dahlemer Reichsbekenntnissynode vom Oktober 1934. Auf dieser Synode, an der Bodelschwingh teilgenommen hatte, waren die formelle Trennung von der deutsch-christlichen Reichskirchenregierung und die Übernahme der Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche durch Notorgane der Bekennenden Kirche erklärt worden58. Den entsprechenden Punkt HI, 3 der Dahlemer Erklärung lehnte er, auch gegenüber Vertretern des Reichskirchenministeriums, ausdrücklich ab59. Bodelschwingh war sich darüber im klaren, daß seine Haltung ihn zumindest dem durch Niemöller repräsentierten Teil der Bekennenden Kirche entfremden mußte60. Niemöller fragte am 11. September 1936, sichtlich irritiert, bei Bodelschwingh an, ob er einem Berliner Amtsbruder, wie dieser behaupte, tatsächlich zur Mitarbeit im Kirchenausschuß geraten habe und somit zugelassen habe, daß seine (Bodelschwinghs) "Autorität als Kronzeuge gegen die Bekennende Kirche" diene61. In seiner knappen, ein wenig gewundenen Antwort schrieb Bodelschwingh: "Wenn jemand aus der Verantwortung vor Gott innere Freiheit zur Mitarbeit mit den Ausschüssen bekam, konnte ich nicht abraten."62 Im Mai 1936 hatte Hans Asmussen bereits in einem sechsseitigen emotionalen Brief den Betheler Pastor scharf kritisiert. Asmussen, der u.a. schrieb, er sei an Bodelschwinghs Haltung "irre" geworden, bemängelte vor allem, daß Bodelschwingh sich nicht öffentlich gegen Mißstände äußere und

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59

60 61 62

sowie den Bericht Kählers über die Besprechung Bodelschwinghs mit von Detten und Stahn am 28.9.1935 (vgl. Anm. 28) und die Aufzeichnungen Bodelschwinghs über seine Besprechungen mit von Wernsdorff im März 1937 und mit Muhs am 25.3.1938 (beide HA BETHEL, 2/39-46). Zur Dahlemer Reichsbekenntnissynode vgl. u.a. K. MEIER, Kirchenkampf, Bd. 1 (Anm. 3), S. 221-260 und KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom. Berlin 1985, S. 335-348. Die Dahlemer Erklärung ist u.a. abgedruckt bei GÜNTHER VAN NORDEN u.a. (Hg.): Wir verwerfen die falsche Lehre. Wuppertal-Barmen 1984, S. 96-98. Zur Kritik Bodelschwinghs am Punkt HI, 3 der Erklärung vgl. u.a seine Aufzeichnungen "Zu dem Beschluß III, 3 der Dahlemer Synode" (1935); sein Briefkonzept an Immer, 8.8.1935 (beide HA BETHEL, 2/39183) und seine Äußerungen bei der Besprechung mit von Detten und Stahn am 28.9.1935 (vgl. Anm. 28). Vgl. etwa die Briefkonzepte Bodelschwinghs an Marahrens, 2.9.1935; an Graf von Lüttichau, 21.9.1935 (beide HA BETHEL, 2/39-44); an Müller-Dahlem, 14.1.1936 (HA BETHEL, 2/39-55). HA BETHEL, 2/39-183. Briefkonzept (EBD.).

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sich nicht öffentlich für die Wiederherstellung der "Ehre der Zerstoßenen und Zerschlagenen" einsetze: "Können wir denn zusehen, wie unser Volk verdirbt?! Haben wir ein Recht, zu der Verwirrung der Gewissen immer weiter zu schweigen?!"63 Bodelschwingh, sichtlich darum bemüht, Asmussens Vertrauen wiederzuerlangen, rechtfertigte sich in einem ebenfalls sechs Seiten langen Antwortbrief. Darin argumentierte er zunächst: "Mir schien, als würde hier und da von Theologen der Bekennenden Kirche die eigene Theologie mit etwas zu großer Sicherheit als 'die rechte' erklärt und dabei nicht immer die Schranke beachtet, die in dem Wort liegt, daß unser Wissen nur Stückwerk sei." Zu seiner Haltung zu den Kirchenausschüssen führte er dann aus: "Es schien mir ... notwendig, daß wenigstens einmal der Versuch gemacht würde, die beiden Seiten [sc. Ausschüsse und Bruderräte] ... an einen Tisch zu bringen. Dies hat sich als richtig erwiesen. Denn mit jeder Zusammenkunft nahm bei den Leuten aus den Kirchenausschüssen das Verständnis für die Anliegen und die Unentbehrlichkeit der Bekennenden Kirche zu. Gleichzeitig konnten in voller Offenheit die Schranken der Ausschüsse klargestellt werden. Nicht minder aber ihre Aufgaben ...: Gewährung des Rechtsschutzes, Beseitigung des Unrechts usw. So wuchs meine Zuversicht, daß eine klare, der Schrift und dem Bekenntnis entsprechende Ziehung der Grenzen und damit die Voraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit gefunden werden könne." Schließlich kam Bodelschwingh auf die Forderung Asmussens nach einem öffentlichen Wort und auf die nicht-öffentlichen Verhandlungen mit dem Reichskirchenminister zu sprechen: Er stimme Asmussen zu, daß ein offenes Zeugnis nicht unterbleiben dürfe, ihm sei aber zweifelhaft, "ob Kanzelabkündigungen und Synodalbeschlüsse dafür die rechte Form seien." Weiter schrieb er: "Ich habe in mancher Verhandlung mit maßgebenden Männern des Staates und der Partei auf die Dinge, die uns bedrücken und belasten, mit größter Offenheit unter Einsetzung meiner Person und unseres ganzen Werkes hingewiesen. ... ich glaube beobachtet zu haben, daß ein solches persönliches Wort augenblicklich stärker wirkt als Erklärungen kirchlicher Körperschaften." Er habe stets auf die Notwendigkeit hingewiesen, "daß altes Unrecht bereinigt werden müsse" und "auch mit dem Minister so deutlich wie möglich darüber gesprochen." 64 Bodelschwinghs Brief konnte Asmussen zwar davon überzeugen, "daß es gut ist, die Verbindung nicht abreißen zu lassen" - so Asmussen in einem weiteren Brief an Bodelschwingh vom Juni 1936, der sachliche Dissens jedoch blieb. Sehr klarsichtig führte Asmussen Bodelschwingh die Gefahren seiner nicht-öffentlichen Verhandlungen vor Augen:"... mir (ist) ...

63

A s m u s s e n an Bodelschwingh, 26.5.1936 (EBD.).

64 Bodelschwingh an Asmussen, 28.5.1936, Konzept (EBD.).

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sichtbar geworden, daß ein für das Wort Gottes sich schließender Mund die Quelle unendlich vieler Versuchungen ist. ... Sie sind sehr im Irrtum, wenn Sie meinen, ich wüßte nicht darum, mit welchem Freimut Sie oft vor 'Fürsten und Gewalten' ein offenes Wort gesagt hätten. ... Jedoch geht es mir um das Wort 'von den Dächern'. Die Taktik des Gegners ist die Heimlichkeit, die er von uns fordert, aber selbst nicht zur Ausübung bringt." 65 Dem Wunsch nach einem "Wort 'von den Dächern'" im Sinne der Bekennenden Kirche verschloß Bodelschwingh sich ebenso, wie er sich dem Wunsch des Reichskirchenministers nach einem öffentlichen Wort in dessen Sinne verschlossen hatte (vgl. oben). Nach dem Scheitern der Ausschußpolitik 1937 sah Bodelschwingh allmählich die Aussichtslosigkeit des Versuchs ein, "durch staatliche Maßnahmen die beiden sich immer klarer auseinanderfaltenden kirchlichen Gruppen zwangsweise zusammenzuhalten". In einem Briefkonzept an Kerrl vom 19. Juli 1938 plädierte er nun dafür, sowohl der Bekennenden Kirche als auch den Deutschen Christen die Möglichkeit zu geben, "ihre Ordnung und ihren Dienst frei zu gestalten". Die Aufgabe von "vom Staat beauftragten kirchlichen Verwaltungen" sah er lediglich noch darin, "über die gemeinsamen Dinge in Rechtsordnung und Finanzwirtschaft zu wachen ... und insbesondere die Benutzung des kirchlichen Eigentums und der kirchlichen Gebäude zu regeln", letztlich also eine geordnete Trennung herbeizuführen. Allerdings gab er die Hoffnung nicht auf, daß "nach Jahren die Scheidewand wieder entfernt" und "die endgültige Ordnung und Leitung der Kirche" - nach der "Wiederherstellung der synodalen Organe aller Stufen" - "auf dem Wege eines nach kirchlichen Gesichtspunkten aufgestellten Wahl Verfahrens" geschaffen werden könne 66 . Dennoch hatte Bodelschwingh die Notwendigkeit einer Revision seiner Position erkennen müssen. Den Kontakt zu Kerrl, glaubte er, weiterhin aufrechterhalten zu müssen, er bemühte sich weiterhin um Unterredungen 67 . Kerrl dagegen scheint das Interesse an Bodelschwingh, der nicht nur nicht bereit war, ihn öffentlich zu unterstützen, sondern überdies ständig mit Forderungen und Beschwerden kam, verloren und den Kontakt seinerseits eingestellt zu haben 68 . Was bewog Bodelschwingh dazu, den Kontakt zu Kerrl zu suchen und daran festzuhalten? Er glaubte an die Chancen und Möglichkeiten des seelsorgerlichen Gesprächs, auch daran, daß jeder Mensch in jeder Lage durch 65

A s m u s s e n an Bodelschwingh, 8.6.1936 (EBD.).

66

H A BETHEL, 2/39-46.

67 Vgl. Bodelschwingh an Kerrl, 25.3.1939, Abschrift (EBD.). 68 Vgl. EBD. Bodelschwingh suchte Kerrl allerdings im Jahre 1940 noch einmal auf. Vgl. hierzu Anm. 13.

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das Wort Gottes zur Umkehr getrieben werden könne 69 . Er verstand sich als Vermittler im Dienste des Evangeliums, fühlte sich wohl dem Wort Römer 12, 18 verpflichtet: "Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden." Es mag sein, daß sich in dieser Haltung eine gewisse Naivität, ein falsches Harmoniebedürfnis, eine Unterschätzung der verbrecherischen Potenz der Nationalsozialisten, vielleicht auch eine gewisse Uberschätzung der eigenen Rolle widerspiegeln. Das "damnamus" des Kreises um Niemöller, von dem das Neue Testament ja auch spricht, konnte er so nicht mitsprechen, weil er dies zumindest im Blick auf sich selbst für Hybris gehalten hätte. Andere sahen darin ein Anzeichen von Indifferenz und Zaghaftigkeit. Historisch gesehen, haben Niemöller und seine Freunde recht behalten. Damit ist aber noch nicht entschieden, ob Bodelschwinghs Haltung - trotz unvermeidlicher Schuldverstrickung - nicht auch christlich war. Ein endgültiges moralisches Urteil steht uns heute nicht zu.

69 Vgl. auch die Einschätzung zu Bodelschwinghs Stellung zum "Dritten Reich" von W. BRANDT, Bodelschwingh (Anm. 1), S. 181f.: Bodelschwinghs Haltung "war der Versuch, durch glauben, hoffen, lieben und vertrauen den Staat und seine Männer in die Richtung weiterzudrängen, in die einzelne nach seiner Meinung gute Anfänge wiesen. Er hat lange gehofft, die verantwortlichen Männer auf ihren Abwegen durch Vertrauen und Achtung zu diesen Anfängen wieder hinzulieben."

Karl Schwarz DER "FALL REISNER" Eine Wiener Hörfunksendung (1936) ruft Widerspruch hervor I.

1. Am 24. November 1936 überreichte Superintendent D. Johannes Heinzelmann dem Präsidenten des Wiener Oberkirchenrates, Staatsrat Dr. Viktor Capesius, eine von Mitgliedern des Evangelischen Bundes veranlaßte und redigierte "Zusammenstellung der Voraussetzungen für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und Staat in Österreich"!. Diese Denkschrift verdankte ihre Erstellung dem Umstand, daß der Ständestaat im Anschluß an das Juliabkommen 1936 mit dem "Dritten Reich"2 einen Ausgleich mit der "sogenannten nationalen Opposition"^ zu suchen 1

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3

ARCHIV DES EV. OBERKIRCHENRATES, WIEN ( i m f o l g e n d e n : A E O K R WIEN), F a s z . 4 3 3 , N r .

6394. Das "Freundschaftsabkommen" zwischen Osterreich und dem Deutschen Reich bildet den Anlaß für einen Briefwechsel zwischen Bischof Heckel und Präsident Capesius sowie dem Martin-Luther-Bund in Erlangen (Prof. Ulmer), in dem dankbar die vollzogene Entspannung registriert wurde. Superintendent D. Heinzelmann widmete diesem Anlaß ein Kanzelwort, in dem er die Verbundenheit der hiesigen Protestanten "mit dem Mutterlande Österreich und dem gemeinsamen deutschen Vaterlande" zum Ausdruck brachte, "jenem größeren Vaterlande, von dem wir wissen, daß es überall dort zu finden ist, wo deutsche Herzen schlagen, deutsche Lieder klingen und deutsche Geschichte erlebt wird": GUSTAV REINGRABNER/KARL SCHWARZ (Hg.): Quellentexte zur österreichischen evangelischen Kirchengeschichte zwischen 1918 und 1945. Wien 1989, Nr. 84, S. 252; Nr. 81, S. 249f. P. BROUCEK: Edmund Glaise-Horstenau und das Juliabkommen 1936. In: DAS JULIABKOMMEN VON 1936. Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen. Wien 1977, S. 119ff., 393ff. (Diskussion), hier: 393. In dem vertraulichen Gentlemen-Agreement zum Juliabkommen zwischen Hitler und dem österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg mußte dieser konzedieren, "er werde Vertreter der bisherigen sogenannten nationalen Opposition ... zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranziehen". Mit dieser Aufgabe wurde der Direktor des Wiener Kriegsarchivs EDMUND GLAISE-HORSTENAU betraut, der als Minister ohne Portefeuille als eine Art "Ombudsman" für das nationale Lager fungieren sollte und dem zugetraut wurde, die ziemlich belasteten Beziehungen zwischen dem Ständestaat und der Evangelischen Kirche in Österreich zu entkrampfen. In seinen Erinnerungen ("Ein General im Zwielicht", hg. von P. Broucek. Bd. 2. Wien-Köln-Graz 1983, S. 148) findet sich

Der "Fall Reisner"

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hatte. Der Kronjurist des Evangelischen Bundes, Dr. Robert Kauer, ein Exponent dieser "nationalen Opposition"4 und nachmaliger kommissarischer Präsident des Evangelischen Oberkirchenrates (1938/1939), der in demselben Jahr 1936 mit einer anonym veröffentlichten kritischen Darstellung zur Rechtslage der Evangelischen Kirche Aufsehen erregt hatte5, ist mit ziemlicher Sicherheit auch der Verfasser jener Punktation, von der man Aufschluß über die rechtliche und politische Konstellation der Minderheitskirche erwarten kann. Sie listet nach einem Abschnitt A ("Grundsätzliches") unter B "Konkrete Wünsche und Beschwerden" der Kirche an die Adresse des Ständestaates auf. Hier findet sich unter B 11. ("Presse, Schrifttum, Rundfunk") eine bemerkenswerte Forderung (lit. f), die nur vor dem Hintergrund einer weitgehenden Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens im Sinne der römischkatholischen Mehrheitskonfession, verständlich erscheint: "Vorträge im Rundfunk über Protestantismus, Kirchenpolitik, Kirchenstreit und überhaupt alle kirchliche Angelegenheiten berührenden Themen dürfen nur mit

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eine kurze Notiz über eine Unterredung mit dem "streitbaren" Superintendenten Heinzelmann, dem Vertrauensmann der Kirche in den Jahren des Ständestaates, die bei Glaise "wirkliches Unbehagen" auslöste: "Bei meiner inneren Abneigung gegen den Protestantismus fühlte ich es wirklich für einen inneren Widerspruch, nun auf einmal als Beschützer der evangelischen Kirche aufgerufen zu werden." Robert Kauer, geb. 13.5.1901 Wien, Dr.jur., Richter, ab 1931 Staatsanwalt in Wien, Mitglied des NS- Juristenbundes und seit 1932 der NSDAP, 28.6.1933 Austritt aus der römisch-katholischen Kirche; 1936 Verhaftung wegen illegaler Betätigung für die NSDAP und Entlassung aus dem öffentlichen Dienst; Mitarbeit im Ev. Bund; 1938/39 kommissarischer Leiter des Ev. Oberkirchenrates Wien; 13.4.1939 Abordnung an die Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht in Leipzig; Oberstaatsanwalt Wien; 1943 Reichsgerichtsrat Leipzig; wegen der Weigerung, politische Todesurteile zu verhängen, Entfernung von Leipzig, Meldung als Flaksoldat; 1945 Bezirksrichter in Tirol, 1946-1948 Untersuchungshaft in Wien, Einstellung des Verfahrens, 1949-1953 Rechtsanwalt Wien, gest. 26.6.1953 Wien. DIE GEGENREFORMATION IN NEU-ÖSTERREICH. Ein Beitrag zur Lehre vom katholischen Ständestaat. Anhand amtlicher Erklärungen und Dokumente vorgestellt und hg, von Dr. K(urt) Aebi, Dr. Th(eodor) Bertheau, Dr. H(ans) Glarner, Dr. E.Geyer, Rud(olf) Grob, Zürich 1936. Daß KAUER der eigentliche Verfasser gewesen ist, aber unerkannt bleiben mußte, steht zweifelsfrei fest. Das Außenamt ließ durch die österreichische Gesandtschaft in der Schweiz über die am Titelblatt genannten Personen Erhebungen durchführen: ALLGE-

MEINES VERWALTUNGSARCHIV WIEN (im folgenden: A V A WIEN), Kultus, Fasz. B 7,

Nr.28.058 - K/b 1936. Daß in dem Buch "ausgesprochen vaterländisch und antinationalsozialistisch gesinnte Evangelischen ... überhaupt nicht zum Wort (kommen)", ist einem Schweizer Rezensenten (ZÜRCHER TAGESANZEIGER, 30.11.1936) aufgefallen. Er bezeichnete es deshalb als ungeeignete Basis "für eine fruchtbare Diskussion des gewiß nicht einfachen Problems einer evangelischen Kirche im betont katholischen, um seine Existenz ringenden Staate" (EBD. Nr.44.582 - K/b 1936).

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vorheriger Bewilligung und Prüfung des Vortrages hinsichtlich Person, Inhalt und Form durch die evangelische Kirchenbehörde veranstaltet werden." Als Beleg für die Billigkeit dieser kirchlichen Zensur begegnet gleichsam der Klammerausdruck "Fall Reisner Sommer 1936", der uns weiter unten noch beschäftigen wird. 2. In der von Dietrich von Hildebrand herausgegebenen programmatischen Zeitschrift "Der Christliche Ständestaat" wird Österreichs providentielle Aufgabe darin erblickt, den ideologischen Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus durch eine bewußte Verchristlichung der Gesellschaft ("Austriam instaurare in Christo") zu führen. Diese Sendung von "menschheitlicher Bedeutung"6 wurde von ihrem Anspruch und von ihrer welthistorischen Tragweite mit der Gegenreformation verglichen. "Dem quantitativ kleinen Land ist heute eine große säkulare Aufgabe anvertraut, groß wie die zur Zeit der Gegenreformation" - nämlich die richtige Antwort auf die schweren Irrtümer des Liberalismus zu geben, der durch Jahrhunderte die europäische Kultur zersetzte, sowie "den richtigen Weg deutschem Volkstum zu weisen in einer Zeit grenzenloser Verwirrung, in der der Bankrott des individualistischen Liberalismus zu zwei neuen noch weit furchtbareren Irrtümern geführt hat, die die gesamte abendländische Kultur in ihren Wurzeln zu zerstören drohen: dem Bolschewismus und dem Nationalsozialismus". Diese Gleichsetzung des ideologischen Abwehrkampfes der Gegenwart mit der Gegenreformation geriet zu einem ganz wesentlichen identitätsstiftenden Historismus, ja gerann geradezu zur Parole, wobei Bundeskanzler Engelbert Dollfuß mit dem Vollender der Gegenreformation, Ferdinand II., verglichen wurde 7 . Dieses geschichtliche Bezugsnetz des katholischen Osterreich, sein aus der Reichsgeschichte gewonnener "Österreich-Gedanke"8, kann am "Goldenen Buch der vaterländischen Geschichte" von Joseph August Lux 9 , dem Kultbuch des Ständestaates, exemplifiziert werden. Dort wird die Reformation als "Glaubensabfall" abgehandelt, als "fremdes Gift", als "eine jener geistigen Ansteckungen, die über Grenzen und Länder wirken

6 7

DIETRICH VON HILDEBRAND: Österreichs Sendung. In: Der christliche Ständestaat (CS) Nr.L vom 3.12.1933, S. 3ff., hier: S. 3. DERS.: Engelbert Dollfuß. Salzburg 1934.

8

ANTON STAUDINGER: Z u r " Ö s t e r r e i c h " - I d e o l o g i e des Ständestaates. In: DAS JULIABKOMMEN

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VON 1936 (Anm. 3), S. 198-240. JOSEPH AUGUST LUX: Das goldene Buch der Vaterländischen Geschichte für Volk und Jugend Österreichs. Wien 1934, 2. Aufl. 1935.

Der "Fall Reisner"

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und sich wie eine Seuche verbreiten" 10 . Luther wird als der irrende Mönch gezeichnet, der selbst der beste Beweis für die Reformbedürftigkeit der Kirche in ihrem menschlichen Teil gewesen sei: "Was immer groß an ihm erscheinen mag, unendlich größer war sein katastrophaler Irrtum, die Religion der subjektiven Willkür anheimzugeben und mit der anderthalbtausendjährigen Tradition der Kirche zu brechen, ja, sie der weltlichen Macht der Fürsten zu unterstellen . . . " u Der Evangelische Bund, aufgebracht durch die Tatsache, daß das Buch für die Schülerbibliotheken angeschafft wurde, richtete nicht nur an die Adresse des zuständigen Ministeriums eine Beschwerde, sondern brachte sogar gegen den Verfasser Joseph August Lux eine Strafanzeige wegen des Vergehens der Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche nach § 303 StG ein 12 , aber die Staatsanwaltschaft lehnte die Einleitung eines Strafverfahrens mit der Begründung ab, es handle sich bei dem Buch um ein wissenschaftliches Werk und es müsse ihm "daher eine gewisse Freiheit zugebilligt werden" 13 . Nicht nur, daß die Verbreitungsbeschränkung abgelehnt wurde, der mit den Unterrichtsagenden betraute Minister Kurt Ritter von Schuschnigg, nach Dollfuß' gewaltsamem Tod (25. Juli 1934) Nachfolger als Bundeskanzler, stellte dem Buch gleichsam ein offiziöses Zeugnis aus: Er verfaßte ein Vorwort, das in dem Wunsch gipfelt, es möge ein Volksbuch werden und dazu beitragen, "alle zu einem Volksganzen zu schmieden". In diesem Prozeß der Integration erblickten nun die Evangelischen eine ganz vitale Gefahr für ihre konfessionelle Identität. Vor allem lehnten sie es ab, die Gegenreformation als positiven historischen Bezugspunkt anzuerkennen, wie es die Kulturpolitik des Ständestaates nahelegte. 3. Die Grundkonstellation der nichtkatholischen Minderheitskirche in einem bewußt katholischen Staatswesen ist das Thema sämtlicher Hirtenbriefe des eingangs erwähnten Superintendenten D. Johannes Heinzelmann, der in diesen Jahren zwischen 1934 und 1938 ein gesamtkirchliches Vertrau-

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EBD., S. 212.

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Ebd., S. 194.

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A V A W E N , Kultus, B 7 Drucksachen, Nr.13.203 - K / b 1935. Eine Eingabe des Oberkirchenrates wurde durch Fachgutachten der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Osterreich (EBD., Nr.18.938 - K / b 1935) und des Professorenkollegiums der Ev.theologischen Fakultät Wien (EBD., N r . 18.757 - K / b 1935) unterstützt.

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A E O K R W I E N , Fasz. 433, Zl.1810/1935. Aktennotiz von Präsident Capesius, 13.5.1935.

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ensamt ("Notbischof")14 wahrnahm und als solcher zu den bewegenden Ereignissen dieser Jahre unbeirrt und ungeschminkt Stellung nahm. Stärker als andere Institutionen war die Evangelische Kirche in Osterreich in dieser Zeit einer Zerreißprobe ausgesetzt: einerseits aus konfessionellen Gründen gegen das katholische Selbstverständnis des Ständestaates und d.h. vor allem gegen die katholische Weltanschauung zu optieren und den Bewegungsspielraum für diese Option zu erhalten und zu erweitern, ohne andererseits ins Politische abzugleiten und das Geschäft der politischen Opposition gegen den Ständestaat zu betreiben15. Diese Zerreißprobe läßt sich am Beispiel der Mitgliedschaft bei der Vaterländischen Front demonstrieren, mit der ein Bekenntnis zum neuen ("katholischen") Österreich verbunden war. Es war eine äußerst schwierige weil vielschichtige Entscheidung, dieser einzigen zugelassenen Organisation der politischen Willensbildung, einer gezielten Kopie nationalsozialistischer Vorbilder 16 , beizutreten oder den Beitritt abzulehnen. Schon aus dieser vielleicht konfessionell motivierten Entscheidung, den geforderten Beitritt zu verweigern, erwuchs eine Allianz mit jenen Kräften, die aus politischen Gründen einen solchen Schritt ablehnten. Allianz meint also einen partiellen Gleichklang der Interessen, wie dies auch von Nationalsozialisten empfunden wurde 17 . Es gibt darüber hinaus auch Beispiele einer echten Symbiose von Nationalsozialismus und Protestantismus: dort wo Personen, um der ständestaatlichen Verfolgung auszuweichen, unter dem Dach der Kirche und unter qualifiziertem Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit eine politische, gegen den Staat gerichtete Tätigkeit entfalteten. Als hervorragendes Beispiel dafür kann der 1935 initiierte Akademikerkreis im Evangelischen Bund18 gelten, 14 Vgl. KARL SCHWARZ: Der Notbischof. In: JGPrÖ 102-103, 1986/87, S. 151ff.; DERS.: Die "Trutzprotestanten" im "christlichen" Ständestaat. In: Scientia Canonum. Festschrift für Franz Pototschnig. München 1991, S. lOlff. 15

GERHARD PETER SCHWARZ: Ständestaat und Ev. Kirche v o n 1933-1938 ... aus der Sicht der

Behörden. Phil. Diss. Graz 1987; vgl. auch HORST RIEDL (Hg.): Die ev. Kirche in Österreich 1933-1938. Salzburg (Ev. Bildungswerk) o.J. 16

GERHARD JAGSCHITZ:

Der

österreichische

Ständestaat

1934-1938.

In:

ERKA

WEIN-

ZIERL/KURT SKALNDC: Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik. Bd. 1. Graz; Wien; Köln 1983, S. 497-515, 499; vgl. auch ERKA WEINZIERL: Kirche und Politik. In: EBD., S. 437-496. 17 HANS VON FRISCH: Die Gewaltherrschaft in Österreich 1933-1938. Leipzig; Wien 1938, S. 113ff.; FRANZ LANGOTH: Kampf um Österreich. Erinnerungen eines Politikers. Wels 1951. 18 Rundschreiben des Ev. Bundes, 6.5.1935. In: G. REINGRABNER/K. SCHWARZ, Quellentexte (Anm. 2), Nr. 62, S. 193-195. - Vgl. zu der im Ev. Bund zur Wahrung deutschprotestantischer Interessen gepflegten "gemeinprotestantischen" Weltanschauung und den damit ver-

Der "Fall Reisner"

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der sich regelmäßig im Presbyterzimmer der Evangelischen Gemeinde WienInnere Stadt traf. Sein spiritus rector war der Mediziner Univ.-Prof. Dr. Franz Hamburger (1874-1954), einer seiner aktivsten Mitarbeiter aber Dr. Robert Kauer (1901-1953). Zu den ständigen Teilnehmern zählten die Wiener Theologieprofessoren Richard Hoffmann (1872-1948)19 und Gustav Entz (1884-1957)20. Letzterer wird in seinen Lebenserinnerungen die Tarnung zugeben und "Sinn und Zweck dieser Zusammenkünfte" als "in Wahrheit" nicht evangelisch-kirchlich, sondern politisch-national bezeichnen. "Nach Vollzug des Anschlusses war das erstrebte Ziel erreicht. Die Vereinigung ... löste sich auf." 21 Daß die genannten Persönlichkeiten sich kategorisch weigerten, der Vaterländischen Front beizutreten (an der Wiener Universität wagten dies nur vier Professoren), versteht sich von selbst. Mit überragenden juristischen Fähigkeiten hatte Kauer bereits 1935 für diesen Kreis und damit stellvertretend für eine Reihe nationalsozialistischer Beamter die Argumentationslinie vorgegeben: Sie könnten es "mit ihrem Gewissen als treue Bekenner des reinen (!!!) evangelischen Glaubens nicht vereinbaren, der Vaterländischen Front anzugehören" 22 . Johannes Heinzelmann hatte dann diesen Dissens kirchlicherseits bekräftigt und theologisch überhöht, indem er die heuristische Formel prägte: Für Protestanten käme wohl ein Anerkennen des Staates - nicht aber ein Bekennen zu diesem Staat katholischer Observanz in Frage. Der Tonfall der an den Bundeskanzler gerichteten Eingabe ist allerdings gereizter. Kauer schreibt, er müsse sich "auf das Entschiedenste dagegen verwahren, wegen der treuen Befolgung ihrer religiösen Uberzeugung der Gefahr ausgesetzt zu sein, von irgend jemand, sei es auch der Generalsekretär der VF, als Staatsbürger oder Staatsbeamte zweiter Klasse, als nicht vaterbundenen deutschnationalen Wertungsdispositionen HERBERT UNTERKÖFLER: Zwischen zwei Welten. Anmerkungen zur kulturellen Identität der Evangelischen in Osterreich. In: Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Wien 1986, S. 348-369; WALTER FLEISCHMANN-BLSTEN: Der Evangelische Bund in der Weimarer Republik und im sogenannten Dritten Reich. Frankfurt am Main 1989, S. 329ff. 19 Er verfaßte ein theologisches Programm mit deutschchristlich-häretischen Tendenzen. In: G. REINGRABNER/K. SCHWARZ, Quellentexte (Anm. 2), Nr.63, S. 195ff. 20 Vgl. insgesamt dazu KARL SCHWARZ: "Grenzburg" und "Bollwerk". Ein Bericht über die Wiener Ev.-theologische Fakultät in den Jahren 1938-1945. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993, S. 361ff. 21 GUSTAV ENTZ: Erinnerungen aus fünfzig Jahren kirchlicher und theologischer Arbeit (ungedrucktes masch. Manuskript). Wien 1956, S. 142. - Die Drucklegung wird vorbereitet. 22 (Robert Kauer) Denkschrift zum Beitritt zur VF, 28.6.1935 (AVA WEN, Kultus B 14, N r . 16.396 - K / b 1938).

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landstreu ... verdächtigt oder in irgend einer Hinsicht benachteiligt zu werden". Der Oberkirchenratspräsident, Sektionschef Dr. Capesius, Mitglied des Staatsrates und als solcher ein honoriger Mann des Ständestaates23, der zu seinem Bedauern dieses (von Superintendent Heinzelmann als Vertrauensmann der Kirche unterfertigte) Operat dem Bundeskanzler vorlegen muß, hält der Denkschrift entgegen, daß die bekanntgegebenen Ziele der VF, namentlich das damit verknüpfte "Bekenntnis zu einem freien, unabhängigen, christlichen, deutschen Osterreich", auch den Evangelischen den Beitritt ermögliche. Von seiner Seite sind denn auch regelmäßig Beitrittsaufforderungen an die Pfarrerschaft ergangen24. Wie sehr sich die Ständestaatbehörden über jene Proposition ärgerten, insbesondere über die beiläufige Androhung einer Minderheitenbeschwerde vor dem Völkerbund 25 wegen zahlreicher Verstöße gegen die Minderheitenschutzbestimmungen des Staatsvertrags von St. Germain, ersieht man an den stenographischen Notizen des ranghöchsten Kultusbeamten, der seiner Empörung Luft macht. Eine "schwere Überheblichkeit", wehrt er den Inhalt der Denkschrift ab. "Die Evangelischen übersehen bei allem, daß sie eine ganz verschwindende Minderheit sind und daher nicht immer im einzelnen das Gleiche verlangen können. Die sogenannte Gleichberechtigung, die es überhaupt nicht gibt, ist natürlich eine relative." Mit dieser hermeneutischen Feststellung zum Paritätsgrundsatz durch den Leiter des Kultusamtes, Sektionschef Dr. Edwin Loebenstein, scheint aber auch ein Indiz für das erhebliche Desinteresse der Kultusverwaltung an einer geordneten Rechtsbeziehung zur Minderheitskirche vorzuliegen. Am Beispiel des verschleppten Protestantengesetzes hat sich dies erhärtet26.

23

GERTRUDE ENDERLE-BURCEL/JOHANNES KRAUS: Mandatare im Ständestaat 1934-1938. Wien 1991, S. 51f; dazu KARL SCHWARZ: Evangelische Mandatare im Ständestaat. In: J G P r Ö 107108, 1991/92, S. 166-178; GUSTAV REINGRABNER: Eine Wolke der Zeugen. In: Glaube und Heimat 44, 1990, S. 40-42.

24

HELMUT GAMSJÄGER: Evangelische Kirche und "Vaterländische Front". In: Zeitgeschichte 6,

25

In diese Richtung zielte auch ein von der Ständestaat-Zensur verfolgtes "Juridisches Hand-

1978/79, S. 165ff. buch für Sachwalter der ev. Sache in Osterreich", hg. von Norbert Hermann. Innsbruck 1935, S. 105ff. - Zu diesem Buch, das sich in seiner Intention mit der in Zürich verlegten Darstellung von Robert Kauer vergleichen läßt: A V A WIEN, Kultus, B 7 Drucksachen Nr. 42.715 - K / b 1935. Hier auch der Hinweis, daß dieses Druckwerk "von der Reichsgeschäftsstelle des ev. Bundes in Berlin finanziert wurde und daß sich diese daher ausbedungen habe, als alleinige Auslieferungsstelle dieses Werkes zu fungieren". 26

KARL SCHWARZ: V o r fünfzig Jahren. Die Evangelische Kirche in Osterreich im Jahre 1937. In: Schriftenreihe Ev. Bund in Österreich Heft 107, 1987, S. 3-22.

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Dr. Robert Kauer sammelte die Beschwerdepunkte der Evangelischen, die dann von dem genannten Kreis juristisch untermauert jeweils dem Oberkirchenrat mit der Aufforderung zur Intervention vorgelegt wurden. In Kauers Person wird die Symbiose besonders aussagekräftig, denn seiner eigenen Darstellung zufolge geschah diese Rechtsschutzarbeit im Evangelischen Bund über politische Weisung der N S D A P (Landesleitung Osterreich), ja verfaßte er jene Denkschrift "über die Verfolgung Evangelischer in Osterreich" im Auftrag des Reichspropagandaministeriums (Dr. Megerle), "um das katolische (sie!) System im neutralen Ausland zu diskreditieren" 27 . Damit ist aber nicht nur der Beweis erbracht, daß Kauer der eigentliche Verfasser jenes in Zürich erschienenen Buches gewesen ist, sondern auch die politische Symbiose illustriert, die in der Akademikergemeinschaft des Evangelischen Bundes Gestalt gewonnen hatte. Von dort ist der Widerspruch gegen Reisners Radiosendung erfolgt. 4. Der oben als "Fall Reisner Sommer 1936" apostrophierte Beleg für außerordentliche Zensurmaßnahmen der Evangelischen Kirche betraf eine Hörfunksendung im Frühsommer 1936, die von Dr.phil. Erwin Reisner gestaltet worden war. Dieser Hörfunkessay des Wiener Publizisten und Privatgelehrten, der als zweiter Sekretär (der Abteilung Judenmission mit Sitz in Wien) beim Internationalen Missionsrat eine Anstellung gefunden hatte, stieß auf entschiedenen Widerspruch jener Akademikergemeinschaft im Evangelischen Bund, von der oben die Rede war, die, wiewohl politisch motiviert und mit politischer Zielrichtung, sich jeweils im Pfarramt A.B. in der Wiener Dorotheergasse traf. Unterzeichnet von Universitätsprofessor Dr.med.univ. Franz Hamburger langte mit 7. Juli 1936 eine Beschwerde beim Oberkirchenrat ein, der sich nun seinerseits an die R A V A G (Osterreichische Radioverkehrs AG) wandte und um die Überlassung des erwähnten Hörfunkmanuskripts ersuchte. Der Aktenvorgang kann nur mehr an Hand des Protokollbuchs 28 rekonstruiert werden. Immerhin fertigte der Oberkirchenrat von dem mit Schreiben vom 23. Juli 1936 einlangenden Manuskript eine Abschrift 2 9 an, ehe er das Manuskript wunschgemäß unter dem 20. November 1936 wieder zurückstellte - allerdings mit dem bemerkenswerten Ersuchen, "daß künftighin hinsichtlich solcher Vorträge, welche die evang. Kirche oder ihre Belange betreffen, vorher das Einvernehmen mit dem O K R gepflogen werden möchte". An die Adresse des 27 BUNDESARCHIV, ABT. DAHLWITZ-HOPPEGARTEN, Reichsgericht PA 433, Beilage zum Personalbogen. 28 A E O K R WIEN, Nr. 1472/1936; 3870/1936; 4160/1936. 29 AEOKR WIEN, Fasz. 433, Nr. 4160/36.

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Beschwerdeführers aber folgte die Erklärung, daß der Oberkirchenrat keinen Anlaß gefunden hätte, in dieser Angelegenheit weitere Schritte zu unternehmen. 5. Der Verfasser der erwähnten Hörfunksendung war Erwin Reisner 30 , ein in Wien 1890 geborener ursprünglich katholischer Privatgelehrter, der zum Offizier ausgebildet wurde und als Hauptmann aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, 1916 konvertierte, sich in Hermannstadt/Siebenbürgen niederließ und dort als Essayist, Feulletonist, Kunstkritiker, Bibliothekar einen guten Ruf erwarb 31 , der aufgrund einer besonderen Bevollmächtigung 1932 zur Promotion in Marburg/Lahn zugelassen wurde, ohne je eine Matura abgelegt und im strengen Sinn studiert zu haben, der sich in Siebenbürgen für die Dialektische Theologie Karl Barths einsetzte32, der später, 1935, in seine Geburtsstadt zurückkehrte, um hier am Institutum Judaicum Delitzschianum sowie beim Internationalen Missionsrat eine Anstellung zu finden 33 , ehe er unmittelbar nach dem Anschluß Österreichs im März 1938 nach Berlin übersiedelte und dort im "Büro Pfarrer Grüber" sein weiteres Betätigungsfeld suchte34. Später wird er Hilfsprediger einer BK-Gemeinde in Berlin-Lichterfelde, ab 1942 in Potsdam, schließlich 1945-1948 Pfarrer an der Sophienkirche in Berlin und zuletzt Professor für Philosophie an der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf. 6. Das Hörfunkmanuskript, das unten in extenso mitgeteilt wird, ist für Osterreich konzipiert, es kalkuliert mit einem mehrheitlich katholischen Zuhörerkreis. Dadurch setzte es sich der Gefahr aus, von Protestanten "mißverstanden" zu werden - und zwar in dem Sinne, daß der Autor für einen Propagandisten des katholischen Kurses in Osterreich gehalten wurde, Vgl. über seine beachtenswerte Biographie JOACHIM GÜNTHER: Gedenken für Erwin Reisner. In: ThViat 10, 1 9 6 5 / 6 6 , S . 1 - 1 0 ; PETER O R B A N in: Erwin Reisner. Der Dämon und sein Bild. Frankfurt am Main 1989, S. 9-18. 3 1 JOACHIM WITTSTOCK/STEFAN SLENERTH: Die rumäniendeutsche Literatur in den Jahren 1918-1944. Bukarest 1992, S. 546. 32 HANS BEYER: Grundlinien des Kirchenkampfes im Osten und Südosten. In: ODW 9. 1962, S. 301-339, 314f.; LUDWIG BINDER: Zwischen Irrtum und Wahrheit. Konrad Möckel (18921965) und die Siebenbürger Sachsen. München o.J. (1989), S. 22. 33 Vgl. zu Reisners Wiener Jahren vor allem EBERHARD RÖHM/JÖRG THIERFELDER: JudenChristen-Deutsche. Bd. 1. Stuttgart 1990, S. 301; Bd. 2/1. Stuttgart 1992, S. 389; Bd. 2/H. Stuttgart 1992, S. 190ff. 3 4 H A R T M U T LUDWIG: Die Opfer unter dem Rad verbinden. Vor- und Entstehungsgeschichte, Arbeit und Mitarbeiter des "Büro Pfarrer Grüber". Masch. Diss. B (Ost-)Berlin 1988, S. 176178. 30

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der diesen Kurs als die einzig gebotene Alternative zum Anschluß an Hitlerdeutschland unterstützte. Ganz unabhängig von dem beschwerdeführenden Akademikerkreis im Evangelischen Bund, bei dem der Widerspruch wohl eindeutig politisch motiviert war, hat es evangelische Zuhörer gegeben, die durch die Sendung irritiert wurden und deshalb geneigt waren, dem Autor zu unterstellen, seine Darstellung des Kirchenkampfes diene der katholischen Propaganda. Dieser Trugschluß kann auch im Blick auf Zeitungsmeldungen über den Kirchenkampf beobachtet werden: Sie wurden als politisch lancierte Propagandameldungen des Ständestaates empfunden, deren Wahrheitsgehalt von der kirchlichen Presse angezweifelt und dementiert wurde 35 . Ein kritischer Beobachter dieser Vorgänge war der Schweizer Publizist Alexander von Muralt. Zu seinem ständigen ceterum censeo zählte deshalb die Klage: "Daß in dem österreichischen Abwehrkampf gegen die kultur- und evangeliumsfeindliche Naziwelt die hiesige evangelische Kirche sich so neutral verhält, in manchem ihrer berufenen Vertreter sogar auf der falschen Front kämpft, ist für den hier lebenden Schweizer Protestanten ein unbegreifliches und schmerzliches Erlebnis." 36 Es hat auch gegenläufige Stimmen gegeben, solche, die an der "richtigen" Front kämpften, die für die Bekennende Kirche Partei ergriffen und die Lage im deutschen Kirchenkampf realistischer beurteilten; sie blieben allerdings in der Minderzahl, zum Teil auch deswegen, weil sie ihre Position mit einem deutlichen Bekenntnis zum Ständestaat verknüpften, wie etwa der steirische Pfarrer Jakob Ernst Koch, der eine begeisterte Zustimmung zu den Beschlüssen der Reichsbekenntnissynode in Barmen verfaßte 37 , aber kläglich scheiterte, als er seine Amtsbrüder im Pfarrerverein zu einer Solidaritätsadresse zu motivieren versuchte 38 . 35 ULRICH TRINKS: Reaktionen in der Ev. Kirche in Österreich auf Barmen 1934 und den Kirchenkampf im Deutschen Reich. In: Widerstehen. Die Kirche im politischen Spannungsfeld Barmen 1934-1984 (Veröffentlichungen der Ev. Akademie Wien. 3). Wien 1985, S. 27-57, 30. 36 ALEXANDER VON MURALT: Bemerkungen eines Schweizers zur Hitler-Rede. In: CS vom 9.6.1935, S. 550f., hier: 551; ähnlich DERS.: Bemerkungen zu einem Hirtenbrief des Superintendenten D. Heinzelmann. In: CS vom 10.1.1937, S. 22f. Solange Heinzelmann nicht den Mut finde, zum Kampf gegen "Neuheidentum, Staatsvergötterung, Gewissenszwang, Freiheitsberaubung" im Nationalsozialismus aufzutreten, wirkten seine Klagen über Zurücksetzung im katholischen Staat nicht überzeugend. "Ein Wort der Solidarität mit der schwer kämpfenden deutschen Bekenntniskirche müßte von führender österreichischer ev. Seite nun endlich erfolgen, es wäre sachlich gerechtfertigt...". 37 Schreiben an den Bruderrat der Bekenntnissynode, 22.6.1934. In: G. REINGRABNER/ K. SCHWARZ, Quellentexte (Anm. 2), Nr.43, S. 151-153. 38 U. TRINKS, Reaktionen (Anm. 35), S. 50f. Vgl. zu Koch insgesamt zuletzt HEIMO BEGUSCH: Von der Toleranz zur Ökumene. In: Karl Amon/Maximilian Liebmann (Hg.): Kirchengeschichte der Steiermark. Graz; Wien; Köln 1993, S. 466-607, 531f.

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Mit dem nachfolgend mitgeteilten Hörfunkessay von Erwin Reisner mag noch eine weitere Stimme dokumentiert werden, die freilich aus einer ganz anderen Perspektive zum deutschen Kirchenkampf Stellung nahm. Dieses Votum zur theologiegeschichtlichen Relevanz des Kirchenkampfes - in Osterreich wurde er häufig verharmlosend als "Kirchenstreit" bezeichnet ist bislang unbekannt geblieben. Die Sammelschrift, die Carsten Nicolaisen zum 60. Geburtstag ehren möchte, scheint mir der rechte Ort zu sein, um diesen Archivfund zu veröffentlichen und damit den Jubilar zu grüßen. II. Die deutsche protestantische Theologie der Gegenwart und ihr Verhältnis zum Katholizismus. von Erwin Reisner Der Streit, der in der protestantischen Kirche Deutschlands nach dem Umsturz vom Jahre 1933 zum Ausbruch kam und, allen Versöhnungsversuchen zum Trotz, bis heute anhält, dieser Streit ist von einer ganz ungeheuren Bedeutung nicht nur für den Protestantismus oder gar für den deutschen Protestantismus allein, sondern für das gesamte Christentum überhaupt. Das muß jedem klar werden, der sich die Mühe nimmt, den Problemen, um die hier gerungen wird, ein wenig auf den Grund zu gehen. Während es sich bei den verschiedenen Reibungen zwischen der Reichsregierung und der katholischen Kirche eindeutig um einen Gegensatz zwischen weltlichen und kirchlichen Stellen handelt, geht im protestantischen Lager die Kampffront sozusagen mitten durch die Kirche hindurch. Vor allem sind es hier die sogenannten Deutschen Christen mit ihren Gesinnungsgenossen und die Anhänger der Bekenntniskirche, die einander gegenüber stehen und gleicherweise behaupten, Vertreter der rechtmäßigen evangelischen Kirche zu sein. Um diesen Streit wirklich zu verstehen, muß man die Geschichte des Protestantismus zurückverfolgen bis in das Zeitalter der Reformation. Genau besehen nämlich war die reformatorische Kirche, wenn auch vielleicht unbewußt, in sich gespalten vom Augenblick ihrer Entstehung an. Das Motiv, das im 16. Jahrhundert einen Teil des Kirchenvolkes veranlaßte, sich von der bis dahin einheitlichen abendländischen Kirche loszusagen, war nicht bei allen das gleiche. Während es dem einen Teil wirklich um nichts anderes ging als um eine Art Reinigung der chrisdichen Lehre von verschiedenen zeitbedingten weltanschaulichen Bindungen, erstrebte der andere einfach die Freiheit vom kirchlichen Regiment überhaupt, die Freiheit nämlich für das weltliche Leben. Die Einen also wünschten eine Form der chrisdichen Verkündigung, die unabhängig sein sollte von allen philosophischen und wissenschaftlichen Vorurteilen, die anderen hingegen lehnten bloß die älteren Vorurteile ab, während sie

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sich den neuen, das heißt den Vorurteilen ihrer eigenen Epoche, ihrer geistesgeschichtlichen Stunde kritiklos verschrieben. Und diese Vorurteile, die ja um nichts besser waren als die älteren, ja vielleicht sogar noch schlechter, wollte man sich auch von der christlichen Kirche beglaubigen lassen. Es ist nun eben dieser innere Gegensatz im Protestantismus, der anfangs beinahe unbemerkt blieb, im Laufe der Geschichte aber immer deutlicher zum Vorschein kam und heute zum offenen Bruch geführt hat. Der Katholizismus hat sich ein für allemal auf eine bestimmte Weltanschauung und auf eine bestimmte Philosophie festgelegt, die am besten durch den Namen Thomas von Aquino gekennzeichnet wird. Das macht seine Stärke und - wenigstens in den Augen der Protestanten - auch seine Schwäche aus. Der Protestantismus jedoch schmiegte sich dem Wandel des weltanschaulichen Denkens an. Das erscheint berechtigt, solange es sich nur darum handelt, allen Menschen und allen Zeiten das Evangelium in ihrer besonderen Sprache und ihrem besonderen Auffassungsvermögen entsprechend zu verkündigen, wird jedoch verhängnisvoll im Augenblick, da sich der Prediger oder die Kirche selbst an die jeweilige neue und andersartige Weltanschauung verliert. Denn in diesem Fall kommt es unvermeidlich zu Verfälschungen der christlichen Lehre, die als solche gerade nicht der Zeit und ihren Bedingungen unterworfen sein darf. Und das eben müssen auch wir Protestanten zugeben, daß unsere Kirche oft allzu willig und allzu kritiklos dem Zuge der Zeit gefolgt ist, daß sie sich nicht selten die jeweilig gerade moderne Denkungsweise so zueigen gemacht hat, als ob es sich dabei um eine ewige Wahrheit gehandelt hätte. Dieser "Kulturprotestantismus", wie man ihn heute nennt, hat tatsächlich alle Wandlungen von der Aufklärung über den Idealismus bis zum Liberalismus mitgemacht, er war mindestens zwei Jahrhunderte lang wirklich nicht viel mehr als eine Art Bildungsreligion für jene, die das Bedürfnis fühlten, ihrem bürgerlichen Leben einen letzten Glorienschein zu verleihen. Daß der echte christliche Glaube gerade umgekehrt Absage an die Welt, Überwindung der Welt, eben Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Christus ist, das hatte man in den kulturprotestantischen Kreisen, die lange Zeit in der Kirche die maßgebenden waren, allmählich vergessen. Nun ist aber freilich ein Mitgehen mit den wechselnden Weltanschauungen, mit dem sogenannten Fortschritt nur solange möglich als das Neue noch nicht seine notorische Unchristlichkeit, ja Antichristlichkeit, seine Unvereinbarkeit mit den Lehren des Evangeliums deutlich hervorkehrt. Tritt dieser Fall ein, dann wird sich wohl auch der liberalste Kulturprotestant, wenn ihm an seinem Christentum noch etwas liegt, zur Besinnung rufen lassen müssen, dann sieht er sich unvermeidlich vor die Entscheidung gestellt, dann wird jene Spaltung im Protestantismus, von der wir früher gesprochen haben, offenkundig. Es hat allerdings auch schon im 19. Jahrhundert protestantische Theologen gegeben, die sich der Gefahr sehr wohl bewußt waren und als Prediger in der Wüste ihre Stimme erhoben. Ich erwähne hier nur den seit etwa zwanzig Jahren sehr viel

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genannten dänischen Denker Sören Kierkegaard. Kierkegaard kämpfte mit aller Leidenschaft gegen die Verfälschung der christlichen Lehre durch den Idealismus, vor allem durch die damals gerade moderne Philosophie Hegels. Hegel selbst hielt sich auch für einen evangelischen Christen, und es gab nicht wenige zünftige Theologen, die seine Philosophie annahmen, ohne zu bemerken, daß sie damit auf einen gefährlichen Abweg gerieten. Die idealistische Philosophie ist nämlich im Tiefsten nichts anderes als eine sehr fein ausgeklügelte, als eine sehr raffinierte Selbstvergottung des Menschen. Der Idealist baut sich aus Ideen und Begriffen eine Scheinwelt, eine Traumwelt und vergißt in ihr die nüchterne Wirklichkeit, er vergißt, daß der Mensch hier auf Erden ein Leidender und Sterbender, ein erlösungsbedürftiger Sünder bleibt, den nur die Gnade Gottes retten kann. Allen Illusionen der idealistischen Weltanschauung stellt Kierkegaard den existentiellen, d.h. den wirklichen, den wesentlichen, den echten, den ungeschminkten Menschen entgegen, der sich so gibt, wie er ist, und sich nichts vormacht, der gleichsam nackt und bloß, seiner ganzen angeblichen Herrlichkeit entkleidet, vor Gott seinem Herrn und Richter steht. Es ist daher kein Zufall, daß die neuere protestantische Theologie in ihrem Kampf gegen die weltanschauliche Versklavung, also gegen die Verweltlichung des Christentums gerade auf Kierkegaard zurückgreift und seinen Begriff der Existenz und des existentiellen Menschen zu Ehren gebracht hat. Im übrigen hat Kierkegaard in der Nachkriegszeit auch bei katholischen Theologen vielfach Beachtung gefunden. Ich verweise hier nur auf das schöne und tiefe Buch des Jesuitenpaters Erich Przywara "Das Geheimnis Kierkegaards", dann auf die Schriften von Theodor Haecker und auf das Werk des Österreichers Ferdinand Ebner "Das Wort und die geistigen Realitäten". Der Gegensatz zwischen den beiden Strömungen im Protestantismus wirkt sich heute begreiflicherweise viel schärfer aus als jemals im 19. Jahrhundert. Zu seiner Zeit blieb Kierkegaard beinahe unverstanden; heute erst ist er wirklich lebendig; denn heute erst wird ganz unzweideutig klar, daß alle jene Weltanschauungen, die sich der Mensch aus seiner Vernunft und aus seinen irdischen Sehnsüchten zusammenbaut, im Tiefsten antichristlich sind. Das haben alle weltanschaulich bedingten Revolutionen unserer Zeit, die nationalsozialistische ebenso wie die bolschewistische schlagend bewiesen. Ein Mitgehen mit einer dieser beiden Bewegungen ist für den Christen schlechterdings unmöglich; denn Gott läßt sich weder leugnen und ausschalten, noch zum Volksgötzen erniedrigen und gleichschalten. Nun steht der Protestantismus vor dem Entweder-Oder, nun gibt es keine Verschleierungen, keine Halbheiten und keine Kompromisse mehr. Jetzt heißt es, sich entweder zu Christus dem Herrn oder zu Judas dem Verräter bekennen. Es ist vor allem die sogenannte "dialektische" oder kritische Theologie unter der Führung von Karl Barth, die den energischen Kampf gegen das weltanschaulich verfälschte Christentum, gegen den Kulturprotestantismus aufgenommen hat. Im Anschluß an Kierkegaard lehnte diese Theologie zunächst einmal mit aller Entschie-

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denheit jede idealistische Verwässerung der christlichen Dogmatik ab. Karl Barths Kommentar zum Römerbrief gehört zweifellos zu den bedeutendsten und wichtigsten theologischen Dokumenten der neueren Zeit und ist ein kirchengeschichtlicher Markstein erster Ordnung. Gegen den Idealismus kämpfen, das bedeutet im Protestantismus soviel, wie gegen die Theologie und Philosophie Schleiermachers kämpfen; denn Schleiermacher hat wohl wie kein zweiter seit Luther das protestantische Denken beeinflußt, u[nd] zw[ar] durchaus im idealistischen Sinn. Man darf ruhig sagen, daß das ganze 19. Jahrhundert und auch noch der Anfang des 20. theologisch von ihm bestimmt, ja beherrscht ist. Einzelne Ausnahmen können am Gesamtbild nichts ändern. Nun hat ja zwar Barth selbst kein besonderes Werk gegen Schleiermacher verfaßt, sondern bloß sein ehemaliger Kampfgenosse Emil Brunner, aber doch bricht auch bei ihm überall der Gegensatz spürbar durch. Auf den Idealismus folgt der Liberalismus, der alles, also auch das Christentum nur vom Standpunkt der Welt und des Wohlergehens in ihr betrachtete, der alle Hemmungen und alle Bindungen, auch die religiösen natürlich, fortzuschaffen suchte. Auch ihm gilt daher das entschiedene Nein der modernen kritischen Theologie. "Hätte die Legitimität, in der man damals ein menschüches Joch von sich werfen zu dürfen meinte, sich nicht darin erweisen müssen, daß man das Joch Christi nun erst recht auf sich nahm?" fragt Karl Barth im Blick auf jene protestantische Kirche, die selbst der liberalistischen Ideologie verfallen war. Für den Liberalismus war das Christentum, soweit er sich darum überhaupt noch kümmerte, nichts weiter als eine Art Verklärung der Kulturgüter, die sich der Mensch selbst geschaffen hatte. Er stellte also das Evangelium in den Dienst rein menschlicher und irdischer Zwecke, er machte daraus eine moralistische oder pragmatische Wohlfahrtsreligion. Demgegenüber steigert sich die Theologie Barths bis zu dem Satz: Das Christentum ist überhaupt keine Religion, sondern vielmehr die Krisis aller Religionen, nämlich jener Religionen, jener natürlichen Religionen, mit welchen sich der Mensch in irgend einer Form, oft auf scheinbar sehr fromme Weise, selbst zu dienen sucht. Und von dieser Art sind natürlich auch alle Religionen, denen ein Mythos zugrunde liegt, sei es nun der marxistische Mythos von der Selbstgesetzlichkeit des Wirtschaftlichen oder der nationalsozialistische von Blut und Rasse, also Rosenbergs Mythos des XX. Jahrhunderts. Wir befinden uns damit bei dem ganz aktuellen Problemkreis der modernen protestantischen Theologie. Während sich die Deutschen Christen, die Anhänger der offiziellen Reichskirche auch weiterhin der herrschenden Weltanschauung, eben der nationalsozialistischen verpflichtet fühlen, haben sich die Anderen gerade unter dem Anstoß des Kulturkampfes auf die wahren Grundlagen des Christentums besonnen und sind so mindestens auf dem Weg, auch verschiedene Sünden der Vergangenheit wieder gut zu machen. Und nun wollen wir kurz die Frage zu beantworten suchen: Wie verhält sich denn diese neue protestantische Theologie zur katholischen Kirche? Ein Berührungspunkt

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Karl Schwarz

springt zunächst wohl in die Augen: die entschlossene Hinwendung zum Gegenstand, zum Objekt des Glaubens und die Abkehr von allem bloßen Subjektivismus. Die idealisierende, von Schleiermacher beeinflußte evangelische Theologie neigte dazu, Göttliches und Menschliches in eine unbestimmte Einheit verfließen zu lassen. Die neue Theologie erklärt kategorisch: Hier steht der Mensch in seiner Sünde und dort der heilige Gott, dort Jesus Christus, an dem dein Heil hängt und an den du zu glauben hast, wenn du erlöst werden willst. Es ist kein Zweifel, daß dieser betonte Objektivismus, diese nachdrückliche Unterstreichung der Persönlichkeit Gottes im Katholiken verwandte Saiten zum Klingen bringt. Dennoch werden wir nicht sagen können, daß die neue protestantische Theologie der katholischen dogmatisch näher gerückt wäre. Eher das Gegenteil trifft zu. Denn von dem grundsätzlichen Standpunkt der Reformatoren, von Luther und von Calvin rückt diese Theologie ja keineswegs ab, sie verwirft nur die Verfälschungen, die das evangelische Christentum durch seine verschiedenen Ehebündnisse mit dem weltanschaulichen Denken erfahren hat. Immerhin, wo wirklich und allein Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes im Zentrum steht, ist noch nicht alle Hoffnung auf Verständigung verloren. Der, der gesagt hat, wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, dort bin ich mitten unter ihnen, wird wohl auch die Kraft haben, über alle menschlichen Standpunkte und Sondermeinungen hinweg die Einheit seiner Kirche herzustellen. Für die protestantische Theologie unserer Tage ist die "grimmige Abneigung vor Illusionen", wie sich Barth einmal ausdrückt, d.h. der Unwille gegen bloße Halbwahrheiten überaus kennzeichnend. Und vielleicht sind es tatsächlich nur Halbwahrheiten und nicht ganze Wahrheiten, die hüben wie drüben einer Versöhnung noch im Wege stehen, die den Katholizismus und den Protestantismus voneinander trennen. Die letzte und entscheidende Wahrheit aber heißt jedenfalls: Christus, der Herr! Auf ihn und auf das Bekenntnis zu ihm kommt es an. Sich zu Jesus Christus bekennen heißt jedoch immer auch schon, sich zu seiner eigenen Schuld und Sünde, zu seiner Angewiesenheit auf ihn, den Erlöser bekennen. Dieses Schuldbekenntnis, dieses Confiteor ist oder sollte doch wenigstens sein der tiefste Berührungspunkt nicht nur zwischen den einzelnen Christen, sondern ebenso zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen. Das Confiteor hat die radikale Selbstprüfung und Selbstkritik zur Voraussetzung. Wer bekennt, der erkennt den Balken im eigenen Auge und nicht den Splitter im Auge des katholischen oder protestantischen Bruders. Indem ich bekenne, setze ich zuerst hinter mich selbst ein Fragezeichen. Wir Protestanten glauben zwar, daß Jesus der Verheißung gemäß seine Kirche nicht von den Pforten der Hölle überwältigen lassen wird, aber wir halten sie freilich in ihrer irdischen Gestalt nicht für unfehlbar. Für uns ist die sichtbare Kirche eine menschliche Institution, die darum auch unter allen menschlichen Verkehrtheiten und Unzulänglichkeiten zu leiden hat, allen Versuchungen und Anfechtungen ausgesetzt ist und sich so nicht nur in ihren Teilen, sondern auch als Ganzes immer wieder zur

Der "Fall Reisner"

333

Buße rufen lassen muß. "Im Bekenntnis richtet nicht einer den anderen, sondern im Bekenntnis richtet die Kirche sich selbst", sagt Karl Barth. Ein zeitgenössischer evangelischer Theologe spricht einmal von dem "harten Glück" der Kirche, das ihr darin widerfährt, daß sie in der Bedrängnis wieder zum Bekenntnis gezwungen wird. Und dieses harte Glück eben ist heute tatsächlich da und dort über die Kirche gekommen, sie steht in der Bedrängnis und sieht sich so zum Bekenntnis gezwungen, die katholische Kirche genau so wie die protestantische. Das allein gibt uns Hoffnung, die Hoffnung nämlich, daß, wenn alle Kirchen einmal ihr ganzes Vertrauen auf Christus werfen, auch jene Standpunkte in Nichts zerfallen werden, die sie bis zum Augenblick voneinander scheiden. Auf solche Standpunkte verzichten, bedeutet nun aber freilich nicht, das Bekenntnis der eigenen Kirche, soweit es wirklich ein Bekenntnis ist, abschwächen und auf diese Art irgend einen billigen Kompromiß schließen. Das wäre ja eben der Weg, den der Liberalismus einzuschlagen versuchte und von dem weder der gläubige Katholik noch der gläubige Protestant etwas wissen will. Zusammenkommen und uns in der Wahrheit treffen werden wir nur dann, wenn jeder von uns an seinem eigenen Bekenntnis festhält und nicht nur daran festhält, sondern es darüber hinaus bis zu seinem letzten Ernst hinführt, bis dorthin, wo es wirklich zum Confiteor wird. Zum Schluß wollen wir uns an die Erzählung von Maria und Martha im Lukas-Evangelium erinnern. Während sich Martha, wie es heißt, viel um Jesus zu schaffen macht, setzt sich Maria still zu seinen Füßen und hört ihm zu. Als dann Martha etwas ungehalten auch die Schwester zur Arbeit ruft, antwortet ihr Jesus: "Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe; eines aber tut not. Maria hat den guten Teil erwählt." Sollten diese Worte nicht uns allen gelten, Katholiken wie Protestanten? Machen wir uns nicht alle viel zu viel zu schaffen mit unseren theologischen Rechthabereien, mit unseren kirchenpolitischen und kirchenorganisatorischen Geschäftigkeiten, statt uns einfach zu den Füßen des Herrn niederzulassen und seinen Worten zu lauschen? Eines nur tut not. Wenn wir dieses Eine finden, dann werden wir auch uns gefunden haben.

Björn Mensing " O H N E J E D E RÜCKSICHT A U F ETWAIGE SCHLIMME FOLGEN" i Walter Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting 1936-1939 "Der Zeitgeschichtler als Christ und Theologe weiß sich in der communio sanctorum [...] innerlich verbunden mit dem Gegenstand seiner Forschung, und dies wird sein Urteil darüber beeinflussen, wie 'Erbe und Auftrag' der Kirche in ihrer Geschichte zu erkennen und zu bestimmen sind. "2 Diese von Carsten Nicolaisen postulierte innerliche Verbundenheit wird besonders evident, wenn es sich bei dem "Forschungsgegenstand" um einen Amtsvorgänger oder um die eigene Kirchengemeinde handelt. Wenn der "Heimatforscher" sich dabei wie Nicolaisen konsequent der historischen Methode bedient, kann er dem Abgleiten in Hagiographie und "Hausgeschichtsschreibung" einerseits oder in tribunalisierende und moralisierende Konzeptionen andererseits entgehen. Mit Walter Hildmann3 erhielt Gauting» im Februar 1936 den ersten eigenen Geistlichen, der die Evangelischen in dieser Tochterkirchengemeinde von Starnberg sammeltes. Auch wenn Hildmann formal nur als Privatvikar zur Entlastung des Starnberger Pfarrers eingesetzt war, wirkte er im Einvernehmen mit seinem direkten Vorgesetzten, zunächst dem kranken Dr. Karl 1

Zitat in: Landeskirchliches Archiv Nürnberg, Bestand Personalakten Theologen 2378 (im folgenden: P A HILDMANN), Dekanatliche Beurteilung, 28.10.1936.

2

CARSTEN NICOLAISEN: Zwischen Theologie und Geschichte. Zur "kirchlichen

Zeitge-

schichte" heute. In: EvErz 42, 1990, S. 410-419, hier S. 418. 3

Geb. 1910 als Pfarrerssohn im unterfränkischen Herrnsheim, vermißt 1940 in Frankreich, 1931-1935 stud. theol. in Tübingen (Karl Heim), Erlangen (Karl Müller) und Bonn (Karl Barth), 1935 cand. theol., erste kurzfristige Verwendungen im Stadtvikariat Augsburg-St. Ulrich und als Katechet in München-Neuhausen.

4

1917 Gründung eines Kirchbauvereins und Einrichtung eines Betsaales, 1925 Tochterkirchengemeinde, 1928 Kircheneinweihung, 1950 Pfarrei. In der 30er Jahren hatte Gauting (mit dem seit 1967 selbständigen Stockdorf) ca. 700-800 Gemeindeglieder.

5

Sein Vorgänger, Privatvikar Herbert Rövenstrunk, wirkte nur wenige Monate in Gauting; vgl. FESTSCHRIFT DER EVANG. LUTH. GEMEINDE GAUTING ZUM 50JÄHRIGEN JUBILÄUM DER

KIRCHE. Gauting 1978, S. 13.

Walter Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting 1936-1939

335

Langenfaß, nach dessen Tod 1937 und einer Vakanzzeit seit Sommer 1938 dem im Kirchenkampf profilierten Dr. Walter Künneth, in Gauting sehr selbständig6. Schon nach wenigen Monaten hieß es in den dienstlichen Beurteilungen des Ingolstädter Dekans, Gottfried Meinzolt: Er "versteht Kinder und Jugendliche zu fesseln"7; "es gelingt ihm durch seine Predigten auch die sogenannten Gebildeten in Gauting an den Kirchenbesuch zu gewöhnen"8. Für den Münchner Kreisdekan, Oskar Daumiller, ist er "einer unserer begabtesten jungen Kollegen" 9 . Der Gautinger Kirchenvorstand kommt nach knapp dreijähriger Wirksamkeit Hildmanns zu dem Urteil, daß dieser die Gemeinde "in treuer und aufopferungsvoller Arbeit aufgebaut"10 habe. Hildmann selbst resümierte nach drei Jahren: "Seit März 1936 wirke ich dort als Missionar und Hirte mit viel Freude." 11 Eine detaillierte Darstellung der gesamten Wirksamkeit Hildmanns in Gauting kann und soll in diesem kleinen Beitrag nicht geleistet werden12. Das Augenmerk wird vielmehr auf die Geschehnisse gelegt, die Hildmann selbst in der Einschränkung des obigen Resümees andeutet: "wenn auch in den Grundton der Freude an Christus und seinem Wirken mancherlei erschütterte Klänge mitschwingen." Bei Hildmanns kirchenpolitischer und theblogischer Position und seinem Temperament waren gewisse "Erschütterungen" wohl unausweichlich. Sein Dekan charakterisierte ihn nach der Hauptvisitation 1936 folgendermaßen: "Er gehört zum radikalen Flügel der Bekennenden Kirche und der Pfarrbruderschaft. Das Vorgehen des Reichsbruderrates [i.e. Bruderrat der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche] unter Führung von Pfarrer Niemöller in Dahlem [sie!] sagt ihm weit mehr zu, als die Haltung des Lutherischen] Rates [i.e. Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands] und des bayerischen Landeskirchenrates. Auf der Kanzel nimmt er in ganz offener Weise zu allen öffentlichen] Fragen vom Boden des Evangeli6

Mit Langenfaß war die Zusammenarbeit problematischer als mit Künneth (vgl. EBD.; WALTER KÜNNETH: Lebensführungen. Der Wahrheit verpflichtet. Wuppertal 1979, S. 165).

7

P A HILDMANN (wie A n m . 1).

8 9

EBD., Dekanatliche Beurteilung, 7.4.1937. EBD., Daumiller an Künneth, 5.8.1938; Aufnahme- und Anstellungsprüfung absolvierte Hildmann jeweils mit der Note "sehr gut nahe". 10 EBD., Kirchengemeinde an Landeskirchenrat, 6.12.1938. 11 GERHARD HILDMANN (Hg.): Walter Hildmann. Geboren am 19. Dezember 1910 in Herrnsheim, vermißt seit 28. Mai 1940 bei Abbeville. Manuskript o. J. [noch im Zweiten Weltkrieg], S. 7 (Lebenslauf vom 20.2.1939). Die Broschüre wurde dem Verf. freundlicherweise von der Schwester Hildmanns, Irmintrud Bronsch, zu Verfügung gestellt. 12

Vgl. EBD.; OTTO VON TAUBE: Begegnungen und Bilder. Hamburg 1967, S. 108-123; FESTSCHRIFT ( A n m . 5), S. 13-15 u n d S. 3 0 .

336

Björn Mensing

ums aus Stellung."13 Wie diese Stellungnahmen und die Reaktionen der Gemeinde darauf ausfielen, spiegelt die Beurteilung des Dekans von Anfang 1938 wider: "Bei denjenigen Gemeindegliedern, die dem Nationalsozialismus sehr nahe stehen, erregt Hildmann manchmal Anstoß." 14 So beschwerte sich ein Starnberger Gemeindemitglied beim Landeskirchenrat über ihn: Er habe sich in Gottesdiensten "in sehr polemischer Weise über die kirchliche Lage, sogar den Staat geäußert, was Mißfallen in der Gemeinde verursacht" habe15. Als Beispiel nennt die Frau den Gottesdienst vom 4. Juli 1937, in dem Hildmann am Altar die Liste der von der Gestapo verhafteten Geistlichen mit Bemerkungen verlesen habe 16 . Zu diesen Bemerkungen gehörte sicher auch ein Protest gegen die Verhaftung Martin Niemöllers am 1. Juli 1937. Nachdem bereits 1937 ein Verfahren wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz beim Sondergericht München anhängig, aber "mangels Nachweises eines subjektiven Tatbestandes eingestellt"17 worden war, wurde Hildmann im März 1938 von der Vorsteherin der NS-Frauenschaft in Gauting angezeigt. Der Vikar hatte in seiner Predigt am Heldengedenktag ausgeführt, "es könne niemals Gotteswille gewesen sein, daß die Menschen sich in Kriegen umbrächten. Daß eine Mutter bei der Geburt denken könne, dieses Kind werde auch einmal auf dem Schlachtfeld verbluten, sei ja entsetzlich" 18 . Den Vorwurf einer pazifistischen Propaganda wies der Prediger im Verhör als "unsinnig" zurück; schließlich habe er im Herbst 1937 freiwillig an einer Wehrmachtsübung teilgenommen 19 . Der Gautinger Gendarmeriemeister merkte dazu an: "Hildmann versteht, wie immer, seine Beschuldigungen aufgrund seiner philosofischen [sie!] Bildung zu frisieren. [...] Leider kann nicht ein Zeuge ermittelt werden, der den Wortlaut getreu wiedergeben kann. Nach der politischen Einstellung des Hildmann muß vielmehr angenommen werden, daß er die Kriegspsychose im Zusammenhang mit dem 13 14 15 16

PA HILDMANN (Anm. 1), Hauptvisitationsbericht, 14.9.1936. EBD., Dekanatliche Beurteilung, 28.1.1938. EBD., Gemeindeglied an Landeskirchenrat, 5.7.1937. Vgl. zu den Fürbittenlisten der Bekennenden Kirche GERTRAUD GRÜNZINGERS Beitrag in dieser Festschrift. 17 STAATSARCHIV MÜNCHEN, Bestand Staatsanwaltschaften 3672, Staatspolizeileitstelle München an Sondergericht München, 28.3.1938; zu diesem Verfahren fehlen weitere Quellen. Schon als Katechet in München-Neuhausen war Hildmann wegen "staatsabträglicher Äußerungen" im Unterricht angezeigt worden. Das Verfahren wurde eingestellt, aber am 16.11.1935 wurde ihm die Erteilung des Unterrichtes an der Dr. Ustrich'schen Bürgerschule untersagt. 18 EBD., Gendameriestation Gauting an Bezirksamt Starnberg, 16.3.1938 (Zitat aus Verhörprotokoll vom 15.3.1938).

19 Der Landeskirchenrat hatte ihn vom 25.10. bis 23.12.1937 für die Übung beurlaubt, die er bei den Gebirgsjägern in Lenggries absolviert.

Walter Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting 1936-1939

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Heldengedenktag in einer dem Staate abträglichen Wohle [sie!] ausgenützt hat." 20 Interessant sind die Aussagen der von der Denunziantin angegebenen Zeugen, mit Ausnahme der Mesnerin evangelische Gemeindeglieder. Eine 64jährige Rentnersfrau sagte aus, "daß Hildmann öfters über Rosenberg u[nd] seine Schriften schimpfe [...] Hildmann politisiere gerne, was ihr nicht gefalle." Ahnlich äußerte sich eine 60jährige Kauffrau. Ein 37jähriger Händler und Parteigenosse nahm an der Predigt keinen Anstoß. Die Mesnerin gab an, "sie habe früher schon öfters wahrgenommen, daß Hildmann bei seinen Predigten ab u[nd] zu einen Trumpf gegen Staat u[nd] Partei eingeworfen habe, aber seit Weihnachten 37, seit er beim Militär war, mache er das nicht mehr." Anderer Meinung war die Staatspolizeileitstelle München: "Hildmann [setzt] seine Wühlarbeit, wenn auch in versteckter Form fort. Seine Äußerungen in der Predigt vom 13.3.38 hat [sie!] zweifellos das nationale Denken und Fühlen der Kirchenbesucher verletzt. Seine Ausführungen [...] sind geeignet den öffentlichen Frieden zu stören" 21 . Dennoch stellte das Sondergericht München am 2. Mai 1938 das Verfahren ein: "Ein strafbarer Tatbestand ist nicht nachweisbar." 22 Nur wenige Wochen nach der Einstellung des Verfahrens wurde Hildmann der Prozeß gemacht, weil er gemeinsam mit einem Pfarrer und zwei Diakonen ein Flugblatt über den Niemöller-Prozeß hergestellt hatte 23 . Ende Mai 1938 ereilten Hildmann mitten in seiner Anstellungsprüfung wegen des Flugblattes und einer neuerlichen Denunziation Haussuchung, Verhaftung und Gestapoverhör 24 . Die Verhaftung erfolgte nach einem Treffen der evangelischen Jugend in Gauting; einer der Teilnehmer hatte ihn angezeigt25. Im Mittelpunkt der Anschuldigung stand die Aussage Hildmanns: "Dem heutigen Staat ist es weniger um das Recht, sondern vielmehr um die Macht zu tun." Die kurze Haft verstärkte Hildmanns kritische Haltung: "Die Gespräche mit Mitgefangenen haben all das, was ich neulich auf der [sc. Pfarr-] Konferenz gesagt habe, aufs grauenhafteste bestätigt."26 Die Angelegenheit 20

Vgl. Anm. 18.

21

EBD., Staatspolizeileitstelle München an Sondergericht München, 28.3.1938.

22

EBD., Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht München an die Staatspolizeileitstelle München, 13.5.1938.

23

EBD., Bestand Staatsanwaltschaften 8726.

24

BAYERISCHES HAUPTSTAATSARCHIV MÜNCHEN, Bestand Ministerialakten 106671, Monatsbericht Juni 1938; PA HILDMANN (Anm. 1), Hildmann an Dekan, 27.5.1938; Kreisdekan an LKR, 8.7.1938; Hildmann an Kreisdekan, 28.9.1938.

25

Nach der Denunziation stellte Hildmann den mutmaßlichen Zuträger in der evangelischen Jugend öffentlich zur Rede und schloß ihn aus dieser Gruppe aus (vgl. EBD., Hildmann an Kreisdekan, 28.9.1938).

26

EBD., Hildmann an Dekan, 27.5.1938.

338

Björn Mensing

hatte das Verbot einer Jugendbibelfreizeit unter Hildmanns Leitung27, den Entzug des Religionsunterrichtes an der Städtischen Oberschule in Starnberg im Juni 1938 und den generellen Entzug im November 1938 zur Folge sowie den Rücktritt von der Anstellungsprüfung, die Hildmann dann erst 1940 als Soldat abschließen konnte. Hildmann verurteilte in einem Brief, trotz drohender Postüberwachung, die Schikanen im Blick auf seinen Religionsunterricht: "Diese andauernden, unaufrichtigen Schleichmethoden sind ekelerregend." 28 Im Prozeß wegen des Niemöller-Flugbattes wurden erst im Juni 1939 die Urteile gesprochen; Hildmann erhielt vier Monate Gefängnisstrafe, deren Verbüßung ihm aber zuerst durch ein Gesuch von Landesbischof Meiser um Strafaufschub, dann durch die Einberufung zur Wehrmacht Ende August 1939 und schließlich durch eine Amnestie erspart blieb29. Die staatlichen Maßnahmen gegen Hildmann veranlaßten die Kirchenleitung, seine Versetzung zum Jahreswechsel 1938/1939 anzuvisieren. In einem Gespräch mit seinem Kreisdekan signalisierte der Vikar seine Bereitschaft zu diesem Vorhaben, "nur hätte er gerne noch den Konfirmandenunterricht zu Ende geführt" 30 . Gegen die geplante Versetzung intervenierten jedoch der Dekan 31 und die Kirchengemeinde Gauting. Die Gemeindeglieder Otto von Taube und Oberst von Gilser überbrachten persönlich eine Petition an den Landeskirchenrat, daß Hildmann der Gemeinde "weiterhin erhalten bleibt" 32 . Der Eingabetext war auf mehreren vervielfältigten Blättern von ein paar Dutzend Gemeindegliedern unterschrieben worden. Zunächst hatten diese Interventionen offensichtlich den Landeskirchenrat von seinem Plan abgebracht. Doch am 9. Januar 1939 nahmen die Ereignisse eine dramatische Wendung. Auslöser war die persönliche Vorsprache eines Gautinger Kirchenvorstehers beim Vizepräsidenten des Landeskirchenrates, Dr. Hans Meinzolt: Hildmann sei "in seinen Nerven derart erschüttert, daß er dringend einer Erholung bedarf. Da Hildmann selbst wohl den Antrag auf Beurlaubung nicht stellen wird, empfiehlt der Kirchenvorsteher von Amtswegen Hildmann zu beurlauben"33. Noch am selben Tag beurlaubte die Kirchenleitung Hildmann "wegen Krankheit mit sofortiger Wirkung auf die Dauer von 27 EBD., Bezirksjugendpfarrer Henninger an Dekan, 13.7.1938. 28 EBD., Hildmann an Dekan, 14.7.38. 29 Kreisdekan und Landesbischof setzten sich auch intensiv für eine Abmilderung des Strafmaßes ein; Landeskirchenrat und Pfarrhilfskasse übernahmen die Gerichtskosten. 30 PA HILDMANN (Anm. 1), Kreisdekan an Landeskirchenrat, 25.11.1938.

31 EBD., Dekan an Landeskirchenrat, 27.12.1938 (Bitte an Kreisdekan schon am 10.12.1938). 32 EBD., Kirchengemeinde an Landeskirchenrat, 6.12.1938. 33 EBD., Aktennotiz H. Meinzolt, 9.1.1939; der Name des Kirchenvorstehers wird nicht genannt.

Walter Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting 1936-1939

339

8 Wochen" 34 . Hildmann nahm die Beurlaubung dankbar an; zumindest nach dem Eindruck des Landeskirchenrates. Daß der wahre Grund der Beurlaubung keine bloße nervliche Uberbelastung war, machte schon das überstürzte Vorgehen der Kirchenleitung deutlich. Kreisdekan Daumiller sah es jedenfalls so: "Dieselben Herren, die vor kurzer Zeit für sein Bleiben eingetreten sind, scheinen nun bedenklich geworden zu sein." 35 Auch für Künneth kam die Beurlaubung seines Privatvikares völlig überraschend: "Soviel ich gerüchtweise höre, handle es sich um eine Vorsichtsmaßnahme des Landeskirchenrates aus politischen Gründen, jedenfalls nicht um eine Erkrankung Hildmann's." 36 Hildmann, der im von Bekannten geführten Kinderheim Ingerlhof in Tegernsee und bei Freunden in Rotenburg an der Fulda lebte, beantragte schließlich immer wieder Verlängerungen seines Urlaubs, auch wenn es ihm schwer fiel und er es nicht als "Flucht" verstanden wissen wollte. "Es wird aber wohl das Beste sein, einige Zeit aus dem Blickfang zu geraten."37 Der Landeskirchenrat gewährte ihm die Verlängerungen - ohne Gehalt -, die letzte reichte bis Anfang Oktober 1939.38 Die Kirchenleitung schickte Anfang März 1939 Heinrich Hell als Nachfolger von Hildmann nach Gauting; Hildmann wurde angewiesen, sich in seiner Beurlaubung aller Amtshandlungen zu enthalten. Am 26. März 1939 durfte er noch eine Abschiedspredigt halten, deren Text er allerdings vorher dem Kreisdekan vorzulegen hatte 39 . Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting richtete sich nicht nur gegen das NS-Regime, sondern auch gegen die Kirchenpolitik der eigenen "intakten" Landeskirche. Als der Landeskirchenrat im Mai 1938 den Treueid der Pfarrer auf Hitler anordnete, wandte sich der Vikar an seinen Dekan: "Es ist zum Weinen! Unsere Kirchenleitung blickt nicht auf Gottes Leitung und Möglichkeiten, sondern auf unsere politischen Möglichkeiten"; die Kirche 34 EBD., Landeskirchenrat an Dekanat, 9.1.1939. 35 EBD., Kreisdekan an Landeskirchenrat, 14.1.1939; vgl. Kreisdekan an Hildmann, 2.6.1939, in dem Daumiller Hildmann zur Vorsicht gegenüber Oberst von Gilsa rät. 36 EBD., Künneth an Dekanat, 18.1.1939. So sahen es auch andere Gautinger; vgl. HEINRICH HELL: Lebensbeschreibung. Manuskript Starnberg 1983, S. 62; FESTSCHRIFT (Anm. 5), S. 15, S.30.

37 PA HILDMANN (Anm. 1), Hildmann aus Tegernsee an Kreisdekan, 20.2.1939; Hildmann an Landeskirchenrat, 2.8.1939.

38 EBD., Hildmann an Landeskirchenrat, 2.8.1939; Landeskirchenrat an Hildmann, 8.8.1939; eine von Hildmann beantragte Unterstützung aus der Pfarrhilfskasse sei nicht möglich, weil Hildmann seinen Urlaub freiwillig genommen habe. 39 Hildmann hielt sich nicht an diese Auflage und legte das Predigtmanuskript erst nachträglich vor.

340

Björn Mensing

"werde dann vollkommen zur Hure" 40 . Hildmann selbst hatte als Vikar den Eid ohnehin nicht abzulegen. Im Herbst 1938 wurden die Pfarrer, die Religionsunterricht erteilten, aufgefordert, ihren "Ariernachweis" zu erbringen. Hildmann äußerte gegenüber Kreisdekan Daumiller seine "Bedenken" gegen diesen; er wisse sich "unbeschadet seiner rassischen Herkunft" durch seine Ordination in der "Kette des ewigen Priestertums" 41 . Durch den "Ariernachweis" sah Hildmann die Glaubwürdigkeit der Kirche gefährdet. Keine Verheißung habe hier das "halbe, Kompromiß-Handeln im Kleinglauben". "Hinter uns liegt die verhängnisvolle Behandlung der Eidesfrage. Sie macht uns alle vor Gott schuldig; am meisten hat sie aber die Glaubwürdigkeit der Kifrchen-] Leitung belastet." Hildmann habe "es am eigenen Leibe erfahren, daß die Glaubwürdigkeit einer Kirchenleitung in den Stunden der Not vom vorausgegangenen Tat-Bekenntnis dieser Ki[rchen-] Leit[un]g abhängt." Als Antwort verwies Dekan Meinzolt darauf, daß der "Ariernachweis" nicht von der Kirche, sondern vom Staat von allen Lehrern gefordert worden sei. An Hildmann direkt gerichtet, fügte er hinzu: "Ich könnte mir es nicht vorstellen, daß heutzutage eine deutsche evangelische Gemeinde einen Neger als Pfarrer erhalten könnte." 42 Hildmann stimmte dem Dekan zu, daß die Kirche im 'Dritten Reich' keine "Juden" oder "Neger" "neuordinieren" werde. "Was aber mit den bereits Ordinierten? Wir müssen sie decken" 43 . Die Forderung nach einem "Ariernachweis" der Religionslehrer löse sonst die Ordination auf. "Und das verlangt ein Staat mit Paragraph 24 und mit einem Führer, der in Potsdam vor dem Altar schwört." Es sei hier nötig und auch möglich, dem Staat "Widerstand" zu leisten, weil der Staat von sich aus die Bande zur Kirche nicht ganz durchtrennen werde. Als Hildmann in seiner Abschiedspredigt im März 1939 die Gefahr einer versagenden Kirche andeutete und den Landeskirchenrat expressis verbis in seine Kritik miteinbezog, erhob der Landeskirchenrat Widerspruch gegen diese Predigtäußerungen. Der Vikar habe hier aus seiner "noch nicht geklärten und unfertigen Haltung heraus" "Kritik der Kirche vor die Gemeinde" 44 gebracht. Er müsse in seiner Kritik "zurückhaltender" werden. Die Beurteilung von Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting durch seine kirchlichen Vorgesetzten, die ihm abgesehen von dieser Zurechtweisung 40

PA HILDMANN (Anm. 1), Hildmann an Dekan, 27.5.1938.

41 42 43 44

EBD., Hildmann an Kreisdekan, 19.10.1938. EBD., Dekan an Hildmann, 24.10.1938; vgl. Dekan an Kreisdekan, 24.10.1938. EBD., Hildmann an Dekan, 2.11.1938. EBD., Kreisdekan an Hildmann, 6.4.1939; Hildmann hatte sein Predigtmanuskript (nachträglich) vorgelegt, Daumiller war von Gottesdienstbesuchern zudem über die Schärfe der Kritik informiert worden.

Walter Hildmanns "Kirchenkampf" in Gauting 1936-1939

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immer wohlwollend gegenüberstanden, findet sich exemplarisch in einem Schreiben Daumillers an Hildmanns Bruder Gerhard vom Juli 1939: "Hoffentlich hat Walter aus den mancherlei bitteren Erfahrungen [...] doch etwas gelernt, zum mindesten das eine, daß er, sowohl was die Menschen anlangt, die an ihn herankommen, als in dem, was er selbst sagt und tut, vorsichtiger ist, weil er dadurch sonst nur sich selbst und andere gefährdet." 45 Hildmann deutete diese bitteren Erfahrungen und Erschütterungen anders: "Wenn er [Christus] uns erschreckt, lockt er uns eigentlich. Hintennach merken wir's immer. Diese Einsicht ist auch die Chiffre des Lebens, das mit mir gelebt wird." 46

45 EBD., Daumiller an G. Hildmann, 25.7.1939. 46 G. HILDMANN, Walter Hildmann (Anm. 11), S. 53 (Zitat aus einem der letzten Feldpostbriefe von seinem Tod).

Ursula Büttner "WOHL DEM, DER A U F DIE SEITE DER LEIDENDEN GEHÖRT" Der Untergang des Dichters Jochen Klepper mit seinen Angehörigen als Beispiel für die Verfolgung jüdisch-christlicher Familien im "Dritten Reich" Nur wenige evangelische Christen, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden, haben im kollektiven Gedächtnis ihrer Kirche einen Platz gefunden. Zu ihnen gehört der Dichter Jochen Klepper. Obwohl er anders als die meisten, an deren Zeugnis in der Zeit der Unrechtsherrschaft sich die Kirche erinnert, an erster Stelle Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller, am Kampf gegen die Ubergriffe und glaubenswidrigen Zumutungen des NSRegimes nicht aktiv beteiligt war, hat sein Schicksal bleibende Unruhe hinterlassen. Seine Entscheidung, an der Seite seiner jüdischen Frau und Stieftochter auszuhalten und, als er sie nicht mehr zu schützen vermochte, mit ihnen in den Tod zu gehen, bot Anlaß für viele Fragen und Selbstzweifel, so sehr unterschied sie sich von der Haltung der Kirchenleitungen und der meisten Christen, auch in den Reihen der Bekennenden Kirche, die über die Not der Juden wie auch der von ihnen abstammenden oder mit ihnen durch die Ehe verbundenen Mitchristen bedenkenlos hinweggingen. Kleppers Weg im Dritten Reich konnte als Mahnung verstanden werden, die Berufung auf ihn aber auch dazu dienen, das Versagen der Mehrheit der Protestanten angesichts der Judenverfolgung zu verdecken. Schon in den fünfziger Jahren erschien eine umfangreiche Auswahl aus den Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1932 bis 1942.1 Mehrere Briefeditionen und Erinnerungsbücher folgten in den sechziger und frühen siebziger Jahren.2 Der Todestag am 10. Dezember 1942 wurde zum symbolischen 1

2

JOCHEN KLEPPER: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 19321942, hg. von Hildegard Klepper. Stuttgart 1968 (zuerst 1956); DERS.: Überwindung. Tagebücher und Aufzeichnungen aus dem Kriege, hg. von Hildegard Klepper. Stuttgart 1958. JOCHEN KLEPPER: Gast und Fremdling. Briefe an Freunde, hg. von Eva-Juliane Meschke. Witten; Berlin 1960; DERS.: Briefwechsel 1925-1942, hg. von Ernst G. Riemschneider. Stuttgart 1973; aus Anlaß des 50. Todestages neuerdings: DER DU DIE ZEIT IN HÄNDEN HAST.

Der Untergang Jochen Kleppers

343

D a t u m , zu d e m seit der zwanzigsten W i e d e r k e h r 1 9 6 2 regelmäßig G e d e n k v e r a n s t a l t u n g e n stattfanden u n d Bände ü b e r K l e p p e r erschienen. 3 A u c h a m 50. Todestag gedacht. 4

1 9 9 2 w u r d e an verschiedenen O r t e n der F a m i l i e

Seine

Lieder

nehmen

in

den

Gottesdiensten

Klepper

evangelischer

G e m e i n d e n in D e u t s c h l a n d einen w i c h t i g e n P l a t z ein. Bei n ä h e r e m Z u s e h e n v e r d u n k e l t sich aber das Bild: D i e f r ü h e n Editionen w u r d e n v o n K l e p p e r p e r s ö n l i c h nahestehenden M e n s c h e n

besorgt;

ebenso s t a m m t e n die meisten W ü r d i g u n g e n aus d e m K r e i s der Freunde. 5 Eine kritische Gesamtausgabe der autobiographischen S c h r i f t e n fehlt bis heute. D i e einzige Biographie K l e p p e r s w u r d e v o n einer als K i n d

aus

D e u t s c h l a n d v e r t r i e b e n e n jüdischen H i s t o r i k e r i n v e r f a ß t , die aufgrund ihres p e r s ö n l i c h e n Schicksals viel S y m p a t h i e f ü r die C h r i s t e n auf d e r Seite v o n J u d e n aufbrachte, den religiösen V o r a u s s e t z u n g e n des gläubigen Lutheraners aber d o c h nicht v o l l gerecht w e r d e n k o n n t e . 6 V o n denen, die K l e p p e r s Lieder singen, w i s s e n w a h r s c h e i n l i c h i n z w i s c h e n n u r n o c h wenige, in w e l c h e r Bedrängnis sie entstanden. U n d die n o c h etwas d a v o n ahnen,

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bedauern

Briefwechsel zwischen Rudolf Hermann und Jochen Klepper 1925-1942, hg. und kommentiert von Heinrich Assel. München 1992. - K U R T IHLENFELD: Freundschaft mit Jochen Klepper. Witten/Berlin 1958; ILSE JONAS: Jochen Klepper, Dichter und Zeuge. Ein Lebensbild. Berlin 1968. RUDOLF WENTORF (Hg.): Nicht klagen sollst du: leben. Jochen Klepper in memoriam zum 10. Dezember 1 9 6 7 . Gießen/Basel 1 9 6 7 ; GÜNTER WLRTH: Jochen Klepper. Berlin 1 9 7 2 ; HEINZ GROSCH: Nach Jochen Klepper fragen. Annäherung über Selbstzeugnisse. Bilder und Dokumente. Stuttgart 1 9 8 2 ; CORDULA KoEPCKE: Jochen Klepper. Hamburg 1 9 8 3 3 ; OLIVER KOHLER (Hg.): In deines Herzens offene Wunde. In Erinnerung an Jochen Klepper (19031 9 4 2 ) . Hünfelden/Gnadenthal 1 9 9 2 ; DETLEV BLOCK: Daß ich dich leidend lobe. Jochen Klepper - Leben und Werk. Lahr 1992. U.a. fand in Hamburg in Zusammenarbeit der dortigen Evangelischen Akademie und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ein Symposion mit Vorträgen von Jürgen Henkys, Joachim Mehlhausen und Ursula Büttner statt. JOACHIM MEHLHAUSEN hat seinen Vortrag in erweiterter Form veröffentlicht: Jochen Klepper. Eine Gedenkrede und Anmerkungen zum Forschungsstand. In: ZKG 104, 1993, S. 358-376. JÜRGEN HENKYS' Beitrag erschien in der Hauszeitschrift der Akademie: Jochen Klepper - Schreiben und Verstummen vor Gott. Ein evangelischer Dichter im Deutschland der Judenvernichtung. In: Orientierung. Berichte und Analysen aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Nordelbien, Heft 4/1992, 13-24. Mein Beitrag wird hier in erweiterter und annotierter Fassung vorgelegt. Die Tagebücher wurden von der Schwester Hildegard Klepper herausgegeben (vgl. Anm. 1); zu Kleppers Freunden gehörten u.a. Eva-Juliane Meschke, Kurt Ihlenfeld, Ilse Jonas (vgl. Anm. 2) und Rudolf Wentorf (Anm. 3). RITA THALMANN: Jochen Klepper. Ein Leben zwischen Idyllen und Katastrophen, München 1978, 2. Aufl. 1992.

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Kleppers Los als tragisches Einzelschicksal, ohne sich bewußt zu machen, daß Zehntausende von Deutschen durch ihre Ehe mit Juden oder zu Juden erklärten Menschen im Dritten Reich in gleicher Lage waren. An die wachsende Not dieser Gruppe von Menschen, deren Verfolgung später weithin vergessen wurde, möchte ich deshalb hier erinnern und die Leiden der Familie Klepper in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft im weiteren Kontext der Entrechtung der christlich-jüdischen "Mischfamilien" darstellen.7 Diese Familien standen auf der Grenze zwischen der nichtjüdischen Mehrheit und der jüdischen Minderheit des deutschen Volkes. Sie hatten enge Beziehungen zu der nichtjüdischen Umgebung und viele nichtjüdische Verwandte und Bekannte, die zum Teil einflußreiche Positionen innehatten. Im Hinblick auf diese Angehörigen ließ das NSRegime bei der Verfolgung der Juden in "Mischfamilien" eine gewisse taktische Vorsicht walten und suchte sorgfältig auszuloten, wie weit es mit seinen Maßnahmen gehen konnte, ohne zu viel Unruhe in nichtjüdischen Kreisen auszulösen. Die Einstellung der deutschen Mehrheit zur nationalsozialistischen Judenpolitik und ihre Mitverantwortung durch stillschweigende Hinnahme oder gar bewußte Unterstützung der antijüdischen Maßnahmen, treten daher am Beispiel der "Mischfamilien" besonders klar zutage.

7

Diesen bis dahin wenig beachteten Aspekt der nationalsozialistischen Judenverfolgung habe ich ausführlich im 1. Kapitel meines Buches über eine andere betroffene Familie behandelt, weshalb ich mich hier auf den Nachweis der Zitate und ergänzende Bemerkungen zu den Erfahrungen Kleppers beschränke: URSULA BÜTTNER: Die Not der Juden teilen. Christlichjüdische Familien im Dritten Reich. Beispiel und Zeugnis des Schriftstellers Robert Brendel. Hamburg 1988. Vgl. außerdem JOHN A. S. GRENVII.LE: Die "Endlösung" und die "Judenmischlinge" im Dritten Reich. In: DAS UNRECHTSREGIME. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, hg. von Ursula Büttner. Bd. 2. Hamburg 1986, S. 91-127; JEREMY NOAKES: Wohin gehören die "Judenmischlinge"? Die Entstehung der ersten Durchführungsverordungen zu den Nürnberger Gesetzen. In: EBD., S. 69-89; DERS.: The Development of Nazi Policy towards the German-Jewish "Mischlinge" 1933-1945. In: YLBI X X X I V , 1989, S. 291-354; URSULA BÜTTNER: The Persecution of Christian-Jewish Families in the Third Reich. In: EBD., S. 267-289. Bei vielen dieser angeblichen "Mischfamilien" handelte es sich um konfessionell rein christliche Familien, in denen ein Ehepartner jüdischer Abstammung war. Uber das Schicksal dieser sog. "nichtarischen" Christen informiert jetzt das Werk von EBERHARD RÖHM/JÖRG THIERFELDER: Juden - Christen - Deutsche. Bd. 12/N. Stuttgart 1990-1992; vorher schon als Hinweis auf das Forschungsdesiderat: KURT NOWAK: Das Stigma der Rasse. Nationalsozialistische Judenpolitik und christliche Nichtarier. In: Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung, hg. von JochenChristoph Kaiser und Martin Greschat (KoGe. 1). Frankfurt am Main 1988, S. 73-99; ferner WERNER COHN: Bearers of a Common Fate? The "Non-Aryan" Christian Fate-Comrades of the Paulus-Bund, 1933-1939. In: YLBI XXXffl, 1988, S. 327-366.

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Jochen Klepper war, wie gesagt, kein Einzelfall. Ein Jahr vorher, im November 1941, hatte sich der Filmschauspieler Joachim Gottschalk mit seiner Frau, einer Christin jüdischer Abstammung, und seinem Kind das Leben genommen, weil nach einer erlogenen Mitteilung aus dem Reichspropagandaministerium an die bevorstehende Deportation seiner Frau "in den Osten" glaubte.8 Noch im Februar 1945 entschied sich in Hamburg ein ehemaliger Offizier, seine jüdische Frau und sich selbst zu töten, um ihr den Abtransport ins Ghetto Theresienstadt zu ersparen.9 Niemand weiß, wie viele Unbekannte mit ihren jüdischen Partnern den Tod suchten, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sahen. Sogar die Gesamtzahl der Menschen, die wegen ihrer Ehe mit einem Juden oder einer Jüdin in die nationalsozialistische Verfolgung gerieten, kann nur geschätzt werden. Bekannt ist, daß von den fast 500 000 Juden in Deutschland 1933 ca. 35 000 in konfessioneller Mischehe mit Christen lebten. Aber diese Angabe bezieht sich nur auf Menschen jüdischen Glaubens.10 Hinzu kam eine unbekannte Zahl von Christen oder Dissidenten jüdischer Abstammung, die mit nichtjüdischen Partnern verheiratet waren, nach der nationalsozialistischen Rassendefinition also ebenfalls eine "Mischehe" führten. Die Familie Klepper steht für beide Kategorien: Im Dezember 1938 ließ sich Hanni, im Juni 1940 auch die Tochter Renate (Reni) taufen, so daß aus der konfessionellen Mischehe eine "rassenverschiedene Mischehe" von Christen wurde. Für ihr weiteres Schicksal war das ohne jede Bedeutung, denn für die Nationalsozialisten war die Taufe belanglos und allein die angebliche "Rassenzugehörigkeit" entscheidend. Vielleicht 40 000 bis 50 000 Menschen teilten das Schicksal der Juden, obwohl sie selbst nicht zu er verfemten Gruppe gehörten und sich durch Scheidung leicht der Verfolgung hätten entziehen können. Auch mit ihren jüdischen oder jüdischstämmigen Ehepartnern und ihren "halbjüdischen" Kindern war die Gruppe so klein, daß sie in der Forschung und in der kollektiven Erinnerung fast unbeachtet blieb. Ihr Los wurde durch das schlim8

HANS-JÜRGEN BRANDT: Erinnerungen an die Tragödie einer Künstlerehe: Meta und Joachim Gottschalk. In: Frankfurter Hefte 37, 1982, Heft 1, S. 5-8. KLEPPERS Tagebucheintragung über den Selbstmord der Familie Gottschalk zeigt, wie sehr ihn deren Entscheidung bewegte und entsprechende Überlegungen im Hinblick auf die jüdische Stieftochter Renate verstärkte: "Sie für den äußersten Gefahrenfall im Sinne des Selbstmords zu beeinflussen, ist weniger grausam, als sie dem Schicksal der Deportation auszuliefern" (Unter dem Schatten [Anm. 1], S. 183f. [17.11.1941}.

9

MARIE-LUISE SoLMrrZ: Tagebucheintragung vom 14.2.1945 (Archiv der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg: 11/S12).

10 HERBERT A. STRAUSS: Jewish Emigration form Germany. Nazi Policies and Jewish Responses (I). In: Y L B I X X V , 1980, S. 313-361, speziell S. 317.

346

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mere Schicksal der Juden überdeckt, denn soweit sie nicht selbst der Not ein Ende machten, überlebten die meisten das Dritte Reich. Die in "Mischehe" verheirateten Juden entgingen als einzige der Deportation und Ermordung. Insofern waren sie "privilegiert", wie es im zynischen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hieß. Man muß es ganz deutlich sagen: Ihr "Privileg" bestand darin, nicht ermordet zu werden. Im übrigen wurden auch sie und ihre Angehörigen in immer stärkerem Maß um ihre Lebenschancen gebracht: aus ihren Berufen verdrängt, von Ausbildungsmöglichkeiten abgeschnitten, wirtschaftlich ruiniert, unter Ausnahmerecht gestellt, physisch und psychisch zerrüttet. Mit allen Mitteln versuchten die Machthaber auf die nichtjüdischen Ehepartner von Juden Druck auszuüben, sich scheiden zu lassen. Aber die meisten hielten stand. Die Scheidungsrate war eher niedriger als im Durchschnitt. Sogar innerlich zerstörte Ehen wurden fortgeführt, um den jüdischen Mann oder die jüdische Frau zu schützen.11 Von ihrer Zahl her waren die "Mischfamilien" historisch nicht relevant. Doch wegen dieses Standhaltens verdienen sie Beachtung und Respekt - gerade weil ihr Verhalten das Versagen der Mehrheit der Deutschen um so deutlicher erkennen läßt. Jochen Klepper steht für diese Gruppe. An die wichtigsten Daten seines Lebens brauche ich hier nur kurz zu erinnern: Er wurde 1903 als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Beuthen geboren, studierte Theologie, schloß das Studium aber nicht mit dem Examen ab, sondern fand 1927 eine Anstellung als Journalist beim Evangelischen Presseverband. Aus einer schweren psychischen Krise rettete ihn die Liebe zu Johanna (Hanni) Stein, einer um 13 Jahre älteren, verwitweten Jüdin, die er 1931 heiratete. Hanni brachte zwei jüdische Kinder mit in die Ehe, die Jochen Klepper wie eigene liebte, trotz aller Schwierigkeiten, die nur zwei Jahre später wegen dieser Verbindung auf ihn zukamen, hat er sie nie infrage gestellt, sondern als persönliche Rettung empfunden. Die Heirat besiegelte den Bruch mit dem Elternhaus, das zwar die durch Hanni ermöglichte finanzielle Unterstützung annahm, die Jüdin aber ablehnte. Seit 1931 arbeitete Klepper als freier Journalist und Schrift-

11 In Baden-Württemberg wurden 7,2% der erfaßten "Mischehen" geschieden, mehr als ein Drittel davon im Zusammenhang mit der Auswanderung des jüdischen Partners (PAUL SAUER: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945. Stuttgart 1969, S. 328f.) In Hamburg waren knapp 10% der "Mischehen" durch Tod oder Scheidung beendet worden (LEO LIPPMANN: Der jüdische Religionsverband Hamburg im Jahre 1942 [Manuskript im Archiv der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg: Nr. 6241J. Über die Fortsetzung einer zerrütteten Ehe zum Schutz des jüdischen Partners berichtet u.a. IDA EHRE: Gott hat einen größeren Kopf, mein Kind ... Hamburg 1985.

Der Untergang Jochen Kleppers

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steller in Berlin, im November 1932 wurde er Assistent beim Berliner Rundfunk. Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten fand die gerade erst begonnene Berufskarriere ein jähes Ende. Im Juni 1933 mußte Klepper wegen seiner jüdischen Frau aus dem Rundfunk ausscheiden; eine Anstellung bei einer Radiozeitung des Ullstein-Verlags, die er kurz darauf erhielt, endete im September 1935. Er konnte aber noch Artikel und kleinere Dichtungen veröffentlichen, und im Februar 1937 erschien sein Roman des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I, "Der Vater", der seinen Ruf begründete. Führenden Nationalsozialisten war das Werk wegen des Themas wichtig; Menschen, die dem Regime distanziert gegenüberstanden, schätzten es, weil in ihm ein nicht nur machtbesessener, sondern von religiösen Skrupeln geplagter Herrscher geschildert wurde. Der Erfolg des Buches, das die UFA sogar verfilmen wollte, sicherte Klepper genügend Einnahmen, daß er die den Juden auferlegten Sondersteuern und -abgaben - u.a. die "Sühneabgabe", in Höhe von einem Viertel des Vermögens für seine Frau entrichten und trotzdem mit seiner Familie im eigenen Haus ein bescheidenes Leben führen konnte. Nur einen Monat nach dem Erscheinen des "Vaters" wurde Klepper im März 1937 wegen seiner jüdischen Frau aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, durfte aber mit einer Sondergenehmigung nach Prüfung seiner Manuskripte im Reichspropagandaministerium weiter publizieren. Trotzdem wurden die Vorschriften und Maßnahmen gegen die Juden auch für seine Familie zu einer immer schwereren Belastung, worüber ich im generellen Zusammenhang gleich näher berichten will. Im Mai 1939 gelang der ältesten Tochter Brigitte die Auswanderung nach England. Für die jüngere, Renate, wurde die Lage in Deutschland immer gefährlicher. Im März 1940 wurde sie vom Arbeitsamt - unter deutlichem Hinweis auf die Deportation einer ersten Gruppe von Juden nach Lublin - zur Zwangsarbeit in Berlin herangezogen. Klepper mußte im Dezember 1940 zur Wehrmacht einrücken, im Widerspruch zu einer Anordnung Hitlers vom April, daß alle "jüdisch versippten" Männer "wehrunwürdig" seien. Zehn Monate später, im Oktober 1941, wurde er deshalb aus der Armee entlassen. Im gleichen Monat begann die systematische Deportation der deutschen Juden in die Ghettos und Vernichtungslager des Ostens; ihre Auswanderung wurde verboten. Während Hanni durch die Ehe mit einem "deutschblütigen" Mann vorläufig noch Schutz genoß, war ihre Tochter Renate von nun an akut bedroht. Verzweifelt setzte Klepper seine Verbindungen zu ausländischen Kirchenvertretern und sein Ansehen bei führenden Nationalsozialisten ein, um ihr doch noch zur Auswanderung zu verhelfen. Ein Schreiben des Reichsinnenministers Frick, daß ihre "Evakuierung" zur Zeit nicht vorgesehen sei, bewahrte sie mehrmals vor dem Abtransport. Im

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Dezember 1942 lag endlich eine Einreisegenehmigung der schedischen Regierung vor. Aber nun mußte Heydrichs Apparat als zuständige Instanz für die "Gesamtlösung der europäischen Judenfrage" die Auswanderung gestatten. In einer persönlichen Unterredung erklärte Frick, nichts mehr für Hanni und Reni tun zu können. Der Beauftragte Heydrichs, Adolf Eichmann, lehnte am 10. Dezember 1942 die ausnahmsweise Ausreisebewilligung ab. So sahen Klepper und seine Familie nur den einen Ausweg, der vor ihnen Gottschalk und andere gewählt hatten, gemeinsam in den Tod zu gehen. Der bekannte, bei wichtigen Persönlichkeiten des Dritten Reichs hochangesehene Dichter des "Vater" hatte manche Vorteile gegenüber anderen Menschen in seiner Lage gehabt. Trotzdem wurde die Familie immer einsamer und die Angst vor neuen Verfolgungen immer quälender. Zugeständnisse ließen sie vorübergehend hoffen, doch das Ende war unausweichlich. Weder die Taufe der beiden Frauen noch der Name Kleppers und seine Beziehungen zu einflußreichen Männern vermochten am Ausgang etwas zu ändern. Das Schicksal seiner Familie zeigt, mit welcher unerbittlichen Konsequenz und Zielstrebigkeit die Nationalsozialisten ihre Judenpolitik verfolgten. Kein Jude und keine Familie mit jüdischen oder von Juden abstammenden Mitgliedern konnte der Verfolgung entgehen. Was das für die "Mischfamilien" bedeutete, will ich im folgenden näher beschreiben: Das Endziel der nationalsozialistischen Judenpolitik stand von Anfang an unverrückbar fest: alle Juden - nach der NS-Definition - aus dem deutschen Volk und dem deutschen Herrschaftsbereich zu entfernen. "Vom Standpunkt der N S D A P aus könne entsprechend dem Parteiprogramm die Judenfrage erst dann als gelöst angesehen werden, wenn es in Deutschland keinen Juden mehr gibt", so erklärte ein führender Funktionär der N S D A P 1936. 12 Dies galt auch und gerade für Juden, die durch Heirat besonders eng mit der übrigen deutschen Bevölkerung verbunden waren. Zwar konnten je nach Opportunität Tempo und Methoden der Verfolgung wechseln, Pausen eintreten und Teilgruppen von Opfern zeitweise ausgenommen werden, aber eben nur zeitweise. A m Endziel änderte das nichts. In der ersten Phase der Verfolgung, von 1933 bis 1935, richteten sich die Maßnahmen gegen alle "Nichtarier", Menschen mit wenigstens einem Juden oder einer Jüdin unter den Großeltern. Ausnahmen gab es für "Frontkämpfer" des 1. Weltkriegs; die Ehe mit einem "arischen" Partner spielte dagegen keine Rolle. Im Gegenteil wurden die diskriminierenden 12 Vermerk über eine Besprechung von Vertretern des Reichsinnenministeriums, des Reichswirtschaftsministeriums KOBLENZ, R 1 8 / 5 5 1 4 ) .

und

der

Reichsparteileitung

am

29.9.1936

(BUNDESARCHIV

Der Untergang Jochen Kleppers

349

Bestimmungen mit kurzer Verzögerung auch auf die Gatten ausgedehnt. "Nichtarier" und mit Juden verheiratete Männer und Frauen mußten aus dem gesamten öffentlichen Dienst ausscheiden und jede Art beruflicher Tätigkeit im Kulturbereich aufgeben, es sei denn, daß sie wie Klepper eine Sondergenehmigung erhielten. Bis 1939 gelang das 320 Künstlern und Schriftstellern. Im Rechts- und Gesundheitswesen konnten "Nichtarier" und deren Ehepartner noch eine Zeitlang, stark behindert, weiterarbeiten; der Zugang zu diesen Stellen aber wurde ihnen versperrt. Auf Solidarität oder wenigstens Anteilnahme der Kollegen stießen die Hinausgeworfenen nur selten. "Bei Ullstein ging alles heut sehr rasch", notierte Klepper nach seiner Entlassung. "Die Menschen, mit denen man immerhin zwei Jahre zusammengearbeitet hat, waren völlig gleichgültig, machten ihre Witzchen wie immer." 13 Noch schwerer als der Verlust der Arbeit war die rasch fortschreitende gesellschaftliche Isolation zu ertragen. Bekannte, Freunde und sogar nächste Verwandte zogen sich von den Verfemten zurück. Bereits am 16. Juni 1933 klagte Klepper: "Meine Isolierung ist zu groß. Die Vorbedingungen für einen neuen Anfang sind zu ungünstig. Der isolierte Künstler ist keiner. Die gewohnte Arbeit fehlt, der gewohnte berufliche Aufbau fehlt, der gewohnte Brief nach und aus Beuthen [ins Elternhaus] fehlt." 14 Zwei Wochen später sah Klepper schon keinen Ausweg mehr: "In der Vernichtung friedlicher, bürgerlicher Existenzen wird der Weltkrieg [...] bis jetzt und wer weiß wie lange noch fortgeführt; ein grausamer, stiller Krieg, in dem die Stillen im Lande heimlich fallen. 'Aber es geht vorwärts, die Arbeitslosenziffer sinkt', sagen die Verblendeten und Verantwortungslosen [...]. Und daneben das stille Pogrom, das alle Juden und wer sich mit ihnen verband, trifft. Viele gehen mit dem kleinen Betrag, den man über die Grenze mitnehmen darf, ins Ausland. Mein Beruf bietet uns im Ausland keine Lebensmöglichkeit. Der stille Krieg, das stille Pogrom, machen Hannis und mein Schicksal zu einem von vielen. Als Jüdin in Deutschland, als Deutscher in Deutschland sind wir eingekreist, haben keinen Raum mehr." 15 An einem anderen Tag zu gleichen Zeit resümierte Klepper: "In der Welt gilt nur noch dies eine: Wir sind zwei Verfolgte. Daran ist nichts übertrieben. Keinen Moment aber vergessen wir, wie viele so neben uns leben, von uns und mit uns vielleicht auch freiwillig sterben." 16 Das war im Juni 1933!

13 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 283 (9.9.1935). 14 EBD., S. 72. 15

EBD., S. 79 (27.6.1933).

16

Ebd., S. 78 (23.6.1933).

350

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Leichter schien die Situation für Juden und mit Juden verheiratete Menschen zu sein, wenn sie in der Wirtschaft tätig waren. In diesem Bereich sollte es nach den Erklärungen der nationalsozialistischen Führung keine Beschränkungen für sie geben. Die Realität sah jedoch auch hier anders aus: Arbeitnehmer wurden von Kollegen aus ihren Positionen verdrängt oder mit Rücksicht auf Geschäftspartner und Kunden entlassen, selbständige Gewerbetreibende durch offene und heimliche Boykotts, Diffamierungskampagnen "arischer" Konkurrenten, Benachteiligungen bei Staatsaufträgen, steuerliche Diskriminierung und andere Praktiken schwer geschädigt. Niemand machte sich dabei die Mühe, zu unterscheiden, wie viele jüdische Großeltern der Firmeninhaber hatte oder ob er mit einer "arischen" Frau verheiratet war. Schon nach wenigen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft befanden sich viele "Mischfamilien" genau wie die rein jüdischen Familien in schwerer wirtschaftlicher Not. Klepper beschrieb die Erfahrung der Leidensgenossen, die er aus der Familie seiner Frau gut kannte, am 1. April 1935: "Spätere Zeiten werden es einmal schwer verstehen könne, welches Erschrecken uns heut - soweit wir im Erwerbsleben stehen - jeden Montag bedeutet. D a war die Flucht in den Sonntag. Und dann, am Montag morgen, mit der Berührung mit der Stadt und dem Betrieb, hagelt es auf einen herab: neue bedrohliche Maßnahmen, in den Zeitungen gefährliche Reden von den Verantwortlichen gespannter Nationen, Hiobsposten von der neu einsetzenden Vernichtung von Existenzen durch jene kalte, indirekte Methode, die die Menschen nicht mehr abknallt, sondern dem Selbstmord zutreibt." 17 Eine andere Betroffene, die nichtjüdische Frau eines pensionierten Majors jüdischer Abkunft, schrieb Ahnliches in ihr Tagebuch: "Wir sehen die anderen in Frieden wohnen, sehen sie ihren Weg machen, wissen, die brauchen keine Zeitung, keine Verordnung, keinen Parteitag zu fürchten, und ich zittere vor allem." (13.8.1939).18 In besonderem Maß belastete die Sorge um die Kinder. Jungen Juden und "Nichtariern" wurde eine immer größere Zahl von Berufkarrieren verschlossen. Durch die Einführung eines Numerus clausus für sie an den höheren Schulen und Universitäten wurden sie schon im April 1933 in eine Sonderposition gedrängt, selbst wenn sie meistens ihre Ausbildung fortsetzen konnten. Aber nun mußte immer wieder die Abstammung ermittelt werden. "Nichtarische" Kinder mußten sich vor der Klasse melden, sie bekamen keine Beihilfen, wurden von Veranstaltungen, Ausflügen und manchmal auch von Unterrichtsstunden ausgeschlossen, und nicht selten signalisierten Lehrer durch Hohn und Schmähungen, daß die Angriffen von Klassenkame17 EBD., S. 245f. 18

M.-L. SOLMITZ (Anm. 9, 11/S12).

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raden schutzlos preisgegeben waren. Jüdische Schüler wechselten auf Schulen ihrer Glaubensgemeinschaft über, wenn die Situation unerträglich wurde. Junge Menschen, die lediglich nach der NS-Definition "Nichtarier" oder, wie Kleppers Töchter, "Juden" waren, aber ohne jede innere Beziehung zum Judentum, fehlte dieser Ausweg. Viele von ihnen gerieten in eine schwere Identitätskrise. Sie zweifelten an ihren Fähigkeiten und ihrer menschlichen Gleichwertigkeit, bemühten sich krampfhaft um Integration in die Klassengemeinschaft, suchten ihre Abstammung zu verheimlichen oder verteidigten vehement den jüdischen Vater oder die jüdische Mutter, wodurch sie noch mehr zu Außenseitern wurden. Kleppers ältere Stieftochter entzog sich der Bedrängnis, indem sie sich immer mehr von ihrer Umgebung abschloß. Aber auch die kontaktfreudige jüngere, Renate, hatte schon 1935 keine Geburtstagsgäste mehr, nachdem die BdM-Führerin den wenigen Freundinnen, die ihr noch geblieben waren, den Umgang mit "Juden" nachdrücklich verboten hatte. 19 Beide Kinder taten sich schwer in der Schule und brachen die Ausbildung im Februar 1938 vorzeitig ab. Dadurch blieb ihnen die bittere Erfahrung anderer junger Menschen jüdischer Abstammung erspart, die 1939 von den deutschen Schulen verwiesen wurden. Schon vorher war 1935 ein entscheidender weiterer Schritt zur Isolation der Juden und der mit ihnen verbundenen Menschen getan worden. Nach einer langen, von Ausschreitungen und Boykotts begleiteten Kampagne gegen alle, die noch persönliche Beziehungen zu Juden unterhielten, wurde den Angehörigen der verfemten Minderheit im September durch die "Nürnberger Gesetze" die staatsbürgerliche Gleichberechtigung förmlich entzogen, die Ehe zwischen Juden und Nichtjuden künftig verboten und außerehelicher Verkehr als "Rassenschande" mit Zuchthausstrafe bedroht. Bestehende "rassenverschiedene" Ehen waren nicht betroffen, aber auch ihnen haftete fortan das Odium des Verbotenen, "Volksfeindlichen" und "Widernatürlichen" an. Bereits im Oktober 1933 hatte Klepper geahnt, was kommen würde: "Wenn Menschen das Leben einer deutschen Familie führen, dann sind wir es. Wenn Menschen ohne Heimat und ohne Klarheit und Würde ihrer Umwelt kaum auskommen können, sind wir es. Und diese Mischehe soll nun Volksverrat, Entartung, Zersetzung sein. Beziehungen zu Juden und Jüdinnen sollen in Zukunft sogar j n i t Konzentrationslager bestraft werden." 20 Die nationalsozialistischen Machthaber ließen sich Zeit. 1933/34 waren andere Ziele vordringlich. Aber sie vergaßen in bezug auf die Juden keine ihrer Absichten, und 1935 wurde Kleppers Befürchtung Wirklichkeit. 19 R. THALMANN, Klepper (Anm. 6), S. 110. 20 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 113f. (6.10.1933).

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Die Angst vor der Zwangsscheidung war seither in den betroffenen Familien immer gegenwärtig. Im Juli 1938 wurde die Scheidung von "Mischehen" erheblich erleichtert. In der Folgezeit wuchs der Druck auf die nichtjüdischen Partner, von der neuen Möglichkeit Gebrauch zu machen. Sie wurden von der Gestapo und anderen Behörden vorgeladen und zur Scheidung gedrängt. Um dem Verlangen Nachdruck zu verleihen, wurden immer wieder Haussuchungen bei den "Mischfamilien" veranstaltet und die jüdischen Partner häufig unter nichtigen Vorwürfen vorläufig festgenommen. Aufgabe der Ehe, das war die Botschaft, war die einzige Möglichkeit, der Familie die Kriminalisierung zu ersparen. Aber auch nächste Verwandte empfahlen - oder forderten -, durch Scheidung von dem Juden oder der Jüdin der Verfolgung zu entgehen, und solcher angeblich gutgemeinte Rat nahestehender Menschen verletzte besonders. Klepper hörte derartige Empfehlungen von dem ihm wohlgesonnenen Zensurbeamten im Reichspropagandaministerium und später von seinen militärischen Vorgesetzten, die ihm gerne zur Beförderung verhelfen wollten. 21 Auch für die Kinder aus den "Mischehen", die "Mischlinge", wie sie jetzt abschätzig hießen, hatten die "Nürnberger Gesetze gravierende Folgen. Genau wie junge Juden, so auch die "volljüdischen" Stieftöchter Kleppers, durften sie nur Juden oder "Mischlinge" mit zwei jüdischen Großeltern heiraten. Viele Paare wurden gezwungen, ihre Verbindung abzubrechen, oder sie mußten ihre Beziehung illegal fortsetzen, ständig bedroht von Denunziation, Verhaftung und KZ-Einweisung. Heranwachsende begänne, das Zusammensein mit Gleichaltrigen des anderen Geschlechts zu meiden aus Sorge, es könnte sich eine engere Freundschaft entwickeln und sie zur Offenbarung ihres "Abstammungsmakels" zwingen. 1939 waren beide Klepper-Töchter zur Auswanderung entschlossen: "Beide sind aus Tatkraft und Lebenslust zu dieser Entscheidung gelangt. [...] sie wollen dies aufs Haus begrenzte, für Beruf und Ehe zukunftslose Leben nicht mehr, so sehr wir alles Für und Wider ihnen bewußt zu machen suchen.22 Vorangegangen war ein mühseliger, durch immer neue Schikanen des NS-Regimes erzwungener Ablösungsprozeß; denn Eltern und Kinder wußten, daß gegenseitige Besuche nach der Auswanderung unmöglich sein würden.23

21

Überwindung (Anm.

1), S.

172 (30./31.8.1941). Von den Scheidungsvorschlägen

von

Geschwistern oder - besonders häufig - Schwiegerkindern wird oft berichtet; vgl. z.B. ein Schreiben Robert Brendels von Anfang November 1942 bei U . BÜTTNER, Not (Anm. 7), S. 172.

22

Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 762 (29.4.1939).

23

EBD., S. 5 6 0 (21.2.1938), S. 5 7 5 (5.4.1938) u n d 5 9 0 (8.5.1938).

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Überall in Deutschland stießen Juden und ihre Angehörigen auf ihre Ausgrenzung. An Ortseingängen, Restaurants, Kinos, Cafes, Schrebergärten, Schwimmbädern, Parkanlagen und Kulturdenkmalen wurde ihnen auf Schildern entgegengeschrien: "Juden unerwünscht", "Für Juden verboten!" Gemeinsame Ferienreisen, Ausflüge und Freizeitunternehmungen waren deshalb für "Mischfamilien" immer schwerer möglich, stets mußten die jüdischen Mitglieder fürchten, hinausgewiesen zu werden. In der Presse, im Rundfunk und in vielen Reden wurde dem deutschen Volk eingehämmert, sich von Juden zu trennen. Wer es nicht tat, geriet ins Abseits. Die "Mischfamilien" wurden immer einsamer. Nur wenige Freunde und Verwandte standen weiterhin zu ihnen; wie wenige es waren, zeigt die Dankbarkeit, mit der ihrer in Erinnerungsberichten gedacht wird. Aber auch bittere Bemerkungen über das Verhalten "arischer" Verwandter tauchten immer wieder auf, die mit Rücksicht auf ihre Stellung in der NSDAP, ihre Beamtenkarriere oder ihr Geschäft alle Verbindungen abbrachen und auch noch Verständnis für ihr Handeln forderten. Klepper machte solche Erfahrungen mit dem "Klepperschen Familienverband", einem genealogischen Verein, der sich lange Zeit um seinen Beitritt bemüht hatte, nun aber seine Aufnahme ablehnte, um die Mitglieder "in staatlichen und sonstigen Beamten- und Parteistellungen" nicht in Verlegenheit zu bringen.24 Nächste Angehörige, die die Entscheidung des Sohnes oder Bruders, der Tochter oder Schwester für einen jüdischen Ehepartner schon früher abgelehnt hatten, fühlten sich jetzt frei, ihre Gefühle ungehemmt zu äußern. Häufiger zogen sich Verwandte und Freunde ohne ein Wort der Erklärung zurück, und aus Furcht vor neuer Verletzung vermieden auch die "jüdisch versippten" Männer und Frauen immer mehr die Begegnung mit anderen. "Die Juden und Menschen in meiner Situation werden sich weitaus immer mehr in ihren allerengsten Kreis zurückziehen", beschrieb Klepper sein Empfinden, und an anderer Stelle: "An den jüdischen Dingen und dem, was sie als Symptom bedeuten, werden wir ganz krank. Uns ist, als könnten wir zu anderen bald nicht mehr reden und mit niemand als mit Renerle mehr lachen." 25 Die "Mischfamilien" hatten hauptsächlich zu Familien in gleicher Lage noch nähere Beziehungen. Kleppers vertieften in dieser Zeit ihre Freundschaft zu dem Pfarrer Kurt Meschke und seiner als Kind getauften jüdischstämmigen Frau Eva-Juliane, die sie seit den Breslauer Jahren (1929) kannten. Meschkes versuchten inzwischen, in einer abgelegenen pommerschen Pfarrstelle der Aufmerksamkeit der Nationalsozialisten zu entgehen, entschlossen sich aber schließlich doch im Februar 1939 zur Auswanderung 24 EBD., S. 362 (8.7.1936). 25 Ebd., S. 270 (23.7.1935); S. 628 (18.8.1938).

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nach Schweden. Außer mit ihnen besprach Hanni Klepper ihre persönlichen Nöte und Sorgen nur mit jüdischen Frauen, die wie sie in "Mischehe" lebten. 26 Doch zurück zum chronologischen Ablauf: Nachdem sich die Situation für die Juden und ihre Angehörigen im Olympiajahr 1936 etwas entspannt hatte, zeichnete sich seit 1937 eine erneute Verschärfung der Verfolgung ab, jetzt mit dem Ziel, die Juden wirtschaftlich zu ruinieren und zur Auswanderung zu zwingen. Schlag auf Schlag folgte 1938 eine belastende Maßnahme der anderen, und immer waren auch die jüdisch-christlichen "Mischfamilien" betroffen. Die Vereinsamung der Familie Klepper wurde dadurch etwas gemildert, daß nach dem Erscheinen des "Vaters" im Februar 1937 viele neue Kontakte zu Lesern und Bewunderern dieses Werks entstanden. Trotzdem litt Klepper schwer unter der immer weitergehenden Entrechtung der Juden und der bangen Frage, welche Folgen sich daraus für seine Familie ergeben würden. Die Schwierigkeiten, eine Lehrstelle im Schneiderhandwerk für Renate zu finden, waren trotz der einst hervorragenden Beziehungen ihrer Mutter in der Modebranche "unvorstellbar".27 "Hannis Wege wegen Reneries Lehrstelle waren wieder so vergeblich", notierte Klepper im Mai 1938 in sein Tagebuch. "Es drückt sie namenlos nieder, nun an all den einzelnen Stellen zu erleben, wie eiskalt und in der Stille die Juden in ihrer Existenz abgewürgt werden.28 Neun Monate nach Renates Abgang von der Schule war im November 1938 noch immer keine Lehrstelle für sie gefunden.29 Erschreckend wirkte im April 1938 die Anordnung, alles jüdische Vermögen anzumelden, denn darin wurde nicht zu Unrecht die Vorbereitung für die Enteignung gesehen. Seinem Tagebuch vertraute Klepper an: "Es zehrt an allen Kräften, die zur Leistung nötig sind, dies dauernd und immer noch wachsende Unrecht an den Juden in Deutschland ohnmächtig mit ansehen zu müssen. Die Welt und das Volk gehen darüber hinweg. Es gibt nur eins, das einen vor dem Schlimmsten bewahrt: daß man selbst seinen

26

Neben

jüdischen

Verwandten

und

Freunden

werden

im

Tagebuch

vor

allem

"Mischehepaare" als Gesprächspartner Hannis genannt, z.B. am 25.11.1942 Schiller, Winckler, Nowak (Unter dem Schatten [Anm. 1], S. 1123). In Briefen ließ Klepper nur selten, hauptsächlich gegenüber dem ihm sehr nahestehenden Reinhold Schneider, etwas von seiner persönlichen Not erkennen (vgl. Briefwechsel 1925-1942 [Anm. 2], S. 101, 108, 120, 152). 27 28

Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 576 (8.4.1938). EBD., S. 587 (4.5.1938). An Meschkes schrieb Klepper am 13.5.1938: "Für Reni finden wir keine Lehrstelle; und das bei unseren Modebeziehungen!" (Gast und Fremdling [Anm. 2], S. 113).

29

Schreiben von Hanni Klepper an Meschkes am 24.11.1938 (EBD., S. 129).

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Anteil tragen muß am erleiden dieses furchtbaren Unrechts." 30 Vierzehn Tage später registrierte er: "Bedrohung, Lüge, Unrecht, Grausamkeit [gegen die Juden] häufen sich stündlich. Wohl dem, der auf die Seite der Leidenden gehört. - So schwer es ist, die zu sagen."31 Anfang Juli klang die Eintragung noch pessimistischer: "In allen Stunden, in denen man das Leben rein menschlich ansieht, will man immer nur sterben, Hanni wie ich, trotz aller Dankbarkeit. Von Volk und Familie sind wir zu sehr getroffen. Und das heißt: mit Volk, Familie, beruflicher Sicherung, Vermögen, Grundbesitz ist uns durch alle irdischen Ordnungen ein Strich gezogen."32 Ich muß es mir versagen, die wachsende Bedrängnis und Vereinsamung der "Mischfamilien" weiter genau nachzuzeichnen. N u r einige besonders belastende Ereignisse will ich noch erwähnen. Die Einführung der Zwangsvornamen "Israel" und "Sarah" für alle Juden (nach der rassistischen Definition der Nationalsozialisten) im August 1939 wirkte wie ein Schock auf die meisten "Mischfamilien", die sich dem Judentum kaum noch zugehörig fühlten, und erst recht auf die Christen jüdischer Abkunft. Da der diskriminierende Name überall angegeben werden mußte, bei jeder Unterschrift, auf Türschildern, Briefen usw., fühlten sie sich öffentlich gebrandmarkt. Die schon zitierte Frau des jüdischstämmigen Majors vermerkte in ihrem Tagebuch, mit welchen schrecklichen Angstträumen ihr Mann auf die Bekanntgabe der Vorschrift reagiert habe: "Es ist ja auch ein Krieg, in dem man wehrlos, ohne Waffen dasteht, ohne die geringste Möglichkeit durch Rechtsmittel oder Einwände [...]. Jede Beschimpfung, jede Kränkung, jede Beleidigung, jede Maßnahme, die um Leben und Ehre geht, muß hingenommen werden, die Trennung von Volk und Heimat, von Verwandten und Freunden, die bedauernd die Achseln zucken." 33 Eva-Juliane Meschke gab sich für einen kurzen Augenblick der Illusion hin, durch einen Namensersatz der Diskriminierung entgehen zu können. 34 Aber alle Gesuche um eine Ausnahmeregelung wurden auf ausdrückliche Weisung Hitlers abgelehnt. Auch bei der Zerstörungs- und Mordaktion am 9. November 1938 wurden in "Mischehe" lebende Juden nicht verschont. Auch von ihnen wurden anschließend viele verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Wie ihre Leidensgefährten mußten die "arisch" verheirateten Juden ein Viertel ihres Vermögens als "Sühnegabe" an den Staat abführen. Wie alle anderen mußten sie die Liquidierung oder "Arisierung" ihrer Betriebe und die Sper-

30 31 32 33 34

Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 584 (29.4.1938). EBD., S. 591 (12.5.1938). EBD., S. 612 (6.7.1938). M.-L. SOLMITZ, Tagebucheintragung vom 25.8.1938 (Anm. 9, 11/S12). Gast und Fremdling (Anm. 2), S. 125.

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rang ihrer Bankkonten hinnehmen, durften sie in ihrer N o t auf öffentliche Wohlfahrtsunterstützung nicht mehr rechnen. Auch die schikanösen Verbote, Auto zu fahren oder Kinos, Theater, Museen, Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen zu besuchen, galten uneingeschränkt für sie. Ein Versuch Kleppers, für seine Frau eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken, schlug fehl. 35 Wie Juden verstärkten die "Mischfamilien" ihre Bemühungen um Auswanderung; die Chancen, ein aufnahmewilliges Land zu finden, waren für viele aber noch geringer, weil sie die Verbindung zur "Reichsvertretung der Juden in Deutschland" vermieden hatten und nun nicht die Unterstützung einer leistungsfähigen Organisation besaßen. Die Hilfseinrichtungen, die kleine Kreise in der evangelischen und katholischen Kirche geschaffen hatten, waren zu schwach, um eine größere Zahl von Verfolgten ins Ausland zu bringen. Die Pogromnacht von 1938 leitete eine neue Eskalation der Judenverfolgung ein, die über die gewaltsame Austreibung und die Verschleppung in die Ghettos mit dem Ziel der "natürlichen Dezimierung" zum systematischen Massenmord führte. In diesem Augenblick ordnete Hitler an, mit Rücksicht auf die in Staat und Gesellschaft zum Teil einflußreiche nichtjüdische Verwandtschaft der in "Mischehe" lebenden Juden eine bestimmte Kategorie von den schlimmsten Verfolgungsmaßen vorerst auszunehmen. Und zwar sollten "Mischehepaare" mit Kindern sowie jüdische Frauen von "deutschblütigen" Männern - wie Hanni Klepper - einstweilen verschont bleiben. "Deutschblütige" Frauen von Juden mußten dagegen deren Schicksal teilen. Klepper erkannte die Bedeutung der Ausnahmebestimmung sofort: "Aber wirklich ausgestoßen zum Judentum [...] sind die Arierinnen in jüdischer Mischehe. Auf ihnen sammelt sich alles Unglück, das uns anderen nach dem gegenwärtigen Stand der Maßnahmen erspart bleiben darf!" 36 Damit war auf Anordnung Hitlers die Kategorie der "privilegierten Mischehe" geschaffen. Sie wurde aber niemals gesetzlich verankert. Die Besserstellung der begünstigten Juden sollte jederzeit beendet werden können und nur dann gelten, wenn sie in der betreffenden Verordnung ausdrücklich vorgesehen war. Die Lage der Juden in "privilegierter Mischehe" blieb daher unsicher und unübersichtlich. Nur bei den schwersten Verfolgungsmaßnahmen wurden sie vorläufig ausgenommen. Die vielen alltäglichen Schikanen trafen sie dagegen genau wie ihre Schicksalsgenossen. Wie andere Juden durften sie nach Kriegsbeginn nach Einbrach der Dunkelheit die Straßen nicht mehr betreten. Sie mußten ihre Radiogeräte abliefern und erhielten nur gekürzte Lebensmittelrationen, keine Bekleidung und anderen 35 ERNST G. RIEMSCHNEIDER: Der Fall Klepper. Eine Dokumentation. Stuttgart 1975, S. 112. 36 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 726 (16.2.1939).

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knappen Waren. Sie wurden gezwungen, in besonderen Juden-Läden oder zu speziellen ungünstigen Zeiten einzukaufen, hatten die höchsten Steuersätze und zahlreiche Sonderabgaben zu entrichten und mußten seit November 1940 einer generellen Arbeitspflicht nachkommen. Dabei wurden sie vorzugsweise bei besonders schwerer, gefährlicher oder unangenehmer Arbeit, getrennt von der übrigen Belegschaft, eingesetzt. Sie bekamen nur Mindestlöhne und bei Krankheit oder Arbeitsausfall infolge Fliegeralarms überhaupt keine Bezahlung. Von Vorteil war dagegen, daß die Juden in "privilegierter Mischehe" bis zum Herbst 1942 der unter Gestapo-Aufsicht agierenden Zwangsorganisation der Juden nicht angehören mußten und infolgedessen vorerst listenmäßig nicht erfaßt wurden. Bei ihren Raubzügen auf die Wertsachen, auf Pelze, Winterbekleidung, Schreibmaschinen, Photoapparate, Elektrogeräte und anderes Brauchbares im Besitz von Juden machten die Nationalsozialisten vor den "Mischfamilien" halt. Bei der Einführung des "Judensterns" im September 1941 wurden "privilegierte" Juden ausgenommen. In der Familie Klepper mußte Renate den Stern tragen, Hanni als Ehefrau eines "deutschblütigen" Mannes aber nicht. Das war eine wichtige Erleichterung: Die von der Kennzeichnungspflicht befreiten Juden konnten in einer gewissen Anonymität unbehelligter leben als die "Sternträger". Außerdem beschränkten die Verfolger viele neue Maßnahmen zunächst einmal auf die Menschen, die durch den "gelben Fleck" leicht zu identifizieren und zu greifen waren. Die Juden in "privilegierter Mischehe" wurden nicht in "Judenhäuser" gepfercht, nicht in die Ghettos, Arbeits- und Vernichtungslager deportiert und nicht ermordet. Aber, das sei noch einmal mit Nachdruck betont, auch ihr Leben war furchtbar schwer, von materieller Not, gesellschaftlicher Isolation, Hoffnungslosigkeit und dauernder Angst bestimmt. Quälend war insbesondere, das Elend der nicht geschützten jüdischen Verwandten und Freunde, darunter oft nächster Angehöriger wie Eltern und Geschwister, ohnmächtig mit ansehen zu müssen: zuerst die Verarmung als Folge der Verdrängung aus dem Wirtschafts- und Arbeitsleben und der Konfiskation von Besitz und Ersparnissen, dann die verzweifelten und oft vergeblichen Auswanderungsbemühungen, die hoffnungslose Trauer, wenn Familien durch die Emigration nur einen Teils, meistens der jüngeren Mitglieder zerrissen wurden, die Inhaftierung jüdischer Männer in den Konzentrationslagern nach der Pogromnacht, schließlich die Deportation der in Deutschland verbliebenen Juden in die Vernichtungslager des Ostens; denn darüber gab es schon bald keine Zweifel mehr, daß die erzwungenen Reise in den Tod führte.

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Alle diese furchtbaren Schicksale erlebte auch Klepper im Verwandtenund Bekanntenkreis seiner Frau. In Briefen an nahe Freunde und in seinem Tagebuch deutet er an, wie sehr es ihn belastete, nicht helfen zu können: "In ihrer [Hannis] Familie ereignet sich jetzt auch zuviel Tragisches: ihre Verwandten sind Arzte, Juristen, und das sagt ja genug", erfahren Meschkes im Juli 1933.37 Nach der Pogromnacht wagten Kleppers angesichts des Leids, das die rein jüdischen Familien traf, über die eigene Not kaum noch zu klagen: "In der Verwandtschaft und Bekanntschaft meiner Frau ist so viel Unglück, so viel nach menschlichem Ermessen nicht mehr abwendbares äußerstes Elend, daß wir über die Verluste, Beschränkungen und Erschwerungen, die uns treffen und die wir in ihrem vollen Umfang noch nicht überblicken, keiner Klage fähig sind."38 Die sechzehnjährige Renate erlebte die Verschleppung des bekannten Germanisten Dr. Werner Mileh ins Konzentrationslager unmittelbar mit, das sie gerade bei ihm in Schlesien ihr Haushaltspflichtjahr absolvierte. Schwer gezeichnet kehrte auch ein Schwager nach mehrwöchiger Haft zurück: "Von allen scheint August das Schwerste im Konzentrationslager erlebt zu haben. Alte Männer und Frontkämpfer mit Auszeichnungen dem privilegierten, ganz primitiven und ganz raffinierten Sadismus von neunzehnjährigen Wachmannschaften ausgeliefert."39 Wer konnte, floh aus Deutschland, und auch für Kleppers wurde die Frage: Auswandern oder Bleiben? immer dringender und quälender. Am 26. März 1939 notierte Jochen: "Verschiedene Telefongespräche mit einem Teil von Hannis Verwandtschaft, die in alle Himmelsrichtungen geht: nach Palästina nun England, Ungarn, Portugal. Nach wie vor verzweiflungsvoll der Kampf für die Mittel zur Auswanderung für Freunds [...]. Das Visum für Chile haben sie nun. Sonst nichts." 40 Vier Monate später folgte die knappe Nachricht, bei der Klepper die persönliche Betroffenheit im Hinblick auf die immer wieder erörterte und doch gefürchtete Auswanderung Renates hinter der lapidaren Formulierung verbarg: "Ilse Freunds Schwester hat sich am Tage der Auswanderung ihres Jungen das Leben genommen."41 Zwei Jahre später war die Auswanderung zur letzten, fast schon verlorenen Hoffnung geworden.

37 Schreiben vom 12.7.1933. In: Gast und Fremdling (Anm. 2), S. 37. 38 Schreiben an Reinhold Schneider vom 25.11.1938. In: Briefwechsel 1925-1942 (Anm. 2), S. 120. In ähnlichem Tenor schrieb Hanni an Meschkes: "Wir können, angesichts der Not um uns, nicht klagen. W i r leiden sehr darunter, daß wir, nach der heute veröffentlichten Vermögensabgabebestimmung, nicht mehr helfen könne, wo wir es tun wollten." 39 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 720 (2.2.1939). 40 Schreiben an Meschkes vom 6.4.1939. In: Gast und Fremdling (Anm. 2), S. 150. 41

S c h r e i b e n a n M e s c h k e s v o m 7 . 8 . 1 9 3 9 (EBD., S . 2 0 1 ) .

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Sofort nach dem Beginn der systematischen Massendeportationen am 15. Oktober 1941 waren auch Angehörige der Familie Klepper betroffen, als erste Brigittes Schwiegereltern in Wien. Am 27. Oktober wurden sie ins Ghetto Lodz (Litzmannstadt) verschleppt, wo der Mann bald nach der Ankunft starb, die Frau seit Januar 1942 nicht mehr erreichbar war.42 Was die Deportation zur "Aufbauarbeit" in den Osten bedeutete, wußte Klepper sehr früh, schon im November 1941: "zunächst Zwangsarbeit im Elend und bei wachsendem Mangel im Kriege Verhungern und Erfrieren [...]. Viele aber werden erschossen, von Frauen hörten wir es glaubhaft noch nicht. Das Furchtbarste ist, daß die Familien auch in der Deportation getrennt werden."« Die Furcht wuchs, wann auch die angeblich "privilegierten" Juden an die Reihe kommen würden. Je mehr Juden 1942/43 aus Deutschland fortgeschleppt wurden, desto gefährlicher wurde für die Zurückgebliebenen die Situation. Die Entlassung der Ehemänner jüdischer Frauen und der "Judenmischlinge ersten Grades" aus der Wehrmacht, die die NSDAP-Führung bis zum Herbst 1942 durchsetzte, zeigte, daß die Schonung der "Mischfamilien" zu Ende ging. Die Kinder mußten Universitäten und höhere Schulen verlassen, seit 1944 wurden ihnen auch Lehrstellen verweigert. Wegen geringfügiger Verstöße gegen eine der vielen Vorschriften oder auch unter falschem Vorwand wurden durch ihre "Mischehe" vor der gruppenweisen Deportation geschützte Juden verhaftet und, wenn die "arischen" Partner keine einflußreichen Personen zur Intervention veranlassen konnten, nach Theresienstadt oder gleich nach Auschwitz geschickt. Eine Auflösung der "Mischehe", sei es durch Scheidung oder durch Tod, hatte immer sofort die Deportation des jüdischen Partners zur Folge. Seit Oktober 1943 wurden "Mischehe"-Juden, ihre Gatten und Söhne auf Befehl Hitlers in Zwangsarbeiterlager der Organisation Todt eingewiesen. Die Formulierung des Einberufungsbescheids ließ die Betroffenen befürchten, daß auch sie nach dem Willen der nationalsozialischen Machthaber nicht zurückkehren sollten. Im Februar 1945 schließlich gingen die ersten Gruppentransporte von Juden aus "privilegierten Mischehen" nach Theresienstadt ab. Nur weil das Ghetto wenige Wochen später befreit wurde, konnten die meisten über42 Schreiben von Hanni Klepper an Juliane Meschke von 8.11.1941 (EBD., S. 277). Schon im Oktober hatte sie nach der Ausweisung der alten Leute aus ihrer Wohnung geahnt, was kommen würde, vgl. ihr Schreiben vom 20.10.1941 (EBD., S. 276); außerdem Schreiben von Jochen Klepper an Reinhold Schneider vom Januar 1942. In: Briefwechsel 1925-1942 (Anm. 2), S. 152. Im Lauf des Jahres 1942 wurden weitere gute Bekannte deportiert, vgl. Tagebucheintragung vom 8.4.1942 (Unter dem Schatten [Anm. 1], S. 1051) und Schreiben Hannis an Juliane Meschke vom 7.6.1942 (Gast und Fremdling [Anm. 2], S. 301). 43 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 984 (17.11.1941).

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leben. Juden und ihre Abkommen sowie Menschen, die sich mit ihnen verbunden hatten, durften im Dritten Reich keine Schonung erwarten. Solange noch ein Jude in Deutschland lebte, war die "Judenfrage" für die NSDAP nicht gelöst. Allein das Kriegsende rettet die "Mischfamilien" vor der Vernichtung. Die Familie Klepper mit ihrer "volljüdischen" Tochter Renate hatte diese Zeit nicht. Renate war nicht "privilegiert", und so wurde sie schon 1942 Opfer der zu keiner Ausnahme bereiten Ausrottungspolitik. Ich möchte deshalb noch einmal zu der Familie Klepper zurückkehren. Wie andere Männer in seiner Lage schöpfte Klepper Hoffnung, als er im Dezember 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Angehörige von Soldaten, die im Krieg ihr Leben für Deutschland eingesetzt hatten, so wollte er trotz aller negativen Erfahrungen in der Vergangenheit glauben, könnten nicht weiter als rechtlos behandelt werden. Nach den Jahren der Ausgrenzung und Vereinsamung genoß er die Kameradschaft im Kreis der Soldaten. Aber er stieß auch auf Grenzen: Von seiner aus dem Judentum stammenden Familie wagte er nicht, zu erzählen und auch Bilder von Hanni und Renate nicht zu zeigen.44 Seit langem hatte er bestürzt das Versagen der Wehrmacht angesichts der Verfolgung der jüdischen und "nichtarischen" Kameraden konstatiert: ihre Zustimmung zum Ausschluß der Juden aus den eigenen Reihen 1935, ihr Schweigen zur Verdrängung auch der "Frontkämpfer" aus den meisten Berufen, 45 die Hinnahme vieler diskriminierender Bestimmungen gegen ehemalige jüdische Soldaten, z.B. des Verbots, militärische Auszeichnungen zu tragen, das Ausbleiben jeglichen Protests gegen die Verschleppung sogar Schwerkriegsbeschädigter Juden in Konzentrationslager nach der Pogromnacht von 1938, schließlich die Verwicklung der Wehrmacht in die Massenmorde in Polen. 46 Klepper zog aus alledem den bitteren Schluß: "Ich werde aber nie darüber hinwegkommen, daß der deutsche Offizier den jüdischen Frontkämpfer des Weltkrieges preisgegeben hat. Das bewahrt mich davor, jemals noch auf Menschliches zu hoffen." 47 Seither wußte er, daß im Hinblick auf die Juden im Gespräch mit den Kameraden Vorsicht geboten war: "Zu allen, von allem kann ich frei reden: nur nicht zur Judenfrage. Hier sehe ich, daß die Propaganda ihr volles Werk geleistet hat", 48 vertraute er im September 1941, bald nach der Einführung des "Judensterns" in Deutschland,

44 45

Tagebucheintragung vom 24.8.1941. In: Überwindung (Anm. 1), S. 161. 1933 und 1934 hatte es auf Betreiben des Reichspräsidenten und ehemaligen Generalfeldmarschalls von Hindenburg noch Ausnahmebestimmungen für sie gegeben.

46

Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 259, 677, 824, 857, 904f., 908, 913.

47

EBD., S. 844 (17.1.1940).

48

Überwindung (Anm. 1), S. 206 (20.9.1941).

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seinem Tagebuch an, und einige Tage später: "Alle Gespräche mit Kameraden nehmen eine so schöne menschliche Wendung. Uberall aber konstatiere ich den fast völligen Sieg der antisemitischen Propaganda. Man reflektiert nicht mehr. 'Die Juden müssen weg!'" 49 Ebenso quälend wie der gedankenlose Antisemitismus der Kameraden wirkten Hannis briefliche Berichte über ihre Erfahrungen zuhause. Mit aller Kraft hatte Klepper bisher an dem Gedanken festgehalten, daß das deutsche Volk die Judenverfolgung nicht mittrage, und jede freundliche Geste als Bestätigung seiner Auffassung sorgsam registriert. Jetzt mußte er feststellen, daß die Rücksicht dem bekannten Dichter, nicht aber den bedrängten Menschen an seiner Seite gegolten hatte. Nun, da er die beiden jüdischen Frauen nicht mehr unmittelbar schützen konnte, waren sie wie alle anderen Drohungen und Schikanen ausgesetzt. Einladungen erhielten sie nur noch von einem befreundeten "Mischehepaar". "Bei der Gastlichkeit unseres Hauses macht das auch mich bitter", vermerkte Klepper zu Hannis Brief.50 Wie verlassen Hanni und Renate in der Zeit seiner Abwesenheit gewesen waren, wurde ihm vollends nach dem Ausschluß aus der Wehrmacht und der Heimkehr im Oktober 1941 deutlich. In sein Tagebuch schrieb er darüber: "Schon auf den morgendlichen Wegen durch Nikolassee traf ich viele Bekannte. Aber alles Herzliche und Gesellschaftliche bei solcher Rückkehr besticht mich nicht mehr, und ich stelle mir nur die Frage: Wer hat nach Hanni und Renerle überhaupt auch nur gefragt? Wie wenige waren es! Hanni, die über Einsamkeit am wenigsten klagt, sagt, sie war so einsam, wie man nur einsam sein kann.51 In seiner Liebe zum alten Preußen, das er durch protestantische Frömmigkeit und soldatische Pflichttreue geprägt sah, hatte Klepper auf zwei Institutionen länger gehofft als auf andere menschliche Einrichtungen: auf das Heer und auf die Kirche. Aber auch die evangelische Kirche enttäuschte ihn. Die Verhältnisse in ihr waren kompliziert: In den meisten Landeskirchen hatten die Deutschen Christen seit 1933 die Leitungspositionen inne. Die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Volk und der Christen jüdischer Abstammung aus der deutschen Kirche gehörte zu ihrem Programm. Die Altpreußische Union führte im September 1933 den "Arierparagraphen" des Berufsbeamtengesetzes für den Kirchendienst ein; zahlreiche andere Landeskirchen folgten. Dagegen formierte sich die Opposition der Bekennenden Kirche; doch richtete sich ihr Protest nur gegen die Benachteiligung 49 EBD.,S. 213 (25.9.1941). 50 EBD., S. 123 (3.8.1941). Vgl. auch seine Eintragung vom 23.7.1941 (EBD., S. 98f.). 51 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 962 (10.10.1941); vgl. auch die Eintragung vom 12.10. auf S. 963.

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der Christen jüdischer Abkunft innerhalb der Kirche, weil dadurch das Taufsakrament verletzt wurde. Die Notwendigkeit, darüberhinaus für die verfolgten Juden und "nichtarischen" Christen insgesamt und in allen Lebensbereichen einzutreten, erkannten auch in der Bekennenden Kirche nur wenige, und diese wenigen bezahlten für ihr Engagement einen hohen Preis. Die Kirchenleitungen und die Mehrzahl der Christen in Deutschland schwiegen zu den wilden Ausschreitungen gegen Juden 1933, zu ihrer wirtschaftlichen Vernichtung, zu der Pogromnacht 1938 und zu den Deportationen. Erst 1943, als die Familie Klepper nicht mehr am Leben war, protestierte der württembergische Bischof Theophil Wurm in vertraulichen Schreiben an Regierungsmitglieder gegen die Verschleppung und Ermordung von Menschen "fremder Rasse", wobei seine Hauptsorge den Christen jüdischer Abstammung galt.52 An dem persönlichen Schicksal dieser Mitchristen nahmen lange Zeit auch in der Bekennenden Kirche nur wenige Anteil. Einige kannte Klepper, so den Leiter des Hilfswerkes für verfolgte evangelische "Nichtarier" in Berlin, Pfarrer Heinrich Grüber, und die Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz, eine ehemalige Kommilitonin, die wie Grüber für ihr Eintreten für die "Sternträger" in der Kirche mit Konzentrationslagerhaft büßen mußte.53 Klepper selbst hatte nach der Pogromnacht von 1938 versucht, eine Hilfsaktion für die inhaftierten "jüdischen Pfarrer"

52

N e b e n E. RÖHM/J. THIERFELDER, J u d e n ( A n m . 7) v g l . insbes. WOLFGANG GERLACH: A l s

die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden (SKI. 10). Berlin 1987; KURT MEIER: Kirche und Judentum. Die Haltung der evangelischen Kirche zur Judenfrage des Dritten Reiches. Göttingen 1968; WERNER JOCHMANN: Antijüdische Traditionen im deutschen Protestantismus und nationalsozialistische Judenverfolgung. In: DERS.: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945. Hamburg 1988, S. 265-281; MARTIN GRESCHAT: Die Haltung der deutschen evangelischen Kirchen zur Verfolgung der Juden im Dritten Reich. In: Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, hg. von Ursula Büttner. Hamburg 1992, S. 273-292; CHRISTINE-RUTH MÜLLER: Dietrich Bonhoeffers Kampf gegen die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der Juden. Bonhoeffers Haltung zur Judenfrage im Vergleich mit Stellungnahmen aus der evangelischen Kirche und Kreisen des deutschen Widerstands (HUWJK. 5). München 1990; HEINZ EDUARD TÖDT: Die Novemberverbrechen 1938 und der deutsche Protestantismus. Ideologische und theologische Voraussetzungen für die Hinnahme des Pogroms. In: KZG 2, 1989, S. 14-37; JOCHEN-CHRISTOPH KAISER: Protestantismus, Diakonie und "Judenfrage" 1933-1941. In: VZG 37, 1989, S.

673-714; ÖYVIND Foss: Die vergessenen Juden in der deutschen Diakonie. In: JK 51, 1990, S. 214-224; EBERHARD BETHGE: Barmen und die Juden - eine nicht geschriebene These? In: Vom Widerstand lernen. Von der Bekennenden Kirche bis zum 20. Juli 1944, hg. von Regina Claussen und Siegfried Schwarz. Bonn 1986, S. 147-166. 53 GERLIND SCHWÖBEL: "Ich aber vertraue". Katharina Staritz, eine Theologin im Widerstand. Frankfurt am Main 1990; HARTMUT LUDWIG: Zur Geschichte des "Büros Pfarrer Grüber". In: Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte, hg. von Günter Wirth. Berlin 1987, S. 305-326.

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in die Wege zu leiten, aber keine Unterstützung gefunden.54 Der Kreis derer, die in den verschiedenen Phasen der Judenverfolgung betroffenen Mitchristen zu helfen versuchten, war klein, überwiegend waren es selbst Betroffene. "Nichtarische" Christen fühlten sich in ihren Kirchen sehr allein. Eine Arztin erinnerte sich später, wie es ihr beim Gottesdienst nach dem Soldatentod ihres Mannes ergangen war: "Sowie ich mich hingesetzt hatte, standen alle Gemeindemitglieder, welche schon vor mir in der gleichen Bank gewesen waren, auf, drückten sich an mir vorbei und setzten sich in eine andere Reiche. Dies geschah im Hause Gottes [...]. Der Mischling blieb als Paria in seiner Bank allein. Uber mich hinweg ging man zum Absingen eines Chorals über." 55 Klepper fand einzelne Pfarrer, deren Worte ihm Zuspruch bedeuteten. Der Pfarrer seiner Gemeinde war zur Taufe von Hanni und Renate bereit, was 1938 bzw. 1940 keineswegs mehr selbstverständlich war. Trotzdem verzeichnete er mit wachsender Verzweiflung das Versagen der Kirchen angesichts der Judenverfolgung. Bereits im März 1933, als es an vielen Orten in Deutschland pogromartige Ausschreitungen gegen Juden gab, notierte er: "Aber ich glaube an das Geheimnis Gottes, das er im Judentum beschlossen hat; und deshalb kann ich nur darunter leiden, daß die Kirche die gegenwärtigen Vorgänge duldet." 56 Vor der Pogromnacht, am 4. Oktober 1938, faßte er seine Empfindungen zusammen: "Was an den Juden geschieht, ist eine schwere, schwere Glaubensprüfung - für die Christen." 57 Und am 2. November präzisierte er: "Genau wie wir stehen Meschkes [der befreundete Pfarrer und seine "Judenchristliche" Frau] erschreckt vor dem Faktum, mit welcher Gleichgültigkeit die Christen, auch in Deutschland, and dem Geschick der Juden vorübergehen, geschweige denn, daß sie erkennten, wie erst Gott hier mit den Christen redet."58 Als die deutsch-christlich beherrschte thüringische Landeskirche im Februar 1939 den Ausschluß ihrer aus dem Judentum stammenden Glieder bekanntgab, war das für Klepper "das Ungeheuerlichste, das bisher im Dritten Reich geschehen ist." 59 Klepper konnte zu dieser Zeit nicht ahnen, was nach Kriegsbeginn an Ungeheuerlichem auf die Juden und ihre Angehörigen noch zukommen und ihn in die Vernichtung mit hineinreißen würde. Aber sein Schicksal war kein Einzelfall, und alle psychologischen oder biographischen Erklärungen 54 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 697 (15.12.1938). 55 GERTRUD BURCHARD-WENZEL: Granny. Gerta Warburg und die Ihren. Hamburg o.J., S. 140. 56 Unter dem Schatten (Anm. 1), S. 47 (30.3.1933). 57 EBD., S. 660. 58 EBD., S. 672. 59 EBD., S. 730 (28.2.1939).

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Ursula Büttner

greifen deshalb zu kurz. Sein und seiner Familie Tod war das Ergebnis der nationalsozialistischen Judenverfolgung, und Verantwortung trugen alle, die die systematische Eskalation der antijüdischen Maßnahmen betrieben oder duldeten. Die "Mischfamilien" nahmen oft genauer und mit innerer Anteilnahme wahr, was mit den Juden geschah; denn es betraf Menschen, die ihnen sehr nahe standen. Gleichzeitig litten sie unter der Passivität und Gleichgültigkeit, der Zustimmung und dem Mittun der nichtjüdischen Mehrheit, und besonders der Christen, weil sie sich als ein Teil von ihnen fühlten. Die erkannten das Versagen der meisten Deutschen deutlicher als andere, mußten darüber in einer ganz anders denkenden Umgebung jedoch schweigen. So wurden sie nicht nur als Folge der offiziellen Ausgrenzung, sondern auch aufgrund dieser Zwischenstellung und des daraus resultierenden inneren Zwiespalts sehr einsam. Der einsame Tod der Familie Klepper, weil von Menschen nichts mehr zu erwarten war, ist wie ein Symbol dieser Verlassenheit.

Herbert Immenkötter Z U R "VERNICHTUNG LEBENSUNWERTEN LEBENS" JÜDISCHER BEHINDERTER "Die Kirche bekennt ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährlichen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet. Sie hat dadurch den Ausgestoßenen und Verachteten die schuldige Barmherzigkeit oftmals verweigert. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zur rechten Zeit nicht gefunden ... Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi." i Es war Dietrich Bonhoeffer, der dieses frühe Schuldbekenntnis sehr bald nach Beginn des Zweiten Weltkrieges formulierte. Wir wissen erst heute, wie sehr er mit diesen Sätzen, im Jahre 1940 gesprochen, mit jener hellseherischen Einsicht, die ihm eigen war, die Wirklichkeit getroffen hat. So die Wirklichkeit jener wahrlich "schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi", nämlich der Geistigbehinderten, die durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten besonders bedroht waren, unter ihnen zeitlich als erste diejenigen jüdischen Glaubens, die in eben diesem Jahr 1940 die ersten Opfer der staatlich verordneten "Vernichtung lebensunwerten Lebens" wurden. Das geschah völlig unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit. Denn anders als bei der etwas später einsetzenden, allgemeinen Euthanasie gab es im Falle der jüdischen Behinderten seitens der staatlichen Behörden, der beiden Großkirchen und der deutschen Bevölkerung keinen Widerstand. Nach den jüdischen Heimbewohnern fragten nur noch wenige Angehörige, weil diese entweder noch gerade rechtzeitig ihr Vaterland verlassen hatten und inzwischen aus dem Ausland keinen Kontakt mehr ins Deutsche Reich unterhalten konnten, oder, wenn sie zurückgeblieben waren, dann waren sie selbst inzwischen gedemütigt, diskriminiert, entrechtet und ausgegrenzt.

1

DIETRICH BONHOEFFER: Ethik. Hg. von Eberhard Bethge. 12. Aufl. München 1988, S. 120f.

366

Herbert Immenkötter

Wenige Monate nach der Ermordung ihrer behinderten Verwandten wurden auch sie Opfer der Shoa. Die christliche Bevölkerung im Großdeutschen Reich aber erachtete ihre jüdischen Mitbürger in der Regel nicht als Mitmenschen, für deren Schicksal sie Mitverantwortung trugen. Jedenfalls ist aus ihren Reihen Kritik oder gar Protest gegen die Vernichtung jüdischer Geisteskranker nicht bekannt geworden. Vielmehr konnte die Ermordung geistigbehinderter Juden im ganzen Reich durchgeführt werden, ohne daß sie irgendwo Aufsehen erregt hätte. Bekanntlich haben die braunen Machthaber aus diesem Schweigen der staatlichen Behörden, der Kirchenleitungen und der Bevölkerung den falschen Schluß gezogen, es könne die Euthanasie ohne Rücksicht auf alle Kranken ausgedehnt werden. Ein Stimmungsabfall in der Bevölkerung sei nicht zu befürchten. Diese Einschätzung der Situation war, wie wir wissen, falsch. Weil die systematische Ermordung jüdischer Behinderter im "Dritten Reich" kaum Spuren hinterlassen hat, ist sie bis heute weitgehend unerforscht2. So ist nach wie vor nicht bekannt, wieviele jüdische Behinderte aus Bayern oder aus einem der anderen deutschen Länder oder gar aus den von deutschen Truppen besetzten Gebieten ermordet worden sind. Gleichfalls unerforscht sind Ort und Zeit und die genaue Methode der Massenmorde. Was geschah mit den Leichen der Ermordeten? Gab es eine Nachricht an die Hinterbliebenen, an die Pflegeanstalten, an die Kostenträger? Wer war verantwortlich für Planung und Durchführung der Mordaktion? Konnten die Organisatoren nach dem Krieg strafrechtlich belangt werden? Alle bis heute möglichen Antworten auf diese und weitere Fragen sind unbefriedigend. Da mag es nützlich sein, am Beispiel eines Betroffenen aufzuzeigen, wo weitere Forschungen künftig anzusetzen haben. Wenn das Schicksal eines jüdischen Heimbewohners der Heil- und Pflegeanstalt Ursberg3 gewählt wird, dann scheinen hier die Vorausetzungen für relativ weitgehenden Aufschluß günstig. Die St.-Josefs-Kongregation, die die Betreuung, Versorgung und Pflege von mehr als 2.500 behinderten Heimbewohnern in Ursberg und seinen Filialen sicherstellte, hatte nämlich in den dreißiger Jahren so zahlreichen Nachwuchs, daß sie ein personell überaus aufwendiges Pflegebüro aufbauen und unterhalten konnte. Es wurde üblich, alle einschlägigen Rechtsvorschriften aus Berlin und München, alle Anweisungen aus 2

Erste Hinweise bei ERNST KLEE: Euthanasie im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". 2. Aufl. Frankfurt am Main 1983; HENRY FRIEDLAENDER: The deportation of the German jews. Postwar trials of Nazicriminals. In: YLBI 29, 1984, S. 201-226; GÖTZ ALY (Hg.): Die Aktion T4 1939-1945. Die "Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. (Stätten der Geschichte Berlins. 26). Berlin 1987.

3

GERT TRÖGER: Dominikus Ringeisen und sein Werk. Zur Hundertjahrfeier der Ursberger Behinderteneinrichtungen 1884-1984. Ursberg 1984.

Zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" jüdischer Behinderter

367

den Reichsministerien, aus den bayerischen Ministerien, aus dem Augsburger Regierungspräsidium oder aus den staatlichen Fürsorgeverbänden, die Verlautbarungen der Fuldaer und Freisinger Bischofskonferenzen wie die mündlichen und schriftlichen Mitteilungen aus dem Augsburger bischöflichen Ordinariat, außerdem die wichtigeren Ergebnisse von Verhandlungen zwischen staatlichen und kirchlichen Behörden für alle Ursberger Filialen Maria Bildhausen, Fendsbach, Grönenbach, Pfaffenhausen, Holzen, Breitbrunn am Ammersee u.a. - maschinenschriftlich zu vervielfältigen. Außerdem leisteten sich die einzelnen Filialen eine ausführliche Korrespondenz untereinander und mit dem Ursberger Mutterhaus. Nicht zuletzt hatte jede Pflegestation umfangreiche Personalakten zu führen, in denen die Verhandlungen mit den Kostenträgern, die Art der Ausbildung bzw. Beschäftigung jedes Heimbewohners und deren Erfolge bzw. Mißerfolge, die Besucherhäufigkeit sowie die Privatkorrespondenz, die die Patienten entweder selbst oder durch die Schwestern führen ließen, gesammelt werden mußten, und Krankenakten mit den ärztlichen Befunden und regelmäßigen Beurteilungen der Pflegeschwestern. Aufbewahrt wurde jedes beschriebene Blatt Papier, und keiner dieser Aktenbestände hat irgendwelche Kriegsverluste erlitten. Sie sind im heutigen Hausarchiv in Ursberg erhalten und gestatten für viele ehemalige Patienten die Anfertigung von detaillierten Lebensbeschreibungen, die mehr als nur den Krankheitsverlauf enthalten. Die umfassende Aktenüberlieferung muß bald nach Kriegsende auch jenen Staatsanwaltschaften, die mit der strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für die Euthanasiemorde betraut wurden, bekannt geworden sein. Jedenfalls fanden sich über mehrere Jahre Anklagevertreter verschiedener Behörden in Ursberg ein. Sowohl Nürnberger und Frankfurter als auch Augsburger und Kemptener Strafverfolger glaubten, sich für ihre Recherchen im Ursberger Hausarchiv frei bedienen zu dürfen. Da ließen sich die Ordensschwestern leider in unzähligen Fällen die Originale einschlägiger Schreiben abschwatzen. Die in Aussicht gestellte Rückgabe der Originale ist längst nicht immer erfolgt, vor allem weil sich die Verfahren häufig über viele Jahre hinzogen, Teile der Anklagen abgetrennt, ausgesetzt, wieder aufgenommen wurden, andere an fremde Gerichte weitergegeben wurden. In vielen Fällen enthalten die Ursberger Akten deshalb nur noch (unbeglaubigte) Abschriften. Einige der Ursberger Originale habe ich in den einschlägigen Staatsanwaltschaftsakten der Landgerichte in Frankfurt, Augsburg und Kempten wiedergefunden4.

4

Vgl. dazu im einzelnen HERBERT IMMENKÖTTER: Menschen aus unserer Mitte. Die Opfer von Zwangssterilisierung und Euthanasie im Dominikus-Ringeisen-Werk Ursberg. Donauwörth 1992.

368

Herbert Immenkötter

Für die katholischen Klosterschwestern der 1897 gegründeten St.-JosefsKongregation in Ursberg war die Konfession kein Problem gewesen, als ihnen Ende April 1933 die Bitte um Aufnahme des zehnjährigen jüdischen Buben Josef Strauß aus Lohr am Main zuging. Der Vater Alfred Strauß war Witwer und konnte als Großhandelskaufmann, der häufig tagelang unterwegs sein mußte, die Aufsicht und Pflege seines einzigen Sohnes nicht alleine leisten, wie er dem Ursberger Pflegebüro schriftlich mitteilte 5 . Nach Klärung der Kostenfrage wurde Josef Strauß am 10. Juli 1933 in Ursberg aufgenommen. Vereinbart wurde ein täglicher Pflegesatz von 1,50 RM, den der Vater monatlich im voraus zu leisten hatte; gegebenenfalls anfallende Arzt-, Medikamenten- und Krankenhauskosten waren zusätzlich zu erstatten. Josef Strauß, geboren am 27. April 1923, war gesundheitlich sehr anfällig, hatte keine Kontrolle über seine Körperfunktionen, konnte weder gehen noch sprechen oder hören und brauchte wie ein Kleinkind Tag und Nacht Aufsicht und Pflege. In Ursberg hat er innerhalb der nächsten vier Jahre wohl einigermaßen zu gehen gelernt, blieb aber taubstumm und konnte in keiner der Behindertenwerkstätten beschäftigt werden. Der Vater und mehrere Verwandte unterhielten regelmäßigen Kontakt zu ihrem Sorgenkind. Bei einem seiner Besuche in der schwäbischen Anstalt, es war im Sommer 1937, kündigte Alfred Strauß, der inzwischen wieder geheiratet hatte, an, daß er sich zur Auswanderung entschlossen habe. Vorher aber wolle er "seinen Seppl", wie er ihn nach wie vor liebevoll nannte, auf Lebenszeit versorgt wissen. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß die Ursberger Schwestern die lebenslange Pflege eines Behinderten gegen die Zahlung eines für jeden Einzelfall neu auszuhandelnden und im voraus zu leistenden Betrages vertraglich garantieren würden. Nach langwierigen Verhandlungen über den Verkauf seines Immobilienbesitzes in Lohr am Main und nach mehreren Rückfragen im Ursberger Pflegebüro, die sich über ein ganzes Jahr hinzogen, erreichte er schließlich, daß die St.-Josefs-Kongregation, vertreten durch ihre Generaloberin, rechtsverbindlich zusicherte, gegen Zahlung von 12.000, RM den mehrfach schwerstbehinderten Josef Strauß "für Lebensdauer vollständig zu versorgen, in gesunden und kranken Tagen, im Leben und im Sterben"6. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, wie der Betrag zustandekam, wie er seitens der Ordensschwestern berechnet wurde und ob die Vermutung, daß es sich bei dem jüdischen Kaufmann um einen reichen Verhandlungspartner handelte, eine Rolle gespielt hat. Errechnen läßt sich lediglich, daß die Summe ohne Zinsertrag bei gleichbleibendem 5

ARCHIV DER ST.-JOSEPHS-KONGREGATION URSBERG

6

J. Strauß. AU, Personalakte J. Strauß, 15.5.1938.

(im folgenden:

AU),

Personalakte

Zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" jüdischer Behinderter

369

Pflegesatz und bescheidenen Krankenkosten für mehr als 20 Jahre gereicht hätte - für einen Fünfzehnjährigen gewiß nicht überhöht. Der Vertrag wurde am 15. Mai 1938 unterzeichnet. Wenige Wochen später verließ Vater Alfred Strauß das Deutsche Reich für immer. Seine letzten Spuren verlieren sich in den Akten des Landgerichts Aschaffenburg, wo er in den Jahren 1950/51 von Amerika aus ein Rückerstattungsverfahren, sein ehemaliges Anwesen in Lohr am Main betreffend, angestrengt hat7. Vater Strauß hat für seinen Sohn alles getan, was nach seinem Ermessen notwendig war. Er konnte nicht ahnen, daß die Sozialfürsorge für Juden in Deutschland schon zwei Jahre später völlig gestrichen wurde. Mit der "Verordnung über die öffentliche Fürsorge für Juden" vom 19. November 1938 wurden alle bedürftigen Juden auf die Hilfe der erst noch zu etablierenden jüdischen freien Wohlfahrtspflege verwiesen8. Zehn Tage nach der "Reichspogromnacht" reichte den Nationalsozialisten als Begründung für diese neuerliche Ungleichbehandlung der Hinweis auf den angeblich noch immer immensen Reichtum der Juden bei gleichzeitiger Not der "arischen Bevölkerung". Ergänzend und beschwichtigend stellte die "10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz" vom 4. Juli 1939 fest: "Die Reichsvereinigung hat als Träger der jüdischen freien Wohlfahrtspflege ... nach Maßgabe ihrer Mittel hilfsbedürftige Juden so ausreichend zu unterstützen, daß die öffentliche Fürsorge nicht einzutreten braucht" 9 . Dabei war die eben errichtete "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" 10 weder organisatorisch noch finanziell in der Lage zu helfen. Und das Vermögen der alten jüdischen Wohlfahrtsvereine war doch schon 1933 "auf Grund des Gesetzes zur Enteignung von zu antinationalen Zwecken bestimmten Guts" beschlagnahmt worden 11 .

7

Alfred Strauß hatte dieses Anwesen mit notariellem Kaufvertrag vom 3.5.1938 an Leonhard S. verkauft. Aus dem Erlös bestritt er den "Einkauf" in Ursberg, seine "Reichsfluchtsteuer", seine Kosten för die Ausreise und für den Neuanfang in einem fremden Land. Vor der Wiedergutmachungsbehörde trat die Witwe des Käufers auf, vertreten von dem Rechtsanwalt Dr. jur. Oskar Probst in Lohr. Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. Franz-Josef Probst in Lohr am Main hat es mir gegenüber im Jahre 1991 abgelehnt, das Aktenzeichen dieses Vorgangs mitzuteilen.

8

REICHSGESETZBLATT I, S. 1649.

9

REICHSGESETZBLATT I, S. 1097f. Vgl. UWE DIETRICH ADAM: Judenpolitik im Dritten Reich. 2. Aufl. Königstein 1979, S. 223f., 268f.

10

REICHSGESETZBLATT I, S. 1097f.

11 Vgl. JOSEPH WALK (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien - Inhalt und Bedeutung. Heidelberg 1981, hier I 102.

370

Herbert Immenkötter

Mit anderen Worten: Öffentliche Sozialfürsorge für kranke und behinderte Juden existierte mit Beginn des Krieges nur noch auf dem Papier. Und private Leistungen machte die Regierung wenig später durch Verschärfung der ohnedies rigiden Devisenbestimmungen12 unmöglich. Auch für unseren Josef Strauß in Ursberg ordnete die Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten in München ein "beschränkt verfügbares Sicherungskonto" bei einer staatlichen Devisenbank an 13 . Künftig sollte er über einen monatlichen Freibetrag von nur 50,- RM verfügen dürfen14. Diese Sicherungsanordnung war freilich wegen der geistigen und körperlichen Verfassung unseres Josef Strauß ohne Belang; örtliche Instanzen hoben sie deshalb am 1. Dezember 1939 auch wieder auf15. Im ganzen sind die judenfeindlichen Aktionen mit Beginn des Krieges widersprüchlicher geworden, deswegen nicht leicht durchschaubar. Maßnahmen der Berliner Regierung sind nicht immer mit denen regionaler und örtlicher Parteigliederungen koordiniert, was die Verschleierung der Vorgänge begünstigte. Allein mit der Erfassung der jüdischen Behinderten in Ursberg waren - z.T. unabhängig voneinander - fünf verschiedene Behörden befaßt: 1. Die Landesfürsorgeverbände der bayerischen Bezirke: Sie verlangten im Oktober 1939 eine genaue Aufstellung der auf ihre Kosten in Ursberg untergebrachten jüdischen Pfleglinge - als wenn sie diese Angaben nicht auch aus ihren eigenen Unterlagen hätten erheben können 16 . 2. Das Reichsministerium des Inneren: Es war bekanntlich federführend bei der ganzen Euthanasieaktion. Von dort erging im November 1939 die Meldebogen-Aktion, die alle Behinderten - Juden und Nichtjuden - zu erfassen suchte17. In Ergänzung wies dieselbe Behörde am 15. April 1940 alle örtlichen Dienststellen an, Name und Aufenthaltsort aller jüdischen Anstaltspatienten festzustellen18. Dann erging am 30. August 1940, wiederum vom Reichsinnenministerium, der bekannte Schnellbrief an die

12

Gesetz von 1935: REICHSGESETZBLATT I, S. 105-119.

13

A U , Akte "Nicht-Arier. Devisenangelegenheiten".

14

EBD.

15

EBD.

16

A U , Akte "Nicht-Arier".

17

Dazu zusammenfassend E . KLEE, Euthanasie (Anm. 2).

18

Vgl. dazu auch HENRY FRIEDLAENDER: Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: G.

ALY, Aktion

T4

(Anm.

2),

S. 34-44,

hier S.

39 mit

Anm.

25

und EUGEN

KOGON/HERMANN LANGBEIN/AD ALBERT RÜCKERL (Hg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main 1983, S. 53.

Zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" jüdischer Behinderter

371

untergeordneten Landesbehörden19. Aber auch damit war man sich in Berlin noch nicht sicher. Es folgte am 12. Dezember 1940 ein Runderlaß mit der Anordnung, alle noch immer in Heilanstalten befindlichen geisteskranken Juden nunmehr in die von der Reichsvereinigung unterhaltene Heil- und Pflegeanstalt Sayn-Bendorf, Kreis Koblenz 20 , zu "verlegen"21. Derselbe Erlaß wurde kurz nach der Jahreswende sogar noch einmal wiederholt22, bevor die sog. "Gemeinnützige Kranken-Transport-G.m.b.H." - im Nazi-Jargon "Gekrat" - dann am 4. Februar 1941 die Kranken von Sayn-Bendorf mit unbekanntem Ziel abtransportierte23. 3. Das Regierungspräsidium in Augsburg: Diese Behörde richtete am 29. April 1940 weisungsgemäß eine Anfrage u.a. auch an Ursberg24. 4. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland: Unabhängig davon mußte auch die Münchener Bezirksstelle der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" Ende August 1940 dieselbe Erhebung anstellen25. Man rechnete offenbar damit, daß eine Anfrage der "Reichsvereinigung" ehrlicher, weil weniger verdächtig, beantwortet werde. 5. Das Bayerische Staatsministerium des Inneren: Die fünfte, innerhalb eines knappen Jahres mit diesem Thema befaßte Behörde war das Münchener Innenministerium, das mit Datum vom 4. September 1940 befahl, alle jüdischen Pfleglinge Bayerns in einer Anstalt, nämlich der staatlichen Heilund Pflegeanstalt Eglfing-Haar, zusammenzufassen26. Und schließlich hat dasselbe Ministerium noch einmal 1943 nach "volljüdischen Minderjährigen" und "minderjährigen Halbjuden, Vierteljuden und Geltungsjuden" in privater Heimerziehung gesucht27. In Ursberg ist die Anordnung vom 4. September 1940 befolgt worden. Die Transportkosten und die in Eglfing anfallenden Pflegekosten seien vom bisherigen Kostenträger einzufordern28. Eine Zusammenlegung aller jüdi-

19

Vgl. z.B. GERHARD SCHMIDT: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1983, S. 73.

20

Vgl. DIETRICH SCHABOW: Zur Geschichte der Juden in Bendorf. Hg. vom Hedwig-DransfeldHaus in Verbindung mit dem ökumenischen Arbeitskreis. Bendorf 1979.

21

REICHSMINISTERIALBLATT FÜR DIE INNERE VERWALTUNG 51, S. 2 2 6 1 .

22

V g l . DOKUMENTE ÜBER DIE VERFOLGUNG DER JÜDISCHEN BÜRGER IN BADEN-WÜRTTEMBERG DURCH DAS NATIONALSOZIALISTISCHE REGIME 1933-1945. Stuttgart 1966, S. 3 8 8 .

23

HANS G. ADLER: D e r verwaltete Mensch: Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. Tübingen 1974, S. 244.

24

A U , Akte "NichtArier".

25

EBD.

26

A U , Personalakte Josef Strauß. Akte "Verlegung der Juden 14.9.1940".

27

A U , Akte "NichtArier".

28

A U , Personalakte Josef Strauß.

372

Herbert Immenkötter

sehen Patienten des Landes erschien den Ursberger Schwestern zunüchst als durchaus sinnvoll. Unter ihresgleichen, so meinten sie, waren die jüdischen Geisteskranken Bayerns vielleicht sogar besser aufgehoben als in der katholischen Anstalt. Auch die offizielle Version, die "Gründe, die mit der Reichsverteidigung in Zusammenhang stehen", geltend machte, schien plausibel in einer Zeit, da plan- und kriegswirtschaftliche Maßnahmen an der Tagesordnung waren. Stets gewohnt, den Anordnungen der "rechtmäßigen Obrigkeit" Folge zu leisten, vermochten die Ordensschwestern keinen anderen Ausweg zu erkennen, als den Anweisungen zu folgen. So sorgten sie selbst sogar für ein Sanitätsauto des Bayerischen Roten Kreuzes und ließen den Transport nach Eglfing-Haar von einer ihrer Schwestern begleiten. Das war am 14. September. Die Krankenakten wurden weisungsgemäß nicht nach Eglfing-Haar weitergegeben; sie sind in Ursberg erhalten. Schon eine Woche nach der "Verlegung" ließ der Leiter der Eglfinger Pflegeanstalt Dr. Hermann Pfannmüller auf einem hektographierten Briefbogen mitteilen, daß Josef Strauß "gemäß einer Entschließung des Staatsministeriums des Innern am 20. 9. 40 in eine Sammelanstalt überstellt" worden sei. Die Anschrift dieser neuen Anstalt sei ihm noch unbekannt. Er werde aber in absehbarer Zeit Nachricht geben, wo sich die Kranken neuerdings aufhalten. In Anbetracht einer längeren Transportdauer möge man sich aber einige Monate gedulden29. Für die vorübergehende Pflege unseres Josef Strauß in Eglfing-Haar legte Dr. Pfannmüller den Ursberger Schwestern auch eine Kostenrechnung vor: sieben Tage zu je 3,70 RM 3 0 . Der überhöhte Betrag wurde anstandslos überwiesen31. Es ist dies das letzte sichere Zeugnis über das Schicksal unseres Josef Strauß wie auch aller anderen jüdischen Patienten aus Bayern. Alles weitere ist Spekulation32. Denn entgegen der Ankündigung Pfannmüllers ist eine Mitteilung über den neuen Aufenthaltsort der Patienten nie erfolgt. Vielmehr hatte der Eglfinger Direktor die wahren Zusammenhänge absichtlich verschleiert. Als einer der besteingeweihten und hauptverantwortlichen Arzte für das Euthanasie-Mordprogramm der Nationalsozialisten wußte er sehr wohl, daß es eine weitere "Sammelanstalt" gar nicht gab. Vielmehr war die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, der er selbst vorstand, eigentliche "Sammelanstalt" für alle jüdischen Geisteskranken aus ganz Bayern. Als 29

AU, Akte "Verlegung der Juden"; H. IMMENKÖTTER, Menschen (Anm. 4), S. 63.

30

AU, Personalakte Josef Strauß.

31

Die Ursberger Anstalten veranschlagten seit Beginn der dreißiger Jahre bis zur Währungsreform 1948 einen täglichen Pflegesatz von 1,50 RM.

32

Zum folgenden vgl. H. FRIEDLAENDER, Deportation (Anm. 2), S. 201-226.

Zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" jüdischer Behinderter

373

Ausgangspunkt für die beabsichtigten Euthanasiemorde eignete sich nämlich nur eine staatliche Anstalt, weil diese keine Rücksicht nehmen mußte auf Rechte und Empfindlichkeiten privater Kostenträger. Und Pfannmüller, den sein Nachfolger als kommissarischer Direktor von Eglfing-Haar in den Jahren 1945 und 1946 als "Dämon" bezeichnet 33 , hatte sich selbst als verläßlicher Erfüllungsgehilfe "nationalsozialistischer Rassenhygiene" ausgewiesen und sein Haus als NS-Musteranstalt empfohlen. Von Eglfing aus erfolgte unter tatkräftiger Mithilfe Pfannmüllers die gemeinsame "Verlegung" aller jüdischen Behinderten aus bayerischen Anstalten - mit unbekanntem Ziel. Die Gesamtzahl aller bayerischen Behinderten jüdischen Glaubens wird einmal mit 19234, ein anderes Mal mit 200 bis 20435, ein weiteres Mal mit "rund 375"36 angegeben. Auch die offizielle Liste des Transportführers gestattet keine zuverlässigere Aussage37. In Ursberg hörte man über Monate nichts mehr über das Schicksal des Josef Strauß. Inzwischen waren aus den fünf Anstalten der Kongregation mehrere hundert Pfleglinge "aus Gründen, die mit der Reichsverteidigung in Zusammenhang stehen", wie es wiederum offiziell hieß, in staatliche Anstalten "verlegt" worden. Inzwischen waren mehrere Todesnachrichten an die Angehörigen dieser ehemaligen Ursberger aus dem österreichischen Hartheim bei Linz eingegangen. Da war inzwischen auch in Ursberg der Verdacht nicht mehr von der Hand zu weisen, daß die "Verlegungen" mit den wenige Wochen später eintreffenden Todesnachrichten in Zusammenhang zu bringen waren. Weiteren Aufschluß über die nebulösen Hintergründe lieferte dann der pensionierte Münchener Justizrat Fritz Schnell, Vater der ehemaligen Ursbergerin Berta Schnell, die als Jüdin den Namen Sara tragen mußte. Dieser berichtete Anfang November 1940 nach Ursberg von einer "vagen Mitteilung", die ihm zugegangen sei, wonach seine Tochter nunmehr "möglicherweise in Chelm [!] sein könne". Von dort aber erhielt er auf eine

33 G. SCHMIDT, Selektion (Anm. 19), S. 90. 34 Aussage eines Arztes von Eglfing-Haar nach dem Krieg: H. G. ADLER, Der verwaltete Mensch (Anm. 23), S. 241. 35 G. SCHMIDT, Selektion (Anm. 19), S. 73f. 36 Aussage des Vizedirektors Dr. Moritz Schmidtmann von EglfingHaar nach dem Krieg: H. G. ADLER, Der verwaltete Mensch (Anm. 23), S. 241. 37 US Military Tribunal No. 1, United States versus Karl Brandt et al., case 1, S. 72957297 (Aussage H . Pfannmüller 4.10.46). Nazi Organisation. Akten der Nürnberger USA-Militärgerichte ( - N O ) 1135 und 1310 (Transportliste der jüdischen Patienten vom 20. 9.1940 aus Eglfing-Haar).

374

Herbert Immenkötter

entsprechende Rückfrage drei Wochen später die Mitteilung, daß seine Tochter Berta Sara Schnell in der dortigen Anstalt verstorben sei 38 . Seinem Bericht an das Ursberger Pflegebüro zufolge wandte sich der juristisch versierte Vater der Ermordeten umgehend an das Standesamt in Chelm [!], Bezirk Lublin im Generalgouvernement, weil er drei Fehler in der Sterbeurkunde berichtigt haben wollte, erhielt aber darauf ebensowenig eine Antwort wie auf seine Bitte um Auskunft über die letzte Ruhestätte seiner Tochter 39 . Ersten Aufschluß über das Schicksal unseres Josef Strauß lieferte dann die sog. "Gekrat". Die Gesellschaft teilte mit Datum vom 1. April 1941 den Ursbergern mit, sie habe Josef Israel Strauß in ein neues Aufnahmelager "verlegt". Dafür machte sie Transportkosten von 364,- RM geltend. Kein Wort aber über den neuen Aufenthaltsort, geschweige denn über sein Befinden 40 . Die Kostenfrage und nichts anderes gab dann auch sechs Wochen später den Anlaß für die Todesbenachrichtigung, niedergeschrieben auf einem Briefbogen der "Irrenanstalt Cholm, Post Lublin, Postschließfach 822". Darin heißt es: "Der jüdische Geisteskranke Josef Israel Strauß, geb. 27.4.1923, befand sich seit dem 22. September 1940 in unserer Anstalt und ist am 22. Januar 1941 verstorben." Die in Cholm angefallenen Pflegekosten für "123 Tage a R M 3.- = RM 368.-" und die "Einäscherungskosten von RM 65.-, insgesamt R M 434.-" sind auf ein Berliner Postscheckkonto zu überweisen 41 . Das Todesdatum ist anzuzweifeln. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Josef Strauß bis ins Generalgouvernement transportiert worden ist. Warum hätte das geschehen sollen, wenn er bereits vor dem 20. September 1940 zum Tode verurteilt worden war? Wenn die Berliner "Gekrat" eine so lange Lebensdauer behauptete, dann diente dies zunächst der Verschleierung der Mordaktion. Außerdem konnte auf diese Weise ein höherer Pflegebetrag geltend gemacht werden. Ein Mitarbeiter der zentralen Berliner Verrechnungsstelle hat bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht Frankfurt am Main im Jahre 1970 gestanden, daß seine Behörde "an der Juden-Euthanasie ungefähr zwei bis dreihunderttausend Reichsmark verdient" habe42. Ob es eine polnische Anstalt namens "Cholm" oder "Chelm" überhaupt gab, und bzw. oder ob "Cholm" bzw. "Chelm" als identisch anzunehmen ist 38

A U , Personalakte Berta Schnell.

39

EBD.; H . IMMENKÖTTER, Menschen (Anm. 4), S. 140f.

40

A U , Personalakte Josef Strauß.

41

A U , Akte "Verlegung der Juden".

42

E. KLEE, Euthanasie (Anm. 2), S. 329.

Zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" jüdischer Behinderter

375

mit Chelm-Lubelski, wo immerhin eine psychiatrische Anstalt bestanden hatte, bis deren Bewohner am 12. Januar 1940 "mit unvorstellbarer Brutalität" von den Deutschen ermordet wurden, ist einstweilen nicht auszumachen43. Zu prüfen bleibt auch, ob nicht die Sterbebenachrichtigungen, Rechnungen, Trostbriefe usw. überhaupt von Berlin-Charlottenburg aus verschickt worden sind. Ein regelmäßiger Kurierdienstes von Berlin nach Lublin für solche Fälle ist nämlich nach dem Krieg von einem Angeklagten des Hamburger Euthanasieprozesses bestätigt worden44. Noch schwieriger wird die sich dann erst anschließende Frage nach der Bestattung der jüdischen Patienten zu beantworten sein. Nach der bewußt und geschickt inszenierten Verschleierungsaktion der Euthanasie-Organisatoren und ihrer Erfüllungsgehilfen aus dem Juristen und Arztestand, aus dem Pflegedienst und den Transportunternehmen werden die meisten der vorstehenden Fragen auch künftig nicht zu beantworten sein.

43

EBD., S.

114f.

44 EBD., S. 155, S. 261; E. KOGON u.a., Massentötungen (Anm. 18), S. 54.

Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder EIN LANGER WEG VON BRESLAU NACH NEW YORK Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell Die Autoren erinnern sich dankbar an die erste Begegnung und intensive Zusammenarbeit mit dem Geschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte, Dr. Carsten Nicolaisen, bei der Planung und Herstellung der Reichstagsausstellung "Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz" 1980/81A Anfang Oktober 1940 erhielt der Generalsekretär des im Aufbau befindlichen Ökumenischen Rats der Kirchen in Genf, Willem A. Visser't Hooft, eine Postkarte aus Spanien mit dem kurzen Inhalt: "Gestern haben wir die Grenze Cerbere-Port-Bou überschritten und heute fahren wir, so Gott will, bis Barcelona. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Gott und den lieben Menschen, die uns geholfen haben, sind. Besonderen Dank und viele Grüße an Br[uder] Freudenberg und Familie. Jetzt wollen wir so schnell wie möglich bis Lissabon fahren. Hoffentlich bekommen wir bald Schiffskarten, [ . . . p Absender war der frühere schlesische Sozialpfarrer Friedrich Forell, der am 31. Dezember 1933 wegen seiner "nichtarischen" Abstammung in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war3. Von 1933 bis 1938 arbeitete Forell im Dienst der schwedischen Israelmission in Wien*. Nach dem "Anschluß" Österreichs floh er Hals über Kopf nach Schweden. Anschließend war er als Flüchtlingspfarrer zur Betreuung "nichtarischer" Christen

1

2

Vgl. EBERHARD RÖHM/JÖRG THIERFELDER: Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Bilder und Texte einer Ausstellung. Stuttgart 1981. - Der folgende Beitrag ist eine Vorstudie zu DIES.: Juden-Christen-Deutsche. Band 3/1 und II: "ausgestoßen". 19381941. Stuttgart 1995. - Die Bände 1 (1933-1935), 2/1 und 2/II (1935-1938) sind 1990 bzw. 1992 erschienen. Forell an Visser't Hooft, 4 . 1 0 . 1 9 4 0 : ARCHIV DES ÖKUMENISCHEN R A T S DER KIRCHEN, GENF (im folgenden: AÖR), W C C Gen.Corr., Box 40.

3

V g l . E . R Ö H M / J . THIERFELDER, B d . 1 ( A n m . 1), K a p . 2 0 .

4

V g l . E . R Ö H M / J . THIERFELDER, B d . 2 / H ( A n m . 1), S . 1 9 0 - 1 9 5 .

Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell

377

aus Deutschland in Paris tätig. An Forells Emigrantenschicksal läßt sich beispielhaft die Mühsal ökumenischer Flüchtlingshilfe veranschaulichen. Forell konnte auf langjährige ökumenische Beziehungen zurückblicken. Er gehörte zu denen, die wie Friedrich Siegmund-Schultze und Hermann Maas schon frühzeitig für eine großangelegte Flüchtlingshilfe für "nichtarische" Christen aus Deutschland eingetreten sind. So korrespondierte Forell im Sommer und Herbst 1933 mit Prof. Adolf Keller, dem Generalsekretär der Europäischen Zentralstelle für kirchliche Hilfsaktionen in Genf: Die "Stockholmer Bewegung" (= der Ökumenische Rat für Praktisches Christentum) solle sich für die "nichtarischen" Pfarrer wie überhaupt für die "nichtarischen Christen" in Deutschland stärker einsetzen und Stellung nehmen gegen den "Rassenantisemitismus auf christlicher Grundlage". Für seine Person könne er sich vorstellen, daß die "Stockholmer Bewegung" ihn "mit der Seelsorge für die Emigranten im Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie beauftragt"5. Am 15. November 1933 schlug Forell vor, "daß der Ökumenische Rat für Praktisches Christentum zu Weihnachten eine Kundgebung erläßt, die Christenheit aller Völker solle nicht vergessen, daß der Heiland der Welt von einer jüdischen Mutter geboren wurde: Das würde für viele um ihrer jüdischen Mutter willen schwer leidenden Christen ein großer Trost sein!"6 Zwei Jahre später legte Forell Bischof Bell von Chichester, dem Vorsitzenden des Ökumenischen Rats für Praktisches Christentum, ein "Scheine to help the socalled Non-Aryan Christians" vor 7 : "The big need has to meet with a big Organization", so forderte Forell. Innerhalb und außerhalb Deutschlands müsse ein Netz von Vertrauensstellen aufgebaut werden. Der "Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer und nicht-reinarischer Abstammung"8 sei überfordert; darum sollte die ökumenische Bewegung die von der Judenmission, einzelnen Pfarrern, dem Reichsverband und den Quäkern begonnenen Einzelaktionen koordinieren und für Ansiedlungsmöglichkeiten in Ubersee sorgen; letzteres vor allem in Zusammenarbeit mit dem Hohen Kommissar des Völkerbunds. Es waren Gedanken, die dann tatsächlich im Januar 1936 mit der Gründung des "Internationalen kirchlichen Hilfskomitees für deutsche Flüchtlinge" und Ende 1938 mit der Arbeit des "Büros Pfarrer Grüber" konkrete Gestalt annahmen9. Anfang 1935 war der Ökumenische Rat in dieser 5

Vgl. Forell an Keller, 17.7. und 5.11.1933 (AÖR, W C C Gen.Corr., Box 40). - Zur Beauftragung von Forell durch die Ökumenische Bewegung ist es nicht gekommen.

6

EBD.

7

Vgl., auch zum Folgenden, Forell an Bell, 10.1.1935 lind 20.1.1935 sowie Keller an Forell, 22.1.1935 (EBD.).

8

Vgl. E. RÖHM/J. THIERFELDER, Bd. 1, S. 270-278 und Bd. 2/II, S. 227-254 (Anm. 1).

9

Vgl. EBD., Bd. 2/1, Kap. 9 und Bd. 2/II, Kap. 42.

378

Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder

Sache noch sehr zurückhaltend, ja skeptisch gewesen. Kellers Antwort war durchaus einleuchtend. Der Grundtenor: Es wäre schwer, außerhalb Deutschlands ein "Hilfswerk für die besondere Kategorie 'nichtarische Christen' aufzuziehen", da dieses "vorläufig kein faßbarer Begriff" sei. Zuerst aber müßten innerhalb Deutschlands die nötigen Stützpunkte etwa durch die "Bekenntnis-Kirche" geschaffen werden. Im übrigen sei er "jedem Plane einer wirklichen Hilfeleistung durchaus offen, aber habe in der gegenwärtigen Zeit gegen jedes Gründungs- und Organisationsfieber Bedenken, die nur überwunden werden könnten durch sehr konkrete und ausführbare Vorschläge, hinter denen auch die nötigen Kräfte und Mittel stehen." Wie richtig Kellers nüchterne Einschätzung war, wurde Forell gewiß bewußt, als er wenige Jahre später auf einem neuen Arbeitsfeld in Frankreich in noch engeren Kontakt mit der ökumenischen Flüchtlingshilfe kam. Friedrich Forell sammelt Flüchtlinge in Paris Nach einem Zwischenaufenthalt in Schweden kam Forell nach Paris. Von seinem Sitz Neuilly-sur-Seine aus bemühte er sich um eine Flüchtlingsgemeinde von etwa 350 Personen, die über ganz Frankreich verstreut lebten, - meist "nichtarische" Christen. Forell fand zunächst Unterstützung durch die International Hebrew Christian Alliance in London und die Schwedische Israelmission in Stockholm 10 . Das "Comité des Églises Chrétiennes pour les Chrétiens 'Non Aryens"1 dessen Sekretär für Frankreich Forell nun war 11 , wurde hauptsächlich unterstützt durch die Zentrale des Okumeni10 Vgl., auch zum Folgenden, Forell an Visser't Hooft, 14.7.1939 und 9.11.1939, und Visser't Hooft an Forell, 7.9.1939 (AÖR, W C C Gen.Corr., Box 40). Bis Ende 1939 erhielt Forell für die Flüchtlingsarbeit von der Schwedischen Gesellschaft für Israel-Mission monatlich 300 Schwedenkronen, von der International Hebrew Christian Alliance 25 Pfund. Sein Gehalt wurde unabhängig davon von der Schwedischen Israelmission übernommen. Forell hat außerdem bis Dezember 1941 aus Deutschland ein Ruhegehalt in Höhe von 385 RM monatlich bezogen. Es scheint, daß ihm dies zusätzlich zu den monatlichen Uberweisungen in Höhe von 300 Schwedenkronen durch die Schwedische Israelmission zur Verfügung stand. Die Finanzabteilung des Breslauer Konsistoriums hat diese Zuwendung, die im Zusammenhang der Tätigkeit für die Schwedische Israelmission stand, als nicht auf das Ruhegehalt anrechenbare "Dienstaufwandsentschädigung" bewertet. Vgl. Finanzabteilung Konsistorium Breslau an Finanzabteilung EOK Berlin, 11.6.1935 und 11.12.1941: Ev. ZENTRALARCHIV IN BERLIN (im folgenden: EZA BERLIN), 7/1952. Vgl. außerdem Forell an Visser't Hooft, 6.1.1940 (AÖR, W C C Gen.Corr., Box 40). 11 Als Präsidenten seines Komitees nannte Forell im Briefkopf die vier Präsidenten des 1936 gegründeten "International Christian Committee for German Refugees": Erzbischof Eidem von Uppsala, Bischof Irenaus von Novi Sad, Bischof Bell von Chichester und Pasteur Marc Boegner, Präsident des französischen Kirchenbundes; sie waren allesamt Mitglieder des Exekutivausschusses des Ökumenischen Rats der Kirchen.

Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell

379

sehen Rats in Genf. Forell bezifferte die notwendigen Mittel auf monatlich 30.000 bis 40.000 ffrs, um das allergrößte Elend zu lindern. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rats, Visser't Hooft, stand voll hinter dieser Arbeit, soweit es irgend in seiner Macht lag. Argwohn von Seiten des Kirchlichen Außenamtes in Berlin Kaum hatte Forell in Paris Fuß gefaßt, da wuchs auch schon der Argwohn von Seiten des Kirchlichen Außenamtes in Berlin. Könnten die im Ausland jetzt "vagabundierenden" "nichtarischen" Pfarrer deutsche Exilgemeinden um sich sammeln und womöglich in Konkurrenz zu den deutschen Auslandsgemeinden treten? Solche Fragen waren durchaus nicht von der Hand zu weisen. Emigranten suchten eine neue geistige und geistliche Heimat. Konnten sie dies in einer traditionell eher deutschnational, oft sogar nationalsozialistisch orientierten deutschen Auslandskolonie und -gemeinde finden? Jedenfalls erhielt Pfarrer Dahlgrün von der Deutschen EvangelischLutherischen Kirche in Paris bereits Ende Januar 1939 vom Kirchlichen Außenamt die Aufforderung, über eventuelle "Bestrebungen" zur Gründung "deutscher Kirchengemeinden, die außerhalb des Verbandes der DEK stehen" zu berichten. Holländische Zeitungen hätten von derartigen Bestrebungen in London und Paris geschrieben12. Pfarrer Dahlgrün konnte berichten. Ein Vikar Braun, der durch "seinen jüdisch anmutenden Typus auffiel", wie es im Antwortschreiben nach Berlin heißt, hatte seit Sommer 1938 begonnen, "nichtarische evangelische Christen deutscher Herkunft in einer Gemeinde zu sammeln"13. Sonntägliche Zusammenkünfte gebe es in der Baptistenkirche (Rue de Lille). Von Pastor Boegner, dem Präsidenten des französischen Kirchenbundes, konnte Dahlgrün in Erfahrung bringen, daß der "Judenmissionar" Friedrich Forell "von der [französischen] Kirche als Helfer bei der Emigrantenhilfe beschäftigt werde". Forell hatte offensichtlich keinen Kontakt zur Deutschen Gemeinde in Paris gesucht. Die Mitglieder der Gemeinde schienen ihm wenig Verständnis für die bedrängten jüdischen Flüchtlinge zu haben. Dahlgrüns offene Schilderung der geistigen Grundhaltung der Mehrheit der Deutschen EvangelischLutherischen Kirche in Paris macht deutlich, warum dies so war. Er lieferte damit eine geradezu klasssische Beschreibung der ausweglosen Situation Zum International Committee for German Refugees vgl. E. R Ö H M / J . THIERFELDER, Bd. 2/1 (Anm. 1), S. 119-122. 12 Vgl. Kirchliches Außenamt der DEK (im folgenden: KA) Berlin an Pfarrer Dahlgrün, Paris, 28.1.1939 (EZA BERLIN, 5/141, Bl. 239 R). 13 Vgl., auch zum Folgenden, Dahlgriin an KA, 31.1.1939 (EBD., BL. 241-243).

380

Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder

"zwischen den Stühlen", in der "nichtarische" Christen auch im Ausland sich vorfanden: "Daß die nichtarischen evangelischen Christen unter den in den letzten Monaten an Zahl sehr angewachsenen Emigranten zur kirchlichen Selbsthilfe greifen, ist unvermeidlich und war vorauszusehen. Die organisatorischen und charitativen Sammlungsbestrebungen liegen (genauer gesagt: lagen bisher) in der Hand der beiden im Emigrantentum führenden Gruppen. In politischer Hinsicht sind diese der Kommunismus, in rasssischer Hinsicht das Judentum. Letzteres versteht sich hier zugleich als religiöse Einheit. Es gibt eine immerhin nicht unbeträchtliche Zahl deutscher Emigranten nichtarischer Abstammung und evangelischen Glaubens (wie auch römisch-katholischen Glaubens), die weder als Kommunisten noch als Juden gelten wollen, auch weder dort noch hier etwas zu erwarten haben. Die materiellen Nöte dieser Leute, die Unsicherheit, die über ihrem Verbleib hier im Lande schwebt, die beständige Gefahr der Ausweisung, es ist dies alles unbeschreiblich groß und schwer. Von daher stellt sich wesentlich für meine pfarramtliche Arbeit die Praxis des Emigrantenproblems. Es sind die beiden Anliegen, die mir nahezu in jedem Falle entgegentreten: geldliche Unterstützung und Hilfe bei Erlangung der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, d.h. das Emigrantenproblem begegnet mir in einer Form, der gegegenüber ich machtlos bin. Es ist mir schlechterdings unmöglich, aus meiner Gemeinde Geldmittel für die Unterstützung von Emigranten beizutreiben. Ein Vorgehen in dieser Richtung, welches bei dem Umfang der erforderlichen Mittel in der Öffentlichkeit geschehen müßte, würde zur Zerstörung der Gemeinde führen. Ich vermag höchstens aus Mitteln, die mir von nicht-reichsdeutscher Seite mit der ausdrücklichen Bestimmung der Verwendung für derartige Zwecke zufließen, in vereinzelten Fällen brutalster Not die Samariterhilfe zu gewähren. Es ist verständlich, daß unter diesen Umständen mancher nicht-arische Christ aus dem Kreise der Emigranten, der keinen Einblick in die Lage meiner Gemeinde hat oder den die Not für irgend welche Einsichten und Rücksichten unempfänglich macht, enttäuscht sich abwendet." Dies bedeutete praktisch den skandalösen Ausschluß "nichtarischer" Christen aus der Kirchengemeinschaft, ehe dies zwei Jahre später einzelne Landeskirchen in Deutschland auch offiziell verkündeten und vollzogen 14 . Pfarrer Dahlgrün empfand dies deutlich als Schmach, fühlte sich aber ohnmächtig gegenüber dem Geist, der in der Deutschen Gemeinde in Paris vorherrschte. Um wenigstens in Einzelfällen ungestraft seiner seelsorgerlichen Pflicht gegenüber Ratsuchenden nachkommen zu können, suchte Dahlgrün bei seinem Kirchenvorstand "Rückendeckung nach der Gemeinde hin". 14 Vgl. dazu ausführlich E. R Ö H M / J .

THIERFELDER,

Bd. 3 (Anm. 1).

Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell

381

"Einmütig" faßte dieser eine Erklärung, "daß die Gemeinde zu ihrem alleinigen Auftrage der Evangeliumsverkündigung sich bekenne und ihre nicht-arischen Glaubensgenossen sowie die arischen Ehegatten von Nicht-Ariern nach wie vor in ihren Gottesdiensten und Veranstaltungen willkommen heiße". Freilich, Pfarrer Dahlgrün hatte nicht den Mut, diesen Beschluß etwa im Gemeindeblatt - zu veröffentlichen. So stark war selbst im Ausland der nazistische Druck auf eine deutsche Kirchengemeinde. Bischof Heckel und sein Kirchliches Außenamt nahmen diese Zustandsbeschreibung fast kommentarlos "mit Dank zur Kenntnis" ("Ich kann nach Lage der Dinge Ihren Gesichtspunkten nur in jeder Hinsicht Recht geben"). Im Kirchlichen Außenamt in Berlin war man zufrieden, daß auf die ursprünglich ins Auge gefaßte Selbstbezeichnung "Freie deutsche evangelische Kirchengemeinde" zugunsten des Namens "Evangelische Gemeinde der deutschen Emigration" verzichtet worden war 15 . Man teilte offensichtlich Dahlgrüns Einschätzung, "daß die [Flüchtlings-] Gemeinde keinen sehr langen Bestand haben werde, da Paris für die Emigranten auf die Länge gesehen nur Durchgangsort bleiben wird". Im Bericht hatte Dahlgrün das Schicksal der Pariser Emigranten so charakterisiert: "Die Masse der Leute wird durchsichtet; soweit man ihnen den Verbleib im Lande zubilligt, werden sie in das Landesinnere abgeschoben und dort verteilt. Die Aufsaugung vom französischen Volkskörper wird schnell vor sich gehen. Ein paar Jahre, und das Land, jedenfalls die Hauptstadt, sind frei von dem Problem. Bis dahin mag immerhin die kirchliche Selbsthilfe, zu der die Leute greifen, ihnen einige Hilfe bringen, die wir ihnen nach Lage der Dinge beim besten Willen nicht bringen können, ohne das, was für uns das Entscheidende ist, ernstlich zu gefährden." 16 Verschiedene Mitteilungen der Deutschen Botschaft in Paris betreffend die rue de Clichy 47, Paris 9 e - das war die Adresse von Forells Hilfskomitee für protestantische Flüchtlinge - wurden vom Kirchlichen Außenamt darum mehr oder weniger nur zu den Akten genommen. Vertrauensleute der Deutschen Botschaft hatten in Erfahrung gebracht; daß in dieser Kirche angeblich "zahlreiche jüdische Flüchtlinge sich umtaufen [!] lassen, um auf diese Weise die Erlaubnis zur Einreise nach Amerika zu erhalten"; dort würden "jüdische und politische Emigranten auch verpflegt" und "das Comité protestant des amitiés françaises à l'étranger" betreibe "eine starke

15 Vgl. KA an Dahlgrim, 17.2.1939, und Vermerk KA über Gespräch mit Dahlgrün, 20.3.1939 ( E Z A BERLIN, 5 / 1 4 1 , BL. 2 4 4 u n d 254). 16

D a h l g r ü n a n K A , 3 1 . 1 . 1 9 3 9 (EBD., Bl. 2 4 3 R ) .

382

Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder

aussenpolitische Aktivität in Verbindung mit dem französischen Auswärtigen Amt, das das Komitee finanziert" 17 . Mit Kriegsbeginn Umzug nach Südfrankreich Bei Gefahr des Kriegsausbruchs verlegte Forell auf Anraten von Pasteur Marc Boegner seinen Wohnsitz nach Südfrankreich, nach Sainte-Palais sur Mer (Charente-Inférieure). Mit Kriegsbeginn drohte Forell wie allen Flüchtlingen aus Deutschland die Internierung. Durch Unterstützung eines französischen Pfarrers bekam er jedoch ein "sauf-conduit", einen Passierschein, allerdings begrenzt auf seinen Wohnort. Boegner erwog darum, Forell obwohl Deutscher - zum Pfarrer für die Internierungslager zu ernennen. Damit bot sich die Möglichkeit, die Flüchtlingsarbeit fortzusetzen. Visser't Hooft sollte von der Schweiz aus dabei mithelfen18. Der Plan ließ sich tatsächlich realisieren. Forell konnte am 9. November 1939 Visser't Hooft mitteilen, er könne wieder "in fast vollem Umfang arbeiten". Seine Haupttätigkeit bestand nun "in einem ausgedehnten seelsorgerlichen Briefwechsel" mit den von ihm betreuten Flüchtlingen. Als Finanzhilfe benötigte er 20.000 bis 25.000 ffrs, ungefähr 500 Dollar, monatlich. Auch jetzt unterstützte Genf diese Arbeit und gab zusätzlich noch Mittel zum Kauf von Bibeln für Internierte 19 . Im April 1940 riet Visser't Hooft, Forell möge wieder nach Paris zurückkehren; von dort aus lasse sich die Arbeit unter den Flüchtlingen wesentlich wirksamer betreiben. Er dachte zugleich an Forells Mithilfe "in der Vorbereitung der seelsorgerlichen Arbeit unter Kriegsgefangenen"20. Am 9. April waren die Deutschen in Dänemark und Norwegen einmarschiert. Forell betreibt seine Ausreise nach Amerika Mit dem offenen Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich am 10. Mai 1940 veränderte sich auch für Forell die Lage schlagartig. Zwei Stunden blieben ihm Zeit, dann war er ein zweites Mal interniert in Libourne (Gironde). Er bat aus dem Lager heraus den Direktor der schwedischen Israelmission, Pfarrer Birger Pernow, ihn bei der Ausreise nach den USA zu unterstützen. Der Flüchtling, der andern Flüchtlingen geholfen hatte, bedurfte nun selbst der Hilfe. Visser't Hooft, der von Forells Plänen erfahren hatte, suchte ihn zu halten. Gerade jetzt sei er für seine in 17

Deutsche Botschaft Paris an das Auswärtige Amt Berlin, 16.3.1939 und 29.3.1939, sowie Vermerk K A über Gespräch mit Dahlgrün, 26.6.1939 (EBD., Bl. 258, 261, sowie 259).

18

Vgl. Forell an Visser't Hooft, 17.9.1939 (AÖR, W C C Gen.Corr., Box 40).

19

Vgl. Forell an Visser't Hooft, 9.11.1939, 22.11.1939 und 1.3.1940 (EBD.).

20

Vgl. Visser't Hooft an Forell, 16.4.1940 (EBD.).

Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell

383

den Lagern befindlichen Schützlingen besonders wichtig: "Ihre Arbeit wird noch persönlicher und noch seelsorgerlicher sein." 21 Hürdenlauf bis zur endgültigen Auswanderung nach Ubersee Forell blieb bei seinem Entschluß, in die USA zu emigrieren, und Genf respektierte dies. Inzwischen war das Ehepaar Forell aus dem Internierungslager freigekommen und wohnte bei einem französischen Pfarrer, Pasteur Rivet, in Lyon. Die Schwierigkeiten, die sich vor der endgültigen Ausreise nach Amerika noch auftaten, muten heute fast unglaublich an. Visser't Hooft unterstützte jetzt Forells Bemühungen um ein Einreisevisum in die USA vorbehaltlos. So schrieb er ihm zwei Zeugnisse, in denen Forells hervorragende Arbeit für "Christen in Not" in den zurückliegenden fünf Jahren gewürdigt wurde. Visser't Hooft verband mit Forells Ausreiseplänen inzwischen die Hoffnung, daß durch ihn das Flüchtlingkomitee in den USA besser ins Bild gesetzt würde über die tatsächliche Not, und welch große Verantwortung die amerikanischen Christen "gegenüber jenen 'nichtarischen' Christen haben, die nicht emigrieren können" 22 . Das positive Führungszeugnis durch den Generalsekretär des Weltrats der Kirchen genügte dem amerikanischen Konsulat in Lyon bei weitem noch nicht. Auf Bitten von Adolf Freudenberg mußte sich darum Prof. Adolf Keller - mitten im Krieg! - beim Breslauer Konsistorium um die amtliche Bestätigung bemühen, "daß Pastor Friedrich Joachim Forell im Oktober 1916 zum Geistlichen rite ordiniert worden ist" 23 . Er hatte Erfolg, das amerikanische Visum war zugesagt; es fehlte jedoch noch die Transfergenehmigungen bis zum Hafen Lissabon. "Jetzt hängt alles an dem französischen Ausreiseund den spanischen und portugiesischen Durchreise-Visen. Können Sie uns da helfen. Das Einreise-Visum nach USA macht keine Schwierigkeit mehr" schrieb Magdalene Forell erleichtert am 11. September 1940 an Visser't Hooft 24 . Noch andere wurden in Anspruch genommen und eingeschaltet, wie Charles Guillon vom YMCA in Genf und wieder Marc Boegner, Paris. Woher gab es Geld für die aufwendige Reise nach Lissabon? Sie kostete mindestens 300 Schweizer Franken. Wer bezahlte die Schiffskarte nach Amerika? Erfreut berichtete Forell am 16. September: "Aus Stockholm habe ich das Telegramm erhalten: 'Reisekosten America bewilligt'. [...] Man hat von 21 Vgl. Visser't Hooft an Forell, 29.5.1940 (EBD.). 22 Vgl. Visser't Hooft an Forell, 27.8.1940 (EBD.). 23

Vgl. Freudenberg an Keller, 24.8.1940 (EBD.).

24 Vgl. EBD.

384

Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder

Schweden aus die Consulen in Spanien und Portugal benachrichtigt, so daß wir auch da schlimmstenfalls Hilfe bekämen. Wir haben auch schon an den Herrn vom Y M C A in Lisbon geschrieben."25 Jetzt fehlte nur noch die Genehmigung zur Ausreise aus Frankreich. In diesem Fall erklärte sich Visser't Hooft außerstande, bei der Regierung in Vichy vorstellig zu werden: "Die internationalen Organisationen sind zur Zeit in Vichy nicht gerne gesehen." Auch Boegner konnte nichts mehr tun, da die Ausreise Forells "nur mit Genehmigung der deutschen Behörden [in Frankreich] zu haben" war. Abhilfe konnte jetzt eigentlich nur noch vom neutralen Ausland kommen. Forell bat darum Adolf Keller um entsprechende Schritte bei den "ökumenischen Freunden in Schweden". Keller bemühte sich - am Ende noch einmal erfolgreich - um die Vermittlung durch Erzbischof Eidem in Uppsala26. Mitten in diese hektische Vorbereitungszeit platzte die Nachricht, daß der 18jährige Sohn Gotthold, der als Flüchtlingskind von einer englischen Pfarrersfamilie aufgenommen worden war und zuletzt ein kirchliches College besucht hatte, interniert und nun irgendwohin "nach oversea geschafft" worden sei 27 . Auch noch andere Sorgen belasteten das Ehepaar Forell in diesen Tagen. Von den ihnen für die Flüchtlinge anvertrauten Geldern lagen umgerechnet etwa 1.000 Dollar bei einer Pariser Bank auf den Namen Forell fest. Sie konnten bis jetzt nicht in das nichtbesetzte Frankreich transferiert werden. Was würde aus diesem Geld werden, das die Betroffenen so dringend bräuchten? "Die Not unter den nicht-arischen refugies ist himmelschreiend", schrieb Forell nach Genf und bat auch in dieser Sache um Initiative 28 . Schließlich bedrückte Forell die Frage, wer in Frankreich seine Nachfolge antreten könnte. Auch hier fand Visser't Hooft eine Lösung. Am 19. September schrieb er zurück: "Wir haben Herrn Pfarrer P.C. Toureille gebeten, Ihre Nachfolge zu übernehmen und hoffen, daß er sich bald mit Ihnen in Verbindung setzt." Pierre C. Toureille war Sekretär des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen und Vorsitzender von dessen Minoritätenkommission. Im Einvernehmen mit Visser't Hooft ernannte ihn Boegner zum Flüchtlingspfarrer und Leiter eines Seelsorgedienstes für die

25

Vgl. Forell an Visser't Hooft, 16.9.1940 (EBD.).

26

Vgl. Visser't Hooft an Frau Forell, 19.9.1940, und Forell an Keller, 19.9.1940 (EBD.).

27

Vgl. Magdalene Forell an Visser't Hooft, 17.9.1940 (EBD.).

28

Vgl. Forell an Visser't Hooft, 11.9.1940 (EBD.).

Der Flüchtlingsseelsorger Friedrich Forell

385

protestantischen ausländischen Flüchtlinge (Aumonerie Protestante) im unbesetzten Südfrankreich29. "Wie ein Wunder..." In diesem unendlichen Wechselbad der Gefühle konnte Forell endlich am 28. September 1940 Visser't Hooft mitteilen: "Heute bekamen wir die Nachricht, daß wir die visa de sortie erhalten werden und dann innerhalb 8 Tagen das Land verlassen müssen. [...] Das gute Resultat ist uns wie ein Wunder." Schon tags zuvor konnte Forell vermelden, daß sein Sohn Gotthold lebt und in Australien ist. Die Nachricht kam über den ältesten Sohn der Familie, der als Emigrant sich in Philadelphia aufhielt und dort Theologie studierte. "Wir sind Gott von Herzen dankbar, daß wir wissen, in welchem Erdteil unser 18jähriger Junge ist", schrieb Forell bewegt30. Zuguterletzt wurde auch noch das Geld knapp. In einem letzten ausführlichen Brief aus Frankreich schrieb Forell an Vissert Hooft: "Eine kleine aber verhältnismäßig schon kleine Sorge ist, daß wir mit dem Gelde knapp geworden sind. Wir wollen nicht auf die in Aussicht stehende Sendung aus Schweden warten, wenn wir die Möglichkeit haben, vorher abzufahren. Wir haben P. Boegner per Eilbrief gebeten, uns telegrafisch 3.000 Frcs an P. Rivet zu senden, wissen aber auch nicht, ob das zurecht kommt. Da die Schweden ihre Consule unseretwegen benachrichtigt haben, werden wir ja nicht in Not kommen. Schlimmstenfalls kommen wir ohne Geld in Lissabon an. Wir werden uns dort an die uns durch Mr. Davis angegebene Adresse des Sekretärs des YMCA, Mr. Abel H. Santos E. Silva wenden. Gott hat wirklich wunderbar geholfen. Hoffentlich geht nun alles glatt." Forell bedankt sich bei den vielen, die ihm geholfen haben: "Sie können überzeugt sein, daß dieser Dank nicht nur in Worten besteht. Er kommt aus tiefstem Herzen und soll sich in Taten für die ökumenische Sache und besonders die ökumenische Hilfsarbeit umsetzen."31 Friedrich Forell hielt Wort. Zusammen mit Freunden gründete er in den USA das "Notkomitee für den Deutschen Protestantismus" und die "Christliche Hilfsgesellschaft für Neuankommende". Auf diesem Weg wurde Tausenden von Flüchtlingen, die in Ubersee ankamen, erste Hilfe zuteil32. 29

Vgl. ADOLF FREUDENBERG (Hg.): Befreie, die zum Tode geschleppt werden. Ökumene durch geschlossene

Grenzen

1939-1945.

München

1985, S. 29 und ausfuhrlich

RÖHM/J. THIERFELDER, Bd. 3 (Anm. 1). 30 Vgl. Forell an Visser't Hooft, 27.9. und 28.9.1940 (AÖR, W C C Gen.Corr., Box 40). 31

Forell an Visser't Hooft, 28.9.1940 (EBD.).

32

Vgl. E. RÖHM/J. THIERFELDER, Bd. 1 (Anm. 1), S. 233.

E.

Jens Holger Schjörring NORDISCHES LUTHERTUM Z U R ZEIT DES ZWEITEN WELTKRIEGES Im Jahre 1971 hat sich die bisherige "Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit" in "Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte" umgebildet. Damit wurde ein Generationenwechsel vollzogen; zugleich wurde aber auch die Methode und das Konzept der Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte neu akzentuiert. Die Erweiterung der Perspektive wurde von den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft und Herausgebern der neuen Schriftenreihe "Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte" in folgenden Richtlinien zusammengefaßt: - zum einen sollte in zeitlicher Hinsicht der Gesichtspunkt über die Jahre der Naziherrschaft hinaus erweitert werden; - zum anderen sollte der thematische und geographische Horizont über Deutschland hinaus reichen; auch die Beziehungen zu den Nachbarländern und die ökumenische Perspektive mußte so in das Blickfeld rücken; - zum dritten sollte sachlich-methodisch die bisher betont bekenntniskirchliche Vorbestimmtheit mit einem differenzierteren und offeneren Gespräch ergänzt und gegebenenfalls korrigiert werden. Die Zielsetzung richtete sich unter anderem auf ein Gespräch mit den Nachbarwissenschaften der Kirchengeschichte, wie etwa Geschichte und Politologie.1 In den Jahren danach sind diese Richtlinien zum Beispiel in einem deutsch-skandinavischen Gemeinschaftsprojekt zum Ausdruck gekommen. Von skandinavischer Seite hatte eine breit zusammengesetzte Arbeitsgruppe 1982 ein inter-nordisches, komparatives Sammelwerk "Kirken, Krisen og Krigen" (die Kirche, die Krise, der Krieg)2 vorgelegt. Mit diesem Buch als Gesprächsgrundlage ihrerseits sind die nordischen Theologen 1981 mit der evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte zu einer 1

GEORG KRETSCHMAR/KLAUS SCHOLDER: Vorwort. In: JÖRG THIERFELDER: Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (AK.ZG. B 1). Göttingen 1975, S. Xl-Xffl.

2

KLRKEN, KRISEN OG KRIGEN. Redigert av Stein Ugelvik Larsen og Ingun Montgomery. Bergen; Oslo; Tromsö 1982.

Nordisches Luthertum im Zweiten Weltkrieg

387

gemeinsamen Arbeitstagung zusammengekommen, um über grundsätzliche, beide Seiten verbindende Herausforderungen zu beraten, etwa Volkskirche, Staat und Kirche, sowie Kirche im Krieg. Die Konferenzbeiträge wurden in einem von Carsten Nicolaisen herausgegebenen Band dokumentiert 3 . So wichtig und ergiebig die Tagung in der damaligen Lage auch war, so sehr ist zu bedauern, daß das Projekt bei diesem ersten Durchgang stehen blieb. Das Gespräch ist eröffnet worden, man hat sich gegenseitig Auskunft gegeben; zu einem tiefgehenden Meinungsaustausch ist es aber nur sehr begrenzt gekommen. Die Ausführungen in dem folgenden Beitrag sind daher als eine Anregung gemeint, den Faden von damals wieder aufzunehmen. An einem konkreten Punkt, und zwar dem Begriff "nordisches Luthertum", soll versucht werden, das Gegenüber, bzw. Miteinander zum deutschen Luthertum zur Zeit des Zweiten Weltkrieges zu behandeln. Damit können wir hoffentlich verdeutlichen, daß sich diesbezüglich ein für beide Seiten gleichermaßen wichtiges Gesprächsfeld eröffnet, an dem künftig einzusetzen wäre, wenn wir es anders ernst meinen, daß solche internationale, vergleichende Gemeinschaftsprojekte angepackt werden sollten, wie mühevoll sie auch immer sein mögen. Auf der Tagung in Sandbjerg hat sich ein Referent, der norwegische Systematiker Inge Lönning, mit dem Begriff des nordischen Luthertums auseinandergesetzt. Lönning hat, wie er selber betont hat, einen bewußt provokatorischen Gesprächsbeitrag geliefert, auf den es sich auch heute noch lohnt, näher einzugehen. Er spielte auf damals ganz aktuelle Reizprobleme in Bezug auf Theologie und Kirche der nordischen Länder an, als er seine grundsätzlichen Thesen vortrug: Streng genommen gebe es gar nicht mehr so etwas wie eine einheitliche theologische Tradition in den nordischen Ländern. Eine solche hätte es unter Umständen noch vor drei Jahrzehnten gegeben, fügte Lönning hinzu. Sie sei jedoch inzwischen abgebröckelt und würde gegenwärtig höchstens vereinzelt vorkommen, auf keinen Fall aber so tief sitzend, daß sie noch als ein die nordischen Länder verbindendes Band bezeichnet werden könnte. Mit beißender Kritik hat Lönning Zweifel geäußert, ob es überhaupt jemals eine genuine Luther-Rezeption in den nordischen Ländern gegeben habe. Unter Berufung auf den dänischen Kirchenhistoriker Poul Georg Lindhardt meldete er folgende provozierende Frage an: "Am Maßstab eines theologisch gereinigten, fast antiseptisch anmutenden Lutherbildes gemessen, gibt es 3

CARSTEN NICOLAISEN (Hg.): Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark (AK.ZG. B 13). Göttingen 1982.

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wohl jedenfalls in der gesamten bisherigen evangelisch-lutherischen Tradition nichts als bunte konfessionelle Misch-Erscheinungen. Ja, es darf vielleicht fraglich sein, ob es geschichtlich überhaupt einen echten und anerkennenswerten Luther gibt." 4 Zum zweiten ist Lönning auf ein anderes Feld eingegangen, wo man eher eine Gemeinsamkeit im Norden antreffen könnte, und zwar auf "die Stabilität der Staatskirchlichkeit". Diesbezüglich könne man sehr wohl von einer geschichtlichen Einheit im nordischen Luthertum ausgehen, meinte er. Dieses gemeinsame Erbe sei indes gegenwärtig genau so grundsätzlich problematisiert. Historisch genommen sei nämlich diese politische Ordnung der Kirche so begründet, daß sie als "das staatskirchliche Rahmenwerk des konfessionellen Einheitsstaates" definiert werden müsse. Diese geschichtliche Voraussetzung mache sich jedoch zur Stunde in einem radikal verwandelten Kontext geltend, insofern als sie nunmehr in die moderne, offene Gesellschaft eingebettet sei, mit dem dazugehörenden kulturellen Pluralismus. Das Ergebnis sei eine konfliktgeladene Zwiespältigkeit, die Lönning folgendermaßen kennzeichnet: "ein recht widerspruchvolles und sonst in der heutigen Welt kaum aufweisbares Ineinander von konfessioneller Einheit und kulturellem Wert-Pluralismus, das sich irgendwie durch das Rahmenwerk einer formaliter aufrechterhaltenen Staatskirchlichkeit konservieren lässt."5 So fruchtbar eine solche provokatorische Arbeitshypothese sein mag, so bedarf sie einer geschichtlichen Differenzierung, was auch Inge Lönning selbst ausdrücklich angemerkt hat. Hier soll deswegen eine einzelne Phase herausgegriffen werden, in der das nordische Luthertum auf eine ernsthafte Bewährungsprobe gestellt war; damals gab es in der Tat ein Bewußtsein der Gemeinsamkeit unter den nordischen Ländern, und zwar sowohl ein Gefühl der grundsätzlichen, wenn auch gestörten Eintracht untereinander, als auch ein gemeinsames Gegenüber zu Deutschland. Dies war zur Zeit des Zweiten Weltkrieges der Fall. Es sei noch die Bemerkung vorausgeschickt, daß die Beispiele keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es wird also kein abgerundetes Bild vom Gesamtzustand der nordischen Länder in der besprochenen Periode gezeichnet, sondern lediglich eine Tendenz angesprochen, die allerdings gerade aus einer internationalen Perspektive Aufmerksamkeit verdient.

4

INGE LÖNNING: Das n o r d i s c h e L u t h e r t u m . I n : EBD., S. 154.

5

EBD., S. 155.

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I. Theorie und Praxis lutherischer Sozialethik Die Jahre des nationalsozialistischen Herrschaftssystems haben für lutherische Theologen und Kirchenmänner in Deutschland eine Bewährungsprobe dargestellt, die sich im Nachhinein als eine wichtige Zäsur der Kirchlichen Zeitgeschichte abzeichnet. Ahnliches gilt für andere lutherische Kirchen Europas, in erster Reihe natürlich für diejenigen in den benachbarten Ländern, die Aufstieg und Expansionismus des Nationalsozialismus besonders intensiv verfolgt haben, zumal viele von ihnen auch noch okkupiert wurden. Die Stellungnahme zum Kirchenkampf und zum ganzen gesellschaftlichen System des "Dritten Reiches" wurde somit ein Maßstab, an dem sich entscheidende Tendenzen in der theologischen Urteilsbildung des eigenen Landes ablesen ließen. Schon von daher gesehen bietet sich eine internationale, komparierende Analyse dieser Entwicklung innner- und außerhalb Deutschlands als wichtige Forschungsaufgabe an. Dabei müßten allerdings stets die unterschiedlichen, wenn nicht gar entgegengesetzten Vorbedingungen hier und dort berücksichtigt werden. In Deutschland wurde der Druck des totalitären Weltanschauungsstaates immer spürbarer; zugleich wurde es für diesen Staat schwieriger, seinen Anspruch auf uneingeschränkte Macht wieder rückgängig zu machen. Der Druck hielt die Mehrheit der Bevölkerung von Protestkundgebungen ab, während nur wenige Oppositionelle den Weg in den aktiven Widerstand fanden. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, einschließlich des Kirchenvolkes, gehörte jedoch zu den Mitläufern. In den umgebenden Ländern hingegen wuchs das kritische Urteil, bis schließlich während des Krieges der gegen den Militarismus der Nazis gerichtete nationale Patriotismus in eine Haltung der Gegenwehr und des Widerstandes einmündete. Vor diesem Hintergrund ist es zu erklären, daß im nordischen Luthertum in jenen Jahren eine Tendenzwende in der politischen Ethik beobachtet werden kann. Dazu gehörten folgende Faktoren, die im Rückblick zusammen analysiert werden müssen, die aber damals in ein stufenweise aufgebautes Entwicklungsmuster hineingehörten. Die erste und früheste Verpflichtung war, die Verabsolutierung der Macht im nationalsozialistischen Staatsgefüge und die Ubergriffe auf elementare Freiheitsrechte aufzuzeigen. Mit dieser Aufgabe war unlösbar eine Unterscheidung von Staat und Kirche verbunden, um überhaupt für eine Begrenzung staatlicher Befugnisse und damit für die Eigenständigkeit der Kirche eintreten zu können. Als wichtiges Gesprächsforum für dieses Anliegen sei vor allem auf die von den nordischen Kirchen gemeinsam herausgegebene Zeitschrift "Kristen Gemenskap" (Christliche Gemeinschaft) hingewiesen. Bereits im Laufe des Sommers 1934 ist eine dramatische Verschärfung in der kritischen Beurtei-

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lung des Nationalsozialismus deutlich. Als zusätzlicher Beweis dafür kann das gleichzeitig erschienene Buch des schwedischen Systematikers Anders Nygren dienen: "Den tyska kyrkostriden" (Der deutsche Kirchenstreit). Auf Grund eigener Besuche in Deutschland und umfassender Kontakte war Nygren zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die Ideologie des Nationalsozialismus von Grund auf so totalitär angelegt war, vor allem wegen des inhärenten Rassenwahns, daß für Theologie und Kirche nur der Protest ohne Vorbehalte am Platze war. Die Aufgabe, dies aufzuzeigen, war für Nygren so dringlich, daß er nun auch die Christen außerhalb Deutschlands zur Wachsamkeit aufrufen wollte 6 . Eine eben so kritische Haltung nahm eine Gruppe von nordischen Theologen ein, die sich im August des gleichen Jahres 1934 versammelt hatte, um vor der ökumenischen Fanö-Konferenz gemeinsam zu beraten7. Während des Krieges wurden diese Stimmen noch kräftiger, wenn auch Proteste in den okkupierten Ländern immer riskanter wurden. Aus Dänemark verdient vor allem eine grundsätzliche Erklärung "Kirken og Retten" (Die Kirche und das Recht) vom Februar 1944 erwähnt zu werden. Das Dokument war als Orientierungshilfe für Theologen und Laien gemeint; es war von dem Luther-Forscher Regin Prenter entworfen, von dem frisch ernannten Professor für Ethik Knud Ejler Lögstrup gebilligt und im Namen des inoffiziellen, illegalen Pfarrervereins gedruckt und verteilt worden. Nachdem am 29. August 1943 der Ausnahmezustand ausgerufen worden war, erfolgte eine gesteigerte Konfrontation zwischen Besatzungsbehörden und der Bevölkerung. Es wurde dabei immer brutaler gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen, und bisheriges Recht wurde mit den Füßen getreten. In der auch für die Kirche entstandenen Notlage sah die Erklärung es als theologisch geboten, auf die Eigenständigkeit der Kirche und die unantastbare Grundlage kirchlicher Verkündigung hinzuweisen, wie auch auf das Wesen staatlicher Vollmacht und deren Begrenzung. Mit gleicher Klarheit sprachen schwedische Theologen in einem 1942 herausgegebenen Sammelwerk "En bok om kyrkan" (Ein Buch von der Kirche). In diesem vom Krieg nicht unmittelbar berührten Lande bahnte sich in jenen Jahren überhaupt eine Aufarbeitung reformatorischer Sozialethik an. Dabei wäre vor allem an die Arbeiten von Gustaf Wingren hinzuweisen, 6

ANDERS NYGREN: Den tyska Kyrkostriden. Den evangeliska Kyrkans ställning i "Det tredje Riket". Lund 1934, bes. S.17ff. und 112ff.

7

KRISTEN GEMENSKAP 1934, S.119ff. Vgl. NILS KARLSTRÖM: Kyrkan och nazismen. Ekumeniska aktioner mot nazismen 1933-1934. Uppsala 1976; ARMIN BOYENS: Kirchenkampf und Ökumene 1933-1939. München 1969, S. 33ff.; EBERHARD BETHGE: Dietrich Bonhoeffer. Theologe-Christ-Zeitgenosse. 3. Aufl. München 1970, S. 419ff.; JENS HOLGER SCHJÖRRING: Ökumenische Perspektiven des deutschen Kirchenkampfes. Leiden 1985, S. 52ff.

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dessen erste Monographie "Skapelsen och Lagen" (Die Schöpfung und das Gesetz) im gleichen Jahr 1942 erschienen ist. Mit einer ansehnlichen Reihe von Kollegen hat Anders Nygren nun das erwähnte Sammelwerk "Ein Buch von der Kirche" geplant und selbst u.a. mit einer Darstellung der Zwei-Reiche-Lehre beigetragen. Seine Darlegung hat eine deutliche aktuelle Spitze, indem sie vor allem eine theologisch begründete Bejahung eines staatlichen Totalitarismus in Abrede stellt, eben so wie eine Trennung der beiden Reiche, die letztendlich auf eine Lehre von der Eigengesetzlichkeit staatlicher Politik hinauslaufen würde8. Der zweite Schritt war eine theologische Begründung des Protestes, bzw. der Illegalität oder des aktiven Widerstandes. Eine solche ist in den Kriegsjahren mehrfach vorgelegt worden, besonders spektakulär in Norwegen bei der Ausrufung des offenen Widerstandes gegen die Politik der QuislingRegierung am Ostersonntag 1942, womit der norwegische Kirchenkampf in die entscheidende Phase der unverhüllten Konfrontation überging9. Eine vergleichbare Bedeutung hatte aber auch der Hirtenbrief der dänischen Bischöfe vom Oktober 1943. Darin wurde die geplante Deportation von dänischen Juden verurteilt und somit die ruhmvolle Rettung der Mehrzahl dänischer Juden von der Kirche mitgetragen. Dieser Hirtenbrief wurde in den Gemeinden ebenso allseitig unterstützt wie es in Norwegen Ostern 1942 der Fall gewesen war; die Erklärung wurde von etwa 92% der Pastoren von der Kanzel verlesen10. Der Ubergang in den aktiven Widerstand wird ebenfalls in einer späteren theologischen Erklärung grundsätzlich begründet, auf die wir noch eingehen werden. Als das dritte Glied der Argumentation erfolgte die Neubegründung einer recht verstandenen Ethik des Politischen, nachdem zuvor eine Unter8

ANDERS NYGREN: Staten och kyrkan. In: EN BOK OM KYRKAN. AV svenska teologer. 1943, S. 396ff. Deutsche Ausgabe: Corpus Christi. Ein Buch von der Kirche (1951). Vgl. DERS.: Luthers Lehre von den zwei Reichen. In: T h L Z 74, 1949, Sp. LFF.; INGMAR BROHED: Anders Nygren und die gesellschaftspolitischen Fragen der nationalsozialistischen Zeit. In: C . NlCOLAISEN, Nordische und deutsche Kirchen (Anm. 3), S. 42ff.; INGUN MONTGOMERY: "Den svenska linjen är den kristna linjen". Kyrkan i Sverige under kriget. In: KLRKEN, KRISEN OG KRIGEN (Anm. 2), S. 353ff.

9

Vgl. TORLEIV AUSTAD: Kirkens Grunn. Analyse av en kirkelig bekjennelse fra okkupasjonstiden 1940-1945. Oslo 1974; DERS.: Die Lehre von den zwei Regimenten im norwegischen Kirchenkampf. In: Zwei Reiche und Regimente. Ideologie oder evangelische Orientierung? Internationale Fall- und Hintergrundstudien zur Theologie und Praxis lutherischer Kirchen im 20. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Duchrow. Gütersloh 1977, S. 87ff. Vgl. auch GuNNAR HEIENE: Eivind Berggrav. En Biografi (1992), S. 342ff.

10

HARALD SANDBAEK/NIELS J. RALD (Hg): Den danske Kirke under Besaettelsen. Kopenhagen 1945, bes. S. 21ff. und lOOff.

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lassung der notwendigen Unterscheidung der beiden Reiche sowie eine Lehre von der Eigengesetzlichkeit wie auch das Zurückweichen vor dem Aufstand gegen das Unrecht zurückgewiesen worden waren. In dieser Neuformulierung ist bedeutsam, daß die hier behandelten Ansätze - wenn auch unabhängig voneinander, so doch alle mit dem gleichen Ergebnis - daran festhalten, daß wir die beiden Reiche nicht nur zu unterscheiden haben, sondern daß wir sie auch sachgemäß aufeinander beziehen müssen, einfach deswegen, weil wir als Menschen in beiden Reichen leben und Gott in beiden regiert. Die Folgerung ist ein inklusives Verständnis der gesellschaftlichen Verpflichtung der Christen, d.h. eine Sicht, die damit Ernst machen will, daß das Hören der Verkündigung von der Vergebung der Sünden den Einzelnen auf das Tun der Gesetzesforderung zurückweist. In der Erklärung "Die Kirche und das Recht" geschieht dies dadurch, daß eben die Verpflichtung auf das Recht als entscheidender Prüfstein für rechtmäßige kirchliche Verkündigung festgehalten wird: "Auf diese Weise trägt die Kirche zum Schutz des Rechtes bei, nämlich dadurch, daß sie das Rechtsbewußtsein und den Willen zum Recht am Leben hält. Nur wenn die Kirche dieses tut, wird ihre Ermahnung, daß die Gefühle der Rache und des Hasses nicht überhandnehmen dürfen, Vollmacht haben. Denn die Rache und der Haß sollen nicht durch Barmherzigkeit allein, sondern auch durch das Recht ausgelöscht werden. Die Aufrechterhaltung einer festen Rechtsordnung muß* den Hintergrund der Ermahnung zur Barmherzigkeit und Versöhnlichkeit sein. Bleibt das Bekenntnis zum Recht aus, werden die Ermahnungen leicht zu einer in der Luft schwebenden Schwärmerei." 11 Die entsprechende Position wurde indes zur gleichen Zeit auch von schwedischen Theologen. Gustaf Aulen (früher Professor in Lund, jetzt Bischof in Strängnäs) führte im gleichen Sinn aus, wie sich Kirche und Rechtsordnung zueinander verhalten. In seinem Beitrag zu dem Sammelwerk "Ein Buch von der Kirche" heißt es unter anderem: "Da nun aber christlich betrachtet Gottes Gesetz seine Forderung an den Staat und dessen Rechtsordnung richtet, so folgt daraus, daß diese Rechtsordnung nicht etwas Gleichgültiges für diejenige Kirche sein kann, deren Aufgabe es ist, auf das Heilige am göttlichen Gesetz zu achten. Die kirchliche Verpflichtung gegenüber dem Gesetz Gottes schließt ferner in sich eine Verpflichtung gegenüber der Rechtsordnung. Es muß für die Kirche ein Interesse ersten Ranges sein, daß das Gesetz, wie es im Liebesgebot mit dessen Forderung einer sachlichen

11 JÖRGEN GLENTHÖJ: Kirche und Recht - Ein historisches Dokument - heute wichtig. In: JMLB 35, 1988, S. 203ff., Zitat S. 221.

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Fürsorge um des Nächsten willen zusammengefaßt wird, sich in der Rechtsordnung geltend macht." 12 Grundsätzliche Erklärungen wurden aber auch durch materialethische Überlegungen ergänzt und in konkrete gesellschaftspolitische Aktivitäten umgesetzt. Zu nennen ist an erster Stelle wiederum der Beitrag von Eivind Berggrav, der ein solches kultur- und gesellschaftskritisches Programm geradezu verkörperte. Seine persönliche Beteiligung am Widerstand führte er nach Kriegsende durch mehrere fachliche Beiträge zur politischen Ethik fort. Da viele von diesen Ausführungen auf internationalen Versammlungen vorgelegt wurden, zum Beispiel auf der ersten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 1947, sind Berggravs Vorträge nach außen hin vielfach mit dem Gesicht des nordischen Luthertums schlechthin gleichgesetzt worden. 13 Was dänische Stimmen im gleichen Kontext anbetrifft, wird man u.a. an die bereits erwähnten Theologen Regin Prenter und Knud Ejler Lögstrup denken müssen. Darüber hinaus wäre jedoch auch Hai Koch zu nennen, nicht zuletzt dank dessen Beteiligung am "Rechtsstreit" in den ersten Nachkriegsjahren. Die dänischen Politiker - vielfach die gleichen, welche unmittelbar nach der Okkupation die Politik der Kooperation mit den Besatzungsbehörden befürwortet haben - ließen nach dem Krieg eine Gesetzesvorlage im Parlament bestätigen, derzufolge nun die Taten von Kollaborateuren und Kriegsgewinnlern im Nachhinein kriminalisiert wurden, obwohl sie im Tataugenblick mit den dringlichen Empfehlungen der Kooperationspolitiker übereingestimmt hatten. Hai Koch lag mit seinem Protest auf der gleichen Linie wie Lögstrup und dessen Freunde Harald Ostergaard-Nielsen und Vilhelm Krarup. Koch seinerseits wandte sich aber auch gegen die Sauberkeitsfanatiker, nicht zuletzt ehemalige Widerstandskämpfer, die nicht wahrhaben wollten, wie verworren die Lage während der Kriegsjahre wirklich gewesen war. Koch setzte seinen Protest mit der generellen Erkenntnis aus der Kirchengeschichte in Verbindung, die ebenfalls auf die parlamentarische Demokratie zutreffend bezogen werden kann: Bisweilen mag es oberste Pflicht sein, einen "dreckigen Kompromiß" in Schutz zu nehmen. Seinen Veröffentlichungen während der unmittelbaren Nachkriegszeit über das Wesen der Demokratie war eine Tätigkeit während des Krieges als Vorsitzender im Gemeinschaftswerk dänischer Jugend vorausgegangen, und an dem Wiederaufbau der Nachkriegsperiode hat er sich konkret und tatkräftig beteiligt,

12

GUSTAF AULEN: K y r k a n o c h r ä t t s o r d n i n g e n . I n : E N BOK OM KYRKAN ( A n m . 8), Z i t a t S. 4 1 9

(Ubersetzung des Verf.). 13 Vgl. Anm. 9.

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indem er neben seinem Universitätsdienst eine Volkshochschule gründete und selbst leitete, um damit die Jugend aus der Großstadt zur Beteiligung an Kultur und Gesellschaft zu ermuntern und befähigen14. II. Neue Akzente in der Luther-Interpretation Es ist augenfällig, daß eine Rückbesinnung auf Luther in dieser Neuorientierung der Sozialethik ein wichtiger Faktor gewesen ist. Einen besonders prägnanten Ausdruck für diesen Tatbestand hat Eivind Berggrav unmittelbar nach dem Krieg gegeben. Er lieferte das Vorwort für ein Sammelwerk, welches nordische Theologen in Zusammenarbeit mit deutschen Theologen im Exil in England verfaßt hatten. In seinem Geleitwort schrieb Berggrav unter anderem: "I do not say that Luther was our only source of strength in our battle against Nazism and all which that implies. The most important source was the New Testament. But Luther's words were current, they showed us very clearly and powerfully what we should do. Above all, he was the very best remedy to expel all 'Lutheran' servility to the state and secular authorities, and to characterize Hitlerism undauntingly."15 Diese Sicht steht in einem krassen Gegensatz zu der Anklage, die etwa zur gleichen Zeit Karl Barth gegen die Wirkungsgeschichte des Luthertums ausgesprochen hat: "Es leidet aber das deutsche Volk an der Erbschaft eines besonders tiefsinnigen und gerade darum besonders wilden, unweisen, lebensunkundigen Heidentums. Und es leidet an der Erbschaft des größten christlichen Deutschen: an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht, durch den sein natürliches Heidentum nicht sowohl begrenzt und beschränkt als vielmehr ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist. Alle Völker haben solche Erbschaften aus dem Heidentum und aus gewissen ihr Heidentum bestärkenden christlichen Irrtümern. Alle Völker haben infolgedessen ihre bösen Träume. Der Hitlerismus ist der gegenwärtige böse Traum des erst in der lutherischen Form christianisierten

14 JAKOB BALLING: Hal Koch als dänischer Historiker in der Okkupationszeit. In: C. NICOLAISEN, Nordische und deutsche Kirchen (Anm. 3), S. 13ff.; vgl. auch JENS HOLGER SCHJÖRRING: Die dänische Kirche in den ersten Nachkriegsjahren. In: K Z G 2, 1989, S.90ff.; POUL NYBOE ANDERSEN: Hai Koch og Krogerup Höjskole (1993). 15

EIVIND BERGGRAV: Foreword. In: Luther Speaks. Essays for the fourth centenary of Martin Luther's death written by a group of Lutheran ministers from North and Central Europe at present in Great Britain (1946), Zitat S . l l .

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deutschen Heiden. Es ist ein besonders böser, für die Deutschen selbst und für uns andern alle besonders lebensgefährlicher Traum."16 Der scheinbar unvermittelte Widerspruch zwischen beiden Urteilen birgt noch mehr Rätsel in sich, insofern als der vorhin skizzierte Argumentationsgang der nordischen Theologen ziemlich genau dem Duktus der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 entspricht, wobei allerdings ausdrücklich hinzuzufügen ist, daß die Position der nordischen Theologen nie die Form einer in komprimierten Thesen formulierten und kirchlich bindenden Erklärung bekommen hat. Dies zugestanden, bleibt aber der Tatbestand, daß beide als biblisch-theologische Besinnung auf das reformatorische Erbe als gegenwärtig verpflichtende Norm konzipiert sind. Sieht man nun aber genauer hin, stellt sich noch ein Unterschied in der Akzentuierung heraus, der nicht allein auf unterschiedliche Gattungen und Ausdrucksweisen zurückgeht, sondern vielmehr auf anders geartete Gegensätze und Herausforderungen im jeweiligen Kontext. Die Barmer Erklärung war zunächst Gegenwehr gegen die Lehre von der doppelten Offenbarung, weil diese der Zwangsherrschaft der Reichskirchenregierung und der häretischen Denkstruktur der Deutschen Christen Tür und Tor geöffnet hatte. Der Konflikt, der die Barmer Theologische Erklärung ins Leben rief, hatte mit anderen Worten seinen Schwerpunkt in dem ersten Glaubensartikel. Für die nordischen Theologen hingegen waren die wichtigsten Stoßrichtungen einerseits eine pietistisch gefärbte Verneinung jeder gesellschaftspolitischen Verantwortung der Christen, andererseits ein kopfloses sich Akkomodieren an die Mechanismen der modernen Gesellschaft, eine Anpassung, die letztendlich den Säkularisierungstrieb unaufhaltsam machen würde. Sowohl ein "Hinterweltlertum" als auch der "Säkularismus"17 wurden von den nordischen Theologen abgelehnt und mit einer ekklesiologischen Neuorientierung zurückgewiesen. Und eben dies erweist sich als entscheidendes Merkmal im nordischen Luthertum jener Jahre. Ging die Barmer Theologische Erklärung vom ersten Glaubensartikel aus, so war der Ausgangspunkt der nordischen

16 KARL BARTH: Ein Brief nach Frankreich. In: Eine Schweizer Stimme. 1938-1945. Zollikon; Zürich 1945, S. 108ff., Zitat 113; vgl. auch EBERHARD BUSCH: Karl Barths Lebenslauf. München 1975, S. 336ff.; GERHARD EßELING: Karl Barths Ringen mit Luther. In: Lutherstudien Bd. HI. Tübingen 1985, S. 428ff.; LEONORE SEGELE-WENSCHKEWITZ: Geschichtsverständnis angesichts des Nationalsozialismus. Der Tübinger Kirchenhistoriker Hanns Rückert in der Auseinandersetzung mit Karl Barth. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993, S. 113ff. 17 Vgl. DETRICH BONHOEFFER: Dein Reich komme (1932). In: Gesammelte Schriften Bd. 3. München 1966, S. 270.

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Theologen eine Neuformulierung wahrhaft kirchlicher Identität im Sinne des dritten Glaubensartikels. Zur Veranschaulichung dieses Tatbestandes sei vor allem auf den mehrmals genannten dänischen Systematiker Regin Prenter hingewiesen. Dieser veröffentlichte 1944 seine erste bedeutende Luther-Studie, "Spiritus Creator", die alsbald in englischer und deutscher Ubersetzung erschien. Prenter ging von der hier formulierten Unterstreichung der Sakramente, ja überhaupt des sakramentalen Charakters der gottesdienstlichen Feier aus, als er 1952 den Vorsitz in der theologischen Kommmission des Lutherischen Weltbundes übernahm und als er 1956 zu der ersten internationalen LutherForscher-Tagung in Aarhus einlud. Die gleiche Position vertraten auch schwedische Theologen. Vor allem ist der so verstandene Bezug auf Luther der Tenor in dem bereits erwähnten Essayband "Ein Buch von der Kirche". Als Nygren 1947 zum Präsidenten des Lutherischen Weltbundes gewählt wurde, war diese Sicht seine Grundorientierung. Eine entsprechende Tendenz kann in Norwegen nachgewiesen werden; neben Berggrav wäre dabei unter anderem auf den Kirchenhistoriker Einar Molland zu verweisen. III. Konfessionelle Identität - ökumenische Offenheit Die frühe Geschichte internationaler Zusammenarbeit zwischen lutherischen Kirchen hatte als wichtiges Motiv die gemeinsame Bestrebung zur Festigung des genuinen konfessionellen Erbgutes. Diese Besinnung im "konfessionellen Luthertum" auf eine Sammlung von innen her hatte wiederum ein Leitmotiv in dem gemeinsamen Protest gegen Verwässerung der konfessionellen Identität von seiten des liberalen Neuprotestantismus, gegen Intoleranz und aggresive Hegemonieansprüche von seiten der römischkatholischen Kirche sowie gegen den militanten Atheismus im kommunistisch gewordenen Rußland. Solche Frontstellungen führten dazu, daß die Bewahrung konfessioneller Identität als ein Gegensatz zur ökumenischen Offenheit über die Konfessionsgrenzen hinweg empfunden wurde. Dieses Alternativdenken hat sich jedoch in dem hier behandelten Zeitraum gewandelt, was unter anderem auf den Beitrag von Vertretern des nordischen Luthertums zurückzuführen ist. Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom hatte seinerzeit unzweideutig einen Kurs des Sowohl-als-Auch vertreten; darin folgte ihm sein dänischer Bischofskollege Valdemar Ammundsen. Sie konnten sich aber nur begrenzt auf Unterstützung von ihren Landsleuten verlassen. Mit dem Engagement von Eivind Berggrav zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ist die starre Alternative jedoch zusehends aufgeweicht worden, wenngleich Berggrav

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ebenfalls von biblizistischen, konfessions-orthodoxen Kreisen in seiner Kirche Widerspruch erfuhr. Ein definitiver Durchbruch wurde dann aber von führenden Theologen der schwedischen Kirche erzielt, wofür der Sammelband "Ein Buch von der Kirche" das wichtigste Zeugnis ist. Die entscheidenden Beiträge zur gegenseitigen Zuordnung von lutherischer Identität und Öffnung zur Ökumene stammen von den Vertretern der sogenannten Lundenser Theologie, Gustaf Aulen und Anders Nygren. Letzterer betont, daß eine' ökumenische Offenheit, deren Triebfeder nur Preisgabe des eigenen konfessionellen Hintergrunds wäre, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Den einzigen haltbaren Ausgangspunkt sieht er in der recht verstandenen ökumenischen Weite, die dem lutherischen Bekenntnis zugrunde liegt. Das ökumenisch Verbindende dürfe nie als ein Produkt irgendwelcher Bemühungen betrachtet werden, betont Nygren. Vielmehr sei es bereits vorgegeben, im Credo wie auch in den Sakramenten, ja überhaupt in der göttlichen Verheißung, die den Grundzug des Gottesdienstes ausmache. Um nun eine konstruktive Entwicklung in den ökumenischen Bemühungen nach Möglichkeit zu fördern, muß man nach Nygren stets den Weg zu den Grundwahrheiten suchen. Der Weg zur Verständigung über die Konfessionsgrenzen hinweg muß das Zentrum als gemeinsames Kriterium im Blick behalten 18 . Diese Prinzipien hat Nygren auch selbst verwirklicht. Im Anschluß an seine Amtsperiode als Präsident des Lutherischen Weltbundes hat er 1952 zu einer internationalen Tagung des Ökumenischen Rates für Glauben und Kirchenverfassung in Lund eingeladen. Dieses Anliegen haben sich in den gleichen Jahren auch andere führende Theologen im Lutherischen Weltbund zu eigen gemacht, was wiederum dazu beigetragen hat, daß die Neukonstitutierung des Weltbundes auf der Vollversammlung in Lund 1947 keineswegs als Konkurrenz oder gar als Hindernis für die gleichzeitige Vorbereitung zur Gründung des Weltkirchenrates in Amsterdam 1948 betrachtet werden darf. Ziemlich anders sah aber die Lage in Deutschland aus. Hier war der Zusammenschluß der lutherischen Landeskirchen zur "Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands" (VELKD) heftig umstritten und als "lutherischer Sonderweg" verpönt. Diese Gründung wurde als illoyale Konkurrenz zur "Evangelischen Kirche in Deutschland" gesehen und als Rückschlag gewertet, verglichen mit dem in der Anfangsphase des Kirchenkampfes erzielten Zusammenhalt. Besonders scharf war die Kritik von Karl 18

GUSTAF AULEN: Kyrkans enhet. In: EN BOK OM KYRKAN (Anm. 8), S.423ff; ANDERS NYGREN: Luthertum und Ökumene. In: Luthertum, 1951, S. 5ff; DERS.: Kristus och hans kyrka (1955); DERS.: Intellectual Autobiography. In: Charles W . Kegley (Hg.): The Philosophy and Theology of Anders Nygren (1970), S. 15ff.

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Barth und Martin Niemöller. Diese Frontstellung mußte sich in der internationalen Perspektive katastrophal auswirken, da gerade die letztgenannten Persönlichkeiten im Ausland hohes Ansehen genossen, auch im Norden, wegen ihrer Stellung in den Jahren der Hitler-Herrschaft. Die damit zusammenhängende Widersprüchlichkeit, nach innen in Deutschland wie auch in den internationalen Zusammenhängen, hat sich jedoch bis auf den heutigen Tag nicht aufgelöst. IV. Aufbruch in den Beziehungen zwischen Vertretern des Luthertums im Norden und in Deutschland Waren die Jahre unmittelbar nach Kriegsende für das nordische Luthertum in mehrfacher Hinsicht eine Zeitwende, so brachte der Aufbruch auch Störungen in den Beziehungen zwischen nordischen Theologen und ihren Kollegen in Deutschland mit sich. Gleichzeitig wurden jedoch neue Kontakte geknüpft, die keineswegs den Charakter einer nach rückwärts schauenden Vergangenheitsbewältigung hatten, sondern im Gegenteil in die Zukunft wiesen. Ein schmerzhafter Bruch erfolgte zwischen dem Göttinger Systematiker Carl Stange und seinen Freunden aus Skandinavien. Stange war Herausgeber der "Zeitschrift für systematische Theologie", die in der Zeit zwischen den Weltkriegen als Forum für das Gespräch zwischen beiden Seiten gedient hatte. Ferner leitete Stange ab 1932 die internationalen Tagungen der LutherAkademie in Sondershausen und war bemüht, diesen Veranstaltungen einen offiziellen Charakter zu verleihen, indem sie vom Lutherischen Weltkonvent abgesegnet werden sollten. Als Folge der verschärften Fronten im deutschen Kirchenkampf geriet er aber zusehends in einen immer schärfer werdenden Gegensatz zu seinen Kollegen aus dem Norden. Diese machten es ihm zum Vorwurf, daß er staatlichen Druck und Parteipropaganda zuließ, um dadurch die Fortsetzung der Tagungen zu ermöglichen, während er zur gleichen Zeit jede kritische Äußerung der Teilnehmer aus dem Ausland verhinderte. Seine engsten Kollegen im Vorstand der Luther-Akademie, der schwedische Erzbischof Erling Eidem und der dänische Neutestamentier Frederik Torm, provozierten bereits im Dezember 1938 den Bruch. Dies geschah als unmittelbare Folge ihrer entgegensetzten Wertung der Vorgänge während der "Reichskristallnacht" 19 . Stanges beiden prominentesten Schüler 19 JENS HOLGER SCHJÖRRING: Nordisches Luthertum und Antisemitismus. In: Jochen-Christoph Kaiser und Martin Greschat (Hg.): Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung (KoGe. 1), Frankfurt am Main 1988, S. 135ff.; vgl. auch GuNNAR APPELQVIST: Luthersk samverkan i nazismens skugga. Sverige och Lutherakademien i Sondershausen 1932-1945. Uppsala 1993, S. 83ff.

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aus dem Norden, Anders Nygren und Alfred Th. Jörgensen (Mitglied des Exkutivkomitees im Lutherischen Weltkonvent) ließen es ebenfalls zur Trennung kommen. Auf diesem Hintergrund wird es deutlich geworden sein, weshalb es für die nordischen Theologen ausgeschlossen war, nach 1945 Stange irgendwelche Verantwortung für eine Weiterführung der internationalen LutherTagungen zu überlassen. Ebenso dramatisch-schmerzhaft war der Bruch mit Landesbischof August Marahrens aus Hannover. Marahrens hatte sich als Pioniergestalt im Lutherischen Weltkonvent einen Namen gemacht, ab 1935 als Präsident; in Deutschland war er vorwiegend als prominenter Kirchenleiter in der Bekennenden Kirche bekannt. Diese Koppelung konnte er indes nie seinen ausländischen Kollegen glaubhaft machen. Es erweckte immer mehr Ärgernis, daß er einerseits seinen nationalen Patriotismus betonte und in eine Begeisterung für den Nationalsozialismus einmünden ließ. Deswegen war es nach dem Krieg höchste Priorität für die nordischen Kirchenführer, Marahrens zum Rücktritt als Präsident des Lutherischen Weltkonvents zu zwingen. Die gleiche Absicht hatte auch der neue amerikanische Leiter des Sekretariats in Genf, Sylvester C. Michelfelder. Deswegen wurde Erling Eidem als einstweiliger Präsident und Nachfolger von Marahrens gewählt, bis die Vollversammlung in Lund 1947 Anders Nygren zum Präsidenten erkor20. Einen völlig anderen Charakter hatte selbstverständlich die Beziehung zwischen Karl Barth und den evangelischen Theologen im Norden. Barth hatte einen beträchtlichen Einfluß ausgeübt, vor allem in Dänemark. Dort hielt er noch 1939 Gastvorträge und fand für seine Beurteilung der Lage in Deutschland volle Unterstützung. Seine kleine Schriften aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zur aktuellen Entwicklung in Deutschland wurden laufend übersetzt und fanden große Verbreitung. Gleichwohl war ein klarer Dissens spürbar, vor allem in Fragen der Sakramentstheologie und überhaupt der Ekklesiologie. Dies war bereits 1939 deutlich hervorgetreten, als Barth zunächst die Kindertaufe und in der Folge überhaupt den sakramentalen Charakter der Taufe in Frage stellte. Auf diesem Hintergrund werden wir es zu verstehen haben, daß die vorhin besprochene Neubesinnung auf die Sakramente und die Liturgie des Gottesdienstes den Gegensatz zu Barth nur noch verstärkte. Nichtsdestoweniger gab es nach wie vor gute persönliche Beziehungen, z.B. zwischen Barth und Prenter, aber auch zu Nygren. Die stets tiefer werdende Kluft 20 Vgl. KURT SCHMIDT-CLAUSEN: Vom Lutherischen Weltkonvent zum Lutherischen Weltbund. Gütersloh 1976; E. CLIFFORD NELSEN: The Rise of World Lutheranism. An American Perspective. Philadelphia 1982, S. 367ff.

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wurde indes nie Gegenstand einer klärenden Aussprache. Ein mitwirkender Grund dazu dürfte es gewesen sein, daß Barths Abneigung gegenüber dem deutschen Luthertum so schroff war, daß er sich nicht bewegen ließ, diese Kritik in ein differenzierteres Licht rücken zu lassen, sobald die Perspektive international wurde. Im Gegenteil übertrug er spezifische Umstände im deutschen Luthertum auf das Luthertum überhaupt. Dies trat bei einer entscheidenden Gelegenheit vollends in Erscheinung, als Barth nämlich 1949 gebeten worden war, zu einer Festschrift für Anders Nygren beizutragen. Barth begründete seine Ablehnung, die an Generalsekretär Michelfelder gerichtet war, folgendermaßen: "Es wird Ihnen verständlich sein, daß ich, wenn ich das Wort 'Luthertum' höre, an das mir aus direkter Begegnung bekannte - nur zu gut bekannte - deutsche Luthertum denke. Und nun fürchte ich, daß es bei Behandlung jenes Themas [i.e. das Gespräch mit Luther und dem Luthertum] doch kaum hätte vermieden werden können, daß bittere Töne laut geworden wären. Ich habe zu viel gegen die deutschen Lutheraner (von Meiser bis zu Schlink, von Althaus bis zu Asmussen, von Gogarten bis zu meinem alten Freund Georg Merz - mit Ausnahme einiger Einzelgänger wie Iwand, Ernst Wolf und Heinrich Vogel) auf dem Herzen: ihren zähen konfessionellen Romantizismus, ihre hartnäckige Verbindung mit der politischen Reaktion, ihr ungeklärtes rituelles Romanisieren, ihre matte Haltung in der Zeit des Kirchenkampfes und nun neuerdings: ihre Sabotage der Einheit der EKD durch ihre Separation als VELKD." 2 1 In den gleichen Jahren richteten prominente Vertreter des nordischen Luthertums wie etwa Regin Prenter und Gustaf Wingren auch ihrerseits schwere Angriffe gegen bestimmte Seiten von Karl Barths Position. Man mag verschieden darüber urteilen, ob diese Kritik nun in jeder Hinsicht präzise und zutreffend war. Eines ist jedoch klar, nämlich die Tatsache, daß diese Auseinandersetzung zu einem Zeitpunkt stattfand, wo Karl Barths Hauptwerk, die "Kirchliche Dogmatik", in Skandinavien noch kaum richtig studiert worden war, zumindest nicht außerhalb eines engen Kreises von Sachverständigen. Man wird von daher gesehen mit Bedauern feststellen müssen, daß die Entfremdung jener Jahre eine breite Barth-Rezeption auf lange hinaus verhindert hat, denn ein solches Barth-Studium hätte gewiß in vielerlei Zusammenhängen höchst bedeutungsvoll sein können, z.B. in der späteren Diskussion über Christologie oder politische Ethik. Erst im Laufe

21 Karl Barth an S. C. Michelfelder am 17.12.1949 (UNIVERSIÄTSBIBLIOTHEK LUND, Nachlaß Nygren, Kopie).

Nordisches Luthertum im Zweiten Weltkrieg

401

des letzten Jahrzehnts ist es zu einer solchen differenzierten Aufarbeitung der Barthschen Theologie gekommen 22 . Von der anderen Seite gesehen bleibt aber auch festzuhalten, daß Barths eigenes Urteil so sehr an die spezifischen Voraussetzungen der evangelischen Kirche und Theologie in Deutschland gebunden waren, daß eine offene, klärende Aussprache im beiderseitigen Interesse bereits im Ausgangspunkt unterbunden war. V. Zusammenfassung Wir haben gesehen, daß es zur Zeit des Zweiten Weltkrieges sehr wohl ein "nordisches Luthertum" als einigermaßen einheitliche Größe gegeben hat. Damit ist freilich noch nicht genügend klargestellt, ob die angesprochenenen Beiträge im weiteren Sinne für generelle Züge in den nationalen Kirchen repräsentativ waren. Eine solche deskriptive Analyse des Befundes in den jeweiligen Ländern ist ein dringliches Forschungsdesiderat. Ferner haben wir gesehen, daß die Beziehungen zwischem dem Luthertum in Deutschland und im Norden in jenen Jahren stark problemgeladen waren. Eine sachgemäße Beurteilung dieser Beziehungen setzt wiederum zunächst solide historische Untersuchungen voraus, dann aber ebenfalls eine fundierte systematisch-theologische Aussprache. Inge Lönnings Thesen bezüglich Theologie und Kirche in den skandinavischen Ländern in der jüngsten Vergangenheit verdienen nach wie vor Aufmerksamkeit. Dabei bedarf es einer Klärung, woran es liegen mag, daß das nordische Luthertum der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Jahren danach scheinbar ins Leere verschwunden ist. Es ist anzunehmen, daß dies nicht ausschließlich von inneren nordischen Faktoren her erklärt werden kann, sondern vor einem breiteren internationalen Hintergrund untersucht werden muß. Aus allen hier angeführten Gründen bleibt es zu wünschen, daß das vor einem Jahrzehnt begonnene Gespräch zwischen Theologen aus Deutschland und dem Norden wieder aufgenommen wird. Die Forschungslücken sind unübersehbar, das einschlägige Material liegt vor, und die damit verbundenen Perspektiven historischer wie auch systematisch-theologischer Art legen es gleichermaßen nahe, dieses komparative Projekt erneut aufzunehmen.

22 Vgl. dazu KJETIL HAFSTAD: Wort und Geschichte. Das Geschichtsverständnis Karl Barths. München 1985; BENT FL. NIELSEN: Die Rationalität der Offenbarungstheologie (1988); FLEMMING FLEINERT-JENSEN: Analogi og teologi. En historisk-dogmatisk undersögelse af analogibegrebets teologiske anvendelse (1987) sowie den von PETER WIDMANN/THEODOR JÖRGENSEN hg. Aufsatzband: Karl Barth og den lutherske tradition. Et teologisk opgör i nordisk perspektiv (1990).

Martin Greschat BEGEISTERUNG - BEHARRUNG - BEKLEMMUNG Anmerkungen zum deutschen Protestantismus in Polen in der Zeit des Nationalsozialismus "Machen wir uns keine Illusionen", erklärte Lucien Febvre 1933 in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France in Paris: "Der Mensch erinnert sich nicht der Geschichte; er rekonstruiert sie stets [...]. Er geht von der Gegenwart aus - und durch sie hindurch erkennt er, deutet er stets die Vergangenheit."! Diese Aussage mag auf den ersten Blick Erstaunen hervorrufen, vielleicht sogar schockieren. Doch irgendeinem Relativismus soll damit natürlich nicht Vorschub geleistet werden. Gemeint ist vielmehr: Es geht in der Geschichtswissenschaft in zentraler Weise immer auch um den Menschen, auch um das Individuum. Aber dieses existiert nie isoliert, niemals abstrakt für sich, sondern stets als soziale Größe, in einer Vielzahl von Gruppen schließlich - und nicht zuletzt der nationalen. In diesen und durch sie hindurch werden Vergangenheit und Gegenwart gesehen und gedeutet, werden Erfahrungen und Uberzeugungen interpretiert, gewichtet und fixiert - immer auch im Sinne einer entsprechenden Gestaltung der Zukunft. Mithin sind derartige Muster und Kategorien zur Deutung der Geschichte mindestens so gewichtig wie die historischen Fakten. Um einen Vergleich zu gebrauchen: Diese Fakten sind das Baumaterial, jene Deutemuster dagegen die Architekturzeichnung, wonach das Haus errichtet wird. Bedeutsam erscheint mir das zitierte Wort von Lucien Febvre aber auch deshalb, weil es mit der Möglichkeit von Veränderungen der Menschen rechnet. Die Gegenwart muß die Vergangenheit nicht fortschreiben. Alternativen bieten sich an, sogar in der Geschichte von Völkern. Und der Historiker kann mithelfen, den unheimlichen Kreislauf von Schuldzuweisungen und Schuld zu unterbrechen. Das hat - noch einmal sei es unterstrichen nichts mit historischen oder gar moralischen Relativierungen zu tun, geschweige denn mit der Verharmlosung von Terror, Verbrechen und Mord. Aber der Standort kann ein anderer werden - und damit auch die Blickrichtung, sobald es nicht mehr um die Selbstrechtfertigung einer Gruppe geht 1

LUCIEN FEBVRE: Das Gewissen des Historikers. Berlin 1988, S. 20.

Der deutsche Protestantismus in Polen

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oder um nationale Apologetik, sondern um den Versuch des Verstehens und das Mühen um Verständigung. Das meint - um es mit den Schlußsätzen von Andreas Lawaty in seinem Buch über das Ende Preußens auszudrücken: "Die Qualität und die Dauerhaftigkeit der Verständigung zwischen Polen und Deutschen hängen weitgehend davon ab, inwiefern jede Nation in der Lage sein wird, ihr eigenes Geschichtsbewußtsein zu überprüfen und zu verändern. Zusammenleben und Kooperation setzen aber voraus, daß man verstehen lernt, in welcher Weise die andere Seite historische und politische Zusammenhänge erfährt." 2 Ich kann zu diesem wichtigen Arbeitsgebiet jetzt lediglich einige Anmerkungen im Blick auf den deutschen Protestantismus in Polen im Zweiten Weltkrieg beitragen. I. Um das Verhalten dieser deutschen Volksgruppe im September 1939 zu verstehen, müßte man weit in die Geschichte zurückgehen. Das gilt insbesondere für das Gebiet der ehemaligen preußischen Provinzen Westpreußen und Posen, "die schon seit Jahrzehnten Schauplatz erhitzten Volkstumskampfes gewesen waren" 3 . Hier hatte sich in einem komplexen Prozeß der Auseinandersetzung und Abgrenzung der Deutschen mit und gegenüber der mehrheitlich polnischen Bevölkerung ein Selbstverständnis und Geschichtsbewußtsein herausgebildet, mit dem man die eigene Umwelt und Wirklichkeit deutete und das insofern stets auch eine integrierende Funktion besaß. Diese Prägung eines Gruppenbewußtseins im Sinne einer Verhaltensdisposition, die der Reflexion wie der bewußten Zielsetzung - und erst recht einer Aktion - vorausliegt, läßt sich als Mentalität charakterisieren. "Mentalitäten lassen sich als kollektive Dispositionen beschreiben, und es wird angenommen, daß die Angehörigen einer Gruppe sich in der Regel, wenn auch nicht in jedem Einzelfall, entsprechend der Mentalität der Gruppe verhalten [...]. Der durch Sozialisation und kollektive Erfahrungen vermittelte gesellschaftliche Wissensvorrat hält im allgemeinen die jeweils adäquaten Antworten auf konkrete Herausforderungen bereit." 4 Inhaltlich läßt sich das kollektive Bewußtsein dieser deutschen Gruppe in Westpolen als ein Nebeneinander von Gefühlen und Uberzeugungen der Überlegenheit 2 3 4

ANDREAS LAWATY: Das Ende Preußens in polnischer Sicht. Berlin 1986, S. 258. MARTD>J BROSZAT: Zweihundert Jahre deutscher Polenpolitik. 2.Aufl. Frankfurt am Main 1972, S. 280. VOLKER SELLIN: Mentalitäten in der Sozialgeschichte. In: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Bd. 3. Göttingen 1987, S. 101-121, Zitat S. 104; MARTIN GRESCHAT: Die Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte. In: H Z 256, 1993, S. 67-103.

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einerseits und andererseits der Bedrohung charakterisieren. Das ist im umfassenden Sinn gemeint, also keineswegs nur in geistiger und kultureller, sondern ebensosehr auch in ökonomischer und rechtlicher Hinsicht. Und weil dabei stets zugleich die sensibelsten Faktoren einer jeden Mentalität, nämlich Religion und Sprache, mit im Spiel waren bzw. als auf dem Spiele stehend erlebt und empfunden wurden, gerieten alle Gespräche und Verhandlungen zwischen Deutschen und Polen hier so leicht und schnell und zunehmend zu bitteren und aggressiven Auseinandersetzungen. Denn auf der polnischen Seite läßt sich Analoges konstatieren, auch wenn das Gefühl der Bedrohung durch die Deutschen und das Bewußtsein der eigenen Überlegenheit im einzelnen anders strukturiert war. Schärfere Konturen hatte dieser Antagonismus nach 1871 gewonnen, vollends in der wilhelminischen Zeit 5 . Einen radikalen Umbruch brachten dann der Erste Weltkrieg und erst recht die deutsche Niederlage mitsamt dem Frieden von Versailles. Aber auch die nationalsozialistische "Machtergreifung" stellte eine Zäsur dar: Vor allem Hitlers Abschluß eines Nichtangriffspaktes mit Polen am 26. Januar 1934 erschien als Abkehr von der traditionellen deutschen Politik der Revision der Ostgrenze des Reiches. Insofern mischte sich für die deutsche Minderheit in den polnischen Westprovinzen in die Faszination, die auch für sie vom "Dritten Reich" ausging, die nüchtern-bittere Erkenntnis, daß sie davon, zumindest zunächst einmal, ausgeschlossen bleiben würde. Umgekehrt gab dieser Vertrag dem polnischen Bestreben Auftrieb, eine eigenständige Außenpolitik zu inszenieren was Hand in Hand ging mit einer autoritären innenpolitischen Zusammenfassung aller Kräfte. Dazu gehörte auch das verstärkte Bemühen, die nichtpolnischen Gruppen, die insgesamt etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, unter Druck in den Nationalstaat zu integrieren. Bereits am 13. September 1934 kündigte Polen im Völkerbund seine Mitarbeit bei der Durchsetzung der Schutzverträge für nationale Minderheiten auf. Vollends gegen die Deutschen in den Westprovinzen richteten sich dann die auf der höchsten politischen Ebene diskutierten und beschlossenen Richtlinien vom 9. Juli 19366. Dabei ging es zwar auch um die Bekämpfung des Nationalsozialismus mitsamt der Verhinderung der Militarisierung der deutschen Jugend; aber das war doch lediglich ein Aspekt in einem sehr viel weiter

5

M. BROSZAT, Zweihundert Jahre (Anm. 3); GOTTHOLD RHODE: Kleine Geschichte Polens. Darmstadt 1965; JOACHIM ROGALL: Die Geistlichkeit der Evangelisch-Unierten Kirche in der Provinz Posen 1871-1914 und ihr Verhältnis zur preußischen Polenpolitik. Marburg/Lahn 1990.

6

THEODOR BIERSCHENK: Die polnischen Richtlinien zur Behandlung der deutschen Volksgruppe vom 9. Juli 1936. In: Z f O 17, 1968, S. 534-538.

Der deutsche Protestantismus in Polen

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gespannten Konzept, das darauf hinauslief, das Polentum in jener Region zu stärken und umgekehrt die Position der Deutschen zu schwächen. Deshalb sollte der Gebrauch der deutschen Sprache zurückgedrängt werden, waren die deutschen Schulen zu reduzieren, wollte man bestrebt sein, keine privaten Bildungseinrichtungen aufkommen zu lassen. Aber auch eine Agrarreform zugunsten der polnischen Bauern war intendiert. Höchst signifikant ist sodann, daß in diesem Zusammenhang ausführliche Beschlüsse über die Einengung der evangelischen Kirche gefaßt wurden. Hierbei ging es um dreierlei: 1. die ausländischen Beeinflussungen der unierten Kirchen - dabei handelte es sich um die "Unierte Evangelische Kirche in Polen", d.h. im Gebiet Posen/Pommerellen, sowie die "Unierte Evangelische Kirche in Polnisch-Oberschlesien" - sollten möglichst bis zum Jahre 1937 unterbunden werden; 2. reichsdeutsche Pfarrer, die also nicht die polnische Staatsangehörigkeit besaßen, waren auszuweisen; 3. alle evangelischen Pfarrer durften lediglich rein religiös tätig sein und nicht unterrichten - was die Behörden sorgfältig zu überwachen hatten. Diese Richtlinien verdeutlichen zweierlei. Zum einen das ohnehin geläufige Faktum, daß Religion und Nationalität oder - wie man damals zu sagen pflegte, Kirche und Volkstum, d.h. evangelische Kirche und deutsches Volkstum - , im allgemeinen polnischen und deutschen Bewußtsein nicht nur zusammengehörten, sondern eine ebenso selbstverständliche wie unauflösliche Einheit bildeten. Weniger geläufig oder sogar selbstverständlich ist dagegen in aller Regel das andere, das jene Leitsätze dokumentierten: daß nämlich die staatliche Politik mit Einschluß der offiziellen Regelung des Status der Minderheiten auch die Kirchenpolitik dominierte - und nicht umgekehrt. Man muß also, um die Entwicklungen innerhalb der evangelischen Kirchen in Polen von der Mitte der dreißiger Jahre an wirklich zu verstehen, immer diesen größeren Rahmen mit im Blick haben. Besonders instruktiv für das Verständnis dieser Strukturen erscheint mir die Entwicklung, die sich anhand der schmalen Minderheit des deutschsprachigen Katholizismus in Polen beobachten läßt 7 . Sobald als möglich, d.h. partiell bereits 1919/20 in den Westgebieten und nach 1921 auch in Oberschlesien, wurden die deutschen Priester Zug um Zug zugunsten polnischer abberufen. Unerträglich mutete häufig deren hemmungsloser Chauvinismus, also die bedingungslose Identifizierung von Polentum und Katholizismus, führende deutsche Katholiken an, die dem polnischen Staat durchaus loyal gegenüberstanden. So erklärte z.B. Dr. Eduard Pant 1924 - später mit seiner Zeitschrift "Der Deutsche in Polen" einer der großen, leider erfolglosen 7

WOJCIECH KOTOWSKJ: Die Lage der deutschen Katholiken in Polen in den Jahren 1919-1939. In: Z f O 39, 1990, S. 39-67.

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Warner vor den Gefahren des Nationalsozialismus - im Blick auf viele polnische Priester: "Was die Leute treiben, das ist ein Verbrechen an der Religion. Sie untergraben die Religion und die sittlichen Unterlagen des Volkes. Was in dieser Hinsicht sich ein Teil der polnischen Geistlichkeit leistet, ist unerhört. Es scheint, sie sind nur dazu angestellt, um gegen die Deutschen zu hetzen." 8 Die polnische Hierarchie wandte sich dann auch gegen den 1923 gegründeten "Verband deutscher Katholiken in Polen", der sich vor allem die Pflege der deutschen Kultur zum Ziel gesetzt hatte. Pant, der zum Vorstand gehörte, wurde nach 1933 herausgedrängt, die Organisation öffnete sich nun nationalsozialistischen Vorstellungen. Aufschlußreich ist die Beobachtung, daß das deutsche Kirchenvolk Priester ablehnte, die am "Dritten Reich" Kritik übten; aber ebenso, daß sich Laien und Kleriker schon Jahre vor Kriegsausbruch zunehmend deutlich vom Nationalsozialismus zu distanzieren begannen. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Kirchenpolitik des 1926 zum Primas von Polen aufgestiegenen Erzbischofs und späteren Kardinals August Hlond. Er trat prinzipiell für eine entschiedene Polonisierung des Klerus wie auch der Gemeinden ein. Insofern identifizierte sich Hlond voll und ganz mit der staatlichen Minderheitenpolitik. Doch andererseits ließ er es nicht an freundlichen Gesten den Deutschen gegenüber fehlen. Waren das taktische Manöver und letztlich Täuschungen, wie seine Gegner ihm vorwarfen? Oder konnte sich Hlond mit dem Konzept seines vorsichtigen Ausgleichs zwischen den Nationen der Regierung gegenüber nicht durchsetzen - wie die Verteidiger des Kardinals behaupteten? Faktisch brachen aufgrund dieser Politik die Verbindungen zwischen deutschen und polnischen Katholiken nahezu völlig ab. Das ging so weit, daß 1938 für die Teilnahme am 34. Eucharistischen Kongreß in Budapest zwei getrennte Reisegruppen organisiert wurden, um zu "vermeiden, daß die deutschen Katholiken, die den Wunsch haben, an dem Kongreß teilzunehmen, gezwungen sind, mit den polnischen Katholiken zusammen zu reisen" 9 . Auf der polnischen Seite neigten der Staat, aber eben auch die kirchliche Hierarchie dazu, jede kulturelle und nationale Aktion der Deutschen als gegen sie gerichtet anzusehen. Die Folge davon war eine zunehmende Einigelung der deutschen Gruppen, die unbedingte Beharrung bei ihrer Eigenart, eine schroffe Hervorhebung des Besonderen, Trennenden - und mit alle8

9

Zitiert EBD., S. 48, Anm. 34. Vgl. auch HEINZ HÜRTEN: Der Deutsche in Polen. Skizze einer katholischen Zeitung 1934-1939. In: Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag. Berlin 1983, S. 415-446. Zitiert bei W. KOTOWSKI, Lage (Anm. 7), S. 61f.

Der deutsche Protestantismus in Polen

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dem eine klare Abgrenzung gegenüber der polnischen Umwelt, gerade auch im Blick auf die Konfessionsgenossen. Die Analogien zwischen dieser katholischen Entwicklung und den gleichzeitigen Vorgängen innerhalb des Protestantismus sind unübersehbar. Denn wie auch immer man die Position und Zielsetzung des Generalsuperintendenten und späteren Bischofs der "Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen", D. Julius Bursche10, beurteilen mag: innerhalb des politischen Rahmens, in dem er sich bewegen mußte, gab es zu seinem Weg kaum eine realistische Alternative. Bursche wollte seine Kirche bekanntlich zu einer eindeutig polnischen, einer nationalen evangelischen Kirche umgestalten - und in diesem Sinn nach Möglichkeit auch auf die anderen evangelischen Kirchen im Land einwirken. Unabhängig von der Frage, welche theologischen Motive ihn hierbei geleitet haben, bleibt das Faktum, daß er nur dann die Chance eines Erfolges hatte, wenn er sich bei alledem in Übereinstimmung mit der staatlichen Minderheitenpolitik bewegte. Bursche hörte deshalb nicht auf, um die deutschen Evangelischen zu werben. Immer wieder äußerte er Verständnis für ihre Lage, verbunden freilich mit der Mahnung, sie sollten sich auf die neuen Verhältnisse einlassen, anstatt sich zunehmend abzugrenzen. So erklärte er z.B. im Februar 1933 auf einer Sitzung kirchlicher Repräsentanten in Berlin: "Es wäre angezeigt, wenn die Deutschen in den durch den Versailler Vertrag an Polen abgetretenen Gebieten sich bemühen wollten, sich in die gegebenen Tatsachen zu finden und einer katholischen Regierung und einem katholischen Volk gegenüber möglichst Vorsicht und Zurückhaltung walten zu lassen, auch wenn die Generation von Menschen, die noch unter deutscher Herrschaft gelebt hat, wohl nie ganz innerlich und äußerlich zur Ruhe kommen wird. Auch sollten die jüngeren deutschen Pastoren sich mehr um die Erlernung der polnischen Sprache bemühen." 11 Aber dann agierte Bursche immer wieder in einer Weise, die gewiß im Einklang mit seiner Zielsetzung stand, aber die von den evangelischen Deutschen als eindeutiger Affront begriffen werden mußte. Das trug ihm zumindest den Vorwurf der Unehrlichkeit ein - und wirkte objektiv erheblich mit an der wachsenden Verhärtung bis hin zur Kompromißlosigkeit im deutschen Lager ihm und seinen Freunden gegenüber. 10 Die bisherigen Untersuchungen zu Bursche sind allzusehr auf seine Person zentriert, wichtig wären komparatistische Studien, die sowohl die anderen Konfessionen als auch die politischen Positionen mit in den Blick nehmen. Materialreich und gründlich ist jetzt BERND KREBS: Nationale Identität und kirchliche Selbstbehauptung. Julius Bursche und die Auseinandersetzungen um Auftrag und Weg des Protestantismus in Polen 1917-1939 (HThSt. 6) Neukirchen-Vluyn 1993. 11 EVANGELISCHES ZENTRALARCHIV IN BERLIN (im folgenden: E Z A BERLIN), 51/LVm/29a: Bericht über eine Besprechung mit zwei Vertretern polnischer Kirchen am 2.2.1933, S.6.

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Mir ist es jetzt nicht um Einzelheiten zu tun 12 , sondern um die Verdeutlichung jenes Antagonismus, der nahezu mit Notwendigkeit schnell sich verschärfende Gegensätze produzierte. Bursches Politik veranlaßte 1935 die Gründung der "Arbeitsgemeinschaft der deutschen Pastoren" innerhalb seiner Kirche. Was auch immer sie im einzelnen wollten und taten: für die polnische Seite stand sogleich fest, daß es sich dabei um eine aggressive nationalistische, wenn nicht sogar nationalsozialistische Organisation handeln müsse - wohingegen die Deutschen wähnten, doch lediglich ihre religiöse, kulturelle, freilich nun auch nationale Eigenständigkeit zu verteidigen und damit die Bedrohung ihrer Identität abzuwehren. Vollends zum Bruch kam es, als Bursche gegen den Willen der deutschen Synodalmehrheit dem neuen Kirchengesetz für die "Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen" zustimmte, das der Staatspräsident Ende 1936 in der Form eines Dekrets erließ. Dadurch wurde eine massive Abhängigkeit dieser Kirche vom Staat fixiert. Die niederländische "Evangelische Maatschappij", eine Tochtergesellschaft des "Evangelischen Bundes", attackierte folgerichtig dieses Gesetz, mit dem Blick nach Deutschland und darüber hinaus: "Der polnisch-katholische Staat hat sich des Generalsuperintendenten D. Bursche und seiner 3 Gefolgsleute bedient, um die von ihm gewünschten Gesetze der evangelisch-augsburgischen Kirche aufzuerlegen."13 Tatsächlich diente dieses Statut dann auch dazu, die Wahl deutscher Synodaler zu verhindern. Von Bursche wurde die Erklärung kolportiert: "Wir werden es ganz entschieden nicht zulassen, daß der Kirche ein deutscher Charakter gegeben wird. Das neue Gesetz, gegen das die Deutschen auftreten, gibt uns eine Waffe in die Hand." 14 Aber noch einmal: Alles das war für einen Mann in Bursches Position und angesichts der gegebenen politischen Verhältnisse in Polen nur konsequent. Wie hätte er denn jetzt noch an die Seite der Deutschen treten und mit ihnen zusammen ein gemeinsames kirchliches und damit zugleich politisches Ziel verfolgen können? Dazu hätte Bursche sein gesamtes Konzept - und sich selbst aufgeben müssen. Andererseits war der Bruch nicht nur zwischen seiner polnischen Gefolgschaft und der Gruppe um die "Arbeitsgemeinschaft der deutschen Pastoren", sondern darüber hinaus zwischen polnischen und deutschen Protestanten zumindest prinzipiell jetzt endgültig vollzogen. Dementsprechend trat am 8. Februar 1937 die "Unierte Evangelische Kirche 12

Materialreich, aber einseitig fixiert auf die deutsche evangelische Position und insofern schief ist ALFRED KLEINDIENST/OSKAR WAGNER: Der Protestantismus in der Republik Polen 1918/19 bis 1939 im Spannungsfeld von Nationalitätenpolitik und Staatskirchenrecht, kirchlicher und nationaler Gegensätze. Marburg/Lahn 1985.

13

KIRCHE, VOLK UND STAAT IN POLEN. Ein Bericht über die Lage der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen. Amsterdam 1937, S. 17.

14

EBD., S. 24.

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in Polen" mit lautem Protest aus dem "Rat der evangelischen Kirchen in Polen" aus15. Die "Unierte Evangelische Kirche in Polnisch-Oberschlesien" folgte diesem Schritt nur wenige Tage später, am 13. Februar. Die Zielsetzung des polnischen Staates trat dann klar zutage, als er noch im gleichen Jahr die deutsche Leitung dieser Kirche absetzte. Vom 23. bis zum 29. August 1938 tagte in Larvik in Norwegen der Internationale Rat des "Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen". In diesem Rahmen verhandelte man am 19. und 20. August Minderheitenprobleme, wobei ausführlich auch die Situation in Polen zur Sprache kam. Es ging vor allem um zwei Themen: Einerseits um die "besonders schwere und tragische Situation der orthodoxen Kirche in Polen" aufgrund der systematischen Unterdrückung dieser Christen - wobei man, wie Professor Zankov aus Sofia ausführte, "in Polen den nationalen und den religiösen Aspekt, die sich beide so intim im Katholizismus verbinden, nicht wirklich voneinander unterscheiden kann" 16 . Das andere Thema war die Lage der deutschen evangelischen Minderheit. Zwar könne man hier nicht von Verfolgungen im eigentlichen Sinn sprechen, wohl aber "von einem immer stärker hervortretenden Bestreben, die Leitung der Kirchen zu polonisieren, dann auch die Gemeinden selbst - und das, obwohl das polnischsprachige protestantische Element in den meisten dieser Kirchen nur eine Minderheit darstellt". Bursche, der schon im Vorfeld der Tagung betont hatte, daß die Repräsentanten der anderen evangelischen Kirchen in Polen nicht zur Teilnahme autorisiert seien, war selbst ebenfalls nicht erschienen. Die Spannungen zwischen Deutschen und Polen und insbesondere deren Druck auf die nationale Minderheit im Westen des Landes wuchsen jetzt schnell. Sie eskalierten vollends seit dem Frühjahr 193917. Darauf muß ich hier jetzt nicht eingehen. Wichtiger für unseren Zusammenhang, zumal im Blick auf die weitere Entwicklung, ist die Beobachtung, wie zunehmend selbstverständlich nun die Herausbildung von national homogenen Gemeinden erschien. Dabei gingen die Deutschen voran, fühlten doch gerade sie sich ebenso umfassend wie radikal bedroht. Zur organisatorischen und juristischen Aufteilung der Gemeinden innerhalb der "Evangelisch-Augs burgischen Kirche" nach Nationen kam es zwar nicht - obwohl die deutschen Evangelischen mit diesem Gedanken seit 1937 spielten. Aber der "Przeglad

15 Eine ausführliche Dokumentation liefern die VERHANDLUNGEN DER 7. ORDENTLICHEN LANDESSYNODE, 14.-16.2.1939. Posen 1939, S. 57-67. 16

ARCHIV DES ÖKUMENISCHEN RATES DER KIRCHEN, G E N F ( i m f o l g e n d e n : A Ö R ) ,

Weltbund

für Freundschaftsarbeit der Kirchen, 212. 011: Conference des Minorites, S.8. Danach auch das Folgende. 17 Vgl. dazu die in Anm. 5, 8, 10, 12 und 15 genannte Literatur.

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Ewangelicki" traf durchaus den Kern der Sache, wenn er im April 1939 schrieb: "Es muß hinzugefügt werden, daß von den evangelischen Pfarrern ein großer Teil, der sich zur deutschen Nationalität bekennt, die Zusammenarbeit mit den Polen ablehnt und offen den Separatismus pflegt."18 Ist es angemessen, diese erbitterten Auseinandersetzungen als "Kirchenkampf" zu bezeichnen? Die Betroffenen interpretierten damals und danach mit diesem Begriff ihre Situation. Sicherlich kämpften die deutschen evangelischen Kirchen in Polen um den Fortbestand ihrer nationalen und kulturellen Eigenart. Aber ein Vergleich mit dem Kirchenkampf im "Dritten Reich" - den das Wort assoziiert - ist in der Sache unangebracht. Der polnische Staat war gewiß autoritär, aber keine totalitäre Diktatur. Wer Bursche und seine Anhänger in eine Linie mit den Deutschen Christen stellt, diffamiert die polnischen Protestanten in unverantwortlicher Weise. Und keine Rede kann schließlich davon sein, daß die deutschen Evangelischen für die Geltung der unverkürzten und unverfälschten Offenbarung Gottes gestritten hätten. Um die ging es nicht. Wie denn überhaupt auffällt, daß theologische Argumente in diesen Kämpfen faktisch keine Rolle spielten. Der Vergleich des deutsch-polnischen inner- und außerkirchlichen Streites mit dem Kirchenkampf im "Dritten Reich" ist ein Ausdruck der skizzierten erbitterten und kompromißlosen Auseinandersetzungen im Polen der späten dreißiger Jahre. Analytischen Wert besitzt dieser Begriff nicht. Gilt dasselbe oder Analoges von dem nahezu auf Schritt und Tritt in den Quellen begegnenden Vorwürfen auch an die Adresse der deutschen evangelischen kirchlichen Kreise, sie seien Anhänger Hitlers, militante Nationalsozialisten oder gar Aktivisten einer "Fünften Kolonne"? Im Gemeindeblatt für die "Unierte Evangelische Kirche in Polen", das in ihrem Auftrag wöchentlich unter dem Titel "Glaube und Heimat" erschien, konnte man von Anfang 1933 an lobende, ja begeisterte Äußerungen über Hitler, den Nationalsozialismus und das neue Deutschland lesen. Zum 1. Januar 1934 stellte Pfarrer Lic. Dr. Kammel, einer der Schriftleiter des Blattes und gleichzeitig der Leiter des Posener Landesverbandes für Innere Mission, seinen Leitartikel unter die Überschrift "Der Nationalsozialismus und wir" 19 . Darin betonte Kammel, daß man sich im Posener Raum nicht erst seit dem Herbst 1933 für Hitler erklärt habe, vielmehr hätte er selbst sich von Anfang an, "zugleich im Namen der hiesigen Deutschen, vorbehaltlos auf den Boden des Nationalsozialismus gestellt". Ahnliche Äußerungen einer bedingungslosen Zustimmung begegnen immer wieder. Noch im Herbst 1935 proklamierte der Leiter der "Unierten Evangelische Kirche in Polen", 18

Zitiert bei A. KLEINDEENST/O. WAGNER, Protestantismus (Anm. 12), S. 354f. Anm.32.

19

GLAUBE UND HEIMAT, Nr. 1,1.1.1934, S. 5f.

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der Posener Generalsuperintendent D. Blau, in einem Flugblatt zur "Kirchlichen Woche": "Heute heißt Deutsch sein, nationalsozialistisch denken und leben." 20 Als zunehmend kompliziert erwies es sich freilich, diese Einstellung mit den Nachrichten über den Kirchenkampf in Deutschland zu verbinden. Die Berichterstatter wurden zwischen der Begeisterung für die politischen Vorgänge und der Betroffenheit über die kirchlichen Streitigkeiten regelrecht hin- und hergerissen. Hitlers "Machtergreifung" galt als "großer nationaler Umschwung [...], der hoffentlich das deutsche Volk wieder in die Höhe führen wird" 21 . Zum Reichstagsbrand hieß es, er sei "der ungeheuerlichste Terrorakt des Bolschewismus in Deutschland" 22 . Zum offiziellen Boykott aller jüdischen Geschäfte und Praxen am 1. April 1933 erfuhren die Leser des Posener Gemeindeblattes: "Trotz aller Proteste und Richtigstellungen nimmt die Verleumdung Deutschlands kein Ende. Sie hat nun eine scharfe Abwehrbewegung auf den Plan gerufen."23 Ebenso naiv und pathetisch wurden der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und die damit verbundene Volksabstimmung Ende 1933 kommentiert: "Das ist noch nie in der Weltgeschichte und in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus [!] da gewesen, daß sich über 96 Prozent aller Wahlberechtigten an einer Volksabstimmung beteiligt und davon 95,1 Prozent Ja-Stimmen abgegeben haben [...]. Niemals ist irgend einer Regierung auf der Welt freiwillig [!] von einem Volk ein so überwältigendes Vertrauen ausgesprochen worden, wie eben der gegenwärtig von Hitler geführten und vom greisen Reichspräsidenten von Hindenburg betreuten nationalsozialistischen Regierung. Das deutsche Volk ist endlich einig geworden." 24 Exakt darum ging es auch weiterhin25. Und auf dieser Linie bewegte sich dementsprechend die Berichterstattung über den Kirchenkampf. Zunächst pries das Blatt in den höchsten Tönen das Projekt einer einigen evangelischen Reichskirche, die zugleich "die sehnlichst erwartete Volkskirche" realisieren sollte26. Erste Irritationen entstanden, als die Wahl zum Reichsbischof nicht auf Fritz von Bodelschwingh, sondern auf Ludwig Müller fiel. Nichtsdestoweniger stellte sich "Glaube und Heimat", getreu der offiziellen deutschen Lesart, sogleich entschieden auf die Seite des neuen reichskirchlichen Repräsentanten27. Die Einsetzung August Jägers 20

EBD., N r . 4 7 , 24.11.1935, S. 381.

21 EBD., Nr.8, 19.2.1933, S. 64. 22

EBD., N r . 1 1 , 1 2 . 3 . 1 9 3 3 , S. 87.

23

EBD., N r . 15, 9.4.1933, S. 120.

24

E B D . , N r . 4 8 , 26.11.1933, S. 382.

25 Informativ sind die späteren Stellungnahmen, z.B. zu Ostern 1936: EBD., Nr. 15, S. 117. 26 EBD., Nr.19, 7.5.1933, S. 151. 27 EBD., Nr.28, 9.7.1933, S. 213.

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zum Staatskommissar für die Kirchen in Preußen verunsicherte zwar die Autoren; aber auch weiterhin unterstützte das Blatt Müllers Kurs 28 . Doch zu Beginn des Jahres 1934 machte Kammel seiner und seiner Freunde Unzufriedenheit über die kirchliche Entwicklung im Reich nachdrücklich Luft. "Wir sind schwer enttäuscht worden", lautete das bittere Resümee 29 . Die weiteren Ereignisse des Jahres 1934 verstärkten diesen Eindruck. Jetzt begegnen auch zustimmende Worte zur Bekennenden Kirche - nachdem noch die Barmer Synode nur mit einem einzigen Satz und die dort angenommene Barmer Theologische Erklärung überhaupt nicht erwähnt worden waren 30 . Mit großem Nachdruck wurde natürlich auch hier unterstrichen, daß die Mitglieder der Bekennenden Kirche selbstverständlich keine Gegner des Nationalsozialismus seien, sondern voll und ganz auf dessen Boden ständen - wie z.B. Bischof Meiser, der hier zum "alten Nationalsozialisten" avancierte 31 . Genug der Zitate! Die Herausgeber und Autoren von "Glaube und Heimat" sahen sich im Einklang mit dem Nationalsozialismus und informierten dementsprechend die Leser. Der Kirchenkampf störte den großartigen Gesamteindruck, aber er machte nicht wirklich kritisch. Man wollte diese Auseinandersetzungen möglichst bald beigelegt sehen, nahezu um jeden Preis, damit Einigkeit und Geschlossenheit herrschten, nicht nur innerhalb der evangelischen Kirche, sondern auch im Verhältnis von Staat und Volk und Kirche. Das alles war aufgrund der eigenen Erfahrungen und Uberzeugungen konzipiert. Und aus demselben Blickwinkel formulierten diese Protestanten ihre Hoffnungen, Befürchtungen und Gewißheiten. Auf keinen Fall sollte in Deutschland eine Staatskirche entstehen. Ebenso müßte die Herrschaft eines religiösen Nationalismus, also der Völkischen, verhindert werden. Als grundlegend wurde die Einheit von Christentum und Volk, von Deutschtum und evangelischem Geist angesehen. "Daß unsere Volksgemeinschaft, überhaupt der Nationalsozialismus, von christlichem Geist durchdrungen sein muß, das ist uns Christen, aber auch rechten Nationalsozialisten selbstverständlich." 32 Daß man sich mit alledem einen Nationalsozialismus entsprechend den eigenen Wünschen und Sehnsüchten konstruierte, liegt auf der Hand. In Deutschland dachten in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft bekanntlich viele Menschen ebenso 33 . Läßt sich wenigstens andeu28 29 30 31 32 33

EBD. ZU 1933: EBD., S. 332, 396; Nr.2, 7.1.1934, S. 15. EBD., Nr.5, 28.1.1934, S. 37f. EBD., Nr.25, 17.6.1934, S. 196. EBD., S. 413. EBD., Nr.20, 13.5.1934, S. 158. Sehr instruktiv ist dafür KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1. Frankfurt am Main u.a. 1977.

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tungsweise erfassen, inwieweit diese von "Glaube und Heimat" proklamierte Auffassung repräsentativ für die evangelischen Deutschen in Polen war? Das ist insofern kompliziert, als alle politischen Richtungen Anhalt an der evangelischen Kirche suchten und dort auch Zustimmung fanden 34 . Das gilt einerseits von den Repräsentanten und Funktionären der Schutzverbände, also z.B. des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) oder des Ausland-Instituts. Das trifft zum andern auf den schon 1923 gegründeten "Nationalsozialistischen Verein" zu, der 1931 in die "Jungdeutsche Partei für Polen" umgewandelt wurde. Und das war schließlich erst recht der Fall bei verschiedenen regionalen deutschen Zusammenschlüssen, darunter der 1934 in Posen-Pommerellen entstandenen "Deutschen Vereinigung", deren Dachverband der "Rat der Deutschen" bildete. In allen diesen Gruppierungen wirkten evangelische Christen mit. Und samt und sonders waren diese Organisationen - wie stark im einzelnen auch immer - vom Nationalsozialismus beeinflußt. Exakter läßt sich die Einstellung der Pfarrer und Kirchenleitungen zum Nationalsozialismus bestimmen. Nach dem gewiß unverdächtigen Zeugnis von Bursche aus dem Sommer 1938 bezeichneten sich von den 190 Pastoren seiner Kirche nur "etwa 15" offen als Nationalsozialisten. Diese führten allerdings im "Volksverband", d.h. im Lodzer Zusammenschluß der Deutschen, das große Wort. Sie "terrorisieren die übrigen Deutschen", behauptete Bursche35. Zu diesen militanten Nazis gehörte nach der Darstellung Bursches in einem anderen Brief an Siegmund-Schultze vom Dezember desselben Jahres auch Alfred Kleindienst, der Vorsitzende der "Arbeitsgemeinschaft der deutschen Pastoren innerhalb der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen" 36 . Standen für die polnischen Protestanten - wie erläutert - eher die politischen Aspekte bei der Beurteilung der deutschen Protestanten im Vordergrund, fielen für diese - jedenfalls für die kirchlich Gebundenen - die Entscheidungen primär im Blick auf die Einstellung der einzelnen Organisation gegenüber der Kirche. Wie im Reich beunruhigte also auch in Posen die Kirchenleitung nicht die nationalsozialistische Gesinnung ihrer Pfarrer und Synodalen, sondern lediglich deren öffentliches Auftreten, sobald es sich gegen die Selbständigkeit der Kirche oder deren Lehre richtete. Deshalb 34 Eine knappe Charakterisierung dieser Gruppen bei RICHARD BREYER: Die deutsche Bevölkerung in Polen 1933-1939. In: Deutschland und Polen von der nationalsozialistischen Machtergreifung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Braunschweig 1986, S. 71-81. Vgl. auch A. ISBERG: Kyrkopolitik och nationalitet. Et dilemma för minoritetskyrkorna i mellankrigstidens Polen. Stockholm 1985. 35 A. KLEINDIENST/O. WAGNER, Protestantismus (Anm. 12), S. 261 Anm.54. 36 EBD., S. 339f. Da KLEINDIENST diese Aussage unkommentiert läßt, dürfte sie richtig sein.

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hatte man hier seit Ende 1933 alles daran gesetzt, um die politische Betätigung der Pfarrer zu verhindern 37 . Und aus dem gleichen Grund stand 1936 im Mittelpunkt der Landessynode der "Unierten Evangelischen Kirche in Polen" die Auseinandersetzung mit der "völkischen Bewegung in unserer Mitte" 38 , genauer: die Betroffenheit darüber, "daß nun doch in unser kirchliches Leben ein Keil getrieben worden ist von der völkischen Bewegung her" 39 . Doch man sei entschlossen, dagegen mit aller Kraft anzugehen. Tatsächlich schienen diese Probleme zu Beginn des Jahres 1939 im wesentlichen überwunden 40 . Die Kirchenleitung mit dem Generalsuperintendenten Blau und seinen Mitarbeitern in Posen leisteten gewiß keinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sie folgten vielmehr - wie die Bekennende Kirche in Deutschland - der Devise, daß die Kirche zuerst und vor allem Kirche zu sein und zu bleiben habe. Daran kann man sicherlich mit guten Gründen Kritik üben. Aber man muß doch auch zur Kenntnis nehmen, daß die kirchlichen Repräsentanten nun gerade auf dieser kirchlichen Ebene überaus klar und eindeutig Widerspruch anmelden konnten. Ein Beispiel dafür ist das Schreiben von Theodor Zöckler aus Stanislau an den Leiter des Kirchlichen Außenamtes Theodor Heckel in Berlin, vom 10. Juli 193741. Ungeschminkt stellte Zöckler da zusammen, was man in Polen Tag um Tag aus den Zeitungen über die Bedrückungen der Kirchen in Deutschland erfuhr und wie sehr das die Gemeinden beunruhigte. Dazu gehörte auch das Verbot von "Glaube und Heimat" in Deutschland. Aber viel wichtiger waren natürlich die Verhaftungen von Pastoren der Bekennenden Kirche, der Prozeß gegen Martin Niemöller sowie dann die Einrichtung der Finanzabteilungen 42 . Da griff der Staat doch viel massiver in das Leben der Kirche ein, als es bei dem so laut kritisierten Gesetz für die Evangelisch-Augsburgische Kirche der Fall war. Es handele sich bei diesen Feststellungen nicht um seine Privatmeinung, betonte Zöckler, denn in Lodz und Posen sehe man die Dinge ähnlich. Schweigen könne man dazu aus Gewissensgründen nicht länger, aber auch nicht "um der eigenen kirchlichen Lage willen". Was wäre denn noch Bursche entgegenzusetzen, bzw. dem polnischen Kultusministerium und Innenministerium, wenn die deutschen Protestanten durch ihr Schweigen zu 37

VERHANDLUNGEN DER 6. ORDENTLICHEN LANDESSYNODE, 25.-27.5.1936. P o s e n 1936, S. 27f.,

51. 38 EBD., S. 35. 39 EBD., S. 26, ferner S. 84f. 40

VERHANDLUNGEN DER 7. ORDENTLICHEN LANDESSYNODE ( A n m . 15), S. 18f.

41 EZA BERLIN, 5/931. 42 Die Fakten dazu bietet KURT MEIER: Der evangelische Kirchenkampf. Bde. 2 und 3. Göttingen 1976 und 1984.

Der deutsche Protestantismus in Polen

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den staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Kirche in Deutschland auch nur den Anschein erweckten, als billigten sie dieses Vorgehen? "Man darf sich ja keinem Zweifel darüber hingeben, wenn die polnische Regierung Methoden anwenden wird, wie sie gegenwärtig das Kirchenministerium in Deutschland anwendet, die Selbständigkeit unserer evangelischen Kirchen in Polen und vor allem die Erhaltung des deutschen Charakters unserer deutschen evangelischen Gemeinden kaum noch möglich sein wird." Deshalb kündigte Zöckler zuletzt "eine einheitliche Stellungnahme des evangelischen Auslandsdeutschtums" an, das dann hoffentlich fähig sei, "den maßgebenden Stellen [zu zeigen], wie verhängnisvoll diese ganze Politik werden kann, wenn sie in der bisherigen Weise fortgesetzt wird". Das waren klare und mutige Worte, auch wenn der geplante gemeinsame Protest der Auslandsdeutschen gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik nicht zustande kam. Im Vordergrund stand gewiß die Kirchenpolitik und insofern die Absicherung der eigenen Position. Aber zumindest andeutungsweise ging Zöckler darüber hinaus. Wie nachdrücklich sich die Kirchenleitungen der Posener, Galizischen und Oberschlesischen evangelischen Kirchen tatsächlich auch politisch von den radikalen Nationalsozialisten zu distanzieren versuchten, belegt ein Brief des Zinsdorfer Pfarrers Dinkelmann vom 7. März 1940 43 . Der Leiter der dortigen Diakonischen Ausbildungsstätte hatte eine "Biblische Arbeitsgemeinschaft" gegründet, der insgesamt 16 Pfarrer angehörten, ausnahmslos überzeugte Nationalsozialisten. Diese Organisation wollte einerseits die Verbindung lebendiger evangelischer Christen mit dem Nationalsozialismus verwirklichen; aber sie diente andererseits auch als Unterschlupf, weil die Leitungen. der genannten Kirchen ihren Pfarrern die Mitgliedschaft bei den Jungdeutschen untersagt hatten. Demnach ergab sich folgendes Bild: Vor allem die Posener Kirchenleitung stellte sich bald gegen den Nationalsozialismus, wie er von der Jungdeutschen Partei und dann auch von der Biblischen Arbeitsgemeinschaft vertreten wurde. Stattdessen förderte man die 1934 gegründete "Deutsche Vereinigung", einen Zusammenschluß der "bisherigen Führung des deutschen wirtschaftlichen und kulturellen Lebens". Den Pfarrern wurde die Zugehörigkeit zu dieser Vereinigung zunächst empfohlen, später blieb sie immerhin gestattet. Auch dort gab es überzeugte Nationalsozialisten, räumte Dinkelmann ein. Aber vorherrschend blieb in dieser Organisation doch die alte politische Gedankenwelt. "Von der jungdeutschen Bewegung wurde sie als Reaktion bezeichnet." 43

E Z A BERLIN, 6 0 1 / 8 8 / 6 , Z u Dinkelmann vgl. auch ARTHUR RHODE: Die Evangelische Kir-

che in Posen und Pommerellen. Erfahrungen und Erlebnisse in drei Jahrzehnten 1914-1945. Lüneburg 1984, Teil 2, S. 162.

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Aus alledem ergibt sich: Auch die polnischen Vorwürfe an die evangelischen Deutschen zeichneten ein verzerrtes Bild der Auseinandersetzungen, zumindest was die kirchlichen Kreise anbelangt. Von deren Aktivitäten als einer "Fünften Kolonne" kann sicherlich nicht die Rede sein. Umgekehrt ist freilich zu konstatieren, daß hier jeder Hinweis auf kritische Äußerungen über Hitler oder eine prinzipielle Ablehnung des Nationalsozialismus fehlt. Radikale Nazis begegnen durchaus, selbst unter den Pfarrern. Aber sie bildeten augenscheinlich eine Minderheit. Vorherrschend blieb weithin die alte Mentalität, für die eine Verbindung von Konservatismus, betontem Nationalismus sowie evangelischer Kirchlichkeit mit einem mehr oder minder starken antikatholischen Effekt charakteristisch war. Den Nationalsozialismus begriff und interpretierte man in diesem Rahmen als Intensivierung der nationalen wie auch der sozialen Gesinnung. Dementsprechend galt er primär als eine aufrüttelnde, den ganzen Menschen packende und mobilisierende Kraft. Sicherlich wollten einzelne Nationalsozialisten mehr und anderes. Fraglos erschütterte auch die nationalsozialistische Kirchenpolitik viele evangelische Deutsche in Polen. Aber das Bewußtsein der gemeinsamen Bedrohung, die man vollends seit dem Frühjahr 1939 in wachsendem Maße erfuhr 44 , überdeckte die inneren Spannungen und Gegensätze, behinderte auf jeden Fall den offenen Streit. Die andere Konsequenz dieses Schulterschlusses war - wie erwähnt - die zunehmende Abgrenzung der Deutschen gegenüber ihrer Umwelt. So hatte man sich oft schon vor dem Kriegsausbruch an ein nicht selten beziehungsloses Nebeneinander der deutschen und polnischen evangelischen Gemeinden gewöhnt.

n. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bildete und bildet eine schreckliche Zäsur im Verhältnis von Polen und Deutschen. Sicherlich handelte es sich zunächst auch um eine weitere Stufe der Eskalation von Gewalt und Gegengewalt, von Rache und Vergeltung. Aber viel einschneidender ist, daß Hitler und seine Gefolgschaft von Anfang an eine qualitativ neue Stufe des Terrors und Schreckens inszenierten, nämlich die endgültige Vernichtung eines polnischen Staatswesens, die Ermordung seiner Führungsschicht sowie insgesamt einen fürchterlichen Volkstumskampf, der - wie Hitler am 17. Oktober 1939 erklärte - "keine gesetzlichen Bindungen gestattet"45. Dahinter 44 Vg. z.B. ERNST SCHUBERT: Die deutsche evangelische Kirche in Polen 1920-1939. Ein kurzer, erschütternder Vergleich. Berlin 1939. 45 MARTIN BROSZAT: Nationalsozialistische Polenpolitik. Stuttgart 1961, S. 22f. Vgl. auch CZESLAW MADAJCZYK: Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939 bis 1945. Berlin 1987.

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verblassen eindeutig die polnischen Ungerechtigkeiten und Untaten aus der Vorkriegszeit. Anders erlebten, zumindest zunächst, die Deutschen, in unserem Zusammenhang also in erster Linie die kirchlich gebundenen evangelischen Deutschen, vor allem in den polnischen Westgebieten, die Ereignisse. Als die von Monat zu Monat sich verschärfenden polnischen Repressalien schließlich in den ersten Septembertagen blutig explodierten, löste das unter den Deutschen einen schweren und lange nachwirkenden Schock aus. Manches wirkte bei diesen Septembermorden46 zusammen: Die seit langem angeheizte haßerfüllte Atmosphäre, die überhastete und alsbald von der drohenden militärischen Niederlage überschattete Verhaftung und Evakuierung von Zehntausenden von Volksdeutschen, vor allem in den Westgebieten; und endlich die von Militär, Polizei und Privatpersonen durchgeführten pogromartigen Haßausbrüche gegen die Deutschen, insbesondere in Bromberg, denen dort einige hundert Menschen zum Opfer fielen. Insgesamt wurden in diesen Tagen etwa 6.000 Deutsche in Polen ermordet. Der Haß und die Wut der polnischen Bevölkerung richteten sich offenkundig in besonderem Maße gegen die allgemein bekannten Mitglieder der deutschen evangelischen Gemeinden, insbesondere die Pastoren. Sicherlich lag das in hohem Maße an der offiziellen Hetze der vorangegangenen Monate. Dabei dürften, entgegen der Vermutung Blaus47, die öffentlichen Angriffe Bischof Bursches und seiner Freunde keine übergroße Wirkung ausgeübt haben. Blau hatte aber lediglich die kirchlichen Auseinandersetzungen im Blick und konnte deshalb guten Gewissens behaupten, seine Kirche sei zum Opfer geworden, weil sie "ohne je politisch tätig gewesen zu sein, die Seelen unseres Volkstums darstellte und darum unwillkürlich Trägerin seiner Art war". Wir haben uns deutlich gemacht, daß die Dinge so einfach nicht lagen. Noch völlig unter dem Eindruck der zurückliegenden Schrecken - und gleichzeitig, mit einem Schlag, in die Lage versetzt, seinem Herzen Luft 46 Eine kurze Zusammenfassung der Fakten bei M. BROSZAT, Zweihundert Jahre (Anm. 3), S. 281-283; HELMUT KRAUSNICK: Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938-1942. Teil 1. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1985, bes. S. 26ff., 35ff., 45-51. Ausdruck des Weiterwirkens jenes 'Schocks', aber nun verbunden mit starken apologetischen Akzenten, sind z.B. RICHARD BREYER: Die deutsche Volksgruppe in Polen und der Kriegsausbruch 1939. In: Westpreußen-Jahrbuch 19, 1969, S. 5-13; PETER AURICH: Der DeutschPolnische September 1939. Eine Volksgruppe zwischen den Fronten. München 1969; HUGO RASMUS: Pommerellen - Westpreußen 1919-1939. München 1989 (zwei Drittel des Buches, die Seiten 112-329, befassen sich mit den Septembermorden!). 47 Schreiben vom 17. Oktober 1939 an Prof. Dr. Adolf Keller, Zürich: KIRCHENARCHIV HAMBURG, B XVI a. 251. Danach auch das Folgende.

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machen und nun alles das aussprechen zu können, was ihn in der zurückliegenden Zeit bedrückt und bedrängt hatte, berichtete Blau in jenem Schreiben vom 17. Oktober 1939: "Aber was im allgemeinen unsere Kirche durchgemacht hat, spottet jeder Beschreibung. Daß alle die Vergewaltigungen und Rechtsbeugungen, die wir in diesen 20 Jahren von den Behörden erlitten haben, daß alle die Ausschreitungen in den letzten Jahren, vor allem seit dem Frühjahr dieses Jahres - das Einwerfen der Kirchenfenster, die körperlichen Mißhandlungen einzelner Pfarrer, die fortgesetzten Kirchhofschändungen etc. - nur das Vorspiel zu der grauenvollen Tragödie der letzten Wochen sein sollten, hat niemand von uns geahnt und niemand, auch nicht die übelwollendsten Kritiker des Polentums haben es für möglich gehalten, daß das Volk solcher Bestialitäten, wie sie massenhaft vorgekommen sind, fähig sei, Bestialitäten, die zum größten Teil von verhetzten Nationalisten und leider auch von Soldaten, ja von Offizieren vollbracht worden sind. Und was das Erschüttendste ist: die polnische katholische Geistlichkeit hat das Volk dazu angetrieben." Problematisch ist diese Darstellung - noch einmal sei es unterstrichen - , weil da der polnischen Seite eine gezielte, auch Terror und massenhaften Mord nicht ausschließende Politik unterstellt wurde, wohingegen die Deutschen stets nur die Opfer bildeten. Man mag diesen beklagenswerten Verzicht auch nur eines Anflugs von Selbstkritik mit der emotionalen Realität der deutschen Volksgruppe in Polen im Herbst 1939 erklären, vielleicht auch entschuldigen. Aber Hand in Hand mit solcher subjektiven Betroffenheit ging das Faktum, daß dieser Bericht des Generalsuperintendenten D. Blau an Prof. Keller, einen führenden Okumeniker, gerichtet war. Und das Kirchliche Außenamt in Berlin versandte dann diesen Text an sämtliche deutsche evangelische Landeskirchen "zur Kenntnisnahme und mit der Anheimgabe weitgehender Verbreitung" 48 . Auch das geschah. Die Kirchenzeitungen berichteten monatelang, bis weit in das Jahr 1940 hinein, mit immer neuen Einzelheiten - und Wiederholungen - von den polnischen Greueltaten. Auch die "Junge Kirche", also das Organ der Bekenntnisfront, folgte wortreich dem offiziellen nationalsozialistischen Kurs 49 . Dazu gehörte, daß Pfarrer Kappel in Heft 18 dieses Blattes vom 16. September 1939 schreiben konnte: "Wer deutsch geboren ist, kann nicht in polnischer Sprache beten [...] So wie Leib und Seele im Menschen untrennbar verbunden sind, so geht für uns Deutschtum und evangelischer Glaube ineinander auf, so daß wir eins vom anderen nicht trennen können. Darum halten wir 48

EBD.

49

Vgl. JK 7, 1939, S. 740-745; 757f.; 781-784; 806f.; 832-848; 859-862; 874-876; 881-883; 931933; JK 8 1940, S. 82-84; 114f.; 130-135; 179-190; 452-464; 560.

Der deutsche Protestantismus in Polen

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eine volksverschiedene Ehe ebenso für unrecht wie eine glaubensverschiedene Ehe, weil die innerste Verbundenheit im tiefsten Grunde dabei fehlt." Und weiter, in eindeutiger Verdrehung des Pauluswortes in sein Gegenteil: "Auch wenn ein Deutscher den Deutschen ein Deutscher und den Polen ein Pole sein soll, so gilt das nur in Ausnahmefällen, in Notfällen, und vor allem muß der Deutsche selbst ein Deutscher bleiben. Jede beabsichtigte oder unbewußte Umvolkung ist und bleibt in der evangelischen Kirche ein Unrecht." 50 Solche und ähnliche Auslassungen von deutschen evangelischen Pfarrern aus Polen belegen, daß sie nicht nur - was nahe lag - an der monatelangen Berichterstattung über die polnischen Ausschreitungen im September 1939 in hohem Maße beteiligt waren, sondern dabei auch eindeutig an einer zunehmenden Generalisierung der Vorwürfe und der Verschärfung des Tones mitgewirkt haben. Johannes Horst 51 z.B., Direktor der Theologischen Schule in Posen, wußte ausdrücklich von keiner Freundlichkeit und nicht von der geringsten Menschlichkeit polnischer Soldaten zu berichten, wohl aber ausführlich von "wutverzerrten Gesichtern, voller abgrundtiefem, teuflischem Haß [...], der in der Tat nicht nur zu Drohungen, sondern zu scheußlichem Mord und gräßlichen Verstümmlungen völlig wehrloser Gefangener fähig ist" 52 . Der schon genannte Richard Kammel hatte 1939 in Posen einen Band mit Erlebnisberichten ediert, der bald in der vierten Auflage vorlag 53 . In erweiterter Form erschien dieses Gedenkbuch 1940 in Berlin 54 . Hier trugen nun durchgängig die Polen die Schuld an dem Geschehenen, wurden sie generell als "blutdürstig", "sadistisch", "vor Haß schäumend", "mordlüstern" usw. charakterisiert 55 . Jetzt ist auch von "polnischen Untermenschen" die Rede, und es begegnet die offizielle deutsche Lesart von mindestens 58.000 Toten, die vermutlich Hitler selbst verfügt hatte 56 . Schlimmer noch: Uber die schrecklichen deutschen Racheakte, die vor allem Unschuldige trafen, hieß es lediglich: "Wir begreifen den deutschen Grimm gegenüber dem Volk, das das getan hat." 57 Und auch Blau unterstrich in sei-

50

DEUTSCHES VOLKSTUM UND EVANGELISCHER GLAUBE IN POLEN, S. 7 4 0 - 7 4 5 .

51 JOHANNES HORST: In Polen verschleppt. Ein Erlebnisbericht. Berlin 1939. 52 Zitate EBD., S. 12; 6f. 53 RICHARD KAMMEL: Er hilft uns frei aus aller Not. Erlebnisberichte aus den Septembertagen 1939. Posen 1939. 54 RICHARD KAMMEL: Kriegsschicksale der deutschen evangelischen Gemeinden in Posen und Westpreußen. Ein Gedenkbuch an die Septembertage 1939. Verlag des Evangelischen Bundes. Berlin 1940. 55 Zitate EBD., S. 28; 37; 86f. 56 EBD., S. 35; 100. Diese Zahl galt seit dem Frühjahr 1940. Vgl. auch JK 8, 1940, S. 131. 57 R. KAMMEL, Kriegsschicksale (Anm. 54), S. 93.

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nem Vorwort wohl, daß er nicht anklagen oder richten wolle, sondern nur Tatsachen festhalten: Aber diese Überlegung mündete nicht in eine Mahnung zur Versöhnung, sondern in den Dank für die "Großtat des Führers" für die "Schaffung eines neuen Deutschlands" 58 . In den ersten Septembertagen 1939 hatte Blau in einem Telegramm Hitler "in heißer Dankbarkeit als ihren Erretter von polnischer Gewaltherrschaft" gefeiert 59 . A m 8. September veröffentlichte der Generalsuperintendent ein Wort an seine Gemeinden, in dem es hieß: "Evangelische Glaubensgenossen! Das Wunder ist geschehen! Eure Träume sind Wirklichkeit geworden, eure Hoffnungen haben sich erfüllt, eure Gebete sind von Gott erhört." 60 Nüchterner klang am 3. Oktober Blaus Aufforderung an die Pfarrer, am Evangelium festzuhalten und keine Parteiungen zuzulassen, obwohl dann auch hier der stolze Jubel mitschwang, "daß wir wieder die volle Lebensgemeinschaft mit unserem ganzen Volke gefunden haben und wieder in das Reich zurückkehren dürfen, von dem getrennt zu sein unser Schmerz war" 6 1 . Die Begeisterung und der Uberschwang der ersten Wochen sind bewußtseinsmäßig nur zu verständlich. Aber die Wiederholung solcher Wendungen und vor allem die sich - wie erwähnt - auch seitens der Kirchenleute und Pfarrer radikalisierende Berichterstattung über die polnischen Greuel bis weit in das Jahr 1940 hinein offenbaren doch eine bemerkenswerte Selbstgerechtigkeit, gepaart mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Polen. Nicht nur die Einsatzgruppen mordeten hemmungslos, sondern ebenso Angehörige der Wehrmacht und vor allem der "Volksdeutsche Selbstschutz", dessen Wüten schließlich selbst Heydrich zu viel wurde 62 . Und diese Verbrechen ereigneten sich keineswegs nur in der Erregung der ersten Kriegstage, sondern sie setzten sich Woche um Woche überall im Land und in aller Öffentlichkeit fort. Wenn die deutschen Protestanten dagegen die polnischen Verbrechen ins Feld führten, verglichen sie offenkundig - und zwar zunehmend - Unvergleichbares miteinander. Man mag vermuten, daß sie mit solchen fortgesetzten Beschwörungen der Schuld der anderen Seite das eigene Gewissen beruhigen wollten. Faktisch jedoch förderten die deutschen evangelischen Kirchenführer zumindest indirekt durch ihr Schweigen die deutschen Untaten. Sie deckten zu, was eine Kirche, die

3f.

58

EBD., S.

59

POSENER EVANGELISCHES KIRCHENBLATT 1 8 , 1 9 3 9 / 4 0 , S. 33f.

60

J K 7, 1939, S. 758.

61

EBD., S. 870-872.

62 Vgl. dazu die in Anm. 46 genannte Literatur.

Der deutsche Protestantismus in Polen

421

"der Seele des Volkes dienen" wollte - wie Blau am 12. Oktober 1939 nach Berlin schrieb63 - , gerade nicht zudecken durfte. Doch es blieb nicht bei der indirekten Kooperation. Bereits im Oktober bildete Kleindienst zusammen mit Pfarrern und Laien aus Lodz eine Vorläufige Leitung der Evangelisch-Augsburgischen Kirche, die dann der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union angegliedert wurde64. In der ersten Verlautbarung des neuen Führungskreises, die sich "An alle deutschen Lutheraner im ehemaligen Polen" wandte, hieß es sehr selbstbewußt: "Mit dem polnischen Staat ist auch das Warschauer polnische Konsistorium - das kein Deutscher gewählt hat, die Synode - die von keinem Deutschen beschickt wurde, und der Bischof - dem kein Deutscher seine Stimme gegeben hat - gefallen. Die Zeit der ungehinderten Polonisierung deutscher Menschen in der eigenen Kirche hat ein Ende genommen!" Und weiter: "Wir haben viel Schweres von den Polnisch-Evangelischen erlebt, wollen uns aber nicht hinreißen lassen, ihnen das Schwere zu vergelten, indem wir sie beherrschen. Wir bauen uns deshalb unsere Deutsche Evangelisch-Augsburgische Kirche getrennt von der Polnisch-Evangelischen auf." 65 Verzicht auf Vergeltung - das bedeutete hier, zynisch genug, die evangelischen Polen ihrem Schicksal zu überlassen! Die Bildung des Warthegaus und seine Eingliederung in das Großdeutsche Reich im Oktober 1939 hatte u.a. zur Folge, daß die kirchliche Zuständigkeit des nunmehrigen Oberkonsistorialrates D. Kleindienst auf die "Abteilung Ost" mit Sitz in Lodz des Warthegaus eingegrenzt wurde, die deutsche evangelische Kirche im Generalgouvernement Polen somit einer anderen Leitung unterstand. Davon wird noch zu berichten sein; ebenso von der besonders harschen und rücksichtslosen nationalsozialistischen Kirchenpolitik in jenem Warthegau. Zunächst ist nur festzuhalten, daß Kleindienst mit Entschiedenheit den offiziellen Kurs unterstützte, wonach nur Volksdeutsche evangelische Pfarrer, die überdies "nicht gegen die Interessen des Volksdeutschtums verstoßen" hatten, im Amt bleiben durften66. Recht kühl beantwortete Kleindienst in diesem Sinn am 13. März 1940 eine besorgte Anfrage von Siegmund-Schultze67. Das Mißtrauen des Auslands sei völlig unbegründet. Irgendeine Behinderung der kirchlichen Arbeit finde nicht statt, auch nicht bei den evangelischen Polen. Vielmehr hätten sich überall "ohne den geringsten Druck" - die allermeisten Gemeindeglieder - "mit sehr

63

W i e A n m . 59.

64 J K 8, 1940, S. 19f. 65

EBD.

66

Verfügung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 6.3.1940. In: J K 8, 1940, S. 163f.

67

EZA BERLIN, 5/935.

422

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geringen Ausnahmen" - als Deutsche erklärt. Das sei auch nicht weiter verwunderlich, nachdem erst einmal die polnischen Verfolgungen bis hin zu den Septembermorden der Vergangenheit angehörten. "Alle, die in ihren Adern deutsches Blut verspüren, haben sich nun von dem polnischen Anstrich restlos gelöst; darauf ist zurückzuführen, daß die Zahl der polnischEvangelischen wie der Schnee in der Märzsonne zurückgeht." Sollte Kleindienst verborgen geblieben sein, daß allein aus der Diözese Kaliesz, die zu seinem Amtsbereich gehörte, mehrere hundert protestantische Polen in Konzentrationslager verschleppt wurden, weil sie sich nicht als Deutsche einschreiben lassen wollten?68 Erfuhr er nichts davon, daß man im Teschener Land, in Oberschlesien, vor allem aber in Posen und Pommerellen die polnischen evangelischen Pastoren sofort verhaftete und deportierte? Es klingt wie Hohn, wenn Kleindienst Ende März 1940 auf der ersten deutschen Pfarrerkonferenz in Lodz als obersten Grundsatz ausgab: "Nie wieder werde sich wie früher unter Generalsuperintendent D. Bursche die Kirche zu politischen Zwecken mißbrauchen lassen. Kirche ist Kirche und soll nur Kirche sein und bleiben." 69 Auch im Generalgouvernement waren die deutschen evangelischen Pfarrer bereit zur Mitarbeit an der Durchsetzung der nationalsozialistischen Volkstumspolitik. In Krakau, wo der Generalgouverneur Dr. Hans Frank residierte, war der dortige Pastor Emil Ladenberger Vertrauensmann für die evangelischen Kirche. Deren Leitung wurde im Februar 1940 vom Kirchlichen Außenamt Pfarrer Waldemar Krusche übertragen. Der steuerte zunächst - übrigens mit der Zustimmung von Frank - einen relativ zurückhaltenden Kurs im Blick auf die Eindeutschung der Evangelischen70. Krusche war überzeugt, daß die überwältigende Mehrheit dieser Menschen sich freiwillig für Deutschland und den Protestantismus entscheiden würde, wenn man ihnen nur Zeit ließe. Anders beurteilte er jedoch die Pfarrerschaft. Von den 21 evangelischen Pastoren im Generalgouvernement bezeichnete Krusche auf einer Sitzung in Berlin am 14. Mai 1940 lediglich sechs als eindeutig deutsch, die deshalb auch als Pfarrer übernommen werden könnten. Neun galten ihm als unsichere Kantonisten, die sich "erst noch als Deutsche bewähren" müßten - und die übrigen sechs hätten aus dem deutschen Pfarrdienst auszuscheiden71.

68

A Ö R , Schweizer Evangelischer Pressedienst vom 12.12.1945, Bl. 2f. Danach auch das Folgende. Die Quelle sind die Polish Protestant Chaplain's News.

69

KIRCHENARCHIV HAMBURG, B X V I a 253: Ostdeutscher Evangelischer Pressedienst, 5.4.1940.

70

Vgl. dazu den Bericht vom 16.11.1940. In: J K 8, 1940, S. 593f.

71

EZA BERLIN, 5/944.

Der deutsche Protestantismus in Polen

423

Wie repräsentativ die Haltung dieser kirchlichen Führungsgestalten für die Mentalität des deutschen Protestantismus in Polen vom Herbst 1939 bis zum Frühjahr 1940 gewesen ist, läßt sich nicht sagen. Wohl aber kann man rückblickend feststellen, daß in diesen Monaten vielleicht noch die Chance bestanden hätte, öffentlich andere Akzente zu setzen. Das hätte möglicherweise das moralische Ansehen des Protestantismus in Polen gehoben. Doch es blieb, jedenfalls was die deutschen Evangelischen anbelangt, während dieser Monate bei der geschilderten Mischung aus indirekter und direkter Kooperation mit den deutschen Machthabern.

in. Nach den Vorstellungen des schon genannten Pastors Dinkelmann vom März 1940 72 sollten die Beziehungen zwischen Staat und Kirche im Warthegau durch die Heranziehung von Persönlichkeiten, die überzeugte Christen und Nationalsozialisten waren, auf allen Ebenen, vor allem aber der kirchlichen, neu gestaltet werden. Die Kirchenleitungen und die Mehrheit der deutschen Pastoren hegten zu diesem Zeitpunkt - wie wir sahen - kaum noch solche naiven Illusionen. Aber von einem mehr oder weniger friedlichen Nebeneinander von Staat und Kirche gingen die allermeisten doch wohl aus. Sie waren, wie geschildert, auch bereit, das Ihre dazu beizutragen. Und schließlich nahmen sie vertrauensvoll die Begrüßungsworte des neuen Generalgouverneurs des Generalgouvernements sowie des Gauleiters des Warthegaus ganz ernst, also von Dr. Hans Frank und Arthur Greiser. Während Frank jedoch die deutsche evangelische Kirche in seinem Gebiet mehr oder weniger sich selbst überließ, setzte Greiser sogleich alles daran, sein Territorium auch im Blick auf die Kirchen zu einem "Mustergau" umzugestalten. Die ursprünglichen Pläne, alle Deutschen in den Warthegau umzusiedeln, konnten nicht verwirklicht werden. Es blieb deshalb auch in kirchlicher Hinsicht bei provisorischen Regelungen, an denen man jedoch seit 1942 trotz des politischen Drucks vor allem aus Posen festhielt. Die Lage der Kirche im Generalgouvernement - natürlich nur der deutschen - gestaltete sich insofern durchgängig erheblich besser als im Warthegau. Der dortige Kurs wurde mit höchster politischer Unterstützung gesteuert, nämlich von Himmler, Bormann - und dahinter von Hitler selbst. Die Einzelheiten können in diesem Zusammenhang auf sich beruhen73. Nur so

72

Vgl. dazu oben Anm. 43.

73

Vgl. K. MEIER, Kirchenkampf. Bd. 3 (Anm. 42), bes. S. 114-133; M. BROSZAT, Polenpolitik (Anm. 45); BERNHARD STASEWSKI: Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im Warthegau 1939-1945. In: V Z G 7, 1959, S. 46ff.; PAUL GÜRTLER: Nationalsozialismus und evangelische

424

Martin Greschat

viel: Seit Ende Februar 1940 wußte die Kirchenleitung in Posen, daß Greiser gegen sie und überhaupt gegen die Stellung sowie den Einfluß der Kirchen in seinem Gau angehen würde. Schritt um Schritt folgten alsbald die Einengungen und gezielten Unterdrückungsmaßnahmen: das Verbot, Beiträge zu erheben und kirchliche Sammlungen durchzuführen; das Verbot der Tätigkeit von Laien außerhalb der Kirche; das Verbot von Gottesdiensten in Privaträumen; die Beschlagnahmung von kirchlichen Gebäuden und Anstalten der Inneren Mission; das Verbot, weiterhin den Namen "Konsistorium" zu führen, was faktisch die juristische Auflösung der Kirchenleitung bedeutete. Den Höhepunkt dieser Drangsalierungen bildete die Verordnung vom 13. September 1941 74 . Dadurch wurden die Kirchen auf die Ebene von privatrechtlichen Vereinen zurückgestuft; Mitglied konnten nur im Warthegau lebende Deutsche werden - und zwar aufgrund einer persönlichen Eintrittserklärung bei Volljährigkeit. Die Kirchen waren natürlich nicht bereit, diese Maßnahmen stillschweigend hinzunehmen. Die Leitung der evangelischen Kirche reagierte in dreifacher Weise: 1. Mit Protesten, vor allem in der Form von Eingaben an staatliche Stellen; 2. durch verstärkte Bemühungen um den religiösen und kirchlichen Zusammenhalt der Gemeinden; 3. schließlich durch die Verteidigung und teilweise sogar die Förderung von Widersetzlichkeiten gegen die staatlichen Anordnungen. Seine erste größere Eingabe richtete Blau am 21. Oktober 1940 an den Reichsstatthalter 75 . Seit dem Dezember habe man ihm, klagte der Generalsuperintendent, keine Gelegenheit gegeben, seine Sorgen über die natinalsozialistische Kirchenpolitik vorzutragen. Die knappe Mitteilung am 4. September 1940, wonach "die Idee des nationalsozialistischen Staates die Trennung von Kirche und Staat erfordere", habe ihn zutiefst erschüttert. Natürlich sei ihm sehr bald klar geworden, daß Greiser die Zusammenarbeit von Staat und Kirche nicht wünsche. Aber was er nun anstrebe, sei ein völliges Novum. Keine staatliche Stelle habe sich jemals seit 1933 in diesem Sinn öffentlich geäußert. "Wenn es bekannt wird, daß die Idee des nationalsozialistischen Staates die Trennung von Staat und Kirche fordert, so wird das deutsche evangelische Volk im Innersten getroffen." Angesichts der "geschichtlichen Bedeutung" eines solchen Vorhabens müsse er offiziell mit allem Nachdruck davor warnen. Gleichzeitig äußerte Blau die Bitte, dieses Kirche im Warthegau (AGK. 2). Göttingen 1958; EDUARD KNEIFEL: Die Evangelische Kirche im Wartheland-Ost (Lodz). Vierkirchen 1976. 74

VERORDNUNGSBLATT DES REICHSSTATTHALTERS IM WARTHEGAU Nr. 30, 13.9.1941, S. 463465.

75

E Z A BERLIN, 2/156.

Der deutsche Protestantismus in Polen

425

Projekt bis zum Ende des Krieges zurückzustellen und im Warthegau keine Sonderregelungen gegenüber den Kirchen im übrigen Deutschland sowie gegenüber den Katholiken einzuführen. Blaus letzte große Eingabe vom Sommer 1944 war an den Reichsinnenminister und Reichsführer SS Heinrich Himmler gerichtet 76 . Die Behandlung der Kirche durch die politische Führung im Warthegau habe eine Lage geschaffen, in der die Möglichkeiten, in diesem Gebiet "eine befriedigende oder auch nur erträgliche Lösung zu finden, für uns erschöpft sind", formulierte Blau in seinem Anschreiben. Faktisch bestimme die Gestapo nach ihrem Ermessen über die Art und den Umfang der kirchlichen Arbeit. Mit alledem werde von außen ein fremder Geist in den traditionell engen Zusammenhang von evangelischer Kirche und deutschem Volkstum getragen. Das müsse sich verhängnisvoll auswirken und sei deshalb aufs schärfste zurückzuweisen. Doch sollten die Verantwortlichen für diesen Kurs sich nicht der Illusion hingeben, daß sie damit bei der einheimischen oder der umgesiedelten Bevölkerung Erfolge erzielen könnten. Auf dieser Linie bewegte sich die Argumentation der gesamten Denkschrift, die zuletzt in die Forderung mündete, alle gegen die Kirche gerichteten Maßnahmen zurückzunehmen. Unmißverständlich wurde dem Adressaten wieder und wieder klargemacht, daß er auf seinem Wege nicht nur die angestrebte Volksgemeinschaft nicht würde realisieren können, sondern daß er auch nicht stark genug sei, mit seinen Maßnahmen die Bindung der Bevölkerung an den christlichen Glauben und die Kirche zu zerstören. "Unsere Gemeinden stehen hinter uns, ebenso die Geistlichen. Das kirchliche Leben hat sich behauptet. Austritte sind kaum erfolgt. Die Umsiedler kommen zu uns. Wir haben etwa 55 neue Geistliche aus dem Baltikum und den anderen Umsiedlungsgebieten erhalten, lauter Männer, denen es ebenso wie uns Volksdeutschen aus polnischer Zeit - zur selbstverständlichen Pflicht geworden war, für Kirche und Volkstum einzustehen, beides als Eines zu verteidigen." 77 In einem ausführlichen Schreiben stimmte Kleindienst am 5. September 1944 dieser Denkschrift ausdrücklich zu 78 . Womöglich noch stärker, noch schärfer unterstrich er die innere Bindung der Menschen in seiner Region an die evangelische Kirche. Als das Ergebnis von vier Jahren offizieller Einengung und Bedrückung konstatierte er: "Die Kirche im Wartheland hat nicht nur den geforderten Beweis ihrer Lebenskraft und ihrer Daseinsberechtigung erbracht, sondern ist geradezu innerlich erstarkt und im Bewußtsein der 76 Anschreiben vom 12.7.1944 und Text der Denkschrift EBD. 77

EBD., S.6.

78

EBD.

426

Martin Greschat

deutschen Bevölkerung des Warthegaues zu einer unentbehrlichen und unersetzlichen Einrichtung, ja Fügung Gottes geworden. Dieses beweisen die überfüllten Kirchen nicht nur an hohen Festtagen, sondern ebenso an gewöhnlichen Sonntagen, selbst in den Nebengottesdiensten am Morgen und Abend, die ständig im Wachsen begriffene Zahl der Taufen, Konfirmationen und Abendmahlsfeiern. Äußerlich tritt diese Haltung der Bevölkerung darin deutlich zutage, daß die Kirchenaustritte, trotz der anhaltenden Propaganda für den Austritt, ständig abnehmen. Es ist eine erwiesene Tatsache, daß das Volk im Warthegau die Kirche will und sie in ihrer hergebrachten Form bejaht." Im gleichen Sinn protestierte die katholische Kirche durch den Apostolischen Administrator für die deutschen Katholiken im Wartheland, P. Hilarius Breitinger 79 . Er machte in seiner Eingabe allerdings auch Front gegen die Art und Weise, "wie in kirchlicher Beziehung Deutsche und Polen von einander getrennt sind, weil durch diese Maßnahmen katholische wesentliche Auffassungen und seelsorgerliche Pflichten empfindlich getroffen werden". Sicherlich war auf der evangelischen Seite die Aufspaltung in polnische und deutsche Gemeinden schon längst viel weiter vorangeschritten. Aber nachdenklich machen muß doch, daß die Frage eines solchen kirchlichen Zusammenhalts für die Evangelischen im Warthegau offenkundig kein Problem darstellte. Das Kapital dieser Kirche waren die Treue, Entschiedenheit und Zuverlässigkeit ihrer Glieder. Die Kirchenleitung setzte alles daran, diese Haltung zu stabilisieren - durch Predigten, persönliche Ansprachen, Rundschreiben an alle Gemeinden 80 . Doch man stärkte auch den aufbegehrenden Christen den Rücken, die sich ihre Gottesdienste in Privathäusern oder den Konfirmandenunterricht nicht nehmen lassen wollten, und warnte die staatlichen Stellen vor der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung81. Damit nicht genug: Zumindest einzelne Pastoren widersetzten sich den nationalsozialistischen Verordnungen, wobei sie sich bisweilen - bezeichnenderweise - auf ihren früheren Widerstand gegen Bursches Politik beriefen. In der Sitzung des Synodalrates in Lodz/Litzmannstadt am 19. September 1941 erklärte z.B. Pastor Kneifel im Blick auf die Verordnung vom 13. September, er empfinde "die Verordnung schlimmer als die Regelung des polnischen Generalsuperin-

79 Entwurf vom 5.8.1944 (EBD.). 80 Vgl. z.B. Ostdeutscher Evangelischer Pressedienst vom 13.9.1940, 3.1.1941 u.ö. (vgl. Anm. 69). Text der Botschaft für den Reformationsgottesdienst am 2.11.1941: ARCHIV DES DLAKONISCHEN WERKES BERLIN, C A 2 3 1 9 / 2 5 .

81 So z.B. in den Eingaben aus Lodz/Litzmannstadt vom 4. und 18.11.1943 anläßlich des Vorfalls in Welun: EZA BERLIN, 2/156.

Der deutsche Protestantismus in Polen

427

tendenten Bursche. Er hält eine grundsätzliche Ablehnung der ganzen Verordnung für richtig"82. Wenige Tage später äußerte sich Kleindienst einem hohen deutschen Verwaltungsbeamten gegenüber "mit starker Erbitterung" über die antikirchlichen Maßnahmen der letzten Monate und betonte, speziell im Blick auf das Verbot, konfessionellen Unterricht zu erteilen: "Als er von diesem Erlaß Kenntnis erhalten habe, habe er sofort alle seine Geistlichen angewiesen, ohne Rücksicht auf das staatliche Verbot Konfessionsunterricht und Konfirmandenunterricht weiter zu erteilen, da es sich hier um völlig unaufgebbare Anliegen der Kirche handle."83 Wandelte sich aufgrund dieser veränderten Einstellung führender deutscher evangelischer Pfarrer gegenüber den nationalsozialistischen Behörden auch das Verhältnis zu den Polen insgesamt oder speziell zu den polnischen Protestanten? Die vorliegenden Quellen sind nicht eindeutig, aber sie lassen doch vielleicht etwas in dieser Hinsicht erahnen. Sicherlich handelte es sich bei dem Verhalten des Superintendenten Arthur Rhode, dessen "Polenfreundlichkeit" Greiser ein Greuel war 84 , nicht um einen beispiellosen Sonderfall. Als Kleindienst 1946 in Warschau auf seinen Prozeß wartete - der bekanntlich mit Freispruch endete - , bezeugten nicht nur Hans Asmussen und Martin Niemöller, daß er ein erbitterter Gegner der Nazis und "Anwalt aller Bedrückten und Verfolgten des Hitlerregimes" gewesen sei, sondern auch der polnische Pfarrer Michelis nannte ihn "absolut unschuldig", habe Kleindienst doch "oftmals sein eigenes Leben und seine Freiheit aufs Spiel gesetzt, indem er Michelis und andere polnische Pastoren in deutschen Gefängnissen besuchte" 85 . Darin spricht sich gewiß eine veränderte Einstellung aus. Handelte es sich dabei lediglich um die Zurückweisung der brutalen, menschenverachtenden nationalsozialistischen Herrschaftspraxis - die durchaus Hand in Hand gehen konnte mit dem Bewußtsein der eigenen Überlegenheit, im Sinne echter, wahrhaft deutscher Gesinnung? Oder vollzog sich in diesen schlimmen Jahren tatsächlich ein Bruch, eine Veränderung der alten Mentalität dahingehend, daß man im Polen oder doch im polnischen Protestanten wirklich zuerst den Mitchristen sah und dann erst den Vertreter der anderen Nationalität? Der politische und ideologische Gegner jedenfalls identifizierte deutsche und polnische Protestanten. In einer undatierten "Stellungnahme zu Dr. Neuhaus 'Protestantismus oder Volkstum"', einer Schrift, die hier "allen SS82

EZA BERLIN, 7/18.800, S. 2.

83

A k t e n v e r m e r k v o m 2 4 . 9 . 1 9 4 1 (EBD., S . 3 f . ) .

84

A. RHODE, Evangelische Kirche (Anm. 43), Teil 1, S. 4; Teil 2, S. 24.

85

Bericht Stewart Hermans vom 14.1. und 19.12.1946 (AÖR, General Correspondence, Bd.62).

428

Martin Greschat

und SD-Führern [...] zur ernsten Durcharbeit empfohlen" wird 86 , entfaltete der unbekannte Rezensent, daß der Protestantismus im Volkstumskampf in Polen restlos versagt habe. Das sei kein Zufall, sondern liege in dessen Wesen begründet, so daß es "im Falle einer kritischen Entscheidung immer wieder zum Versagen des Christentums" in dieser Frage kommen müsse. Die Gleichsetzung von evangelisch und deutsch sei prinzipiell falsch, weil das Christentum und in hohem Maße eben auch der Protestantismus ihrem Wesen entsprechend nur als "Ferment der Entnationalisierung" wirken könnten. "Die protestantische Kirche in Polen ist nicht am deutschen Volkstum als solchem interessiert, sondern an den Trägern ihres protestantischen Glaubens, die in Polen zufällig fast ausschließlich Deutsche gewesen sind." Das bedeutete aber: die Polonisierung des Protestantismus war in Polen nur folgerichtig, Bursches Weg allein also konsequent - was für unseren Autor natürlich alles Belege für den grauenerregenden Charakter der evangelischen Kirche bildeten. Folgerichtig habe sie "jede Existenzberechtigung in den seit dem Ende des Polenfeldzuges unter deutsche Verwaltung gekommenen ehemaligen polnischen Gebieten" verwirkt. Wohlgemerkt: hier ging es nicht um die polnische evangelische Kirche, sondern um den Protestantismus insgesamt. Dieser wurde generell als "der Totengräber und Henker des deutschen Volkstums" in Polen attackiert. Dementsprechend hätten nun die nationalsozialistischen Machthaber zu handeln. Hier standen polnische und deutsche Evangelische nun wirklich nebeneinander, auf der gleichen Ebene: als Angeklagte - und schon Verurteilte. Der weltanschauliche Gegner sah klar und scharf die prinzipielle Zusammengehörigkeit. Die Betroffenen ahnten sie damals - und Einzelne fingen an, wie vorsichtig auch immer, ihr Ausdruck zu verleihen.

86 BUNDESARCHIV, ABT. POTSDAM, BI-SD ZB-1/1390. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Herrn Dr. B. Krebs.

Nora Andrea Schulze "EIN ANDERER KURS F O R D E R T ANDERE MENSCHEN" 1 Von der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei zur Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland Auf seiner ersten Sitzung am 31. August 1945 in Treysa faßte der soeben von der Kirchenführerkonferenz berufene Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den Beschluß, die Leitung der Kirchenkanzlei Hans Asmussen zu übertraget. Die bisherige Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche (Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei = DEKK) wurde zu diesem Zeitpunkt kommissarisch von Heinz Brunotte geleitet und befand sich nach der Zerstörung des ehemaligen Dienstgebäudes in BerlinCharlottenburg am 15. Februar 1944 und der vorläufigen Verlegung nach Stolberg/Harz seit dem 19. Juni 1945 in Göttingeri*. Was in dem Beschluß des Rates nach einem einfachen Wechsel in der Leitung einer kirchlichen Behörde aussieht, hatte tatsächlich erheblich tiefgreifendere Dimensionen. Faktisch stand nicht die Leitung einer kontinuierlich weiterbestehenden Behörde, sondern diese selbst mit ihrer gesamten Belegschaft zur Disposition. Die in der Folge des Ratsbeschlusses entstandene Kontroverse zwischen Hans Asmussen und Heinz Brunotte läßt darüber hinaus deutlich werden, daß im Zuge des Vorgehens des Rates im Hinblick auf die DEKK letztlich das Verhältnis der EKD zu ihrer Vorgängerin, der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), und damit die unterschiedlichen Standpunkte bei der Beurteilung der jüngsten Vergangenheit und der Neuordnung der Gesamtkirche zu klären waren. 1

Votum Asmussens im Verlauf der Diskussion über die Beamten und Angestellten der Deutschen Evangelischen Kirche auf der 3. Sitzung des Rates der E K D am 13.12.1945 in Frankfurt/Main (CARSTEN NICOLAISEN/NORA ANDREA SCHULZE [Bearb.]: Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. I: 1945/46 [AKZG. A 5], Göttingen 1995, S. 123-214; hier: S. 133). Meiser entgegnete darauf: "Man kann nicht behaupten, dass die Angestellten den Kurs bestimmen".

2 3

Vgl. das Protokoll über die Sitzung des Rates EBD., S. 1-5; hier: S. 1. Vgl. dazu HEINZ BRUNOTTE: Der kirchenpolitische Kurs der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei. In: DERS.: Bekenntnis und Kirchenverfassung. Aufsätze zur Kirchlichen Zeitgeschichte (AKZG. B 3). Göttingen 1977, S. 51-54.

430

Nora Andrea Schulze

I. Noch in Treysa stellte der Vorsitzende des Rates der EKD und württembergische Landesbischof, Theophil Wurm, eine Beauftragung für Brunotte aus, die dessen Kompetenzen und die künftigen Aufgaben der in Göttingen befindlichen Kirchenkanzlei regelte4. Danach wurde Brunotte "bis zur Abwickelung der Angelegenheiten der Deutschen Evangelischen Kirche" stellvertretend mit der Führung der "Geschäfte der Göttinger Dienststelle der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei" beauftragt. Zusätzlich wurde festgestellt, daß er dem Rat gegenüber weisungsgebunden sei. Diese Beauftragung besiegelte in nuce bereits das Schicksal der bisherigen DEKK: Zunächst wurde sie, bisher die Kirchenkanzlei der DEK, zu einer Nebenstelle von einer - zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existenten und namenlosen - Kirchenkanzlei der EKD erklärt; weiter wurde sie von der obersten Verwaltungsbehörde zu einer Abwicklungsstelle; dementsprechend waren ihre Entscheidungskompetenzen ab sofort nur noch untergeordnet; schließlich wurde mit der vorläufigen Beauftragung bis zur Abwicklung der Angelegenheiten der DEK bereits ihr Ende in Aussicht gestellt. Damit aber konnte schon zu diesem frühen Zeitpunkt von einem einfachen Leitungswechsel kaum die Rede sein. Der offensichtliche Widerspruch zwischen dem Wortlaut des Ratsbeschlusses, der für eine bestehende Behörde einen neuen Leiter vorsah, und der Beauftragung Brunottes, die eben diese Behörde faktisch als abzuwickelnde Dienststelle definierte, ist eine direkte Folge der ebenso widersprüchlichen Formulierungen, mit denen die Vorläufige Ordnung der EKD 5 die Rechtsnachfolge der DEK bestimmt hatte, und symptomatisch für das Verhältnis der EKD gegenüber ihrer Vorgängerin überhaupt. Im Hinblick auf die Rechtsnachfolge der DEK hatte die Vorläufige Ordnung lediglich ein positiv nicht näher bestimmtes 'Bestreben' zum Ausdruck gebracht, "den Zusammenhang mit bestehenden Rechtsformen der EKD [müßte eigentlich heißen: DEK] zu wahren". Die "Erläuterungen" zur Vorläufigen Ordnung 6 hatten darüber hinaus festgestellt, daß mit dem von der Kirchenführerkonferenz beschlossenen "Wegfall der Verfassungseinrichtung der DEK von 19337" die "Rechtsnormen, [...] die seit 1933 für den Bereich der DEK gesetzt wurden", nicht einfach ungültig werden sollten. Schließlich war ein Ausschuß in Aussicht gestellt worden, "der zu prüfen und zu entscheiden hat, 4

Das von W u r m unterzeichnete Original dieser Beauftragung vom 31.8.1945 befindet sich im E v . ZENTRALARCHIV IN BERLIN ( i m f o l g e n d e n : E Z A BERLIN), 2 / 7 4 .

5

VERORDNUNGS- UND NACHRICHTENBLATT DER E K D N r . 9, M ä r z 1946.

6

EBD.

7

Gemeint ist die Verfassung der DEK vom 14.7.1933 (GESETZBLATT DER DEK 1933, S. 2-6).

"Ein anderer Kurs fordert andere Menschen"

431

welche Rechtsnormen eine bekenntnismäßig geordnete EKD nicht anzuerkennen vermag" 8 . Während es die Vorläufige Ordnung also noch unterlassen hatte, das rechtliche Verhältnis der EKD zur bisherigen DEK in allen Konsequenzen positiv auszuformulieren, war die EKD damit jedoch faktisch als Nachfolger der DEK installiert worden. Ebenso widersprüchlich wurde dann auch das in der Vergangenheit gesetzte Recht der DEK behandelt: Einerseits sollte es prinzipiell übernommen werden, andererseits aber konnte dieses Recht jederzeit unter dem leitenden Interesse der Bekenntnismäßigkeit, dem sich alle künftigen Planungen für den Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landeskirchen zu unterwerfen hatten, abgeändert oder außer Kraft gesetzt werden. Entsprechend verhielt sich der Rat als oberstes und einziges Organ der EKD gegenüber der DEKK: Einerseits wurde diese höchste Verwaltungsbehörde der bisherigen DEK nominell zur Kirchenkanzlei der EKD, die vom Rat jetzt einen neuen Leiter erhielt; andererseits jedoch wurde die tatsächlich bestehende Kirchenkanzlei keineswegs einfach übernommen, sondern innerhalb von wenigen Monaten zu einem großen Teil 'abgewickelt'. Wenn der 'Göttinger Stelle1 als Hauptaufgabe die "Abwickelung der Angelegenheiten der Deutschen Evangelischen Kirche" übertragen worden war, so betraf diese Abwicklung nahezu ausschließlich die Beamten und Angestellten der bisherigen DEK. Obwohl sich von den ursprünglich 55 Beamten und Angestellten, die 1939 in der Kirchenkanzlei tätig gewesen waren, im Juli 1945 tatsächlich nur noch ein verschwindend kleiner Teil in Göttingen befand 9 , fielen doch sämtliche Beamte und Angestellte der bisherigen DEK jetzt in die Zuständigkeit der EKD, d.h. auch die nicht im Dienst befindlichen Mitarbeiter, Ruheständler und Witwen; die "Liste der Beamten und Angestellten der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei, des Archivamtes und des Kirchl. Aussenamtes" vom 15. November 1945 nennt dazu insgesamt 74 Personen 10 . So eindeutig die Zuständigkeit für diesen Personenkreis jetzt bei der EKD lag, so wenig war diese jedoch gewillt, die früheren Zustände fortzuführen und den gesamten Apparat einfach zu übernehmen. Ausschlaggebend dafür waren nicht nur die akuten Finanznöte, sondern vor allem die Ablehnung des bisherigen Kurses der DEK und die kir8

Einen entsprechenden Ausschuß setzte der Rat der EKD dann auf seiner 2. Sitzung am in Stuttgart ein ( C . N I C O L A I S E N / N . A . SCHULZE, Protokolle I [Anm. 1], S. 27-37; hier: S. 32). 9 Außer Brunotte Oberkirchenrätin Dr. Schwarzhaupt als juristische Referentin, Oberkonsistorialrat Dr. Steckelmann als Finanzreferent, Frau Jahn für die Kasse, Frau Trübe für die Registratur, Frau Hoevermann, Rosemarie und Karin Buttmann für sonstige Kanzleiarbeiten (vgl. dazu das Schreiben Brunottes an Heckel vom 25.7.1945: EZA BERLIN, 2/69). 10 Abdruck der Liste: C . N I C O L A I S E N / N . A . SCHULZE, Protokolle I (Anm. 1), S. 240ff. 18./19.10.1945

432

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chenpolitische Vergangenheit vor allem von einigen der leitenden Beamten und Angestellten der DEK. Auch im Hinblick auf den Personalbestand der DEK findet sich also die bereits erwähnte Widersprüchlichkeit: Einerseits trat die EKD als Dienstherr in die Nachfolge der DEK, andererseits behielt sie sich das Recht vor, diesen Personalbestand in erheblichem Umfang zu reduzieren und das Dienstverhältnis mit kirchenpolitisch belasteten Beamten und Angestellten zu beenden. Als problematisch erwies sich dabei jedoch die Tatsache, daß zu diesem Zeitpunkt für das zwingend erforderliche Vorgehen weder eindeutig formulierte Maßstäbe noch klar definierte rechtliche Grundlagen vorhanden waren. Entsprechend kam es auf den ersten beiden Sitzungen des Rates dann auch nur zu vorläufigen Einzelregelungen11. Was nun die künftige Rolle der Göttinger Stelle der Kirchenkanzlei bei der Neuordnung der EKD anging, so war diese durch den Beschluß auf der ersten Sitzung des Rates und die Beauftragung Brunottes tatsächlich noch keineswegs geklärt. Wegen der großen Unregelmäßigkeiten und Schwierigkeiten beim Postverkehr war ein ungehinderter und zuverlässiger Austausch von Informationen zwischen dem in Schwäbisch Gmünd befindlichen Asmussen12 und der Kirchenkanzlei in Göttingen kaum möglich; zudem wartete Brunotte vergeblich auf einen Besuch Asmussens, bei dem die anstehenden Fragen in einem persönlichen Gespräch hätten geklärt werden können 13 . Dieser mangelnde Informationsaustausch führte dann auch zu verschiedenen Unklarheiten bei den Vorbereitungen zur zweiten Sitzung des Rates. Im Vorfeld dieser Sitzung stellte Asmussen in Schwäbisch Gmünd eine Tagesordnung auf14, aber auch Brunotte machte von Göttingen aus Vor-

11

So wurden z.B. auf der 1. Sitzung am 31.8.1945 in Treysa Heckel, Wahl und Gisevius zunächst in den Ruhestand versetzt (EBD., S. 3); am 18./19.10.1945 faßte der Rat in Stuttgart dann den sehr offenen Beschluß: "Bei den führenden Persönlichkeiten bisheriger Kirchenbehörden ist folgendes Verfahren zu beobachten: Es soll durch persönliche Rücksprache versucht werden, sie zum freiwilligen Verlassen ihres bisherigen Amtes zu veranlassen" (EBD., S. 27f.).

12

Zunächst war allerdings noch geplant, die Kirchenkanzlei der E K D vorläufig in Stuttgart anzusiedeln (vgl. dazu das Schreiben Wurms an das Städtische Wohnungsamt Stuttgart vom 21.8.1945 und das Schreiben des Stuttgarter Organisationsamtes an den Evangelischen Oberkirchenrat Stuttgart vom 23.8.1945: LANDESKIRCHLICHES ARCHIV STUTTGART, Altreg. Gen 115b, IX).

13

Vgl. dazu das Schreiben Brunottes an Asmussen vom 3.10.1945, in dem es u.a. hieß, erst wenn der Postverkehr in Deutschland wieder vollständig hergestellt sei, könne "die neue Kirchenregierung richtig regieren" (EZA BERLIN, 2/74).

14

"Tagesordnung für die Sitzung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am .18. Oktober 1945 in Stuttgart"(C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I [Anm. 1], S. 26).

"Ein anderer Kurs fordert andere Menschen"

433

schläge für eine Tagesordnung15. In Göttingen herrschte zu diesem Zeitpunkt also noch nicht die Einschätzung, von den Geschäften der EKD in Zukunft ausgeschlossen zu sein 16 . Dafür spricht auch die Tatsache, daß Brunotte gemeinsam mit Schwarzhaupt und Steckelmann nach Stuttgart reiste, um an der Sitzung teilzunehmen und dem Rat u.a. einen Voranschlag für den Haushaltplan der EKD zur Beratung vorzulegen17. Es wurde jedoch weder jemand von ihnen zur Sitzung eingelassen, noch wurden die mitgebrachten Vorlagen beraten. Die aufgetretenen Unklarheiten veranlaßten den Rat, jetzt noch einmal "ausdrücklich" festzustellen, "dass das Mitglied des Rates P. Asmussen die Leitung der Kanzlei wahrzunehmen" habe18. Diesmal blieb es jedoch nicht bei einer einfachen Feststellung: Noch in Stuttgart erhielt Asmussen von Wurm eine Vollmacht, in der es hieß, daß "Pastor Hans Asmussen D D [...] als Leiter der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Rate der Evangelischen Kirche in Deutschland als der Vorläufigen Leitung bevollmächtigt" sei, "über die Gelder und die Vermögensgegenstände der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei zu verfügen" 19 . Damit wurden aber nicht nur - über die rein nominelle Berufung Asmussens zum Leiter der Kirchenkanzlei hinaus - erstmals konkrete Kompetenzen genannt, sondern vor allem eine Vollmacht zum konkreten Handeln gegenüber der Göttinger Kirchenkanzlei ausgestellt20. Die zweite Sitzung des Rates erbrachte jedoch mehr als nur eine Handlungsvollmacht für Asmussen: Vor allem kam es zu einer auch im Hinblick auf die Göttinger Kirchenkanzlei wichtigen Entscheidung über das Verhältnis des Rates der EKD zu den Organen der bisherigen DEK. In § 1 der "Ersten Ausführungsverordnung zur vorläufigen Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland" vom 19. Oktober 1945 hieß es dazu: "Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland leitet und verwaltet bis auf weiteres 15

"Vorschläge der D E K K in Göttingen für die Tagesordnung der Ratssitzung am 18.10." (EBD., S. 87).

16

Nach dem Schreiben Brunottes an Asmussen vom 10.12.1945 hat die D E K K in Göttingen dann auch tatsächlich "vor der Stuttgarter Sitzung noch im Rahmen der alten Befugnisse" weitergearbeitet, weil es zu keiner persönlichen Begegnung mit Asmussen gekommen war (EBD., S. 261-270; hier: S. 269).

17

Vgl. dazu das Schreiben Brunottes an Merzyn vom 7.2.1946 (EZA BERLIN, 2/778).

18

C . NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, P r o t o k o l l e I (ANM. 1), S. 3 6 .

19

Abdruck dieser Vollmacht EBD., S. 88.

20

Auf der zweiten Sitzung des Rates wurde außerdem hinsichtlich der Konstruktion der im Aufbau befindlichen Kirchenkanzlei der E K D eine weitere wichtige Entscheidung getroffen: Auf Antrag Dibelius' wurde die Einrichtung einer Zweitstelle der Kirchenkanzlei mit Sitz in Berlin beschlossen, die sich wegen der besonderen Erfordernisse in der sowjetischen Besatzungszone als notwendig erwiesen hatte (EBD., S. 59); damit gab es jetzt drei Dienststellen der Kirchenkanzlei.

434

Nora Andrea Schulze

die Evangelische Kirche in Deutschland. Er vereinigt insofern die Rechte und Pflichten der bisherigen Organe der Deutschen Evangelischen Kirche in seiner Hand". 21 § 2 wiederholte die bereits in der Vorläufigen Ordnung getroffene Regelung, daß das von der DEK "gesetzte Recht [...] vorbehaltlich einer vom Rat eingeleiteten Uberprüfung" weiter in Geltung stehe. Nach § 3 wurde dem Ratsvorsitzenden die Befugnis erteilt, "einzelne Gesetze oder Bestimmungen" des bisherigen Rechts der DEK "in Deutschland einstweilen außer Geltung zu setzen"; diese Befugnis erhielt für die sowjetische Besatzungszone der Leiter der Berliner Zweitstelle der Kirchenkanzlei. Obwohl die "Erste Ausführungsverordnung" damit oberflächlich betrachtet die EKD in ein eindeutigeres rechtliches Verhältnis zu ihrer Vorgängerin zu stellen schien, als es die "Vorläufige Ordnung" getan hatte, lag ihre Intention keineswegs darin, das grundsätzliche rechtliche Verhältnis zwischen EKD und DEK zu klären 22 ; tatsächlich regelte sie lediglich die Frage der Zuständigkeit hinsichtlich der Kompetenzen der bisherigen Organe der DEK, die nun dem Rat der EKD zugeschrieben wurden. Damit sollte dem Rat gegenüber den Landeskirchen eine zusätzliche und eindeutige Legitimation für sein aktuelles Handeln im Bereich der EKD verschafft werden. Allerdings war durch diese Verordnung insofern eine entscheidende Änderung der Lage eingetreten, als der Rat bei seinem künftigen Vorgehen gegenüber der Göttinger Kirchenkanzlei bzw. dem gesamten Personalbestand der bisherigen DEK jetzt darauf behaftet werden konnte, daß er mit den Rechten auch die Pflichten des früheren Dienstherrn übernommen hatte. II. Wenige Tage nach der Stuttgarter Ratssitzung reiste Asmussen in Begleitung von Superintendent Siegel nach Göttingen, um die DEKK zu übernehmen. Sozusagen 'amtliche' Auskunft über die Ereignisse am 23. und 24. Oktober 1945 geben das von Asmussen und Brunotte unterzeichnete Protokoll vom 24. Oktober 23 und das auf den gleichen Tag datierte Rundschreiben der Kirchenkanzlei der EKD an die Bischöfe, Landeskirchenregierungen und

21 22

VERORDNUNGS- UND NACHRICHTENBLATT DER EKD Nr. 9, März 1946. Entsprechend sah auch Smend die grundsätzliche "Frage, ob die EKD identisch ist mit der DEK von 1933 [...] mit der I. Ausführungsv[er]o[rdnung] nicht ausreichend geklärt"; die weitgehenden und äußerst problematischen Konsequenzen, die sich aus der Feststellung einer Rechtsidentität ergeben hätten, erörterte er ausgiebig in seiner "Stellungnahme zur Ersten Ausführungsverordnung zur Vorläufigen Ordnung der EKD" (C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I [Anm. 1], S. 290-294; hier: S. 290).

23

EBD., S. 109f.

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Bruderräte 24 . Nach diesem Protokoll legte Asmussen zu Beginn der Verhandlungen zunächst die "Erste Ausführungsverordnung" 25 und die ihm von Wurm ausgestellte Vollmacht 26 vor. Daraufhin stellte er Brunotte die Frage, ob er bereit sei, ihm die Kanzlei zu übergeben. Nachdem Brunotte diese Frage bejaht hatte, begannen die Verhandlungen über die in der Kirchenkanzlei beschäftigten Personen und noch vorhandenen Sachwerte. Uber die in den Einzelgesprächen mit den Mitarbeitern der Kirchenkanzlei getroffenen Regelungen wurden zusätzlich jeweils kurze Protokolle angefertigt, die die Mitarbeiter dann zu unterzeichnen hatten 27 . Anschließend entschied Asmussen, welche von den in Göttingen befindlichen Sachwerten - wie Maschinen und Möbel - mit nach Stuttgart zu nehmen seien. Schließlich einigten sich Asmussen und Brunotte noch auf eine Reihe von Einzelbestimmungen zur "Uberleitung der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei in die Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland". Von entscheidender Bedeutung war dabei die Feststellung, daß "die Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland unter der Leitung von D D Asmussen [...] Träger der Rechte und Pflichten" sei, die "bisher von der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei bzw. deren Leiter ausgeübt wurden". Die übrigen Bestimmungen regelten die Führung der Geschäfte der "Göttinger Amtsstelle" durch Brunotte, die Handhabung des Postverkehrs von der britischen in die amerikanische Zone und die Fortführung der Suchkartei für verschollene kirchliche Mitarbeiter. Das Rundschreiben der Kirchenkanzlei an die Bischöfe, Landeskirchenregierungen und Bruderräte begrenzte sich in seiner Darstellung lediglich auf das Faktum der Übernahme und die sich daraus für den Verkehr der Landeskirchen mit der Kirchenkanzlei ergebenden Konsequenzen; über das Protokoll hinaus wurde darin noch erwähnt, daß "Herrn Oberkonsistorialrat Brunotte und den anderen in Göttingen tätigen Beamten und Angestellten" der Dank "für die in Göttingen geleistete Arbeit und für die umsichtige Erhaltung der noch vorhandenen Sachwerte" ausgesprochen worden sei. Obwohl die offizielle Darstellung der Ereignisse vom 23. und 24. Oktober das Bild einer einvernehmlichen Einigung vermittelte, gelangte Brunotte schon kurz nach der Abreise Asmussens zu einer grundsätzlich 24 Asmussen berichtete auf der dritten Sitzung des Rates am 13./14.12.1945 in Frankfurt/Main, daß das Schreiben nicht abgesandt worden sei (EBD., S. 144); das Konzept dieses Schreibens trägt jedoch einen Absendevermerk vom 27. Oktober 1945 (EZA BERLIN, 2/65; EBD. auch die vervielfältigte Reinschrift; Abdruck: C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I [Anm.

IIS. 111). 25 Vgl. A n m . 21. 26 Vgl. A n m . 19. 27 Sämtliche Einzelprotokolle: EZA BERLIN, 2/69.

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anderen Beurteilung der Geschehnisse, die er Wurm am 30. Oktober 1945 in einem Schreiben mitteilte; von diesem Schreiben erhielten auch die übrigen Ratsmitglieder eine Abschrift 28 . Zur Begründung für die nachträgliche Revision seiner Einschätzung berief sich Brunotte auf die rechtlichen Konsequenzen, die sich aus der Verabschiedung der "Ersten Ausführungsverordnung" ergeben hätten. Mit dieser Verordnung habe sich nämlich "eine absolut klare Rechtslage" ergeben, und zwar in dem Sinne, daß "zwischen der alten Evangelischen Kirche von 1933 und der Evangelischen Kirche in Deutschland von Treysa eine völlige Rechtsidentität" bestehe. Damit sei nicht einmal eine "Rechtsnachfolge in irgendeinem Sinne erforderlich, denn im Rechtssinne ist die Evangelische Kirche in Deutschland von Treysa die alte Deutsche Evangelische Kirche, unter einem neuen Namen und mit einer neuen Leitung, so Gott will, auch in einem neuen Geiste". Entsprechend sei mit der "Ersten Ausführungsverordnung" nun "auch die Rechtslage für die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei eindeutig geklärt". Nach der Feststellung der völligen Rechtsidentität von EKD und DEK sei der Rat der EKD "als Kirchenleitung mit den Befugnissen der Organe der Kirchenverfassung von 1933 berechtigt", "für die Kirchenkanzlei einen neuen Leiter zu bestellen". Da ihm klar gewesen sei, daß es in Zukunft nur noch "eine Kirchenkanzlei geben" könne, die "unter einem neuen Namen und mit einem neuen Leiter an einem neuen Ort" fortbestehe, habe er die Kirchenkanzlei Asmussen auch ohne Zögern übergeben. Allerdings habe er in Anbetracht der beengten räumlichen Verhältnisse und der großen seelischen Anspannung, unter denen die Verhandlungen stattgefunden hätten, die beamten- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen, die sich aus den mit den Mitarbeitern der Kirchenkanzlei getroffenen Einzelvereinbarungen ergeben würden, nicht sogleich übersehen können 29 . Nach dem Besuch Asmussens und einer eingehenden Prüfung der angefertigten Protokolle müsse Brunotte jetzt "annehmen, dass offenbar versucht werden soll, eine völlig neue Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland ohne Rücksicht auf die bestehende Kirchenkanzlei mit völlig neuen Beamten und Angestellten aufzubauen". Asmussen habe sich benommen, als 28 Handschriftliches Konzept EBD.; vervielfältigte Abschrift u.a.: LANDESKIRCHLICHES ARCHIV NÜRNBERG, P e r s . X X X V I , M e i s e r 120; A b d r u c k : C . NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, P r o t o k o l l e I [ A n m . 1], S. 2 4 7 - 2 5 7 .

29 Brunotte schilderte die Umstände der Verhandlungen folgendermaßen: "Wir sind in Göttingen mit Raum sehr beengt. Das Referentenzimmer wurde von Herrn D. Asmussen für seine Einzelbesprechungen mit den Beamten und Angestellten benötigt. Der grosse Büroraum war voll von Menschen, die mit dem Aussortieren und Packen der mitzunehmenden Gegenstände beschäftigt waren. Das Vorzimmer war durch das ständige Kommen und Gehen für ruhige Ueberlegungen und Besprechungen ungeeignet" (EBD., S. 247).

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sei die DEKK "nicht vorhanden" und als könne er nun einfach "beziehungslos eine neue [Kanzlei], noch dazu mit fast der gleichen Bezeichnung," an deren Stelle setzen. Anders könne Brunotte die Tatsache, daß von den in Göttingen befindlichen Mitarbeitern der DEKK mit einer Ausnahme niemand in den Dienst der EKD übernommen werden solle, jedenfalls nicht interpretieren 30 . Das aber widerspreche den Folgerungen, die aus der "Ersten Ausführungsverordnung" nun auch im Hinblick auf die DEKK und deren Beamte und Angestellte zu ziehen seien: Bei diesen sei "davon auszugehen, dass sie de jure einer fortbestehenden Behörde angehören. Die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei ist nicht eine Dienststelle, die infolge der Gewalt der Ereignisse aufgeflogen wäre. Ist die neue Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland rechtsidentisch mit der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei, so muss grundsätzlich gelten, dass die alten Beamten und Angestellten der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei Beamte und Angestellte der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland sind." Da sich über diese grundsätzlichen Erwägungen hinaus die Vollmacht Asmussens nur auf Gelder und Vermögensgegenstände, nicht aber auf Personalia bezogen habe, gehe er davon aus, "dass die Besprechungen des Herrn D. Asmussen mit den Sachbearbeitern, Beamten und Angestellten [...] nicht als Entscheidungen aufzufassen sind, sondern dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seiner nächsten Sitzung Entscheidung zu treffen gedenkt". Schließlich seien die ausgesprochenen Kündigungen schon deshalb als nicht gültig anzusehen, weil sie den Bestimmungen der auch weiterhin in Geltung stehenden Tarifordnung für den öffentlichen Dienst widersprächen 31 . Brunotte räumte gleichzeitig ein, daß eine Verkleinerung der Kirchenkanzlei auch seiner Ansicht nach unvermeidbar sei. Das dürfe jedoch nicht in der Weise geschehen, daß "tüchtige, eingearbeitete, unbescholtene, in jeder Hinsicht einwandfreie Beamte und Angestellte" gekündigt und dafür "andere, nicht eingearbeitete Kräfte" neu eingestellt würden. Selbst für den Fall der Verabschiedung einer von Asmussen in Aussicht gestellten Verordnung des Rates, "durch die eine kirchengesetzliche Grundlage geschaffen werden soll, auf der es möglich wäre, auf Lebenszeit angestellte Beamte abzubauen", dürfe es nur darum gehen, tatsächlich überzähliges Personal der bisherigen DEK abzubauen. Abschließend erkannte Brunotte noch einmal

30 Tatsächlich hatte außer Amtsrat Hellriegel keiner der Beamten und Angestellten eine eindeutige Zusage auf Übernahme in den Dienst der EKD erhalten; die meisten von ihnen waren zum 31. Januar 1946 zunächst gekündigt worden (vgl. dazu die in Anm. 27 erwähnten Einzelprotokolle). 31 Diese Tarifordnung hatte während der Verhandlungen allerdings nicht vorgelegen.

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die Notwendigkeit von Veränderungen innerhalb der Kirchenkanzlei an, fällte aber im Hinblick auf das konkrete Vorgehen Asmussens ein Urteil, das dessen heftigsten Widerspruch hervorrufen mußte: "Trotz aller gelegentlichen Aeusserungen, die gefallen sind, dass man die notwendigen Veränderungen in humaner oder entgegenkommender oder christlich-brüderlicher Weise vornehmen wolle, habe ich grosse Sorge, dass diese Aeusserungen blosse Worte bleiben und dass es im Grunde nun doch so gemacht wird, wie es die Dfeutschen] C[hristen] 1933 gemacht haben." 32 Asmussens Antwortschreiben an Brunotte vom 28. November 194533 zeigte dann auch eine diesem ungeheuren Vorwurf entsprechende Verärgerung, die schließlich sogar in kaum verhohlenen Drohungen zum Ausdruck kam: "Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Sie zu solchen Ausführungen Ihren Ausweg nehmen würden. Sie sind sich offenbar nicht über die wirkliche Lage klar. Wissen Sie wirklich nicht, dass ich selbst und dass meine Freunde an sich halten müssen, um nun nicht die Gebarung der früheren Organe der EKD einer genauen Prüfung zu unterziehen? Können Sie wohl verstehen, dass wir der Meinung sind, diese Organe hätten bis zum Zusammenbruch eine Kirchenpolitik des Staates ermöglicht, die man nur als Christenverfolgung bezeichnen kann? Aber wir wissen, dass man es weithin aus Unwissenheit getan hat, und darum machen wir den Versuch, auf eine genaue Prüfung der Vorgänge zu verzichten. Wünschen Sie wohl, dass das sich ändert? Ihr Brief scheint diesen Wunsch auszudrücken." Das bisherige Vorgehen des Rates, bei dem auf eine genaue Prüfung der Amtsführung der bisherigen Organe der DEK und ihrer Beamten verzichtet worden sei, "wieweit sie die Kirchenpolitik des dritten Reiches ermöglicht oder gefördert haben", setze das "stillschweigende Einverständnis" voraus: "Wenn nach Recht und Gerechtigkeit verfahren würde, dann müssten jetzt andere Töne angeschlagen werden." Wenn Brunotte nun so sehr betone, "dass es sich um lebendige Menschen handle bei den nunmehr zu treffenden personellen Regelungen", dann habe er wohl völlig vergessen, "dass die Amtsführung der Organe der bisherigen DEK eben lebendige Menschen genug in Leiden und Elend" gestürzt hätte. Es müsse wohl überlegt werden, "ob es 32

Das Vorgehen der Deutschen Christen hatte auch Asmussen selbst getroffen: Er war von seiner unter DC-Führung stehenden schleswig-holsteinischen Heimatkirche im Herbst 1933 zunächst vom Dienst suspendiert und dann zum 15.2.1934 in den Ruhestand versetzt worden, mit der Begründung, daß "er nicht die Gewähr dafür biete, daß er jederzeit rückhaltlos für die D E K einstehen würde" (JOHANN BLELFELDT: Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein 1933-1945. Göttingen 1963, S. 67).

33

Für die Ratsmitglieder und Mitarbeiter der Kirchenkanzlei der E K D vervielfältigte Abschrift dieses Schreibens u.a.: LANDESKIRCHLICHES ARCHIV STUTTGART, D l / 2 0 8 ; Abdruck: C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I (Anm. 1), S. 257-261.

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nun nicht an der Zeit" sei, "dieses alles einmal auszuräumen". Noch stehe er zwar zu einer Regelung des 'stillschweigenden Einverständnisses', "aber die Dinge scheinen sich so zu entwickeln, dass ich es nicht mehr lange kann". Vor allem aber die langen und grundlegenden Ausführungen Brunottes über die Rechtskontinuität seien das "proton pseudos" in seiner Argumentation. Wenn Brunotte nämlich aus der Feststellung der Rechtskontinuität zwischen D E K und E K D direkte Folgerungen für die "Personalpolitik" ziehe, dann habe er dabei vergessen, "dass es in den letzten zwölf Jahren allgemeine Uberzeugung des Kirchenrechts gewesen ist, dass bekenntnismässige Notwendigkeiten für die Auslegung des Buchstabens entscheidend sind". Der Rat könne sich dementsprechend nicht zu den Bekenntniswidrigkeiten seines Rechtsvorgängers bekennen, sondern werde im Gegenteil "mit allen Kräften alle Bekenntniswidrigkeiten seines Rechtsvorgängers ausmerzen". Dazu gehöre auch "der bisher gesteuerte Kurs" und der "Einfluss derjenigen Personen, welche diesen Kurs" gesteuert hätten. Brunottes Schreiben lasse das Verständnis zu, "als ob man die alte Kirchenkanzlei nun einfach übernehmen - und vielleicht mit einem neuen Kopfe - weiter arbeiten lassen" könne. Das aber sei im Hinblick auf die leitenden Angestellten gerade nicht möglich, wenn jetzt ernsthaft ein neuer Kurs gesteuert werden solle: "Da muss ich nun aussprechen, dass der neue Kurs mit dem alten Schiffe und den alten Steuerleuten nicht gefahren werden kann." Brunotte selber habe doch aufgrund des richtigen Empfindens, "dass Rechtskontinuität nicht Kurskontinuität" bedeute, von sich aus auf eine dauerhafte weitere Mitarbeit in der Kirchenkanzlei verzichtet 34 . Alle künftigen Rechtsentscheidungen hätten nun allein davon auszugehen, "dass eine Möglichkeit geschaffen werden muss, auf Grund derer der neue Kurs gesteuert werden kann". Dafür konkrete rechtliche Formen zu finden, müsse dann den Juristen überlassen bleiben. Asmussen schloß seine Ausführungen noch einmal mit der Bitte, Brunotte möge sich "doch auch weiterhin auf den Boden des stillschweigenden Einverständnisses stellen", bei dem auf eine genaue Prüfung der Vorgänge in der Vergangenheit verzichtet würde. Sollte Brunotte jedoch weiterhin auf seiner Position beharren, könne eine solche Prüfung, von der "die Personen, welche die Arbeit der Organe der bisherigen D E K geleistet haben", erheblich mehr zu befürchten hätten als er (Asmussen) selbst, jedoch unumgänglich werden. Der Konflikt zwischen Brunotte und Asmussen im Hinblick auf das Vorgehen bei der 'Übernahme' der Kirchenkanzlei ist als äußerst vielschichtig zu beurteilen. Nach dem mangelnden Informationsaustausch in den 34 Brunotte trat nach seinem Ausscheiden aus der Kirchenkanzlei am 31.3.1946 zunächst als Oberlandeskirchenrat in den Dienst der hannoverschen Landeskirche.

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Wochen zwischen der ersten und zweiten Sitzung des Rates hatten die beengten räumlichen Verhältnisse während der Verhandlungen, das hektische Zusammensuchen und Einpacken der mitzunehmenden Gegenstände und schließlich das zielsichere Auftreten Asmussens die Atmosphäre von Anfang an schwer belastet. Nicht zuletzt in Anbetracht der ausgesprochenen Kündigungen war nach Brunotte "der subjektive Eindruck aller Angehörigen der Kirchenkanzlei von jenem Tage ein niederschmetternder" 35 . Asmussen sei mit fertigen Entschlüssen nach Göttingen gekommen, er selber habe "doch nicht mehr 'mitzureden'" gehabt36. Damit hatte Brunotte die Stimmung in der Kirchenkanzlei während des Besuches von Asmussen sicher angemessen wiedergegeben. Allerdings hatte er dann durch seinen nachträglich ausgesprochenen Vergleich zwischen den Vorgängen in Göttingen und dem Vorgehen der Deutschen Christen 1933 die Lage zusätzlich erschwert, weil dieser Vergleich von Asmussen zu Recht als ungeheure persönliche Beleidigung aufgefaßt werden mußte. Dieser warf Brunotte schließlich vor, er versuche, "einen Keil zwischen den Rat der EKD und seinem Mitgliede und Bevollmächtigten Pastor Asmussen zu treiben" 37 . Die fragwürdigen Umstände, unter denen die 'Übernahme' stattgefunden hatte, und die persönlichen Kränkungen zwischen Brunotte und Asmussen waren im Hinblick auf den sachlichen Konflikt jedoch nur von untergeordneter Bedeutung. Auf sachlicher Ebene markierten die Standpunkte Brunottes und Asmussens genau die Außenpole des Spannungsfeldes, in dem sich die Neuordnung des gesamtprotestantischen Zusammenschlusses insgesamt vollzog. Sie waren ein konkreter Ausdruck der beiden nur schwer miteinander in Einklang zu bringenden Aspekte, die schon in den widersprüchlichen Formulierungen der "Vorläufigen Ordnung" und der "Ersten Ausführungsverordnung" ihren Niederschlag gefunden hatten: dem Willen zu einem grundsätzlichen Neuanfang bei gleichzeitiger Wahrung der Kontinuität. Auf eine vereinfachte Formel gebracht, vertrat Brunotte den Standpunkt einer direkten und ungebrochenen Rechtskontinuität, während Asmussen aus Gründen der Vorrangigkeit des Bekenntnisses den prinzipiellen Vorbehalt gegenüber der Rechtsvorgängerin betonte. Ebenso vereinfacht ließ sich Brunottes formal-juristisch schlüssiger Argumentation dann aber vorwerfen, daß sie - außer im Rahmen des geltenden und freilich zu 'säubernden' Rechts - kaum eine Handhabe geboten habe, um die Vergangenheit angemessen aufzuarbeiten und dem Willen zu einem wirklichen Neuanfang konkrete Formen zu verleihen. 35 Schreiben Brunottes an Asmussen vom 10.12.1945 (C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I [Anm. 1], S. 261-270; hier: S. 263). 36

EBD.

37 Schreiben Asmussens an Brunotte vom 28.11.1945: EBD., S. 259.

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Umgekehrt konnte man Asmussen unterstellen - wie es Brunotte mit seinem DC-Vorwurf ja auch getan hatte daß durch seine Argumentation, die völlig berechtigt eben die bei Brunotte vernachlässigten Gesichtspunkte in den Vordergrund rückte, hinsichtlich des Personalbestandes der bisherigen DEK künftig einer gewissen Willkür Tür und Tor geöffnet bzw. faktisch eine neue Gesamtkirche - und damit auch Kirchenkanzlei - geschaffen werde. Allerdings trifft diese vereinfachte Darstellung der sachlichen Streitigkeiten nicht ohne weiteres zu. Grundsätzlich waren sich Brunotte und Asmussen im Hinblick auf die prinzipielle und rein formale Weitergeltung des von der DEK gesetzten Rechts einig. Die Differenzen ergaben sich zunächst aus den unterschiedlichen Interessen, von denen aus sie dieses Recht interpretierten: Brunotte war um der ganz praktischen Sorge für das Schicksal der Mitarbeiter der bisherigen DEK willen an einer formal-juristischen Interpretation gelegen; Asmussen mußte umgekehrt um der Verwirklichung des 'neuen Kurses' willen das geltende Recht vom Bekenntnis her unter einen prinzipiellen Vorbehalt stellen, wobei notfalls für notwendige und bereits vollendete Maßnahmen dann erst nachträglich konkrete Rechtsformen gefunden würden. Aber gerade das Argument vom 'alten' und vom 'neuen Kurs', den Eckpfeilern der Argumentation Asmussens, wurde von Brunotte nicht ohne weiteres anerkannt. So warf Brunotte Asmussen dann auch in seinem Schreiben vom 10. Dezember 1945 vor, er habe offensichtlich keine Vorstellung von den tatsächlichen Verhältnissen in der DEKK in den vergangenen Jahren 38 und verwechsle diese mit dem Berliner Evangelischen Oberkirchenrat 39 . Der bisherige Kurs sei "nicht so einfach auf Formel zu bringen"; wenn Asmussen ein "historisch zutreffendes Bild" erhalten wolle, dann müsse er "die verschiedenen 'Kurse' der verschiedenen Jahre, den Unterschied zwischen Leiter, Stellvertreter und den einzelnen Referenten [...] und einiges mehr" beachten. Wenn jemand "in dieser stets nach dem Präsidialsystem geordneten Behörde" überhaupt einen Kurs gesteuert habe, dann "der jeweilige Leiter, also Herr Dr. Werner oder später sein Stellvertreter, Herr Dr. Fürle". Vielleicht könne man auch noch von einem "Kurs der Referenten" reden, sicher aber nicht von einem Kurs der mittleren Beamten und Angestellten. Die Differenzen zwischen Brunotte und Asmussen ergaben sich also weiter aus den unterschiedlichen Perspekti-

38

EBD., S. 268. - Den Versuch einer differenzierten Darstellung zum kirchenpolitischen Kurs der D E K K von 1937 bis 1945 hatte Brunotte bereits mit einer im Mai 1945 verfaßten Denkschrift unternommen (vgl. dazu Anm. 3).

39

Der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin hatte sich der staatlichen Kirchenpolitik untergeordnet und vor allem die kirchenregimentlichen Ansprüche der altpreußischen Bekennenden Kirche nicht anerkannt.

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ven, von denen aus die Vergangenheit beurteilt wurde: Für Brunotte als Vertreter des 'gemäßigten' Flügels der Bekennenden Kirche (BK) und überzeugtem Mitarbeiter einer kirchlichen Behörde waren Personen und Institutionen nur an ihrem konkreten Verhalten im Einzelfall zu messen, während Asmussen mit seiner Argumentation die Sicht des bruderrätlichen Flügels der BK vertrat, für die alle Personen und Institutionen, die in der Vergangenheit Kompromißbereitschaft gezeigt hatten, von vorneherein diskreditiert waren. Mit dieser unterschiedlichen Beurteilung des 'Kurses' der DEK in den Jahren des 'Dritten Reiches' und den sich aus den divergierenden Standpunkten jeweils ergebenden Konsequenzen für das gegenwärtige Handeln gegenüber den vorhandenen Uberresten der DEK wurde deutlich, daß sich bei der Neuordnung des gesamtkirchlichen Zusammenschlusses nun auch die Konflikte fortsetzten, die bereits den 'Kirchenkampf' maßgeblich bestimmt hatten. Der von sämtlichen federführenden Kräften immer wieder geäußerte Wille zu einem Neuanfang bei gleichzeitiger Wahrung der Kontinuität mit den bisherigen Versuchen für einen gesamtkirchlichen Zusammenschluß bedeutete ja keineswegs eine Identität der Vorstellungen in Bezug auf die konkreten Formen, in denen sich diese Neuordnung tatsächlich vollziehen sollte. Der Schriftwechsel zwischen Brunotte und Asmussen über die Konsequenzen, die nun im Hinblick auf die DEKK und den Personalbestand der DEK zu ziehen waren, stellte nur einen Spiegel dieser grundsätzlichen Differenzen dar 40 . Die letzte Entscheidung über eine endgültige Regelung der Kirchenkanzlei- und Personalangelegenheiten lag jetzt aber bei derjenigen Instanz, an welche die bestimmenden Kräfte des deutschen Protestantismus in Treysa die Leitung der Gesamtkirche und die Verantwortung für das Zustandekommen einer dauerhaften Neuordnung delegiert hatte, beim Rat der EKD.

40 Ein Beispiel für sehr radikale Konsequenzen, die sich aus einer bestimmten Zielsetzung bei der Neuordnung der Gesamtkirche für die Kirchenkanzlei ergeben hätten, ist das Schreiben des Ratsmitgliedes und Moderators des Reformierten Bundes, Wilhelm Niesei, an die Ratsmitglieder vom 24.11.1945 (C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I [ANM. 1], S. 285f.). Niesei unterbreitete dem Rat darin den Entwurf für eine Verordnung, nach der sowohl die Kirchenkanzlei als auch das Kirchliche Außenamt überhaupt zu bestehen aufhören sollten; stattdessen solle dem Rat und seinem Vorsitzer ein einfaches "Büro für die Führung der Geschäfte zur Verfügung" gestellt werden. Damit solle ein für allemal klargestellt werden: "Wir wollen keine zentralistische Behördenkirche!"

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m. Die Besprechungen über das Vorgehen Asmussens in Göttingen, die notwendige 'Vereinfachung der Verwaltung' und die sich daraus ergebenden Regelungen für die Beamten und Angestellten der bisherigen DEK nahmen auf der dritten Sitzung des Rates am 13./14. Dezember 1945 in Frankfurt/Main breiten Raum ein 41 . Dabei sollte Brunotte, der nicht anwesend war, mit seiner Ansicht, die von Asmussen in Göttingen getroffenen 'Entscheidungen' seien nicht ohne weiteres als solche anzusehen und zunächst noch einer Beschlußfassung durch den Rat vorbehalten, grundsätzlich Recht behalten. Allerdings war auch Asmussen inzwischen klar geworden, daß es für künftige Regelungen, die dauerhaften Bestand haben sollten, einer eindeutigen Legitimation und klarer Richtlinien von seiten des Rates bedurfte. Eine entsprechende Verordnung des Rates hatte er Brunotte ja auch bereits in Göttingen angekündigt. Nachdem Asmussen im Verlauf der Sitzung zunächst über seinen Besuch in Göttingen berichtet hatte, legte er dem Rat dazu einen Entwurf für eine "Verordnung zur Vereinfachung der Verwaltung" vor 42 . Nach § 1 dieses Entwurfs sollte der Leiter der Kirchenkanzlei die Vollmacht erhalten, Beamte der ehemaligen DEKK zu "versetzen, in den Ruhestand und in den einstweiligen Ruhestand [zu] versetzen"; als Versetzung galt dabei auch die Übernahme in den Dienst einer Landeskirche. § 2 sprach ihm darüber hinaus das Recht zur Entlassung von Beamten zu, allerdings nur unter Zustimmung des Ratsvorsitzenden und Beachtung der Bestimmungen des Tarifrechts. Nach § 3 sollten Verfügungen aufgrund der §§ 1 und 2 nur bis zum 30. Juni 1946 ausgesprochen werden können, wobei die zur Zeit in Kriegsgefangenschaft befindlichen Beamten von dieser Regelung ausgenommen wurden. § 4 sprach die gleichen Befugnisse auch dem Leiter des Kirchlichen Außenamtes für seinen Geschäftsbereich zu. Schließlich sollte die auf den Dezember datierte Verordnung nach § 5 rückwirkend zum 19. Oktober 1945 in Kraft treten - also auch für die bereits in Göttingen getroffenen Regelungen Geltung erhalten. Besondere Bestimmungen über die Angestellten der bisherigen DEK sah der Entwurf nicht vor 43 .

41

F ü r diese Sitzung sind sowohl ein knappes Beschlußprotokoll (EBD., S. 118-122) als auch ein in dieser F o r m für die Ratssitzungen einzigartiges Verlaufsprotokoll, das die Voten der Ratsmitglieder zum großen Teil wörtlich wiedergibt (EBD., S. 123-214), überliefert.

42

EBD., S. 243.

43

Außer diesem Entwurf für eine Verordnung ist eine weitere Vorlage überliefert, in der - basierend auf den Bestimmungen der Verordnung und der geltenden Tarifordnung - Einzelregelungen für die Beamten und Angestellten der D E K K sowie einige weitere Angehörige der bisherigen D E K getroffen wurden. Danach sollten z.B. Brunotte und Steckelmann versetzt,

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Die anschließende Diskussion über den Entwurf zeigte, daß sich der Rat grundsätzlich über die Notwendigkeit von klar formulierten Regelungen einig war, um sowohl die bereits geschaffenen Tatsachen als auch das zukünftige Handeln rechtlich abzusichern. Dafür wurde die Vorlage Asmussens jedoch nicht akzeptiert. Zunächst kritisierten Dibelius und Lilje § 1 der Verordnung, der den Schluß zulasse, der Leiter der Kirchenkanzlei könne Versetzungen in eine Landeskirche hinein vornehmen 44 . Vor allem jedoch wurde beanstandet, daß die Verordnung in der vorliegenden Form das alte "Führerprinzip" enthalte, nach dem allein dem Leiter der Kirchenkanzlei eine Fülle von Kompetenzen zugesprochen wurde; um diesen "Führergedanken" auszuschalten, genüge keineswegs die in § 2 geforderte Zustimmung des Ratsvorsitzenden zu den Maßnahmen des Leiters der Kirchenkanzlei, vielmehr dürfe allein der Rat die Befugnis haben, Beamte zu entlassen 45 . Dibelius bemängelte weiterhin, daß in der Verordnung nicht ein Wort darüber gesagt sei, unter welchen Gesichtspunkten das jetzige Handeln und die Verabschiedung einer Verordnung eigentlich stattfänden. Wenn das leitende Interesse bei den jetzt durchzuführenden Maßnahmen der 'neue Kurs' sei, dann gehe es außerdem nicht an, alle Beamten und Angestellten mit einer allgemeingültigen Regelung über einen Kamm zu scheren; Personen mit so unterschiedlichen Uberzeugungen wie z.B. Heckel, Brunotte und Fürle dürften nicht einfach auf eine Ebene gestellt werden. Für Lilje war es überhaupt fraglich, ob eine regelrechte Verordnung des Rates die angemessene Form zur Lösung der anstehenden Probleme sei; im Gegensatz dazu betonte Meiser die Notwendigkeit eines rechtlich geordneten Vorgehens: Nur für den Fall, daß das alte Beamtenrecht 46 schon entsprechende Vorsorge getroffen habe, könne man sich den "Luxus und die Schwierigkeiten einer neuen Verordnung ersparen", andernfalls begebe man sich in bedenkliche Nähe zu den von den Besatzungsmächten durchgeführten Entnazifizierungsmaßnahmen. Asmussen schlug schließlich die Bildung eines aus Dibelius, Held und Smend bestehenden Ausschusses vor, der eine neue Vorlage erarbeiten sollte. A m zweiten Sitzungstag wurde diese neue Vorlage dann besprochen und mit einer Reihe von Änderungen schließlich verabschiedet. Allerdings hatte sich der Ausschuß darauf geeinigt, von einer Verordnung abzusehen und die

Schwarzhaupt, Hellriegel und Jahn übernommen, Hoevermann, Trübe, Kiesow und die Schwestern Buttmann entlassen werden (EBD., S. 244). 44 Zu den Voten der Ratsmitglieder im Verlauf der Besprechungen vgl. Anm. 41. 45 In diesem Sinne äußerten sich Dibelius, Held, Lilje und Meiser. 46 Vgl. die Beamtenordnung der D E K vom 13. April 1939 (GESETZBLATT DER D E K 1939, S. 4346).

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grundsätzlichen Regelungen stattdessen in Form von "Richtlinien" zusammenzufassen, weil man befürchtete, dem Rat könne die Vollmacht für die Verabschiedung einer Verordnung von den Landeskirchen abgesprochen werden. Zusätzlich zu den Richtlinien legte der Ausschuß dem Rat noch einen Entwurf für Entscheidungen in Einzelfällen vor 47 . Die Richtlinien unterschieden sich von der Vorlage Asmussens entsprechend der von Dibelius am Vortage geäußerten Anregung zunächst durch die Vorschaltung einer Präambel, in der auf die Zielsetzung der durchzuführenden Maßnahmen hingewiesen wurde: In dieser Präambel wurden die Maßnahmen "angesichts der unabweisbaren Notwendigkeit, den Personalbestand bei der Verwaltung der bisherigen DEK durchgreifend zu vermindern und die Beamten- und Angestelltenschaft der Kirchenkanzlei einheitlich auszurichten", als unausweichlich dargestellt48. § 1 bestimmte, daß Versetzungen in den Warte- bzw. Ruhestand und Entlassungen nicht vom Leiter der Kirchenkanzlei, sondern nur vom Rat der EKD ausgesprochen werden könnten. Anstelle der Versetzung eines Beamten in eine Landeskirche durch den Leiter der Kirchenkanzlei hieß es nun, das Dienstverhältnis eines Beamten bei der EKD könne für beendet erklärt werden, wenn er in ein Pfarramt49 übergehe. Die übrigen Paragraphen regelten unter Berücksichtigung der aktuellen finanziellen Sachzwänge die Versorgungsansprüche für den Fall einer Versetzung, Entlassung oder Beendigung des Dienstverhältnisses. Von entscheidender Bedeutung waren jedoch vor allem die Ausführungen Smends über die eigentliche Intention der Richtlinien. Danach sollten sie keinesfalls eine umfassende und öffentlich bekanntzumachende rechtliche Regelung darstellen, vielmehr seien sie "interne Anweisungen an die Herrn, die mit dem Betreffenden im Auftrage des Rates zu verhandeln" hätten. Das bestehende Beamtenrecht solle damit nicht aufgehoben werden, weil sonst der Rat leicht eine Niederlage erleiden könnte, die dann auch alle Landeskirchen träfe. Die Richtlinien sollten gerade "die Aufstellung einer Rechtsgrundlage verschieben" und seien "nichts weiter als eine Information derer, die die Verhandlungen" führten. Schließlich sollten sie nur dann Bedeutung erlangen, falls sich eine "gütlich-freundschaftliche" Regelung als unmöglich erweisen sollte. Auch Dibelius betonte, "die ganze Absicht der Vorlage bestehe darin, unter allen Umständen zu einer gütlichen Vereinbarung zu kommen". Vor der

47 48

Abdruck der Entwürfe: C . NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I (Anm. 1), S. 245ff. In der schließlich verabschiedeten Fassung erschien die Präambel dann nur noch in gekürzter Form: "Fuer die unabweisbar notwendige Verminderung des Personalbestandes der bisherigen D E K gelten folgende Richtlinien" (EBD., S. 218f.; hier: S. 218. EBD., S. 219f., auch die verabschiedete Fassung der Entscheidungen über Einzelfälle).

49

Verabschiedete Fassung: "in ein anderes kirchliches Amt" (EBD., S. 218).

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Verabschiedung der endgültigen Fassung von Richtlinien und Einzelbestimmungen äußerte Held schließlich noch den Vorschlag, der Rat müsse über eine 'Vereinfachung der Verwaltung' hinaus noch das Argument der 'Säuberung' in die Richtlinien aufnehmen, was dann aber keine Berücksichtigung mehr fand. Die Verhandlungen über die Verabschiedung der Richtlinien und die Regelung der Einzelfälle wurden im Zusammenhang der Diskussion über das konkrete Vorgehen Asmussens bei der Übernahme der Kirchenkanzlei in Göttingen geführt. Die Besprechungen über die Vorgänge in Göttingen selbst führten jedoch zu keinem greifbaren Ergebnis. Asmussen betonte, daß er bei seinem mit "grossen technischen Schwierigkeiten verbundenen Besuch [...] streng nach den Weisungen des Rates gehandelt habe". Angesichts des zwingenden Handlungsbedarfs habe aber die objektive Schwierigkeit darin bestanden, daß keine gültige Tarifordnung vorgelegen hätte, so daß man jetzt bei den getroffenen Regelungen nicht bleiben könne. Brunotte, der nach den Besprechungen mit den Mitarbeitern der Kirchenkanzlei am 23. Oktober eine ganze Nacht Zeit für Überlegungen gehabt hätte, habe ihm am zweiten Tag des Besuchs immer wieder versichert, er sei mit allem einverstanden. Umso unverständlicher erscheine ihm Brunottes plötzlicher Sinneswandel, der in dem den Ratsmitgliedern vorliegenden Schriftwechsel zum Ausdruck komme. Allerdings war es den Ratsmitgliedern aufgrund der Schilderung Asmussens und des Briefwechsels allein letztlich nicht möglich, sich ein umfassendes Bild von den tatsächlichen Ereignissen in Göttingen zu machen 50 . Lilje forderte deshalb, man müsse auch Brunotte die Gelegenheit geben, sich vor dem Rat "zu rechtfertigen". Als Asmussen im Verlauf der Besprechungen schließlich den Eindruck gewonnen hatte, daß der Protest Brunottes von den Ratsmitgliedern zum großen Teil anerkannt wurde 51 , bat er um eine offizielle Überprüfung der Vorgänge in Göttingen: "Wenn der Rat der Überzeugung ist, dass die Dinge schief gelaufen sind, so bitte ich zu prüfen! [...] Es möge sich nicht ohne Prüfung ein Urteil festsetzen, und ich möchte es nicht auf mir sitzen lassen." Daraufhin schlug Dibelius einen aus Smend und Heinemann bestehenden Untersuchungsausschuß vor; Asmussen verlangte außerdem die Hinzuziehung eines Theologen. Smend sah jedoch in einer förmlichen Untersuchung keinen Sinn. Es sei von vorneherein kaum aussichtsreich gewesen, "zwei so verschiedene Individualitäten wie Asmussen und Brunotte auf einen Generalnenner zu bringen" bzw. miteinander

50 Vgl. dazu das Votum Liljes: "Die Vorgänge in Göttingen sind uns z.T. nicht einmal durch den Briefwechsel bekannt" (EBD., S. 140). 51 Lediglich Niesei hatte sich dahingehend geäußert, daß er an den Göttinger Verhandlungen im Ganzen keinen Anstoß genommen habe (EBD., S. 184).

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"abzustimmen". Mittlerweile hätten auch die Betroffenen längst mit ihren Bekannten und Angehörigen gesprochen, so daß der negative Eindruck ohnehin nicht mehr aufzuhalten sei. Schließlich sei es schon aus ganz praktischen Gründen kaum möglich, die zur Bereinigung der in der Folge der Göttinger Ereignisse aufgetretenen internen Schwierigkeiten im Rat notwendigen Befragungen unter den beteiligten Personen durchzuführen, da diese sich an den verschiedensten Orten befänden. Das alles vergrößere nur die Aufgaben für die Ratssitzung und führe letztlich zu keinem Ziel. Wurm beschloß die ergebnislos verlaufene Diskussion mit der Bemerkung, er "halte die Sache für erledigt". Damit aber hatte der Rat die Beurteilung der Göttinger Vorgänge ganz im Sinne eines von Asmussen bereits im Verlauf der Diskussion geäußerten und noch kurz zuvor von Lilje vehement bestrittenen Votums beendet: "Wenn der Rat kein Gewicht auf eine Nachprüfung legt, so billigt er mein Vorgehen." Die Entscheidungen des Rates auf seiner dritten Sitzung im Hinblick auf den Personalbestand der bisherigen DEK können durchaus als diplomatisches Meisterstück beurteilt werden. Mit der Bevorzugung von individuellen Lösungen im 'gütlichen Einvernehmen' und der Verabschiedung von vertraulich zu handhabenden 'internen Richtlinien' für solche Fälle, in denen eine einvernehmliche Lösung nicht möglich zu sein schien, hatte es der Rat vermieden, durch eine öffentlich bekanntzumachende und formale rechtliche Regelung einen Standpunkt zu beziehen, dessen Konsequenzen sich in jedem Fall als äußerst problematisch erwiesen hätten. So hätte der Rat mit einer vorbehaltlosen Anerkennung der Argumentation Brunottes die Linie von Treysa verlassen: Die Feststellung einer völligen Rechtsidentität zwischen DEK und EKD, wie sie Brunotte aus der "Ersten Ausführungsverordnung" ableiten zu dürfen meinte, hätte juristisch in letzter Konsequenz nicht nur die Fortgeltung der Rechtssetzungen der DEK, sondern auch ihrer Verfassung von 193352 bedeutet; eben das aber hatte die Kirchenführerkonferenz ausdrücklich abgelehnt. Die Preisgabe eines jeglichen rechtlichen Zusammenhangs mit den Rechtsformen der Vorgängerin der EKD, die allein es ermöglicht hätte, die Bindung an die Bestimmungen des geltenden Beamtenund Tarifrechts vollständig zu lösen und sich auf diese Weise problemlos unerwünschter und überzähliger Beamter zu entledigen, hätte ebenso der Linie von Treysa widersprochen und den von Brunotte befürchteten zusammenhanglosen Aufbau nicht nur einer völlig neuen Kirchenkanzlei, sondern letztlich einer neuen Gesamtkirche bedeutet. Schließlich bot die Lösung des 'gütlichen Einvernehmens' in einem erheblich höheren Maße als 52 Vgl. Anm. 7.

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eine regelrechte Verordnung die Möglichkeit zu einer individuellen Beurteilung der betroffenen Personen im Hinblick auf ihr kirchenpolitisches Verhalten in der jüngsten Vergangenheit. Damit hatten letztlich sowohl Brunotte als auch Asmussen Recht bekommen: Die von Asmussen in Göttingen getroffenen Entscheidungen wurden im Sinne Brunottes nachträglich anhand der geltenden Tarifordnung überprüft und modifiziert; die von Asmussen geforderte Präferenz des 'neuen Kurses1 beim Aufbau der Dienststellen der EKD war durch die Möglichkeit sichergestellt, das Ausscheiden von Beamten, mit denen eine weitere Zusammenarbeit als unmöglich betrachtet werden mußte, durch individuelle Verhandlungen zu erreichen. Durch den Verzicht auf eine formal-rechtliche Lösung und die Beschränkung auf eine Orientierungshilfe im Hinblick auf die zu fällenden Entscheidungen war es dem Rat im ganz konkreten Fall des Personalbestandes der bisherigen DEK nicht nur gelungen, seine Handlungsfähigkeit zu bewahren, sondern vor allem die von der Kirchenführerkonferenz in Treysa geforderte Balance zwischen Neuordnung und Wahrung der Kontinuität zu halten. Schließlich stellt diese Kompromißlösung aber auch ein Beispiel dafür dar, auf welche Weise es dem Rat auch in anderen Fragen immer wieder gelang, die unterschiedlichen Kräfte und Vorstellungen bei der Neuordnung der Gesamtkirche, die ja im Rat selbst während seiner gesamten Amtszeit ebenso zu tiefgreifenden Konflikten führten, zu binden. Im Hinblick auf die Übernahme der Kirchenkanzlei hat der Rat durch seinen Verzicht auf eine Uberprüfung der Vorgänge in Göttingen faktisch die von Asmussen geschaffenen Tatsachen - abgesehen von einigen Modifikationen - gebilligt. Die Kirchenkanzlei als solche war im Verlauf der Besprechungen dann auch überhaupt kein Thema. Die von Brunotte aufgeworfene These, es werde jetzt beziehungslos zur alten eine völlig neue Kirchenkanzlei aufgebaut, wurde nicht weiter diskutiert. Die Dienststelle der Kirchenkanzlei in Göttingen wurde dann zum 31. März 1946 endgültig aufgelöst53. An ihrer Stelle nahm die auf Antrag Smends vom Rat ebenfalls auf der dritten Sitzung beschlossene "juristisch-theologische Untersuchungsstelle zur Uberprüfung des gültigen Kirchenrechts", aus der später das Kirchenrechtliche Institut der EKD erwuchs, ihre Arbeit auf 54 . Die Kirchenkanzlei der EKD

53 Nach Brunottes Schreiben an Merzyn vom 7.2.1946 kehrten in Göttingen nach der Ratssitzung "ruhigere Wochen" ein; außer der Suchkartei für verschollene kirchliche Mitarbeiter, der Weiterleitung von Schreiben der Landeskirchen an die Kirchenkanzlei der EKD und der Beantwortung einiger Anfragen waren kaum noch Arbeiten zu erledigen (vgl. Anm. 17). 54 Vgl. dazu Anlage 3 zum Beschlußprotokoll über die dritte Sitzung des Rates, in der es u.a. hieß: "Bei der Abwicklungsstelle der Kirchenkanzlei in Göttingen wird im Zusammenwirken von Theologen und Juristen der Göttinger Universität eine Arbeitsstelle für deutsches

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gliederte sich Anfang 1946 - abgesehen von der Göttinger Amtsstelle - in drei Dienststellen: Die 'eigentliche' Kirchenkanzlei unter der Leitung Asmussens, die aus Raumgründen an seinem Wohnort in Schwäbisch Gmünd angesiedelt worden war, die Berliner Zweitstelle unter der stellvertretenden Leitung Ernst-Viktor Benns und schließlich eine Außenstelle in Frankfurt, für die Pfarrer Otto Fricke als Sprecher und Vertreter der EKD bei der Militärregierung und anderen Behörden zuständig war 55 . Einen Uberblick über Aufbau und Organisation der Kirchenkanzlei in Schwäbisch Gmünd bietet ein Referatsverteilungs-Plan vom Januar 1946; dort werden als Referenten außer Asmussen noch Siegel, Jensen, Mochalski, Merzyn und Schwarzhaupt genannt 56 . Damit war zum Jahreswechsel 1945/46 der Ubergang von der "Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei" zur "Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland" vollzogen. Brunotte und Asmussen beurteilten die Ergebnisse der auf der dritten Sitzung des Rates getroffenen Regelungen im nachhinein allerdings sehr unterschiedlich. In seinem Schreiben an Merzyn vom 7. Februar 1946 zeigte sich Brunotte sehr zufrieden darüber, daß auf sein Eintreten hin nun doch der größere Teil der Beamten und Angestellten der bisherigen DEK "versorgt oder angemessen abgefunden" worden sei57. Die mittlerweile erfolgte Berufung Merzyns zum Referenten in der Kirchenkanzlei lasse ihn darüber hinaus hoffen, daß diese nun auch "nach der rechtlichen und organisatorischen Seite hin" wieder "vorbildliche Arbeit" werde leisten können und damit letztlich "zu einem schlagkräftigen Instrument der neuen Kirchenleitung" werde. Insgesamt urteilte Brunotte, er könne "sein Ziel als erreicht ansehen". Gerade die Funktion der Kirchenkanzlei als 'schlagkräftiges Instrument der Kirchenleitung' sah Asmussen in seinem Schreiben an die Ratsmitglieder vom 17. Dezember 1945 durch das Vorgehen des Rates jedoch gefährdet: "Die Tatsache, dass der Rat in den meisten seiner Glieder die Angriffe Brunottes gegen mich ohne Prüfung als berechtigt unterstellte, wenn auch ohne ausdrücklichen Beschluss, ist unerträglich. Der Rat ist nicht arbeitsfähig, wenn das Organ, das seine Angelegenheiten bearbeitet, unter das Gesetz gestellt wird: Wenn Du Widerspruch findest, hast Du a limine Unrecht." 58 Die Gründe für die Entscheidung des Rates sah evangelisches Kirchenrecht eingerichtet" (C. NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, Protokolle I [Anm. 1], S. 225). 55 Eine entsprechende Beauftragung hatte der Rat Fricke bereits auf der zweiten Sitzung am 18./19.10.1945 erteilt (EBD., S. 33). Zum Zeitpunkt der dritten Sitzung war auch Schwarzhaupt bereits in der Frankfurter Außenstelle tätig. 56

E Z A BERLIN, 2 / 7 4 .

57 Vgl. Anm. 17. 58

C . NICOLAISEN/N.A. SCHULZE, P r o t o k o l l e I ( A n m . 1), S. 319.

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Asmussen allerdings nicht bei der Kirchenkanzlei, sondern beim Rat selbst, der "kein von allen Ratsmitgliedern geteiltes Selbstverständnis" besitze und darum auch die Aufgaben der Kirchenkanzlei so unterschiedlich beurteile. Obwohl Asmussen damit die Lage innerhalb des Rates durchaus zutreffend charakterisiert hatte, zeichneten sich mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Auffassungen im Hinblick auf die Rolle der Kirchenkanzlei bereits zu Beginn seiner Amtszeit die Konflikte ab, die 1948 zu seinem Ausscheiden aus dem Amt des Leiters der Kirchenkanzlei führen sollten. Neuer Präsident der Kirchenkanzlei wurde 1949 Heinz Brunotte.

Wolf-Dieter Hauschild V O M "LUTHERRAT" ZUR VELKD 1945-1948 Zur Institutionen- und Organisationsgeschichte des deutschen Protestantismus nach 1933 hat Carsten Nicolaisen durch seine Forschungen grundlegende Beiträge geliefert. Es handelt sich um eine komplizierte Materie, weil infolge der landeskirchlichen Gliederung, der konfessionellen Differenzierung und der kirchenpolitischen Gegensätze ein verwirrendes Geflecht von Institutionen und Organisationen bestand. Und dieses setzte sich nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung 1945 fort. Der 1936 - nach einer Vorgeschichte seit 19331 . gegründete "Rat der Evangelisch-Lutherischen Deutschlands", abgekürzt meist als "Lutherrat" bezeichnet, verstand sich als der lutherische Teil der Bekennenden Kirche und stand von vornherein in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis zu dem bruderrätlich organisierten Teil der Bekennenden Kirche 2 . Bis 1940 hat er neben den Vollsitzungen vor allem durch sein Berliner Sekretariat recht effektiv gearbeitet: mit dem Vizepräsidenten des hannoverschen Landeskirchenamtes Paul Fleisch als stellvertretendem Vorsitzenden (der bayerische Landesbischof Hans Meiser als Vorsitzender seit 1938 war - im Unterschied zu seinem Vorgänger Oberkirchenrat Thomas Breit - nicht ständig in Berlin präsent), Martin Gauger als Justitiar, dem bayerischen Pfarrer Christian Stoll (bis 1938, dann Ernst Kinder) und dem württembergischen Dekan Heinrich Pfisterer (bzw. Friedrich Keppler bis 1941) als theologischen Dezernenten, Pfarrer Hanns Lilje als Vertreter des Lutherischen Weltkonvents und Hannsludwig Geiger als Pressereferenten. Nach 1940 nahmen die Kooperations- und Wirkungsmöglichkeiten infolge der kriegsbedingten" Einschränkungen ab (z.B. durch das Ausscheiden Kinders, Gaugers, Geigers, Liljes und 1

Vgl. dazu CARSTEN NICOLAISEN: Lutherisches Sammlungswerk im Dritten Reich. In: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 41, 1986, S. 85-88. Zur Entwicklung vor 1933 vgl. WOLF-DLETER HAUSCHILD: Konfessionelles Selbstbewußtsein und kirchliche Identitätsangst. Zur Gründung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands im Jahre 1948. In: Jürgen Jeziorowski (Hg.): Kirche im Dialog. Hannover 1988, S. 1947.

2

Vgl. PAUL FLEISCH: Das Werden der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und ihrer Verfassung. In: ZevKR 1, 1951, S. 15-55; dazu die Urkundensammlung EBD., S. 4 0 4 - 4 1 8 .

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Huttens, des Nachfolgers von Keppler, aus dem Sekretariat); nach der schweren Bombenbeschädigung des Berliner Bürogebäudes 1943 führte Fleisch allein die Arbeit von Hannover aus fort, und es konnten bis zum Oktober 1944 noch einige Vollsitzungen des Rates - meist in Fulda - stattfinden 3 . So bestand im Grunde eine organisatorische Kontinuität bis zu den Neuansätzen im Jahre 1945. Arbeitstechnisch war es von Bedeutung, daß nach Auflösung des Berliner Sekretariats sowohl in Hannover (mit Paul Fleisch als Leiter der Geschäftsstelle) als auch in München (mit Meiser als Vorsitzendem) zwei Stellen amtlich für den weiterhin existenten "Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands" tätig waren. Konzeptionell war es wichtig, daß schon 1936 in § 1 der Grundbestimmungen festgelegt war: "Das Ziel des Zusammenschlusses ist die Ausgestaltung des Bundes zur evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands. Die zusammengeschlossenen Kirchen sind willens, unter der Gewährleistung der Erhaltung ihrer Eigenart sich künftig der evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands als Sprengel einzufügen" 4 . Die Initiative, um das alte Ziel der Bildung einer lutherischen Kirche Deutschlands zu realisieren, ging im Juni/Juli 1945 von Hannover und Bayern gleichermaßen aus. Sie setzte sowohl das definitive Ende der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), die im Grunde seit dem Winter 1933/34 nicht mehr verfassungsgemäß organisiert war, als auch die faktische Auflösung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union voraus. Sie konkurrierte freilich mit dem Ziel des sog. Kirchlichen Einigungswerkes, mit dem der württembergische Landesbischof Theophil Wurm 1942/43 eine Verständigung verschiedener Gruppen und Landeskirchen auf DEK-Ebene herbeigeführt hatte. In Anknüpfung daran bereitete Wurm seit Juni 1945 die kirchliche Neuordnung durch eine Konferenz aller Landeskirchen vor, für die er am 25. Juli zum 27.-31. August nach Treysa einlud. Angesichts der enormen Reise- und Tagungsschwierigkeiten legte es sich nahe, daß Meiser die Mitglieder des Lutherrats eben dorthin, und zwar für den 26./27. August einlud.

3

4

Vgl. PAUL FLEISCH: Zehn Jahre "Rat der Evang.-Luth. Kirche Deutschlands" (masch. Bericht vom Herbst 1945): Landeskirchliches Archiv Hannover, D 15 V/14. Die dort verwahrten Akten des Lutherrats (Bestand D 15) werden im folgenden nur mit Angabe der Signatur zitiert. Grundbestimmungen des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands vom 25./26. November 1936. In: KURT DIETRICH SCHMIDT (Hg.): Dokumente des Kirchenkampfes II. Die Zeit des Reichskirchenausschusses (AGK. 14). Göttingen 1965, S. 1167-1169.

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Die vorgesehene Tagesordnung enthielt keinen Hinweis auf die intendierte Gründung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands 5 . Daß Meiser entsprechende Pläne hatte (sie aber nicht vorzeitig verraten wollte), ließ sich an der Vorbereitung erkennen. Auf seinen Wunsch hin fertigte der Erlanger Systematiker Hermann Sasse im Juli 1945 einen ausführlichen "Entwurf einer Verfassung für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Deutschland" (VELKD) samt Begründung sowie einen kürzeren "Entwurf einer Satzung für den Rat der evangelischen Kirchen in Deutschland" an 6 . Gerade der Zusammenhang beider Dokumente machte deutlich, wie man auf Wurms Initiative zu reagieren gedachte: Neben der kompakten lutherischen Einheitskirche mit zentralen Kompetenzen gegenüber den als "Teilkirchen" eingegliederten Landeskirchen sollte ein gesamtevangelisches Beratungsforum stehen zur Kooperation zwischen drei Blöcken: der "Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland", der "Evangelisch-Reformierten Kirche in Deutschland" und der "EvangelischUnierten Kirche in Deutschland" 7 . Unabhängig davon bereitete Fleisch als stellvertretender Vorsitzender die sofortige Ausrufung der Vereinigten Kirche samt einem Verfassungsentwurf vor. Wegen der außerordentlich schwierigen Verkehrsverbindungen - insbesondere über die Grenzen der Besatzungszonen hinweg - war eine Koordination der Vorbereitung für die erste Nachkriegstagung des Lutherrats nicht möglich. Dennoch bestand zumindest zwischen Bayern und Hannover in wesentlichen Grundzügen Ubereinstimmung: a) den "Bund" der im Lutherrat zusammengeschlossenen Kirchen (Bayern, Hannover, Lippe/lutherische Klasse, Schaumburg-Lippe, Württemberg) sofort zu erweitern durch förmlichen Beitritt der bisher nur durch Bruderräte vertretenen Landeskirchen Braunschweig, Lübeck, Mecklenburg, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen 8 ; b) die Umgestaltung des Rates zu einer "Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche (Deutschlands bzw. in Deutschland)" durch sofortige Proklamation derselben, wobei über diese Bezeichnung offenbar schon frü-

5

Das Einladungsschreiben vom 11.8.1945 (D 15 IV/3) sah vor: "1. Bericht über die Lage der lutherischen Kirche. 2. Unterstützung der Arbeit des Rates der Evang.-Luth. Kirche Deutschlands. 3. Behandlung einzelner kirchlicher Arbeitsgebiete (Unterricht, Jugendarbeit, theologisches Studium, Kirchenzucht, Innere Mission, Besoldungsfragen). 4. Ökumenische Fragen."

6 7 8

Text in D 15 V/14 mit Schreiben Sasses vom 22.7.1945 an Meiser. Vgl. den Text in D 15 V/19 Bd.l. Die Kirchenleitungen von Braunschweig und Lübeck waren mit Schreiben vom 11.7. und 13.7.1945 formell beigetreten; die Vertreter der Hamburger Kirchenleitung erklärten am 26.8. in Treysa ihren Beitrag; vgl. P. FLEISCH, Werden (Anm. 2), S. 44f.

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her ein Einvernehmen erzielt worden war; c) die Elemente der künftigen Verfassung dieser Kirche, insbesondere hinsichtlich der Organstruktur. Die offizielle Sitzung des Lutherrats (mit Vertretern von Bayern, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Lippe/lutherische Klasse, Lübeck, Schaumburg-Lippe, Württemberg) wurde am 26. August um 15.00 Uhr durch Meiser eröffnet. Doch bereits am Morgen dieses Tages (oder am Vortag?) hatte entgegen der in der Einladung genannten Terminierung - Fleisch die Beratungen der bis dahin anwesenden Vertreter von Hannover, Lippe, Lübeck, Schaumburg-Lippe und Hamburg eröffnet und seine beiden Entwürfe vorgelegt, eine Fortschreibung der Grundbestimmungen von 1936/37 und "Grundzüge einer Verfassung für eine Vereinigte Evang.-Luth. Kirche Deutschlands"9. Beiden Texten stimmten die Anwesenden zu, doch das war angesichts der Irregularität der Sitzung im Grunde gegenstandslos. Indessen knüpfte Meiser nach der offiziellen Eröffnung daran an. Schon im einleitenden Bericht rief er zu einem Neubau angesichts der historischen Chance auf: "Zum ersten Mal seit der Reformation scheint uns in dieser Stunde der Weg für die kirchliche Neugestaltung völlig freigegeben zu sein. Wir haben im Augenblick keine Staatsmacht, die uns irgendwelche Bindungen auferlegte. Die innerkirchlichen Bindungen, die uns von unserer Zugehörigkeit zur DEK herkommen, sind auch in einer Weise gelockert, daß uns für die Neugestaltung jede Möglichkeit gegeben ist. Wir würden eine geschichtliche Stunde versäumen, auf welche unsere Väter seit Jahren und Jahrzehnten gehofft haben, wenn wir nicht zur Tat schritten. Darum sehe ich als unsere erste Aufgabe an: Die endliche Bildung der lutherischen Kirche Deutschlands. Kommt sie zustande, so werden wir uns mit Hingabe und Eifer der Pflege ihres inneren Lebens zu widmen haben, der Gestaltung ihrer Ordnungen, der Belebung der theologischen Wissenschaft, der Entbindung ihrer lebendigen Kräfte für das öffentliche Leben ... Damit entziehen wir uns nicht unserer Verpflichtung gegenüber dem Gesamtprotestantismus. Aber die Verfassung von 1933 kann höchstens der rechtliche Ausgangspunkt sein für eine Neuordnung innerhalb der Gesamtkirche. Zu ihr zurückzukehren verwehren uns einfach die Erfahrungen, die wir inzwischen gemacht

9

Vgl. dazu PAUL FLEISCH: Erlebte Kirchengeschichte. Hannover 1952, S. 300f., ferner den Bericht der Lübecker Delegation (D 15 IV/3) und den Bericht von Heinz Brunotte (Ev. ZENTRALARCHIV BERLIN, 2/64). Das handschriftliche Protokoll Fleischs (D 15 IV/3) ver-

merkt: "Vorberatung am 25. ... 1. Das Sekretariat legt eine 'Vorläufige Ordnung' der 'deutschen luth. Kirche' vor, die mit einigen Änderungen und Ergänzungen gebilligt wird. Das Sekretariat legt den Entwurf einer Verfassung der deutschen luth. Kirche vor, der ebenfalls grundsätzlich gebilligt wird."

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haben." 10 Das entsprach seiner Konzeption, wie sie auch in Sasses Entwürfen ausgedrückt war. Nach einer Aussprache über die allgemeine kirchliche Situation zitierte Meiser § 1 der Grundbestimmungen von 1936 und gab die "Grundzüge einer Verfassung" bekannt 11 (vermutlich war das der Fleisch'sche Entwurf). Dann fragte er, ob die Mitglieder bereit seien, von der bisherigen Form des Lutherrats "zu einer festen Bindung weiterzuschreiten". Damit war das gemeint, was Fleisch und andere nachträglich als "Ausrufung" der Vereinigten Kirche bezeichneten 12 . Marahrens (für Hannover) und Seebaß (für Braunschweig) erklärten ihre Zustimmung, Hamburg und Lübeck äußerten etwas zurückhaltender dies als ihr Bestreben, Lippe konnte keine bindende Erklärung abgeben; Meiser wertete das allerdings alles als Zustimmungserklärung. Dagegen plädierte Wurm unter Hinweis auf die Kirchenführerkonferenz und das Verhältnis zum Bruderrat der Bekennenden Kirche für ein Abwarten und präzisierte das in einem weiteren Gesprächsgang mit Rechtsbedenken, weil in der württembergischen Kirchenleitung die Sache noch nicht geklärt worden sei. Trotz intensiver Diskussion blieb die Haltung der Württemberger (Wurm, Schlatter, Pressel) ablehnend. So kam es nur zur einmütigen Bekräftigung der Gültigkeit der Grundbestimmungen von 1936 und zur Annahme einer - von Lilje und Merz entworfenen - Erklärung, wonach die im Lutherrat zusammengeschlossenen Landeskirchen "auch künftig im Bunde mit den bekenntnisbestimmten reformierten und unierten Kirchen ... für eine gerechte und würdige Ordnung der evangelischen Kirche" sorgen wollten: "Bei der Neuordnung der DEK die Lutherische Kirche Deutschlands zur Darstellung zu bringen, betrachten sie als ihre vornehmste Aufgabe. Darum beauftragen sie einen Ausschuß, den angeschlossenen Landeskirchen den Entwurf einer Verfassung der Lutherischen Kirche in Deutschland vorzulegen." 13 Nachdem die sofortige Etablierung einer Lutherischen Kirche Deutschlands gescheitert, aber auf der Konferenz von Treysa die "Evangelische Kirche in Deutschland" (EKD) grundsätzlich konstituiert worden war 14 , 10

A u f z e i c h n u n g : LANDESKIRCHLICHES ARCHIV NÜRNBERG, M e i s e r 121; d e m e n t s p r i c h t

das

Tagebuch Bogners (LKA NÜRNBERG). 11 So die Formulierung Bogners; in Meisers Aufzeichnung heißt es "Richtlinien für eine neue Verfassung." 12 Vgl. das Protokoll des Lutherrats (D 15 IV/3) zu T O P 4: "D. Meiser legt die Frage vor, ob man jetzt bereit sei, die Vereinigte deutsche luth. Kirche zu schaffen. Seitens des Sekretariats wird dazu die in der Vorberatung abgeänderte 'Vorläufige Ordnung' vorgelegt". 13 Text bei FRITZ SÖHLMANN (Hg.): Treysa 1945. Die Konferenz der evangelischen Kirchenführer 27.-31. August 1945. Lüneburg 1946, S. 180. 14 Vgl. dazu WOLF-DIETER HAUSCHILD: Die Kirchenversammlung von Treysa 1945 (Vorlagen. 3 2 / 3 3 ) . H a n n o v e r 1985.

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bestand eine unklare Situation. Nach dem Willen Meisers und anderer Lutherratsmitglieder sollte die EKD keine Kirche sein (können und dürfen), sondern auf einen Bund bekenntnismäßig bestimmter Kirchen beschränkt bleiben; die DEK sollte faktisch abgelöst werden durch eine große lutherische Kirche Deutschlands. Die Ausarbeitung von Verfassungen für beide Institutionen wurde nun zur dringlichen Aufgabe, und dabei setzte der Lutherrat die bisherigen Überlegungen sofort konsequent in Konkretionen um, während der Rat der EKD sich zunächst anderen Aufgaben zuwandte. Der Lutherrat hatte in Treysa beschlossen: "Die Verfassung soll zunächst vom Sekretariat (Fleisch und Lilje) unter Zuziehung von Herntrich ausgearbeitet, dann in Bayern durchgesehen werden." 15 Meiser und Fleisch hatten vereinbart, daß letzterer auf der Grundlage der bayerischen Vorschläge seinen Verfassungsentwurf ausarbeiten sollte16. Schon am 1. Oktober konnte er Meiser mitteilen, daß der Entwurf fertiggestellt und an Herntrich sowie Lilje für eine gemeinsame Beratung über "die letzte Überarbeitung" gesandt worden sei17. Mit Schreiben vom 6. November schickte er den Entwurf (ohne Begründung) an Meiser und teilte mit, daß Herntrich sich bisher nicht geäußert habe; er schlug vor, daß die Münchner den Text prüfen und ändern sollten und daß er dann "den Entwurf zur Begutachtung sämtlichen angeschlossenen Kirchenbehörden mit der Bitte, Änderungen vorzuschlagen", schicken wollte 18 . Angesichts erheblicher Differenzen in Einzelheiten der Verfassungsbestimmungen konnte jedoch nicht so rasch verfahren werden; eine mündliche Beratung war erforderlich. Bevor diese stattfinden konnte, kam es am 30. Januar 1946 im Rat der EKD zu einer entscheidenden Weiterführung. Durch ihre zahlreichen Verlautbarungen und Aktivitäten gegenüber der deutschen Öffentlichkeit, den Landeskirchen, der Ökumene und den Besatzungsmächten hatte die EKD in dem knappen halben Jahr seit Treysa bereits eine beachtliche Konsolidierung als Vertretung des deutschen Protestantismus erwirkt. Für die kirchliche Praxis hatte sie viel größere Bedeutung als der Lutherrat gewonnen. Allerdings blieb die ekklesiologische Grundsatzfrage (und damit der Ansatz für eine Verfassung) ungeklärt. Hier drohte die fortschreitende Vorbereitung einer lutherischen Kirche die künftigen rechtlichen und institutionellen Möglichkeiten stark einzugrenzen. Deswegen befaßte sich der Rat auf seiner

15 Protokoll vom 26./27.8.1945, S. 1 (D 15 IV/3). 16 Vgl. P. FLEISCH, Zehn Jahre (Anm. 3) S. 8: Dies sollte das Sekretariat "nach Beratung mit Lic. Herntrich" tun. 17 Fleisch an Meiser 1.10.1945 (mit Eingangsstempel vom 20.10.): D 15 V/14. Fleischs Entwurf ist von ihm handschriftlich datiert auf den 18.9.1945. 18 Fleisch an Meiser 6.11.1945 (mit Eingangsstempel vom 20.11): D 15 V/14.

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vierten Sitzung in Frankfurt/Main - auf Anregung von Hans Asmussen hin ausführlich mit dem Thema "konfessionelle Frage" im Zusammenhang einer Gesamtkonzeption von EKD 1 9 . Meiser sollte dazu ein Kurzreferat, Niesei ein Korreferat von reformierter Seite halten. Meisers Ausführungen 2 0 brachten sein Programm der Errichtung einer Vereinigten Lutherischen Kirche in Verbindung mit einer Reduktion der D E K / E K D auf einen bloßen Bund. Er begründete das damit, daß die evangelische Kirche bekenntnisbestimmt sei und daß deswegen 1933 bei Gründung der D E K wie 1934 in Barmen die "bekenntnismäßige Gliederung" geachtet worden sei; "eine der entscheidenden Erkenntnisse des Kirchenkampfes" sei die unauflösliche Bindung von Ordnung und Leben der Kirche an das Bekenntnis. "Nur völlige theologische Naivität kann dem ernsten konfessionellen Anliegen gegenüber behaupten: Wir stellen die Bibel über das Bekenntnis!" Denn das aus der Bibel genommene Bekenntnis sei als "Waffe gegen Schwärmer und andere Irrgeister" wichtig; es sei "Regel und Richtschnur" für Lehre und Leben, so daß die klare Bindung an es "warmes geistliches Leben aufblühen" lasse. Von dem so - gegen ein formalistisches Verständnis - abgegrenzten Bekenntnisbegriff her begründete Meiser die Entschlossenheit, "nunmehr die bekenntnisgebundenen lutherischen Kirchen als Vereinigte Evang.-Luth. Kirche zu verbinden" und mit den übrigen Kirchen der E K D "in einer ehrlichen Föderation zusammenzustehen". Von jenem Ansatz her folgerichtig, aber kirchenpolitisch höchst problematisch hielt Meiser die Möglichkeit offen, "daß Kirchen der Union sich nach den Bekenntnissen gliedern und sich der lutherischen oder reformierten Kirche in Deutschland anschließen". Doch vorerst ging er von der Drei-SäulenTheorie aus und beantragte, daß der Rat erklären sollte: "Die EKiD. ist eine Föderation von Bekenntniskirchen", und zwar nicht als Zusammenschluß 19 Vgl. Asmussens Einladungsschreiben vom 3.1.1946: "Die kommende Sitzung wird ganz der Aufgabe gewidmet sein, über den Kurs Klarheit zu schaffen, den der Rat der E K D zu steuern hat. Solange über diesen Kurs keine Klarheit herrscht, hängen alle unsere Arbeiten, nicht zuletzt die Arbeit des Verfassungsausschusses, in der Luft. Hinsichtlich des Aufbaus der E K D stehen wir vor allem vor drei großen Aufgaben: Es geht zuerst um die konfessionelle Frage, die ja bereits mit großem Nachdruck von den Kirchen des Lutherischen Rates in Angriff genommen worden ist. Im engsten Zusammenhang damit steht die Frage nach dem Schicksal der Altpreußischen Union und damit aller Unionen im Gebiet der EKD. Mit beiden Fragen auf das engste verflochten ist die Aufteilung, welcher das Gebiet der E K D durch die Trennung in einen östlichen und einen westlichen Teil unterliegt": CARSTEN NLCOLAISEN/NORA ANDREA SCHULZE (Bearb.): Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Band 1: 1945/46 (AKZG. A 5). Göttingen 1995, S. 320f. 20

"Die konfessionelle Frage innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland" (EBD., S. 366370). Die allgemeine Bedeutung dieses Textes wird auch daraus ersichtlich, daß er ebenfalls im Lutherrat verbreitet wurde (vgl. D 15 V/14).

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von Landeskirchen, sondern der Vereinigten Evang.-Luth. Kirche, der Reformierten und der Unierten Kirche. Damit war die Etablierung der VELKD als primärer Akt vorausgesetzt, was zur Folge hatte, daß der späteren EKD-Verfassung eine "konfessionelle Gliederung" zugrundeliegen sollte. In der Diskussion machten Niesei, Held, Niemöller, Asmussen, Wurm starke Bedenken gegen diese Konzeption, insbesondere "gegen den Zusammenschluß zu einer einheitlichen lutherischen Reichskirche" (Asmussen), geltend, weil sie zu einer konfessionellen Spaltung der EKD führen bzw. weil sie die EKD überflüssig machen würde, wenn "die lutherische Reichskirche" mit 80 Prozent des Bestandes der EKD einheitliche Regelungen des Gottesdienstes, des Gesangbuchs und der Ordnungen besäße (so Held) 21 . Dibelius' nüchterne Entgegnung, es gehe nicht um irgendwelche Wunschvorstellungen, sondern um die Realität, wonach die EKD derzeit die einzige öffentlich-rechtliche Vertretung des deutschen Gesamtprotestantismus sei, führte dann zum Ergebnis, einem übereinstimmenden Beschluß, der dies Prinzip formulierte und durch zwei weitere ergänzte: "2. Das Recht der Landeskirchen, sich untereinander enger zusammenzuschliessen, bleibt unbestritten. 3. Es besteht Einmütigkeit darüber, dass durch solche Zusammenschlüsse die Einheit der EKD nicht preisgegeben werden soll"22. Damit waren die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt, indem einer Verdrängung der EKD durch die VELKD (bzw. die drei Konfessionskirchen) ein Riegel vorgeschoben wurde und ansonsten alle Konkretionen in der Schwebe blieben. Nun begann ein längeres Ringen um die Ausgestaltung der EKD und das Verhältnis EKD-VELKD. Der Lutherrat verfuhr allerdings zunächst so, daß er unabhängig von einer Klärung die Weiterarbeit an der VELKD-Verfassung vorantrieb. Der Mitgliederbestand hatte sich inzwischen durch den Beitritt von Mecklenburg, Thüringen, Sachsen und Eutin erweitert 23 . Fleischs in Erlangen (durch Hermann Sasse, Walter Künneth und Hans Liermann) und in München überarbeiteter Entwurf war Gegenstand der Beratung eines in Neuendettelsau am 18./19. März 1946 tagenden Ausschusses. Zumal aufgrund der präzi21 Wortprotokoll der Sitzung vom 30./31.1.1946: C. NICOLAISEN/N. A. SCHULZE, Protkolle I (Anm. 19), S. 330-339. 22

E n t s c h l i e ß u n g e n d e s R a t e s d e r E K D v o m 3 0 . / 3 1 . 1 . 1 9 4 6 (EBD., S. 3 2 3 ) .

23 Vgl. P. FLEISCH, Werden (Anm. 2), S. 45. Oldenburg hatte sich 1936/37 der Aufforderung, dem Lutherrat beizutreten, verschlossen. Dieser zeigte 1945 wenig Neigung, seine Aufforderung zu wiederholen; vgl. dazu z.B. Fleischs Brief an Stählin vom 19.11.1945 (D 15 V/14) und WILHELM STÄHLIN: Via Vitae. Kassel 1968, S. 502 zur Treysaer Tagung: "Meiser hatte es übrigens ausdrücklich abgelehnt, mich, den Bischof einer lutherischen Kirche, zum Lutherrat einzuladen."

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sierenden Änderungsvorschläge des Erlanger Staats- und Kirchenrechtsprofessors Hans Liermann entstand eine in etlichen Einzelheiten veränderte Vorlage für die nächste (d.h. zweite) Lutherratstagung. Diese fand am 30. April 1946 in Treysa statt, weil der Rat der EKD zu seiner Sitzung am 1./2. Mai Vertreter der Landes- und Provinzkirchen eingeladen hatte24. Einigkeit bestand darüber (also mit der Zustimmung der württembergischen Vertreter Wurm und Theodor Schlatter), "daß die VELK gebaut werden muß, daß die EKiD nicht enger gefaßt werden kann als die DEK" 2 5 . Das entsprach dem Beschluß des Rates der EKD vom 30. Januar 1946. Der Verfassungsentwurf wurde eingehend beraten, jedoch nur in wenigen Punkten noch geändert. Das Sekretariat (d.h. Fleisch) sollte eine Begründung dazu erstellen und das Ganze den angeschlossenen Kirchenleitungen zur Stellungnahme zuleiten. Beide Texte hatte Fleisch bereits Anfang Mai fertig, der Versand an die Mitgliedskirchen erfolgte am 20. Mai mit der Bitte um Stellungnahme26. Zwei Ereignisse beeinflußten nun den weiteren Fortgang: a) Asmussen hatte dem Rat der EKD und der "Kirchenkonferenz" in Treysa am 1. Mai einen Bericht "Der Kurs der EKD" vorgetragen, in welchem er - implizit gegen den Lutherrat - den geistlich-theologischen Charakter der EKD und ihrer Aufgaben betonte und das lutherische Vorgehen als problematisch kritisierte 27 . Auf der anschließenden Tagung des Bruderrats der EKD in Treysa am 5./6. Mai wurde - angesichts des Planes, eine neue Bekenntnissynode einzuberufen - eine Kommission für Gespräche mit dem Lutherrat gebildet und Asmussen als Vorsitzender beauftragt, diese durch Kontakt mit Meiser vorzubereiten. Das erste Gespräch kam relativ schnell zustande: in Neuendettelsau am 25. Juni 1946 (Vertreter des Lutherrats: Meiser, Bogner, Lilje, Merz, Stoll; Vertreter des Bruderrats: Beckmann, Dipper, Iwand).28 - b) Zuvor aber war eine heftige allgemeine Diskussion um den "Sonderweg" der Lutheraner entbrannt, ausgelöst durch einen offiziösen Zeitschriftenartikel Christian Stolls vom 18. Mai. Vor dieser Diskussion hatte allerdings der Rat der EKD angesichts der bisher unüberbrückbaren Spannungen beschlossen, seine nächste Tagung in Speyer am 21./22. Juni vornehmlich "der brüderli24

Es ging dabei vor allem um Entnazifizierungsfragen; vgl. CLEMENS VoLLNHALS: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945-1949. München 1989, S. 74-80.

25 26

Protokoll des Lutherrats vom 30.4.1946, S. 1 (D 15 V/14). Zusendung an Stoll/München mit Schreiben vom 5. und 6.5.1946 (D 15 IV/3). Ausfuhrliches Referat des Inhalts bei ANNEMARIE SMITH-VON OSTEN: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKZG. B 9). Göttingen 1980, S. 176-180.

27

C . NICOLAISEN/N. A. SCHULZE, Protokolle I (Anm. 19), S. 518-527. Vgl. die Übersicht bei A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26), S. 191-193.

28

Vgl. dazu die Übersicht EBD., S. 205-207.

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chen Aussprache" zu widmen, und das hieß: der offenen Erörterung des Zielkonflikts. Da bislang die lutherischen Verfassungsentwürfe über den engeren Kreis des Lutherrats hinaus nicht bekannt geworden waren, boten Stolls Hinweise eine erste öffentliche Information und erregten damit scharfe Kritik vor allem in Bruderratskreisen 29 . Auch im Rat der EKD stießen sie auf Ablehnung und Kritik. Martin Niemöller war sogar der Sitzung ferngeblieben, weil ihm die ganze Entwicklung der EKD seit Sommer 1945 nicht paßte. Die Diskussion in Speyer erbrachte keine neuen Aspekte, doch der Rat beschloß - auf Anregung von Otto Dibelius - die Bildung eines Ausschusses (mit den Ratsmitgliedern Hanns Lilje und Rudolf Smend sowie mit dem Göttinger Theologieprofessor Hans Joachim Iwand), der bis zur nächsten Sitzung am 15./16. August "eine Skizze für den Entwurf der Verfassung der EKD vorlegen" sollte30. Doch weder die Sitzung noch der Entwurf kamen zustande. Wurm als Ratsvorsitzender und Asmussen als Präsident der Kirchenkanzlei richteten am 30. Juni ein grundsätzliches Memorandum über die Lage der EKD an die Landeskirchen und Bruderräte. Dessen Kern war die Auffassung, die einige Ratsmitglieder in Speyer gegen die Pläne des Lutherrats vorgetragen hatten: daß die Bildung einer VELKD den Aufbau der EKD vom Fundament der Landeskirchen her bedrohe (nämlich durch Bildung von konfessionellen Blöcken) und daß die Bekennende Kirche, vertreten durch die Bruderräte, als seinerzeitiger Vertragspartner der "Konvention von Treysa" ausgeschaltet werden würde 31 . Die Sitzung des Rates der EKD vom 21./22. Juni und das Neuendettelsauer Gespräch vom 25. Juni brachten eine gewisse Verständigung, aber keine Annäherung der Standpunkte und Konzeptionen. Es blieb bei dem Nebenund Gegeneinander der mit EKD und VELKD verbundenen Ziele. Dennoch wirkte sich die Diskussionslage auf die lutherische Verfassungsarbeit aus. Der Lutherrat erörterte auf seiner nächsten Tagung (12./13. September 1946 in Göttingen) abschließend den versandten Entwurf. Von den Stellungnahmen der Kirchenleitungen kam derjenigen aus Württemberg (von Wurm unterzeichnet) besonderes Gewicht zu, weil sie das gesamte Unternehmen in Frage stellte 32 . Der Stuttgarter Ev. Oberkirchenrat lehnte die Bildung einer lutherischen Kirche ganz ab und befürwortete stattdessen den Zusammen29 Vgl. dazu EBD., S. 181-188. 30 Vgl. dazu das Protokoll der Sitzung des Rates der EKD vom 21./22.6.1946, Ziffer 9 und den B e s c h l u ß : C . N I C O L A I S E N / N . A . SCHULZE, P r o t o k o l l e I ( A n m . 19), S. 5 7 9 ( B e s c h l u ß ) ; 579-

584 (Verlaufsprotokoll). 31

T e x t EBD., S. 6 1 6 - 6 2 1 ; vgl. a u c h d i e Z u s a m m e n f a s s u n g b e i A . SMITH-VON OSTEN, T r e y s a ( A n m . 26), S. 1 9 6 - 1 9 9 .

32 Zum folgenden vgl. den Text in D 15 V/14; vgl. auch A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26), S. 2 1 2 - 2 1 5 .

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Schluß des Gesamtprotestantismus in der EKD, weil gemeinsames Bekennen und entsprechendes kirchliches Handeln in der gegenwärtigen Notsituation des deutschen Volkes - insbesondere gegenüber den Besatzungsmächten und der Ökumene - auf dieser Ebene erforderlich wären; es gehe derzeit um weit mehr als die "konfessionelle Frage"; deshalb müßten die konfessionellen Schranken überwunden werden auf der Basis der "biblischen Unität" (die für Württemberg stets eine wichtige Rolle gespielt hätte); auch wenn die Bekenntnisbestimmtheit der EKD ein Problem sei, habe sich im Kirchenkampf ein gemeinsames Bekennen ergeben und damit "echte biblische Unität" verwirklicht. Es ging also für Wurm und seine Mitstreiter um eine eindeutige Alternative, weswegen sie die Bildung einer VELKD generell ablehnten, weil diese mit ihrer zentralistischen Verfassung die Einheit der EKD bedrohte. Zur Ablehnung tendierte auch Lübeck, wobei dessen Vertreter als Lösungsmöglichkeit das Nebeneinander von VELKD- und EKD-Verfassung anvisierte 33 . Bedenken gab es in Schleswig-Holstein, Eutin, Hamburg, Braunschweig und besonders stark in Sachsen. Thüringen wollte warten, bis es selbst im Lutherrat vertreten sei. So blieb als feste Basis für das Verfassungswerk zunächst nur die uneingeschränkte Zustimmung von Bayern, Hannover, Mecklenburg und Schaumburg-Lippe. Trotz der Schwierigkeiten drängten vor allem Meiser und Marahrens auf eine Entscheidung für die VELKD, unterstützt von Lilje, Fleisch und Stoll. Doch auch Halfmann (Schleswig-Holstein), Schöffel (Hamburg) und Seebaß (Braunschweig) sprachen sich dafür aus, befürworteten allerdings die gleichzeitige Weiterarbeit an einer EKD-Verfassung. Fleisch kam in diesem Zusammenhang auf den entsprechenden Entwurf des Lutherrats zurück (der ja die EKD im Sinne der Drei-Säulen-Theorie bloß als schwachen Bund vorsah), woraus deutlich wurde, daß die Grundsatzfrage immer noch ungeklärt war: Uber das prinzipiell von allen vorgesehene Nebeneinander von VELKD und EKD bestanden unterschiedliche Vorstellungen, weil die jeweils vorgesehenen Verfassungskonzeptionen stark divergierten. Als Ergebnis der Lutherratstagung vom 12./13. September 1946 ergab sich die Marschroute, trotz der Bedenken auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren. Das bedeutete den Verzicht auf Beteiligung Württembergs (was allerdings nicht direkt ausgesprochen wurde). Demgemäß wurde der Verfassungsentwurf in einer "letzten Lesung" behandelt, an einigen Stellen geändert und abschließend festgestellt. Der Lutherrat beschloß: "Der Verfassungsentwurf soll mit Begründung an die Kirchen hinausgegeben werden

33 Votum von Propst Johannes Pautke am 12.9.46; vgl. Protokoll, S. 7 (D 15 V/14).

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und dann nicht mehr vertraulich sein." 34 Vorgesehen war eine Beschlußfassung in den landeskirchlichen Synoden (mit Zustimmung oder Ablehnung; Änderungen des Textes durften nicht vorgenommen werden). Doch dieses zügige Verfahren ließ sich wegen grundsätzlicher und praktischer Schwierigkeiten nicht verwirklichen: weil die Verzahnung mit der EKD-Problematik ein retardierendes Element darstellte und weil die Entscheidungen der Synoden nicht so rasch zustandekamen. Die vorläufige Landessynode Hannovers, die nicht beschlußfähig war, begrüßte bereits im November 1946 die Verfassung und empfahl deren gesetzesmäßige Verabschiedung durch die erste ordentliche Landessynode. Entsprechend verfuhr Bayern, da auch dort die Wahlen für eine verfassungsgemäße Landessynode, die für einen Beschluß mit derartiger Tragweite kompetent war, erst 1947 abgeschlossen wurden. Infolge dieser Verzögerungen wirkte sich die allgemeine Grundsatzdiskussion auf die weitere Verfassungsarbeit aus. Durch die offizielle Bekanntgabe des VELKD-Verfassungsentwurfes erhielt die seit Juni 1946 geführte Diskussion - zusammen mit den Plänen des Bruderrats für die Vorbereitung einer EKD-Grundordnung und die Einberufung einer Bekenntnissynode35 - neuen Auftrieb. Um die EKD handlungsfähig zu machen für eine Verfassungsberatung, bedurfte es einer Plattform, die über den interimistischen Rat hinausreichte. Deswegen beschloß dieser auf seiner Sitzung am 10./II. Oktober 1946 in Frankfurt/Main, die eigenen Verfassungsvorbereitungen zurückzustellen und eine "Vorläufige Kirchenversammlung der EKD" vorzubereiten, weil die unklare Gesamtlage eine Beratung über die Verfassungsprinzipien erforderlich machte36. Da die meisten Landeskirchen dieses Vorhaben im wesentlichen billigten (auch diejenigen des Lutherrats mit Ausnahme Mecklenburgs und Sachsens), erließ der Rat der EKD am 24. Januar 1947 eine entsprechende Verordnung, welche die Zusammensetzung und die Rechte der Kirchenversammlung regelte57. Uber die "konfessionelle Frage" und damit über die künftige Gestalt von VELKD und EKD wurde in den Monaten vor dem Zusammentritt der Kirchenversammlung in Treysa am 5./6. Juni 1947 intensiv beraten, gestritten und verhandelt. Ein zweites Gespräch zwischen Vertretern von Lutherrat und Bruderrat in Neuendettelsau am 18. Dezember 1946 erbrachte außer einem Austausch über die unvereinbaren Standpunkte hinsichtlich Bekennt-

34

Protokoll, S. 11 (EBD.).

35

Vgl. dazu A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26), S. 202-205.

36

Vgl. dazu Protokoll, Ziffer 9: C . NICOLAISEN/N. A. SCHULZE, Protokolle I (Anm. 19), S. 652.

37

AMTSBLATT DER E K D 1, N r . 4 (Februar 1947), S. lf.

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nis, Kirche, Union kein Resultat 38 . Asmussen als Präsident der Kirchenkanzlei der EKD bat die theologischen Fakultäten um Gutachten zur Klärung der konfessionellen Situation, der Bedeutung der Bekenntnisse und der Barmer Theologischen Erklärung, was ein interessantes Echo auslöste39. Der Bruderrat der Bekennenden Kirche, aus dessen Kreisen bisher die schärfste Ablehnung der VELKD-Pläne gekommen war, verabschiedete am 20. Januar 1947 in Umformung eines Vortrags von Edmund Schlink vom 16. Oktober 1946 Grundsätze für die Ordnung der EKD, welche diese als einen "Bund von bekenntnisbestimmten evangelischen Kirchen" begriffen40. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine Verständigung mit dem Lutherrat. Allerdings erhielt der Dissensus dadurch neuen Auftrieb, daß der daran anknüpfende förmliche Grundordnungsentwurf vom 27. März 1947 neben den "Bekenntnissen der Reformation" auch die Barmer Theologische Erklärung als Grundlage der EKD deklarierte41. Wurm lud - eher in seiner Funktion als württembergischer Landesbischof denn als Ratsvorsitzender der EKD - die verschiedenen Gruppen zu Gesprächen ein; er führte ein solches am 14. Februar 1947 mit Mitgliedern des Lutherrats (Meiser, Lilje, Schlatter, Metzger u.a.) und am 6. Mai mit Vertretern der unierten Kirchen, ohne jedoch zu greifbaren Ergebnissen zu kommen 42 . Zwischenzeitlich hatten Asmussen und Wurm eine bedeutsame Gegenaktion gegen die Gründung der VELKD unternommen: den Versuch einer Zusammenfassung sämtlicher Kirchen und Gemeinden des Augsburger Bekenntnisses in Form eines Gesprächskreises der Lutheraner aus den Unionskirchen (in Detmold am 9./10. April 1947 gegründet)43. Dieser "Detmolder Kreis" spielte für gut ein Jahr eine nicht unwichtige Rolle als Träger des Konzepts einer "großlutherischen" Lösung, d.h. der Konstituierung der EKD auf der Basis der Confessio Augustana variata als einer bekenntnisbestimmten Kirche (mit reformiertem "Anhang" alle Landeskir-

38

Vgl. A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26), S. 237-240 (im wesentlichen nach dem Bericht Ernst Kinders). Die Reserve gegenüber dem Bruderrat als Verhandlungspartner brachte Meiser im Lutherrat am 20.1.1947 zum Ausdruck; Protokoll, S. 5 (D 15 V/14).

39

Vgl. dazu A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26), S. 262; WOLF-DIETER HAUSCHILD: Die Relevanz von "Barmen 1934" für die Konstituierung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945-1948. In: Wolf-Dieter Hauschild/Georg Kretschmar/Carsten Nicolaisen (Hg.): Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Göttingen 1984, S. 363398, dort S. 389 Anm. 77.

40

Vgl. dazu EBD., S. 377.

41

Vgl. dazu EBD., S. 379.

42

Vgl. A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26), S. 264.

43

Vgl. die "Detmolder Erklärung" z.B. in K J 72-75, 1945-1948, S. 82-84.

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chen umfassend); damit sollte der Drei-Säulen-Konzeption des Lutherrats begegnet werden. Auch in dessen Mitgliedskirchen gab es starke Kräfte, die den EKDZusammenschluß einer VELKD vorzogen. Das zeigte sich beispielhaft bei den Beratungen der ersten Tagung der neuen hannoverschen Landessynode am 15. April 1947 (und ein halbes Jahr später sogar in Bayern). Dort fanden der Verfassungsentwurf und der Beitritt zur VELKD nur dadurch einmütige Billigung, daß zwei Zusatzbeschlüsse gefaßt wurden, wonach die Zugehörigkeit zur EKD durch den Beitritt nicht tangiert werden und die Beschlüsse der Barmer Bekenntnissynode in Geltung bleiben sollten 44 . Somit waren von verschiedenen Seiten die Weichen für einen Kompromißweg gestellt, der aus der seit 1945 andauernden Blockade herausführte. Unmittelbar vor der EKD-Kirchenversammlung traf der Lutherrat in Treysa am 4./5. Juni 1947 zusammen. Erstmals war - ebenso wie Thüringen - auch Sachsen vertreten, und von dieser Seite kamen sogleich Anderungsvorschläge zum Verfassungsentwurf45. Die Diskussion ergab ein durchaus differenziertes Bild, weil alle zwar die Bildung der VELKD bejahten (so nunmehr auch Wurm und Schlatter für Württemberg), aber hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses zur EKD unterschiedliche Meinungen bestanden. Als einhelliges Ergebnis der Beratung ergab sich, an dem begonnenen Zustimmungsverfahren festzuhalten, aber für Anderungswünsche der Synoden offen zu bleiben und im Blick auf die EKD die weitere Entwicklung abzuwarten. Der Braunschweiger Landesbischof Martin Erdmann beantragte: "Die versammelten Mitglieder des Rates der Evang.-luth. Kirche Deutschlands beschließen, den Weg der Sammlung von luth. Landeskirchen innerhalb der EKD (durch synodale Annahme der Verfassung der VELKD) weiterzugehen." 46 Der Lutherrat beschloß in diesem Sinne am 4. Juni, eine offizielle Zusatzerklärung zur Verfassung zu veröffentlichen. Ein entsprechender Entwurf dazu aus der Feder Ernst Kinders (der in Meisers Büro für den Lutherrat arbeitete) lag vor, wurde von einem Redaktionsausschuß (Beste, Brunotte, Kinder, Lau, Schlatter) überarbeitet und am 5. Juni "von allen stimmberechtigten Vertretern mit Ausnahme des Lübecker Vertreters angenommen" 47 . 44 So Heinz Brunotte im Lutherrat am 25.4.1947; Protokoll S. 2 (D 15 V/14). 45 Protokoll vom 4.6.1947, S. 2: Klärung des synodalen und des episkopalen Elements, der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, der Stellung zu "Barmen". Während aus Sachsen sieben Personen von Anfang an anwesend waren, kam der thüringische Landesbischof Moritz Mitzenheim erst am 5. Juni dazu; Protokoll, S. 10 (D 15 V/14). 46

Protokoll S. 6 (EBD.).

47 Protokoll S. 10 (EBD.). Der hektographierte Text ist fälschlich auf den 4. Juni datiert; dies Datum ist überall in der Literatur aufgenommen worden.

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Die besondere kirchenpolitische Bedeutung dieser "Entschließung zu dem Entwurf der Verfassung der Vereinigten Evang.-Luth. Kirche vom 12. September 1946" trat sogleich darin hervor, daß Meiser sie auf der Kirchenversammlung der EKD verlesen sollte und das auch tat, und zwar in einer Situation, als die festgefahrene Diskussion dadurch entkrampft werden konnte 48 . In fünf Punkten äußerte sich die Erklärung zu "Mißverständnissen", die seit der Veröffentlichung der VELKD-Verfassung entstanden waren. 1. Die sehr vagen bisherigen Aussagen über die "Gemeinschaft mit den übrigen evangelischen Kirchen in Deutschland" erfuhren insofern eine Verdeutlichung, als die VELKD dies innerhalb der EKD ohne Spaltung derselben praktizieren und "zu einer rechten kirchlichen Ordnung im Sinne eines Bundes von Bekenntniskirchen beitragen" wollte - unter Ausschluß der Möglichkeit "einer unionistischen Einheitskirche". Diese - gegen Zielvorstellungen, wie sie z.B. in Kreisen um Niemöller bestanden, formulierte - Bestimmung des Charakters der EKD war in starkem Maße konsensfähig, weil sie den Aussagen des Bruderrats und des "Detmolder Kreises" entsprach. - 2. Angesichts der intensiven Diskussion um die kirchliche Verbindlichkeit und die einheitsstiftende Funktion der Barmer Theologischen Erklärung für die EKD war es eine deutliche Bekundung der Reserve, wenn der Lutherrat feststellte: "Die VELKD steht bewußt auf dem Boden der in Barmen beschlossenen sachlichen Entscheidungen. Die dort ausgesprochenen Verwerfungen bleiben in ihrer Auslegung durch das lutherische Bekenntnis für unser kirchliches Handeln maßgebend". Doch angesichts des völligen Fehlens von "Barmen" im Verfassungsentwurf war es schon ein Fortschritt. Es entsprach der seit 1936 artikulierten Position des Lutherrats, die Theologische Erklärung vom Gesamten der Barmer Beschlüsse her zu deuten, also die Limitierung durch das lutherische Bekenntnis und die Auslegungsbedürftigkeit zu betonen und "den Mißbrauch ... im Sinne eines unionistischen Einheitsbekenntnisses" abzulehnen 49 . - 3. Während die VELKD als wirkliche Kirche zwischen ihren Gliedern "volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft" statuierte und diese durch Handhabung einheitlicher Lehrzucht absichern wollte, lehnte sie dies für die EKD ab, weil dort - abgesehen von den Differenzen im Bekenntnis die Frage der Lehrzucht bisher ungeklärt sei. - 4. Um dem Vorwurf zu begegnen, die VELKD betreibe eine "Aufspaltung der Unionskirchen" (was nach anfänglichen Intentionen 1945/46 seit Verabschiedung des Verfassungs-

48

Vgl. A . SMITH-VON OSTEN, T r e y s a (ANM. 26), S. 287.

49 Vgl. dazu WOLF-DETER HAUSCHILD: Die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis der Kirche? Zur Haltung des Lutherrats 1937-1948. In: Reinhard Rittner (Hg.): Barmen und das Luthertum (Bekenntnis. Fuldaer Hefte. 27). Hannover 1984, S. 72-112.

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entwurfes nicht mehr möglich war), stellte man klar, nicht "von sich aus an lutherische Gemeinden in unierten Kirchen heranzutreten"; allerdings sollte "künftigen Entwicklungen nicht gewehrt werden, wenn etwa lutherische Gemeinden oder Kirchengebiete in Kirchen mit uniertem Kirchenregiment ihren Bekenntnisstand klären und in irgendeiner Form den Anschluß an die VELKD suchen". Damit war nun allerdings der Verdacht der Unierten keineswegs auszuräumen und der Vorbehalt des Verfassungsentwurfes relativiert, der die Aufnahme lutherischer Gemeinden nur vorsah, "falls sie nicht einem anderen Kirchenregiment unterstehen". - 5. Die "Entstehung einer VELKD innerhalb der EKD" sollte als "vorwärtsführender Schritt" für eine "gesunde kirchliche Entwicklung in Deutschland" gelten (das war eine Reminiszenz an die Drei-Säulen-Konzeption!). Deswegen wurden die Synoden der dem Lutherrat angeschlossenen Kirchen zur Annahme des Verfassungsentwurfes aufgefordert, zugleich aber wurde eingeräumt, daß "nach der Errichtung der VELKD" (d.h. nach Zustimmung aller Gliedkirchen) "in der ersten Generalsynode die Verfassung noch einmal überprüft" und Anderungswünsche berücksichtigt werden könnten. Damit wurden die bisherigen Verfahrensmängel korrigiert, ohne die zügige Etablierung der VELKD aufs Spiel zu setzen. In die Grundsatzdiskussion der Kirchenversammlung der EKD vom 5./6. Juni 1947 ging der Lutherrat demnach mit einem festen Konzept: Die VELKD war im Werden und wurde überhaupt nicht mehr zur Disposition gestellt, doch zur EKD war man offen, da deren Ausgestaltung als Kirchenbund prinzipiell feststand, im einzelnen freilich Spielräume ließ. Während Hans Asmussen in seinem Bericht dazu aufforderte, die EKD trotz aller verfassungsrechtlichen und bekenntnismäßigen Probleme als Kirche im Sinne eines universalen Ansatzes zu begreifen, wiederholte Ernst Kinder als Referent des Lutherrats die Grundsätze von dessen Konzeption 50 : Das fundamentale ekklesiologische Prinzip der Bekenntnisbestimmtheit verlange, die Ordnung der Kirche vom Bekenntnis her zu gestalten; deshalb sei bei der Etablierung der EKD jede Form von Union auszuschließen, auch die württembergische Vorstellung einer "biblischen Unität". Demzufolge war die VELKD im theologischen Sinne wirkliche Kirche, die EKD dagegen nicht, sondern bloß ein Bund von Bekenntniskirchen. Die Aussprache der Kirchenversammlung brachte kein über diesen Ansatz hinausführendes Ergeb-

50

Texte: Ev. ZENTRALARCHIV IN BERLIN, 2 / 4 2 Beiheft 2. Vgl. die Zusammenfassung bei A. SMITH-VON OSTEN, Treysa (Anm. 26) S. 282-287 und W.-D. HAUSCHILD, "Barmen" (Anm. 39), S. 382-387.

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nis 51 . Abschließend wurde das Mit- und Nebeneinander von VELKD und EKD als Ordnungsmodell akzeptiert, und zwar mit folgenden Maßgaben: 1. Die EKD ist ein derartiger Bund von lutherischen, reformierten und unierten Kirchen, in dem sich "Kirche im Sinne des Neuen Testamentes verwirklicht". 2. Das Problem der Abendmahlsgemeinschaft sollte theologisch bearbeitet werden. 3. Die Verfassung der VELKD sollte "mit der kommenden Ordnung der EKD in Einklang gebracht" werden. Der letzte Punkt führte in Verbindung mit Einwänden gegen den Verfassungsentwurf aus Mitgliedskirchen des Lutherrats zu einer nochmaligen Verzögerung der Konstituierung der VELKD. Denn nun mußte in die Diskussion darüber noch stärker als bisher der Streit um Wesen und Gestalt der EKD einbezogen werden. Das zeigte sich deutlich auf der nächsten Tagung des Lutherrats am 15./16. Oktober 1947 in Fulda. Zwar konnte keine Einigung über die Leitideen für eine EKD-Grundordnung erzielt werden, aber das Prinzip, die VELKD als Kirche und die EKD als Bund zu definieren, blieb unstrittig. Um den rechtlichen Schwierigkeiten zu begegnen, wurde für die Konstituierung der VELKD nun zwischen dem grundsätzlichen Beitritt der Landeskirchen und der Verabschiedung der Verfassung getrennt; folgender Modus procedendi wurde aufgrund von Meisers Vorschlag vereinbart: " 1) Die Synoden der Landeskirchen erklären grundsätzlich ihren Beitritt zur VELKD, 2) die Synoden erkennen die nach den Bestimmungen des vorliegenden Verfassungsentwurfs einzuberufende Generalsynode der VELKD als rechtmäßiges Organ für die Beratung und endgültige Festsetzung der Verfassung der VELKD an, 3) die Generalsynode tritt zusammen und arbeitet den endgültigen Verfassungsentwurf aus unter Berücksichtigung der von den Synoden an sie ergangenen Anträge, Wünsche und Anregungen, 4) die Verfassung wird den Landeskirchen zur Ratifizierung vorgelegt, 5) die VELKD wird konstituiert." 52 Die landeskirchlichen Synoden setzten sich nunmehr mit dem bisherigen Verfassungsentwurf auseinander, was zu einer Reihe von Anderungsvorschlägen führte. Besondere Bedeutung erlangte der Beschluß der bayerischen Landessynode vom 31. Oktober 1947: Zusammen mit ihrem Beitritt zur VELKD legte sie der geplanten Generalsynode einen von ihr geänderten

51

Entschließung der Kirchenversammlung der EKD vom 6.6.1947 "Zur innerkirchlichen Lage" (KJ 72-75, 1945-1948, S. 84f.).

52

Protokoll vom 15./16.10.1947, S. 8 (D 15 V/14). Vgl. auch P. FLEISCH, Werden (Anm. 2), S. 46f.

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Verfassungsentwurf vor 5 3 . Abgesehen von organisatorischen Modifikationen (z.B. Streichung der Lutherischen Kirchenkanzlei als eines eigenen Leitungsorganes, Stärkung der Gliedkirchen gegenüber einem möglichen Zentralismus) wurde das Verhältnis zur E K D in einem neuen Artikel 2 anders als bisher formuliert: "Die Vereinigte Kirche, mit den anderen evangelischen Kirchen in Deutschland in einem Bund bekenntnisbestimmter Kirchen zusammengeschlossen, wahrt und fördert die im Kampf um das Bekenntnis geschenkte, auf der Bekenntnissynode von Barmen 1934 bezeugte Gemeinschaft." Auch die ökumenische Orientierung wurde als Grundsatzbestimmung neu betont, und zwar in doppelter Hinsicht (Art. 3): "Die Vereinigte Kirche weiß sich in der die Länder- und Völkergrenzen überschreitenden Einheit des Bekenntnisses mit allen Evang.-Luth. Kirchen der Welt verbunden. Sie ist bereit, sich an der ökumenischen Arbeit der gesamten Christenheit zu beteiligen." Der Lutherrat erörterte auf seiner Sitzung vom 11./12. März 1948 in Darmstadt diesen Entwurf zusammen mit anderen Anderungswünschen 54 . Er beschloß, den bayerischen Entwurf zur Grundlage der weiteren Beratungen zu machen, aber die Bildung eines "Lutherischen Kirchenamtes" (in terminologischer Unterscheidung von der "Kanzlei" der EKD) vorzusehen, das allerdings keine große bürokratische Institution werden sollte. Sachsen, das bisher den Beitritt zur V E L K D noch nicht erklärt hatte, brachte mit der Kritik an der zu starken episkopalistischen Orientierung der Verfassung (d.h. an den Kompetenzen der Bischofskonferenz) einen völlig neuen Vorschlag ein: die Schaffung einer VELKD-Kirchenleitung zur besseren Berücksichtigung des synodal-gemeindlichen Elementes neben demjenigen des geistlichen Amtes 55 . Obwohl der Lutherrat dies ablehnte, setzte sich das damit verbundene Interesse in der weiteren Verfassungsdiskussion schließlich durch. Die endgültige Struktur der V E L K D sah neben der Bischofskonferenz (samt Leitendem Bischof) und der Generalsynode die Kirchenleitung als drittes Organ vor, während die älteren Entwürfe stattdessen den Leitenden Bischof und den Ständigen Ausschuß der Generalsynode als eigene Organe konzipiert hatten 56 . 53 Drucksache in D 15 V/18 Bd. 1. Abgedruckt in: LUTHERISCHE GENERALSYNODE 1948. Bericht über die Tagung der Verfassunggebenden Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands vom 6. bis 8. Juli 1948 in Eisenach. Berlin 1956, S. 152ff. 54 Vgl. zum folgenden das "Sonderprotokoll" vom 12.3.1948 (D 15 IV/3). 55 Vgl. auch Art. 11-12 des Verfassungsentwurfs der Landeskirche Sachsens vom Mai 1948. In: LUTHERISCHE GENERALSYNODE 1948 (Anm. 53), S. 171f. und EBD. S. 63ff. die Erläuterungen des Dresdener Oberlandeskirchenrates Gottfried Noth. 56 Vgl. z.B. EBD., S. 91; 95; 112; 164f.

Vom "Lutherrat" zur VELKD 1945-1948

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Das war die letzte reguläre Sitzung des Lutherrats. Die Fortsetzung der Verfassungsdiskussion fand dann in neuem Rahmen, nämlich auf der Lutherischen Generalsynode in Eisenach vom 6. bis 8. Juli 1948 statt, welche endgültig zu beschließen hatte, um damit die Grundlage für die Konstituierung der VELKD zu schaffen, und das mit der einstimmigen Verabschiedung der Verfassung am 8. Juli auch tat 57 . Uber das weitere Schicksal des Lutherrats wurde anscheinend nicht mehr gründlich nachgedacht. Diese Institution begegnete am Beginn der Generalsynode insofern, als diese von Meiser in seiner Funktion als Ratsvorsitzender eröffnet wurde und die teilnehmenden Synodalen diejenigen Lutherrats-Kirchen repräsentierten, welche den Anschluß an die VELKD erklärt hatten 58 : Bayern, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Mecklenburg, Sachsen, Schaumburg-Lippe, Schleswig-Holstein und Thüringen. Württemberg und Lübeck, bis dahin Mitglieder des Lutherrats, waren durch Gäste vertreten, aber das galt auch für andere lutherische Kirchen wie Oldenburg und Pommern 59 . Eine förmliche Auflösung des Lutherrats brauchte deswegen nicht beschlossen zu werden, weil nach den Grundbestimmungen von 1936 sein "Ziel" - die Ausgestaltung des damaligen Bundes zur lutherischen Kirche Deutschlands - nunmehr erreicht war und weil Württemberg als einzige nicht "übergeleitete" Mitgliedskirche von der in der Verfassung (Art. 9,2; 11,5) gegebenen Möglichkeit Gebrauch machte, an der Generalsynode und der Bischofskonferenz mit Gaststatus teilzunehmen. Dennoch begegnete der Lutherrat in Eisenach noch als Institution, z.B. in dem Vorschlag des Synodalpräsidenten Eberhard Hagemann, "daß die Geschäfte [sc. der Vereinigten Kirche] zunächst durch den Lutherrat weiter geführt werden müssen" wegen des Fehlens anderer Organe60. Da das aber nicht mehr der neuen Verfassungswirklichkeit entsprach, beschloß die Generalsynode als Ubergangsbestimmung am 8. Juli die Bildung einer "Vorläufigen Kirchenleitung" (mit Landesbischof Meiser/Bayern als Vorsitzendem, Landesbischof Beste/Mecklenburg, OKR Herntrich/Hamburg, Präsident Kotte/Sachsen und Präsident Ahlhorn/Hannover); sie wies diesem Gremium "die in der Verfassung bestimmten Rechte und Pflichten" [sc. aller Organe der VELKD] zu61. Schon am 10. Juli trat diese Vorläufige Kirchenleitung in Eisenach zur konstituierenden Sitzung zusammen und regelte 57

Vgl. EBD., S. 122. T e x t der Verfassung in: ORDNUNGEN UND KUNDGEBUNGEN DER VEREINIGTEN EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KIRCHE DEUTSCHLANDS. Berlin 1954, S. 9 - 1 8 ; auch in:

KJ 72-75, 1945-1948, S. 149-156. 58

Vgl. LUTHERISCHE GENERALSYNODE 1948 ( A n m . 53), S. 2 7 .

59

EBD., S. 31. Lübeck trat am 30.6.1949 der VELKD bei.

60

EBD., S. 105.

61

EBD., S. 124. Text der Übergangsbestimmungen in: ORDNUNGEN (Anm. 57), S. 18.

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Wolf-Dieter Hauschild

einige organisatorische und personelle Fragen (z.B. die Einrichtung einer Geschäftsstelle an Meisers Amtssitz mit Pfarrer Hagen Katterfeld als Leiter) 62 . Damit war der Lutherrat, ohne daß das ausdrücklich erklärt wurde, an sein Ende gekommen, aufgehoben in den neuen VELKD-Organen bzw. interimistisch in der Vorläufigen Kirchenleitung bis zur ersten ordentlichen Generalsynode vom 25. bis 28. Januar 1949 in Leipzig. Mit der Ratifizierung der Eisenacher Verfassung durch sämtliche neun Gliedkirchen war die VELKD am 31. Dezember 1948 "zur Tatsache geworden", wie Meiser in seinem Leipziger Eröffnungsbericht feststellte63.

62 63

Protokoll der konstituierenden Sitzung vom 10.7.1948: D 15 V/15. LUTHERISCHE GENERALSYNODE 1949. Berlin 1956, S.82. Vgl. auch Meisers Verlautbarung vom 23.12.1948 und seine Kundgebung "Die kirchengeschichtliche Bedeutung des 31. Dezember 1948". In: KJ 76, 1949, S. l l l f .

Joachim Mehlhausen DIE WAHRNEHMUNG VON SCHULD IN DER GESCHICHTE Ein Beitrag über frühe Stimmen in der Schulddiskussion nach 1945

1. Theologische Vorüberlegungen Von Nathans Bildrede vom reichen Mann und dem armen Mann mit seinem einzigen kleinen Schäflein (2 Sam 12,1-4) über die reiche BeichtspiegelLiteratur des Mittelalters! bis hin zum Allgemeinen Gewissensspiegel im Katholischen Gebet- und Gesangbuch "Gotteslob" gibt es eine Uberfülle von Zeugnissen, die eindrucksvoll belegen, daß Menschen zur Wahrnehmung von eigenem schuldhaftem Verhalten auf fremde Hilfe angewiesen waren und wohl auch noch angewiesen sind. Die hohe seelsorgerische Weisheit einer als Ohrenbeichte praktizierten Einzel- oder Privatbeichte ist darin zu sehen, daß sie die "Funktion einer Instanz" übernehmen kann, "die mögliche Grenzüberschreitungen kontrolliert" und somit "die Zugehörigkeit zu einer objektiven Lebensform überwacht"2. Daß eine Absolution im Sakrament der Buße erst dann erteilt werden sollte, wenn es wirklich zur Wahrnehmung der konkreten eigenen Schuld gekommen ist (contritio cordis) und diese Schuld mit Worten, die den Sachverhalt so genau wie möglich beschreiben, in das Ohr eines Bruders hinein gesprochen wurde (confessio oris), ist ein aus dem Spätmittelalter stammender pastoraltheologischer Gedanke von sehr weitreichender und tiefgehender Grundsatzbedeutung, dessen Weiterführung und Umformung in den verschiedenen Lehren der Psychotherapie und Klinischen Seelsorge bekannt ist^. Luthers Bedenken gegen eine skrupulöse Aufzählung von Einzelsünden sind leicht zu beschreiben. Sie gipfeln in dem Satz: "Denn kein schwerer 1

N u r pars pro toto sei ein Verweis auf die wissenschaftliche Literatur gegeben: PETRONELLA BANGE: Spiegels der Christenen. Zelfreflectie en idealbeeld in laat-middeleeuwse moralistisch-didactische traktaten. Nijmegen 1986.

2

DIETRICH ROSSLER: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New Y o r k 1986, S. 157; man vgl. das Gesamtkapitel "Beichtvater, Erzieher, Berater" (EBD., S. 156-165).

3

Hier sei nur generell verwiesen auf JOACHIM SCHARFENBERG: Seelsorge als Gespräch. Göttingen 1972; ROBERTS. LEE: Principles of Pastoral Counseling. 2. Aufl. London 1979.

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Ding bisher gewesen ist, wie wir alle versucht [erfahren] haben, denn daß man idermann zu beichten gezwungen ... dazu dasselbige so hoch beschweret hat und die Gewissen gemartert mit so mancherlei Sünden zu erzählen [aufzuzählen], daß niemand hat können rein gnug beichten" (BSLK 725,37726,4). Die Confessio Augustana beschrieb den gleichen Sachverhalt mit den Worten: "Die elend menschlich Natur steckt also tief in Sunden, daß sie dieselben nicht alle sehen oder kennen kann, und sollten wir allein von denen absolviert werden, die wir zählen können, wäre uns wenig geholfen" (CA X X V ; B S L K 99,4-9). Für Luther und Melanchthon war im Blick auf die Beichte nicht die Einzelsünde, sondern die Vergebungsbedürftigkeit des Menschen überhaupt das zentrale theologische Thema. Deshalb lautete Luthers eigene Beichtlehre aufs kürzeste gefaßt: "So merke nu, ... daß die Beichte stehet in zweien Stücken. Das erste ist unser Werk und Tuen, daß ich meine Sunde klage und begehre Trost und Erquickung meiner Seele. Das ander ist ein Werk, das Gott tuet, der mich durch das Wort, dem Menschen in Mund gelegt, losspricht von meinen Sunden, welchs auch das Furnehmste und Edelste ist, so sie lieblich und tröstlich machet" (BSLK 729.10-20). 4 Das von Luther beschriebene "Sünde klagen" und "Trost begehren" ist im neuzeitlichen Protestantismus oft und im Grunde gegen Luthers Beichtlehre (vgl. B S L K 726,26-40) dahingehend ausgelegt und bis in die gottesdienstlichen Formulare hinein praktiziert worden, daß im Zusammenhang von Buße, Beichte und Vergebung v o m einzelnen Christen nur ein ganz allgemeines, allerdings tief ernst zu nehmendes, Bewußtsein des Sünder-Seins gefordert wurde. Jeder Appell, Schuld möglichst konkret in das "Sünde klagen" einzubringen und zugleich die Wahrnehmungsfähigkeit für eigenes schuldhaftes Verhalten zu schärfen, erschien unter diesem Vorzeichen als Rückfall in jene skrupulösen anxietates conscientiarum (Gewissensängste; B S L K 726,11), die Luther um jeden Preis vermieden wissen wollte, damit die lebensspendende und das Leben bis in den T o d hinein bewahrende Gewißheit der Vergebungszusage des Evangeliums nicht wieder verdunkelt werde 5 . Es fragt sich, ob der skizzierte Sachverhalt nicht ganz erhebliche Auswirkungen auf den U m g a n g evangelischer Christen mit der Frage nach ihrer persönlichen Schuld und insbesondere nach der Schuld der Christen und ihrer Kirchen in der Geschichte hatte und hat. Weil evangelische Christen

4 5

Zur Gesamtthematik sei verwiesen auf MANFRED MEZGER: Beichte. Praktisch-theologisch. In: TRE Bd. 5, 1980, S. 428-439. Vgl. etwa als exemplarischen Text LUTHERS Sermon "Von der Bereitung zum Sterben" (1519; W A 2,685-697) u n d BERNHARD LOHSE: D i e Privatbeichte bei Luther. In: K u D 14,

1968, S. 207-228; HANS JORISSEN: Die Bußtheologie der Confessio Augustana. Ihre Voraussetzungen und Implikationen. In: Cath(M) 35, 1981, S. 58-89.

Schuld in der Geschichte

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nicht generell dazu angehalten werden, präzise zwischen der Schuld vor Gott (coram Deo) und dem ganz konkreten Schuldig-Werden vor und an einzelnen Menschen {coram hominibus) zu unterscheiden, kann es nur zu leicht geschehen, daß Letzteres unter dem Ersteren subsumiert wird und damit dem Bewußtsein entgleitet. Um noch einmal auf das mittelalterliche Bußund Beichtinstitut zurückzukommen: Die in der vorreformatorischen Frömmigkeit weithin praktizierte und dann im Tridentinum in den Rang eines Dogmas erhobene gegenreformatorische Lehre, daß erst die dem Absolutionswort des Priesters nachfolgende "Genugtuung" (satisfactio operis) die Sündenvergebung "vollständig und vollkommen" mache (ad integram et perfectam peccatorum remissionem requiri; D H 1704), gewinnt unter dem Aspekt der Fundamentalunterscheidung coram deo - coram hominibus vielleicht einen auch für die protestantische Theologie tragbaren, ja hilfreichen Sinn6. Die Behauptung, es könne für den Menschen irgendeine Form einer "Genugtuung vor Gott" geben außer dem Ruf "Ich glaube - Herr hilf meinem Unglauben" ist a radice unreformatorisch, weil sie der Rechtfertigungslehre "allein aus dem Glauben" widerspricht (vgl. BSLK 415,21f.). Vertretbar ist aber die Überlegung, daß dem Menschen, dem in der Zusage des Evangeliums seine Sünden vergeben wurden, nun der Auftrag ans Herz gelegt werden kann, das durch die eigene persönliche Schuld in die Welt gebrachte Leid anderer Menschen nach Kräften zu lindern und - wo immer dies möglich ist - die böse Tat wieder gut zu machen. Allerdings setzt die Erteilung eines solchen seelsorgerischen Auftrags voraus, daß schuldhaftes Handeln coram hominibus nicht allgemein, sondern in seiner immer besonderen zerstörerischen Wirkung auf die Lebenswirklichkeit ganz bestimmter Personen wahrgenommen wird. Denn nur wenn mit großer Nüchternheit und Klarheit erkannt worden ist, welche konkreten Schäden der unrecht Handelnde seinem Nächsten zugefügt hat, kann sichtbar werden, an welchen Stellen ein um Wiedergutmachung bemühtes Handeln ansetzen muß. Der so oft gesprochene und im Blick auf die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewiß zutreffende Satz, es gebe Dimensionen der Schuld in der Geschichte, die eine "Wieder-gut-Machung" ausschlössen, darf nicht dazu führen, daß man es unterläßt, die Schäden und Zerstörungen eindeutig zu beschreiben, die das eigene schuldhafte Handeln oder Unterlassen

6

Zum gesamten Umfeld der Lehre von der Beichte und von "genugtuenden Werken" vgl. die historisch, systematisch und ökumenisch bedeutsamen Untersuchungen von HANS-PETER ARENDT: Bußsakrament und Einzelbeichte. Die tridentinischen Lehraussagen über das Sündenbekenntnis und ihre Verbindlichkeit für die Reform des Bußsakramentes. Freiburg i.Br. 1981 und DOROTHEA SATTLER: Gelebte Buße. Das menschliche Bußwerk (satisfactio) im ökumenischen Gespräch. Mainz 1992.

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anderen Menschen zugefügt hat. Was aber eindeutig beschrieben werden kann, steht zumindest im Ansatz einem Handeln offen, das aus der Umkehr heraus besser wirken will, als in der Vergangenheit geschehen. Es hieße, neue anxietates conscientiarum geradezu gewaltsam heraufzubeschwören, wenn man einen derartigen seelsorgerischen Auftrag nicht unter dem Gesichtspunkt befreiter und befreiender Liebe ansähe, sondern unter dem des zwingenden und die Sündenvergebung coram Deo bedingenden Gesetzes. Der Beichtrat des Seelsorgers an den allein aus Gnade vor Gott freigesprochenen Sünder, er möge doch wenigstens den Versuch unternehmen, ob er nicht im großen Unheil und Leid der ganzen Welt seinen von ihm selbst bewirkten, im Nachhinein wahrgenommenen und bereuten konkreten Schuldanteil auch wieder "gut-machen" könne, sollte im Sinne von Luthers Schlußworten im Freiheitstraktat verstanden werden: "Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe."7 Die jedem Christen gestellte Aufgabe, eigene Schuld so konkret wie nur irgend möglich wahrzunehmen, um deren Folgewirkungen wenigstens etwas eingrenzen zu können, läßt sich - das sollten diese Vorüberlegungen andeuten - auch in einer reformatorischen Theologie zur Geltung bringen. Dabei ist es durchaus denkbar, daß zur Selbsterforschung und Schulderkenntnis Wahrnehmungshilfen in Anspruch genommen werden, die im weitesten Sinne den alten Beichtspiegeln nachgeformt sind. Es wäre auch an das mutuum colloquium zu erinnern, das nach Luthers berühmter Beschreibung in den Schmalkaldischen Artikeln neben dem Predigtwort, der Taufe und dem Abendmahl die vierte Gestalt des Evangeliums ist8. Die in der evangelischen Theologie seit einiger Zeit mit zunehmender Intensität geführte Diskussion 7

W A 7,38; zitiert nach KARIN BORNKAMM/GERHARD EßELING (Hg.): Martin Luther. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, S. 263; zur systematischen Interpretation vgl. EBERHARD JÜNGEL: Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift. München 1978.

8

BSLK 449,28. Im Hintergrund der Formel steht Luthers Auffassung von der Kirchenzucht; dies unterstreicht die Relevanz der Formel für ihre Verwendung im Umfeld der Frage nach der geschichtlichen Schuld der Christen. Zur Formel selbst vgl. man JÜRGEN HENKYS: Seelsorge und Bruderschaft. Luthers Formel "per mutuum colloquium et consolationem fratrum" in ihrer gegenwärtigen Verwendung und ursprünglichen Bedeutung. Stuttgart 1970; vgl. insgesamt ferner SUSANNA HAUSAMMANN: Buße als Umkehr und Erneuerung von Mensch und Gesellschaft. Eine theologiegeschichtliche Studie zu einer Theologie der Buße (SDGSTh. 33). Zürich 1974.

Schuld in der Geschichte

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über "Schuld in der Geschichte" 9 kann man als einen Teil eines solchen "wechselseitigen Gesprächs" auffassen. Das Ziel dieses Gesprächs dürfen keine Schuldzuweisungen an Dritte sein; es geht um die Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit für eigene Schuld in der je eigenen Geschichte10. Bei den nachfolgenden Beispielen aus der frühen Nachkriegszeit wird deshalb ausschließlich danach gefragt, unter welchen Bedingungen jeweils die Zeitgeschichte und die Schuld der Christen und ihrer Kirchen in diesen Geschehensabläufen wahrgenommen wurden. Es wird gefragt: Gibt es besondere Wahrnehmungsbedingungen für geschichtliche Phänomene, die als schuldhaft und schuldbeladen erkannt und bezeichnet werden? Welche Rolle spielen bei solchen Wahrnehmungsvorgängen bereits feststehende Urteile über den Sinn von Geschichte insgesamt bzw. ein geprägtes Vorverständnis für eine (theologische) Geschichtsdeutung? 2. Frühe Stimmen zur Schulddiskussion nach 1945 2.1. Dietrich Bonhoeffer Die Frage nach der Schuld oder zumindest nach der Mitschuld der Deutschen Evangelischen Kirche an den Unrechtstaten der nationalsozialistischen Herrscher ist bereits während des Zweiten Weltkriegs thematisiert worden. Das wichtigste theologische Dokument aus Deutschland ist ohne Frage der Abschnitt "Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung" in Dietrich Bonhoeffers 9

Hier nur wenige besonders wichtige Titel: MARTIN GRESCHAT (Hg.): Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19,Oktober 1945. München 1982; GERHARD BESIER/GERHARD SAUTER: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Göttingen 1985; GERHARD SAUTER: Schulderkenntnis in der Bitte um Vergebung. In: GlLern 1, 1986, S. 109-119; HEINZ EDUARD TÖDT: Umgang mit Schuld im kirchlichen Bekenntnis und in der Justiz nach 1945. In: Wolfgang Huber (Hg.): Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland: München 1990, S. 123-143; JOHANNES DANTINE: Buße der Kirche? Ekklesiologische Überlegungen im Bedenken von Geschichte (Osterreich 1938-1988). In: Wolfgang Stegemann (Hg.): Kirche und Nationalsozialismus. Stuttgart u.a. 1990, S. 97-111; EILERTHERMS: Schuld in der Geschichte. In: Ders.: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik. Tübingen 1991, S. 1-24; WOLF-DIETER HAUSCHILD: Die evangelische Kirche und das Problem der deutschen Schuld nach 1945. In: J G N K G 89, 1991, S. 399-420. Für die systematische Grundlegung der Schulddiskussion bleibt unentbehrlich KARL JASPERS: Die Schuldfrage. Heidelberg 1946 (zahlreiche Auflagen bzw. Nachdrucke).

10 Vgl. JOACHIM MEHLHAUSEN: Zur Methode kirchlicher Zeitgeschichtsforschung. In: EvTh 48, 1988, S. 508-521; die auf diesen Aufsatz folgende Diskussion hat zuletzt kritisch zusammengefaßt ANJA RINNEN: Kirchenmann und Nationalsozialist. Siegfried Lefflers ideelle Verschmelzung von Kirche und Drittem Reich. Weinheim 1995, S. 28-33.

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Ethik, der zwischen Frühjahr und Ende des Jahres 1941 entstanden sein dürfte 1 1 . D a dieser Text jedoch erst 1949 von Eberhard Bethge erstmals veröffentlicht wurde, setzt seine Wirkungsgeschichte frühestens mit den fünfziger Jahren ein. Dennoch müssen diese theologischen Reflexionen am Anfang aller Überlegungen zur frühen Schulddiskussion in der Nachkriegszeit stehen. Denn Bonhoeffer zeigt überaus eindrucksvoll, wie die Schuldfrage zu einem Zeitpunkt behandelt werden konnte, als noch sehr viele Deutsche mit einem einigermaßen glimpflichen Ausgang des Krieges rechneten und das Fortbestehen der nationalsozialistischen Herrschaft noch auf viele Jahre oder gar Jahrzehnte hin voraussetzten oder gar erhofften. D e r theologische Zentralgedanke, von dem Bonhoeffer ausging, lautete: Schulderkenntnis gibt es für den Glaubenden nur auf Grund der Gnade Christi. Deshalb ist der Ort, an dem Schulderkenntnis theologisch qualifiziert erfolgt, allein die Kirche. Diese Gemeinschaft, in der Jesus seine Gestalt mitten in der Welt verwirklicht, ist der Ort, an dem Schuld erkannt, bekannt und aufgenommen wird. Spricht die Gemeinde das Bekenntnis der Schuld, dann "fällt die ganze Schuld der Welt auf die Kirche, auf die Christen und indem sie hier nicht geleugnet, sondern bekannt wird, tut sich die Möglichkeit der Vergebung auf" (DBW 6,127). Dieser ausschließlich theologisch begründete Reflexionsansatz führte bei Bonhoeffer nicht dazu, daß seine Einzelaussagen zur Schuld der deutschen Kirche in den Jahren zwischen 1933 und 1941 in Allgemeinheiten stecken blieben. Bonhoeffer hat vielmehr, an den zehn Geboten entlanggehend, die konkrete Schuld der evangelischen Kirche - einschließlich der Bekennenden Gemeinden - ohne Wenn und Aber beim N a m e n nennen können. So heißt es etwa zum fünften Gebot: "Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi" (DBW 6,130). Z u m neunten Gebot heißt es: "Die Kirche bekennt, begehrt zu haben nach Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre, auf die sie keinen Anspruch hatte und so die Begierden der Menschen nicht gezügelt, sondern gefördert zu haben" (DBW 6,131). Mit derartigen Formulierungen hat Bonhoeffer den Anspruch zur Geltung gebracht, daß ein Schuldbekenntnis der Kirche nicht aus allgemeinen Sätzen bestehen darf, sondern beschreiben muß, worin diese Schuld im einzelnen konkret besteht. Zur Schärfung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit bediente sich Bonhoeffer des Dekalogs, den er wie einen Beichtspiegel 11 DIETRICH BONHOEFFER: Ethik (DBW 6). München 1992, S. 125-136; 127.

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benutzte. Aus dem Rückblick von über fünfzig Jahren kann man nur mit tiefem Respekt zur Kenntnis nehmen, wie differenziert und konkret das Ergebnis dieser Selbsterforschung ausgefallen ist. Denn für alle Einzelaussagen, die im Textteil "Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung" der Ethik wie in einem Stenogramm festgehalten wurden, sind spätere ausführliche Explikationen möglich, die sich - bei nachfolgender zusätzlicher Information über das Geschehen - wie von selbst in das Schuldbekenntnis einfügen werden. So etwa, daß mit den "Schwächsten und Wehrlosesten" die Juden gemeint sind und daß mit der Formel "Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre" auch etliche Aktionen und Unterlassungen der "Kirchenkämpfer" in ein kritisches Licht gerückt werden. Bonhoeffer ist in der Ethik den Grundzügen einer Theologie der Beichte gefolgt, die er bereits in seinen Vorlesungen und Übungen im Predigerseminar Finkenwalde vorgetragen hatte. So sagte er in der Seelsorge-Vorlesung in einem Exkurs zu den "seelsorgerlichen Hilfsmitteln im Zusammenhang mit der Beichte": "Im Hintergrund steht der alte dogmatische Zusammenhang von contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis. Wir müssen den neutestamentlich-evangelischen Sinn dieser Trias zurückgewinnen. U m die Notwendigkeit solcher Übungen kommen wir nicht herum." 12 Und im "Zweiten Katechismus-Versuch" vom Oktober 1936 schrieb Bonhoeffer: "Es gibt eine allgemeine und eine heimliche Beichte. In der allgemeinen bekenne ich mit der Gemeinde zusammen meine Sünde, ohne sie beim Namen zu nennen; in der heimlichen Beichte bekenne ich allein meine persönliche Sünde einem christlichen Bruder. ... Warum soll ich die heimliche Beichte brauchen? Damit ich micht nicht selbst betrüge. Damit ich meinen Stolz breche. Damit ich gewiß sein kann, daß mir alle Sünden vergeben sind." 13 So stellte Bonhoeffer die Wahrnehmung von Schuld in einen ganz zentralen theologischen Begründungszusammenhang, der es ihm unmöglich machte, über geschichtliche Schuld nur in allgemeinen Abstraktionen zu sprechen. 2.2. Hans Asmussen, Adolf Freudenberg und Willem A. Visser't Hooft Für viele Christen, die während des Zweiten Weltkrieges und kurz nach 1945 über die Schuld der Deutschen in ihrer jüngsten Geschichte nachzudenken begannen, war dieses Nachdenken von einer sie selbst prägenden geschichtlichen Erfahrung bestimmt: Der Erinnerung an die Diskussion über die "Kriegsschuldfrage" nach 1918/19. Die innenpolitische Situation in der

12

DIETRICH BONHOEFFER: Gesammelte Schriften. Hg. von Eberhard Bethge. Bd. 5, S. 401.

13

EBD., Bd. 3, S. 366; vgl. auch EBD., Bd. 4, S. 448-452.

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Weimarer Republik war durch die mit diesem Stichwort bezeichneten Auseinandersetzungen vom ersten Tage an zutiefst belastet worden 14 . Nun stand man erneut vor der bedrückenden Frage, ob die Schuldthematik auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder zu unaufhebbaren Polarisierungen in der deutschen Bevölkerung selbst, aber auch im Gespräch mit den Kirchen der Ökumene und der Evangelischen Kirche in Deutschland führen werde. Gerade diejenigen, denen diese Zusammenhänge besonders klar vor Augen standen, hofften, aus der jüngst zurückliegenden Geschichte Lehren ziehen zu können, um alte Fehler nicht zu wiederholen. In diesen Zusammenhang gehört ein Schreiben von Hans Asmussen an den damaligen Generalsekretär des in Bildung begriffenen Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem A. Visser't Hooft, vom 13. Dezember 1942 15 . Asmussen sprach in seinem Brief die - aus der geschichtlichen Erfahrung der Jahre nach 1918 gespeiste - hoffnungsvolle Erwartung aus, ein Schuldbekenntnis der Christen in Deutschland nach dem neuen Weltkrieg möge im Ausland nicht "politisch" mißverstanden werden. Nach 1918 war jeder, der in der "Kriegsschulddiskussion" auch nur Nachdenklichkeit zeigte, sofort der Kollaboration mit den früheren Feinden und der Vaterlandsverachtung verdächtigt worden. Ein gemeinsames Schuldbekenntnis der deutschen evangelischen Christen lag damals außerhalb des Vorstellungshorizontes aller Beteiligten 16 . Deshalb schrieb Asmussen 1942 - subjektiv in der Überzeugung, aus erlebter Geschichte Lehren zu ziehen - : "Ich möchte so gerne, daß wir Christen an dem gegenwärtigen Krisenpunkt der Menschheitsgeschichte uns als Diener Jesu Christi beweisen. Wie wir innerhalb unseres Vaterlandes der Politisierung der Kirche widerstanden haben, so möchten wir auch gerne, daß die Christenheit überhaupt sich nicht vor einen politischen Wagen spannen läßt" (25). Die Schuldfrage dürfe nicht den Politikern überlassen werden. Ziel der evangelischen Christen in Deutschland und in der Ökumene müsse es vielmehr sein, daß man sich untereinander in priesterlicher Stellvertretung die Schuld bekenne und dann auch gültige Vergebung zuspreche. "Denn das erscheint mir ein unbedingtes Erfordernis der Zukunft zu sein, daß die Christen die Frage nach der Schuld so viel wie möglich der Welt entziehen, um sie mit Gott und vor Gott zu regeln" (26). 14

Statt vieler Einzelbelege ein in das Zentrum der Kontroversen führendes zeitgenössisches Dokument: HERMANN U. KANTOROWICZ: Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914. Aus dem Nachlaß hg. und eingeleitet von Imanuel Geis. Mit einem Geleitwort von Gustav W. Heinemann. Frankfurt am Main 1967.

15

Die nachfolgenden Zitate aus M. GRESCHAT, Schuld (Anm. 9), S. 25-30.

16

Vgl. GERHARD BESIER: Krieg - Frieden - Abrüstung. Die Haltung der europäischen und amerikanischen Kirchen zur Frage der deutschen Kriegsschuld 1914-1933. Ein kirchenhistorischer Beitrag zur Friedensforschung und Friedenserziehung. Göttingen 1982 (Lit.).

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Hier klingt erstmals bei Asmussen die später mehrfach von ihm variierte Vorstellung an, ein Schuldbekenntnis gehöre ausschließlich in eine gottesdienstliche Versammlung der Weltchristenheit hinein17. Geradezu visionär meinte Asmussen einen ökumenischen Gottesdienst vor sich zu sehen, bei dem "die Priester Gottes aus allen Ländern eines Tages wieder zusammen werden beten und reden können, dann werden und sollen sich in ihnen die Schulden derer begegnen, denen sie als Priester gesetzt sind" (26). In einem solchen Gottesdienst müsse vollzogen werden, was das Amt der Priester sei, nämlich "der Welt Heil bringen", indem man "mit allen Schulden gemeinsam vor Gott trete". Nachdrücklich meinte Asmussen noch einmal davor warnen zu müssen, die Frage nach der Schuld der "politischen Propaganda" zu überlassen. Diese werde nur neues Unrecht aufhäufen und "eine furchtbare Drachensaat" säen, die eines Tages aufgehen werde. Man brauche ja nur an die Zusammenhänge von Versailles und dem gegenwärtigen Geschehen zu denken, "um die hier lauernden Gefahren vor Augen zu haben" (26). Asmussen erhielt im Januar 1943 einen Antwortbrief von Adolf Freudenberg. Der ehemalige Legationsrat im Auswärtigen Amt, der wegen seiner "Mischehe" mit einer Jüdin nach England hatte flüchten müssen und dort Pfarrer wurde, war seit 1939 Sekretär des ökumenischen Komitees für Flüchtlingsfragen beim Ökumenischen Rat der Kirchen in London und Genf18. Freudenberg widersprach Asmussen ebenso ernst wie energisch. Der Friedensvertrag von Versailles dürfe in dem Gespräch über die Schuld Deutschlands jetzt keine Rolle mehr spielen. Er sei ein "miserabler Vertrag" gewesen, aber nun sei er "verjährt". Spätestens seit der Besetzung von Prag durch die Deutschen sei ein "neues Schuldbuch aufgeschlagen, und da besteht, was uns angeht, wirklich kein Zweifel über Soll und Haben" (28). Zwar dürfe man die Frage nach der Schuld nicht der internationalen, politischen Arena überlassen, doch das könne nicht bedeuten, daß "wir als Kirche in Deutschland nicht deutlich von diesen Dingen zu unserem Volk reden sollten" (28). Auch der von Asmussen unmittelbar angesprochene Visser't Hooft reagierte höchst zurückhaltend auf den Vorschlag zu einem großen ökumeni17 Vgl. ENNO KONUKIEWITZ: Hans Asmussen. Ein lutherischer Theologe im Kirchenkampf (LKGG. 6). Gütersloh 1984, S. 238-243; 253-259; 267f.; GERHARD BESIER: Die Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Hans Asmussen - ein Paradigma für die konfessionelle Problematik innerhalb des Protestantismus? In: BThZ 5, 1988, S. 103-123. 18 Vgl. ADOLF FREUDENBERG (Hg.): Befreie, die zum Tode geschleppt werden. Ökumene durch geschlossene Grenzen 1939-1945. München 1985; HARTMUT LUDWIG: Theologiestudium in Berlin 1937: Die Relegierung von 29 Theologiestudierenden von der Berliner Universität. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993, S. 303-315; 313 Anm. 45.

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sehen Schuld- und Bekenntnis-Gottesdienst nach Kriegsende. Visser't Hooft betonte, Vergebung müsse von Gott und den Menschen erbeten werden. Der priesterlichen Vergebungsbitte und Zusage müsse die ganz konkrete Reue derer zur Seite treten, die durch ihr Versagen die Sünde des eigenen Volkes mit verschuldet hätten. "Nur wenn uns die Gnade gegeben wird, in einer sehr konkreten Weise zu bereuen, werden die alten Mißverständnisse der Vorkriegszeit und der Kriegszeiten sowie die neuen Mißverständnisse, die im Zusammenhang mit dem Friedensschluß entstehen müssen, aufhören, als Hindernisse christlicher Gemeinschaft zu wirken" (30). Im Briefwechsel zwischen Asmussen, Freudenberg und Visser't Hooft kam es zu keiner konkreten Beschreibung von einzelnen schuldhaften Verhaltensweisen der Christen oder der Kirchen in Deutschland, wie sie Bonhoeffer für den Entwurf seiner Ethik nahezu zur gleichen Zeit hatte ausformulieren können. Von Freudenberg und Visser't Hooft wurde aber deutlich geltend gemacht, daß solche konkreten Fragen im Gespräch zwischen den Kirchen nach Kriegsende angesprochen werden müßten; auf welche Weise die Schuldwahrnehmung und die Beschreibung von Schuld erfolgen solle, sagten die beiden ökumenischen Theologen nicht. Sie waren durch den in Asmussens Anfrage enthaltenen dezidierten Deutungsansatz so einseitig herausgefordert, daß sie ihre Antworten ausschließlich dazu nutzten, Asmussen an diesem für ihn zentralen Punkt zu widersprechen. Für Asmussen wiederum war aus einer theologischen Grundsatzentscheidung heraus die Wahrnehmung konkreter Schuld coram hominibus nicht das Entscheidende, weil "die Frage nach der Schuld ... vor Gott zu regeln" sei. Dieser theologische Satz wurde allerdings von der zweiten, nicht-theologischen Erwägung überlagert, als verantwortungsbewußter Zeitgenosse müsse man alles tun, um dem deutschen Volk nach dem Zweiten Weltkrieg eine so verwirrende und die Bevölkerung spaltende Debatte zu ersparen, wie sie nach "Versailles" eingetreten war. Deshalb schrieb Asmussen, man solle die Schuldfrage "so viel wie möglich der Welt entziehen". Das aber bedeutete, daß eine ausführliche öffentliche Diskussion der Frage nach der Schuld der einzelnen Christen und der Kirchen in der Nachkriegszeit von der theologischen Position Asmussen aus nicht zugelassen werden konnte. 2.3. Theophil Wurm In mehrfacher Hinsicht repräsentativ für die frühe Nachkriegsdiskussion über die Schuldfrage ist das "Wort an die Gemeinde", das der württembergische Landesbischof Theophil Wurm am 10. Mai 1945 im vom Bombenkrieg verwüsteten Stuttgart sprach. Dieses "Wort" wurde von Wurm im Anschluß an seine Predigt zum Himmelfahrtsfest vom Balkon des Großen Hauses der

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Württembergischen Staatstheater aus gesprochen (weil die großen Kirchen in Stuttgart zerstört waren) und anschließend allen Pfarrämtern zur Verlesung im Pfingstgottesdienst übergeben19. Dabei richtete sich Wurm, wie schon die ersten Worte seiner Ansprache sagten, nicht bloß an die evangelischen Christen in Stuttgart, sondern an das ganze deutsche Volk. Der Bischof trat hier mit dem Anspruch auf, "als Sprecher der ganzen bekennenden Kirche" im "schwersten und ernstesten" Augenblick in der "ganzen Geschichte des deutschen Volkes" allen Deutschen eine die jüngste Vergangenheit theologisch deutende Botschaft zu vermitteln. Wurm erklärte, das deutsche Volk sei von einem "ungeheuren und unmenschlichen Kampf ... erschöpft und ausgeblutet." Der nationalsozialistischen Führung warf er vor: "Wieviel Not und Leid hätte vermieden werden können, wenn diejenigen, die in Deutschland die Führung hatten, ihre Macht gewissenhaft, gerecht, besonnen gebraucht hätten." In Wurms Ansprache folgten sodann Hinweise auf die Haltung der Christen während der zurückliegenden Jahre. Es habe - so Wurm - "von Seiten der beiden christlichen Kirchen nicht an Versuchen gefehlt, die Regierenden an ihre Verantwortung vor Gott und vor den Menschen zu erinnern." Aber diese Mahnungen seien entweder nicht beachtet oder als Einmischung in staatliche Angelegenheiten zurückgewiesen worden. Gleichzeitig sei im ganzen Volk - "besonders in der Beamtenschaft und bei der Jugend" - die Bekundung "christlicher Gesinnung möglichst unterdrückt" worden. Viele Menschen hätten sich durch das "neue großsprecherische Heidentum imponieren und durch Furcht vor wirtschaftlichen und beruflichen Nachteilen zum Abfall von Christus und seiner Kirche verführen" lassen (479). Auf dieses Proömium der sorgfältig ausgearbeiteten Ansprache folgte ein Hauptteil, der nach dem Schema "Gesetz und Evangelium" aufgebaut ist.

19

Der Text bei GERHARD SCHÄFER (Hg.): Landesbischof D.Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940-1945. Eine Dokumentation in Verbindung mit Richard Fischer zusammengestellt. Stuttgart 1968, S. 479f.; zur Textgeschichte dieses vielfach überlieferten "Wortes" vgl. GERHARD BESIER/JÖRG THIERFELDER/RALF TYRA (Hg.): Kirche nach der Kapitulation. Bd.l: Die Allianz zwischen Genf, Stuttgart und Bethel. Stuttgart u.a. 1989, S. 96 Anm. 1. Im Konzept der Ansprache wendet sich Wurm sogar im Namen der "beiden großen christlichen Kirchen" an alle "Volksgenossen"; vgl. JÖRG THIERFELDER: Theophil Wurm und der Weg nach Treysa. In: B W K G 85, 1985, S. 149-174; 155 Anm. 18 und DERS.: Zusammenbruch und Neubeginn. Die evangelische Kirche nach 1945 am Beispiel Württembergs, Stuttgart 1995, S. 86-88. Alle Zitate im obigen Text nach G. SCHÄFER. - Man vgl. auch die Ansprachen von Wurm, Asmussen, Niemöller u.a. anläßlich der 2. Sitzung des Rates der E K D am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart ("Stuttgarter Schulderklärung"). In: CARSTEN NLCOLAISEN/NORA ANDREA SCHULZE (Bearb.): Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 1: 1945/46 (AKZG. A 5). Göttingen 1995, S. 40-46.

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Zunächst werden die zehn Gebote im usus elenchticus kurz als Hilfen zur Wahrnehmung und Deutung der jüngsten Vergangenheit herangezogen. Leitend ist der Gedanke: Wenn in einem Volk das erste Gebot mißachtet werde, dann halte man bald auch alle nachfolgenden Gebote nicht mehr in Ehren. Es komme zu einem "inneren Verfall" des gesamten Volkes. Dieser "innere Verfall" der europäischen Kultur sei aber schon seit Jahrhunderten durch glaubenslose Welt- und Lebensanschauungen vorbereitet worden. In der soeben erlebten jüngsten Phase der deutschen Geschichte habe der Verfall seinen Höhepunkt erreicht; dem "inneren Verfall" mußte der "äußere Zerfall" folgen. Wurm sprach von den "Stätten der Gottesanbetung" und von den "Werken der menschlichen Kunst", von den "mächtigen Bauten der öffentlichen Gemeinwesen und des Gewerbefleißes", von den "Denkmälern der Vergangenheit und der Gegenwart", die alle in Trümmern lägen. Erst nach dieser Aufzählung der materiellen Verluste kam Wurm dann auch auf die Leiden der Menschen zu sprechen. "... und unter diesen Trümmern und auf den Schlachtfeldern liegen unzählige wertvolle Menschen, die Gutes und Großes auf allen Lebensgebieten hätten schaffen können". Angesichts dieses trostlosen Zustandes könne man nur mit dem Propheten klagen: "Ach, daß ich Wasser genug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären, daß ich Tag und Nacht beweinen möchte die Erschlagenen meines Volkes! (Jer 9,1)" (480). Auf diesen dem usus elenchticus legis verpflichteten Abschnitt der Ansprache Wurms folgte die Ansage des Evangeliums. Theologisch sehr korrekt forderte Wurm von einem christologischen Zentralsatz ausgehend, daß es nun darauf ankomme, "alle die tiefgebeugten am Grabe ihres Glückes, ihrer Heimat, ihrer Habe stehenden Menschen auf den hinzuweisen, der allein den Trauernden Kraft und Trost spenden" könne, "unsern Herrn und Heiland." Aus der Zuversicht zu ihm und "aus der Gewißheit einer göttlichen Leitung der Dinge" erwachse "die Kraft zum Wiederaufbau der zerstörten irdischen Heimat." Das Gebot der Stunde laute: "Nicht klagen und anklagen, sondern vergeben und helfen." Nach einigen überleitenden Gedanken schloß das "Wort" des Bischofs mit einer Bemerkung zum Theodizeeproblem: "Wir wollen also nicht von Gott Rechenschaft fordern, warum er so Furchtbares hat geschehen lassen, sondern wir wollen in der Abkehr von ihm und seinen Lebensordnungen die tiefste Ursache unseres Elends erblikken. Darum muß unsere Losung sein: Zurück zu Christus und zurück zum Bruder. In dieser Losung wollen wir zusammenfinden! Gott der Herr segne alle, die diesen Weg gehen wollen!" (480). In der neueren zeitgeschichtlichen Forschung wird zu Recht hervorgehoben, welche besondere Rolle das Konzept einer "Rechristianisierung der deutschen Bevölkerung" auf die binnenkirchliche Deutung der jüngsten Ver-

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gangenheit - vor allem in den westdeutschen Kirchen - gehabt habe 20 . Bischof Wurms Rede zwei Tage nach Kriegsende ist wohl der früheste Beleg für die theologischen Aspekte eines solchen Plans, durch Umerziehung Lehren aus der soeben erlebten Geschichte zu ziehen. Die Schuld der Christen und damit die Schuld der Kirche wird in einem zentralen Bereich diagnostiziert und wahrgenommen: der Mißachtung des ersten Gebots. Die weitreichende Folge einer primär an diesem Gebot orientierten Wahrnehmung von Schuld ist unübersehbar: Weil die Schuld im Zentrum der menschlichen Gottesbeziehung alle nachfolgenden, mit Schuld beladenen Handlungen nicht nur qualitativ überwiegt, sondern diese geradezu mit der Gewalt eines Naturgesetzes nach sich zieht, verlieren im Bereich der zweiten Tafel des Dekalogs die Einzelheiten an Gewicht. Im Vergleich zu Bonhoeffers Anwendung des ganzen Dekalogs als eines in allen Teilen gleich wichtigen Beichtspiegels fallen bei Wurm die Konkretionen für die zweite Tafel äußerst blaß aus. "Wird das erste Gebot ... mißachtet, so gibt's auch keine Heiligung des Sonntags mehr, keine Autorität der Eltern, keine Schonung menschlichen Lebens und Achtung vor menschlicher Würde, keine Unverletzlichkeit der Ehe, keine Rücksicht auf des Nächsten Eigentum, Ehre und Recht; dann ist der Begehrlichkeit nach dem, was der andere hat, Tür und Tor geöffnet, und als gut gilt, was dem Menschen nützt, nicht was Gott geboten hat" (479). Durch den Hinweis auf die jahrhundertealte schuldhafte Abwendung der europäischen Gesellschaft von Gott - die seit langem bekannte Säkularisierungsthese - historisierte und relativierte Wurm aber zugleich die Folgen der Übertretung des ersten Gebots. Wenn der "innere Verfall" von Kirche und Welt bereits seit Jahrhunderten durch atheistische Weltanschauungen vorbereitet wurde, dann erhält in dieser geschichtsmetaphysischen Deutung der Entwicklung das konkrete Unrechtshandeln von unzähligen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus nur noch die Qualität eines letzten - gewiß als furchtbar empfundenen - konsequenten Höhepunktes. Vor dem Hintergrund einer solchen Analyse fällt die nach vorne weisende evangelische Paränese schematisch aus. Es geht um die Tröstung der tiefgebeugten Menschen "am Grabe ihres Glückes, ihrer Heimat, ihrer Habe." Sie sollen damit getröstet werden, daß ihnen zugesagt wird: es gibt eine "göttliche Leitung der Dinge." Was folgt aber aus diesem seelsorgerischen Zuspruch? Die Antwort lautet: Neue Kraft zum Wiederaufbau der 20

Vgl. MARTIN GRESCHAT: "Rechristianisierung" und "Säkularisierung". Anmerkungen zu einem europäischen konfessionellen Interpretationsmodell. In: Jochen-Christoph Kaiser/Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland (KoGe. 2). Stuttgart u.a. 1990, S. 1-24.

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"zerstörten irdischen Heimat"; und dann folgt der wohl problematischste Satz des gesamten Textes: "Nicht klagen und anklagen, sondern vergeben und helfen ist das Gebot der Stunde." Konkrete Schuldwahrnehmung coram hominibus, die selbstverständlich zu Klage und (Selbst-) Anklage führen muß, wurde in diesem "Wort an die Gemeinde" schon in der ersten Nachkriegsstunde für minder wichtig erklärt. Die Ansprache Wurms ist durch einen übersichtlichen und fest gefügten theologischen Gedankengang geformt. Doch gerade durch ihn wird der Sprecher der Anstrengung enthoben, die konkrete Schuld- und Notsituation des 10. Mai 1945 im einzelnen wahrnehmen und beschreiben zu müssen. Was in den Metaphern dieses Textes zum Elend Deutschlands und der Deutschen bei Kriegsende gesagt wurde, könnte mit wenigen sprachlichen Änderungen ebenso zu jeder anderen persönlichen oder öffentlichen Not zu allen Zeiten gesagt werden. Das von Wurm benutzte theologische Deutungsmuster brachte die vor Augen liegende Wirklichkeit so schnell in eine bestimmte - in sich plausible und überschaubare - Ordnung, daß man sich fragen muß, ob hier nicht die Wahrnehmungsfähigkeit desjenigen entscheidend gemindert wird, der dieses Schema in Anspruch nimmt. Insbesondere der Satz, die Toten des Krieges seien "wertvolle Menschen" gewesen, die "Gutes und Großes auf allen Lebensgebieten hätten schaffen können", verrät auch in theologischer Hinsicht einen Wahrnehmungsverlust im Blick auf die zahllosen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ein Christ muß ohne Ansehen des "Wertes" die Tötung jedes Menschen beklagen und beweinen. Insgesamt ist das "Wort an die Gemeinde" von Bischof Wurm ein aufschlußreiches Beispiel für eine theologische Deutung zeitgeschichtlicher Erfahrungen, in der fehlende Konkretion dazu geführt hat, daß diese Geschichtsdeutung keine aufrüttelnden und über den Tag hinausweisenden Impulse für ein Handeln geben konnte, dem es darauf ankommt, geschehene und erkannte Schuld nicht in veränderter Gestalt neu zu begehen. Jeder Hinweis auf eine mögliche Wiedergutmachung begangener Schuld fehlte in diesem Text schließlich völlig. Der Aufruf, dem ersten Gebot neue Geltung in den christlichen Gemeinden zu verschaffen, ist ein allgemeiner Appell, der erst bei einer Auslegung in die konkrete Lebenswirklichkeit der Christen hinein praktische Gestaltungskraft erhalten kann. 2.4. Martin Niemöller Neben die Ansprache von Bischof Wurm vom 10. Mai 1945 sei ein Dokument gestellt, das eine völlig andere Zuordnung von Wirklichkeitswahrnehmung und theologischer Interpretation erlebter eigener Geschichte erkennen läßt. Martin Niemöller berichtet, er habe nach der Befreiung aus

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der Gefangenschaft in seiner Tasche einen Ausweis getragen, in dem zu lesen war, daß er vom 1. Juli 1937 bis zum 24. Juni 1945 als politischer Häftling und persönlicher Gefangener des Führers seiner Freiheit beraubt gewesen sei 21 . Mit diesem Dokument sei er zunächst "mit sehr viel gutem Gewissen beladen" in die Freiheit gezogen. "Wer will mir denn eigentlich nachweisen, daß die Schuld, die jetzt von meinem Volk eingefordert wird, mich irgend etwas angeht? Schon stand ich in der Reihe und gab das Paket weiter" (30f.). Doch dann sei ihm eines Tages etwas widerfahren: "Ich bin mit meinem Auto in der Nähe von Dachau vorbeigefahren. Meine Frau war dabei und sagte: 'Könnte ich nicht einmal die Zelle sehen, wo du in den letzten Jahren gesessen hast?1 Ich sage: 'Ich will sehen, was sich tun läßt', und fuhr hin und bekam die Erlaubnis, mit meiner Frau den Zellenbau zu betreten und ihr die Zelle zu zeigen. D a geschah etwas. Als wir wieder herauskamen, führte uns der begleitende amerikanische Offizier eine Mauerwand entlang. An der war ich auch oft entlang gegangen. Darin war ein großes Tor. Das hatte ich nie offenstehen sehen. Diesmal stand es offen. Ich wußte, was dahinter war, und trotzdem trat ich ein. Ich stand mit meiner Frau vor dem Krematorium in Dachau, und an einem Baum vor dem Gebäude hing ein weißgestrichenes Kistenbrett mit einer schwarzen Inschrift ... Dort stand zu lesen: 'Hier wurden in den Jahren 1933 bis 1945 238.756 Menschen verbrannt' ... Meine Frau wurde ohnmächtig, als sie diese Viertelmillionenzahl las. Die hat mich nicht bewegt. Denn sie sagte mir nichts neues. Was mich in diesem Augenblick in einen kalten Fieberschauer jagte, das war etwas anderes. Das waren die anderen zwei Zahlen: '1933 bis 1945', die da standen ... Und ich wußte, die zwei Zahlen, das ist der Steckbrief des lebendigen Gottes gegen Pastor Niemöller. Mein Alibi reichte vom 1. Juli 1937 bis Mitte 1945. D a stand: 1933 bis 1945. Adam, wo bist du? ... 21

Auch dieser Text ist in mehreren Versionen überliefert; die obige Darstellung folgt MARTIN NEMÖLLER: Reden 1945-1954. Darmstadt 1958, S. 30-32; im gleichen Band ist auch Niemöllers Rede auf der Kirchenversammlung in Treysa 1945 abgedruckt, die wichtige Aussagen zur Schuldthematik enthält (S. 11-15); ferner ein Brief vom 10.11.1945 "Zum Schuldbekenntnis" (S. 16-18) sowie Auszüge aus der in den gleichen Zusammenhang gehörenden Schrift MARTIN NIEMÖLLER: Zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Christenheit. Tübingen/Stuttgart 1946 (43-55). Vgl. ferner: Martin Niemöller über die deutsche Schuld, Not und Hoffnung, Zürich 1946. - Aus der Sekundärliteratur sei verwiesen auf: LEONORE SIEGELEWENSCHKEWITZ: Auseinandersetzungen mit einem Stereotyp. Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers. In: Dies. (Hg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen. Frankfurt am Masin 1994, S. 261-291 ( - Wiederabdruck aus: URSULA BÜTTNER [Hg.]: Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich. Hamburg 1992, S. 293-319); CARSTEN NICOLAISEN: Art. Niemöller, Martin. In: BBKL 6, 1993, 735-748 (mit Bibliographie); DERS.: Art. Niemöller, Martin. In: T R E Bd. 24, 1994, S. 502-506 (Lit.).

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Wo warst du 1933 bis zum 1. Juli 1937? - Und ich konnte dieser Frage nicht mehr ausweichen. 1933 war ich ein freier Mann. 1933 - in diesem Augenblick, dort im Krematoriumshof fiel es mir ein ja 1933, richtig: Hermann Göring rühmte sich öffentlich, daß die kommunistische Gefahr beseitigt sei. Denn alle Kommunisten, die noch nicht um ihrer Verbrechen willen hinter Schloß und Riegel sitzen, sitzen nun hinter dem Stacheldraht der neu gegründeten Konzentrationslager. Adam, - wo bist du? Mensch, Martin Niemöller, wo bist du damals gewesen? Die ganze Sache hat mir ja gar keinen Eindruck gemacht; irgendwo im Winkel des Herzens habe ich vielleicht gedacht: eigentlich sind wir doch auf diese Art und Weise die ganze Gottlosengefahr losgeworden. Aber daß diese Menschen, die ohne Gesetz, ohne Anklage, ohne Untersuchung, ohne Urteil ... einfach ihrem Beruf, ihrer Familie, ihrem Leben weggenommen, der Freiheit beraubt wurden, daß diese Menschen eine Frage Gottes an mich waren, auf die ich im Angesicht Gottes damals hätte antworten müssen, daran habe ich nicht gedacht. Ich war damals kein freier Mensch. Ich hatte mich damals bereits meiner wahren Verantwortung begeben. Und jetzt war der Steckbrief da, und diesem Steckbrief konnte ich nicht mehr ausweichen. Und ich habe an dem Tage, als wir später nach Hause kamen, das Kapitel Matthäus 25 mit neuen Augen gelesen: 'Ich bin gefangen und krank gewesen und ihr seid nicht zu mir gekommen'. Als Christ hätte ich 1933 wissen dürfen und wissen müssen, daß aus jedem dieser Menschenbrüder - mochte man sie Kommunisten heißen oder sonstwie - Gott in Jesus Christus mich fragte, ob ich ihm nicht dienen wollte. Und ich habe diesen Dienst verweigert und habe mich meiner Freiheit begeben ... mich auch schuldig gemacht" (31f.). Was an diesem Bericht Niemöllers als einem Dokument der Kirchlichen Zeitgeschichte so überzeugend sichtbar wird, ist nicht nur das persönliche Erlebnis dieses Mannes, sondern der in der Darstellung des Geschehens zutage tretende Erkenntnisvorgang: Die überraschende neue Wahrnehmung eines einfachen, aber präzisen Sachverhalts - hier einer Reihe von Monatsund Jahresdaten - führt den Wahrnehmenden zu einer theologischen Einsicht, die ihm zugleich jüngst erlebte Geschichte ganz neu erschließt. Eben diese Abfolge muß zu denken geben, weil sonst nur zu oft das Umgekehrte zu beobachten ist: Vorgeformte theologische Einsichten oder Erkenntnisse werden an die geschichtlichen Ereignisse herangetragen, um diese zu deuten. Es ist gewiß eine lohnende Aufgabe, möglichst viele frühe Dokumente zur "Schuld der Kirche" nach 1945 unter dem hier aufgezeigten Differenzierungsaspekt zu betrachten. Eine solche Sichtung des reichlich vorhandenen Materials könnte vielleicht folgende These in das Gespräch über "Schuld in der Geschichte" einbringen: "Schuld in der Geschichte" wird eher dann erkannt, wenn man von einer möglichst genauen Betrachtung der Fakten

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ausgeht und die theologische Rückfrage erst nachfolgen läßt, als wenn man von einer - noch so qualifiziert durchdachten - theologischen Geschichtsdeutung aus zu den historischen Fakten vorzudringen versucht. 2.5. Heinrich Vogel Heinrich Vogel, der von 1937 bis zur Schließung im Jahre 1941 Dozent und Leiter der Kirchlichen Hochschule Berlin gewesen war, hat 1946 eine kleine Schrift unter dem Titel "Gottes Gnade und die deutsche Schuld" veröffentlicht 22 . In den hier versammelten Texten - einer Ansprache vor der Brandenburgischen Bekenntnissynode am Bußtag 1945 (3-15), einem Vortrag zu Luthers 400. Todestag am 18. Februar 1946 (16-30) und einer Predigt anläßlich der Wiedereröffnung der Berliner Universität am 10. März 1946 (31-39) - ist in besonders eindrucksvoller Weise das Bemühen erkennbar, eine theologische Deutung der jüngsten Geschichte mit einer möglichst genauen Benennung der "deutschen Schuld" zu verbinden. In seinem Synodalvortrag betonte Vogel ähnlich wie Landesbischof Wurm in seinem "Wort an die Gemeinde", daß "wir durch die tausend Fragen der Not und Schuld vor eine letzte Frage, eben die Gottesfrage, gestellt sind". An die Synodalen gewandt erklärte Vogel: "Damit, daß die Synode gerufen ist, die mit der großen Gesamtnot und Gesamtschuld gestellte Frage vor Gott zu bringen, die Frage und ihre Antwort vor seinem Angesicht zu hören, ist sie an den einen Ort gerufen, wo wir es nicht mehr mit menschlichen Instanzen, nicht mit den Maßstäben und Urteilen eines säkularen Gerichtshofes zu tun haben! Ein ander Ding ist es, die Kriegsschuldfrage, die Schuldfrage, die aus der unermeßlichen Katastrophe des sogenannten christlichen Abendlandes aufsteigt, 'politisch', geistesgeschichtlich zu stellen und zu beantworten, und ein sehr ander Ding ist es, diese Frage vor Gott zu stellen, d.h. ja doch als von Gott gestellt, an sich selber gestellt zu hören und ihr stille zu halten!" (4f.). Vogel fügte diesen Sätzen dann aber die entscheidend wichtige Bemerkung hinzu, daß der Mensch, der die Schuldfrage vor Gott stelle, sich nicht der von ihm "im politischen Raum ... geforderten Verantwortung mit der Berufung auf den Ort vor Gottes Angesicht entziehen" könne oder dürfe (5). Deshalb forderte Vogel die Synodalen auf, ihre Wahrnehmungsfähigkeit für die Schuld coram hominibus zu schärfen: "Daß die deutsche Frage in der Tat zur Judenfrage wurde, daß wir an Israel schuldig wurden wie noch kein Volk der Weltgeschichte vor uns, das sollte uns ein unüberhörbares Zeichen und Signal sein!" (10). 22 HEINRICH VOGEL: Gottes Gnade und die deutsche Schuld. Berlin 1946 (Hervorhebungen wie im Original). Zu H. Vogel vgl. GERHARD BESIER: Heinrich Vogel - ein Lutheraner im bruderrätlichen Flügel der Bekennenden Kirche. In: BThZ 8, 1991, S. 232-244.

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Dieses frühe und sehr deutliche Bekenntnis Vogels zur deutschen Schuld an Israel ist von ihm auf der Synodaltagung der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin-Weißensee im April 1950 mit den Worten wiederholt worden, ihm gehe es "mit nackten, dürren Worten gesagt, [um] ein Schuldbekenntnis dieser Generalsynode der Evangelischen Kirche in Deutschland an der Schuld unseres Volkes gegenüber Israel ... Wir ... haben alle wörtlich zu sagen: mea maxima culpa - unsere Schuld. Die Kirche insbesondere hat ihre Schuld zu bekennen mit dem deutschen Volk an Israel" .23 Durch seine beharrlich weiter verfolgte Forderung ist Vogel zu einem der wichtigsten Anreger und Wortführer in jener so dringend notwendigen Diskussion geworden, die Jahrzehnte später zu den bekannten Synodalentscheidungen geführt hat, mit denen christliche Kirchen in Deutschland nach der Schoa ihr Verhältnis zum Judentum ganz neu zu bestimmen versuchten. Vogels theologischer Deutungsansatz zur "deutschen Schuld" hat im Bereich der ernstesten aller zeitgeschichtlichen Erfahrungen in Deutschland in diesem Jahrhundert dazu geführt, daß es wenigstens im Ansatz zu konkreter "Umkehr und Erneuerung" kommen konnte 24 . Auch in seinem Vortrag "Luthers Vermächtnis an uns heute" hat Vogel seine theologische Deutung der jüngsten deutschen Geschichte als Abfall von Gott mit ganz konkreten Fragen nach der Schuld des einzelnen Christen verbunden. Vogel fragte: "Wo ist der deutsche Mensch, der damals, als die ungeheuerlichen Dinge in den Konzentrationslagern, die dämonischen Unmenschlichkeiten an den Juden geschahen, als die kleinen Völker eins nach dem andern niedergetreten wurden, mit Grausen und Entsetzen in sich 23

Zur Initiative Vogels auf der Synode in Berlin-Weißensee, die zu der bekannten "Erklärung zur Schuld an Israel" führte, vgl. SIEGFRIED HERMLE: Evangelische Kirche und Judentum Stationen nach 1945 (AKZG. B 16). Göttingen 1990, S. 350-358; 351. 24 Vgl. u.a. CHRISTEN UND JUDEN. Eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hg. im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1975; BERTOLD KLAPPERT/HELMUT STARCK (Hg.): Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden". Neukirchen-Vluyn 1980; CHRISTEN UND JUDEN n. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991; EVANGELISCHER ARBEITSKREIS KIRCHE UND ISRAEL IN HESSEN UND NASSAU (Hg.): "... zur U m k e h r gerufen ...". E i n Lese-

und Arbeitsbuch zur Erweiterung des Grundartikels der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Heppenheim 1992; KIRCHE UND ISRAEL. Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. Proponendum zur Änderung des Grundartikels der Kirchenordnung (Handreichung für Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden und der Presbyterien in der Evangelischen Kirche im Rheinland Nr. 45). Düsseldorf 1993; JOACHIM MEHLHAUSEN: Bewahren und Erneuern. Theologische Grundsätze des Dialogs zwischen Christen und Juden. In: Nes Ammim Jahrbuch 1993/94. Düsseldorf 1995, S. 5-22.

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die Frage hörte: Was sagt Gott dazu? Wo ist der deutsche Mensch, der die deutsche Schuld nicht erst nach dem erfolgten Zusammenbruch des Machtwahnes durch das Radio vernahm und sich dann vielleicht obendrein noch beide Ohren zustopfte, sondern der damals, als der Erfolgsgötze von Millionen und aber Millionen angebetet wurde, und seine Siege den Menschen in seinem Machtwahn ins Recht zu setzen schienen -, der damals die Steine schreien hörte zu Gott, während die Menschen schwiegen?! ... wer hat uns gewiesen, nach jenen Orgien, die der Hochmut und die Unmenschlichkeit unter uns feierten, die Frage nach unserer Schuld - und zwar aus Gottes Mund! - allzu schnell zu verdrehen in die Frage nach der Schuld der andern?! Unter dem Kreuz Jesu Christi jedenfalls sind wir nach unserer Schuld gefragt" (25). Vogels Ausführungen aus der frühen Nachkriegszeit belegen, daß eine grundsätzliche theologische Deutung der Zeitgeschichte "im Angesicht Gottes" (coram Deo) Raum lassen kann für Fragen, die auf die Alltagserfahrungen der Christen eingehen und in diesem Bereich {coram hominibus) Schuld höchst konkret diagnostizieren und zur Umkehr aufrufen. Diesen Texten von Theologen zur Schuldfrage seien noch drei Beiträge zur Seite gestellt, die von Nicht-Theologen stammen. Bei den ausgewählten Autoren - Ernst Wiechert (1887-1950), Rudolf Alexander Schröder (18781962) und Reinhold Schneider (1903-1958) - handelt es sich um seinerzeit viel gelesene und insbesondere als moralische Instanzen nach Kriegsende besonders hoch geachtete Schriftsteller. Sie hatten in der Zeit des Nationalsozialismus je auf ihre Weise Widerstand geleistet bzw. ein resistentes Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus praktiziert 25 und sind dafür bestraft worden oder hatten doch zumindest Nachteile in Kauf nehmen müssen. Jeder dieser drei Autoren konnte für sich zudem den Anspruch erheben, ein gebildeter Laientheologe zu sein. Was hatten sie zu der Frage nach der "Schuld in der Geschichte" unmittelbar nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 ihren deutschen Leserinnen und Lesern zu sagen? 2.6. Ernst Wiechert A m 11. November 1945 hielt Ernst Wiechert mit Genehmigung der Militärbehörden im Münchener Schauspielhaus eine Rede, die als "deutscher Beitrag zum geistigen Wiederaufbau, den Deutschland der Welt schuldig ist", 25

Zur Differenzierung des Widerstandsbegriffs und zum Resistenzbegriff sei insgesamt verwiesen auf die Beiträge in: PETER STEINBACH/JOHANNES TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Bonn 1994, bes. HANS MAIER: Das Recht auf Widerstand (EBD., S. 3342) und die Ubersicht bei JOACHIM MEHLHAUSEN: Art. Nationalsozialismus und Kirchen. In: T R E Bd. 24, 1994, S. 43-78; 67f. (Lit.).

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bald darauf unter dem Titel "Rede an die deutsche Jugend", veröffentlicht worden ist 26 . Der seinerzeit viel gelesene Autor zivilisationskritischer Romane mit zumeist religiöser Nebenthematik war 1933 aus dem Schuldienst ausgeschieden. Im Jahre 1938 kam Wiechert wegen kritischer Äußerungen über die Nationalsozialisten und wegen seines Eintretens für Martin Niemöller und Eduard Spranger für einige Monate in das Konzentrationslager Buchenwald; er erhielt Schreibverbot und lebte bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft unter der Aufsicht der Gestapo27. Wiechert, dessen Romane eine tiefe Sehnsucht nach Daseinssharmonie und nach einem organisch geordneten "Einfachen Leben" (so der Titel eines seiner Bücher) zum Ausdruck bringen, ging in seiner "Rede an die deutsche Jugend" entschlossen von den Disharmonie- und Dissonanzerfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus aus. Die Dissonanzen etwa zwischen dem Weimar der Klassiker und dem nahe bei Weimar gelegenen Konzentrationslager Buchenwald der Nationalsozialisten, zwischen Charlotte von Stein und den "Henkern des Regimes", zwischen den Morden des 30. Juni 1934 und der Beteiligung der deutschen Generalität bei der Hochzeit von Göring, dem "Brandstifter der Bewegung mit seiner 'hohen Frau'" (23f.), wurden von Wiechert mit sprachlicher Meisterschaft und emotionaler Leidenschaft zur Sprache gebracht. Aus der Wahrnehmung dieser für jeden erkennbaren schrillen Dissonanzen erwuchs für Wiechert die Erkenntnis der geschichtlichen Schuld der Deutschen, in die er sich mit allen Menschen, die in dieser Zeit in Deutschland gelebt und überlebt hatten, einbezog. Wiechert sagte: "Wir sahen zu. Wir wußten von allem. Wir zitterten vor Empörung und Grauen, aber wir sahen zu. Die Schuld ging über das sterbende Land und rührte jeden einzelnen von uns an. Jeden einzelnen, außer denen, die auf dem Schafott oder am Galgen oder im Lager den Tod statt der Schuld wählten" (26). Auf die Haltung der Bekennenden Kirche anspielend erklärte Wiechert ferner, die Christen hätten "nach den Worten des Johannes-Evangeliums: 'Am Anfang war das Wort'" zu leben vorgegeben. "Aber statt des Got26

Es gibt zahlreiche Ausgaben und Nachdrucke dieser Rede seit der Erstveröffentlichung München 1945; hier wurde benutzt ERNST WLECHERT: Rede an die Deutsche Jugend. Berlin 1947.

27

Zu E . Wiechert vgl. HELMUT OLLESCH: Ernst Wiechert. 2. Aufl. Wuppertal-Barmen 1956; JÖRG HATTWIG: Das Dritte Reich im Werk Ernst Wiecherts. Geschichtsdenken, Selbstverständnis und literarische Praxis. Frankfurt am Main u.a. 1984; GUIDO REINER (Hg.): Ernst Wiechert heute. Frankfurt am Main 1993. - WLECHERT schrieb 1939 einen Bericht über seine Erfahrungen im Konzentrationslager Buchenwald, der 1945 unter dem Titel: Der Totenwald. Ein Bericht, gedruckt wurde und 1947 in Paris in französischer Ubersetzung erschien; vgl. ERNST WIECHERT: Der Totenwald. Eine Mauer um uns baue. Tagebuchnotizen und Briefe. München/Wien 1979.

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teswortes setzten wir das Menschenwort, und das Menschenwort war der Fluch eines ganzen Zeitalters. Bedenkt das wohl und vergeßt es nicht!" (30). Hier kommt bei Wiechert eine auch von anderen scharfsichtigen zeitgenössischen Nicht-Theologen geübte Kritik am Verlauf des "Kirchenkampfes" zur Sprache, in dem man sich zu einseitig auf die Verteidigung kirchlicher Rechtsstandpunkte festgelegt habe und schließlich bei internen kirchenpolitischen Streitereien angelangt sei, die nichts mehr mit der notwendigen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime und seiner menschenverachtenden Ideologie zu tun gehabt hätten28. Wiechert stellte in die Mitte seiner Rede eine herausfordernde Frage, die nach Kriegsende innerhalb und außerhalb der Kirchen von in Deutschland lebenden Menschen fast nie öffentlich ausgesprochen worden ist: Die Frage nach einer Buße für das gesamte deutsche Volk. Wiecherts Antwort lautete: "Laßt uns erkennen, daß wir schuldig sind und daß vielleicht hundert Jahre erst ausreichen werden, die Schuld von unseren Händen zu waschen. Laßt uns aus der Schuld erkennen, daß wir zu büßen haben, hart und lange" (27). Das gesamte deutsche Volk müsse zu einer so präzisen Wahrnehmung seiner Schuld gelangen, daß es der Einsicht nicht ausweichen könne, für lange Zeit keinen Anspruch auf "Glück und Heim und Frieden" zu haben. Dies deshalb nicht, "weil die anderen glücklos und heimlos und friedlos durch uns wurden". Das deutsche Volk habe zwölf Jahre lang Gericht gehalten "nach dem Gesetz des 'Ubermenschen1: 'Auge um nichts, Zahn um nichts, Blut um nichts1". Wenn die Deutschen jetzt selbst von den Siegern gerichtet würden, dann könne jedes Urteil immer nur ein gerechteres Urteil sein als alle Urteile, die im Namen Deutschlands in der jüngsten Vergangenheit gesprochen wurden. Diesen Sätzen fügte Wiechert die in ihrer Kraßheit erschrekkende Aufforderung hinzu: "Zunächst aber laßt uns einen neuen Anfang setzen, einen neuen Grenzstein vor einem neuen Feld. Laßt uns ausrotten, was unseren Weizen verdarb, mit Ähre und Halm und Wurzeln ausrotten, ja mit dem Boden, der die Wurzeln trug. Laßt uns die Henker auslöschen von unserer Erde, die Marktschreier, die falschen Propheten. Laßt es uns ohne Haß tun, wie der Pflug ohne Haß das Unkraut wendet, aber laßt es uns ohne Gnade tun, wie sie ohne Gnade waren. Wer Gnade mit dem Aussatz hat, verdirbt" (28). Es gibt wohl kein anderes Wort eines während der Zeit des Nationalsozialismus und unmittelbar danach in Deutschland lebenden prominenten christlichen Autors (Wiechert verlegte seinen Wohnsitz allerdings wenig 28

Vgl. JOACHIM MEHLHAUSEN: Kirchenkampf als Identitätssurrogat? Die Verkirchlichung des deutschen Protestantismus nach 1933. In: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner (Hg.): Protestantische Identität heute. Gütersloh 1992, S. 192-203; 288-293.

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später in die Schweiz), das in solcher Unerbittlichkeit die Frage nach dem Umgang mit den Hauptverantwortlichen der nationalsozialistischen Diktatur beantwortet hat. Wiecherts Schuldwahrnehmung wurde durch die Tiefe der Dissonanzerfahrung - hier Buchenwald, dort Weimar - bestimmt; aus ihr gab es für ihn keinen direkten Ausweg und keine schnelle Rückkehr in eine neue Harmonie des Friedens. Erst der Durchgang durch die Katharsis des Gerichts mache neuen Anfang möglich. Wiechert erinnerte in seiner Rede an den Vogel im Märchen, der alle tausend Jahre herbeifliege, um ein "Körnchen aus dem Demantberg" zu brechen. So lange wie das Abtragen dieses Berges werde es dauern, bis die deutsche Schuld aufgehoben sei. Doch trotz dieser Perspektive ermutigte Wiechert die deutsche Jugend, einen neuen Anfang zu wagen: "Laßt uns die Liebe statt des Wortes an den Anfang setzen, und selbst wenn es nicht wahr wäre, selbst wenn die Liebe am Ende stände statt am Anfang, so laßt uns mit diesem Irrtum beginnen, weil es ein heilsamerer Irrtum ist als eine zweideutige Wahrheit. Laßt uns dann denken, daß zwölf Jahre lang nichts mit solchem Haß verfolgt und gekreuzigt worden ist als die Liebe. Sie war das Gegenbild des Antichrist, die Märchenwurzel, von der man wußte, daß sie die Mauern des Turmbaus sprengen kann" (31). 2.7. Rudolf Alexander Schröder Am 18. Februar 1946 beging die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen mit einem Festakt in feierlicher Weise das Gedächtnis an Luthers 400. Todestag. Bei dieser Gelegenheit wurden drei Ehrenpromotionen ausgesprochen. Den Ehrendoktor-Titel erhielten Professor Dr. Hendrik Kraemer aus Leyden, Pfarrer Wolfgang Metzger und der Dichter und Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder. Die von Rektor und Dekan unterzeichnete Urkunde sprach Schröder die Würde eines Doktors der Theologie zu als "dem priesterlichen Hüter und Pfleger der deutschen Sprache, dem lebendigen Vermittler großer antiker Dichtung, dem bahnbrechenden Erneuerer des evangelischen Kirchenliedes, dem mutigen Bekenner des Evangeliums in schwerer Prüfungszeit"29. Die Kirchliche Zeitgeschichtsforschung hat Schröders Rolle im "Kirchenkampf" bislang nicht erhellt. Er galt 1945 aber unumstritten als eine der hervorgehobenen konservativen geistigen Autoritäten protestantisch-humanistischer Prägung, die sich während

29

Zitate und Einzelinformationen nach den im Dekanat der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen verwahrten Unterlagen und Korrespondenzen zur Ehrenpromotion.

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der nationalsozialistischen Herrschaft nicht hatten korrumpieren lassen30. Das Nürnberger Amt für Gemeindedienst hatte Schröder im Kriege das Recht zur freien Wortverkündigung verliehen und ihn in den Notdienst der evangelischen Predigthelfer berufen31. Schröder hielt seine Tübinger Dankrede erst am 30. Juli 1946, weil unter den damaligen Verkehrsverhältnissen eine Reise von Sonnleiten ins Schwabenland im Winter nicht möglich war. Schröder stellte seine Rede unter die Überschrift "Dichten und Trachten" 32 . In einer weit ausholenden Reflexion, in der überaus kunstvoll theologische, philosophische und insbesondere sprachanalytische Erwägungen miteinander verwoben werden, entwarf Schröder eine kontemplative Anthropologie, in deren Mitte das Wort Gen 8,21 steht: "Denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an." Zur Deutung der Schuldfrage wies Schröder auf die "inneren und äußeren Schrecken" hin, die das Erleben der jüngsten Vergangenheit geprägt hätten; er sprach von der "höllischen Sackgasse, in die hinein wir uns verrannt haben". Uber diese ganz allgemeinen Umschreibungen ist Schröder aber nicht hinausgekommen. Er hat in seiner Rede keine einzige Person der Zeitgeschichte, kein bestimmtes Ereignis aus der Vorkriegs- und Kriegszeit beim Namen genannt. Charakteristisch für seinen Umgang mit der jüngst vergangenen Geschichte sind Formulierungen wie diese: "Das Deutschland unsrer Träume ist nicht mehr; auch das Deutschland, in dem einmal in friedlicher Stille gedacht und gedichtet werden durfte, wird nicht mehr sein" (31). Um die unentrinnbare Macht der geschichtlichen Schuld der Deutschen zu beschreiben, benutzte Schröder das Bild vom "Magnetberg", der die Schiffe an sich zieht und an dem sie zerschellen: "Wo immer wir einsam oder gemeinsam das Segel ... der 'Besinnung' setzen, immer treibt und zieht es wie mit Zaubergewalt das Schiff unsrer Gedanken oder unsres Gesprächs gegen den Magnetberg, den eisernen, den unersteigbaren unsrer Verschuldung, hinter und über dem sich dann in noch schwindelnderer, noch unüberwindlicherer Steile das Gebirg der allgemeinen Schuld, der 'alte starre Fels' des bösen Trachtens und Dichtens aller Menschenherzen erhebt". Durch die "Rätsel" des "Scheiterns" und der "Widersprüche" erschüttert, rief Schröder seinen Tübinger Hörerinnen und Hörern im Sommer 1946 zu: "Grauenvoll, dieser Berg der Schuld, grauenvoll seine Unentrinnbarkeit"

30

Vgl. die zeitgenössische Darstellung von RUDOLF ADOLPH: Leben und Werk von Rudolf Alexander Schröder. Ein Brevier. Frankfurt am Main 1958.

31

Vgl. ALBERT STEIN: Evangelische Laienpredigt. Ihre Geschichte, ihre Ordnung im Kirchenkampf und ihre gegenwärtige Bedeutung (AGK. 27). Göttingen 1972, S. 62.

32

RUDOLF ALEANDER SCHRÖDER: Dichten und Trachten. Berlin 1947.

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(32). Die erhabene Abstraktheit solcher Rede über die deutsche Schuld ließ offensichtlich die Wahrnehmung und das Bezeichnen von Konkretionen aus der jüngst vergangenen Geschichte nicht zu. Der Dichter war bemüht, leidenschaftlich und ernst die deutsche Schuld zu beschwören, aber er blieb doch nur bei gleichnishaften Umschreibungen seiner allgemeinen Anthropologie stehen, die von ihrem Ansatz, der Erbsünden-Lehre her, völlig zeitlos zu jeder geschichtlichen Situation die stets gleichbleibende Aussage wiederholte: "Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an". Auch die Hoffnung für eine neue Zukunft, die Schröder seinen Hörern aufzuzeigen versuchte, blieb abstrakt und allgemein. Schröder verwies gegen Ende seiner Rede darauf, daß die Christen "ein Volk der Hoffnung" seien. Die Hoffnung der Christen setze "grade da ein, sie entfaltet grade da ihre Schwingen, wo alle übrige Hoffnung zuschanden werden läßt. Im Abgrund der Verzweiflung, am Fuße des Magnetbergs ist ihr Ort, grade da, denn sie hat ihren Ursprung am Kreuz und unterm Kreuz". Uberall, wo menschliches Dichten "im Gehorsam geschieht, geschieht es unter einem andern ... Gesetz. Es ist das Gesetz des Wandels, der selig machenden Verwandlung durchs Kreuz hindurch" (34). Schröder beschloß seine Tübinger Rede mit den als Verheißung für die Nachkriegszeit gemeinten Worten: "Wo Dichterwort und Lehrwort sich sub signo crucis verbünden, und wo Gott den Bund segnet, da trägt er lebendige Frucht des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Denn in diesem Bund tritt das prophetische Wort unter den Gehorsam, das Gesetzeswort in die Freiheit der Kinder Gottes" (38). Die Übertragung dieser Aussagen in die geschichtliche Lebenswirklichkeit der Nachkriegszeit überließ der Redner seinen Hörerinnen und Hörern, ohne ihnen irgendeinen hilfreich-konkreten Rat für die zu bewältigende Aufgabe zu geben. 2.8. Reinhold Schneider Während bei R. A. Schröder die Wahrnehmung der konkreten geschichtlichen Situation ein Jahr nach Kriegsende völlig hinter seinen allgemeinen Reflexionen zu einer biblisch-theologisch und humanistisch fundierten Anthropologie zurücktrat sowie zu einer bloß verbal angerufenen theologia crucis, hat ein anderer deutscher Schriftsteller etwa zur gleichen Zeit der Frage nach der Schuld der Deutschen eine sehr bemerkenswerte Direktheit verleihen können. Der katholische Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Kulturhistoriker Reinhold Schneider war gegen Ende der nationalsozialistischen Herrschaft unter Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat gestellt worden. Man warf ihm ferner illegale Verbreitung religiöser Schriften vor

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und verdächtigte ihn der Verbindung zu Widerstandskreisen. N u r das Kriegsende verhinderte einen Urteilsspruch 33 . Schneider schrieb bald nach Kriegsende eine Betrachtung nieder, die unter der Überschrift "Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte" an verschiedenen Orten veröffentlicht worden ist 34 . Der Anfang dieser geschichtstheologischen Betrachtung liest sich fast wie ein kritisches Echo auf das öffentliche "Wort" von Landesbischof Theophil Wurm vom 10. Mai 1945. Schneider schrieb, den "Untergang der Denkmäler und Bauten, den wir früher nicht verwunden hätten, verschmerzen wir leicht" (7). Ihm gehe es um den Menschen, "über den die Geschichte hinweggetost ist, und der sich gleichwohl wieder aus der Geschichte erheben muß". Dieser Mensch müsse sich mit der Frage nach der Schuld auseinandersetzen. Es gebe zwar verschiedene Stufen der Verantwortung wie der Schuld; aber die gemeinsame Schuld mache die ehedem Mächtigen wie die weniger Verantwortlichen einander ähnlich. Jeder sei mitschuldig, der "nur ein einziges Mal an das Recht dieses Mächtigen Adolf Hitler glaubte". Aus dem Zirkel der Schuld befreie allein "schonungslose Wahrhaftigkeit" (20). Schneider entwickelte im weiteren Verlauf seines Essays sehr klar das Dilemma, das sich aus der Abstufung der Mitverschuldung ergibt. Seine Forderung an alle Deutschen lautete: "Unsere Auseinandersetzung mit Adolf Hitler ist nicht zu Ende und kann nicht zu Ende sein; in gewisser Weise sind wir vor der Ewigkeit mit ihm verbunden. In ernstlicher Gewissenserforschung müssen wir trachten, frei zu werden; zu ihr aufzurufen und anzuleiten ist die erste Sache Aller, die Verantwortung tragen für das Ganze, für Heute und Morgen, und deren Herz stark genug ist, für das Volk und die Welt zu schlagen" (40f.). U m unverbindliche allgemeine Aussagen zu vermeiden, formulierte Schneider eine im Grunde sehr schlichte Kontrollfrage für die geforderte Gewissenserforschung. Sie lautet: Jeder einzelne Deutsche müsse sich fragen: Was hätte ich getan, sofern Adolf Hitler gesiegt hätte? Schneider betonte: Niemand, keine geistliche und keine weltliche Autorität habe das Recht, die Antwort auf diese Frage durch eine Entscheidung von oben her vorwegzunehmen und damit das Gewissen des einzelnen zu ersticken. N u r wenn jeder sich dieser nüchternen Gewissensfrage stelle und eine ehrliche Antwort gebe, könne sich das Leben der Deutschen erneuern. Denn nur durch eine solche Antwort werde "der Schutt aus der Trümmerstadt unserer Seele" geräumt. Wer bereit sei, sich dieser Frage zu stellen, "koste sie was sie

33 Zu R. Schneider vgl. CARSTEN PETER THIEDE (Hg.): Über Reinhold Schneider. Frankfurt am Main 1980; CORDULA KOEPCKE: Reinhold Schneider. Eine Biographie. Würzburg 1993. 34 REINHOLD SCHNEIDER: Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte. In: DERS.: Schriften zur Zeit. Baden-Baden 1946, S. 7-41.

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wolle", der dürfe "vielleicht hoffen, das Gericht der Geschichte, und das heißt für uns: das Gericht über diese unsere Zeit zu bestehen" (41f.). In keinem anderen öffentlichen Wort zur "Schuldfrage" ist nach 1945 eine vergleichbar nüchterne - und praktikable - Kontrollfrage für die Gewissenserforschung der Deutschen ausformuliert worden, sieht man von den berühmten Differenzierungen des Schuldbegriffs bei Karl Jaspers einmal ab 35 . Der öffentliche und private Gebrauch dieser Kontrollfrage hätte dazu beitragen können, die Wahrnehmungsfähigkeit für eigene Schuldverstrikkungen in der jüngst vergangenen Geschichte zu schärfen und der Schulddiskussion insgesamt die notwendige Konkretheit zu geben. Diese Kontrollfrage hätte - um auf die theologischen Vorüberlegungen zurückzukommen die Funktion eines Gewissensspiegels übernehmen können, der hilft, die notwendige contritio cordis herbeizuführen, die ihrerseits Vorbedingung für ein persönlich verantwortetes Schuldbekenntnis und für den Entschluß ist, aus der Schuld in der Geschichte Lehren für die Zukunft zu ziehen.

3. Die bleibende Aufgabe Die hier vorgestellten Texte gehören unterschiedlichen literarischen Gattungen an und haben jeweils einen eigenen Situationsbezug, der einen direkten Vergleich kaum zuläßt. Gemeinsam ist ihnen jedoch - und darauf sollte es ankommen daß sie unmittelbar aus der Konfrontation mit der Erfahrung des Zusammenbruchs der nationalsozialistischen Diktatur und dem 35

K. JASPERS unterschied vier Schuldbegriffe: 1. Kriminelle Schuld: "Verbrechen bestehen in objektiv nachweisbaren Handlungen, die gegen eindeutige Gesetze verstoßen. Instanz ist das Gericht, das in formellem Verfahren die Tatbestände zuverlässig festlegt und auf diese die Gesetze anwendet." 2. Politische Schuld: "Sie besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin ... Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird. Instanz ist die Gewalt und der Wille des Siegers, in der inneren wie in der äußeren Politik." 3. Moralische Schuld: "Für Handlungen, die ich doch immer als dieser einzelne begehe, habe ich die moralische Verantwortung, und zwar für alle meine Handlungen, auch für politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe. Niemals gilt schlechthin 'Befehl ist Befehl' ... Die Instanz ist das eigene Gewissen.". 4. Metaphysische Schuld: "Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich ... Instanz ist Gott allein" (Schuldfrage [Anm. 9], S. 31f.).

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Ende des Zweiten Weltkrieges stammen und in dieser Situation die Frage nach der Schuld in der Geschichte stellen. So weit die Einzelaussagen dieser Texte auch auseinanderliegen mögen, so konvergieren sie doch in einem Punkt, nämlich dem Gelingen oder Verfehlen der Konkretion in der Schulderkenntnis. Heinz Eduard Tödt hat darauf aufmerksam gemacht, daß "in früheren Zeiten ... Kriege, Katastrophen und Revolutionen oft große religiöse Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen zur Folge gehabt" haben. "Derartiges hat sich nach 1945 wohl individuell, auch in Gruppen, aber nicht in großem Stil ereignet. Indem der Protestantismus sich weitgehend gegen das konkrete Schuldbekenntnis sperrte, hat er sich die Möglichkeit der Erneuerung aus einer zentralen Glaubensdimension heraus versperrt und dem Geschenk der Rechtfertigung allein aus Gnade verweigert. So ist die Sache zur Beschämung von Theologie und Kirche ins Säkulare abgewandert." 36 Dies hätte nicht geschehen müssen, denn in den theologischen Vorüberlegungen konnte ja sichtbar gemacht werden, daß das jahrhundertealte Beichtinstitut der christlichen Kirchen Handlungsanweisungen zur Selbsterforschung bereithält, die auch heute noch wirksam und theologisch legitimiert sind. Und ferner gilt: "Der Glaube ist befreit und verpflichtet, nach der Schuld in der Geschichte zu fragen ... Nur wenn diese Schuld so genau wie möglich identifiziert und zugewiesen wird, haben wir heute eine Chance, sie nicht in veränderter Gestalt erneut zu begehen."37 Die Kirchliche Zeitgeschichtsforschung beschreibt hier also eine Aufgabe, die weit über das Jahr 1945 hinaus der Theologie, den Kirchen und allen Christen gestellt ist. Mit der gleichen Intention hatte Karl Barth in seinem Briefwechsel mit Ernst Friedlaender schon vor Kriegsende am 12. März 1945 geschrieben: "Mir liegt nicht an den Begriffen der Schuld bzw. der Kollektivschuld ... Mir liegt aber alles daran, daß die Deutschen, und zwar so oder so alle Deutschen für das seit 1933 Geschehene die Verantwortung übernehmen. Wobei es sich nicht in erster Linie um die geschehenen 'Verbrechen', sondern in erster Linie um den Weg handelt, der zu den 'Verbrechen' (Oradour usw.) geführt hat und führen mußte. An diesen Verbrechen als solchen mögen in der Tat nur verhältnismäßig wenig deutsche Menschen beteiligt gewesen sein. Den Weg, der dahin führte, sind sie in Form von Taten und Unterlassungen, von

36 H. E. TÖDT, Umgang mit Schuld (Anm. 9), S. 132; TÖDT verweist im Anschluß auf die "säkularen" Arbeiten zur Schuldthematik von: ALEXANDER MITSCHERLICH/MARGARETE MLTSCHERLICH: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Frankfurt am Main 1967 und RALPH GLORDANO: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg 1987. 37 E. HERMS, Schuld in der Geschichte (Anm. 9), S. 18; 23.

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direkter oder indirekter Mitwirkung, von ausdrücklicher oder stillschweigender Zustimmung, von unzweideutig aktiver oder von bloß 'pro forma' (!) gemeinter 'Partei'-Nahme, von politischer Gleichgültigkeit oder auch von allen möglichen politischen Irrtümern und Fehlrechnungen alle gegangen."38 Übernahme von Verantwortung im Zusammenhang mit der Frage nach der "Schuld in der Geschichte" setzt eine möglichst genaue Kenntnis des Geschehenen, der eigenen Mitbeteiligung sowie deren Folgen für andere Menschen voraus. Solche Kenntnis gewinnt aber nur der, dessen Wahrnehmungsvermögen scharf genug ist, um die genannten drei Bereiche voneinander unterscheiden zu können. Die vorgestellten Beispiele aus der Schulddiskussion in der frühen Nachkriegszeit sollten in Erinnerung rufen, daß es Zugänge zur Schuldfrage gibt, die solches unterscheidende Wahrnehmungsvermögen fördern, weil sie - im weitesten Sinne der Erzählung Nathans und den Beichtspiegeln des Mittelalters vergleichbar - all jene Allgemeinheiten und bloß formelhaften Deutungsversuche beiseite reißen, hinter denen sich zuletzt doch nur Flucht vor der Verantwortung verbirgt.

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KARL BARTH: Offene Briefe 1945-1968. Hg. von Diether Koch (GA V. 15). Zürich 1984, S. 18.

Friedrich Wilhelm Graf "DIE A U F G A B E DES FREIEN PROTESTANTISMUS"! Ein unbekanntes Memorandum Theodor Siegfrieds aus dem Jahre 1946 Die neuere Forschung zur Geschichte des "Kulturprotestantismus" und der "liberalen Theologie" hat sich vorrangig auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert konzentriert. Analysen der unübersehbaren Erosion des liberalprotestantischen Milieus in der Zwischenkriegszeit fehlen ebenso wie biographische oder systematisch-theologische Studien über prominente Repräsentanten der in den zwanziger Jahren jüngeren Generation "liberaler" Universitätstheologen. Diese Forschungslage dürfte auch Folge eines Geschichtsbildes sein, das vor allem im Kontext des "Kirchenkampfes" erzeugt2 und von der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung der fünfziger und sechziger Jahre verfestigt worden ist: Die Geschichte der deutschen protestantischen Theologie sei seit 1918/19 primär durch eine dramatische Abkehr von der "neuprotestantischen" Theologietradition und die schnelle Durchsetzung neuer postliberaler Theologien bestimmt worden. Geprägt durch die Traumata des Ersten Weltkrieges und die Erfahrungen einer krisenhaften Zersetzung überkommener bürgerlicher Wertorientierungen habe sich die in den achtziger bzw. frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts geborene "Frontgeneration" von der Vätergeneration der theologischen "Wilhelminer" abgewendet und ihre theologischen Programme im radikalen Gegensatz zu den liberalen Kulturtheologien der Vorkriegszeit entwickelt. Erst mit diesem Protest, wie er besonders folgenreich von Karl Barth und den anderen Vertretern der "Dialektischen Theologie" entwickelt worden sei, beginne die "Theologie des 20. Jahrhunderts", wohingegen die "liberalen Theologien" eines Adolf von Harnack, Wilhelm Herrmann, Martin Rade

1

In den Jahren 1994/95 hat die Fritz-Thyssen-Stiftung ein Forschungsprojekt des Verf. über die internationalen liberalprotestantischen Organisationen gefördert. Dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

2

Vgl. neben den Arbeiten von Carsten Nicolaisen jetzt auch den instruktiven Uberblick von JOACHIM MEHLHAUSEN: Nationalsozialismus und Kirchen. In: T R E Bd. 24. Berlin 1995, S. 43-78.

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oder Ernst Troeltsch nach Inhalt und Methode noch dem "langen 19. Jahrhundert" zuzuordnen seien. In diesem Geschichtsbild, das in den neueren Gesamtdarstellungen der deutschsprachigen protestantischen Theologie unseres Jahrhunderts noch einmal eindrucksvoll nachgezeichnet worden ist3, haben die diversen "liberalen Theologien" der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre keinen Ort. Doch blieben ältere liberalprotestantische Theologen wie Adolf von Harnack (1851-1930), Ferdinand Kattenbusch (1851-1930), Martin Rade (1857-1940), Otto Baumgarten (1858-1934) und Otto Ritsehl (1860-1944) an den theologischen Auseinandersetzungen der zwanziger (und zum Teil auch der frühen dreißiger Jahre) beteiligt. "Liberale Theologie" wurde nach 1918 zudem von Theologen wie Georg Wobbermin (1869-1943), Horst Stephan (1873-1954), Heinrich Weinel (1874-1936)4, Heinrich Hermelink (1877-1958), Hermann Mulert (1879-1950), Georg Wehrung (1880-1959) und Hans Freiherr von Soden (1881-1945)5 tradiert, die in den zwanziger und dreißiger Jahren ihre teils systematischen, teils historisch-exegetischen Hauptwerke veröffentlichten und einen intensiven kritischen Dialog mit den neuen liberalismuskritischen Jüngeren zu führen versuchten6. Schließlich sind die 3

Dies gilt insbesondere für die materialreiche Überblicksdarstellung von HERMANN FISCHER: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert. Stuttgart; Berlin; Köln 1 9 9 2 . FISCHER hat den "Bruch" insbesondere der "Dialektischen Theologen" mit der "liberalen Theologie" der Wilhelminer zum organisierenden Prinzip seiner Darstellung gemacht. So läßt er die Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts mit der "Wende" von 1 9 1 8 / 1 9 beginnen und verzichtet mit entschlossener Einseitigkeit darauf, die in den zwanziger und dreißiger Jahre weiter publizierenden "liberalen Theologen" auch nur zu erwähnen. Auch die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren durchaus noch sehr einflußreichen Vertreter der modern-positiven Theologie - vor allem der theologiepolitisch überaus aktive Reinhold Seeberg - haben in dem von FISCHER entworfenen Geschichtsbild keinen Ort. Noch sehr viel prononcierter (und einseitiger!) als FISCHER reduziert auch der italienische Autor eines neuen "Handbuches" die Komplexität der deutschen protestantischen Theologie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf die Dialektiker, Tillich und Bonhoeffer: ROSINO GIBELLINI: Handbuch der Theologie im 2 0 . Jahrhundert. Regensburg 1 9 9 5 . Vgl. dazu meine kritische Rezension in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 1995.

4

Vgl.FRLEDRLCH WILHELM G R A F : Ein unbekannter liberalprotestantischer Theologennachlaß. Der Nachlaß Heinrich Weineis. In: Z G K 1 0 7 ( 1 9 9 6 ) . Dazu grundlegend: ERICH DINKLER/ERKA DINKLER-VON SCHUBERT/MICHAEL WOLTER (Hg.): Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens (AKZG. A 2). 2. Aufl. Göttingen 1 9 8 6 , sowie: MARTIN HEIN: Hans von Soden und die 'Judenfrage'. In: Bernd Jaspert (Hg.): Erinnern - Verstehen - Versöhnen. Kirche und Juden in Hessen 1 9 3 3 - 1 9 4 5 (Didaskalia. Schriftenreihe der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. 40). Kassel 1992. Zu Wobbermin, Wehrung und Stephan bereitet der Berliner Theologe MATTHIAS WOLFES derzeit eine von Wolfgang Huber betreute Dissertation vor. Methodisch überzeugend kon-

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"liberalen Theologen" der "Frontgeneration" zu erwähnen, also Theologen wie Georg Wünsch (1887-1964), Kurt Leese (1887-1965) und Theodor Siegfried (1894-1971). Diese jüngeren liberalen Theologen teilten zwar die generationenspezifischen Krisenerfahrungen ihrer Generation und äußerten eine durchaus scharfe Kritik an den spezifisch bürgerlichen Wertvorstellungen und Kulturidealen, wie sie von vielen älteren liberalen Theologen formuliert und theologisch gerechtfertigt worden waren. In der Kritik an der Vorkriegstheologie bzw. in der Absage an Bürgertum und wilhelminische Kultur stimmten sie mit den anderen "Krisentheologen" ihrer Generation überein. Auch teilten sie das von zahllosen Intellektuellen der "Frontgeneration" artikulierte existentielle Gefühl, "zwischen den Zeiten", in einer Zeit von elementarer kultureller Krise und Zeitenwende, zu leben 7 . Im Gegensatz zu den frühen "Dialektischen Theologen", den jüngeren Vertretern der "Lutherrenaissance" und den jungkonservativen Neulutheranern waren sie aber mit großer Entschiedenheit darum bemüht, am "Problemlösungspotential" 8 der liberalprotestantischen Theologietradition festzuhalten. Die wachsende Verkirchlichung der akademischen Theologie und die breite Absage an die leitenden Begriffe der neuprotestantischen Tradition - also an Begriffe wie Religion, Subjektivität, protestantische Freiheit, Autonomie, Glaubenslehre, geschichtlicher Glaube, Prinzip des Protestantismus etc. - beobachteten sie mit ebenso großer Sorge wie das neue Pathos von Autorität, Gehorsam und Bindung, das viele der neuen antiliberalen Theologien kennzeichnete. Ihre Distanz zum main stream theologischer Liberalismuskritik trug dazu bei, daß ihr Einfluß in Kirche und Universitätstheologie eng begrenzt blieb. Wie einige ältere Vertreter "liberaler Theologie nach 1918" gehören die theologischen Jungliberalen der zwanziger Jahre zu den "vergessenen Theo-

zentriert er sich auf die Frage nach der Kontinuität liberalprotestantischer Fragestellungen und D e n k f o r m e n in der Zwischenkriesgzeit. Vgl. den instruktiven Vorbericht: MATTHIAS WOLFES: Glaube und Geschichte. Liberale Theologie nach 1918. In: Mitteilungen der Ernst Troeltsch-Gesellschaft 9 (1995). Z u H e r m a n n Muleit liegt nur eine systematisch-theologisch wenig überzeugende Leipziger Dissertation vor: KLAUS MICHAEL FÜHRER: Hermann Mulert. Kirchlicher Liberalismus als politischer Protestantismus in der Weimarer Republik und im 'Dritten Reich'. Studien zur Biographie. Diss. theol. Leipzig 1988 (masch.). 7

Vgl. die instruktive Anthologie: DEUTSCHE INTELLEKTUELLE 1910-1933. Aufrufe, Pamphlete, Betrachtungen, hg. und mit einem K o m m e n t a r versehen von Michael Stark (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. 58). Heidelberg 1984.

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H . FISCHER, Theologie (ANM. 3), S. 11.

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logen" unseres Jahrhunderts 9 . In den Gesamtdarstellungen zur Geschichte der deutschsprachigen protestantischen Theologie unseres Jahrhunderts werden sie ebenso ignoriert wie in einem Großteil der neueren Forschungsliteratur zur theologischen Wissenschaftsgeschichte seit 1918/19. Friedrich Mildenberger erwähnt in seiner stark antihistorischen "Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert" Leese, Siegfried und Wünsch nicht einmal im Register 10 . Aber auch in wichtigen neuen Weimar-Monographien11 sowie in Aufsätzen und Sammelbänden zur Geschichte der theologischen Fakultäten in den dreißiger Jahren finden Jungliberale wie Leese und Siegfried keine Beachtung12. Die Erschließung des Werkes der theologischen Jungliberalen kann erstens dazu beitragen, dogmatisch verfestigte Perspektiven auf die neuere Theologiegeschichte zu relativieren. Sie bietet zweitens die Chance, präzisere Bestimmungen des historisch wie systematisch mehrdeutigen Begriffs "liberale Theologie" zu formulieren. Sie ermöglicht drittens eine differenziertere Antwort auf die Frage, wie Theologen, die sich nach 1918/19 "noch" dem argumentativen Potential der liberalprotestantischen Theologietradition verpflichtet wußten, auf die tiefgreifend neuen politisch-kulturellen Herausforderungen von Weimarer Republik, nationalsozialistischer Revolution, zweitem Weltkrieg, deutscher Niederlage und schließlich Teilung Deutschlands reagierten. Vor allem das theologische Werk Siegfrieds gibt viertens dazu Anlaß, die Frage nach Erosion und Auflösung des dichtgeknüpften Netzwerkes liberalprotestantischer Vereine und Verbände neu aufzuwerfen. Ein bisher unbekanntes Memorandum über "Die Aufgabe des Freien Protestantismus", das im folgenden erstmals veröffentlicht wird, läßt erkennen: Siegfried bemühte sich in den Jahren nach der deutschen Niederlage 9

Zum Begriff vgl. ELLERT HERMS/JOACHIM RLNGLEBEN (Hg.): Vergessene Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Göttingen 1984.

10

Entsprechendes gilt für das stark fehlerhafte Verzeichnis von "500 protestantischen Universitätstheologen", das die extrem einseitig "erzählte Geschichte" ergänzen soll: FRIEDRICH MILDENBERGER: Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart u.a. 1981, S. 253-285. Auch in der sehr viel materialreicheren und differenzierten Darstellung H . FISCHERS werden Kurt Leese und Hermann Mulert nirgends erwähnt. Theodor Siegfried taucht nur als Autor einer Barth-Kritik im Verzeichnis der Literatur zur frühen "Dialektischen Theologie"

auf (Theologie [Anm. 3], S. 15). Georg Wünsch behandelt

FISCHER kurz als einen Vertreter des Religiösen Sozialismus (EBD., S. 53). 11

Vgl. etwa die gewichtige Studie von KLAUS TANNER: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre (AKZG. B 15). Göttingen 1989.

12

Vgl. etwa LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ/CARSTEN NICOLAISEN (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993.

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darum, alte liberalprotestantische Vereine wiederzubeleben und auch das publizistische Flaggschiff eines - im weiten Sinne des Begriffes - volkskirchlich orientierten "Kulturprotestantismus", die einst von Martin Rade und dann von Hermann Mulert herausgegebene religiös-theologische Kulturzeitschrift "Die Christliche Welt", neu zu gründen. Siegfried scheiterte mit diesen Plänen. Sein wohl 1946 geschriebenes Memorandum, mit dem er unter dem Eindruck von Weltkrieg und deutscher Niederlage Anstöße zu einer neuen Sammlung liberalprotestantischer Theologen und gebildeter Laien vor allem Lehrer - und zur Neugründung der "Christlichen Welt" geben wollte, bietet jedoch instruktive Einsichten in die Argumentationsmuster und Denkformen, mit denen ein später protestantischer Liberaler die religiös-kulturelle Lage der Nachkriegszeit und die spezifischen Herausforderungen des Protestantismus deutete. Friedrich Adolf Theodor Siegfried wurde am 28. Januar 1894 in Berlin als einziges Kind des Schriftstellers und Privatgelehrten Adolf Siegfried (18551932) und seiner Ehefrau Virginia Siegfried, geb. Maerker (2. März 1852 - 22. November 1937) geboren 13 . Im Alter von sechs Jahren trat er in die Vorschule des Königlich Französischen Gymnasiums in Berlin ein, an dem er als Achtzehnjähriger am 18. März 1912 die Reifeprüfung ablegte. Zum Sommersemester 1912 immatrikulierte er sich an der Universität Jena für das Studium der Philologie und evangelischen Theologie. In der theologischen Fakultät besuchte er Lehrveranstaltungen des liberalprotestantischen Systematikers Heinrich Weinel und des Alttestamentiers Willy Staerk, bei den Philosophen eine Vorlesung des Neoidealisten Rudolf Eucken. Daneben nahm Siegfried an germanistischen Lehrveranstaltungen teil. Schon im folgenden Semester, dem Wintersemester 1912/13, kehrte er nach Berlin zurück. Neben Vorlesungen in Philosophie, Germanistik und Französisch hörte er theologische Vorlesungen bei Adolf von Harnack, Adolf Deißmann und Hermann Freiherr von Soden. Im Sommer 1913 ging Siegfried wieder nach Jena, um schon zum Wintersemester 1913/14 erneut nach Berlin zurückzukehren. 1915 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Da ihm aus Gesundheitsgründen die Aufnahme ins kämpfende Heer verweigert wurde, leistete er vom Februar 1915 bis März 1916 freiwilligen Etappendienst beim Roten Kreuz in Belgien (TV. Armee). Im April und Mai 1916 lebte Siegfried wieder in Jena, um bei Rudolf Eucken eine philosophische

13 Die bisher ermittelbaren Daten über Theodor Siegfrieds Lebensweg sind dargestellt in meinem Artikel: Theodor Siegfried. In: BBKL Bd. 10. Herzberg 1995 oder 1996 (im Druck). Im folgenden werden nur einige grundlegende Informationen zur Biographie und Theologie Siegfrieds genannt, die für das Verständnis des edierten Textes hilfreich sind. Zahlreiche weitere biographische und werkgeschichtliche Informationen finden sich im genannten Artikel.

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Dissertation über "Das romantische Prinzip in Schleichermachers Reden über die Religion" abzuschließen. Anfang Juni 1916 erfüllte sich sein Wunsch, als Kriegsfreiwilliger ins Heer aufgenommen zu werden. Siegfried kam zur Artillerie. Nach der deutschen Niederlage kehrte er während des Wintersemesters 1918/19 in seine Heimatstadt zurück. Im Sommersemester 1919 hörte er eine Vorlesung des sozialistischen Privatdozenten Paul Tillich über "Die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart". Er trat zu dem acht Jahre älteren Tillich in eine nähere Beziehung, die wohl als Freundschaft zu charakterisieren ist. Mit Tillich verband ihn das Bekenntnis zu einem religiös vertieften "Sozialismus"; 1919 engagierte Siegfried sich in einer sozialistischen Studentenorganisation. Die kritische Rezeption von Tillichs Arbeiten und das persönliche Gespräch gewannen für seine eigene Kulturtheologie grundlegende Bedeutung. Großen Einfluß übten auf ihn zudem Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch aus. Beide bezeichnete Siegfried später als seine akademischen Lehrer. Zum Sommersemester 1920 kehrte Siegfried nach Jena zurück, wohl in der Hoffnung, hier günstigere Umstände für eine akademische Karriere als an der Berliner theologischen Fakultät vorzufinden. A m 28. Mai 1921 wurde er von der Jenaer theologischen Fakultät summa cum laude zum Lizentiaten der Theologie promoviert. Drei Monate später legte er vor der Thüringer Kirchenleitung in Jena die Theologische Aufnahmeprüfung mit der Note "vorzüglich" ab. Noch im selben Jahr konnte er sich an der Jenaer Fakultät für das Fachgebiet der Systematischen Theologie habilitieren. Nach einer Probevorlesung über die "Typen chiliastischer Frömmigkeit" und einer anschließenden Disputation wurde er am 10. Dezember 1921 zum Privatdozenten ernannt. In seinen Thesen für die Disputation mit der Fakultät erklärte er unter anderem: "Die Spannung zwischen Religion und Kultur ist so unlöslich wie ihre Wechselbeziehung." 14 Trotz des Austritts aus der Berliner sozialistischen Studentenvereinigung verkehrte Siegfried weiter in linken Intellektuellenzirkeln. Für die einflußreichen "Sozialistischen Monatshefte" schrieb er 1923 bis 1933 regelmäßig eine Rundschau über neuere Literatur der "Religionswissenschaft" sowie Berichte, Personalien und Nachrufe aus dem Themenspektrum Religion, Theologie und Kirchen. Diese religionswissenschaftlichen und theologischen Beiträge für die "Sozialistischen Monatshefte" stellen eine instruktive Quelle zur Theologiegeschichte der zwanziger Jahre dar. Vor allem die Rezensionen sowie die Berichte über Tagungen und Konferenzen bieten zahlreiche Insider-Informationen über die theologischen Debatten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. 14 THEODOR SIEGFRIED: Habilitationsthesen. In: ThBl 1, 1922, S. 13-14.

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Nach einer längeren Studienreise, die ihn nach Italien und in die Schweiz führte, erhielt Siegfried 1924 die Stelle des Obmanns beim Arbeitsring für Sektenwesen im Volksdienst der Thüringer evangelischen Kirche. Dieses Amt übte er neben seiner akademischen Lehrtätigkeit an der Universität bis 1932 aus. 1926 lud die "liberale" Marburger theologische Fakultät Siegfried dazu ein, sich nach Marburg umzuhabilitieren. Diese Einladung dürfte auf eine Initiative Martin Rades zurückgegangen sein, der in Siegfried einen der förderungswürdigen "liberalen Theologen" der jüngeren Generation sah. In Marburg übernahm Siegfried den Lehrauftrag für Geschichte der Theologie und Religionsphilosophie, den sein Freund Paul Tillich vom Sommersemester 1924 bis zum Sommersemester 1925 innegehabt hatte. A m 29. Juli 1927 wurde Siegfried in Marburg zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor für Systematische Theologie ernannt. In Anerkennung der Verdienste, die er sich als Kritiker der neuen antiliberalen Theologien der Zeit, insbesondere der Offenbarungstheologie Karl Barths, sowie als Wahrer des Erbes liberaler Theologie erworben hat, verlieh ihm die theologische Fakultät in Jena 1930 den Ehrendoktor der Theologie. Als erster Theologe der jüngeren Generation veröffentlichte Siegfried 1930 eine umfassende kritische Monographie zur "Dialektischen Theologie": "Das Wort und die Existenz. Eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie". Der erste Band seines dreibändigen "antibarthischen Standardwerkes)" (Martin Rade) 15 erschien 1930; er trug den Untertitel "Die Theologie des Wortes bei Karl Barth. Eine Prüfung von Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik". Der zweite und dritte Band, die Siegfried ebenfalls schon 1929/30 oder gar noch früher fertiggestellt hatte, aber wegen Geldmangel nicht drucken lassen konnte 16 , erschienen 1933. Band 2 trug den Untertitel: "Die Theologie der Existenz bei Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann", 15 Im August 1933 schrieb Martin Rade im Postskriptum eines Briefes an den Jenaer Theologen Heinrich Weinel, einen akademischen Lehrer und Mentor Siegfrieds: "Ach ja Siegfried. Was soll aus dem armen Kerl werden? Können Sie nichts für ihn tun? Können Sie nicht sorgen, daß er mit seinem antibarthischen Standardwerk mal eine ordentliche Anzeige erzielt? Daß es die Barthianer ignoriren, begreife ich. Solche Wissenschaft liegt ihnen nicht. Aber alle die übrigen jungen Systematiker? Ich fand es einfach unkollegial, unfair, daß man eine solche Arbeit ignorirte. Habe alles gelesen, fühle mich aber unkompetent. Wenn die StudduKrr [ Theologischen Studien und Kritiken] noch existierten, würde ich mich an Kattenbusch wenden" (Brief Rades an Weinel vom 15. August 1933, in: UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK JENA, Handschriftenabteilung, Nachlaß Heinrich Weinel). 16 Am 15. Februar 1932 schreibt Siegfried einem unbekannten Theologen in den USA, daß das Manuskript des zweiten und dritten Bandes von "Das Wort und die Existenz. Eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie" "schon seit langem fertig" sei. Es fehlten jedoch Mittel für einen Druckkostenzuschuß (Durchschrift des Briefes im Nachlaß Theodor Siegfried [vgl. Anm. 24]).

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Band 3 den Untertitel "Autorität und Freiheit". In diesem dritten, stärker konstruktiven Band wollte Siegfried "dem weitabgewandten Quietismus der Dialektiker eine 'Theologie der Kultur"' entgegenstellen17. Der Wirkung seines Hauptwerkes waren durch die sehr hermetische Sprache jedoch enge Grenzen gesetzt. Daneben publizierte Siegfried in den zwanziger Jahren zahlreiche Aufsätze und Rezensionen sowie zwei kleinere Monographien über "Luther und Kant. Ein geistesgeschichtlicher Vergleich im Anschluß an den Gewissensbegriff" und "Grundfragen der Theologie bei Rudolf Otto" 1 8 . Später kam, neben zahlreichen Aufsätzen, Rezensionen, Literaturberichten und kirchenpolitischen Essays, noch eine Studie über "Das protestantische Prinzip in Kirche und Welt" 1 9 hinzu. Die Bibliographie von Siegfrieds Publikationen umfaßt insgesamt mehr als 320 Titel 20 . Pläne, sein theologisches Programm auch in Gestalt einer modernen "Glaubenslehre" sowie in einer dem protestantischen Autonomie-Prinzip verpflichteten "Ethik" zu entfalten, vermochte Siegfried allerdings nicht zu realisieren. Das Vorbild des systematisch sehr viel selbständigeren Paul Tillich scheint Siegfried hier als Hemmnis empfunden zu haben. Zudem trug die kritische (und in manchen Zügen durchaus dogmatische) Fixierung auf die gegnerische "Dialektische Theologie", insbesondere auf Karl Barths "Kirchliche Dogmatik", dazu bei, Siegfrieds konstruktive Kraft zu begrenzen. In der Kritik und Analyse anderer Positionen war er deutlich stärker als in der materialen Entfaltung einer "liberalen Kulturtheologie", die den neuen kulturellen Herausforderungen gerecht zu werden vermochte. In den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen nach der "deutschen Revolution" der Nationalsozialisten unterstützte Siegfried zunächst den "Pfarrernotbund", der 1933 im Kampf um die Einführung des "Arierparagraphen" in der Kirche gegründet worden war. Danach ging er zunehmend zur sich formierenden "Bekennenden Kirche" auf Distanz. Denn in Konzentration auf ein lehrhaftes, das individuelle Gewissen bindendes 17 Brief Theodor Siegfrieds vom 15. Februar 1932 an einen unbekannten Theologen in den USA (Durchschrift ebd.). 18

THEODOR SIEGFRIED: Luther und Kant. Ein geistesgeschichtlicher Vergleich im Anschluß an den Gewissensbegriff (AWR. Religionsphilosophische Reihe. 3). Gießen 1930; Grundfragen der Theologie bei Rudolf Otto (MThSt. 7). Gotha 1931.

19 THEODOR SIEGFRIED: Das protestantische Prinzip in Kirche und Welt (TABG.

8).

Halle/Saale 1939. 20

Eine vollständige Bibliographie der von Siegfried veröffentlichten Texte findet sich im bibliographischen Anhang meines in Anmerkung 13 genannten Portraits. Dieser Anhang enthält auch eine umfassende (aber gewiß noch nicht vollständige) Ubersicht über das Rezensionsecho auf Siegfrieds Veröffentlichungen und die sonstige Sekundärliteratur.

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Bekenntnis sah er einen Verrat an den Prinzipien des Protestantismnus bzw. einen tendenziell "römischen" autoritären Klerikalismus. Zwar beteiligte er sich an diversen kirchenpolitischen Aktionen von Professoren der Marburger Theologischen Fakultät und arbeitete mit Marburger kritischen Bekenntnistheologen wie Hans von Soden zusammen. Doch auch in den Zeiten starker kirchenpolitischer Polarisierungen hielt Siegfried, wie viele andere Theologen aus dem "Kreise der Freunde der Christlichen Welt", am Konzept einer integrativen "evangelischen Volkskirche" fest. In den Auseinandersetzungen um die theologische Legitimität der "Reichskirche" unterstützte er 1934 deshalb die Anhänger der "Reichskirche", die er als institutionellen Körper der "Volkskirche" verstand: "Auch deshalb ist die Reichskirche ein Erfordernis, weil die evangelische Kirche Deutschlands einer sichtbaren und verantwortlichen Repräsentation gegenüber dem Staat, dem Weltprotestantismus, der katholischen Kirche und den nicht-christlichen Bewegungen bedarf. [...] Solche 'Reichskirche' hat freilich nur Sinn als Rahmen und Gerüst der ' Volkskirche"' 21 . Die Bildung einer selbständigen "Bekennenden Kirche" bzw. eigenständiger Bekenntnisgemeinden verwarf er als einen Verrat am spezifisch protestantischen Ideal der "Volkskirche": "Die Aufgabe der Volkskirche ist: religiös-sittlich in die Breite des Volkes zu wirken. In solcher Zielsetzung vermuten die Gegner Verrat an der Substanz, welch letztere immer nur von kleinen Kreisen ergriffen würde. Selbstverständlich kann die Volkskirche nicht ein pietistischer Kreis sein, der die Intimität christlichen Erlebens pflegt. Aber es sollte ebenso selbstverständlich sein, daß auch orthodoxe oder pietistische Gemeinschaften nicht das Recht haben, sich als die Kirche zu verabsolutieren. Solche Gemeinschaften haben nur dann ein Existenzrecht, wenn sie aus dem Ganzen der Kirche hervorwachsen und ihm hinwiederum dienen. [...] Völlig abwegig aber ist es, die Kerngemeinde als 'Bekenntnisgemeinde1 oder 'Bekenntniskirche' aufzubauen. Vielerlei ist der Sinn des Begriffes Bekenntnis. Es kann die Lehrnorm bezeichnen, durch die kirchliche Unterweisung erfolgt. Solche Lehrnorm muß es geben. Aber wie sie im evangelischen Sinn nicht selber absolut ist, sondern auf die Schrift hinleitet, so ist sie auch nicht die ursprüngliche Form des Bekenntnisses. Dieser näher liegt schon das 'Lehrzeugnis', das vor Verwirrung warnt und zur Wahrheit zurückruft. Solche 'Lehrzeugnisse1 hat es im letzten Jahr viele gegeben. Ihre Voraussetzung ist, daß die Gemeinschaft mit denen, an die das 'Lehrzeugnis' manhnend und warnend sich wendet, noch nicht abgebrochen ist. [...] Aber auch das Lehrzeugnis ist nicht die ursprüngliche Form des Bekenntnisses. [...] Die 'Bekenntnisgemeinde' ist das radikale Widerspiel der Volkskirche. Sie verleugnet, daß der Gottesdienst im 21

THEODOR SIEGFRED: R e i c h s k i r c h e u n d V o l k s k i r c h e . I n : D t P f r B l 3 8 , 1934, S. 680-685.

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Leben der Gottesdienst ist, auf den es ankommt. Sie verabsolutiert zu einer eigenen Gemeinde, was nur als Arbeitsgemeinschaft im Dienst der Gesamtgemeinde Sinn hat. Wohl aber vertragen sich Volkskirche und Pflege eines tragenden Gemeindekerns. Ja diese fordern einander." 22 Zu Siegfrieds wachsender innerer Distanz gegenüber der "Bekennenden Kirche" trug bei, daß sich mit der Barmer Bekenntnissynode die Theologie Karl Barths als die prägende Theologie durchsetzte. Siegfried wiederholte demgegenüber seine schon in den zwanziger Jahren geäußerte Kritik, daß die "Dialektischen Theologen" einen "heteronomen", autoritären und dezisionistischen Denkstil kultivierten, der dem Antiliberalismus bzw. Totalitarismus der Nationalsozialisten strukturell verwandt sei. Mit Blick auf die massiven theologischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen der "Bekennenden Kirche" charakterisierte Siegfried die Theologie Barths 1946 als "denjenigen Typus von Bekenntnistheologie [...], der sich jene Verfemung von Humanität, Sozialethik und politischer Ethik zu eigen machte, welcher auf Grund solcher theologischen Voraussetzungen an Juden- und Kommunistenverfolgungen keinen Anstoß nahm, weil sie nicht den Raum der Kirche betrafen und weil denn doch das Ganze des Lebens schlechthin unter Gericht und Gnade falle, [und der] kräftig und prinzipiell und existenziell den Antihumanismus förderte" 23 . Im "Personalfragebogen für Hochschulbeamte", den er im Rahmen des sog. Entnazifierungsverfahrens am 18. Juli 1945 ausfüllte, erklärte er über seine Haltung zum Nationalsozialismus und seine Stellung im Kirchenkampf: "Wie meine Grossväter u. meine Eltern habe ich nur eine Leitlinie gekannt: Liberalismus, Kampf gegen politische u. klerikale Bevormundung. Darum galt mein Kampf dem Nationalsozialismus u. der Bekenntniskirche mit gleicher Leidenschaft." 24 Beim Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschland war Siegfried 51 Jahre alt. Unter den neuen politischen Bedingungen konnte er nun akademische Karriere machen. Im Rahmen des sog. Entnazifizierungsverfahrens wurde Siegfried, der am 24. Januar 1940 an der Marburger Fakultät zum außerordentlichen Professor im Beamtenverhältnis ernannt worden war, als "ein Gegner des Nationalsozialismus" eingestuft 25 . Einen 1948 ergangenen 22

EBD., S. 6 8 2 - 6 8 3 .

23 THEODOR SIEGFRIED: Rez.: Alfred de Quervain: Humanismus und evangelische Theologie. Mainz 1947, in: ThLZ 75, 1950, Sp. 440. 24 UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK MARBURG, Handschriftenabteilung, Nachlaß Theodor Siegfried, Kasten: Biographisches. 25 Spruchkammerbescheid vom 22. Oktober 1946 (EBD.). Die Spruchkammer erklärte weiter: "Prof. Siegfried [...] hat sich nach den angestellten Ermittlungen häufig kritisch über die nationalsozialistischen Anschauungen und Methoden geäussert. Dem allgemeinen Druck, in die NSADP einzutreten, gab er nicht nach."

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Ruf auf einen Systematisch-theologischen Lehrstuhl an der Kieler Universität lehnte Siegfried 1949 ab. Im Zuge der Rufabwehrverhandlungen wurde er zum 1. März 1949 bzw. am 25. Mai 1949 (Datum der Ernennungsurkunde) zum Persönlichen Ordinarius für Systematische Theologie, Geschichte der Theologie und Religionsphilosphie in Marburg ernannt. Vom Wintersemester 1951/52 bis zum Wintersemester 1952/53 übte Siegfried hier das Amt des Dekans der Theologischen Fakultät aus. 1953 wurde er zudem zum Ephorus der Hessischen Stipendiatenanstalt in Marburg ernannt; dieses Amt hatte er zehn Jahre, bis zum Sommersemester 1963, inne. Im Jahr zuvor, Ende September 1962, war Siegfried im Alter von 68 Jahren emeritiert worden 26 . Die letzten Lebensjahre scheint er weithin in Marburg verbracht zu haben. Er starb am 28. April 1971 in Marburg. In den zwanziger Jahren hatte Siegfried Kontakte zu verschiedenen religiösen Sozialisten unterhalten, aber auch an zahlreichen Treffen liberalprotestantischer Theologen teilgenommen. Theologisch und kirchenpolitisch ordnete er sich selbst dem "freien Protestantismus" zu, der in den zwanziger und dreißiger Jahren zwar erheblich an kirchlicher wie gesamtkultureller Bedeutung verlor, aber alte Organisationsstrukturen noch aufrechtzuerhalten vermochte. Zwar wies er selbst auf die vielfältigen Erosionstendenzen des liberalprotestantischen Milieus hin. Doch setzte er große Hoffnungen darauf, daß sich gegen die vielfältigen "heteronomen" Tendenzen der Zeit ein innerlich erneuerter, realistischer gewordener und von bürgerlichen "Schlacken" befreiter Kulturprotestantismus als Träger der "protestantischen Idee der Freiheit" durchsetzen könne. Siegfried schrieb in den zwanziger und dreißiger Jahren in der "Christlichen Welt", unterhielt enge Beziehungen zu Martin Rade und Heinrich Weinel, trat sehr nachdrücklich für die Pflege des Werkes von Rudolf Otto ein und war Mitglied diverser liberalprotestantischer Organisationen. Besonders intensiv betätigte er sich im "Bund für entschiedenen Protestantismus und freie Volkskirche". Im August 1932 reiste er als Delegierter zum Kongreß des "Weltbundes für freies Christentum" nach St. Gallen. Während des "Kirchenkampfs" nahm er an verschiedenen Treffen von Mitarbeitern der "Christlichen Welt" teil, bei denen die Frage nach dem kirchenpolitischen Kurs der Zeitschrift diskutiert wurde.

26 Nach verschiedenen Zeugnisse im Nachlaß wurde Siegfried Ende September 1962 emeritiert. Der Widerspruch zur Angabe in INGE AUERBACHS Marburger Professorenkatalog, die Siegfrieds Emeritierung auf "Ende WS 1961/62" datiert, konnte bisher nicht aufgeklärt werden (vgl. Catalogus professorum academiae Marburgensis. Die akademischen Lehrer der Philipps-Universität Marburg, Bd. 2: Von 1911 bis 1971, bearb. von Inge Auerbach. Marburg 1979, S. 46).

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Schon im Herbst 1945 konnte Siegfried wieder in Kontakt zu Vertretern der "liberalen Internationalen" im westlichen Ausland treten. Auch bemühte er sich darum, die versprengten Theologen aus dem "Kreise der Freunde der Christlichen Welt" neu zu sammeln. Siegfried wollte Rades "Christliche Welt" wiederbeleben und hoffte darauf, daß sich auf lokaler Ebene die alten Ortsgruppen der "Freunde der Christlichen Welt" und andere liberalprotestantische Organisationen wieder bildeten. Der im folgenden edierte Text steht im Zusammenhang dieser Bemühungen, die noch lebenden Mitglieder der Freundeskreise zu sammeln und neue liberalprotestantische Diskussionsgruppen zu gründen. Das genaue Datum der Niederschrift des Textes hat sich aus den in Siegfrieds umfangreichem Nachlaß verwahrten Materialien nicht erheben lassen. Doch sprechen einige Aussagen für die Hypothese, daß der Text im Sommer 1946 verfaßt wurde. Siegfried analysiert die Lage des deutschen Protestantismus nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur. Er prognostiziert für Deutschland den Sieg des "ökonomischen Sozialismus" und geht davon aus, daß bei der deutschen Bevölkerung der Wunsch nach "persönlicher Freiheit" "trotz demokratischer Propaganda" "ein geringer" sei. Er spricht von drükkender "ökonomischer Not" und von "Nachkriegserfahrungen, die weder auf politischem Gebiete noch in der Wirtschaft einen Fortschritt zum Guten erkennen Hessen." Auch spielt er "auf die politische und so doch ausgesprochen 'weltliche' Parteibildung unter christlichem Namen" an27. Siegfried weist darauf hin, daß die "Natur der Zeitverhältnisse [...] grössere Zusammenkünfte und die Verbindung durch die Zeitschriften vorläufig noch ausschliessen", und stellt fest, daß "sich schon wieder viele, die noch vor einem Jahr aufhorchten, von der Kirche zurückziehen]" 28 . Der Text muß also mindestens ein Jahr nach dem Ende des Krieges in Europa bzw. der deutschen Kapitulation verfaßt worden sein. Die in Siegfrieds Nachlaß verwahrten Materialien geben keine Auskunft darüber, an wen er sein Memorandum verschickte. Zu vermuten ist, daß die wichtigsten Adressaten ihm persönlich bekannte Theologen und Kirchenfunktionäre aus den einstigen Organisationen des "freien Protestantismus" waren. Doch dürfte er sein Programm darüber hinaus auch an andere Vertreter eines volkskirchlich orientierten Protestantismus gesandt haben, möglicherweise auch in der Absicht, finanzielle Unterstützung für eine Neugründung der "Christlichen Welt" zu erhalten. Denn ein Adressat ist namentlich bekannt. Siegfried schickte seinen Text auch an Eugen Gerstenmaier, der 1945 bis 1951 Leiter des Evangelischen Hilfswerks war. Gersten27 Vgl. unten S. 523. 28 Vgl. unten S. 527.

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maier schrieb im September 1946 an Siegfried: "[...] mit grossem Interesse habe ich Ihr Memorandum über die 'Christliche Welt' gelesen. Ich würde es sehr begrüssen, wenn sie sobald als möglich wieder erscheinen könnte"29. Trotz seiner intensiven Bemühungen, von ausländischen liberalprotestantischen Gruppierungen eine finanzielle Unterstützung für die Neugründung der "Christlichen Welt" zu erhalten, konnte Siegfried seinen Plan nicht realisieren. Auch blieb die Hoffnung auf "Aufbau und Ausbau der Arbeit in Freundesgruppen und Vereinigungen" weithin Illusion. Siegfried hatte in seinem Memorandum erklärt: "Es darf ohne Rühmen gesagt werden, dass mitten im äusseren Zusammenbruch und in der Erschütterung der geistigseelischen Krise der Geist der 'christlichen Welt' sich durchgesetzt hat und dass ohne ihre jahrzehntelange Vorarbeit die heut fast allgemeine christliche Verarbeitung der geistigen, kulturellen und politischen Fragen nicht möglich wäre. Aber eben darum wird der freie Protestantismus sich ernsthaft fragen müssen, ob für ihn hier noch eine besondere Mission besteht und welche."30 Mit Blick auf die Gründung der Evangelischen Akademien, die stark intensivierten Bemühungen um die Wahrnehmung der "öffentlichen Verantwortung" der Kirche und die vielfältigen bildungspolitischen Aktivitäten der Landeskirchen und der sich formierenden Evangelischen Kirche in Deutschland ist Siegfrieds Behauptung, daß nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur kirchlicherseits an Grundintentionen des liberalen Kulturprotestantismus angeknüpft wurde, zumindest partiell zuzustimmen. Eine Antwort auf Siegfrieds Frage, ob der freie Protestantismus in dieser Situation überhaupt noch eine besondere kirchen- und kulturpolitische "Mission" hatte, läßt sich nicht im Medium historischer Analyse geben; sie dürfte stark durch subjektive theologische Wertorientierungen und ein normatives Bild "liberaler Theologie" geprägt sein. Historisch läßt sich bloß konstatieren, daß es den wenigen Repräsentanten liberalprotestantischer Universitätstheologie, die nach 1945 um ausdrückliche Kontinuität mit den liberalprotestantischen Assoziationen der Vorkriegszeit bemüht waren, nicht gelang, das führende Organ des freien Protestantismus, "Die Christliche Welt", wieder zu gründen. Auch scheint es nur an sehr wenigen Orten zu regelmäßigen Zusammenkünften von Mitgliedern des einstigen "Kreises der Freunde der Christlichen Welt" gekommen zu sein. Irgendeine feste Organisation entstand nicht, sieht man von dem "Deutschen Bund für Freies Christentum" ab, den im September 1948 verschiedene liberalprotestantische Pfarrer gründen. Der Bund verfolgte die seit dem frühen 19. Jahrhundert 29 Brief Eugen Gerstenmaiers an Theodor Siegfried vom 18. September 1956. In: Nachlaß Theodor Siegfried (Anm. 24), Kasten Korrespondenz. 30 Vgl. unten S. 521.

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immer wieder formulierten Ziele eines "freien Protestantismus". Gegen Klerikalismus, Bekenntniszwang, Dogmatismus und Alleinherrschaft einer theologischen Richtung in der Kirche setzt er auf Offenheit für Kritik, Eigenrecht des persönlichen Glaubens gegenüber aller fixierten Lehre und subjektive Wahrhaftigkeit 31 . O b Siegfried mit seinem Memorandum bei der Gründung des Bundes eine Rolle spielte, hat sich bisher nicht ermitteln lassen. Siegfried trat dem "Deutschen Bund für Freies Christentum" bei und publizierte in der Verbandszeitschrift "Freies Christentum", einem Organ, das auch den Verfall liberalprotestantischen Bildungsstolzes zu einer sektiererischen Abwehrhaltung gegenüber neuen politisch-kulturellen und theologischen Herausforderungen widerspiegelt. Zu einem Zeitpunkt, der sich bisher nicht genau bestimmen läßt, wurde er auch in den Vorstand des "Deutschen Bundes für Freies Christentum" gewählt. Als vor allem in Württemberg Pfarrer der einstigen "Deutschen Christen" versuchten, durch den Eintritt in den "Bund" ihre Rehabilitierung zu betreiben, kam es im Vorstand zu erheblichen Konflikten 3 2 . Welche Position Siegfried in diesen Auseinandersetzungen einnahm, läßt sich derzeit nicht sagen. 1953 wollten die übrigen Vorstandsmitglieder Siegfried dazu bewegen, das Präsidentenamt des "Bundes" zu übernehmen. Aus unbekannten Gründen lehnte Siegfried dies jedoch ab. Möglicherweise hängt dies mit seinem sehr intensiven Engagement in der internationalen religiös-liberalen Vereinsbewegung zusammen. Er nahm an zahlreichen Konferenzen des "Weltbundes für freies Christentum und religiöse Freiheit" teil und wurde 1952 zum Mitglied des Exekutivkomitees des "Weltbundes" gewählt. Siegfried spricht in seinem Memorandum zwar davon, daß "in der gegenwärtigen Situation kein 'ökumenisches' Allgemeinprogramm für den Weltbund des freien Christentums aufgestellt werden" könne. Doch ist davon auszugehen, daß er seine Vorschläge zur Wiederbelebung liberalprotestantischer Organisationen in Deutschland bzw. zur Neugründung der "Christlichen Welt" auch seinen Freunden und Partnern aus der "liberalen Internationalen" zukommen ließ - schon aus finanziellen Gründen. Das im folgende edierte Memorandum ist stark durch überkommene Leitbegriffe der liberalprotestantischen Tradition geprägt. Gegen die diversen Tendenzen zu "autoritärer Heteronomie" und neuem Klerikalismus 31 Vgl. ANDREAS RößLER: 40 Jahre Bund für Freies Christentum. In: Freies Christentum 40, 1988, S. 6 9 - 1 0 9 .

32

Für Einzelheiten vgl. die instruktive Darstellung von RAINER LÄCHELE: Ein Volk, ein Reich, ein Glaube. Die "Deutschen Christen" in Württemberg 1925-1960. Stuttgart 1994, S. 202208.

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betont Siegfried "das protestantische Prinzip des Personalismus", "die Freiheit des Geistes und der Personalität" sowie die Bindung individueller Freiheit an ihren theonomen Grund. Im Sinne des älteren Kulturprotestantismus stellt er den engen Zusammenhang von Religion und Bildung, christlicher Vernunft und wahrem "Humanismus" heraus. Individueller Wahrhaftigkeit erkennt er einen ebenso großen Stellenwert zu wie dem Versuch, für alle "Sachsphären" der Wirklichkeit eine spezifisch christliche, realistische Deutungsperspektive zu entwickeln. Dem main stream der freiprotestantischen Tradition entspricht zudem die kritische Unterscheidung von Individualität und Individualismus, die Suche nach neuer Gemeinschaft (und die damit verbundene Kritik eines "Kollektivismus"), der Anspruch auf Ethisierung von Politik und Ökonomie sowie die demonstrative Betonung der "Volkskirche". Die Kritik an "Nihilismus" und "Säkularismus" läßt aber auch erkennen, daß Siegfried von kulturkritischen Deutungsmustern einen irritierend unbefangenen Gebrauch machte, wie sie im 19. Jahrhundert von konservativen Theologen geprägt und seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch von zahlreichen "liberalen Theologen" tradiert wurden. D e m edierten Text liegt ein Typoskript von 23 Seiten zugrunde, das im Nachlaß von Theodor Siegfried in der Handschriftenabteilung der Universität Marburg verwahrt wird 3 3 . Bei diesem Typoskript handelt es sich um einen Durchschlag, wie er damals mit Hilfe von Kohlepapier angefertigt wurde. Das sehr dünne Durchschlagspapier ist zeitbedingt von sehr schlechter Qualität. D e m Umfang nach ist es in Länge und Breite etwas größer als das heutige Format D I N A 4. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wurde der Text von Siegfried selbst mit Schreibmaschine geschrieben. Das Original scheint er ebenso wie den Durchschlag oder die Durchschläge verschickt zu haben; auf dem Durchschlag, der der Edition zugrundeliegt, findet sich eine handschriftliche Notiz von Siegfried, ihm den Text zurückzusenden. Siegfrieds Orthographie und die ursprüngliche Interpunktion wurden belassen. Nur einige offenkundige Tippfehler wurden stillschweigend berichtigt. Einfügungen in den Text wurden mit eckigen Klammern gekenn33 Einen ersten Überblick über den reichhaltigen Nachlaß von Siegfried bietet mein in Anm. 13 genannter Artikel. Sehe ich recht, so hat dieser Nachlaß in der theologie- und kirchenhistorischen Forschung bisher kaum Beachtung gefunden. Allerdings hat KURT MEIER 1984 kurz auf einen im Siegfried-Nachlaß verwahrten Brief Rudolf Ottos an Theodor Siegfried hingewiesen: Bannen und die Universitätstheologie. In: Wolf-Dieter Hauschild/Georg Kretschmar/Carsten Nicolaisen (Hg.): Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisensburg 1984. Göttingen 1984, S. 251-270; Wiederabdruck in: DERS.: Evangelische Kirche in Gesellschaft, Staat und Politik 1918-1945. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte, hg. und eingeleitet von Kurt Nowak. Berlin (DDR), S. 96-113, bes. 111.

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zeichnet. Alle in der Vorlage gesperrt gedruckten Stellen wurden kursiv wiedergegeben. Wegen der schlechten Qualität des Originals (Durchschlag) sind einige Stellen nicht eindeutig lesbar. Einige andere Wörter sind so stark durch Uberschreibung korrigiert worden, daß sie sich ebenfalls nur sehr schwer entziffern lassen. Auf diese Wörter wurde mit einem Ausrufezeichen hingewiesen und in einer v o m Herausgeber stammenden Anmerkung eine Lesart vorgeschlagen.

Die Aufgabe des Freien Protestantismus.-54 Th. Siegfried. Die kirchliche und theologische Gesamtlage ist noch durchaus durch die Situation des Kirchenkampfes geprägt. Freilich sind innerhalb derselben ebenso schwere wie prinzipiell bedeutsame Spannungen aufgetreten. Kirchenpolitisch stehen einander gegenüber die kirchlichen Führer des Luthertums einerseits, diejenigen auf der anderen Seite, die das "Bekenntnis von Barmen" (1934) als neues und verbindliches Bekenntnis in den Kirchen einführen wollen, womit der Gegensatz der Lutherischen und Reformierten relativiert würde. Beide sind in der Betonung der Autorität des Bekenntnisses einig und sehen darin den Garanten gegen eine Erweichung der kirchlichen Botschaft. Zugleich ist dieser Gegensatz von einem zweiten theologischen Gegensatz durchkreuzt: es stehen sich gegenüber die Anhänger der "Dialektischen Theologie" mit der Betonung des prinzipiellen Gegensatzes von Kirche und Welt und eine sakramentale Richtung, die eine Erneuerung der Kirche durch sakramentalen Geist erwartet und die mysteriösen Kräfte des Sakraments in den Mittelpunkt des gläubigen Lebens stellen will (Wiedereinführung der Wasserweihe zu Ostern, tägliche "Messe" usw.) Diese Lage muss den freien Protestantismus auf den Plan rufen. Er ist in dieser Situation berufen, das protestantische Prinzip des Personalismus zu vertreten. Dieser ist durch die Tendenz zu autoritärer Heteronomie ebenso gefährdet wie durch den Sakramentalismus, der einseitig an die dunklen in das Unterbewußtsein einströmenden Kräfte appelliert. Hier ist für das evangelische Christentum die Entscheidimgsfrage gestellt und zwar nicht nur in der kirchlichen sondern auch in der allgemeinen soziologischen Situation. Es wird in Deutschland auf alle Fälle der ökonomische Sozialismus sich durchsetzen. Die Frage ist, ob dieser mit der Freiheit des Geistes und der Personalität Hand in Hand gehen kann. Einst ist der Protestantismus mit dem Aufschwung des Bürgertums emporgekommen. Die Frage ist, ob er dessen letzteren Zusammenbruch überstehen kann. Die bürgerliche Tradition ist durch den politischökonomischen Zusammenbruch infrage gestellt. Zum ersten Mal 1918, zum zweiten 34

Handschriftlich verfaßte Überschrift. Am oberen linken Rand der ersten Seite steht handschriftlich vermerkt: "bitte an Autor zurück!".

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Mal 1933 und zum dritten und schwersten Mal ist 1945 der Mittelstand getroffen worden. Trotz demokratischer Propaganda ist der Wunsch nach persönlicher Freiheit ein geringer. Allzu drückend ist die ökonomische Not, und wenn eine Diktatur sich anböte, sie zu beheben, so würde man alle Unfreiheit in Kauf nehmen. Man muss in der Tat erst leben, um sodann frei leben zu wollen. Hinzu kommt die so gut wie totale Erschütterung des Fortschrittsglaubens, der einst mit dem Liberalismus engstens verknüpft war. Man sieht in ihm eine reine Illusion und findet dies Urteil doppelt bestätigt einmal durch den Zusammenbruch des Nationalsozialismus, der mit seinem Phantasma des tausendjährigen Reichs jenen Glauben bei seinen Anhängern zur Siedehitze gebracht hatte, und sodann durch die Nachkriegserfahrungen, die weder auf politischem Gebiete noch in der Wirtschaft einen Fortschritt zum Guten erkennen Hessen. Bei der jüngeren Generation ist diese Depression zu einem ausgesprochenen und dezidierten Nihilismus gesteigert. Soweit diese Jugend zugleich auf die Kirche achtet, ist ihre Stimmung ausgesprochen dualistisch; sie kombiniert einen Diesseitsnihilismus mit der rein autoritär begründeten christlichen Jenseitshoffnung. Sie ist dabei um so williger, sich Autoritäten zu unterwerfen, als sie geistig in einer völligen Leere sich befindet. Bei der Verarbeitung der ungemein lastenden Kriegserfahrungen ist es auch allein die Kirche, die ihrer inneren Not nachgeht. Hinzu kommt eine im höchsten Masse trübe sittliche Verwahrlosung weiter Kreise der Jugend, welche durch alle Schichten hindurchgeht und bei den besseren elementar nach autoritativer Führung drängt. Der freie Protestantismus hat in dieser Lage eine hohe Mission. Es geht um nicht weniger als die Wiederentdeckung der Freiheit des Christenmenschen. Er wird in solcher Lage nichts von seiner eigentlichen Substanz verlieren, wenn er sich selber prüft. Solche Besinnung hatte schon vor 1933 eingesetzt. Es wird sich nicht um Kompromisse mit den Zeitströmungen handeln, sondern um eine neue und entschiedene Herausarbeitung des zentralen religiösen Anliegens. Jeder Versuch hier Linien zu zeichnen, wird im Augenblick nur ein individueller sein und nicht mehr als ein Beitrag zur gemeinsamen Besprechung sein dürfen. Mit diesem ausgesprochenen Ziel seien hier vier Punkte herausgestellt. 1. Von dem Prinzip formaler Freiheit der religiösen Gesinnung ist auf die evangelische Substanz zurückzugehen. Ohne Gott artet Freiheit in Willkür aus oder sinkt in Heteronomie zurück. In seinem Ursprung hat der theol. Liberalismus deutlich seine Freiheitsforderung in der Freiheit in Gott verankert. Diese Freiheit gibt den Freimut gegenüber der Wirklichkeit und den Willen, sie aufzusuchen wie sie ist. Sobald man nun von diesem Grundprinzip zur konkreten Lage sich wendet, zeigt sich, dass in dieser sich das Grundanliegen jeweils konkret-geschichtlich ausformt. Es kann zumal in der gegenwärtigen Situation kein "ökumenisches" Allgemeinprogramm für den Weltbund des freien Christentums aufgestellt werden. So sehr heute mehr als irgend je zuvor jede Lebensfrage, sei sie ökonomischer oder geistiger Art eine Weltfrage ist, so sehr eine geistige Erschütterung wohl über den ganzen Erdball zu gehen scheint,

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im Augenblick kann diese Welterschütterung immer nur aus der besonderen Perspektive der besonderen politischen, kulturellen und geistigen Verhältnisse erfasst werden, und daraufhin erst kann in Solidarität einer letzten tragenden Gesinnung ein fruchtbares Gespräch aufgenommen werden. Das Folgende kann daher - und selbst dieses nur von begrenztem Blickpunkt aus - nur als ein Beitrag zur gegenwärtigen Aufgabe im Räume des deutschen Zusammenbruchs sein. Hier wird jene Freiheit in nahem Anschluss an Luther als Befreiung aus innerem Zwiespalt und aus der inneren Überwältigung durch das Schicksal, und als Befreiung aus der inneren Zerrissenheit und aus dem Zwiespalt und Konflikt von Mensch zu Mensch verstanden werden müssen. Eine innere Mächtigkeit der Seele, jene gläubige "Herrschaft über alle Dinge" im Sinne Luthers wird gesucht werden müssen. Der freie Protestantismus wird hier nicht nur - seiner alten und unveralteten Mission getreu - für weite, der Kirche entfremdete Kreise Hindernisse weltanschaulicher Art auszuräumen haben, er wird nicht nur den Gebildeten bei ihren Einwänden und theoretischen Hemmungen helfen. Sondern er muss grundsätzlich selber einen positiven Weg zum Ziel weisen - grundsätzlich und praktisch; er muss an sich selber sichtbar machen, dass in jener freien Geborgenheit den ganzen Menschen in Gott ein Friede und eine Gelassenheit, eine Zuversicht und innere Festigkeit, eine Freude und eine Kraft gewonnen werden, welche in der Unterwerfung unter äussere Autoritäten, in der Flucht ins Dogma oder in die Magie der unterbewussten Kräfte so nicht gewonnen werden. So eine innere Überlegenheit aufweisend wird der freie Protestantismus sich vor Überheblichkeit hü[ten] und eingedenk sein müssen, dass das was er sucht, auch das Ziel der anderen ist. In deren Frömmigkeit und Denken treten oft eindrucksvoll und machtvoll die Gesammeltheit und Freimütigkeit an den Tag, die er mit Bewusstsein herausstellt. 2. Der Punkt, in welchen alle geistigen Strömungen zusammentreffen und in welchem alle seelische Unruhe sich konzentriert, ist im gegenwärtigen Deutschland die Frage nach dem Sinn des Leidens. Der Punkt, in welchem alle christlichen Strömungen eins sind, ist das Wissen um die Tiefe und die "Macht" des Bösen. Seiner evangelischen Substanz und seiner besten Tradition entsprechend wird der freie Protestantismus die Froh-Botschaft vom Reiche Gottes zu verkünden haben; aber er wird aller voreiligen Teleologie, die das Leiden erklären will, und allem rationalistischen Optimismus, der meint, Leiden und Schuld durch den Fortschritt der Vernunft bannen zu können, widerstehen müssen. Hier liegt ohne Zweifel ein in die Tiefe greifender Unterschied von der Gesamtstimmung der westlichen Welt vor. In der Geisteslage und christlich-kirchlichen Situation Deutschlands fällt dem freien Protestantismus die Aufgabe zu, der Gefahr des prinzipiellen Pessimismus und Dualismus, der auf evangelische Weltdurchdringung verzichtet, zu wehren. Dabei wird er historisch auf Jesu Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes ("schon jetzt"), auf das Pneuma im Sinne des Neuen Testaments und auf die spiritualistische Bewegung der Reformationszeit zurückgreifen. Von der umschaffenden Kraft des Pneuma wird er zu zeugen haben.

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3. Der freie Protestantismus steht zwischen den beiden Fronten eines a-christlichen Humanismus und einer den geistigen Anliegen der Gegenwart sich entziehenden Kirchlichkeit. Auf die Dauer wird es in Deutschland einen a-christlichen, "neutralen" Humanismus nicht geben. Sondern der a-christliche Humanismus wird in einen antichristlichen und antipersonalen Kollektivismus umschlagen. Der rationalistische Humanismus wird gegen den letzteren sich nicht halten können - so wenig als er 1933 dem nationalsozialistischen Kollektivismus gewachsen war. Die Situation hat sich in dieser Hinsicht nicht verändert. Denn entweder wird der "Humanismus" mit dem Anspruch auftreten, eine allgemeingültige und absolute Vernunfterkenntnis zu besitzen, dann wird er so untolerant werden müssen - wie Robespierre, und Anzeichen zu solcher Haltung sind vorhanden. Oder er wird in einen lähmenden Relativismus zurücksinken (wie in dem Jahrzehnt vor 1933). Will man bei der Verschiedenheit der Ansichten und der Ziele eine tätige "Kooperation", so muss nicht nur, was heute oft betont wird, für die letzte Verbundenheit ein positiver Mittelpunkt gefunden werden - jenseits oder besser diesseits der Parteiimg und der Konflikte, die unentrinnbar im Wesen der "konkreten Vernunft" der konkreten Individuen und Gruppen liegen. Der Christ spricht von einem Frieden, höher als alle Vernunft, und begründet mit dem Apostel Paulus gerade darin die sittlichen Forderungen der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Ehrfürchtigkeit (vgl. Philipperbrief 4,7-8). Auf der anderen Seite sind starke christliche Strömungen heut [!] in der Gefahr, die wesentlichen Anliegen des Humanismus zu verkennen und diesen selber in eine antichristliche Haltung zu treiben. Es sind klerikale Tendenzen am Werk, die geeignet sind, ein antichristliches Ressentiment zu erzeugen. Es gibt ein traditionalistisch gefesseltes Denken, welches mit alten Formeln Gegenwartsprobleme lösen will und an der Wirklichkeit vorbeisieht. Wie von der Praxis gilt das vor allem auch leider von der Stellung zur Wissenschaft und Wahrheitsfrage. Hier muss der freie Protestantismus wieder die Gewissen schärfen. Aber seine kritische Aufgabe, Irrtum und Illusion zu bekämpfen, muss in dem zentralen religiösen Anliegen und Vertrauen begründet sein, dass die Wahrheit in Gott gründet und zu Gott führt. Eine grosse Gefahr heutiger Theologie und Verkündigung ist die "Repristination", die Flucht in alte Formeln, die der ernsten Wahrheitserkenntnis widersprechen. Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass viele Suchende und die Ernsthaften am meisten zurückgestossen weiden. Sondern aus dem Widerspruch zwischen dem religiösen und dem "profanen" Vorstellungskreis folgt eine innere Gebrochenheit und Zwiespältigkeit der Haltung und des Charakters. Das theoretische Erkennen selber ist stets von einem bestimmten Lebensgefühl getragen. Die Theologie ist nicht berufen, der Zeit nachjagend, es einfach zu akzeptieren. Aber sie muss es verarbeiten, oder die Verkündigung wird dem Leben gegenüber ohnmächtig. Z. B. kam mit der Renaissance ein Unendlichkeitsgefühl auf, das sich auf die neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen stützte. Wo die Kirche sich diesen letzteren widersetzte, wurde sie ausserstande gesetzt, jenem Lebensgefühl zu ant-

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worten, es wurde nicht durch eine um so mächtigere Intuition der schöpferischen Unendlichkeit Gottes eingefangen, sondern es entstand ein Gott und Natur verwechselnder Pantheismus. Er wurde zurückgewiesen, ohne dass sein Wahrheitsmoment gesehen wurde. Das praktische Gegenstück aber des "theoretischen" Pantheismus, die Verherrlichimg der weltimmanenten Mächte oder auch das tatenlose Resignieren vor ihrer "Eigengesetzlichkeit" brach in die christliche Haltung selber weithin widerstandslos ein. Jene pantheistische Hochgemutheit ist heute in Deutschland nicht mehr zu finden. Aber die Gefahr ist, dass die christliche Haltung bei jenem negativen Gegenstück des Pantheismus, der Resignation, festhält. Darüber hinaus ist die Theologie in Gefahr, sich unverstandener Weise die moderne Grundlagenkrisis in Logik und Naturwissenschaft zunutze zu machen, um so den "Supranaturalismus" zu retten. Sie übersieht dabei völlig, dass jene Krisis, von der sie Nutzen ziehen will, gerade die Erkenntnis der "Klassischen" Naturwissenschaft voraussetzt und festhält. Sie ist nochmals in grösserer Gefahr, die wirkliche Lage zu verfehlen. Wenn sie die in der modernen Wissenschaft oft ergreifend sich aussprechende Selbstbegrenzung alles Wissens und die darin waltende tiefe Ehrfurcht verkennt, erhegt sie der Versuchung, ein altes theoretisches Weltbild mit unzulässigen Mitteln zu retten, und gibt dogmatische Antworten, die nicht nur inhaltlich falsch sind, sondern gerade jene Ehrfurcht, die im allgemeinen Lebensgefühl sich anbahnen kann, im eigensten religiösen Bezirk vermissen lassen. Besonders belastend und verwirrend ist immer noch der Zwiespalt auf dem Gebiete der biblisch-historischen Fragen. Der Versuch, an den Ergebnissen der historischen Kritik vorüberzugehen, verleugnet die kräftigen religiösen, evangelischen Impulse, die von jener Forschung ausgehen können. Die Verachtung der kritischen Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung z. B. unterdrückt auch die positiven entscheidenden Impulse, die in der Reich-Gottes-Botschaft Jesu hegen - den Glauben an den Schonanbruch des Reichs in Gehorsam, neuer Gesinnung und Liebe. Dem freien Protestantismus erwächst hier die entscheidende Aufgabe, einen "gläubigen Realismus" zu entwickeln. Die Frage ist dabei nicht, ob der freie Protestantismus zeitgemäss ist oder Erfolg haben wird, sondern was von ihm gefordert ist. Den Theologen fällt hier die Aufgabe zu, eine evangelische Wirklichkeitsschau in den einzelnen Lebensgebieten zu erarbeiten. Die ethische Triebkraft aber zu solcher kritischen Wirklichkeitserhellung ist nicht auf den theologischen Wissenschaftler beschränkt. Es ist die alte religiöse Leitidee der freiprotestantischen Bewegung, die Wahrhaftigkeit. Wenn der freie Protestantismus diese Forderung unentwegt unterstreicht, so ist das keine Anklage gegen andere Kreise, sondern eine streng allgemeine Mahnung an alle und darum zu allererst auch an sich selber. Denn wie wir es heute erleben, dass der Nationalsozialismus zwar zerbrochen ist, der Geist aber der Heteronomie bei seinen Gegnern und leider nicht zuletzt seinen kirchlichen Gegnern lebt, so ist niemand dagegen gesichert, von unklaren Strömungen fortgerissen zu werden.

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Wahrhaftigkeit ist Übereinstimmung des Redens mit dem Denken. In der genannten Situation steigert sich die Forderung der Wahrhaftigkeit zur Warnung vor der Denkflucht, zum Gebot, die Wahrheit zu suchen und persönlich zu ergreifen. Die Wahrhaftigkeit wird hier zur lebendigen "Einstimmung" der ganzen Person in die Wahrheit, ihrer Durchdringung durch die Wahrheit. Das protestantische Urprinzip (in Luthers Formulierung: es muss ein jeder für sich selbst glauben) meldet sich hier. Die evangelische Wahrheit wendet sich an die ganze Person, ja sie ruft als Person auf, denn sie ruft den Menschen aus dem Zwiespalt mit sich selbst und mit der Umwelt zur Sammlung und Klarheit in Gott. Aber die evangelische Wahrheit fordert nicht nur persönliche Gesammeltheit und Klarheit, sondern sie begründet und schafft die Person. Bis auf dieses Fundament muss der freie Protestantismus seine Forderung der Wahrhaftigkeit zurückführen. Ihr Kern ist die Erhebung zur Sammlung und Lauterkeit aus Zerrissenheit und Verworrenheit und der Durchbruch zur Offenheit für Welt und Nächsten. Für die freiprotestantische Bewegung ist die Wahrhaftigkeit nicht nur eine moralische Kardinalforderung, sondern ein Symbol für die ganze Fülle und Tiefe der christlichen Erlösungsidee und des protestantischen Personalismus. 4. Die protestantische Betonung der Persönlichkeit zielt grundsätzlich immer auf die Gemeinschaft. Der evangelisch-liberalen Bejahung der Individualität und der evangelisch-liberalen Toleranzforderung lag die Richtung auf dieses Ziel zugrunde. Die Gefahr des Absinkens in einen um die Wahrheit unbekümmerten Individualismus ist nicht immer vermieden worden. Im Geltenlassen jedweder Ansicht verbarg und verbrämt sich die eigene innere Haltlosigkeit. Individualismus ohne ständige Kritik der Individualität durch die Wahrheit ist Verrat an der Wahrheit, und blosses Geltenlassen der Individualität hebt die Gemeinschaft auf. So erklärt es sich, dass in Politik und Kirche der Versuch gemacht wurde, ja gemacht werden musste, durch heteronome Autorität die Gemeinschaft zu erhalten. Beide Fehlentwicklungen fordern das Problem der Gemeinschaft ausdrücklich ins Zentrum zu stellen. Der freie Protestantismus wird als Gemeinschaft evangelischer Gesinnung einerseits in der Linie seiner alten Tradition weiterhin betonen müssen, dass es eine christliche Gemeinschaft ohne Uniformierung der Lehre gibt. Christliches Bekennen ist in erster Ordnung Lob und Dankpreis und ein lebendiges Sich Zueignen der ganzen Person an Gott. Es gehört zu den ganz elementar dem Freien Protestantismus zugewiesenen Aufgaben, die Bekenntnisfrage von dieser Seite aus zu durchdenken. Aber er wird auch entwickeln müssen, dass von der christlichen Verkündigung die Belehrung und daher die Lehre unabtrennbar ist. Es ist ein banaler Satz, dass wir die Wahrheit gemeinsam suchen und daher um der Wahrheit willen aufeinander hören müssen. Aber die Beobachtung dieser Regel führt in tiefe Verwicklungen. Der freie Protestantismus wird hier nicht nur der Intoleranz entgegentreten müssen. Sondern er wird sich selber von einer falschen Trennung von Person und Sache freihalten müssen. Wenn die Intoleranz um der Sache willen gegen die Person rücksichtslos wird, so ist es ebenso eine Gleichgültigkeit und daher Rücksichtslosigkeit gegen die Person, wenn die Teilnahme an der

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Person nicht auf die von ihr vertretene Sache ausgedehnt wird. Der "Liberalismus" steht hier grundsätzlich in der Gefahr, doch dem Sachfanatismus zu verfallen und ihn durch eine nebenher gehende sogenannt "persönliche", "humane" Teilnahme zu dekken oder um der vermeinten Achtung vor der Individualität des anderen gegen die Sache gleichgültig zu werden. Die neue Einstellung, die hier gefunden werden muss, ist nicht nur für die theologische und kirchliche Auseinandersetzung unerlässlich, sondern sie betrifft die menschliche Gesamthaltung in Recht und Politik, Wirtschaft und Verkehr, kurz in allen Bezirken des gesellschaftlichen Lebens. Hier erwächst dem freien Protestantismus eine ungemein schwere und verantwortungsvolle Erziehungsaufgabe. Mit zwingender Gewalt treten heut [!] die politisch-sozialen Kernprobleme wieder hervor, die in den Kreisen der Freunde der Christlichen Freiheit, der christlichen Welt und des weithin von den gleichen Kreisen getragenen Evang. sozialen Kongresses immer durchdacht und durchlebt wurden. Immer handelte es sich für jene Kreise darum, zugleich die Sachsphären realistisch in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwesen zu sehen und das christliche Moment der Liebe und die Personalität darin zur Geltung zu bringen. Der gleiche Zusammenhang zwischen Person und Sache wird auch in der Sphäre des "geistigen Lebens" und der "Bildung" wichtig. Wenn auch in knappster Andeutung, so muss doch davon hier gesprochen werden, weil die freiprotestantische Bewegung sich ausdrücklich und betont an die "Gebildeten aller Stände" wandte - so im Titel ihrer bedeutendsten deutschen Zeitschrift, der "Christlichen Welt". Die Formulierung "Gebildete aller Stände" durchbrach im Prinzip nicht nur das Monopol gelehrter Bildung, sondern auch und sogar die darin versteckte Auffassung vom Geist als einer Sondersphäre neben dem Leben. Dass Politik und gesellschaftliche Gestaltung nicht geistfremde Sphären sind oder sein dürfen, wird der freie Protestantismus herausarbeiten müssen. Ein neuer, lang vorbereiteter Geistbegriff harrt der Entfaltung. Er wird eine Umwälzung der Bildungsidee mit sich bringen, wie sie divinatorisch schon vor mehr als hundert Jahren von Männern wie Goethe und Schleiermacher antizipiert wurde. "Allerweltspossen eure Allgemeinbildung" (Goethe). Bei der nirgend rückgängig zu machenden Spezialisierung kann Allgemeinbildung nur ein ganz elementarer Unterbau sein, auf dem die spezifische Fachausbildung aufruht. Der fernere Kontakt mit den übrigen Wissens- und Lebensgebieten kann auch wegen der Schwierigkeit der nötigen Vorkenntnisse und Methoden nur den Weg über den lebendigen Menschen gehen, der in diesen Gebieten arbeitet. So auch ist allein die menschliche Entfremdung zwischen Ständen und Berufen zu überwinden. Bildung wird zur Hineinbildung in die arbeitende Gemeinschaft. Die menschliche Seite der Wissensgebiete aber besteht nicht nur in ihrer sozialen Bedeutsamkeit, nicht nur in Nutzen und Schönheit, welche der Kundige an seinem Forschungsgebiet dem Laien aufzeigen und erschliessen kann. Sondern jene Beziehung zum Menschlichen und Menscfhen] greift in das Innerste der "objektiven" Erkenntn[is] selber ein. Die

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Naturwissenschaft entdeckte, dass die experimentierende Beobachtung selber das beobachtete Objekt antastet und abändert. Die Geschichtswissenschaft weiss um diese subjektiven Ausformungen der Geschichtsbilder. Jeder kennt an sich selber, wie der Versuch der Selbsterkenntnis das eigne Ich teils scheitert [!], teils - aber nicht immer zum Guten - im Zerstören der Naivität das eigene Ich abändert. Weil so der Mensch selber in die Erkenntnisse eingeht, darum ist auch bei der Frage der Bildung das religiöse Bewusstsein aufgerufen. Nicht als ob es christliche Volkshochschulen geben müsste; aber jedenfalls stellt die Frage der Bildung auch und zutiefst eine religiöse Aufgabe. Neue Perspektiven tun sich auf, um die Ehrfurcht vor dem unerforschlichen und doch alles Leben und die Vernunft selber tragenden Geheimnis zu wecken. Ein durch die schicksalhafte Weltlage scharfsichtig gewordener Realismus wird der Zweideutigkeit der dunklen Kräfte Rechnung tragen müssen. Ohne sie verdorrt das Leben, aber sie können ebenso schöpferisch wirken wie zerstörerisch aufbrechen; sie sind weder gut noch böse, aber zweideutig, und weil sie selber als Triebkräfte in die ratio eingehen, bald diese beflügeln, bald mit dem Mantel der Vernunft ihren dunklen Eigenwillen verhüllen, kann die ratio allein ihrer nicht mächtig werden, und es bedarf jener frommen Sammlung, von der schon im Zusammenhang der Frage der Humanität gesprochen wurde. Mit anderen christlichen Richtungen ist auch der freie Protestantismus aufgerufen, hier die evangelische Botschaft wirksam werden zu lassen. Mit anderen christlichen Gruppen ... [!] denn dass hier eine zentrale christliche Aufgabe vorhegt, ist in weiten christlichen Kreisen erkannt. Es darf ohne Rühmen gesagt werden, dass mitten im äusseren Zusammenbruch und in der Erschütterung der geistig-seelischen Krise der Geist der "christlichen Welt" sich durchgesetzt hat und dass ohne ihre jahrzehntelange Vorarbeit die heut [!] fast allgemeine christliche Verarbeitung der geistigen, kulturellen und politischen Fragen nicht möglich wäre. Aber eben darum wird der freie Protestantismus sich ernsthaft fragen müssen, ob für ihn hier noch eine besondere Mission besteht und welche. Hier wird die kritische Klärung bei der eigenen Haltung einsetzen müssen. Die Beziehung von Wissen, Erkenntnis und Bildung auf den Menschen mit allen seinen Schichten berührt sich mit einer Haltung, die der freie Protestantismus längst in seiner Weise pflegte, wenn er in Religion und Geistesleben die Bedeutung der "Persönlichkeit" unterstrich. Er war dabei in Gefahr, anstelle der Hinleitung zur Sache selbst einen den Sachernst verlierenden Personalkult zu treiben, und unter dem Motto der "Wirkung der Persönlichkeit" für die im Prinzip abgelehnte Heteronomie eine neue unechte Autorität einzutauschen. Dem Individualismus entwuchs ein Individualitätskult, der doch eine echte wirkungsfähige Gemeinschaft nicht zustandebrachte. Dennoch fällt den freiprotestantischen Kreisen gerade aus ihrer traditionellen Betonung der Persönlichkeit hier eine besondere Mission zu. Sie werden echte Sachlichkeit in den personalen Bindungen und Spannungen und das "Menschliche" in den Sachbeziehungen zur Geltung bringen

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müssen. Die "Demokratie", die nach dem Zusammenbruch des Führersystems sich uns aufzwingt, wird nur dann von dem Chaos bewahrt bleiben, wenn zugleich mit jenem Realismus, der der dunklen Kräfte eingedenk ist, der Wille zu personaler Gemeinschaft sich durchsetzt. Ein Rückfall in einen sei es mystischen, sei es säkularistischen Kollektivismus ist ernsteste Gefahr. Aus dem Evangelium, aus seiner eigenen evangelischen Tradition und aus den entscheidenden Impulsen der deutschen Klassiker fliesst das Wissen zu 35 , dass allein die Liebe dem Willen die Verkrampfung nimmt und dass ohne den Geist der Versöhnung Gemeinschaft auf die Dauer nicht zusammengehalten werden kann 36 . (Die Klassiker Goethe und Schiller gaben als ihre tiefste Lehre: allein die Liebe bildet.) Von dem "Pessimismus" wird der freie Protestantismus zu lernen haben, dass das Böse in den Tiefen der Seele selbst angesiedelt ist. Dann wird er gegen jenen sagen dürfen, dass in den gleichen Tiefen auch die gestaltenden Kräfte wurzeln und dass es darauf ankommt, sie frei zu machen. - Mit dem "Dualismus", der den Gegensatz von Reich Gottes und Welt behauptet, wird der freie Protestantismus bekennen, dass der Mensch nicht aus eigener Vernunft oder Kraft glauben kann, "sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten" (Luther). Getreu seiner evangelischen Tradition wird der freie Protestantismus festhalten und einschärfen müssen, dass die christliche "Busse" nicht sowohl eine je nachträglich eintretende Reue, sondern eine stets und grundlegende Umsinnung ist. Die Umsinnung muss deshalb im Leben immer neu geschehen, weil sie die grundlegende Verfassung des ganzen christlichen Lebens ist. Die menschliche Unstetigkeit wird durch die Gnade nicht nur immer wieder vergeben, sondern durch die Stetigkeit der Liebe Gottes überwunden. - Darum wird der freie Protestantismus mit dem Idealismus die Gestaltungsaufgaben bejahen, ohne dessen Vertrauen auf die Eindeutigkeit und Omnipotenz der Vernunft zu teilen. Aus solcher Haltung wird er versuchen müssen und dürfen, der grössten Gefahr der Zeit, dem Nihilismus entgegenzuwirken. Welche Aufgabe hat nach alledem der Protestantismus? Nur im Blick auf die deutsche Lage und als ein persönlicher Beitrag kann die Antwort hier gegeben werden. Erstens. Er muss eine Reformation an sich selber vollziehen und aus seinem Ursprung Richtung und Impuls für die neue Lage gewinnen. Sein Fundament ist das Evangelium, in welchfem] christliche Freiheit und christliche Dienstbarkeit gründen. Sein Anliegen in Kirche und Welt mit dem Geist eines christlichen Personalismus zu durchdringen [!] 37 .

35

Gemein: ist wohl: dem freien Protestantismus.

36

Das Typoskript ("des deutschen Klassiker" und "Willen der Verkrampfung") ist handschriftlich korrigiert; diese Korrekturen wurden übernommen.

37

Vermutlich ist statt "in" "ist" zu lesen.

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Zweitens. Mit solchem Anliegen hat er eine Aufgabe, für die ihm in der kirchlichen und geistigen Gesamtlage die Verantwortung auferlegt ist. Anmerkung: "Christliche Freiheit" und "Christliche Welt" sind die beiden Stichworte, die für diese Einstellung symbolisch sind. Den kollektivistischen und heteronomen Tendenzen gegenüber ist das Wort von der christlichen Freiheit unmittelbar eindrücklich und Richtung weisend. Dazu ist es nicht bloss polemischer Natur, sondern wenn es polemisch ist, so richtet sich diese Polemik zuallererst stets gegen die eigene Schuld und Zerrissenheit, Ohnmacht und Verfallenheit an widergöttliche Mächte. - "Christliche Welt" ist nicht erst heute ein "Paradox", sondern war es von Anfang. Christliche Weltdurchdringung gibt es nur in immer neuem Durchbruch durch die Welt. Es gibt einen stichhaltigen Einwand, das ist der andersartige Sprachgebrauch des Neuen Testaments. Aber es gibt auch einen nicht umkehrbaren Bedeutungswandel der Worte, und bei dem Worte Welt setzt er mit Luthers "Gottesdienst mitten in der Welt" ein (Luther sagt auch: "Himmel mitten auf Erden"). Gegenüber den dualistischen Tendenzen wie im Blick auf die politische und so doch ausgesprochene "weltliche" Parteibildung unter christlichem Namen wird der Name "Christliche Welt" erst recht bleiben müssen. - Älter als beide Namen und die unter ihnen sich sammelnden Gruppen ist Name und Bewegung des Protestantenvereins und Protestantenbundes. Auch dieses Wort ist "symbolkräftig" mit seinem dezidierten Personalismus und seinem Appell an den Geist der Protestation von Speyer. Dass dieser Protest selber Gehorsam gegen das Evangelium war, macht geschichtlich und sachlich seinen Kern aus. - Unser kirchliches Anliegen wird wie bisher treffend und einprägsam durch das Wort "Volkskirche" ausgedrückt. Dieses Wort bezeichnet nicht nur allgemein die heute allgemein und auf allen Seiten anerkannte Verantwortung gegenüber dem Volksganzen, sondern es drückt zugleich die besondere Art aus, in der wir diese Verantwortung verstehen. Der Idee nach ist gemeint die Versammlung des Volkes vor Gott und unter dem Evangelium. So wird die Gemeinde zur ursprünglichen Gestalt, in der die Kirche sich realisiert; ihre Glieder sind im Prinzip nicht Objekte des kirchlichen Handelns, sondern Subjekte, in denen die Kirche repräsentiert ist. Gruppen und Gemeinschaften, die sich in der Kirche bilden, sind nicht selbstzwecklich, sondern dienende Organe am Leben der ganzen Gemeinde. Schliesslich klingt in dem Wort Volkskirche auch die Richtung auf jenen Gottesdienst im Leben an. Nicht nur gegen innerkirchlich klerikale Tendenzen und politisch-hierarchische Ansprüche bleiben die Namen unserer Bewegung symbolkräftig, sondern sie bezeichnen zugleich die positive evangelisch-protestantische Substanz, um die es geht, und sollten daher nicht aufgegeben werden. Der Aufbau und Ausbau der Arbeit in Freundesgruppen und Vereinigungen hängt nach Art, Intensität und Extensität heute mehr als je von der besonderen Lage an den einzelnen Orten ab. Ansatzpunkt ist natürlich die dort jeweils bestehende und noch lebendige Tradition. Entscheidend für die konkreten Ziele, zu denen sich die tragen-

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den Ideen verdichten, sind die der lokalen Lage entsprechenden Möglichkeiten und Verpflichtungen des Wirkens und das Mass der zur Verfügung stehenden Kräfte. Es dürfte der Sache nur dienlich sein, wenn zunächst in engen Ortskreisen gearbeitet wird. Es wird dann die Zeit kommen, das je lebendig Aufgebaute einer grösseren Gemeinschaft fruchtbar zu machen und in ihr zusammenzufassen. Daher können nur allgemeine Gesichtspunkte zur Besinnung und Überprüfung herausgestellt werden. Evangelium und Welt sind die beiden Pole, zwischen denen die Arbeit sich bewegt und auf die sie sich ausrichtet. Sammlung um das Evangelium und Dienst an der Welt sind entsprechend die beiden Grundseiten evangelischer Haltung ( - Gottesdienst und Kirchendienst unterschied der Schwabe Brenz, und der Kirchendienst sollte unser "Gottesdienst", dem Dienst in der Welt dienen - ) [!] 38 . Die unauflösbare Zusammengehörigkeit beider Seiten macht das Wesen evangelischer Haltung aus. Darum hat der freie Protestantismus seinem Wesen nach kirchlichen Charakter. Die Rheinischen Freunde Christliche Freiheit und der Protestantenverein haben dies auch stets betont. Eine sonderkirchliche Abspaltung ist daher ausgeschlossen. Vielmehr haben die freiprotestantischen Gruppen sich als Glieder der Kirche zu fühlen und einzustellen. Wie andere Gruppen sind sie dienende Kreise im Rahmen der Gesamtkirche, in deren Rahmen und Leben sie ein besonderes Moment für das Ganze zur Geltung bringen wollen. (Von daher bestimmt sich auch das Verhältnis zur ökumenischen Bewegung, an der Glieder der Freundschaftskreise immer schon tätig teilnahmen. - Für die Pflege der Beziehung mit nicht-christlichen religiösen Menschheitsbundes [!], dessen von R. Otto entworfenes Programm durchdacht werden muss39. Der üb[er] die ganze Welt gehende Säkularismus weist allen Religionen unbeschadet ihrer weschselseitigen Auseinandersetzung gleiche Aufgaben zu. Ja aus dem Ri[n]gen mit dem Säkularismus wird ihre wechselseitige Auseinandersetzung an Tiefe und Ernst gewinnen.) Ob es zu eigenen gottesdienstlichen Zusammenkünften kommt, hängt ganz von der örtlichen Lage ab. Es kann das Erfordernis zu solchen gegeben sein - nicht als Ersatz des Gemeindegottesdienstes, sondern als eine Ergänzung dazu mit dem Sinn des Aufbaus de[r] eigenen, dem Ganzen dienenden Gemeinschaft. - Zu evangelisch-sozialen Vereinigungen bestanden immer enge persönliche Beziehungen. In der Pfalz hat der freie Protestantismus sein eigenes wohl gedeihe[n]des Sozialwerk gehabt. Frage: Was ist davon geblieben? Was kann wieder aufgebaut werden? Weitere Frage: Wie kann sich das Verhältnis zur inneren Mission gestalten? - In der interkonfessionellen Christlichen Nothilfe, wie sie in Marburg und anderwärts entstanden ist, arbeiten Glieder unseres Freundeskreises tätig mit. - Je mehr der eigene Gemeinschaftscharakter betont wird, desto mehr muss auch diese Verantwortung gegenüber dem Ganzen der Kirche 38 Es ist vermutlich "der Kirchendienst sollte unserem 'Gottesdienst'" zu lesen. 39 Vermutlich wurde eine Textzeile ausgelassen.

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hervortreten, wie sie im Blick auf den Dienst im Leben auch immer vo[n] den Freundeskreisen gefühlt und übernommen wurde. Dass überhaupt ein engerer Zusammenschluss sich anbahnt, liegt schon in der Natur der Zeitverhältnisse, die grössere Zusammenkünfte und die Verbindung durch die Zeitschriften vorläufig noch ausschliessen. Doch auch prinzipiell muss gefragt werden, ob nicht die Zeit den Impuls zu neuer Ausformung der Freundeskreise gibt. Wenn jene Verantwortung für die Kirche und für den Geist des sozialen und kulturellen] Lebens besteht, so werden sich entsprechende Arbeitskreise zusammenfinden. Zuerst ist hier an die Lehrer unserer Schulen und Kirchen zu denken. Sie seien Religionslehrer oder erteilen andern Unterricht, so gilt ihre Erziehungsarbeit doch immer dem ganzen Menschen und soll im christlichen Geist erfolgen. Fliessend ist der Ubergang zu den Erziehern im weiteren Sinne, d. i. allen denen, die von Berufs wegen auf die sittliche Haltung des Menschen zu wirken haben. Wir denken an den Juristen, den Arzt, den Geschäftsleiter [,] Werkführer. Grundsätzlich aber ist ja jeder gewiesen, im Handeln mit dem Nächsten das Evangelium an sich und Nächstem wirksam werden zu lassen. Darum ist der Übergang zum allgemeinen Freundes- und Bundeskreis durchaus fliessend und offen. Ja grundsätzlich ist es ebenso gut möglich, von diesem auszugehen und die Kreise der Erzieher im besonderen und speziellsten Sinne als Arbeitsgemeinschaften innerhalb des Bundes aufzubauen. Wovon man ausgeht, hängt von der örtlichen Lage ab. Eine besondere Aufmerksamkeit wird der Jugend gelten müssen. Will man sie sammeln, so muss eindeutig klar sein, dass es sich im freien Protestantismus nicht um eine Kirchenpartei handelt, sondern um einen christlichen Bund, der christliche Besinnung und Haltung pflegen will. Es wäre denkbar, das mancherorts die allgemeine Notlage zumal der heimatlosen Jugend einen tatkräftigen Freundesbund zu besonderer Hilfeleistung und Jugendarbeit anspornte. Besondere Aufmerksamkeit und angelegentlicher Besinnung bedarf die Frage des evangelischen Kultus. Schon vor Jahrzehnten hat Rudolf Otto die Freundeskreise auf das zentrale Anliegen eine[r] Erneuerung des evangelischen Gottesdienstes in theoretischer Überlegung und in praktischen Versuchen gewiesen - er drang gegenüber dem Individualismus und der kirchlichen Indifferenz damals nicht durch. Die Bedeutung der Frage ist endlich erkannt. Zu ihrer inte[n]siven Verarbeitung mahnt der stark zur Geltung gekommene Sakramentalismus. Nicht Pflege des Sakraments ist Sakramentalismus. Nicht Feier des Sakraments ist "Magie" sondern diese Entartungen treten dort ein, wo die zentrale Bedeutung des Gottesdienstes mitten im Leben vergessen wird und wo die Überantwortung an okkulte Kräfte das Selbst auflöst, statt dass es vor dem Heil zum Selbst gesammelt wird. Besteht der geistige Gottesdienst in der Erneuerung des Geistes (Rom. 12,1 f.) und ist der christliche Geist Geist der Kindschaft, so ist Sammlung und Neuschöpfung der Person das Ziel der gottesdienstlichen Feier, und die Gemeinschaft darf nicht durch eine Entmächtigung der Person gewonnen werden, sondern muss die "Fülle" sein, in der das Selbst zu seiner Erfüllung kommt.

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Wie das Anliegen [des] evangelischen Kultus gepflegt w[er]den kann, hängt zunächst von den örtlichen Möglichkeiten und dem Charisma der hier sich einsetzenden Personen ab. Die besondere Art der einzelnen Kreise wird auch Art und Inhalt ihrer Arbeit bedingen. Dennoch lässt sich wohl eines Grundsätzliches sagen. Was auch an neuen Aufgaben hinzutreten mag, als ein Grundanliegen bleibt die geistige Besinnung in der Richtung auf Evangelium und Leben. Die Besinnimg enthält das Doppelmoment der seelischen Sammlung und der klärenden Überlegung. Beide Seiten gehören zusammen. Praktisch wird die eine oder andere überwiegen. In "Freizeiten" findet sich am ehesten ihr Gleichgewicht. Vorträge werden nach der einen oder anderen Seite hin tendieren. Fragt man nach den Kreisen, an die man sich wendet, so ist schon von engeren Arbeitskreisen und weiterem Umkreis gesprochen. Es war eine weit über die Zeit hinausgehende Antizipation Rades, als er sich an die Gebildeten aller Stände wandte. Was für eine Umwandlung des Bildungsbegriffs lag darin! (Es ist eine Goethe-Nähe, die im Zeitalter des Spezialismus und Sozialismus höchst aktuell ist. Man sollte die Wand[er]jahre des Meisters studieren!) Auch in den einzelnen Gruppen wird das Schwergewicht sich nach der einen oder anderen Seite verlagerfn.] Möglichste Vielfältigkeit ist hier nur zu wünschen. Nur so wird das vom Protestantenverein immer mit Nachdruck vertretene Anliegen, in allen Volkskreisen zu wirken, verwirklicht werden können. Die Unterschiede im Mass des Wissens, im Grad der geistigen Beweglichkeit und in der Feinheit ästhetischen Fühlens verlangen in jeder Gemeinschaft von der Leitung besonderen Takt. Auch hier sinfd,] wenn weitere Kreise ergriffen werden, im gleichen Masse Sondergruppen denkbar. Aber jede Darvierung 40 soll an die positive Substanz heranführen und auch die schlichteste Darbietung kann Form und Würde haben. Ja, die Schlichtheit und Einfachheit ist selber ein Zeichen des wirklich Tiefen und Grossen. Unbetroffen davon bleibt die Tatsache, dass das solchergestalt Einfache meist nur zuletzt und nach hartem Ringen mit dunkler Materie gefunden wird. Das Ressentiment gegen "komplizierte Problematik" muss durchbrochen werden. Aber es ist Sache besonderer theologischer und anderer Arbeitskreise, das Komplizierte durchzuarbeiten und zu klären. Im übrigen gibt es ein entscheidendes Moment, durch das für unsere wie alle ähnlichen Kreise die Bildungsunterschiede nicht beseitigt, aber relativiert werden. An der Idee der Bildung vollzieht sich eine prinzipielle Wandlung. Immer zwar wird es Einzelne und Kreise geben, die nach einer möglichst universalen (geschic[ht]lich und wissenschaftlich fundierten) Bildung streben müssen. Aber gebildet wird ihr Wissen und ihre Universalität nur sein, wenn sie von der Vertiefung in ein Lebensgebiet ausgeht und in aller Erweiterung den lebendigen Kontakt mit dem Menschtum aufsucht, das in anderen Lebensgebieten sich ausformt. Sol40 Vermutlich ist "Darbietung" zu lesen.

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che Bildung aber aus dem Lebenskontakt mit anderen Menschen ist, soviel Stufen sie auch haben mag, grundsätzlich als Allgemeinbildung möglich. Sie hat dann freilich nicht den Charakter gelehrter Bildung. Doch Wissenschaft ist nur eine Form, in der der Geist sich verwirklicht. Dass die Sphäre d(es) "praktischen" Lebens geistlos sei, ist ein verhängnisvoller Irrtum gewesen, der jene Sphären in der Tat der Geistlosigkeit überlieferte. Alles Handeln ist ein Umgang mit der Wirklichkeit, in welchem der in ihr bereitliegende Sinn zur Erfüllung kommen so[ll]. Dieser Sinn muss erspürt werden. Bald liegt er in der reinen Begegnung von Mensch zu Mensch. Bald liegt er z. B. in der Wirtschaftssphäre, in der Erhaltung, Ausformung und zuletzt Schmückimg des gemeinsamen Lebens. Wenn tätiger Geist in Theologie und Praxis Sinnerfüllung ist, so gibt es keine geistlose Sphäre, und in irgendeiner Weise ist jeder zur geistigen Besinnung gerufen. Die Fragwürdigkeit der Lage auf allen Gebieten steigert auch allenthalben dies Bedürfnis. Ihm nachzukommen, ist unsere besondere Aufgabe. Denn wenn auf der einen Seite die Mechanisierung und Entleerung so vieler Lebensbereiche unseren Kreisen die Pflege innerer Sammlung zur besonderen Aufgabe macht, damit mitten im Leben christliche Zuversicht, Freimütigkeit und Offenheit für den Nächsten schlicht-selbstverständlich sich auswirken, so sind auf der anderen Seite die Entscheidungen, die heute plötzlich jeden in Politik und Betrieb, im Verhältnis zu Untergebenen und Vorgesetzten] und Nachbarn und Arbeitsgenossen zufallen können, zugleich so tief eingreifend und, indem sie nur recht und billig sein sollen, so sehr von letzten Voraussetzungen menschlicher Haltung abhängig, dass wie j[e]dem politische Entscheidungen, so auch jedem die der Komplikation des Lebens entsprechende Besinnimg und Überlegung zuzumuten ist. Sie in christlichem Sinne zu wecken ist abseits aller Parteipolitik und auf alle Lebensgebiete sich erstrec kend unsere Absicht. Noch immer wird den in dieser Richtung arbeitenden Freundeskreisefn] der Vorwurf gemacht, es werde von ihnen die christliche Substanz "liberal" verkürzt und verkümmert. Aber das Interesse, das hier vorliegt, ist von höchstem Rang. Es gilt, das Wesen des christlichen Geistes an seinem Wirken auf das Leben, im Spiegel der Erleu[ch]tung, die der Kirche fern Stehenden [I]41. In dieser Hinsicht enttäusc[ht] ziehen sich schon wieder viele, die noch vor einem Jahre aufhorchten, von der Kirche zurück. Ist es eine indirekte Verkündigung, so ist sie neben der direkten schlechthin unentbehrlich. Denn nur im Bilde seines Wirkens entfaltet der Geist sein volles Wesen. Zumal in der Situation der Entfremdung von kirchlicher Sitte und Sprache bis zum absoluten Unvermögen des Verständnisses wird jene "indirekte Verkündigung" zum oft ein[z]ig noch möglichen Zugang. Zugleich muss dann klar sein, dass es nur ein allmähliches Hineinwachsen in die christliche Sache und ihr Verständnis gibt.

41 Vermutlich wurde eine Textzeile ausgelassen.

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Es gibt - schliesslich für jeden und in jedem Stadium seines Lebens Geheimnisse, die nur langsam und spät sich auftun. Zugleich hat hier der freie Protestantismus eine eminente kirchliche Mission, nämlich vor der Antastung des Geheimnisses durch autoritär aufgedrungene Formeln und Riten zu warnen. So notwendig die Lehre ist, sie entweiht das Geheimnis un[d] die Wahrheit, wenn sie in Zwangsformeln gebannt wird. Die entscheidende Arbeit fällt hier den Theologen, den Pfarrern und Lehrern unserer Kreise zu. Ihr Kampf um die Wahrhaftigkeit soll nicht demagogische Unruhe in die Gemeinden tragen. Um so entschiedener muss die Auseinandersetzung mit den Theologen und führenden Vertretern anderer Richtimg grundsätzlich und von Fall zu Fall aufgenommen werden. Denn leider liegt die Demagogie oft und in schwerster Weise auf der Gegenseite wenn man dort uns zwar wissenschaftlichkritisch uns nahe steht [!], aber den an sich unbestreitbaren Symbolismus der religiösen Ausdrücke dazu missbraucht, in der Gemeinde eine Orthodoxie zu bestärken, die man selbst nicht teilt, und kirchlich einen Fanatismus gegen Fragen und Gedanken zu erzeugen, die man theologisch sich selbst zu eigen macht. Die Intoleranz der Gemeinden ist leider immer wieder durch die Zweideutigkeit ihrer Theologen genährt. — Die Aufgabe des freien Protestantismus an der Kirche beschränkt sich aber nicht auf das mehr oder minder fachliche theologische Gespräch. Sondern auch im Raum der Kirche ist das Sein und Dasein des protestantischen Menschen entscheidend. Wie jeder der Gemeinde dienende Sonderkreis mit seiner Sonderaufgabe sich als ein Salz der Gemeinde wissen und halten soll, so liegt es auch für das Anliegen der Freundeskreise. Das gleiche eine Grundanliegen der christlichen Freiheit besteht gleichermassen und zugleich nach "aussen und nach innen". Es ist ein und dasselbe Anliegen, weil es hier letztlich gar kein Innen und Aussen gibt. Sondern Kirchen- und Gottesdienst sich undtrennbare Weisen den Glauben an das Evangelium zu üben [I]42. Wenn mehr als in der bisherigen Tradition üblich, hier das Moment der Gemeinschaft betont wurde, so geschah es mit ausdrücklichem Hinblick auf die Funktion, die den freiprotestantischen Kreisen an Kirche und Welt zufällt, (s. oben S. ) [!] Aber es darf nicht ausser Acht gelassen werden: die Gemeinschaft der Selbste, die hier gemeint ist, soll in ihrem letzten Wesenskern in jedem Lebensbezug mitten im Leben verwirklicht werden als Freies [!] und zugleich gottgebundenes Gegenüber von Person zu Person. Die Grundart des Verhältnisses ist auch hier nach "aussen" und "innen" die gleiche. Die Möglichkeiten der konkreten Ausformung sind immer schon verschiedene gewesen und lassen in weiterer Mannigfaltigkeit sich denken. Jede Uniformierung wird hier vermieden werden müssen. Eine Möglichkeit - die historisch Alteste - ist der "Verein" mit ausgesprochener Richtung auf Ziele, die in Kirche und Welt verfolgt werden. Eine entgegengesetzte an sich durchaus mögliche Möglichkeit wäre eine Gemeinschaft der "Erbauung" Luther[s] ecclesiolae, auch diese zwar im Dienst an der Gesamtge42 Vermutlich ist zu lesen: "Sondern Kirchen- und Gottesdienst sind untrennbare Weisen."

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meinde aber mit der Richtung auf innere Sammlung. Wenn bisher der Kirchendienst gut lutherisch als "Mittel" für den ["JGottesdienst" betrachtet wurde, so darf mm zuletzt im Uberdenken der bestehenden Möglichkeiten hinzugefügt werden: Die Sammlung vor Gott ist in jedem Augenblick letzter Sinn des Lebens, und wie die Bindimg an den Nächsten aus dieser Sammlung nicht herausfallen soll, so kann auch jeder Augenblick frommen Lebens, auch die Stunde der ehrfürchtig feiernden Beugung vor Gott und die Stunde gemeinsamer Besinnung als "selbstzwecklich" gerade dann gelten, wenn sie zugleich die Richtung auf das Leben in sich birgt und neu entzündet. In solchem Sinne sind auch pietistisch-liberale Kreise denkbar, wie einst der Pietismus des 18. Jahrhunderts insbes. in der Gestalt Herrenhuter Gemeinden ein mächtiger Durchbruch christlichen Personalismus [!] war. Historisch ist beachtlich, dass Rade, der Herausgeber der christlichen Welt, in unmittelbarer örtlicher und geistiger Nähe zu Herrenhut begann und dass der erste Jahrgang der Christi. Welt als sächs. Gemeindeblatt herauskam. Eine dritte Möglichkeit stellen die Freundeskreise dar, einesteils zielgerichtet auf christliche Freiheit und christliche Welt, anderseits eben in dieser Bindung auch "Freunde" mit dem der Freundschaft zukommenden Wissen um einen eignen Sinn der Freundschaft. Es war und dürfte dem Wesen nach sein zugleich eine Gemeinschaft auf Kirche und Leben hin und ein Kreis gemeinsamer Sammlung und Besinnung, - das eine wie das andere aber vorzüglich im besonderen Medium der geistigen Durchklärung der evangelischen Botschaft, ihrer Inhalte und ihrer Ausstrahlungen auf das Leben. Die Erinnerung an die Mannigfaltigkeit und die innere Vielseitigkeit der bisherigen Formen möge dazu dienen, in liberalster Weise die Pforten für weiter [!] neue Formen offen zu halten. Darin wird der Freie Protestantismus nur sein eigenes Wesen zum Ausdruck bringen. Das folgt aus dem Prinzip der Christlichen Freiheit. Eine Grenze hat diese Freiheit nur an ihrem eigenen "Gesetz" dem Protest gegen die hetero[no]me Unterwerfung der Gewissen, gegen den Kollektivismus sakraler und profaner Prägimg, der die Sammlung der Person zum freien Selbst zerstört, und gegen einen die Sammlung des ganzen Menschen verneinenden Dualismus, der Glaube und Leben oder Glaube und Denken oder Glaube und Geist ausein[anderreisst.]

Ulrich Bayer EIN KLEINER DISPUT AUS DEM J A H R E 1953 ÜBER DAS Ö F F E N T L I C H E A U F T R E T E N V O N CARL SCHMITT IM RAUM DER EVANGELISCHEN KIRCHE "...halte ich es für schlechterdings unerträglich, dass eine Evangelische Akademie dazu beiträgt, einem während des Dritten Reiches gottlos gewordenen Katholiken zu einem come back zu verhelfen."

Uber den Staatsrechtler Carl Schmitt sind in jüngster Zeit einige interessante Darstellungen erschienen, die sich auch mit dessen Rolle im Geistesund Kulturleben der Bundesrepublik befasseni. Dirk van Laak beschreibt in seiner Studie das allmähliche Ende der Isolierung des wegen seiner staatsrechtlichen Legitimierung des "Dritten Reiches" umstrittenen Schmitt im Laufe der fünfziger Jahre und zeichnet dessen Verbindung zu verschiedenen Philosophen, Juristen und Historikern der jungen Bundesrepublik nacte. Charakteristisch für diese Kontakte und Aktivitäten Schmitts war, daß sie sich stets im gesicherten Raum von Kolloquien und Privatissima abspielten und aus verschiedenen Gründen das Licht der Öffentlichkeit mieden. Vielleicht spielte dabei auch eine Rolle, daß ein Versuch Schmitts, 1953 auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Herrenalb aufzutreten, zu einem Politikum wurde und erst durch eine Intervention des Bundesjustizministeriums beim badischen Landesbischof verhindert werden konnte. Am 4. Mai 1953 brachte der Staatssekretär im Bundesjustizministerium Walter Strauße in einem persönlichen Schreiben an den badischen Landes1

PAUINOACK: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993, sowie DIRK VAN LAAK: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993.

2

Unter ihnen Odo Marquard, Hermann Lübbe, Ernst Forsthoff, Nicolaus Sombart und Reinhart Koselleck.

3

Walter Strauß (1900-1976), Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Volkswirtschaft

in

Freiburg,

Heidelberg,

München

und Berlin,

Promotion

zum

Dr.

jur.,

wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei der Berliner Industrie- und Handelskammer, ab 1928 Referent im Reichswirtschaftsministerium, 1935 aufgrund des "Arierparagraphen" zwangsweise Versetzung in den Ruhestand, Rüstungsarbeiter, 1945 Mitbegründer der C D U in Ber-

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bischof Julius Bender4 sein Befremden darüber zum Ausdruck, daß Carl Schmitt als Redner auf einer Tagung der Akademie der badischen Landeskirche in Herrenalb angekündigt sei5. Schmitt sei eingeladen, um auf einer Tagung zum Thema "Konservative und Reaktionäre" am 10. Mai 1953 in Herrenhalb das Schlußreferat mit dem Titel "Der Antichrist und was ihn aufhält" zu sprechen. Seine Kritik an diesem öffentlichen Auftreten von Carl Schmitt auf einer evangelischen Akademietagung begründete Strauß folgendermaßen: "Jeder, der mit den damaligen Verhältnissen vertraut ist, weiss, dass von allen Kronjuristen des Dritten Reichs niemand eine unheilvollere Rolle gespielt hat als Carl Schmitt. Seine ungewöhnliche Begabung und die literarische Brillanz seines Stils sind ebenso unbestritten wie der nihilistische Okkasionalismus, der seinen Werken von jeher zu Grunde gelegen hat. Er hat Generationen von Studenten vor 1945 verführerisch und zersetzend beeinflusst. Die Folgen hiervon sind noch heute an manchen Universitäten spürbar." 6 Dann kritisierte Strauß mit deutlichen Worten die badische Landeskirche, die in ihrer Akademie einer derart diskreditierten Persönlichkeit wie Carl Schmitt das Wort erteile: "Bei aller Nachsicht, die ich seit 1945 gegenüber Verirrungen der vorangegangenen Zeit zu üben gewohnt bin, halte ich es für schlechterdings unerträglich, dass eine Evangelische Akademie dazu beiträgt, einem während des Dritten Reiches gottlos gewordenen Katholiken zu einem come back zu verhelfen ... Die Sauberkeit der deutschen Wissenschaft und unseres öffentlichen Lebens verlangt - da ihm der Takt selbstauferlegten Schweigens zu ermangeln scheint -, dass alles unterbleibt, was ihm die Wiederaufnahme seines Wirkens erleichtert."7 Strauß brachte dann sein Unverständnis darüber zum Ausdruck, daß dem Studienleiter der Evangelischen Akademie Baden, Hans Schomerus8, diese

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lin, 1946-47 Staatssekretär im hessischen Staatsministerium, Mitglied des Parlamentarischen Rates, 1949-62 Staatssekretär im Bundesjustizministerium, 1967 Kammerpräsident des Europäischen Gerichtshofes. Julius Bender (1893-1966), 1919 Ordination, 1922 Pfarrverweser Meßkirch, 1928-40 Vorsteher Diakonissenhaus Nonnenweier/Baden, 1945 Mitglied des erneuerten Oberkirchenrats Karlsruhe, 1946-64 badischer Landesbischof. Vgl. Schreiben von Strauß an Bender, 4.5.1953, Abschrift für Bundestagspräsident Hermann Ehlers (ARCHIV FÜR CHRISTLICH-DEMOKRATISCHE POLITIK [ACDP], ST. AUGUSTIN: Nachlaß Ehlers, 1-369-002/1).

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EBD.

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EBD.

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Hans Schomerus (1903-1969), 1926 Hilfsgeistlicher Hildesheim, 1927 Alfeld/Leine, 1928 Pfarrer Wahrenholz/Hannover, 1936 Domprediger Braunschweig, 1938-45 Ephorus und Studiendirektor Predigerseminar Wittenberg, 1945-48 Pfarrer Reinbek bei Hamburg, 1948 Redakteur "Christ und Welt", 1951-67 Leiter Ev. Akademie Bad Herrenalb.

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Ulrich Bayer

Vergangenheit Schmitts unbekannt geblieben sein könne. Strauß richtete schließlich an den badischen Landesbischof die dringende Bitte, "... das Auftreten von Herrn Schmitt im Rahmen der Evangelischen Akademie Baden und damit einen Schaden für die so überaus wertvolle Arbeit der Evangelischen Akademien zu verhindern, der von weittragenden Folgen sein könnte." In der Anlage seines Schreibens sandte Strauß noch einige besonders illustrative Zitate aus staatsrechtlichen Abhandlungen Schmitts während der NS-Zeit mit, unter anderem aus dem berüchtigten Aufsatz Schmitts nach dem 30. Juni 1934 "Der Führer schützt das Recht". Strauß hatte auch Bundestagspräsident Hermann Ehlers9 und den Berliner Hochschullehrer Otto Heinrich von der Gablentz 10 über den geplanten Auftritt von Schmitt informiert, was beide ebenfalls zu Eingaben an den badischen Landesbischof veranlaßte. Dabei ließ es auch von der Gablentz nicht an deutlichen Worten gegenüber Schmitt mangeln: "Von allen, die damals die Ehre der deutschen Wissenschaft und die Würde des Rechts beschmutzt haben, ist Carl Schmitt die peinlichste Gestalt. Er hat keine Ausrede, daß er nicht Bescheid gewußt hätte, denn er war an seinem Berliner Posten in alle Hintergründe der Politik vor 1933 eingeweiht. Er hat nicht die Ausrede, die vielleicht ein Physiker oder Archäologe vorbringen könnte, daß ihm der Maßstab zur Beurteilung politischer Vorgänge fehlte, denn er war der anerkannt klügste Staatsrechtslehrer in Deutschland. Von seinem Verhalten im 3. Reich dürfte ein Beispiel genügend Zeugnis geben: auf einer großen Juristentagung hat er sich nicht entblödet, unter wüsten Beschimpfungen gegen Friedrich Julius Stahl zu erklären, es sei vollkommen falsch, den Kampf des Gauleiters Streicher gegen das Judentum für ungeistig zu erklären. Wenn jemand wider besseres Wissen und Gewissen die Nazis unterstützt hat, dann ist es dieser Jurist von hohen geistigen Graden gewesen. Ich halte mich für verpflichtet, die Angelegenheit auf der Tagung der 9

Hermann Ehlers (1904-1954), Rechtsanwalt, 1935 Mitglied Reichsbmderrat, 1945-50 Oberkirchenrat Oldenburg, Landeskirchlicher Rundfunkbeauftragter, 1946 Rundfunkbeauftragter des Rates der EKD, 1949-54 MdB (CDU), 1950-54 Bundestagspräsident, 1952 Zweiter Vorsitzender der CDU, Mitglied Herausgeberkreis "Junge Kirche".

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Otto Heinrich von der Gablentz, Dr. rer. pol. (1898-1972), Studium Staatswissenschaften Berlin und Freiburg/Br., 1925-34 Referent Statistisches Reichsamt Berlin, 1934-45 Abteilungsleiter in der chemischen Industrie, 1948-53 Mitglied NWDR-Verwaltungsrat, 1945 Mitglied Kirchenleitung der ApU und Beirat des EOK Berlin, Sektionsleiter Ernährungsamt Berlin, Abteilungsleiter Deutsche Hochschule für Politik Berlin, 1949 Privatdozent ebd., 1950-58 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (CDU), 1953 außerordentlicher Professor Deutsche Hochschule für Politik Berlin, 1955 Direktor ebd., 1959 o. Professor Theorie der Politik, 1966 Ruhestand.

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'Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik' am nächsten Wochenende vorzutragen, und ich bin davon überzeugt, daß die Vereinigung mit einem Protest an die Öffentlichkeit treten wird. Ich kann Ihnen leider nicht verhehlen, daß der Leiter der Herrenaiber Akademie mit einem groben Verstoß gegen den Takt die evangelische Kirche in eine schwierige Lage gebracht hat ..." 1 1 In gemäßigterem Tonfall kritisierte auch Hermann Ehlers in einem Brief an Julius Bender die Einladung Schmitts und verband damit auch Vorwürfe gegen den ebenfalls vorbelasteten Akademieleiter Schomerus: "Einige Kritiker gebrauchen über Carl Schmitt, den sie von früher her kennen, außerordentlich scharfe Worte. Auch wenn ich sie mir nicht in vollem Umfange zu eigen mache, muß ich doch sagen, daß es mir auffällt, wenn Carl Schmitt, der nun schließlich im dritten Reich und vorher seine sehr geprägte Geschichte gehabt hat, in dieser Weise herausgestellt wird; und wenn das noch dazu von einem Akademieleiter geschieht, von dem mir gerade vor wenigen Tagen beim Nachsehen von Unterlagen aus dem Kirchenkampf auffiel, daß er die Godesberger Erklärung 12 mit unterschrieben hat, so muß man doch zu der Uberzeugung kommen, daß das alles nicht zufällig und ohne Absicht geschieht." 13 Dabei enthielt sich Ehlers jedoch ausdrücklich konkreter Forderungen gegenüber dem badischen Landesbischof. Dieser antwortete seinerseits am 11. Mai 1953 dem Bonner Staatssekretär: "Wie mir Pfarrer Schomerus, der das Programm der beiden Tagungen mit Professor C. Schmitt allein gemacht hat, versicherte, lag es ihm völlig fern, einer Sache, die vergangen ist und nicht wieder kommen darf, Vorschub zu leisten." 14 U m einen falschen Anschein zu vermeiden, habe er, Bender, persönlich dafür Sorge getragen, daß Carl Schmitt nicht sprechen werde. Allerdings habe Schmitt nach Wissen von Akademiedirektor Schomerus auf einer Woche der Rheinischen Universitätsgesellschaft zusammen mit Bundesjustizminister Thomas Dehler 15 gesprochen. A m Schluß seines Schreibens 11 Schreiben von Gablentz an Bender, 10.5.1953, Abschrift für Ehlers (wie Anm. 5). 12 Text und vollständige Unterschriftenliste der Godesberger Erklärung bei KARL KuPlSCH: Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871-1945. Quellensammlung zur Kulturgeschichte Bd. 11. Göttingen 1960, S. 297f. 13 Schreiben von Ehlers an Bender, 5.5.1953 (wie Anm. 5). 14 Schreiben von Bender an Strauß, 11.5.1953, Abschrift für Ehlers (wie Anm. 5). 15 Thomas Dehler (1897-1967), Studium der Rechtswissenschaften, Anwalt, 1924 Mitbegründer des "Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold", 1926-33 Vorsitzender D D P Bamberg, 1944 verhaftet, 1945 Landrat, 1946 Generalstaatsanwalt und Generalankläger für Entnazifizierung in Bayern, 1947-49 Oberlandesgerichtspräsident, 1946-49 Vorsitzender der bayrischen FDP, Mitglied des Parlamentarischen Rates, 1949 MdB, 1953-56 FDP-Fraktionsvorsitzender,

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verwahrte sich der badische Landesbischof gegenüber der von Strauß vage geäußerten Drohung: "Der Offenheit halber möchte ich nicht verschweigen, sehr verehrter Herr Staatssekretär, daß ich den Hinweis in Ihrem Brief auf die weitreichenden Folgen 16 lieber nicht hätte lesen müssen, weil ich ihn als eine Drohung empfand, die unter Christen nicht nötig ist. Jedem guten Rat bin ich jederzeit offen, wie ich es auch Ihrem Rat gegenüber war." 17 Seine Verärgerung über diese Formulierung von Strauß brachte Bender auch in seinem Antwortschreiben an Bundestagspräsident Ehlers zum Ausdruck, dem er eine Kopie seines Briefes an Strauß zukommen ließ: "Dass Staatssekretär Dr. Strauss seinen Protest - den ich jetzt begreife! - damit bekräftigen zu müssen glaubte, dass er für den Fall des Auftretens von C. Schmitt auf die weittragenden Folgen hinwies, hat mir meine Entscheidung nicht gerade leichtgemacht." Bender teilte Ehlers mit, daß er Schomerus ersucht habe, Schmitt vom Programm der Herrenaiber Tagung abzusetzen. Dabei ließ er bezüglich der belasteten Vergangenheit Schmitts eine gewisse Unkenntnis durchblicken: "Ich bin einwenig erschrocken und verwundert gewesen, dass man aus dem Erscheinen von Professor Schmitt Schlüsse auf die Evang. Akademie gezogen hat, die völlig unbegründet sind. Ich ersah erst aus der gedruckten Einladung, dass Professor C. Schmitt kommen sollte, war aber auch da nicht beunruhigt, weil ich über den Umfang seiner Verantwortung für die politische Entwicklung in der Vergangenheit so nicht im Bilde war." Schließlich behauptete Bender, Schomerus habe die "Godesberger Erklärung" nicht unterschrieben, sein Name sei ohne seine Zustimmung unter die Erklärung gesetzt worden. Am 16. Mai 1953 dankte Strauß dem badischen Landesbischof, daß dieser ein Auftreten von Schmitt in der Herrenaiber Akademie verhindert habe. Er war jedoch nicht bereit, die von Bender kritisierte Formulierung zurückzunehmen, bot aber seinerseits ein Gespräch über den gesamten Vorgang an. In seinem Schreiben kam Strauß auch auf das von Bender bzw. Schomerus behauptete gemeinsame Auftreten Schmitts mit Bundesjustizminister Thomas Dehler zu sprechen: "Herr Minister Dr. Dehler kennt meinen Brief an Sie vom 4. d. M. und billigt seinen Inhalt vollkommen, ebenso mein Kollege, der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Professor Dr. Hallstein 18 . Herr

1954-57 FDP-Vorsitzender, 1949-53 Bundesminister der Justiz, 1960-67 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. 16 Strauß hatte von "weittragenden Folgen" gesprochen. 17 Schreiben von Bender an Ehlers, 11.5.1953 (wie Anm. 5). 18 Walter Hallstein (1901-1982), 1930-41 Professor in Rostock, 1941-48 in Frankfurt a. M., 1950-51 Staatssekretär im Bundeskanzleramt, 1951-58 im Auswärtigen Amt, 1958-67 Präsi-

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Minister Dr. Dehler ist Herrn Schmitt niemals begegnet und entsinnt sich nicht, jemals auf einer Tagung mit ihm gesprochen zu haben. Eine 'Rheinische Universitätsgesellschaft' ist uns nicht bekannt und konnte auch durch Rückfrage beim Sekretariat der Universität Bonn nicht ermittelt werden ... Herr Minister Dr. Dehler und ich wären für nähere Angaben dankbar, damit wir versuchen können, diese seltsame Behauptung aufzuklären." 19 Diese Kritik ließ die von Schomerus aufgestellte und von Bender weitergetragene Behauptung eines gemeinsamen Auftretens von Dehler und Schmitt in einem peinlichen Licht erscheinen. Dehler hatte stets zu den heftigsten Kritikern von Schmitt gehört; sein 1966 geäußerter Vorwurf, Schmitt sei der heimliche staatsrechtliche Berater der Bundesregierung, erregte einiges Aufsehen 20 . Carl Schmitts Auftreten blieb auch weiterhin auf einen eng begrenzten Kreis beschränkt. Die Episode aus dem Jahr 1953 zeigt, daß die Kirche trotz ihrer nach 1945 gestiegenen gesellschaftspolitischen Bedeutung hin und wieder von der Politik auch die möglichen Grenzen ihrer Tätigkeit aufgezeigt bekam. Andererseits hatte die Kirche - wohl nicht zuletzt als ein Ergebnis des Kirchenkampfes - ein Sensorium dafür entwickelt, wieweit man staatlichen Eingaben entsprechen konnte und wo die Grenze erreicht war - etwa wie hier durch eine von Staatssekretär Strauß vage formulierte Drohung im Falle einer Nichtbeachtung des staatlichen Einspruchs.

dent der Kommission der EWG, 1968-74 Präsident der Europäischen Bewegung, 1969-72 MdB (CDU).

19 Schreiben von Strauß an Bender, 16.5.1953 (wie Anm. 5). 20 Vgl. D. VAN LAAK, Gespräche (Anm. 1), S. 144.

J o h n S. C o n w a y THE CHANGES IN RECENT DECADES IN THE CHURCHES' DOCTRINE AND PRACTICE TOWARDS JUDAISM AND THE JEWISH PEOPLE I. It is now generally accepted that the Christian churches both in Europe and elsewhere were - with some notable exceptions - bystanders during the Nazi destruction of European Jewry. The extent to which conscious antisemitism, deliberate indifference, or impotent commiseration affected the Christian churches' responses to these tragic events depended upon the variety of national and denominational settings and is still a matter of debate amongst historians. Most Jewish scholars, seeking to trace the roots of the barbarous outgrowth of antisemitism in the twentieth century, continue to point to the centuries of Christian anti-Judaic polemic with its associated evils of triumphalism, segregation and oppression. On the other hand, there was clearly a significant difference between the violence of the Nazis' racist antisemitism and the stance adopted in the 1930s and 1940s by the majority of church bodies. In the late nineteenth century, as Uriel Tal has convincingly argued, it was the antisemitic progenitors of Nazi ideology, who twisted and distorted the Christian vocabulary and traditional patterns of prejudice into racialist categories, thereby unleashing a new dimension of political fanaticism. In Nazi Germany, the most antisemitic racists were also the fiercest opponents of the churches. As a result, possibly, we now hear less of the theory that the Holocaust or Shoah represented a direct culmination of Christian intolerance. Rather, as Geoffrey Wigoder pointed out: "Modern radical anti-Semitism is not a direct continuation of Christian anti-Semitism, but Christianity provided the essential background for this development."! On the other hand, we now know enough to reject the kind of exculpatory theories which suggest that traditional Christian anti-Judaism had little or nothing to do with the violent and murderous racist antisemitism as practised by the Nazis and their henchmen. 1

GEOFFREY WLGODER:

1988,

p.

38.

Jewish-Christian Relations since the Second World War. Manchester

The changes in the Churches' doctrine and practice towards Judaism

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We have now come to acknowledge that in the totalitarian world of Nazi-dominated Europe, the majority of the population, whether Christian or not, placed the Jews outside their circle of obligation. We also recognise that church leaders suffered from a failure of imagination which could not comprehend the enormity of such crimes, or the fateful impact of the churches' age-long teaching of contempt for the Jews. To be sure, some historians continue to argue that a more energetic or prophetic stance by the church hierarchies, or more resolute efforts to protect Jews by individual Christians, would have altered the pattern of widespread abstention. But such views, I believe, exaggerate the extent of the churches' power to produce a significantly different situation or to affect the bigoted policies of the interwar politicians2. Such theories are, surely, not free from the wishful thinking of hindsight. In reality, the catastrophe of the Holocaust must be seen as the most disastrous part of the wider capitulation of European civilisation to the violent forces of dictatorship, racial hatred and unbridled nationalism. The churches' ineffectual struggle against such forces has to be seen in the context of the overall declension of moral and spiritual factors in the political climate of the twentieth century. In the darkness of Auschwitz, both religion and civilisation failed disastrously. In the immediate post-war years, refusal to recognise this fact, or unwillingness to admit its validity, was undoubtedly responsible for the widespread Christian view that the Holocaust was primarily a Jewish tragedy. Not until the middle 1950s, as the details of the crimes perpetuated against the Jewish people became more fully known, did Christians begin to realise that the events of the Shoah posed vital and inescapable questions about the complicity and culpability of the churches, not least concerning the sins of omission and lack of compassion and charity3. More immediately, the creation of the State of Israel in 1948 also had momentous consequences for the Christian churches, both politically and theologically. Together, as Paul van Buren has pointed out 4 , the shock of the horror at the Germans' misdeeds against the Jewish people, and the even greater theological shock of the existence of a Jewish state, led to the first

2

See JOHN S. CONWAY: The Churches and the Jewish people: Actions, Inactions and Reactions during the Nazi era. In: A. Cohen et al (eds.): Comprehendinq the Holocaust: Historical and Literary Research. Frankfurt am Main 1988, p. 125-143.

3

See FRANKLIN H . LITTELL: The Crucifixion of the Jews. New Y o r k 1975.

4

See PAUL VAN BUREN: Changes in Christian Theology. In: Henry Friedlander/Sybil Milton (eds.): T h e Holocaust: Ideology, Bureaucracy and Genocide. New Y o r k 1980, p. 286.

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striking changes in attitudes between Christians and Jews, and subsequently resulted in major reversals of the Church's centuries-old teachings about Judaism. In tracing these developments, it is appropriate to begin by depicting the reactions of the Protestant churches in Germany, whose leaders were among the first of their countrymen publicly to acknowledge the calamitous impact of Nazism upon the world. Already in October 1945, the Council of the German Evangelical Church issued its famous Stuttgart Declaration of Guilt, expressing its remorse over the Church's failure to withstand the criminal Nazi regime more forcefully. To be sure, this statement did not mention the Jews explicitly. Not until 1950, at a subsequent Synod, was the connection between the fate of the Jewish people and the church's acts of omission recognised clearly and contritely. One cause for the slow pace of this acceptance may be found in the fact that the sufferings of the Jewish people were at first largely blamed on secular, not on Christian, forces. The Nazi glorification of the State, the excessive nationalism and racism of large segments of the German population, and the sinister impact of global antisemitism, at first the Nazi crimes were all seen as evidence of the apostasy of modern secular man. But during the 1950s there was a growing awareness of the church's need to grapple with its own record in regard to Judaism, which resulted in a new sensitivity. The results of this painful process of coming to terms with the German past were seen in two significant ways. In the first place, the surviving members of the anti-Nazi Confessing Church among the Protestants sought to learn the lessons of their Church Struggle, which they believed applied not only to their own situation but to the church as a whole. In particular they rejected the kind of political quietism which obediently followed the commands of authority and practised a pietistic resignation towards the misdeeds of their rulers. The memory of the churches' failure to stand by their Jewish neighbours at such crucial moments as the notorious pogrom of November 1938 certainly played an influential role in this process. A significant proportion of the post-war church leadership, both in Germany and elsewhere, who had experienced the Nazi era, now resolved to repudiate the attitudes of indifference and abstention towards the Jewish people which had so ominously marked the behaviour of their predecessors. The second stage came with the deliberate attempt to find new and more positive ways of relating to Judaism. In West Germany after 1949 and in East Germany after 1965, Christian groups with an interest in the religion,

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history and culture of the Jews were established5. Following the revelations cf the Eichmann trial in 1961, the work of a new Arbeitsgemeinschaft of the biennial German Protestant Church Rally received widespread support and demonstrated a growing interest in Christian-Jewish relations. For the first time, Jewish scholars and rabbis were invited to participate in these proceedings. Local theological study groups were set up which resulted in a number of useful study guides6, and eventually led to the passing of synodica declarations, notably that of the Rhineland Synod in January 19807. This landmark statement, which was widely noted in other Protestant communities, expressly referred to the Holocaust as the crucial factor necessitating the attainment of a new relationship between the church and the Jewish people. Four factors, the authors, claimed, had brought the church to this realisation: This statement explicitly noted four factors: the recognition of Christian co-responsibility and guilt for the Holocaust; the new biblical insights learnt during the Church Struggle about the continuing significance of the Jewish people within the history of God; the acknowledgement that the continuing existence of the Jewish people, its return to the Land of Promise and the foundation of the State of Israel, are signs of the faithfulness of God towards his people; and the willingness of Jews, in spite of the Holocaust, to engage in encounter, common study and cooperation. As a result, the declaration's authors affirmed that all previous teachings which had led to the idea that Christianity had superseded Judaism should be repudiated. So too should the kinds of triumphalist expectations, including missionary proselytism, who saw the only due destiny for Jews as conversion to Christianity. Instead, they declared: "We believe that in their respective calling Jews and Christians are witnesses of God before the world and before each 5

See DIETRICH GOLDSCHMIDT/HANS-JOACHIM KRAUS (Hg.): Der ungekündigte Bund. Neue Beqegnunqen von Juden und christlichen Gemeinde. Stuttgart 1962; SIEGFRIED THEODOR ARNDT: Das christlich-jüdische Gespräch in der DDR. In: Juden in der DDR. Geschichte Probleme - Perspektiven. Duisburg 1988, p. 1 Iff. Particularly notable was the work of the Society for Christian-Jewish Cooperation (Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit), founded in 1948, which soon spread to major cities in West Germany, and organised extensive Weeks of Brotherhood and other publicity ventures; for the Roman Catholics, a significant impact was made by the publication of the "Freiburger Rundbriefe", a biennial collection of statements and articles on Christian-Jewish relations, edited by GERTRUD LUCKNER since 1948.

6

See CHRISTEN UND JUDEN. Eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 1975. See ZUR ERNEUERUNG DES VERHÄLTNISSES VON CHRISTEN UND JUDEN. Handreichung der Evangelischen Kirche im Rheinland. Düsseldorf 1980; English text in: THE THEOLOGY OF THE CHURCHES AND THE JEWISH PEOPLE. Statements by the World Council of Churches and its member churches. Geneva 1988, p. 92-4.

7

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other. Therefore we are convinced that the church may not express its witness towards the Jewish people as it does its mission to the peoples of the world." 8 This open acknowledgement of the churches' sins of omissions in the past, the resulting sense of contrition and the desire for a new spirit based on reconciliation between Jews and Christians have been repeatedly expressed in the public declarations of the German churches in recent years. On both the 40th and 50th anniversaries of the so-called Crystal Night pogrom of November 1938, the churches took an active lead in encouraging their members to reflect on this crime9. In practical terms, collections were taken up to be devoted to the rebuilding of the New Synagogue in Berlin, and in several parts of Germany, Christian congregations accepted the responsibility of maintaining Jewish graveyards. In November 1989, in a particularly notable ceremony of solidarity, a prominent plaque was unveiled in the Kreuzkirche in Dresden, which reads: "In shame and sorrow, Christians remember the Jewish citizens of this city. In 1933, 4675 Jews lived in Dresden. In 1945 there were 70. We were silent as their houses of God were burned down, as Jews were deprived of their rights, driven out and murdered. We failed to recognise them as our brothers and sisters. We ask for forgiveness and shalom." 10 Such developments have not been limited to the land most affected by the repercussions of the Holocaust, Germany. On the wider scene, the World Council of Churches, comprising Protestant, Anglican and Orthodox churches, at its first Assembly in 1948 resolutely condemned antisemitism as a sin against God and man, and noted: "We must acknowledge in all humility that too often we have failed to manifest Christian love towards Jewish neighbours or even a resolute will for common social justice. We have failed to fight with all our strength the age-old disorder of man which anti-semitism represents. The churches in the past have helped to foster an image of Jews as the sole enemies of Christ, which has contributed to anti-semitism in the secular world." 11 Similar statements followed fron other Protestant national or local church assemblies. But there was as yet no impetus for a rethinking of Christian theological attitudes. Indeed, to begin with, the World Council of 8

IBID., p. 93.

9

For the background see JOCHEN-CHRISTOPH KAISER/MARTIN GRESCHAT (Hg.): Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung (KoGe. 1). Frankfurt am Main 1988.

10 See HELMUT ESCHWEGE: The Churches and the Jews in the German Democratic Republic. In: YLBIXXXVTI, 1992, p. 497ff. 11 Quoted in: THE THEOLOGY (Anm. 7), p. 6.

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Churches and other such bodies still continued to express traditional aspirations for the eventual conversion of the Jewish people to Christianity. However, when more and more facts emerged about the tragic persecution and annihilation of the Shoah, this lingering survival of the era of missionary thinking was gradually superseded as church followers became more aware of how much their own past attitudes had contributed, even if indirectly, to bring about these crimes 12 . At the same time, and partly because of the repercussions of the German experience, the call was now for the church to take a more active and critical engagement in the political and social life of the nations. As will be discussed further below, the need was recognised to stand in solidarity with the outcasts and oppressed, and to take up the cause of the poor and needy with much more than the previous limited expressions of goodwill and charity. From the 1960s the World Council of Churches saw its mission to become the voice of the voiceless, actively campaigning against injustices and oppression on behalf of those whose sufferings had been so frequently ignored. The implications of this forthright prophetic witness have, however, given rise to misunderstandings and ambiguities which are still the source of considerable debate and discussion, not least with regard to the policies of the State of Israel. Similar developments in the period after 1945 were seen in other national churches in Europe and North America. For example, in France, one of the pioneers calling for the reversal of Christian prejudices against Jews was Jules Isaac, who personally organised one of the first international gatherings in 1947 to produce the noted Seelisberg Declaration. This statement forcefully took issue with the noxious doctrine of Jewish responsibility for the Crucifixion, and the subsequent reprobation of the whole Jewish people. The French society, L'Amitie Judeo-chretienne carried this message forward, and became one of the founding members of the International Council of Christians and Jews, which continues to uphold the necessity of a broad international approach in the struggle against antisemitism and religious prejudice. In Britain, similar pioneering work was begun by James Parkes, whose outspoken attacks on the practices and theology of the Christian Mission to the Jews made him a rather isolated figure in the insular world of the Church of England. The politeness and tact of the British establishment on the one side, and the relatively limited involvement of the British Jewish 12 See BERTOLD KLAPPERT/HELMUT STARCK (Hg.): Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden". Neukirchen-Vluyn 1980.

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community on the other, has meant that the debate there has been rather muted. The work of the British Council of Christians and Jews has, for instance, been limited by a self-denying ordinance preventing any involvement in party political issues or theological controversy. A more positive impetus can be seen in the recent establishment of the Centre for the study of Judaism and Jewish/Christian Relations at the Selly Oak Colleges, Birmingham, under the resolute leadership of Rabbi Norman Solomon. In the United States, the much larger size and more vigorous intellectual leadership of the Jewish communities, and the absence of any single established church, has led to extensive and more balanced contacts and dialogue between Jews and Christians. One of the first scholars to undertake this endeavour was Reinhold Niebuhr, who had been the strongest Christian voice in the 1930s in his denunciations of the evils of Nazism, and in his recognition of antisemitism as a most dangerous form of collective intolerance. He was also one of the keenest Christian supporters of the Zionist movement. His example has been followed by such scholars as Franklin Littell, who established in 1970 an annual series of conferences on the German Church Struggle and the Holocaust, with the help of such bodies as the National Council of Christians and Jews and the U.S. Holocaust Memorial Council. These initiatives have been widely copied, so that the legacy of the Holocaust and its implications for the Christian churches are now discussed vigorously at all levels13. By contrast to these widespread Protestant endeavours, the Roman Catholic community in the immediate post-war years, and indeed throughout the 1950s, maintained an almost complete silence on the questions of Christian-Jewish relations. The Vatican authorities appeared to be unwilling to reflect upon the humanitarian failures of the Catholic Church during the Holocaust, let alone upon the theological implications for Catholic doctrine. The reason may be found in the fact that, during the later years of the Pontificate of Pius XII, the atmosphere was pessimistic, and conservative, and certainly not conducive to new initiatives as such controversial themes as relations with Judaism. It was left up to a few pioneering theologians, such as Paul Demann in France, John Österreicher in the U.S.A., Gregory Baum in Canada, and Karl Thieme in Germany, to begin the task of "consciousness raising" by pointing to the harmful legacy of anti-Judaic teachings in Catholic doctrine and by presenting the Jews in a more positive light from the standpoint of Christian faith. For the wider Catholic public, these issues 13 See also M. WILSON/M. TANENBAUM/J. RUDIN (eds.): Evangelicals and Jews in Conversation. Grand Rapids 1978, and: Evangelicals and Jews in an age of pluralism. Grand Rapids 1984.

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were first raised in 1962 after a provocative and highly controversial attack was made by the Swiss playwright Rolf Hochhuth on the alleged silence and inaction of Pope Pius XII while the mass murder of European Jewry was taking place14. It was all the more remarkable therefore that, in preparation for the calling of the Second Vatican Council, Pius XITs successor, Pope John X X I I I in 1960 should have requested the German Jesuit Cardinal, Augustin Bea, to prepare a new statement on the Jews, which was finally to culminate in the 1965 Declaration on the Relationship of the Church to the Non-Christian Religions, Nostra Aetate 15 . This was a significant part of the whole process of aggiornamento, by which the Catholic Church sought to enter a wholly new ecumenical era, revising entrenched church doctrines about relationships with other Christian as well as non-Christian bodies. Despite the vocal opposition of many ecclesiastical conservatives, the Second Council marked an important step forward in encouraging new perspectives, even where these required the abandonment or reversal of long-entrenched views. As is well known, the debate over Nostra Aetate was heated, and roused vehement protests not only from the more conservative wing of the hierarchy, but also from concerned Arab Catholics. Nevertheless, the eventual compromise was far-reaching and impelled the Vatican to adopt a more flexible stance which has been reinforced by the various interpretative statements issued on papal authority in subsequent years. The significance of Nostra Aetate lay in the fact that the Church reaffirmed the deep spiritual bond between Jews and Christians within God's loving plan for the redemption of the world. By giving pride of place, both in dignity and affection, to Judaism, the olive branch on to which Christianity was grafted, the Declaration explicitly condemned in general terms not 14

ROLF HOCHHUTH: The Representative ("Der Stellvertreter"), translated by R. D. Macdonald. London 1963; JOHN MORLEY: Vatican Diplomacy and the Jews during the Holocaust 1939-1943. New York 1980; for a more sympathetic view, see JOHN S. CONWAY: Catholicism and the Jews during the Nazi Period and after. In: O. D. Kulka/P. R. Mendes-Flohr eds.): Judaism and Christianity under the Impart of National Socialism. Jerusalem 1987, p. 435ff.

15

See the text printed in: FIFTEEN YEARS OF CATHOLIC-JEWISH DIALOGUE, 1970-1985. Vatican City 1988, p. 291ff.; little is known about the motives which prompted Pope John and his advisors to include the topic of relations with Judaism on the Council's agenda. Pious memory attributes this step to the Pope's sympathy for the Jewish victims of Nazi persecution, or to the representations made by Jules Isaac and a group of American Jews while visiting the Vatican in 1960. The best, but still reticent, account of the process by which a succession of texts for a Conciliar Declaration on the Jews was prepared, was written by one of the theological consultants, Msgr JOHN ÖSTERREICHER: The New Encounter between Christians and Jews. New York 1986.

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only "all manifestations of antisemitism directed against Jews at any time and by anyone" but also censured those negative features of Christian antiJudaism, such as the charge of "deicide", which had contributed so frequently to popular polemic against the Jews 16 . So too, the clear repudiation of the erroneous notion that God had "rejected" the Jews because of their alleged failure to accept Jesus as "the Christ", sought to prevent any recurrence of the "teaching of contempt" which Jules Isaac had so pointedly seen as the chief cause of hostility. The subsequent declarations from the Vatican, such as the Guidelines of 1974 and the Notes for Preaching and Catechisms of 1985 carried this process further in an increasingly affirmative manner. Echoes of the previous triumphalist assumptions were cogently rejected. Instead the "common patrimony" of the Church and Judaism is stressed, the indebtedness of Christian liturgy to Jewish sources is acknowledged, and the need is affirmed to understand the relationship of the two faiths as a positive and reciprocal one, touching upon the same spiritual realities and most often serving to illuminate each other. If the repudiation of the church's past stance has not been as explicit as some Christians and Jews desire, this emphatic appreciation of the living Jewish faith has been a deliberate and noteworthy attempt to correct the errors of the past. Over the past thirty years, these themes have been repeatedly stated in Papal pronouncements, such as Pope John Paul II's address to the Jewish community in the Great Synagogue of Rome in April 198617. So too the various national councils of Catholic Bishops have issued their own declarations seeking to deepen the meaning of Christian-Jewish dialogue through encounter and theological reflection 18 . These authoritative statements, 16 It is interesting to note that this charge of "deicide" had already been precluded by the Catechism of the Council of Trent, issued in 1586, which stated that the guilt for Christ's death "seems more enormous on us than on the Jews, since according to the testimony of St Paul: 'If they had known it, they would never have crucified the Lord of Glory' (I Cor. 2:8), while we, on the contrary, professing to know Him, yet denying Him by our own actions, seem in some sort to lay violent hands on Him." 17 See E. FISHER/L. KLEINICKI (eds.): John Paul II on Jews and Judaism. Washington, D.C., 1987.

18 For instance, see the statements issued by the U.S National Conference of Catholic Bishops in 1975, the French Bishops' Committee for Relations with Jews in 1973, the National Commission for relations between Christians and Jews in Belgium in 1973, the Catholic Church in the Netherlands in 1970, the Synod of Vienna in 1969, the Central Committee of German Catholics in 1979, the Brazilian bishops in 1981, and more lately, the Polish Bishops in 1990; most of these texts are printed in: H. CRONOR (ed.): Stepping Stones to further Jewish-Christians Relations. London 1977, and its sequel: More Stepping Stones. London 1985.

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world-wide in scope, must now be taken as normative teachings of the Church, and as a genuine desire to establish a continuing relationship through on-going processes of discussion and dialogue. Together with the significant developments in Catholic biblical exegesis, archaeology and church history, the impact has been profound in bringing about a wholly new awareness for Catholics of the importance of Judaism 1 9 . So too the creation of the permanent International Catholic-Jewish Liaison Committee has given institutional impetus to these innovations 20 . It is clear that the Catholic "magisterium" has now committed itself to this task of deliberate self-searching and willingness to leave behind the painful legacies of earlier centuries. The cumulative effect of such endeavours has now spread throughout all Catholic communities and become the common currency in seminaries and congregations. Indeed it is now virtually inconceivable that any future Catholic leaders could distance themselves from this enterprise without seriously undermining their own credibility, and thereby the Vatican's authority in matters of faith. T o this extent, these reversals of former Catholic doctrines can be seen as irreversible 21 . In summary therefore, it may be claimed that the impact of the Holocaust has affected both the Catholic and Protestant communities in three major ways. First it has obliged the theologians to undertake a highly critical questioning of their theological heritage in the shadow of this unprecedented destruction of human life and dignity. Second, it forced a revision of their attitudes towards Judaism and the Jewish people, and the expenditure of very considerable energies ir reformulating Christian theological assumptions. In this process, the multi-faceted reasons for the centuries of estrangement have been examined, and long-enduring stereotypes and prejudices resolutely challenged. Thirdly, the churches have embarked on the search for a new relationship with Judaism which stresses the significance of their common roots in scripture, worship and theological understanding, and the need to accept a common responsibility for the world of today.

19 See E. FBHER/M. TANENBAUM/J. RUDIN: Twenty Years of Jewish-Catholic Relations. New York 1986; E. FISHER/L. KLEINICKI: In our time. The flowering of Jewish-Catholic dialogue. New York 1990; M. DUBOIS: Rencontre avec le judaisme en Israel. Jerusalem 1983; GÜNTHER B. GLNZEL (Hg.): Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen. Heidelberg 1980.

20 See FIFTEEN YEARS (Anm. 15). Mention should also be made of the work of various religious communities, such as the Congregation of Our Lady of Sion, and of the notable publications of the Service International de Documentation Judeo-Chretienne. 21 See the supporting view of the Jewish scholar, Rabbi H. Siegman, quoted in: FIFTEEN YEARS (Anm. 15), p. 26.

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It is hardly surprising that these three challenges with their call for changes in established Christian teachings aroused considerable opposition amongst theological conservatives, who were not convinced that historical circumstances, however catastrophic, should lead to a reversal of traditional doctrines, let alone abandonment of the missionary impulse which had been so central to all Christian endeavours. It is also not surprising that many Jews - and some non-Jews - have remained sceptical about both the sincerity and the enduring character of these apparent reversals of Catholic and Protestant teachings. Four principal considerations would seem to have prompted these reservations. First, doubt has been expressed as to how far these high-level pronouncements have reached down to the ordinary people in the church pews. Are they not rather the product of a handful of progressive theologians, whose influence is limited to their own immediate following? More specifically the pertinent question is raised: how far do such declarations go in acknowledging the responsibility of Christian teachings for antisemitism over so many centuries? Has the examination of Christian consciences yet gone deep enough? But, unless we are to presume a level of Christian consciousness permanently impervious to new directions in preaching, we can surely hope that the highly public stance of church leaders and the continuing exhortation of theologians will, unless other factors intrude, in the long run have an impact. Any comparison, for example, of sermons preached today in main-stream churches with those of fifty years ago will demonstrate that a significant seachange has already taken place. A second doubt has been advanced by such scholars as Frank Stern who regard these German as Christian expressions of philosemitism as being the result either of temporary post-war sentimentalised guilt feelings, or of political opportunism designed to gain favour with Germany's new rulers 22 . Alternatively, the fear is expressed that such declaraticns of the churches' guilt could be used as a form of alibi or a barrier against more intensive investigation of past errors 23 . In either case the impact would not be long-lasting. But in fact, as the example of the German Evangelical Church shows, there has been a continuous increase in awareness of the significance of this issue. The initial dangers of romanticisation of Jewish culture, or of political uti-

22 FRANK STERN: The Whitewashing of the Yellow Badge: Antisemitism and Philosemitism in Post-war Germany. Oxford 1992. 23 On the other hand, there is also a fear expressed by some Jewish thinkers that such public declarations by Christians in support of the Jewish cause can become little more than "ritualistic responses to heavy-handed pressures exerted by Jewish organisations"; see FIFTEEN YEARS ( A n m . 15), p. 28.

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lity, have yielded to a much more fundamental reconsideration, which led to the deliberate rejection of earlier triumphalistic attitudes, and finally to definitive confessional statements, such as that of the Rhineland Synod. In this respect the Church has played its part in the wider process in German society of coming to terms with the past. Despite, or perhaps because of the ensuing controversy, it would be simplistic to see this struggle to regain a sense of integrity as merely a passing or reversible phenomenon. A third factor which may raise doubts about the efficacy of this process of renewal in Christian-Jewish relations is the virtual disappearance of the former vibrant Jewish communities in large portions of central and eastern Europe. The disparity in numbers between the two communities has thus become even more apparent, after the forcible or willing displacement of so many Jews from these territories. While it is a sad, but observable, fact that antisemitism can still be found where Jews are not present, it must be doubted if the cultivation of any more positive relationship can take place without active and equal Jewish participation. But as one East German pastor commented: "Knowledge of Jewry is almost nil in the younger generation. Where knowledge is available, Jewry is understood largely as a historical factor, Israel as the modern state of today; the Jewish people is an alien concept [...] Judaism is not seen as a living religion, but as a 'rudiment' which has survived for an incredibly long period." 24 To counteract such a trend, as the West German theologians realised, they needed the help of Jewish scholars, not only to overcome the deficits of Christian theology, but to embark on a voyage of discovery, which has been frequently enriching and usefully creative. But where such assistance is lacking, the danger exists that the attempts at renewal will remain abstract and disembodied, and hence questionable in their long-term impact. More serious, possibly, is the objection made by some Jewish scholars that the fundamental issues have as yet hardly been touched. Three decades of dialogue, during which the agenda has been largely set from the Jewish side, have been mainly concerned to clear away the distortions of previous Christian prejudices. But the basic asymmetry of the relationship still remains. Christians have yet to become aware that for Judaism there is nothing immanent in its nature or structure which requires an on-going relationship with Christianity, whereas Christian faith is inexplicable without reference to its Jewish roots. The Church as a whole is impelled to undertake dialogue with Jews in order to grapple with what some Christians see as the "mystery" of Jewish rejection of Christianity, whereas Jews seek dialogue for more practical political or historical reasons in their search for pre24

S. T . ARNDT, Gesprach (ANM. 5), p. 28.

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sent and future survival. As Rabbi Siegman rightly notes, the two communities often approach each other with different agendas, which may lead to disappointment and even failure 25 . The fourth factor is the historical legacy of political nationalism and xenophobia, which has raised new fears at the present time. Take Poland, for example. The identification of Catholicism with the forces of resistance to alien rule undoubtedly served to unite Poles behind a national ideal, and to give the church a moral authority in its campaign to dislodge the Marxist totalitarian system. But with the overthrow of Communism, this defensive strategy has now given place to a renewed clerical-nationalism appealing to traditional images of Polish messianism, even though considerable opposition has been voiced by Catholic intellectuals following the tradition of tolerance expressed by the former Polish leader Pilsudski. The revival of Catholic triumphalism has however aroused concerns amongst all of Poland's minorities, Protestant, Orthodox, and especially Jews. The fact remains that not even the shock of the Nazis' crimes was sufficient to alter the deep-rooted antagonism of many Poles against their Jewish neighbours. The Communist regime, too, for its own reasons, was capable of encouraging outbursts of antisemitism and anti-Zionism. And despite the authority of a Polish Pope and the clear teachings of the Second Vatican Council, it has to be questioned how far reception of these new ideas has yet penetrated. It was not until 1987 that the Polish bishops established their own Commission for Christian-Jewish Dialogue, but its early endeavours were taken up in attempts to resolve the highly unfortunate controversy over the building of the Carmelite convent at Auschwitz. The latest Bishops' Pastoral Letter of October 1992 explicitly repeats the teachings of Nostra Aetate, but the extent of public reaction shows that much remains to be done. The conflation of traditional Catholic Christian images with the idea of Polish national identity has only been strengthened by recent political events. The collapse of Communism has often been interpreted as a welcome opportunity to return to the religious roots of national culture, as inspired over the centuries by Christian faith. And certainly, the danger still exists that Polish loyalty to Catholicism may be once again instrumentalised for the purposes of right-wing nationalism, including antisemitism. Indeed Poland may well be symptomatic of the struggle throughout eastern Europe to set aside the historical legacies of the past and to encourage a new sense of political and

25 FIFTEEN YEARS (Anm. 15), p. 26. For a valuable discussion of these theological implications, see the unpublished dissertation by M. C. HAWK: Root, Branch and Rhetoric: Judaism and Christian Self-Understanding after the Holocaust. Yale University, 1992.

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religious tolerance in a democratic and pluralistic culture. Should this attempt fail, the prospects for a new beginning in Christian-Jewish relations can only remain bleak. II. A second area of concern arises from the churches' reactions to the establishment of the State of Israel and to the subsequent policies of its governments. As is well known, these developments have been the subject of prolonged argument and dispute, largely because of the overlapping of political, humanitarian as well as ecclesiastical concerns. Many Jewish observers have been sharply critical of the churches' numerous utterances about the State of Israel over the past forty-five years, overlooking, perhaps, the fact that these issues have been a source of continual, but as yet unresolved, controversy both within and between the various Christian denominations. Nevertheless, in the larger perspective, the changes which have taken place in the churches' theology and practice should not be dismissed as insignificant, as Christians have come to terms with the startling fact of a revived Jewish state and its consequent empowerment. Earlier in the century, Christian reactions to the Zionist aspirations were mixed. On the one hand, one wing of evangelical Protestantism had welcomed - and still welcomes - the prospect of Jews returning to the Holy Land, seeing this restoration as a prelude to their own vision of eschatology, or as an opportunity for missionary zeal. Humanitarian sympathy with the plight of Europe's Jews was also a factor influencing the thinking of British government leaders when they issued the famous Balfour Declaration of 1917. In America, in the 1930s, the Christian Palestine Committee, again for humanitarian reasons, strongly supported Zionist aims as an effective means of challenging Nazi intolerance. But others were more reserved. The Vatican, for example, was notably reluctant to encourage Zionist hopes, which it feared would cause grave international problems, and upset the complex status quo surrounding the territorial claims to the numerous Christian shrines and monuments scattered throughout Palestine. More fundamentally, the establishment of the Jewish political entity in 1948 raised major theological issues for all the churches, whose wider implications became clear as the State of Israel consolidated itself and asserted its right to be a permanent feature of the Middle East. In the first place, the successful Jewish claim to statehood, after so many centuries of banishment and exile, destroyed the validity of one of Christianity's longest-held calumnies, i.e. that the Jewish people's expulsion from their homeland was a sign of divine punishment. Even though the new State of Israel owed its establish-

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ment primarily to secular forces, its very existence signified the fact that Judaism could no longer be regarded as the homeless fossilized survival of a rejected and outcast remnant. Theologically, Christians had to come to terms with a new and vibrant form of Jewish life, visibly seeking to affirm, in a highly positive way, its own concept of the secular redemption of the Promised Land. For several years, the churches' unreadiness to reflect upon this new and challenging phenomenon of Jewish collective renaissance led to evasive tactics. Many of the more universalistic Protestants had already "spiritualised" such terms as Israel, Zion or Jerusalem, applying them metaphorically rather than geographically, and disconnecting them from any reference to the Middle East. Salvation could therefore be found even in England's green and pleasant land26. Others regarded Palestine purely as a historical museum, or as a place for religious pilgrimage to sites connected with the life and death of Jesus. Ecclesiastical tourism has had the unfortunate tendency of trying to "freeze" the image of the Holy Land in static and pastoral terms, as inhabited solely by shepherds and fisherfolk, sheep and goats, fig trees and vinyards. Political developments were irrelevant to such pietistic purposes. A more defensive response came from those churches already established in Palestine, who feared that a Zionist-led state would see a disastrous increase in "modernism, Marxism and materialism"27. Missionary bodies were apprehensive about the impact on their largely Arab congregations and were increasingly drawn to support the Arab churches or more widely the Arab cause. None of these approaches was designed to recognise the validity of the new State, let alone to foster any idea that the restoration of Israel could be a source of theological renewal for Christianity. It is striking that none of the initial church declarations, deploring the sin of antisemitism and calling for a new epoch in Christian-Jewish relations, made mention of the State of Israel. Neither Nostra Aetate, nor the 1974 Guidelines issued by the Vatican, referred to this topic at all. The first assembly of the World Council of Churches, meeting a few weeks after the proclamation of the State of Israel in 1948, limited itself to the highly reticent comment: "On the political aspect of the Palestine problem and the complex conflict of 'rights' involved, we do not undertake to express a judgment." 28 This reluctance was certainly not accidental, for three main 26 27

The reference is to WILLIAM BLAKE'S well-known hymn "Jerusalem". "Zion without God." In: CHRISTIAN CENTURY, 23 October 1946, p. 1271-2; see also BAYARD S. DODGE: Peace and War in Palestine. In: Christianity in Crisis, 15 March 1948, p. 28.

28

THE FIRST ASSEMBLY OF THE WORLD COUNCIL OF CHURCHES. Official report. New Y o r k 1949, p. 160-4.

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reasons. First, the novelty of this new situation and the unreadiness to assess its theological implications for the church was apparent amongst theologians in many countries 29 . Second, the churches were unwilling to adopt any position of political partisanship which would certainly be divisive amongst their own constituencies. As is well known, for example, the highly vocal pressures exerted by Arab churches was responsible for the omission of any reference to this issue during the Second Vatican Council. The third reason was an apprehension in the aftermath of two world wars about the danger of any revival of nationalist fervour, and hence an aversion to the sacralization of any particular national cause. It was only after the repeated insistence by Jewish representatives that the profound attachment to the land of Israel was an integral, indeed essential part of Jewish faith, that these barriers were breached. In political terms, this led many church bodies to support the various United Nations resolutions affirming the right of Israel to live in peace within secure and recognised boundaries. But at the same time, they have also sought the same advantages for others, including Palestinians. For their part many Jews were understandably disappointed that this acknowledgement of Israel's right to existence has not been more forcefully expressed, especially at times when their nation has been menaced by violence and invasion30. In 1967 and 1973, for example, there was considerable disillusionment over the churches' stance in these crises. But it may be suggested that Christian silence on these occasions was prompted not so much by indifference, or by any desire to deny Israel's right to exist, but rather from conflicting moral concerns, on which the churches were themselves deeply and even theologically divided. As a result, many Christians have been reluctant to endorse the Jewish position on the religious significance of the Land, lest they be drawn into a political endorsement of the specific actions and policies of successive Israeli governments. This dilemma still remains. For these reasons, the first official church pronouncement which went beyond this cautious stance was issued only in 1970 by the Netherlands Reformed Church. The Dutch theologians affirmed not only the unbroken continuity of the biblical promises to the people of Israel, but also the "unique tie which binds Jews and the land of Palestine together ... Therefore we reioice in this reunion of and land" 31 . Similar declarations were subsequently made by the German Evangelical Church in 1975 and the Swiss Protestant Church in 1977. Most forcibly the 29

ROLF RENDTORFF: Israel und sein Land. München 1975, p. 7ff.

30

S. STELZER/M. STACKHOUSE (Hg.): The Death of dialogue and beyond. New York 1969.

31

THE THEOLOGY (Anm. 7), p. 55.

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Rhineland Synod in 1980 declared: "The continuing existence of the Jewish people, its return to the Land of Promise and the creation of the State of Israel are to be seen as signs of the faithfulness of God towards his people." 3 2 In the Roman Catholic Church, the French bishops in 1973 were explicit in declaring: "We Christians must first of all not forget the gift, once made by God to the people of Israel, of a land where it is called to be reunited ... The conscience of the world community cannot refuse the Jewish people, who had to submit to so many vicissitudes in the course of its history, the right and means for a political existence among the nations." 33 But other churches found it impossible to reach a consensus. The World Council of Churches, for example, at the end of the 1970s, struggled to produce its own Guidelines for Jewish-Christian Dialogue, parallel to those enunciated by the Roman Catholics. Its original draft included a positive affirmation of "the indissoluble bond between the Jewish people and the Land of Israel, which has in the present time, after many centuries of exile, found social, cultural, economic and political expression in the reality of the State of Israel. Failing to acknowledge the right of Jews to return to the Land prevents any fruitful dialogue with them" 3 4 . But, after controversial debates within the Council, this statement was overruled, and replaced in 1982 with the much less explicit Ecumenical Considerations for Jewish Christian Dialogue 35 . Similarly the Vatican Notes of 1985 warned Catholics against adopting any particular religious interpretation of the relationship between Land and People. Instead, in an attempt to guard so-called 'fundamentalist' views, whether Protestant or Jewish, it believed: "The question of the State of Israel and its political options should be envisaged not in a perspective which is itself religious, but in their reference to the common principles of international law." 3 6 But such a substitution of purely secular principles was bound to be found inadequate by Jews, conscious of the Vatican's continued failure to extend diplomatic recognition to the State of Israel, and also by Christians persuaded of the necessity of accepting the Jewish appreciation of the significance of the Land. More perceptive was the view adopted by the U.S. Presbyterian Church in 1987, which called for the recognition that God's promise of land also bears with it obligations: "'Land' is to be understood as

32

IBID., p . 9 2 .

33

E . F I S H E R / L . KLEINICKI, In O u r T i m e ( A n m . 19), p . 96.

34 CURRENT DIALOGUE, NO. 2 Autumn 1981, World Council of Churches, Geneva, p. 5-11. 35 THE THEOLOGY (Anm. 7), p. 34ff. 36

E . F I S H E R / L . KLEINICKI ( A n m . 19), In O u r T i m e , p . 49.

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more than place or property: 'land' is a biblical metaphor for sustainable life, property, peace and security. We affirm the rights to these essentials for the Jewish people. At the same time, as bearers of the good news of the gospel of Jesus Christ, we affirm these same rights in the name of justice for all peoples." 3 7 The dilemma of how to translate such principles into reality, however, still remains unsettled. In the light of the continuing daily violence and tensions in the Middle East, it is small wonder that many Christians are baffled and confused, sharing the view expressed by the Church of Scotland: "We are aware that in dealing with these matters we are entering a minefield of complexities across which is strung a barbed-wire entanglement of issues, theological, political and humanitarian." 38 T w o factors, one political, one theological, it may be suggested, are currently uppermost in the reactions of Christians today. First, there has been a significant change in the political appreciation of the State of Israel. Israel's overwhelming defeat of its enemies in 1967 altered the widespread perception of earlier years, which saw her as a beleaguered island of democracy confronting a sea of hostile and autocratic Arab states. In the last two decades, the evident militarization of the whole Middle East area, including Israel's continued military predominance, the conflicts in Lebanon, Iran, Iraq and the Gulf War, have alarmed and dismayed those Christians who believe that military power should not be the basis for political peacemaking. On these issues, most Christians have been torn between the rival claims of competing political stances. Those who have urged the necessity of a just peace between the various parties involved have been frustrated by the seeming impossibility of finding diplomatic and acceptable solutions. Those who recognise the validity of Israel's claims to secure boundaries are nevertheless distressed by the intractable problems caused by the occupation of the West Bank and Gaza. Many Christians, out of humanitarian sympathy for the indigenous churches, or as advocates of the principles of human rights and political self-determination, have now come to champion the cause of the Palestinian people. The World Council of Churches in 1983, for example, in the aftermath of the Lebanon struggles, went so far as to "remind Christians in the Western world to recognise that their guilt over the fate of the Jews in their countries may have influenced their views of the conflict in the Middle East and has often led to uncritical support of the

37

THE THEOLOGY ( A n m . 7), p. 117.

38

IBID., p. 116.

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policies of the State of Israel, thereby ignoring the plight of the Palestinian people and their rights" 39 . Ten years later, this unresolved clash of political loyalties still continues to cause tension and division within the Christian churches. It is important to recognise that there has also been a significant shift in theological attitudes. After 1945, the preoccupation of the churches, as a result of two world wars and the subseouent threat of nuclear annihilation, was their search for a peaceful and lasting settlement of political issues, seeking to overcome the political disorders of world society. But during the 1960s and 1970s the process of decolonization and the appearance of numerous "younger" churches from Asia, Africa and Latin America, led to a wider emphasis on the continuing problems of economic exploitation, social injustice and racism. Considerable impact was made by the so-called "theology of Liberation" 40 . The result was to reinforce the conclusion already learnt by many Christians from the churches' failures during the second world war, including their lacklustre response to the Holocaust. The emphasis has now shifted to a more explicit commitment to the conviction that the churches' role should no longer be to provide moral guidance for the powers that be, let alone theological justification for any political status quo, but rather to give active support to the victims of oppression, injustice and exploitation. Institutionally the churches were being challenged to exercise a preferential option for the poor, in solidarity with the oppressed in all lands. This radical alteration in perspective sought to mobilise the churches no longer to sustain, but to challenge, the forces of institutionalized violence and power. Such a view welcomed the disappearance of the Constantinian era and its associated theological and ecclesiastical structures of Christian dominance and imperialism. Instead, it has sought to return to the prophetic voices of early Israel, such as Jeremiah, Isaiah and Micah, calling for righteousness and justice for all women and men in a renewed and participatory world order. The implications of this new theological perspective for the Middle East have proved to be no less contentious than before. Those Christians who believe that an individualistic concept of justice is the highest ethical imperative have adopted unilaterally the cause of the Palestinians and denounced the denial of human and political rights. But others hold reconciliation to be the abiding Christian calling and recognise that any lasting relationship bet-

39

W O R L D COUNCIL OF CHURCHES SIXTH ASSEMBLY, V a n c o u v e r 1983. S t a t e m e n t o n t h e M i d d l e

East. Geneva 1983. 40 For a critical evaluation, see O. MADURO (ed.): Judaism, Christianity and Liberation. An agenda for dialogue. New York 1991.

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ween Jews and Arabs must include consideration and respect for Jewish peoplehood and for the State of Israel as its political expression. In their view, the tragic Israeli-Palestinian conflict must not become yet another barrier between Christians and Jews, let alone the occasion for any revival of antisemitic feelings. Rather a solution for this intractable problem should be the concern of all moral persons. And there are still others who are sensitive to the legacies of Christian triumphalism and misguided missionary endeavours in the Middle East. Christians, they believe, should remember that the church carries a heavy burden of guilt not only for the Holocaust and the appalling inheritance of Christian antisemitism. It also has to remember the centuries of denigration of Islam, and the high-handed manner in which European Christian nations disposed of territories and peoples in the Middle East during the days of imperial domination. If their pronouncments and actions are to find credibility and influence, the churches must in all honesty face the question of their past record, and first earn their acceptance by all contending parties. They have to realise that indignation is the least helpful moral stance in the Middle East. Sorrow is much more appropriate - not a passive sorrow but an active sorrow which still seeks to find the path of reconciliation and reconstruction41. In the last fifty years, Christians have begun the task of coming to terms with the grievous errors of the past. They have responded to the horrors of the Holocaust with a firm commitment to fight antisemitism alongside their Jewish neighbours and to embark on an active and frank course of dialogue with their long-estranged Jewish sisters and brothers. At the same time, they have sought to mobilise concern for the marginalised and suffering peoples of the Middle East, through impressive service to the refugees and homeless. But the complexities of this tragically ambiguous conflict still persist. The Middle East remains charged with the passion of religious conviction, both within and among religious communities. Religious perspectives are used to support political programmes, and may even be found encouraging intolerance and antagonism. Many Christians who have become more sensitive to the misuse of their theology in the past are now committed to an inter-faith partnership in facing the dangers and difficulties that lie ahead. They will surely agree with the words of one of the most notable champions of an improved relationship between Jews and Christians, Gerhard Riegner:"In the midst of a world torn apart by conflict, violence, poverty, exploitation and social injustice, a concerted effort of all spiritual forces is more necessary than ever if we want to overcome the calamities and suffering, the threats 41

PEACE, JUSTICE AND RECONCILIATION IN THE ARAB-ISRAELI CONFRONTATION. A C h r i s t i a n

Perspective. New York 1979, p. 11.

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and dangers of the present. The organisation of an ongoing collaboration in this field is a serious challenge for the future." 42 In accepting this challenge, both Christians and Jews can surely take heart from the significant but still incomplete steps achieved in the past thirty years, and together resolve to dedicate themselves anew to the common service of humanity in righteousness, justice and peace, tsedeq, mishpat and shalom.

42 GERHARD M. RIEGNER: Nostra Aetate Twenty Years After; quoted in: FIFTEEN YEARS (Anm. 15), p. 285.

Georg Kretschmar DIE EVANGELISCH-LUTHERISCHE KIRCHE IN RUßLAND UND ANDEREN STAATEN*

1. Rückblick Als der hl. Augustin 411 in Karthago gegenüber den Donatisten erklären sollte, was seine Kirche und er selbst seien, hat er auf die Weisung des Auferstandenen Herrn Christus verwiesen, das Evangelium von Jerusalem aus allen Völkern zu verkündigen (Lk 24, 46 f.). Dort haben wir alle unseren Ursprung, und dieser Auftrag gilt allen Kirchen. Wenn wir uns genauer vorstellen wollen, müssen wir von unserer Geschichte erzählen, letztlich seit den Aposteln und Jerusalem. Das gilt auch, vielleicht besonders, für die Kirche, für die ich hier spreche. Ohne Rückgriff auf die Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rußland kann man nicht von ihrer Gegenwart sprechen. Auch sie ist apostolische Kirche; ihre konkreten Anfänge liegen im 16. Jahrhundert bei finnischen Kriegsgefangenen in Nischnij-Nowgorod und bei Kaufleuten wie Offizieren vorwiegend deutscher Nationalität in Moskau. Im 18. Jahrhundert weitete sich der Raum und wurde die Kirche deutsch. Peter der Große fügte das Baltikum seinem Reiche ein; vor allem Katharina die Große holte Siedler in die den Türken entrissenen Südgebiete an der Wolga und am Schwarzen Meer. Weitere Einwanderer auch in den Kaukasus kamen mit hohen Privilegien bis ins 19. Jahrhundert. Die Verschmelzung dieser drei Gruppen ist nie gelungen. Kaufleute und Offiziere blieben ein eigener Schlag von den großen Städten Zentralrußlands bis Sibirien neben dem baltischen Adel und den baltischen Städten. In St. Petersburg kam beides zusammen. In den bäuerlichen Kolonien an der Wolga und am Schwarzen Meer, im Kaukasus, waren unter den Einwanderern pietistische Traditionen bruderschaftlicher Prägung lebendig. Die in Dorpat im Baltikum ausgebildeten Pastoren hatten hier oft ihre Schwierigkeiten. Deutsch war die

*

Referat vor dem Konvent der zerstreuten evangelischen Ostkirchen e.V. im WilhelmKempf-Haus in Wiesbaden-Naurods vom 27.-29.9.1993 mit dem Gesamtthema: Alte Heimat - neue Heimat - ewige Heimat.

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Sprache der Kirche, aber zu ihr gehörten Lutheraner - auch Reformierte verschiedener Nationalität, Finnen, Esten, Letten, Schweden, Dänen. In St. Petersburg wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der Marienkirche auch Gottesdienst in russischer Sprache gehalten. Nach dem Ende des Zarenreiches und der Oktoberrevolution wurden die baltischen Staaten selbständig mit eigenen lutherischen Kirchen - die finnische Kirche und das lutherische Konsistorium in Warschau in Kongreßpolen hatten nie zur Evang.-Luth. Kirche in Rußland gehört. Die Religionsverfolgungen schon unter Lenin, aber vor allem unter Stalin vernichteten alle kirchlichen Leitungsstrukturen der Lutheraner in der nunmehrigen Sowjetunion. Fast alle Pastoren kamen um. Die Kirchengebäude wurden allmählich sämtlich enteignet - die letzten 1937 in Moskau und Leningrad -, die meisten zerstört. Was blieb, waren die bruderschaftlichen Strukturen in den Gemeinden, vor allem an der Wolga. Die unter Lenin konstituierte Wolgadeutsche Republik bot natürlich keinerlei Schutz für christliche Gemeinden. Die Zwangsverschleppung 1941 zerschlug auch diese Gemeinden, ja die Familien. In den von rumänischen und deutschen Truppen besetzten Gebieten am Schwarzen Meer blühte das kirchliche Leben noch einmal auf; die meisten Gemeinden flohen gegen Kriegsende mit den abziehenden Armeen der Besatzer. Das Ende des 2. Weltkrieges verschob erneut Grenzen. Jetzt gehören Galizien, nun die Westukraine, und das nördliche Ostpreußen, der Distrikt Kaliningrad, zur Sowjetunion, Territorien mit reicher lutherischer Geschichte; aber nur das Land schien geblieben, nicht die Menschen; es gab keine Gemeinden mehr. Dagegen waren in den baltischen Staaten, die nun auch Sowjetrepubliken geworden waren, die lutherischen Kirchen und ihre Strukturen zwar beschädigt, aber trotz Unterdrückung doch erhalten geblieben. N u n wäre zu berichten, wie sich in den Verschleppungsgebieten Kasachstans und Sibiriens langsam wieder neue Gemeinden bildeten, eben in der bruderschaftlichen Tradition von Wolga und Ukraine; nur an ganz wenigen Orten gab es noch Siedlungskontinuität von der Zeit vor der Revolution zum Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg und damit auch eine - eingeschränkte - Gemeindekontinuität wie in Schlangendorf (Sniewka) am Dnepr oder in Schilling im Bezirk Omsk in Sibirien. Es müßte vom treuen Dienst der letzten überlebenden Pastoren gesprochen werden: Arthur Eugen Pfeiffer, zuletzt in Moskau, der 1974 starb, gezeichnet von den Folterungen der 30er Jahre - Johannes Schlundt, den sein Lebensweg von der Wolga nach Sibirien, dann Luga (im Ingermanland) und Prochladny im Kaukasus geführt hatte; 1973 kam er nach Deutschland und ist hier am 25. März 1993 verstorben - Eugen Bachmann aus Worms bei Odessa in der Ukraine, Student des Theologischen Seminars im damaligen Leningrad, dort 1931-1934 Pastor an

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der St. Annen-Kirche, später in Kasachstan, 1955 hat er in Akmolinsk - später Zelinograsd, heute Akmola - den ersten Antrag auf Registrierung einer Evang.-Luth. Gemeinde gestellt; seit 1972 war er nach einem Herzinfarkt und Hirnschlag nach Deutschland übergesiedelt; zum ersten Gottesdienst wieder in seiner Annenkirche in St. Petersburg am 14. Februar 1992 hat er noch ein Glückwunschtelegramm senden können; am 25. September 1993 hat ihn Gott heimgerufen. In ihre Arbeit trat vor 26 Jahren P. Harald Kalnins aus Riga ein und hat sie weitergeführt. Auch wenn er seinen Besuchsdienst bei deutschen lutherischen Gemeinden in Kasachstan und Sibirien nicht im Auftrag der lettischen Kirche tat, so bot ihm selbst doch sein Amt als Pastor der Jesus-Kirche in Riga eine legale Basis, wie sie keiner der genannten Pastoren mehr zur Verfügung hatte. Im Zuge der Aufweichung der sowjetischen Religionspolitik konnte er Schritt für Schritt die deutschen Gemeinden in Kasachstan und im übrigen Mittelasien wie in Sibirien sammeln; später war es dem Lutherischen Weltbund möglich, ihn zu unterstützen; 1980 durfte er in Tallin, dem alten Reval, als Superintendent für diese Gemeinden eingesetzt werden. 1988 kam die Stunde, daß das Regime bereit war anzuerkennen, daß es nicht nur lutherische Gemeinden gibt, sondern daß die Kirche nicht untergegangen war. Sie durfte sich im Rückgriff auf die Verfassung von 1924 wieder konstituieren, Harald Kalnins wurde ihr Bischof, am 13. November 1988 in Riga konsekriert, als Nachfolger der Bischöfe in Moskau, Theophil Meyer (gest. 1934) und in Leningrad, Arthur Malmgren (gest. 1947). In den Jahren der Vertreibung und Unterdrückung seit 1941 sind bei denen, die Christen geblieben waren, die Erfahrung der Repression wegen des Glaubens und wegen der deutschen Nationalität miteinander verschmolzen. Die kleinen Gruppen, die sich dann zu Gemeinden gesammelt haben, erfaßten etwa 2 oder 3 % der Vertriebenen deutscher Herkunft. Sie hatten ihren Glauben bewahrt in scharfer Abgrenzung von der gottlosen Umwelt; apokalyptische Erwartungen waren und sind in ihnen lebendig. Kennzeichen des Gläubigen ist nicht nur die Bekehrung, sondern auch ein Lebensstil, der faktisch eine Beteiligung an den kulturellen und bildungsmäßigen Möglichkeiten der Umwelt ausschloß. Diese tapferen Gemeinden bestimmten nun weitgehend das Bild, das man sich in Deutschland und anderen Ländern von unserer Kirche machte. Dabei kam allerdings kaum in den Blick, daß es den ingermanländischen Finnen, auch Gliedern unserer Kirche, nicht anders ergangen war als den Deutschen; seit 1940 sind Zehntausende von Letten und Esten ebenfalls nach Sibirien verschleppt worden, viele leben noch heute dort. Aber unter den Bedingungen der sowjetischen Herrschaft konnte der Blick nirgends über den je eigenen Kreis hinausgehen.

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2. Veränderungen Seit dem Ende dieses Systems und seiner Religionspolitik, dann dem Zerfall der Sowjetunion, hat sich dies Bild erheblich verschoben. Die neue Freizügigkeit hat vier Bewegungen ausgelöst, die ich nacheinander nennen muß, auch wenn erst ihr Wechselspiel ein Gesamtbild ergibt. 1) Der politische Wandel bis zum Zerfall der Sowjetunion ist in den Gemeinden des Ostens kaum als Befreiung empfunden worden. In den mittelasiatischen Republiken gerieten sie - wie die orthodoxen Russen - unter den Druck der Renaissance des Islams. In Kasachstan hatten sie kaum wirklich Wurzeln geschlagen. Von den Bemühungen um eine politische und kulturelle Sammlung der Deutschen hielten sie sich weitgehend fern - deren Träger kamen aus den Bildungseliten der Sowjetzeit. Diese hatten in der Regel keinen Kontakt zu den Gemeinden, und die Gläubigen mißtrauen ihnen. Politisches Engagement ist ihnen sowieso weltlich und nicht geistlich. Die alten Kräfte, ja Tugenden, die ihnen das treue und tapfere Durchhalten in der Zeit der Unterdrückung und Verfolgung möglich gemacht hatten, schlössen keine Mitverantwortung für die Nicht-Gläubigen ein. Das heißt konkret, daß die neue Freiheit primär als Freiheit zur Auswanderung erfahren wird. Das ist eine überaus grobe und pauschale Charakterisierung. Der Auswanderungsdruck ist in Tadschikistan als Folge des Bürgerkrieges natürlich stärker als in Kasachstan oder Sibirien. Unsere Gemeinden sind auch sehr selektiv betroffen; bedrängend ist, daß es sehr oft gerade die Jüngeren, die Aktiven sind, die, auf die man Hoffnung für die Zukunft gesetzt hat, die nun auswandern. Bestärkt wird diese Bewegung durch die gerade unter den Gläubigen um sich greifende apokalyptische Überzeugung, daß der Herr, wenn Er kommt, jedes Volk in dem Land anzutreffen wünscht, das Er ihm zugeteilt hatte, die Deutschen also in Deutschland. Auch dies ist ein gänzlich unpolitisches Konzept, nicht an heutigen Grenzen orientiert. Ostpreußen ist für dieses Denken altes deutsches Gebiet, gleich welche Flagge über dem Land weht. Das ist einer der Gründe für den kontinuierlichen Strom von Einwanderern aus Kasachstan in den Bezirk Bernstein, den Oblast Kaliningrad. 2) Die zweite Bewegung hat für unsere Kirche geradezu gegenläufiges Gewicht. Es ist eines der Wunder Gottes in unseren Tagen, daß im Westen, im Europäischen Rußland und in der Ukraine, in den letzten etwa drei Jahren gegen alle Erwartungen immer neue Gemeinden entstanden sind. Die geschichtlichen Vorgänge müßten hier gerade umgekehrt erläutert werden. Hier war tatsächlich alle erkennbare kirchliche Tradition abgebrochen. Auch die Liebe zum christlichen Glauben war nur noch sehr dünn am Leben

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geblieben. Aber Menschen deutscher Herkunft - analog solche finnischer Abstammung - begannen sich auf ihre politischen Rechte zu berufen und in Kulturvereinen zu sammeln. Diese politisch-kulturellen Gemeinschaften besannen sich dann darauf, daß zum deutschen Kulturerbe eben auch der christliche Glaube gehört. Bestärkt wurde diese Rückbesinnung dadurch, daß in vielen Orten ja noch unsere alten Kirchen standen, entweiht, mißbraucht, aber vorhanden. Und die Rückgabeforderung brauchte einen Träger. In Kasachstan hatte es nie lutherische Kirchen gegeben, auch nur ein orthodoxes Gotteshaus - abgesehen von den Gebieten im Norden, die bis zum Zweiten Weltkrieg zu Sibirien gerechnet wurden. In Sibirien waren sie außer in Omsk und in Wladiwostok wohl alle zerstört worden. Aber von Leningrad bis Odessa, von Lemberg bis Perm standen sie und stehen sie noch. Diese Gemeinden im Westen waren ihrer eigenen Herkunft nach politisch aufgeschlossen; sie sind meist ökumenisch interessiert, und sie sind missionarisch. Sie wachsen in der Regel kontinuierlich und sind lernbegierig, auch neue Formen kirchlicher Aktivität zurückzugewinnen in Jugendarbeit und Diakonie. Auswanderung kann auch hier ein Thema sein, aber sie hat einen anderen, niedrigeren Stellenwert. 3) Die dritte Bewegung läßt sich knapp als Sprachwechsel bezeichnen. Daß sich die Mehrzahl der Uberlebenden der Vertreibung nicht etwa den Baptisten angeschlossen haben, hängt sicher mit der eigenen Tradition zusammen, mit dem Kleinen Katechismus Martin Luthers, dem eigenen Liedgut, aber ebenso damit, daß die Baptisten eine russische Kirche mit russischer Gottesdienstsprache sind. Natürlich ist auch bei vielen der von Haus aus deutschsprachigen Familien die Umgangssprache inzwischen längst russisch. In der Öffentlichkeit, in den Schulen war der Gebrauch der deutschen Sprache untersagt. Ehen mit nicht-deutschen Partnern haben die Tendenz zum Abstreifen der ursprünglichen Muttersprache verstärkt. Das gilt natürlich besonders für die Jüngeren. Da unter dem alten Regime kirchliche Jugendarbeit völlig verboten war, fiel es damals kaum auf, daß unter den Kindern, unter Jugendlichen, die deutsche Sprache weithin zur Fremdsprache geworden war. Im Westen war mit dem viel radikaleren Traditionsbruch die Kenntnis des Deutschen bei den allermeisten geschwunden. Auch hier ist dann bei der Neusammlung in der Regel Gottesdienst in deutscher Sprache als Identitätsmerkmal gewünscht worden, wie bei den Finnen in der Regel das Finnische. Aber es steht heute außer Frage, daß auch Gottesdienste in russischer Sprache notwendig sind, zumindest die Predigt wird in immer mehr Gemeinden in beiden Sprachen gehalten oder übersetzt. Das gilt zunehmend auch im Osten. Russisch ist die Sprache der Jugend und der Zukunft.

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Damit schwindet aber auch eine fundamentale Hemmschwelle für Menschen anderer Nationalität, sich unseren Gemeinden anzuschließen. Wir waren nie eine Nationalkirche, wir mußten uns für vier Jahre "deutsche Kirche" nennen - zur Unterscheidung von den lutherischen Kirchen des Baltikums in der damals noch bestehenden Sowjetunion. Und natürlich bleiben wir eine Kirche mit starker deutscher Tradition. Aber wir sind nun wieder auch dem Namen nach das, was wir bis 1988 waren: Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland - nun mit einer Ergänzung, die auf die inzwischen selbständig gewordenen Staaten der Ukraine, Kasachstans und Mittelasiens verweist, oder kurz: in Rußland und anderen Staaten. Ob es in Zukunft neben einem zweisprachigen Gottesdienst auch Gottesdienste nur in russischer Sprache geben soll, wird jede Gemeinde nach ihrer besonderen Lage entscheiden müssen. Aber es liegt nicht in der Absicht unserer Kirche, nach Sprachen getrennte Strukturen zu entwickeln. Etwas anders ist der Weg der ingermanländischen Finnen verlaufen. Nachbarschaft und Sprachverwandtschaft hatten es möglich gemacht, daß sie unter dem Schirm der Evang.- Luth. Kirche Estlands als eigene Propstei sich früher wieder sammeln konnten als unsere Kirche. Seit Anfang 1992 bilden sie eine eigenständige Kirche, nun auch mit eigenem Bischof. Sie haben jetzt eine eigene Propstei für die finnischen Gemeinden russischer Spache gebildet. Es wäre vermutlich keine gute Entwicklung, wenn sich dieses Modell auch nach Sibirien ausbreiten sollte, d.h. daß dort - abweichend von der vorrevolutionären Zeit - zwei lutherische Kirchen nebeneinander stehen würden, beide mit russisch-sprechenden Gemeinden, die eine in unserer Tradition, liturgisch also der Tradition St. Petersburgs, die andere in finnischer Tradition. Der Sprachwechsel trifft jedenfalls uns alle, wie immer wir ihn aufnehmen. Und überall stehen wir vor der gleichen Aufgabe: Menschen, die planmäßig der Verwurzelung in ihrer Heimat beraubt wurden, in unseren Gemeinden wieder Heimat zu geben. Dazu gehört der Gebrauch der Sprache, die Identität ausdrückt und stiftet. Zugleich aber haben wir unseren Ort in diesem weiten Land in Gemeinschaft mit den anderen Kirchen zu finden, in den Sprachen dieser Länder. Realistisch geht es dabei primär nicht um das Ukrainische, Kasakische und Usbekische, sondern um das Russische. Hierüber besteht zwischen unserer ingermanländischen Schwesterkirche und uns völlige Einmütigkeit; dann werden wir auch zu gemeinsamen praktischen Lösungen kommen, im Raum St. Petersburg und in Sibirien. 4) Die vierte Folge der neuen Lage ist, daß die Grenzen auch in umgekehrter Richtung durchlässig geworden sind. Das hat problematische und gute Seiten. Zu den problematischen gehört es, daß nun Missionen in kaum noch zu überblickender Dimension aus Amerika und Deutschland in Rußland ihr neues Zielgebiet erkannt haben. Manche dieser Gruppen pietistisch-

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fundamentalistischer Prägung sehen den Bereich der ehemaligen Sowjetunion als gottloses Territorium an, in das sie, diese Gruppe, erstmalig das Evangelium bringen, jedenfalls das, was ihnen als Evangelium gilt. Die Russische Orthodoxe Kirche sieht zunehmend in diesem Einbruch westlicher Missionare christlicher und nichtchristlicher Religiosität (Hare Krishna, Transzendentale Meditation) eine tiefe Bedrohung, gegen die sie auch Schutz bei den staatlichen Organen sucht. Wir stehen in der gleichen Situation; insbesohdere die Neuapostolische Gemeinschaft und die Adventisten haben viele Gemeinden lutherischer Tradition übernommen, in die wir keine Prediger entsandt haben, weil unsere Kraft zu schwach war. Das Engagement dieser Sekten ist bewundernswert, das gilt für den Einsatz der Missionare wie das finanzielle Engagement der hinter ihnen stehenden Träger, ihrer Gemeinden in Deutschland und Amerika. Diese Missionen sind viel besser ausgestattet als wir; allein die drucktechnische Qualität ihrer Gemeindeblätter zu sehen, ist für uns erschreckend und beschämend. Es mag höchst problematisch sein, diesen Aktivitäten dadurch zu begegnen, daß die Tätigkeit ausländischer Missionare durch staatliche Gesetze erschwert wird. Aber man sollte doch sehen, daß unsere Bitten um Hilfe an Schwesterkirchen auch im Kontext der missionarischen Aktivität anderer Gemeinschaften unter unseren - potentiellen - Gläubigen stehen. Damit komme ich zu den positiven Aspekten der neuen Durchlässigkeit von außen zu uns. Doch zuvor sei noch eingefügt, daß es auch lutherische Kirchen in Amerika gibt, die mit hohem Mitteleinsatz in Rußland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien tätig werden wollen und tätig werden. Die größte und wichtigste unter ihnen ist die Lutheran Church - Missouri Synod. Sie hat beschlossen, mit den lokalen lutherischen Kirchen nach Möglichkeit zusammenzuarbeiten und keine eigenen Gemeinden zu gründen. Wir haben - leider - keine sakramentale Kirchengemeinschaft, aber es hat sich eine aufs Ganze gesehen gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt. Doch es gibt andere lutherische Gemeinschaften, die jede Zusammenarbeit ablehnen. Die wichtigste Folge dessen, was ich neue Durchlässigkeit genannt habe, ist es, daß wir Hilfe aus Schwesterkirchen, vor allem aus Deutschland, bekommen können und erhalten. An sich gehört hierher natürlich auch die eben skizzierte Zusammenarbeit mit der Missouri-Synode und die Hilfe, die wir durch den Lutherischen Weltbund bekommen. Aber fast überall in der Welt geht man davon aus, daß unsere Kirche eben die Kirche der Rußlanddeutschen sei, die auf gepackten Koffern sitzen, um nach Deutschland auszuwandern. Wenn denn überhaupt noch Hilfe von Nöten sein sollte, dann wäre dies doch Sache der Deutschen. Es ist das zentrale Anliegen meines

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Berichtes zu zeigen, daß diese Sicht einseitig und unangemessen ist. Aber natürlich ist Deutschland unser nächstes und wichtigstes Partnerland. Und die deutschen Kirchen haben geholfen. Zuerst konnten die Diaspora-Hilfswerke aktiv werden, das Gustav-Adolf-Werk in der früheren DDR schon seit den 60er Jahren, später auch der Martin-Luther-Bund mit Sitz in Erlangen; dann das Gustav-Adolf-Werk West in Kassel, inzwischen dann auch einzelne Landeskirchen und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Früher war es vor allem um Literatur gegangen, Bibeln in deutscher und russischer Sprache, Predigt- und Liederbücher, Katechismen; bisweilen auch humanitäre Hilfe. Das alles hat auch heute Bedeutung. Anderes ist hinzugekommen, Hilfe beim Wiederaufbau unserer Kirche; davon wird noch zu reden sein. Aber das wichtigste sind nun Menschen, Brüder, Schwestern, die in Deutschland freigestellt werden, um in unserer Kirche zu arbeiten. Die eigenen Kräfte reichen angesichts der wachsenden Aufgaben nicht. In den Brüdergemeinden hatten einst die älteren Brüder jüngere nach sich gezogen und in die Arbeit eingewiesen. Das läuft heute nicht mehr in der alten Weise. In den Großstädten im Westen sind die Gemeinden sowieso anders zusammengesetzt, in St. Petersburg, in Moskau, in Königsberg, in Kiew. Sie brauchen ausgebildete Pastoren, wie wir sie zumindest in genügender Zahl aus den eigenen Reihen noch nicht haben. So sind nun Pfarrer aus Deutschland in allen Sprengein unserer Kirche tätig, als Pastoren unserer Kirche, aber freigestellt von ihren deutschen Landeskirchen, finanziert durch die EKD; im Europäischen Rußland vier; in Sibirien (demnächst) zwei; in Kasachstan z.Zt. einer, in der Ukraine drei (darunter 2 nicht aus der EKD); ein Pastor in Kasachstan kommt aus Amerika. Auch für den Aufbau der Bischofskanzlei, des zentralen Kirchenamtes in St. Petersburg, werden zunächst Mitarbeiter aus Deutschland gebraucht. Ohne diese Hilfe wäre das, was an Sammlung und Aufbau geschieht, nicht möglich gewesen und auch jetzt nicht zu schaffen. Natürlich bringt dieses Wirken von Pastoren deutscher kirchlicher Herkunft in unseren Gemeinden auch Probleme mit sich. Aber zunächst habe ich nur zu danken, zu danken diesen Brüdern selbst, den Kirchen, die sie freigegeben haben, und der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der gegenwärtige Zustand unserer Kirche und alle Planung für die Zukunft lassen sich nur im Koordinatensystem dieser vier Bewegungen beschreiben. Dabei ist es sicher am einfachsten, die äußeren Daten der Strukturierung zu nennen. Im Jahr 1993 haben bereits vier regionale Synoden stattgefunden, im Januar in Odessa für die Ukraine, im Mai in Almaty (Alma Ata) für Kasachstan, im Juni in Omsk für Sibirien, Ende Juli bis Anfang August in Moskau für das Europäische Rußland. Für die Tage vom 12. bis 14. November wurde die konstituierende Synode der "Eparchie der

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evangelisch-lutherischen Gemeinden in Usbekistan" nach Taschkent einberufen. Im Frühjahr 1994 soll eine entsprechende Synode auch in Kirgisien stattfinden. Es ist vorgesehen, 1994 auch zur Generalsynode unserer Kirche einzuladen; seit der Synode in Moskau 1924 werden dann 70 Jahre vergangen sein. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Errichtung neuer Strukturen, wenngleich diese Synoden gewiß in den Rahmen einer mit Leben zu erfüllenden Verfassung und damit einer Vision von der künftigen Arbeit unserer Kirche gehören. Schon die Vorbereitung einer Synode, insbesondere einer den Sprengel (russ.: die Eparchie) konstituierenden Synode durch Besuche in den Gemeinden ist ein pastoraler Dienst. Im Blick auf die konstituierenden Synoden des Jahres 1993 nenne ich die Namen von Bischof Dr. Heinrich Rathke für Kasachstan, P. Siegfried Springer für das Europäische Rußland, P. Stefan Reder für Mittelasien. Natürlich ermöglichen die Synoden auch einen Uberblick über den Bestand an Gemeinden und ihre Größe. In der Regel haben jeweils etwa die Hälfte bis zwei Drittel der eingeladenen Gemeinden ihre Vertreter entsandt. Deutlich wird, daß die Sammlung noch nirgends abgeschlossen ist. In der Baschkiren-Republik südlich des Ural haben der Bischöfliche Visitator des Europäischen Rußland, P. Siegfried Springer, und P. Johannes Launhardt erst kurze Zeit vor der Synode mit dem Aufbau einer Gemeinde in Prischib begonnen, in einem Gebiet, in dem Tausende von Deutschen lutherischer Herkunft leben, die seit Jahrzehnten keinen Gottesdienst mehr gefeiert, keinen Pastor zu Gesicht bekommen hatten. Es gibt offenbar noch manche solcher Gebiete. Im Altai-Krai in Sibirien gibt es noch Gemeinden, aber keinen Leiter mehr. Wir bekommen Hilferufe aus Weißrußland, aus Georgien. Die Sprengel bieten ein sehr unterschiedliches Bild. Kasachstan ist am stärksten von der Auswanderung gezeichnet. Die Gemeinden werden kleiner und mutloser. Von den 243 Gemeinden im Anschriftenverzeichnis unserer Kirche geben nur 21 an, daß sie hundert und mehr Mitglieder haben; viele melden unter zehn. Aber damit läßt sich keine brauchbare Statistik erstellen. Bei Visitationsreisen stellt sich immer wieder heraus - nicht nur in Kasachstan -, daß hinter einer Adresse längst keine Gemeinde mehr steht; dafür "findet" man dann vielleicht vier Orte mit zwar kleinen, aber eben vorhandenen Gemeinden, von denen niemand etwas gewußt hatte. Auch hier sind die regionalen Unterschiede in diesem riesigen Territorium - dem sechstgrößten Flächenstaat der Erde - beachtlich, und vor allem bleibt die Aufgabe, das Evangelium überhaupt zur Mehrzahl der Menschen zu bringen, die aus lutherischer Tradition kommen. Wenn in eine inzwischen verwaiste Gemeinde wie Akmola wieder für einige Wochen ein Pastor kommt, hat er 140 Menschen zu taufen und 46 Christen zu konfirmieren, so P. Edgar Born

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im Juli 1993. - Im Europäischen Rußland sind die Unterschiede zwischen den Großstädten und mehr ländlichen Bezirken auch nicht zu verkennen. Im allgemeinen wachsen die Gemeinden bisweilen sprunghaft; es gibt keine Resignation. In den Städten sind alle Alters- und Bildungsschichten in den Gemeinden präsent, die Mehrzahl der Gemeindeglieder kommt aus dem Bürgertum wie schon vor der Revolution von 1917; Akademiker sind in größerer Zahl vertreten. Rußlanddeutsche gibt es in Kasachstan um ein vielfaches mehr als westlich des Ural. Aber in der Zahl der Gemeindeglieder wird der Unterschied immer geringer. - Dazwischen liegt Sibirien. Auch hier wachsen Gemeinden, teilweise durch Umsiedler aus Kasachstan; es gibt Auswanderer, und vor allem gibt es Gemeinden ganz unterschiedlicher Prägung, bald von bruderschaftlicher Tradition bestimmt wie in Kasachstan, bald wie die städtischen Gemeinden des Westens. Und hier wird es wichtig, Deutsche, Finnen, Letten und Russen in den Gemeinden zusammenzuführen. - Die Ukraine ist ein besonders schwieriges Pflaster, auch deshalb, weil die Gemeinden hier besonders ausgeprägt ohne Anschluß an irgendeine Tradition und an vielen Orten zunächst ohne Prediger oder Pastoren beginnen mußten. Auch hier ist die Sammlung noch längst nicht abgeschlossen; zur konstituierenden Synode Ende Januar/Anfang Februar 1992 waren sechs Gemeinden eingeladen worden; zur Synode im folgenden Jahr hatten 17 Gemeinden Vertreter entsandt. Als Ergebnis dieser Synoden haben die teilnehmenden Gemeinden erfahren, daß sie nicht allein sind in ihrem Gebiet; die Sprengel haben einen eigenen, synodal gewählten oder bestätigten geistlichen Leiter, die Superintendenten Nikolaus Schneider für Sibirien, Viktor Gräfenstein für die Ukraine, Richard Kratz für Kasachstan, und für das Europäische Rußland Siegfried Springer als nun gewählten Bischöflicher Visitator. Damit sind auch Administrative Zentren in den Sprengein im Aufbau, die mit den Gemeinden besser Kontakt halten können als die zentrale Bischofskanzlei und durch die den Gemeinden auch in Zukunft die "Literatur" bis hin zum Gemeindeblatt "der Bote" für die ganze Kirche zugeschickt werden soll. Der innere Zustand ist schwerer zu beschreiben und sicher noch stärker differenziert. 70 Jahre Sowjetsystem und Jahrzehnte der Repression haben die Menschen geformt, auch verformt. Es gibt keine Erfahrungen darin, Konflikte nach allgemein anerkannten Regeln zu lösen; man denkt in Freund-Feind-Kategorien, immer in Angst, daß alte Kräfte weiter wirksam sind oder neue böse Konstellationen sich zusammenbrauen. Was im Bereich der Politik offenkundig wird, hat Gewalt auch in den Gemeinden. Selbst unter Christen ist das gegenseitige Mißtrauen groß, und Konflikte schlagen leicht in Brüche um. Zugleich sind die Gemeinden in Ost und West bereit, nach Kräften auf die neuen Anforderungen einzugehen, bei der Jugendarbeit

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und - damit verbunden - im Gebrauch der russischen Sprache. Auch dabei sind die regionalen Unterschiede beachtlich. Als Faustregel wird man sagen können: Je isolierter Gemeinden sind, desto fester klammern sie sich an die bisherige Uberlieferung. Visitationen und Synoden stärken das Vertrauen und öffnen für die neuen Aufgaben. Dabei geht es wirklich um Gemeinden, gewachsen um Gottes Wort und die hl. Sakramente. Marksteine im Leben des Christen und der Gemeinde sind die hl. Taufe, die Konfirmation und das hl. Abendmahl. Das verbindet kleine Gruppen, isolierte Familien in Kolchosen und Sowchosen, die sich zu Gebetsstunden zusammenfinden und auf Besuch hoffen, mit den Gemeinden in großen Städten mit regelmäßigem Gottesdienst, vielleicht schon wieder in einem eigenen Kirchengebäude. 3. Aufgaben und Rechenschaftsbericht Ziel des Aufbaus kirchlicher Ordnungen und der Leitung der Kirche ist es, den Gemeinden zu helfen, ihren Auftrag in Rußland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien zu sehen und zu erfüllen nach dem Evangelium. Dazu gehört konkret, (1) diese Gemeinden aus ihrer Isolierung herauszuführen, (2) ihre missionarischen Kräfte zu wecken und (3) das diakonische Engagement zu stärken. Dazu ist es nötig, (4) die Kirchenstrukturen zu festigen, (5) die Zusammenarbeit aller Lutheraner zu fördern und zu strukturieren und so dazu beizutragen, daß (6) unsere Kirche ihren Platz in der Christenheit dieser Länder findet. Die wichtigsten Aufgaben im Dienste dieser Zielsetzung sind: 1) die Ausbildung von Predigern, Pastoren, Katecheten und anderen kirchlichen Mitarbeitern: Die alten Universitätsstädte unserer Kirche waren Dorpat, heute Tartu, und - in geringerem Umfang - Helsingfors, heute Helsinki. Sie lagen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges im Ausland. Statt ihrer hat seit 1922 der spätere Bischof Arthur Malmgren in Petrograd, später Leningrad Lehrkurse begonnen. Die Synode 1924 hat dies Vorhaben legalisiert, 1925 wurde das "Predigerseminar" nach staatlicher Genehmigung offiziell eröffnet; es suchte den Standard europäischer Theologischer Fakultäten zu halten. Faktisch wurde es zu einer Schule der Märtyrer. Nach 1934 mußte es seine Tätigkeit einstellen. Als Bischof Harald Kalnins 1989 wieder ein "Theologisches Seminar" begründete, waren die Voraussetzungen völlig verändert. Gemeinsam mit den Anfängen 1922 war nur, daß sich zu den Kursen von Anfang an Menschen verschiedener Nationalität einfanden. Dagegen konnte es nicht darum gehen, akademische Traditionen einzuführen, sondern Menschen für den Dienst in ihren Gemeinden - den sie in der Regel ja längst übernommen hatten - besser zuzurüsten durch vertieftes Studium der Hl. Schrift, durch Einführung in Glauben und Lehre der Kirche, in ihren

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Gottesdienst, in ihre Geschichte. Wir haben bis heute kein eigenes Haus, und die meisten "Studenten" waren berufstätig. Deshalb kann das Seminar nur zweimal im Jahr zu zwei- bis dreiwöchigen Sessionen einladen, für die ersten 6 Sessionen nach Jurmala oder Riga in Kurhäuser oder Hotels; zur 7. und 8. Session waren wir auf Einladung des Theologischen Instituts der Evang. Kirche A.B. in Siebenbürgen, seit der 9. Session jetzt in der ersten Septemberhälfte kommen wir im Raum St.Petersburg zusammen und wollen hier auch bleiben. Die etwa 25 Teilnehmer kamen und kommen aus allen Altersstufen und bringen sehr unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen mit, vom Absolventen einer Dorfschule bis zum Universitätsdozenten. Inzwischen gehören auch einige junge Frauen aus Sibirien der Gruppe an, die Katechetinnen werden wollen; für das nächste Mal ist aber auch eine Gemeindeleiterin aus Orenburg angemeldet. Zur 9. Session kamen aus dem Europäischen Rußland sieben, aus Sibirien fünf, aus der Ukraine fünf, aus Kasachstan zwei, aus Lettland und Estland je ein Teilnehmer, dazu zwei Litauer (in der Regel sind es mehr) und zwei (drei) Diakone, jetzt Pastoren, der ingermanländischen Kirche. Drei aus Usbekistan angemeldete Brüder konnten nicht kommen, weil sie die Flugkarten in neuen russischen Rubeln hätten zahlen müssen, die so schnell nicht aufzutreiben waren. Gemeinsame Sprache kann unter diesen Umständen nur das Russische sein; da wir kaum Dozenten mit zureichenden Sprachkenntnissen auftreiben können, muß mit Dolmetschern gearbeitet werden. Hier lag bisher auch die Grenze für den Aufbau eines Fernstudiums: wir müssen erst Unterrichtsmaterial in russischer Sprache erstellen. Damit sind indirekt auch die wichtigsten Probleme unserer Arbeit genannt. Sie erwachsen erstaunlicherweise weniger aus der Mischung verschiedener Nationen, Bildungs- und Altersschichtungen. Es ist im Gegenteil für mich fast ein Wunder Gottes, daß ein gemeinsames Arbeiten in solch einer Gruppe möglich ist, daß sie eine Gemeinschaft wird. Aber natürlich gibt es Probleme. Sie hängen zunächst damit zusammen, daß wir eben noch kein eigenes Haus haben und - nicht nur deshalb - auch keinen festen Dozentenkreis. Jede Session muß also neu geplant werden, deshalb gibt es auch noch keinen langfristigen Lehrplan. Vor allem aber gab es in den ersten Sessionen keine vita communis, kein gemeinsames Leben vom Morgengebet über die Mahlzeiten zum Nachtgebet. Das ist nach meiner Uberzeugung ein unabdingbares Element eines derartigen theologischen Seminars. In Siebenbürgen begann sich das zu bessern. Aber damit trat auch eines der tieferliegenden Grundprobleme noch schärfer heraus: die unterschiedlichen Traditionen unserer Gemeinden. Gehört es zur gottgewollten Identität des Gläubigen, daß er nicht raucht? darf man im Sitzen beten? darf man während der Mahlzeiten sprechen, oder schließt das Tischgebet jede weltliche Rede beim

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Essen aus? Darf eine Frau die Abendandacht halten? Daß es bei dieser Wanderexistenz des Seminars nicht möglich war, neue Dozenten stets auf die besondere Herkunft unserer Studenten vorzubereiten, hat bisweilen auch zu Irritationen geführt. Aber wenn man zwei Wochen miteinander lebt, läßt sich auch Vieles klären. Das Stichwort "liberale Theologie" ist nach meinem Eindruck von außen, durch Pamphlete und Agitatoren aus Deutschland zum Thema geworden. Da verständlicherweise in der Gruppe niemand etwas mit Reizworten wie "Liberalismus" oder "Bultmann" oder "Barth" anfangen konnte, mußten wir uns mit der Frage nach dem rechten Umgang mit der Heiligen Schrift auch methodisch beschäftigen, uns nicht nur darum bemühen, ihn zu praktizieren. Aber das ist ja vielleicht heute auch von der Sache her geboten. Dabei ging es immer auch darum, wer eigentlich in ein solches Seminar gehört. Ist es nur für Gläubige im Sinne einer bestimmten Tradition offen, oder hat es Raum auch für Christen, die vorhaben, in der Kirche Gott zu dienen, aber geistlich noch auf dem Wege sind? Wer nicht den Glauben der Kirche als seinen eigenen Glauben angenommen hat und danach sein Leben ausrichtet, kann nicht Diener unserer Kirche sein. Deckt das alles ab, was unsere Brüder unter Bekehrung verstehen? Das alles sind keine Fragen, bei denen es um das akademische Niveau geht, sondern um die Gemeinschaft in unserer Kirche. Lebensrückblicke von Pastoren der 20er Jahre zeigen, daß dies auch damals schon als Aufgabe gesehen worden ist. Ein eigenes Haus gewinnen, also seßhaft werden können wir nicht ohne die Hilfe aus anderen Kirchen. Wer unserer Kirche keine Zukunft gibt, wird auch Investitionen in ein Seminargebäude für überflüssig halten. Um so dankbarer sind wir für den Einsatz von Prof. Dr. Gerhard Krodel aus Gettysburg, der in der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Amerika, unserer eigentlichen Schwesterkirche in den Vereinigten Staaten, Spenden für ein Seminar unserer Kirche gesammelt hat und weiter sammelt, die uns nun instand setzen, mit der Errichtung eines Seminargebäudes in Verbindung mit einem diakonischen Projekt in Tichkowitze südlich von St. Petersburg, in altem finnischem Siedlungsgebiet, zu beginnen. Für den bisherigen Weg des Seminars war ferner die Partnerschaft mit dem Theologischen Institut der Evang. Kirche A.B. in Rumänien in Hermannstadt /Sibiu ganz wichtig. Von dort kamen Dozenten, vor allem Prof. Dr. Hans Klein, dorthin konnten wir gehen, als eine Weiterarbeit im nun politisch selbständig gewordenen Lettland nicht mehr möglich schien. Die Zurüstung von Christen, die dazu bereit sind, für den Dienst in unseren Gemeinden und unserer Kirche bleibt die wichtigste Zukunftsaufgabe. Das Theologische Seminar wird sie nicht allein leisten können. Ich hoffe, daß wir ein dreistufiges Ausbildungssystem aufbauen können: regionale Seminarkurse für künftige Prediger, so wie es Superintendent Gräfen-

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stein für die Ukraine bereits begonnen hat und wie es 1994 Jahr auch in Sibirien erprobt werden soll; dann die Zurüstung künftiger Pastoren im gemeinsamen Theologischen Seminar unserer Kirche; schließlich für diejenigen Studenten, die deutsch verstehen und die vorbildungsmäßigen Voraussetzungen dafür mitbringen, ein Studium in Hermannstadt, wobei sie Mitglieder des Theologischen Seminars bleiben und nach Möglichkeit auch zu den Sessionen kommen. Ein Studium in Deutschland oder Amerika sollte nicht die Regel sein; wir haben Glieder unserer Kirche, die sich für diesen Weg entschieden haben, in Sonderfällen mit unserer Empfehlung. Wir brauchen auch Menschen, die sich im Ausland einer Sonderausbildung im katechetischen oder diakonischen Bereich unterziehen, um dann eigene Kurse in russischer Sprache in Rußland oder den anderen in unserem Namen genannten Staaten anbieten zu können. Aber wir dürfen es nicht zulassen, daß auf die Dauer zwei Klassen von Pastoren in unserer Kirche nebeneinander stehen, die einen, die ihre Prägung in einem Studium im Ausland erhalten haben, die anderen, die im Lande ausgebildet worden sind. Andererseits brauchen wir Diener am göttlichen Wort in unterschiedlichen Aufgabenfeldern: Frauen und Männer, die als Prediger in ihren Gemeinden eingesegnet werden, in der Regel in der Tradition der Brüdergemeinden. Wir brauchen auch Pastoren in den Städten, die den Auftrag unseres Herrn ernst nehmen, in alle Welt zu gehen und Menschen zu Jüngern zu machen, und die dafür auch ausbildungsmäßig zugerüstet sind. Schließlich brauchen wir auch Pastoren, die Leitungsverantwortung in den Eparchien und der Gesamtkirche übernehmen, und Menschen, die unsere Kirche gegenüber anderen Kirchen im Lande und weltweit vertreten können. Bei allen diesen Überlegungen ist eine möglichst enge Zusammenarbeit mit der Evang.-Luth. Kirche im Ingermanland angestrebt. Ein gemeinsames Seminar ist zunächst unrealistisch, aber wenn unsere Möglichkeiten wachsen sollten, auch im eigenen Land in die Tradition des alten Leningrader "Predigerseminars" einzutreten, dann werden wir dies gemeinsam tun, vermutlich in der St. Michaeliskirche, an der wir gemeinsam partizipieren. Alles dies kostet viel Geld, viel mehr, als wir jetzt in unserer Kirche aufbringen können. Bisher sind die Sessionen vom Lutherischen Weltbund finanziert worden, die An- und Abreise der Dozenten von der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche. Für den Bau des Seminars in Tichkowitze werden wir auch Geld aus Deutschland erbitten müssen. Die regionalen Kurse sollten von den jeweiligen Partnerkirchen in Deutschland mitgetragen werden. Auf welche Weise wir einmal einen festen Lehrkörper bekommen können, ist noch völlig offen. Aber wir leben davon, daß sich uns immer neu Türen auf-

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tun, die für alle Zukunft verschlossen schienen. Gott wird auch hier Rat wissen. 2) der Aufbau und Ausbau von Kommunikation untereinander: Unsere Gemeinden sind bisher mit "Literatur" aus Deutschland, bisweilen auch aus anderen Ländern versorgt worden. Das wird weithin so bleiben müssen. Allerdings wird die Verteilung hoffentlich durch den Ausbau der Administrativen Zentren für die Sprengel besser gelingen als in den letzten Jahren über die zentrale Bischofskanzlei. Aber wir brauchen mehr. Der erste Schritt war die Gründung eines gemeinsamen, zweisprachigen Gemeindeblattes durch Bischof Dr. Harald Kalnins 1992, des "Boten". Die Leitung der Redaktion hat ein junger, engagierter Religionspädagoge aus Deutschland, Ralf Gnewuch. Die Redaktion in Riga besteht aus nicht weniger engagierten Letten, Profis und Studentinnen, eine davon deutscher Abstammung. Das Blatt ist in den Gemeinden gut aufgenommen worden. Allerdings ist eine Verteilung schon aus Kostengründen von Riga aus nicht mehr möglich. Die Redaktion muß nach St. Petersburg verlegt werden, hier ist "der Bote" bereits registriert, das wird Veränderungen in der Redaktion nach sich ziehen. Die leider aufwendige Finanzierung hat bis jetzt der Martin-LutherBund in Erlangen übernommen. Wir brauchen weiter in zunehmendem Maße Literatur in russischer Sprache. Bisher ist die Ubersetzungsarbeit für die Agende und in anderen Fällen in Deutschland geleistet worden, wieder durch den Martin-LutherBund. In Zukunft wird der Schwerpunkt dieser Tätigkeit nach Rußland verlegt werden müssen, auch um der Koordination willen. An vier Stellen wird - ohne Kontakte zueinander - an einem russischen Gesangbuch gearbeitet. Wir wissen noch zu wenig, was die Baptisten, was die Orthodoxen an katechetischen Hilfen anbieten können. Es wird an vielen Stellen im Land und im Ausland übersetzt: Luthers Schriften in Auswahl an der Universität Charkow; Bonhoeffers "Nachfolge" in den USA, der Kleine Katechismus mit Fragen und Antworten in Finnland. Wir brauchen eine Ubersicht, eine Ubersetzer-Kommission, und wir werden wohl einen eigenen Verlag gründen müssen, wünschenswerterweise zusammen mit den ingermanländischen Finnen. Vielleicht erhalten wir Hilfe dafür auch durch die Missouri-Synode. Dabei wird es um drei Zielgruppen gehen: unsere Gemeinden; sie sollten neben dem "Boten" auch Poster mit Kirchenkalendarium bekommen, Arbeitsmaterial für den Konfirmandenunterricht und die Sonntagsschule, möglichst auch Informationsmaterial wie etwa Videos vom Leben unserer Kirche und anderer Kirchen. Weiter brauchen wir Ubersetzungen oder hier erarbeitete Texte für das Theologische Seminar, natürlich auch die regionalen Seminare; nur dann werden Programme für Fernkurse entwickelt werden können. Im Idealfall könnten sich so auch Christen, besonders Theolo-

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gen anderer Konfessionen darüber orientieren, was Lutherische Kirche ist und lehrt. Schließlich geht es auch um einen weiteren, über unsere Gemeinden hinausreichenden Leserkreis. Wenn etwa die Darstellung des Weges unserer Kirche "... und siehe, wir leben!", geschrieben von Johannes Schleuning, Eugen Bachmann und Peter Schellenberg (1977/82), mit einer in die Gegenwart führenden Ergänzung in russischer Sprache erhältlich wäre, würde dies ein Buch sein, das auch Leser in anderen Kirchen finden sollte. In Städten wie St. Petersburg, Moskau, Omsk, Kiew brauchen wir auch Kirchenführer für Touristen. Eine lukrative Einnahmequelle wird sich so nicht erschließen, aber einige Produktionen könnten sich doch wenigstens teilweise selbst tragen. Hierher gehört auch der Ausbau der Verbindungen mit Fernsehen, Rundfunk, Presse in den eigenen Ländern und im Ausland. Der Informationsdienst "Nachrichten aus der ELKRAS" muß professionalisiert werden und auch in russischer Sprache erscheinen. Alles zusammengenommen wird unsere Kirche ohne eine eigene Presseabteilung nicht auskommen. 3) Aufbau kirchlicher Strukturen: Der Ausbau übergemeindlicher und gesamtkirchlicher Strukturen kann im Gegenüber zum Dienst an Wort und Sakrament nur Hilfsfunktion haben. Aber diese Hilfe und damit Strukturierung unserer Kirche ist nötig. Die jetzt gültige Verfassung der EvangelischLutherischen Kirche in Rußland und anderen Staaten ist die 2. Revision der Verfassung, die auf der Synode 1924 in Moskau beschlossen worden war; sie ist im April 1993 beim Justizministerium der Russischen Föderation registriert worden; sie liegt den inzwischen verabschiedeten und auch registrierten Verfassungen der Eparchien zugrunde. Zar Alexander I. hatte in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts eine episkopale Verfassung für unsere Kirche geplant und aufzurichten begonnen, im Anschluß an die Kirche Finnlands, das gerade zum Zarenreich geschlagen worden war. Unter Zar Nikolaus I. ist dann 1832 eine konsistoriale Ordnung nach preußischem Vorbild eingeführt worden. Nach dem Ende der Zarenzeit und des Staatskirchentums gab die Synode 1924 sich eine episkopal-konsistoriale Struktur. Für den Neubeginn nach 1988 kam nur eine synodal-episkopale Verfassung in Frage, d.h. eine Gliederung unserer Kirche nicht in Konsistorialbezirke, sondern in regionale Synoden mit episkopaler Leitung, auch wenn die Amtsbezeichnung des geistlichen Leiters eines Sprengeis aus verständlichen Gründen zunächst Superintendent oder (für Usbekistan vorgesehen) Propst lautet. In der Abfolge dieser Modelle spiegelt sich die Geschichte der theologischen Einsicht wieder, was Kirche sei. Auch bei Kirchenleitung geht es primär nicht um Administration, sondern um geistliche Leitung. Deshalb sind wir heute dem durch eine ökumenische Erweckungsfrömmigkeit geprägten Zaren Alexander I. wieder näher als dem späteren 19. Jahrhundert. Aber natürlich brauchen wir auch regionale

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Administration, um den Gemeinden näher zu sein. Das fordert eine stärker kollegiale Leitung der Gesamtkirche, für die der Bischofsrat steht. Allein ein Blick in die Landkarte oder - besser - auf den Globus zeigt, daß es zu solcher Regionalisierung keine Alternative gibt. Die Bildung von Sprengein ist also nicht in erster Linie Reaktion auf die veränderte politische Lage, sondern Ausführung eines noch in den Zeiten der Sowjetunion selbst auferlegten Verfassungsgebotes. Bei der Realisierung ist dann natürlich die Rechtslage zu berücksichtigen. So ist der Sprengel Kasachstan eben einerseits "Eparchie der evang.-luth. Gemeinden in Kasachstan", also nach kasachischem Recht eigenständige Kirche, andererseits Sprengel der Gesamtkirche, bei der Registrierung durch das kasachische Justizministerium ebenfalls festgehalten. Schon die Synode von 1924 hat nach dem Fortfall aller staatlichen Absicherung versucht, eine eigene Finanzverwaltung für die Kirche aufzubauen und ist damit in diesen Jahren der Bedrückung und der Verarmung gescheitert. Wir müssen einen neuen Anfang machen, ohne jeden Rückhalt in einer Tradition. Es gab keine bezahlten Prediger. Wir brauchen heute auch voll im Dienst der Kirche stehende, hauptamtliche Mitarbeiter, nicht nur Pastoren. Auch hier sind wir zunächst und partiell wohl noch lange auf die Hilfe von Schwesterkirchen angewiesen. Das Ziel ist es, für die einzelnen Sprengel oder auch kleinere Gebiete Partnerkirchen in Deutschland zu finden, die in materieller Hinsicht den Aufbau der Administrativen Zentren unterstützen und etwa die Synoden finanzieren. Natürlich geht es bei solcher Partnerschaft um mehr als materielle Hilfe. Die Evang.-Luth. Kirche in Bayern hat sich in großartiger Weise in der Ukraine engagiert, bis hin zur Entsendung von Pastoren. Ähnliche Partnerschaften mit gleichfalls vollem Engagement bestehen zwischen der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche und den Ostseeregionen, dem Bezirk Kaliningrad und dem Raum St. Petersburg, zwischen der Evang.-Luth. Landeskirche Hannover und Sibirien. Durch Bischof Dr. Heinrich Rathke ist die Evang.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs Partner für Kasachstan, aber hier wird auf die Dauer Verstärkung nötig sein. Die Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg ist aktiv im Raum der Mittleren Wolga. Für die Baschkiren-Republik und das Gebiet Orenburg habe ich die Hilfe der Evang.-Luth. Landeskirche Sachsens erbeten, für Usbekistan den Beistand der Evang. Kirche von Hessen und Nassau. Weitere Partnerschaften sind in der Planung. Der eigene Beitrag soll durch regelmäßig wiederkehrende Kollekten in den einzelnen Gemeinden aufgebracht werden. Soweit durch die Sprengel Literatur einschließlich des Gemeindeblattes gegen Spenden weitergegeben wird, soll das Geld zunächst auch bei den Administrativen Zentren bleiben, um die Sprengel an eigenverantwortlichen Umgang mit Geld zu gewöhnen. In der Ukraine wird das bereits eingeübt, weil Bayern die Fastenkollekte

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dieses Frühjahrs für die ukrainische Partnerkirche bestimmt hatte und das Aufkommen nun zusammen mit der Regionalsynode, genauer dem Synodalpräsidium, verwaltet wird. Die so gewonnenen Eigenmittel der Eparchien werden zwar nicht für die Deckung des Eigenbedarfs ausreichen, aber hier sollte doch ein Anfang zur finanziellen Selbständigkeit gemacht werden. Für eine spätere Zukunft ist vorgesehen, daß ein Teil der Einnahmen der Sprengel an die Gesamtkirche abgeführt wird. Aber abgesehen von Sonderaktionen einzelner Gemeinden wird die Gesamtkirche doch noch auf längere Zeit von Hilfen aus Schwesterkirchen abhängig sein. Das gilt besonders für den Aufbau der Bischofskanzlei in St. Petersburg. Daß das Zentrum unserer Kirche, der Sitz des Bischofs, wieder an der Neva sein soll, ist nun in der Verfassung verankert, war aber natürlich unser eigener Entschluß. Die Alternative wäre Moskau gewesen. Aber St. Petersburg ist die Region mit der größten lutherischen Dichte in ganz Rußland, nicht nur auf unsere Kirche bezogen. Hier wird bereits in sechs Kirchen wieder lutherischer Gottesdienst gehalten, hier ist uns in diesem Sommer die Petrikirche zurückgegeben worden, als Bischofskirche. In ihr haben wir die Möglichkeit, die Bischofskanzlei aufzubauen. Mit der Annenkirche - die noch nicht zurückgegeben ist, aber in der gegen Bezahlung Gottesdienst gehalten werden darf ist der Sitz des Propstes verbunden. In Moskau ist uns zwar das ganze Areal um die Peter-Pauls-Kirche zugesprochen, d.h. wir dürfen es Gebäude für Gebäude zurückfordern, in der Regel zurückkaufen. Aber es gibt nur noch eine lutherische Kirche in der ganzen Stadt, die Sitz des Bischofs, Zentrum der Evang.-Luth. Kirche in Rußland, Sitz des Bischöflichen Visitators für das Europäische Rußland und des Gemeindepastors sein müßte. Tatsächlich haben wir auf dem großen Gelände jetzt erst eine Kapelle mit etwa 100 Plätzen, die am 24. Oktober 1993 eingeweiht wurde. Harald Kalnins war Pastor in Riga; als er Bischof unserer Kirche werden konnte, gab es keine Alternative dazu, daß auch der Bischofssitz und die Kanzlei in Riga aufgebaut wurde, in seiner alten Kirche, der Jesus-Kirche. Wir hatten damals als Kirche keinen Quadratzentimenter Raum in der ganzen Sowjetunion zur eigenen Verfügung. Inzwischen ist Lettland wieder ein eigener Staat, die Kommunikation über die Grenzen hinweg wird immer schwieriger, schon durch die Visumspflicht. Der nach der Verfassung vorgesehene Aufbau der Kanzlei in St. Petersburg konnte beginnen, als dort der Raum dafür zur Verfügung stand. Natürlich kann der 82-jährige Bischof nicht mehr umziehen. Aber der Kontakt zwischen St. Petersburg und Riga ist gut und wird gepflegt. Wir hoffen alle, daß der Weg von Riga an die Neva, den Bischof Dr. Harald Kalnins selbst bejaht, für unsere Kirche zum Segen gerät. 4) Wiedergewinnung und Restaurierung enteigneter Kirchen: In den Orten der Neuansiedlung nach Verschleppung und Zwangsarbeit in Kasach-

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stan und auch Sibirien fanden die sich sammelnden Gemeinden keine Kirchengebäude vor. Sie haben sich aus eigenen Kräften Bethäuser gebaut. Ein Sonderfall ist Omsk, dort entsteht mit Hilfe der Landeskirche Hannover und - durch sie vermittelt - der deutschen Regierung eine neue Kirche mit Gemeindezentrum an einem städtebaulich gewichtigen Ort im IrtytschBogen. Es wird die erste christliche Kathedrale überhaupt sein, die in unserem Jahrhundert in Sibirien, vielleicht ganz Rußland neu gebaut wird. Das Bethaus muß Hochhäusern weichen, die Katharinenkirche aus dem 18. Jahrhundert war Teil eines Museums und wäre sowieso viel zu klein gewesen. Inzwischen hat sich die Rechtslage geändert. Kirchen können in Rußland und der Ukraine von den politischen Gemeinden an die Gläubigen zurückgegeben werden; in Rußland muß dies eigentlich nach einem Erlaß des Präsidenten vom Frühjahr 1993 erfolgen - aber es gibt Ausnahmen. Auch nicht dem Gottesdienst dienende Gebäude können wieder dem ursprünglichen Eigentümer rückerstattet werden. Damit brechen grundsätzliche Fragen auf. Wenn eine Gemeinde, die heute einige Dutzend Mitglieder zählt, wie etwa in Nikolajew in der Ukraine oder in Jalta auf der Krim, ihr altes Gotteshaus zurückfordert, in dem Platz für Hunderte von Menschen ist, dann muß sie eine Zukunftsperspektive entwickeln, in der Wachstum, also missionarische Aktivität vorgesehen sind. Man kann nicht in St. Petersburg die Petrikirche am Nevskij Prospekt zurücknehmen, eine der großen, traditionsreichen Kathedralen der Stadt, dann aber dort Konventikel-Gottesdienste abhalten. Mit dem Angebot der Rückgabe unserer Kirchen und mit dem Willen, sie zurückzufordern, fällt eine klare Entscheidung für die Zukunft unserer Kirche und auch ihrer künftigen Gestalt. Natürlich ist das in der Regel nicht in den betroffenen Gemeinden durchreflektiert worden. Es kann sehr wohl sein, daß sich eine Gemeinde mit der Rücknahme dieser Gebäude geistlich übernimmt. Es ist auch schwer psychologisch vorzustellen, daß eine Gemeinde an der Zukunft ihrer alten Kirche uninteressiert bleibt, wenn alle anderen Konfessionen in der Stadt ihre Gebäude zurückerhalten und zurücknehmen. Ausnahmen gibt es in Ostpreußen. Hier sind die in der Regel mittelalterlichen Dorfkirchen von den neuen Herren so systematisch zerstört und mißbraucht worden, daß ein Wiederaufbau unerschwingliche Summen erfordern würde. So hat sich die junge Gemeinde von Ubersiedlern aus Kasachstan in Nowo Moskowskaya am Frischen Haff, dem alten Pörschken, nun ein Bethaus gebaut und nicht die Kirchenruine übernommen. Aber das wäre doch so in Moskau oder St. Petersburg nicht zu verantworten gewesen. Damit ist der finanzielle Aspekt angesprochen. Ich nenne ihn ausdrücklich nach dem ekklesiologischen. Denn bei der Frage, ob eine Kirche zurückgefordert wird, geht es um eine heute und nur heute zu treffende Ent-

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Scheidung, die eine Stellungnahme zur Identität der jeweiligen Gemeinde in der Geschichte und zur Kontinuität, also zum Bleiben einschließt. Kirchen werden mit der Auflage zurückgegeben, sie wieder für den Gottesdienst zu restaurieren, in der Regel nach denkmalspflegerischen Gesichtspunkten. Aber das ist eine Verpflichtung für die Zukunft. Nur wenige Gemeinden werden imstande sein, diese Restaurationsarbeiten ganz mit eigenen Kräften durchzuführen. Sie werden Partnergemeinden im Ausland suchen müssen. Hier gibt es keine pauschalen Lösungen. Ein Sonderproblem sind die Kathedralkirchen in Moskau und St. Petersburg. Sie müssen wiederhergestellt werden, das ist Auflage der Stadt. Aber das wird jeweils ein sich über Jahre erstreckender Vorgang sein. In jedem Fall ist ein klares Konzept erforderlich, in dem gewährleistet ist, daß diese Kirche schon jetzt genutzt und möglichst bald auch für öffentlichen Gottesdienst verwandt wird, aber dabei die Perspektive künftiger Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes offen bleibt, wie es den Rückgabebedingungen entspricht. Wenn es gelingt, früheres Eigentum über die gottesdienstlichen Räume hinaus zurückzubekommen, kann dies eine Möglichkeit werden, für die Gemeinde eine wirtschaftliche Grundlage zu gewinnen. Es ist deutlich, daß dies eine Aufgabe ist, die sich nur in den westlichen Eparchien stellt; in Sibirien nur für Omsk und Wladiwostok; in Usbekistan ist die alte Kirche in Taschkent bereits zurückgegeben. Aber überall sind mit dem Thema der Rückgabe enteigneter Kirchen Grundfragen des Selbstverständnisses unserer Kirche mitgestellt. 5) Wechselseitige Respektierung der verschiedenen Traditionen in unserer Kirche: Unterschiedliche Traditionen der Frömmigkeit und des Weltverhaltens hat es in unserer Kirche immer gegeben. Aus dem Unterschied zwischen dem Baltikum und den Kolonien an Wolga und Schwarzem Meer, also Norden und Süden, vor der Oktoberrevolution ist heute eher eine Differenz zwischen Ost und West geworden. Dabei ist es für die Gläubigen in der Tradition der Brüdergemeinden schwerer, in den Stadtgemeinden vor allem im Westen Brüder und Schwestern im vollen Sinne des Wortes zu sehen als umgekehrt. Die Traditionen begegnen einander bei Synoden und im Theologischen Seminar. Sie werden auch bei der für 1994 geplanten Generalsynode präsent sein. Allen Traditionen ihr Recht zu geben, ist eine der entscheidenden geistlichen Aufgaben für die Zukunft unserer Kirche. Beide gehören zur Identität und wohl auch die Spannung zwischen ihnen. In mehrfacher Weise sind auch die Kirchen in Deutschland in dieses Problemfeld hineinverflochten. Daß die Familien bruderschaftlicher Tradition sehr oft nach der Ubersiedlung nach Deutschland Schwierigkeiten haben, sich in die großkirchlichen Ortsgemeinden einzugliedern und dann bisweilen eigene gemeinschaftsähnliche Brüdergemeinden bilden, zeigt, daß sich das Thema nicht durch die Umsiedlung erledigt hat. Umgekehrt bringen deutsche

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Pastoren im Dienst unserer Kirche ihre Erfahrungen ein, die sich in den eher westlichen Städten gut anwenden lassen. Im Dienst an Menschen oder ganzen Gemeinden bruderschaftlicher Tradition ist aber dann ein hohes Maß an Sensibilität gefordert. Daß wir apostolische Kirche sind, muß sich auch darin zeigen, wie wir die Weisungen des Apostels Paulus zum Umgang miteinander aufnehmen, wie wir christliche Freiheit und die Bereitschaft zum Verzicht in Freiheit um der Brüder willen verbinden. 6) Zusammenarbeit aller Lutheraner in unseren Ländern: Auch dies ist ein Aufgabenfeld, das in den einzelnen Sprengein unterschiedliches Gewicht hat. Von der Zusammenarbeit mit der finnischen Evang.-Luth. Kirche im Ingermanland ist ebenso bereits mehrfach gesprochen worden wie über die Partnerschaft mit der Lutheran Church - Missouri Synod bei ihrer Mission in Rußland und Kasachstan. In der Ukraine wird das Verhältnis zur Evangelical Lutheran Synod zu klären sein, einer amerikanischen Kirche, bei der die Tradition der lutherischen Erweckung unter den Unierten Galiziens zwischen den Weltkriegen weiterlebt. Sie ist nun in die Zentralukraine zurückgekehrt und baut Gemeinden auf, die weiterhin Elemente der Chrysostomus-Liturgie im Gottesdienst verwenden. Räume, in denen die Kooperation besondere Bedeutung hat, sind - das ist bereits deutlich geworden - vor allem St. Petersburg, dann in Zukunft auch Sibirien. 7) Beziehung zu anderen Kirchen: Die Mehrheitskirche in Rußland und in der Ukraine - dort durch Schismen geschwächt - ist die Russische Orthodoxe Kirche; in Kasachstan und den mittelasiatischen Republiken sind alle Christen Minderheit. Die Orthodoxe Kirche macht selbst eine schwierige Epoche der Anpassung an die neue Situation durch. Unter dem Eindruck der Missionen aus dem Westen gibt es kräftige Anschuldigungen gegen Römische Katholiken und Protestanten generell. Dabei ist das Interesse an Differenzierungen dann gering. Aber an sich war das Verhältnis unserer Kirchen zueinander noch nie in der Vergangenheit so entspannt wie heute. Ohne die Hilfe der Orthodoxen wären viele Besuche aus dem Ausland in unseren Gemeinden gar nicht möglich gewesen, weil damals noch bei uns Fähigkeit und Erfahrungen im Organisieren von Reisen und der Unterbringung von Gästen fehlten. Das Gesangbuch, das Bischof Kalnins noch als Superintendent erarbeitet hatte, ist im Verlag des Moskauer Patriarchates hergestellt worden, gewiß aus Deutschland bezahlt, aber vor der Oktoberrevolution wäre derartiges undenkbar gewesen. Wieder gibt es Unterschiede zwischen Ost und West: in Kasachstan hatten die Gemeinden in der Regel keinerlei Kontakte zu orthodoxen Christen; in den Städten des Westens haben manche unserer Gemeindeglieder in der Zeit der Unterdrückung und der NichtExistenz lutherischer Kirche sich zu den Orthodoxen gehalten, manche sind dort getauft worden. Das bringt eine Unbefangenheit mit sich, die früher

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ungewöhnlich gewesen wäre. - Das Verhältnis zu den Baptisten ist ebenfalls in der Regel ohne Konflikte; Versuche in Sibirien, und Kasachstan nach dem Krieg gemeinsam mit der Sammlung von Gemeinden zu beginnen, haben aber überall mit einer Trennung geendet. Die Römisch-Katholische Kirche hat seit einiger Zeit eine eigene Hierarchie in Rußland und Kasachstan aufgerichtet. Bis dahin kamen die relativ wenigen Katholiken deutscher Herkunft meist zu unseren Gottesdiensten. Umgekehrt gibt es Beispiele dafür, daß katholische Frauen die Initiative zur Gründung lutherischer Gemeinden übernommen hatten. Das alles mag man ökumenisch nennen. Aber das Wort Ökumene hat heute keinen guten Klang in Rußland, weder bei den Orthodoxen noch bei uns, es klingt nach Religionsmengerei oder erinnert an die politisch motivierte Friedensbewegung vor der Perestroika. Aber an dem Wort hängt wenig. Wir laden Vertreter der Schwesterkirchen in der Regel zu festlichen Ereignissen und zur Eröffnung von Synoden ein; die Grußworte bringen wirkliche Anteilnahme zum Ausdruck. Wir sind evangelischlutherische Kirche nicht gegen irgend eine andere christliche Gemeinschaft, sondern als zahlenmäßig kleiner Teil der Christenheit dieses Landes. Dies zum Ausdruck zu bringen, ist eine bleibende Aufgabe. Seit der rechtlichen Neukonstituierung unserer Kirche hat sie die Mitgliedschaft in Grenzen umgreifende ökumenische Gemeinschaften beantragt. Die Mitgliedschaft im Lutherischen Weltbund hat dabei besonderes Gewicht, sie hat Verfassungsrang, eigentlich schon seit 1924. Denn bereits in der damals verabschiedeten Verfassung definierte unsere Kirche sich als "Glied der ev.-luth. Gesamtkirche". Der Weltbund hat eine entscheidende Rolle bei ihrer Wiedererrichtung geführt. Wir würden uns wünschen, daß er auch bei den jetzt anstehenden Aufgaben stärker präsent wäre. Wir sind Mitglied im Ökumenischen Rat und in der Konferenz Europäischer Kirchen. Solche Mitgliedschaften bringen auch Verpflichtungen mit sich. Es gehört zu den wichtigen Zielen der Ausbildung, Brüder und Schwestern zuzurüsten, unsere Kirche auch in internationalen ökumenischen Gemeinschaften zu vertreten. 4. Abschluß Man kann nach unserer Kirche von verschiedenen Blickrichtungen her fragen. Dabei wird man aber zwischen der Zukunft der Rußlanddeutschen und den Zukunftsaufgaben unserer Kirche unterscheiden müssen. Gewiß gibt es fundamentale Zusammenhänge. Auch unsere Aufgabe ist es, Menschen Heimat zu bieten, unter dem Dach der Verheißung der ewigen Heimat haben wir verstörten, entwurzelten Menschen Heimat in der Gemeinde anzubieten. Das umgreift die Entscheidung zwischen Bleiben oder Auswan-

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dern. Als Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland und anderen Staaten setzen wir allerdings auf das Bleiben. Allerdings gibt es verschiedene Arten von Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Geistig heimatlos sind heute in der ehemaligen Sowjetunion nicht nur Deutsche und nicht nur Abkömmlinge lutherischer Familien. Nach dem Zusammenbruch der bisherigen offiziellen Ideologie gibt es viele, die zu Suchern geworden sind. Wir machen keine Proselyten. Aber denen im Lande, die nach Gott Ausschau halten und noch keinen Anschluß an eine bestimmte Kirche gefunden haben, bieten wir das apostolische Evangelium an, wie es uns anvertraut worden ist. Deshalb steht für uns das Bleiben im Vordergrund, auch wenn wir Kirche für alle unsere Glieder sein wollen, die, welche die Ausreise planen, und die, welche hier bleiben. Habe ich damit ein unrealistisches, ein zu optimistisches Bild gezeichnet? Das trifft gewiß nicht zu, wenn wir das, was zu tun gewesen wäre, mit dem vergleichen, was getan worden ist. Zum Versagen gehört, daß wir so viele potentielle Gemeinden an Sekten faktisch preisgegeben haben, weil unsere Kraft nicht ausreichte, ihnen Hirten zu senden. Es ist auch nicht gelungen, die großen bleibenden Aufgaben in Rußland so deutlich zu machen, daß manche Brüder und Schwestern sich zum Bleiben entschieden hätten, die wir hier so dringend brauchen. Das Versagen könnte zum Verzagen führen, wenn wir sehen, daß die Schere zwischen den neu auf uns zukommenden Aufgaben und unseren Kräften immer größer wird. Dennoch haben wir Zuversicht. Darin bestärkt die Erfahrung der Wunder Gottes in diesen Jahren und das Vertrauen auf den brüderlichen, schwesterlichen Beistand anderer Kirchen, vor allem in Deutschland. Letztlich gründet die Zuversicht aber in dem Auftrag, der uns gegeben ist, einem Auftrag, der Gottes Verheißung in sich trägt: Kirche in einem großen Raum zu sein, auf dem Fundament der Apostel und Propheten, begleitet von den Zeugen der Vergangenheit, den Vätern und Müttern der Reformation, den Märtyrern dieses Jahrhunderts, gewürdigt ihren Dienst weiterzuführen, um des Evangeliums und der Menschen willen. Darum dürfen wir nicht verzagen.

Trutz Rendtorff "KIRCHE IM SOZIALISMUS" E R F A H R U N G E N U N D LEKTIONEN* Einleitung: Nach drei Jahren Gerade erst drei Jahre ist es her, im November 1989, daß im dramatisch verlaufenen Prozeß einer Nacht die Mauer in Berlin sich plötzlich auftat und Tausende von Menschen vom elementarsten Menschenrecht der Bewegungsfreiheit tumultuarisch Gebrauch machen konnten. Die schon lange in das Reich der irrealen und politisch inopportunen Erwartungen verbannte Hoffnung der Freiheit bekam auf unerwartete und unverhoffte Weise die Chance der Realisierung. Der wasserfallartige Sturz des sozialistischen Herrschaftssystems riß alle Analysen über den Fortgang des Ost-WestGegensatzes mit sich in den Abgrund, in dem die prognostische Fähigkeit der Politikwissenschaft ebenso zerschellte wie die wohlgemeinten Reformprogramme, die glaubten, die Stunde für einen verbesserlichen und erneuerten Sozialismus sei nahe. Die Machthaber des sozialistischen Systems verwarfen die sozialistischen und kommunistischen Legitimationsideen mit einer Schnelligkeit, die auch dem Millionenheer ihrer disziplinierten Anhänger unmißverständlich klar machte, daß der Glaube an die Zukunft des Sozialismus von oben über Nacht restlos verschwunden war. Gerade erst zwei Jahre ist es her, am 3. Oktober 1990, daß in einem feierlichen Staatsakt, mit einem vorhergehenden Gottesdienst und unter Begleitung klassischer geistlicher Musik von Bach und Händel, die deutsche Einheit als Beitritt der Länder der DDR zum Staat des Grundgesetzes vollzogen wurde. Niemand von denen, die an dem Werk des Einigungsvertrages mitgearbeitet haben, hatte zuvor gedacht, daß solches zu seinen Lebzeiten noch möglich werden könnte, und das auch noch entgegen aller öffentlich dramatisierter Kriegserwartung in den achtziger Jahren auf durch und durch friedliche, zivile und rechtsförmige Weise. In keinem symbolischen Akt wurde die innere Unsicherheit nun gerade der Kirchen angesichts dieser Ereignisse deutlicher als in der offiziellen Weigerung von Kirchenleitungen, die sponVortrag beim Kolloquium "The Future of Social Ethics After Socialism" in Boston, 16.-18.10.1992.

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tan geäußerte Erwartung, in der Nacht der Einigung die Kirchenglocken läuten zu lassen, zu erfüllen. Eine Zeitlang übernahmen die Kirchen vielmehr stellvertretend für eine durchaus kräftige intellektuelle Meinungsströmung die Rolle, die Selbständigkeit der beiden Teile Deutschlands über deren politische Liquidation hinaus aufrechtzuerhalten. Die Vereinigung der Evangelischen Kirche, die 1969 unter dem Druck der SED preisgegeben werden mußte, wurde von den Kirchenoffiziellen zunächst sogar für einen Zeitpunkt etwa 1995 geplant; sie wurde dann unter dem Druck der kirchlichen Erwartung immerhin schon im Sommer 1991 vollzogen. Und nun 1992: Weniger als ein Jahr ist es her, Ende 1991, daß durch die Veröffentlichung einer Dokumentensammlung aus den Archiven des Staatssicherheitsdienstes Bestätigungen des Verdachtes auftauchten, hochrangige Repräsentanten der Evangelischen Kirchen in der DDR hätten sich, ebenso wie ordentliche Theologieprofessoren, Gemeindepfarrer und Kirchenredakteure, als "Inoffizielle Mitarbeiter" der "Stasi" betätigt. Nachdem die protestantische Kirche 1989 als Ausgangspunkt und Träger der "friedlichen Revolution" gefeiert wurde, Pfarrer an den "Runden Tischen" der DDR im Ubergang den Vorsitz führten, ist nun ein tiefgreifender Meinungsumschwung eingetreten. Der ehemalige Kirchenführer Manfred Stolpe, jetziger Ministerpräsident der SPD im Lande Brandenburg, ist zur negativen Symbolfigur für jahrzentelange Kooperation mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR geworden. Die Kirche übte keinen aktiven Widerstand gegen das sozialistische Regime. Hat sie es vielleicht sogar unterstützt, und sei es auch nur im Interesse der Wahrung ihres Bestandes? Die kurze Nachgeschichte der DDR zeigt bereits überdeutlich, daß die sog. friedliche Revolution von 1989 keinen einfachen, eindeutigen und klaren Strich unter 40 Jahre Sozialismus gezogen hat. Die Vergangenheitsdiskussion ist auf komplexe Weise mit der Gegenwartsdiskussion verknüpft, als Diskussion einer doppelten Gegenwart, der Gegenwart des Vorher und des Nachher, des Sozialismus vor und nach dem Scheitern der DDR und des ganzen sozialistischen Herrschaftssystems. Erst langsam und zögernd beginnt die Debatte, die über den Wandel der politischen Konstellation hinaus sich der Revision und Uberprüfung der grundlegenden sozialphilosophischen und sozial-ethischen Annahmen zuwendet, die sich mit dem Gesamtkomplex des real existierenden Sozialismus verbunden haben. Dazu soll diese Konferenz einen Beitrag unternehmen. Was ich dazu beisteuern kann, soll sich auf zwei Perspektiven konzentrieren. Ich werde in einem ersten Teil einige historische Aspekte zur Situation und Geschichte der "Kirche im Sozialismus" darstellen. In einem zweiten Teil werde ich einige Aspekte der Annäherung an den Sozialismus refe-

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rieren und im dritten Teil Vorschläge zu mehr systematischen Konsequenzen für die Sozialethik entwickeln. 1. Der Antagonismus von Kirche und Sozialismus Zunächst möchte ich, in Form einer kurzgefaßten historischen Erinnerung, über Erfahrungen der Kirche unter der Dominanz des weltanschaulichen Konflikts sprechen. 1.1 Die Ausgangslage: Kirche als Volkskirche Die Bevölkerung der DDR gehörte 1949 zu 80% der evangelischen Kirche an. Weitere ca 15% waren Mitglieder der römisch-katholischen Kirche. 1982 kam eine Auswertung konfessionsstatistischer Daten zu dem Ergebnis, daß bei einer Gesamtbevölkerung von 16,3 Millionen noch mehr als 50%, nämlich 9,11 Millionen Christen gezählt wurden, davon 7,8 Millionen Mitglieder der evangelischen Kirche, 1,2 Millionen Katholiken und 115.000 Mitglieder von Freikirchen. Am Ende der DDR 1989 lagen die Schätzungen bei ca 30 %, also ca 5 Millionen Kirchenmitglieder der evangelischen Kirche. Dabei ist realistisch von ca 10% aktiven Christen in der DDR auszugehen. Dieser signifikante Wandel in der Kirchenmitgliedschaft ist das signifikante äußere Datum für das, was 40 Jahre Sozialismus für die Kirchen in der DDR bedeutet haben. Die Religionspolitik der Sowjetischen Militäradministration nach 1945 war den großen christlichen Kirchen gegenüber insgesamt wohlwollend und tolerant. Das änderte sich erst mit der Gründung der DDR im Jahre 1949 und der Alleinherrschaft der SED. Allerdings war die Religionspolitik in der sowjetischen Besatzungszone von einem Kirchenverständnis geleitet, das am Vorbild der Russisch-Orthodoxen Kirche orientiert war. Deren Kennzeichen, Pflege des Kultus und religiöse Betreuung der Gläubigen, entsprach und entspricht nicht dem protestantischen Kirchenverständnis. Eine Wurzel für den Konflikt zwischen Kirche und sozialistischem Staat ist insofern nicht primär in der sozialistischen Ideologie zu finden, sondern ist kirchengeschichtlicher Natur; sie hat mit dem tiefgreifenden Unterschied zwischen östlicher Orthodoxie und westlichem Protestantismus zu tun. Das SED-Regime hat dieses in protestantischer Sicht reduktionistische orthodoxe Kirchenverständnis weitgehend übernommen. Wie ein 'cantus firmus' zieht sich durch alle Etappen der DDR-Kirchenpolitik die Warnung an die Kirchen, sich an ihren kirchlichen Auftrag zu halten und diesen nicht in Gesellschaft und Politik hinein zu überschreiten. Bis zum Ende der DDR hin wurden protestantische Kirchenführer von der SED zur Rechenschaft darüber

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gefordert, daß kirchliche Einrichtungen für Zwecke mißbraucht würden, die nichts mehr mit der Kirche bzw. der Religionsausübung zu tun haben, (farowinsky gegen Leich 1988). Dieser Versuch, die Kirche auf den engsten Raum von Kultus und Seelsorge einzuschnüren, wurde von der SED zwar mit dem modernen Prinzip der Trennung von Kirche und Staat legitimiert; tatsächlich aber folgte die Kirchenpolitik dabei dem Prinzip der Einheit von Staat und Partei, in dessen sozialistischer Auslegung die Partei Staat und Gesellschaft zu beherrschen befugt ist. Die Aufhebung des Rechtsstaates durch die Subordination des Rechts in allen seinen Formen unter den Willen der Partei ist der harte Kern in allen Formen, in denen die sozialistische Gesellschaft verwirklicht werden sollte. Im Namen des Sozialismus wurden die elementaren Bürgerrechte ihres selbständigen Rechtscharakters entkleidet und in ein System zur Bildung und Formung des sozialistischen Menschen eingezogen. Das bedeutete im Blick auf die Kirche, daß Religionsfreiheit nicht als Teil der allgemeinen individuellen Bürgerrechte anerkannt wurde. Religionsfreiheit wurde vielmehr lediglich institutionell konzediert als interne Selbständigkeit der Institution Kirche in ihrer organisatorischen Verfassung, eine Selbständigkeit, die an den Grenzen der Organisation endet. Der Allmachtsanspruch der SED bezog sich deswegen auch ganz konsequent auf die Gesamtheit der Öffentlichkeit in allen ihren Formen. Aktivitäten der Kirche, die sich über die Organisationsgrenzen hinaus auf die Gesellschaft, auf die Menschen in der DDR richteten, führten darum regelmäßig zum Konflikt. 1.2 Konflikte Der Antagonismus von Kirche und Sozialismus wirkte sich konkret und folgenreich aus, wo die SED begann, ihre politische Herrschaft in einem Programm weltanschaulicher Erziehung des sozialistischen Menschen zu verankern. Die SED machte Ernst mit dem Anspruch des Marxismus-Leninismus als einziger wissenschaftlich begründeter Weltanschauung. Die von der Partei beherrschte staatliche Macht und Zwangsgewalt wurde konsequent eingesetzt, um den verpflichtenden Charakter der Lehren des Marxismus-Leninismus in allen Bereichen der Erziehung und der gesellschaftlichen Praxis durchzusetzen. Zu den Grundlehren des ML gehörte, daß die Religion mit der Verwirklichung des Kommunismus absterben würde und der Sozialismus auf dem Wege zum Kommunismus dazu tätige Sterbehilfe zu leisten habe. Diese Lehre war für die Kirche unannehmbar. Es wurde von der Kirche auch zu keinem Zeitpunkt erwartet, daß die Kirche sie annehmen sollte. Deswegen waren der SED alle Versuche einer Annäherung von Christentum und Sozialismus, die von Pfarrern und Theologen

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unternommen wurden, zutiefst suspekt. Die Beschäftigung mit Fragen dieser Art wurde, soweit sie denn überhaupt von Belang waren, der subalternen CDU zur Wahrnehmung übertragen. Einen ernsthaften und kontinuierlichen "Dialog" zwischen Marxisten und Christen hat es denn auch in der DDR über die meiste Zeit der 40jährigen SED-Herrschaft nicht gegeben, von Ansätzen in den späten 80er Jahren abgesehen. Diese Art der Auseinandersetzung ist ein Phänomen der westlichen Gesellschaften und Kirchen. Die nahezu vollständige Identifikation der sozialistischen Lehre mit der politischen Praxis der Partei führte dazu, daß die Partei ein Definitionsmonopol in Sachen Sozialismus beanspruchte und mit den Mitteln ihrer Organisationsgewalt auch ausübte. Diese Identifikation der Partei mit der sozialistischen Lehre schloß deshalb eine freie, ungezwungene, d.h. von Machtfragen freigestellte Diskussion des Sozialismus innerhalb des sozialistischen Lagers aus. Die um den Stalinismus erweiterte parteigebundene und machtabhängige Lehrbildung hatte für dieses Zwangssystem den Weg gewiesen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man heute rückblickend feststellt, daß die Erstarrung und Reformunfähigkeit des sozialistischen Herrschaftssystems nicht zuletzt auf diese Identifikation von politischer Herrschaft und der sie legitimierenden Weltanschauung zurückzuführen ist. Die Kirchen bekamen die Konsequenzen dieses Syndroms von sozialistischer Macht und sozialistischer Lehre direkt zu spüren. Die wichtigsten Exempel dafür sind: Einführung der Jugendweihe für alle Jugendlichen als gezielte, staatlich propagierte Konkurrenz zur kirchlichen Konfirmation. Abschaffung des Religionsunterrichts an den Schulen, dafür aber die Einrichtung der Wehrkunde zur Bildung des sozialistischen Klassenbewußtseins. -

Ausschluß von Mitgliedern der Kirche von allen Führungspositionen in der DDR und darüberhinaus die Diskriminierung von aktiven Christen im Erziehungswesen, d.h. im Zugang zu weiterführenden Ausbildungschancen durch Studium und höhere berufliche Qualifikation. Wer in der DDR etwas werden wollte, durfte sich keinesfalls als Christ zu erkennen geben. Diese konsequente Benachteiligung von Christen im Sozialismus ist ohne Frage die größte Last gewesen, die den Mitgliedern der Kirche in den 40 Jahren DDR auferlegt worden ist. Sie ist auch - soziologisch gesehen - der entscheidende Faktor im rapiden Rückgang der Kirchenmitgliedschaft in den Kirchen der DDR. Auch die an der Formel "Kirche im Sozialismus" orientierte Kirchenpolitik hat daran im Grundsatz nichts geändert. Ausgenommen davon waren nur die Berufe, die in der Kirche als Organisation selbst ausgeübt wurden.

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1.3 Kompromisse Die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Christentum, wie sie der offiziellen Lehre des Marxismus-Leninismus entsprach, hatte nun aber noch eine andere Seite. Auf der institutionellen Ebene bedeutete sie die Anerkennung einer relativen Selbständigkeit der Kirche in ihren organisatorisch-institutionellen Formen. Auch wenn das nach der Lehre des Marxismus nur für die Zeit bis zum Ubergang in die vollendete kommunistische Gesellschaft gelten sollte, bildete sich auf dieser Ebene ein kompromißhaftes Equilibrium, das ohne erklärte Rechtsgrundlage und in einem permanenten Gemenge von Willkür und Toleranz die Bestandswahrung der Kirche als Organisation erlaubte. Auch hierfür können nur einige Exempel genannt werden. Die protestantischen Kirchen der DDR mußten sich von der gesamtdeutsch verfaßten Evangelischen Kirche in Deutschland trennen. Das geschah 1969 mit der Errichtung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Mit ihrer institutionellen Verselbständigung sollten sie dem Verdacht entgehen, ein vorgeschobener Posten des westdeutschen Klassenfeindes zu sein. Die sechs Theologischen Fakultäten der DDR blieben als Sektionen für Theologie an den staatlichen Universitäten erhalten, aber es wurde den Kirchen nicht verwehrt, ihre eigenen Ausbildungsstätten in Berlin, Naumburg und Leipzig zu errichten. Die Anstalten der kirchlichen Diakonie, insbesondere die großen Krankenhauskomplexe, die aus der Tradition der Inneren Mission hervorgegangen waren, blieben in kirchlicher Trägerschaft funktionsfähig und wurden, wegen ihrer ständigen Zufuhr von "Devisen" aus dem westlichen Teil Deutschlands, ein für die Krankenversorgung der DDR unentbehrlicher Bestandteil des Gesundheitswesens, der auf einem überdurchschnittlich hohen Niveau ausgestattet war.

2. Die Annäherung der Kirche an den real existierenden Sozialismus 40 Jahre DDR, das ist nun auch ein Prozeß, in dem die Kirchen ihren Ort in der sozialistischen Gesellschaft, wie die SED sie zu prägen vermochte, immer wieder neu zu bestimmen suchten. Je länger die Dauer des SED-Regimes unter der Schirmherrschaft der Sowjetunion sich vollzog, je mehr alle Welt von der Dauerhaftigkeit dieses Systems und des damit verbundenen Ost-West-Gegensatzes überzeugt war, umso drängender wurde für

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die Kirche die Frage, wie sie diese Situation geistlich und theologisch deuten und gestalten sollte. 2.1 Stimmungswandel In diesem Prozeß der Orientierungssuche bildeten die harten Tatsachen der DDR-Realität den weitgehend akzeptierten, weil unausweichlichen Hintergrund. Die Orientierungssuche war darum die Sache von Kirchenleuten und Theologen, die bereit waren, in der DDR zu leben und zu bleiben. Man darf ja nicht vergessen, daß bis 1961 mehrere Millionen DDR-Bürger in die Bundesrepublik geflohen sind, darunter eine nicht unerhebliche Zahl von Theologen. Die Grundlage für die Ortsbestimmung der Kirche in der DDR, wie sie seit der Loslösung der Kirchen des Bundes von der EKD nötig und unabweisbar wurde, ist deswegen in erster Linie eine elementare Uberzeugung, der Kirche und der Gemeinde an dem Ort zu dienen, an den man von Gott gestellt und von der Kirche berufen war. In diesem Prozeß der Orientierungssuche sind dann aber die Stimmen und die Deutungen in den Vordergrund getreten, die eine Annäherung an den real existierenden Sozialismus zum Ausdruck zu bringen geeignet waren, die Uberzeugungen und Stimmen derer, die zwar ihren kirchlichen Auftrag bejahten, aber im inneren Widerstand zum SED-Staat im Besonderen und zum Sozialismus überhaupt sich befanden, in diesem Prozeß zunehmend zurücktraten und in weitgehendem Stillschweigen verharrten. Was darum über die Annäherung der Kirche an den Sozialismus heute zu sagen ist, insbesondere im Zusammenhang mit der kirchenpolitischen Formel von der "Kirche im Sozialismus" ist nur unter diesem Vorbehalt typisch für die Kirche in der DDR, typisch nämlich für die unter dem Systemzwang der SED-Herrschaft mögliche Form eines kirchlichen Entgegenkommens bei gleichzeitiger Wahrung der systemnotwendigen Unterscheidung von Kirche und sozialistischer Gesellschaft. Es ist darum rückblickend notwendig, die Komplexität dieses Verständigungsprozesses differenziert einzuschätzen; denn die Wahrnehmung dieses Prozesses aus der westlichen Perspektive war weitgehend von einer Perspektive bestimmt, in der die reale Zwangslage der Christen unter dem Diktat der SED hinter den annäherungsorientierten Formeln gar nicht zureichend wahrgenommen wurde. 2.2 Orientierungsmuster der Annäherung Ich nenne in Stichworten die Orientierungsmuster, denen dieser Prozeß der kirchlich-theologischen Annäherung an den Sozialismus folgte: Ein hervorragendes Motiv war die Auseinandersetzung mit der eigenen kirchlichen

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Vergangenheit, die sich in der Bereitschaft ausdrückte, Schuld anzuerkennen und aus diesem Bekenntnis der Schuld Konsequenzen für eine veränderte Einstellung der Kirche zu ziehen. Mit diesem Motiv verbanden sich vor allem zwei Themenkomplexe, die eine mentale Annäherung an den sozialistischen Staat zu befördern geeignet waren. Sie sind mit den Schlagworten "Antifaschismus" und "Antikapitalismus" zu charakterisieren. Die Kirche hat, so läßt sich dieses Orientierungsmuster beschreiben, Schuld auf sich geladen, weil sie dem Nationalsozialismus nicht rechtzeitig und nicht mutig genug widerstanden hat. Der Sozialismus als Repräsentant des antifaschistischen Lagers war - nach den Juden das größte Opfer des Faschismus. Das Eingeständnis der Schuld der Kirche konnte insofern auch als Motiv gelten, sich an die Seite der Opfer des Faschismus zu stellen, im Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die frei ist von der Gefahr des Faschismus. Und die Kirche hat Schuld auf sich geladen, weil sie vor der sozialen Frage der Arbeiterschaft versagt hat und sich als bürgerliche Kirche den zerstörerischen Kräften des Kapitalismus nicht tatkräftig entgegengestellt hat. Diese Schuld kann nunmehr abgegolten werden durch die Bereitschaft, in einem Staat mitzuwirken, der sich als Arbeiter- und Bauernstaat bemüht, soziale Gerechtigkeit und soziale Gleichheit für jedermann zu gewährleisten und den Kräften des Kapitalismus zu wehren. Ich formuliere diese Orientierungsmuster bewußt schlicht; denn sie entstammen nicht einer ausgedehnten wissenschaftlich-intellektuellen Diskussion in der Theologie, sondern einem historisch bedingten Motivbündel, das zu kirchlichem Selbstbewußtsein sich dort verdichtete, wo diese Motive als Ergebnis und Lektion des Kirchenkampfes im Dritten Reich ausgelegt wurden. Hinzu kommt, vor allem in den 70er und 80er Jahren, das Thema "Frieden". Der Sozialismus hatte den Begriff "Frieden" mit Beschlag belegt. "Friedensbewegung" ist eine Selbstbezeichnung der DDR-Sprache, womit zugleich die Einladung an alle "friedliebenden Kräfte" verbunden war. Die Kirche hat sich lange dagegen gewehrt, in das sozialistische "Friedenslager" vereinnahmt zu werden. In den 80er Jahren jedoch entwickelte sich unter dem Eindruck der nuklearen Konfrontation die größte Nähe zwischen Kirche und SED. Prominente Kirchenführer übernahmen die östliche Lesart von der Kriegswilligkeit und Kriegstreiberei der NATO, insbesondere der Reagan-Administration. Wenigstens auf diesem Felde glaubten sie eine Zeitlang, die Zustimmung zur "Friedenspolitik" der DDR stehe im Einklang mit ihrer eigenen theologischen und ethischen Überzeugung.

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2.3 Feindbilder In den Deutungskontext dieser Motive, die eine mentale Annäherung an den real existierenden Sozialismus zu befördern geeignet waren, gehört nun allerdings auch, daß diese Motive mit einem starken Freund/Feind-Gegensatz ausgestattet sind. In der offiziellen Propaganda des sozialistischen Lagers waren Faschismus und Kapitalismus klare Bezeichnungen für den Klassengegner, d.h. in erster Linie für die U S A und, in deren Gefolge, für die westlichen Demokratien. In dem Maße, in dem das kirchliche Bewußtsein sich auf solche dem sozialistischen Herrschaftssystem adäquate Orientierungen einließ, übernahm es auch Elemente des Feindbildes: Die bürgerlichen Kirchen Westdeutschlands als Kirchen der Restauration, in denen die Schuld verdrängt wird und das Bündnis mit den wirtschaftlichen und politischen Kräften wieder gesucht wird, die die Kirche in ein alt-neues Gefängnis gesellschaftlicher Abhängigkeit führen. Die hier nur kurz angedeuteten Elemente einer Annäherung an den Sozialismus sind zu keinem Zeitpunkt klar und abschließend definiert worden. Auch die weltweit bekannt gewordene Formel "Kirche im Sozialismus" ist immer in der Schwebe geblieben zwischen einer mehr kirchengeographischen Ortsangabe und einer inhaltlich gemeinten Zustimmung zum "Sozialismus". Begriffliche Ausarbeitung etwa des Sozialismusbegriffs verbot sich schon wegen des Definitionsmonopols, das die Partei für den Inhalt dieses Begriffs in Anspruch nahm. Kritische Fragen an diesen Begriff sind erst 1987 aufgetaucht und gehören bereits in die Vorgeschichte des Endes der DDR. 2.4 Rolle der Oekumene Einen außerordentlich wichtigen Punkt habe ich bisher nicht erwähnt. Die Kirchen in der D D R haben eine besondere Rolle in der Oekumene des Weltrats der Kirchen gespielt. Auch dies und gerade dies gehört in den Prozeß der Annäherung an den Sozialismus hinein. Dazu muß ich etwas ausholen. Die Teilnahme an oekumenischen Konferenzen, Konsultationen und Besuchsreisen gehörte zu den wenigen Privilegien, die Bürger der D D R als Mitglieder der Kirche genossen. Für zahlreiche DDR-Bürger waren dies die einzigen Reisen ins westliche Ausland, zu denen sie einen Paß erhielten. Die Oekumene hatte insofern für DDRler einen sehr hohen Stellenwert. Allerdings galt das nur für Christen in einer kirchlichen Funktion. Die SED erlaubte und unterstützte solche Reisen, weil die Oekumene in ihren dominierenden Sprechern eine offenkundige antiwestliche und antikapitalistische Rhetorik bevorzugte und überhaupt eine Geneigtheit gegenüber dem

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"Sozialismus" zu erkennen gab, die zwar nicht mit dem Marxismus-Leninismus konform ging, aber doch dessen klassenkämpferischem Feindbild nahezustehen schien. Der Oekumene war die Kirche der DDR willkommen, sehr viel mehr als die EKD, weil sie den vorherrschenden Trend der oekumenischen Gremien als eine Kirche, die nicht nur unter dem Sozialismus, sondern im Sozialismus lebte und wirkte, zu unterstützen geeignet war. In der daraus folgenden Wechselwirkung hat die Kirche in der DDR aus der Oekumene eine Verstärkung derjenigen Orientierungsmuster empfangen, die auf die Annäherung an den real existierenden Sozialismus ausgerichtet waren. Gleichwohl wäre es unzutreffend, die Kirche in der DDR insgesamt und in allen ihren Repräsentanten mit diesem Prozeß der Annäherung an den Sozialismus gleichzusetzen. Seit dem Ende der DDR hat sich vielmehr sehr rasch ein anderes, sehr viel differenzierteres Bild gezeigt. Die durch den Systemzwang dominierenden Stimmen sind wieder zurückgetreten und andere, bis dahin zum Schweigen verurteilte Stimmen deutlicher hervorgetreten. 2.5 Theologische Leitbilder Im Kontext der Orientierungssuche für eine "Kirche im Sozialismus" haben einige wenige Theologen eine herausragende Rolle gespielt. Insofern gehört dazu auch ein Stück Theologiegeschichte. Die beiden wichtigsten Namen, die hier zu nennen sind, sind Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer. Die Geschichte der Barthdeutung wie der Bonhoefferrezeption in der DDR muß noch geschrieben werden. Bonhoeffer konnte und durfte als Symbol für den antifaschistischen Widerstand zitiert, kommentiert und ediert werden. Davon wurde reichlich Gebrauch gemacht. Für die Annäherung an den Sozialismus ließ er sich nur mit erheblichen Verrenkungen in Anspruch nehmen, dafür aber umso mehr für eine Art Legitimation der marxistischen Religionskritik von innen her, nämlich über die von ihm im Tegeler Gefängnis brieflich notierte Formel vom "religionslosen Christentum". Zur Barthrezeption konnten ausdrückliche Äußerungen Barths wie der Brief an den Pfarrer in der DDR herangezogen werden, vor allem aber seine im zeitdiagnostischen Kern seiner Theologie stehende Kritik des bürgerlichen Christentums und der westlichen Aufklärung. Doch soll darauf hier nicht näher eingegangen werden.

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3. "Kirche im Sozialismus" im Kontext protestantischer Sozialismusaffinität. 3.1 Ende des Sozialismus? Der Zusammenbruch des sozialistischen Herrschaftssystems läßt die Frage aufwerfen, ob damit auch das Ende des Sozialismus besiegelt ist. Nach einem ersten kurzen Atemholen und einer in verblüfftem Schweigen verbrachten Schrecksekunde gibt es inzwischen wieder genügend Stimmen aus Kirche und Theologie, die dazu veranlassen, diese Frage negativ zu beantworten. Zwar sind es nur einige wenige, die unverrückt an ihrer marxistisch geprägten Weltanschauung festhalten. Sie können - s. die Weißenseer Blätter - das Scheitern des Sozialismus schlicht als das Eintreten der immer zu befürchtenden Gefahr des Sieges der Konterrevolution deuten und ex negativo die Bestätigung der marxistischen Geschichtsauffassung behaupten. Andere, und das dürfte eine sich erholende größere Zahl sein, erblicken im Scheitern des real existierenden Sozialismus das Versagen einer politischen Bürokratie gegenüber den wahren Zielen und Möglichkeiten des Sozialismus. Sie rufen zur Erneuerung und Verbesserung des Sozialismus auf. Dennoch: What are the lessons? Die Diskussion darüber sollte nicht an den Erfahrungen vorbeigehen, die 40 Jahre DDR und über 70 Jahre Sowjetkommunismus erbracht haben. 3.2 Zerstörung des Rechtsstaates Ich möchte das sozialethisch und theologisch Wichtigste an erster Stelle nennen. Sozialismus als Herrschaftsform in der in diesem Jahrhundert bekannt gewordenen Weise führt zur Aufhebung, ja Zerstörung des Rechtsstaates. Sozialismus als politische Form bedeutet insofern den Widerruf der wichtigsten politischen Errungenschaft der Neuzeit. Der Rechtsstaat ist das alles entscheidende Instrument zur Begrenzung politischer Macht, damit zur Einhegung des Einflusses politischer Ideologien auf die politischen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse, und der wirksamste Garant individueller Freiheit und Menschenwürde. Wenn man der protestantischen Sozialethik irgend einen Vorwurf machen kann und will, dann diesen, daß sie die fundamentale theologische und sozialethische Bedeutung des an Recht und Verfassung gebundenen Staates nicht mit dem gebührenden Vorrang behandelt hat. Zwischen der Freiheit und Würde der Person und der an Recht und Verfassung gebundenen politischen Macht besteht ein unlösliches Wechselverhältnis. Der Sozialismus dagegen will in seiner ausformulierten Theorie den Staat überwinden und an seine Stelle die allumfassende und allen Bedürfnissen genügende

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Gesellschaft setzen. Die Überzeugungsabhängigkeit der sozialistischen Grundideen macht es dabei zwingend, daß nur diejenigen zur Mitwirkung an der Verwirklichung dieses Zieles berufen sind, die die richtige Uberzeugung haben. Darum tritt die Partei als Uberzeugungsgemeinschaft an die Stelle von Recht und Staat. Die Anerkennung des Individuums wird damit abhängig von der vorherigen Bekehrung zu den Uberzeugungen des Sozialismus. Das entscheidende Fundament des Rechtsstaats ist dagegen, daß die Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft unabhängig von Bekenntnis und Uberzeugung gilt. Schon auf dieser Ebene ließe sich eine hintergründige Affinität der christlichen Theologie zum Sozialismus ausmachen: Die Kirche als Uberzeugungsgemeinschaft - sie beruht auf Kriterien, die gerade nicht ohne Unterschied der Person für jedermann gelten. Zumindest angedeutet sei darum die Frage, ob die neuzeitliche und für fundamentale Menschenrechte lebensnotwendige Trennung von Kirche und Staat bis in die Tiefen des theologischen Ansatzes der Sozialethik rezipiert worden ist, oder ob die Ideen einer am Ideal der Kirche ausgebildeten allumfassenden Gemeinschaft, einer spezifisch qualifizierten Sozialität einen theologischen Uberschuß darstellen, der gegebenenfalls zu Lasten individueller Freiheit geht. 3.3 "Weicher" und "harter" Sozialismus Indem ich Fragen dieser Größenordnung diskutiere, wird sofort ersichtlich, daß wir eine präzisere Diskussion der grundlegenden Begriffe brauchen. Ich schlage deshalb vor, im Lichte der Erfahrungen mit Sozialismus im Europa des 20. Jahrhunderts und angesichts des bleibenden Interesses an dem, was "Sozialismus" symbolisiert, zumindest eine fundamentale Unterscheidung vorzunehmen. Zu unterscheiden sei, so meine Anregung, zwischen einem "weichen" und einem "harten" Sozialismusbegriff. Unter einen "weichen" Sozialismusbegriff lassen sich eine Reihe der historischen, ethischen und religiösen Motive subsumieren, die zur Wortmoral von "sozial" und darum auch "Sozialismus" gehören. Ohne Anspruch auf präzise Ausarbeitung assoziiert sich damit etwa das Ideengut eines urchristlichen Sozialismus bzw. Kommunismus, am Bilde der ersten Gemeinden orientiert. Im Begriff der Kirche als einer 'societas perfecta' ist dieser Gedanke auch zu dogmengeschichticher Würde gelangt. In säkularer Gestalt ist er heute in der Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft ebenso präsent wie in den Spielarten des Communitarianism. Christlicher Sozialismus ist als Begriff wie als motivierender Impuls älter als der Marxismus. Als Begriff tatkräftiger christlicher Bewegung ist er eine

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Reaktion auf die sozialen Notstände der Industrialisierungsepoche im 19. Jahrhundert und heute in den wenig entwickelten Ländern. Im social gospel, in den evangelisch-sozialen Bewegungen und anderen Gruppen hat er seine konkrete Heimstatt. Aber auch Bismarck konnte sich mit seiner epochemachenden Initiative zur Entwicklung staatlicher Sozialpolitik als Vertreter eines christlichen Sozialismus verstehen. Uberhaupt steht Sozialismus als "weicher" Begriff für ein insgesamt offenes Bündel von Ideen und moralischen Werten, in anderer Wendung auch mit dem im deutschen Sprachgebrauch als Gegenbegriff zur Gesellschaft gängig gewordenen Begriff der Gemeinschaft. Auch der junge Marx könnte in die Genealogie des Sozialismus/Gemeinschaft-Syndroms eingezeichnet werden. Vor allem aber und theologisch folgenreich: Im "weichen" Sozialismusbegriff versammelt sich die geschichtstheologische Hoffnung auf Zeichen des kommenden Reiches Gottes, als "Vorschein von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit im Vorläufigen", als Weg für das "Prinzip Hoffnung". Die eschatologischen Ingredienzien sind bestens geeignet, den "weichen" Sozialismusbegriff erfahrungsresistent zu machen, im Blick einer Hoffnung, die Realitäten hoffnungskonform umformuliert zu Postulaten der Veränderung. Eschatologische Erwartungen sind unwiderlegbar, sozialethisch von jener reinen Normativität, die durch keine empirische Erfahrung zur Korrektur genötigt scheinen. Das ist der Punkt, an dem der Kontakt zum "harten" Sozialismus sich herstellt, der als Träger und Exekutor dieser Erwartung dem "weichen" Sozialismus als Partner sich anbietet. Dagegen der "harte" Sozialismusbegriff. Das ist der Sozialismus als politisches und ökonomisches Ordnungssystem, Sozialismus als Herrschaftsform. Für den "harten" Sozialismusbegriff sind die Kennzeichen maßgebend, die den real existiert habenden und in manchen Weltgegenden auch noch an der Macht befindlichen Sozialismus ausmachen. Für ihn ist die zustimmungsunabhängige Anwendung von staatlicher Zwangsgewalt zur Realisierung sozialistischer Ideen ebenso notwendig wie die Unterordnung individueller Freiheit unter die Gebote der sozialistischen Gesellschaft. Zum "harten" Sozialismus gehört weiter eine klar definierte politische Geschichtsauffassung, derzufolge nicht Recht, sondern Gewalt das Fundament der sozialistischen Gesellschaft bildet, die im Kampf gegen den Klassengegner auszuüben durch das Ziel des Sieges prinzipiell gerechtfertigt ist auch angesichts der Opfer, die das Einhalten des geschichtsnotwendigen Weges verlangt. Der "harte" Sozialismus hat aus dem intellektuellen, moralischen und religiösen Reservoir des "weichen" Sozialismus immer wieder Zufuhr erhalten. Die Hoffnung auf ein gedeihliches Miteinander kommt noch in dem DDR-typischen Begriff des "verbesserlichen" Sozialismus zum

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Ausdruck. Aber auch wenn dieser von jenem enttäuscht worden ist, muß das nicht das Ende des "weichen" Sozialismus zu bedeuten. 3.4 Lektionen Wozu soll diese Unterscheidung zwischen "weichem" und "hartem" Sozialismus dienen? In dieser Perspektive läßt sich 1. eine Begründung für die höchstwahrscheinliche Prognose finden, daß entgegen der Erfahrungen mit dem Sozialismus die Anziehungskraft des "weichen" Sozialismusbegriffs in Kirche und Theologie nicht erlöschen wird. Entgegen konkreter politischer und ökonomischer Erfahrung wird es in der Oekumene, in kirchlichen Gruppen und im Munde von prophetischen Theologen auch in Zukunft eine dem Sozialismus zugewandte Rhetorik geben. Mit dieser Unterscheidung läßt sich 2. beschreiben, welchen Anteil die westliche Welt, ihre Theologen, Sozialphilosophen und ihre weltlichen und kirchlichen Meinungsführer an der Geschichte des "harten" Sozialismus haben. Die Resonanz, die der Sozialismus seit 1917 und dann wieder seit 1945 in der westlichen Welt gefunden hat, ist das bisher nur unzureichend diskutierte Umfeld für den weltweiten Einfluß des real existierenden Sozialismus gewesen. Der "weiche" Sozialismus ist 3. ein permanenter Mitbewohner des Hauses der christlichen Sozialethik. Angesichts des Scheiterns des "harten" Sozialismus muß darum die Frage gestellt werden, ob die Sozialethik zu einer empirischen Uberprüfung ihrer fundamentalen Orientierungen bereit und fähig ist. Das Scheitern des Sozialismus ist das Scheitern seiner zentralen Lehre, nämlich der Uberzeugung von der ökonomischen Basis gesellschaftlicher Verwirklichung humaner Existenz. Der "harte" Sozialismus ist an seiner vollständigen ökonomischen Ineffizienz gescheitert, d.h. an dem, was Kern und Fundament für alle Erwartungen und Hoffnungen sein sollte, mit denen sich der "weiche" Sozialismus als Partner des "harten" Sozialismus verstand. Und schließlich, 4., soll diese Unterscheidung erkennbar werden lassen, daß der "weiche" Sozialismus immer in Verbindung mit konkreten, "harten" Realitäten von Politik, Recht und Ökonomie sozialethisch verantwortet werden muß. Daraus folgt heute die Frage, welche Verbindungen es sind, die die Sozialethik suchen und eingehen muß, um ihren Grundsätzen konkrete Gestalt zu geben. Das meiste von dem, was der "weiche" Sozialismus erwartet, ist auf die eine oder andere Weise präsent und konkretisierungsfähig in Verbindung mit einer dynamischen Sozialpolitik demokratischer Rechtsstaaten, im Kontext einer effektiv arbeitenden marktwirtschaftlichen Ökonomie, in der die Arbeit sich lohnt und Wohlfahrt produziert wird, im Bünd-

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nis mit einer politischen Ordnung, die durch Regeln der Machtbegrenzung korrekturfähig und durch Pluralismus der politischen Konkurrenz zum Wandel offen ist. Der crucial point für die christliche Sozialethik ist dort zu finden, wo der "eschatologische Uberschuß" eine soziologische und politische Heimstatt sucht. Hier muß sich die Theologie ihrer eigenen Grundlagen vergewissern: Die eschatologische Hoffnung des christlichen Glaubens kann und darf auf keine gesellschaftliche Ordnung übertragen und ihre Erfüllung von keiner politischen oder ökonomischen Macht erwartet werden. Sie gilt in der Wahrheit ihrer Verheißung dem Menschen, nicht wie er sich selbst sieht und sucht, in seinen Utopien nicht, auch nicht in seinen moralischen Qualitäten, sie gilt dem Menschen, wie Gott ihn sieht und annimmt. Das ist das Fundament der Freiheit, die Christen aus eigenen Gründen zu predigen haben und nicht von einer sozialistischen oder kapitalistischen Gesellschaft erwarten. Im Jahre 1933 veröffentlichte Reinhold Niebuhr einen Artikel mit dem Titel "After Capitalism - What?" Diese Frage war damals eine Parallele zu der Frage von John C. Bennet "After Liberalism - What?" Bennet kehrte 10 Jahre später zu dem zurück, was er einen "Chastened Liberalism" nannte. Niebuhr bekannte sich zu einem "New Realism". Heute lautet die Frage "After Sozialism - What?" In die Suche nach einer Antwort müssen die Erfahrungen mit dem realen Sozialismus eingehen, um die Irrwege des "weichen" Sozialismus umzuleiten in konstruktive Wege einer ebenso liberalen wie sozialen, ökonomisch effektiven und demokratisch legitimen Ordnung der menschlichen Gesellschaft.

Clemens Vollnhals OBERKIRCHENRAT GERHARD LÖTZ UND DAS MINISTERIUM FÜR STAATSSICHERHEIT Zur IM-Akte "Karl"! Gerhard Lötz, 1911 in Altenburg geboren, trat 1938 als Assessor in den Dienst des Landeskirchenamtes der Evang.-Luth. Kirche in Thüringen, 1942 wurde er zum Kirchenrechtsrat befördert. Obgleich an einer Hochburg der "Deutschen Christen" angestellt, gehörte Lötz aus Uberzeugung keiner NSOrganisation an. Nach der Rückkehr aus Kriegsdienst und Gefangenschaft war er bis zu seinem Ruhestand 1976 als Oberkirchenrat und Leiter des Landeskirchenamtes tätig, ab 1948 amtierte er als Stellvertreter des Landesbischofs in weltlichen Angelegenheiten. Von 1956 bis 1976 gehörte Lötz dem Hauptvorstand der CDU an. Im selben Jahr wurde er in das Präsidium des Weltfriedensrates berufen, später wirkte er als Vizepräsident des Friedensrates der DDR, von 1968 bis zu seinem Ruhestand auch als Volkskammerabgeordneter der CDU. Für seine Verdienste erhielt Lötz u.a. 1976 den Orden "Stern der Völkerfreundschaft" in Silber und 1981 den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold. Nicht verzeichnet in den üblichen Nachschlagewerken sind weitere Auszeichnungen, die Lötz für "besondere Verdienste beim Schutz und der Sicherung der sozialistischen Gesellschaftsordnung" verliehen wurden: So u.a. die "Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee" in Gold (1970) und der Ehrentitel "Verdienter Mitarbeiter der Staatssicherheit" (1976); beide Urkunden sind von Erich Mielke ausgefertigt worden?.

1

Vortrag vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages am 14./15.12.1993 in Erfurt zum Thema "Die Haltung der evangelischen Kirchen in der D D R gegenüber dem SED-Staat und der Bundesrepublik Deutschland". Der Beitrag basiert auf einem Forschungsprojekt des Verfassers "IM 'Karl' und der Thüringer Weg" (Arbeitstitel).

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BUNDESBEAUFTRAGTER FÜR STASI-UNTERLAGEN,

BStU, ZA), AIM 3043/86, Bd. 1/2, ohne Pag.

ZENTRALARCHIV

(im folgenden

zitiert:

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Clemens Vollnhals

Erste Hinweise, daß Lötz enge Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hielt, gab es seit Anfang der sechziger Jahre 3 . Das ganze Ausmaß der gemeinschaftszersetzenden Tätigkeit wurde jedoch erst im Juni 1992 allgemein bekannt, als "Der Spiegel" einen langen Bericht über die IMAkte publizierte 4 . Die vom Staatssicherheitsdienst angelegte IM-Akte "Karl"5 besteht aus einer zweibändigen Personalakte (dem sog. Teil I einer jeden IM-Akte) und einer sechsbändigen Berichtsakte (Teil II). Zuwendungen und Auszeichnungen sind in der Personalakte enthalten. Die 1955 angelegte Akte ist ordentlich geführt und weist keine erkennbaren Lücken auf. Die Berichtsakte (Teil II) umfaßt insgesamt 931 Blatt. Der erste hier überlieferte Treffbericht datiert vom 1. Juni 1955 und wurde von dem MfS-Offizier Sgraja entgegengenommen. Franz Sgraja leitete (seit dem 1. September 1954) das für die evangelische Kirche zuständige Referat 6/1 (später 4/1) der Hauptteilung V6, aus der 1964 die Hauptabteilung XX hervorging. Die Berichtsakte schließt mit einem Vermerk des letzten Führungsoffiziers Klaus Roßberg (HA XX/4/1) über einen Besuch bei Oberkirchenrat Lötz in Eisenach am 2. April 1980. Lötz war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer erkrankt und verstarb ein Jahr später (10. Dezember 1981). Im März 1986 verfügte der Leiter der H A XX, Generalmajor Paul Kienberg, die Archivierung der IM-Akte "Karl". Die Anwerbung Lötz1 als "Geheimer Mitarbeiter", einer Vorläuferbezeichnung des späteren IMB7, fand im Laufe einer vierstündigen Unterredung mit Sgraja am 21. März 1955 statt; von einer schriftlichen Verpflich-

3 4

Vgl. GERHARD BESIER: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1993, S. 368 ff. DER SPIEGEL Nr. 26 vom 22.6.1992: '"Opposition bringt nichts.' Das geheime Leben des ostdeutschen Oberkirchenrats 'Karl' alias Gerhard Lötz". Hierauf reagierte die Thüringer Kirchenleitung mit einer Erklärung, die hilflose Empörung über die Veröffentlichung zum Ausdruck brachte. Vgl. INFORMATIONSDENST der Evang.-Luth. Kirche in Thüringen vom 23.6.1992.

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6

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Registriernummer: MfS 820/55 bzw. 10687/60. 1969 erfolgte gemäß der MfS-Richtlinie 1/68 die Umregistrierung zum IMV (entspricht dem späteren IMB). Vgl. BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. 1/1, Bl. 127ff. Auf Befehl Wollwebers vom 21.12.1954 wurde das bisherige Referat "Kirchen und Sekten" in eine Abteilung (HA V/6) mit drei Referaten - evang. Kirche, kath. Kirche, Sekten umgewandelt (BStU, ZA, GVS 2490/54). In den 50er Jahren wurden die Inoffiziellen Mitarbeiter in folgende Kategorien eingeteilt: Geheimer Informator ( - IMS), Geheimer Hauptinformator (« FIM), Geheimer Mitarbeiter ( - IMB).

Gerhard Lötz und das Ministerium für Staatssicherheit

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tung wurde ausdrücklich abgesehen8. Dies war nach der MfS-Richtlinie Nr. 21 vom 20. November 1952 bei hochgestellten Persönlichkeiten, speziell bei kirchlichen Würdenträgern, zulässig9. Lötz erklärte sich zur konspirativen Zusammenarbeit bereit und charakterisierte bereits beim zweiten Treffen "kirchliche Würdenträger, die die Möglichkeit einer Anwerbung bieten", so der Bericht Sgrajas10. Auch nach Kenntnis zahlreicher IM-Akten stellt diese sofortige bedingungslose Zuarbeit einen außergewöhnlichen Vorgang dar. Die Zusammenarbeit mit dem MfS erfolgte vornehmlich auf der Basis politischer Uberzeugung. Lötz hatte sich frühzeitig auf lokaler und überregionaler Ebene in der SED-gesteuerten Volkskongreß- bzw. Friedensbewegung engagiert, was ihm bald in kirchlichen Kreisen den Spitznamen "der rote Lötz" eintrug. Weiterhin heißt es in einem Auskunftsbericht der MfSBezirksverwaltung Erfurt aus dem Jahre 1954, der die Werbung vorbereiten sollte: "Lötz steht seit 1945 auf der Seite des Fortschritts und erkennt die Maßnahmen der Regierung an." 11 Auch die Arbeitsgruppe für Kirchenfragen beim Zentralkomitee der SED beurteilte sein politisches Engagement sehr positiv und ließ beispielsweise im Februar 1955 einen Rundfunkkommentar, in dem sich Lötz scharf gegen die Pariser Verträge ausgesprochen hatte, an alle SED-Bezirksleitungen verteilen12. Ausgelöst wurde der Anwerbungsvorgang durch einen Vermerk, den Innenminister Stoph am 9. Februar 1954 dem Leiter des Staatssicherheitsdienstes Wollweber gesandt hatte 13 . Ihm lag ein Protokoll der Volkspolizei, Abteilung K, bei, in dem Lötz einen nächtlichen Raubüberfall (17. Dezember 1954) auf seine Person angezeigt hatte. Da der Uberfall nach dem Besuch mehrerer Nachtlokale im Anschluß an eine kirchliche Dienstbesprechung in Berlin stattgefunden hatte, sollte dieser Vorfall offensichtlich als Druckmittel verwandt werden. Lötz jedenfalls war der Vorfall so peinlich, daß er ihn erst einen Monat später und in Begleitung der CDU-Vorstandsmitglieder Wirth und Mascher der Volkspolizei zu Protokoll gab. Wirth und Mascher erklärten den Beamten, der stellvertretende Ministerpräsident und Leiter des 8

BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. 1/1, Bl. 6ff. Ausführlicher Bericht über das Anwerbungsgespräch: Bd. 1/1, Bl. 24 ff.

9

"Uber die Suche, Anwerbung und Arbeit mit Informatoren, geheimen Mitarbeitern und Personen, die konspirative Wohnungen unterhalten". Druck: DIE INOFFIZIELLEN MITARBEITER. Richtlinien, Befehle, Direktiven. Hg. vom BStU. Berlin 1992, Bd. 1, S. 13-56.

10 BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. 1/1, Bl. 6ff. 11

EBD., B d . V i , Bl. lOf.

12

Rundschreiben Barths an alle Bezirksleitungen vom 3.2.1955 (SAPMO [-Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR; Bundesarchiv Berlin], ZPA, I V / 2 / 1 4 / 4 1 , Bl. 13).

13

BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. 1/1, Bl. 13.

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Amtes für Kirchenfragen, Otto Nuschke (CDU), sei bereits informiert und wünsche keine Presseveröffentlichung über diesen Vorfall. Dies würde nur dem Gegner nutzen, um "einen unserer fortschrittlichsten Vertreter der Kirchenbehörde zu diffamieren unter Blickrichtung auf unmoralischen Lebenswandel" 14 . Wenige Tage nach dem Aktenvermerk Stophs erhielt die MfS-Bezirksverwaltung Erfurt am 13. Februar 1954 von der Berliner Zentrale die Anweisung, eine genaue Einschätzung des "politischen, religiösen und moralischen Verhaltens" von Oberkirchenrat Lötz zu erarbeiten. Folgt man dem Anwerbungsbericht Sgrajas und späteren MfS-Beurteilungen, so scheint dieses Druckmittel allerdings für die Verpflichtung keine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Der Vorgang verdeutlicht jedoch das enge Zusammenspiel von SED, Staatsapparat und MfS, in das auch führende CDU-Funktionäre einbezogen waren. Oberkirchenrat Lötz lieferte dem MfS alle gewünschten Informationen, soweit die Beschaffung in seiner Macht stand: Er übermittelte personalpolitische Interna jeglicher Art, erteilte aus kirchlichen Personalakten Auskünfte über NS-belastete Pfarrer und Oberkirchenräte, ermittelte im Auftrag seines Führungsoffiziers, ob der Bischof Frauenbekanntschaften habe15. Er übergab dienstliche Schreiben, Protokolle von Bischofkonferenzen, Ratstagungen der EKD oder Referentenbesprechungen, Haushaltspläne und Statistiken oder teilte deren Inhalt mit. Sgraja, der gleichzeitig den Dresdner Kirchenjuristen Konrad Müller (EM "Konrad" 16 ) und den Greifswalder Kirchenjuristen Dr. Hans-Joachim Weber (IM "Bastler"17) führte, schätzte den Wert der von Lötz erarbeiteten Informationen als "sehr hoch" ein, "da durch ihn Informationen dem MfS zugänglich waren, die bisher von keiner anderen Seite gebracht wurden" 18 . Lötz berichtete nicht nur über kirchenpolitische Interna. Er nahm auch persönlich an einer Aktion zur heimlichen Durchsuchung des Arbeitszimmers von Bischof Mitzenheim teil19. Er unterstützte den Staatssicherheitsdienst bei der Ermittlung jener Personen, die als Kuriere und Geldboten die Verbindungen zwischen Ost- und Westdeutschland aufrechterhielten und

14 15 16 17

EBD., Bd. 1/1, Bl. 16.

Treffbericht vom 22.3.1956 (ebd., Bd. I I / l , Bl. 29ff.). Registriernummer: MfS 10688/60; BStU, ZA, AIM 1822/64. Registriernummer: MfS 1683/57 bzw. 10672/60; BStU, ZA, AIM 1377/62. Vgl.GERHARD BESIER: Ein eifriger Partner der Staatssicherheit. In: Süddeutsche Zeitung vom 25.11.1993. 18 Beurteilung vom 8.1.1958 (BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. 1/1, Bl. 61f.). 19 Treffbericht vom 12.7.1957 und 31.10.1957 (EBD., Bd. H/1, Bl. 102ff., 109ff.). Das Vorhaben mißlang, da sich die Ehefrau des Bischofs im Gebäude aufhielt.

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damit nicht selten ein großes Risiko eingingen20. Für seine Verdienste bei der "operativen Bearbeitung" des Direktors der Evangelischen Akademie in Eisenach sowie eines Pfarrers, die angeblich in Verbindung mit dem Bundesnachrichtendienst gestanden haben sollen, erhielt Lötz Sach- und Geldgeschenke im Wert von 400 DM 21 . Als sich Akademiedirektor W., der unter Druck erneut für das MfS geworben werden sollte, dem Bischof offenbarte, teilte Lötz dies, wie auch in anderen Fällen, umgehend seinem Führungsoffizier mit. Wenn es nötig war, wurde er auch im Ausland für seine Auftraggeber aktiv. Als etwa die Bischöfe Mitzenheim, Noth (Dresden) und Jänicke (Magdeburg) im September 1959 die UdSSR bereisten, hielt Lötz, der ebenfalls der Delegation angehörte, die Verbindung zu den "Freunden" vom KGB, "wo laufende Auswertungen vorgenommen und Detailfragen durchgesprochen wurden" 22 . Die Treffen mit dem Führungsoffizier erfolgten in der Regel außerhalb des Wohnortes, zumeist in Berlin und Leipzig, um die Einhaltung strengster Konspiration zu gewährleisten. Hierauf legte Lötz selbst großen Wert, weshalb er auch nie schriftliche Berichte übergab oder Quittungen unterschrieb. Sie könnten ja, so seine Begründung, durch einen Verräter im MfS dem Feind in die Hände fallen. Als Gedächtnisstütze mitgebrachte Notizen vernichtete Lötz sorgfältig. Allerdings wurden die Besprechungen gelegentlich zur späteren Auswertung auf Tonband aufgenommen. Die Treffen selbst nahmen zumeist mehrere Stunden in Anspruch, manchmal bis zu acht. Sie fanden in konspirativen Wohnungen, aber auch in abgelegenen Lokalen statt. Die Berichte nahm zumeist Sgraja, ab 1967 auch Roßberg entgegen, verschiedentlich erschienen auch der Abteilungsleiter der H A XX/4 Hans Ludwig bzw. sein Nachfolger Joachim Wiegand zu den Treffen; auch Generalmajor Kienberg lernte Lötz kennen. In der ersten Jahren lehnte es Lötz strikt ab, größere Sachgeschenke oder Geldbeträge entgegenzunehmen, wohl um seine vermeintliche Unabhängigkeit zu wahren. Später änderte sich dies. Mitte der sechziger Jahre erhielt Lötz bei jedem Treff 100 Mark 23 . Als persönliche Bitten erfüllte das MfS u.a. die Zulassung der Tochter zum Studium, Urlaubsreisen in die UdSSR oder die bevorzugte Zuteilung eines PKW, Marke "Trabant 601". Insgesamt spielten materielle Motive, wie bei den meisten Inoffiziellen Mitarbeitern, jedoch eine untergeordnete Rolle.

20 Vgl. z. B. Treffbericht vom 14.1.1957 (EBD., Bd. H/1, Bl. 58ff.). 21 Aktenvermerk vom 18.12.1961 (EBD., Bd. 1/1, Bl. 96). Zum Vorgang vgl. BStU, ZA, H A XX/4-74. 22 Treffbericht vom 18.9.1959 (BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. II/2, Bl. 147ff.). 23 Vgl. Beurteilung vom 1.11.1966 (EBD., Bd. 1/1, Bl. 169ff.).

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Der Akte ist ferner zu entnehmen, daß sich Lötz im Laufe der Jahre immer wieder mit dem Gedanken trug, aus dem kirchlichen Dienst auszuscheiden und eine Stelle im staatlichen Bereich anzunehmen. Hier war das psychologische Geschick eines geschulten Führungsoffiziers gefordert, um den IM moralisch aufzurichten. So heißt es beispielsweise in der Beurteilung aus dem Jahr 1959: "Bei solchen Treffen hatte 'Karl' oft einen 'moralischen Tiefstand1, wo er beteuerte, daß nur hier [bei den Treffs] das Herz ausgeschüttet werden kann, ständig in zwei Fronten zu kämpfen fällt ihm oft nicht leicht. 'Karl' beteuerte auch ständig, daß er diesen Kampf nur der gemeinsamen Sache willen durchsteht."24 Die psychische Abhängigkeit vom Führungsoffizier, dem man sich allein noch anvertrauen konnte, kennzeichnet das Schicksal vieler IM. Oberkirchenrat Lötz war kein gewöhnlicher Informant der Staatssicherheit, auch wenn er in der Spitzeltätigkeit eine beachtliche kriminelle Energie an den Tag legte. Seine eigentliche Bedeutung für das MfS lag auf einem anderen Gebiet. Lötz besaß einen scharfen politischen Verstand, er vermochte strategische Konzeptionen zu entwickeln und sie mit taktischem Geschick umzusetzen. Damit wurde Lötz zu dem vermutlich bedeutendsten MfS-Einflußagenten der 50er und frühen 60er Jahre. Als Ziel der inoffiziellen Zusammenarbeit hatte Sgraja schon in seinem Bericht über das Werbungsgespräch am 21. März 1955 drei Punkte herausgestellt: "a) Informationsquelle, b) Bearbeitung mit dem Ziel der Anwerbung des Bischofs Mitzenheim, c) Organisierung von Maßnahmen durch die Kirchenleitung Thüringen, die sich für die gesamte Republik auswirken können." 25 Diese Aufgabenstellung verweist auf eine langfristig angelegte Konzeption, die das MfS im Auftrag der SED bereits in den fünfziger Jahren anvisierte: die Unterwanderung und mittelbare Steuerung der evangelische Kirche durch Inoffizielle Mitarbeiter. Die geplante Anwerbung des Landesbischofs kam nicht zustande. Dennoch gelang es dem MfS, Mitzenheim über Lötz und andere Inoffizielle Mitarbeiter in seiner Umgebung so zu beeinflussen, daß er seine ursprüngliche Distanz zum SED-Staat allmählich aufgab und sich schließlich zum Vorreiter einer besonders staatsloyalen Haltung entwickelte. Es war vornehmlich Lötz, der den zunächst eher zögerlichen Mitzenheim zum Arrangement mit der Macht drängte. Dies läßt sich aus den SED- und MfS-Akten beispielhaft an der Entstehungsgeschichte der "Gemeinsamen Erklärung", des Kommuniques vom 21. Juli 1958, belegen, die als politische Loyalitätserklärung - die Christen 24 EBD., Bd. 1/1, Bl. 73ff. Vgl. auch Beurteilung vom 1.11.1966 (EBD., Bl. 169ff.). 25 EBD., Bl. 27.

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"respektieren die Entwicklung zum Sozialismus"26 - für die SED von großem Nutzen war, der aber keine Taten zur Beendigung der Diskriminierung christlicher Bürger folgten. Trotz dieser bitteren Enttäuschung ließ sich Mitzenheim immer wieder überreden, weitere propandistisch ausnutzbare Erklärungen abzugeben. So setzte Lötz den Offenen Brief Mitzenheims an Ministerpräsident Grotewohl vom 13. April 1959 auf 27 , was zusammen mit der Stellungnahme Mitzenheims zum 10. Jahrestag der DDR 2 8 und anderen Äußerungen die Kluft zu Bischof Dibelius und den übrigen Landeskirchen weiter vertiefte. Nicht zuletzt war es der Überredungskunst Lötz' zuzuschreiben, daß Mitzenheim am 17. August 1961, vier Tage nach dem Mauerbau, aus der Hand Walter Ulbrichts den Vaterländischen Verdienstorden in Gold entgegennahm, obwohl er zwei Tage zuvor noch telegraphisch abgesagt hatte29. Vollends deutlich wurde die Isolierung Mitzenheims, als er 1962, ungeachtet massiver staatlicher Pressionen, von der Kirchlichen Ostkonferenz nicht mehr zum Stellvertreter Krummachers gewählt wurde. Seinen Sitz im Rat der EKD hatte er bereits 1961 verloren. Diese Niederlage, von Mitzenheim als tiefe Demütigung empfunden, trieb ihn endgültig auf die Seite jener "positiv-realistischen" Kräfte, die wenig später den "Thüringer Weg" als Modell für die gesamte evangelische Kirche propagierten. Lötz hatte in diesen Jahren maßgeblichen Anteil an der Entwicklung kirchenpolitischer Konzeptionen und ihrer konkreten Umsetzung. Er beriet vor und nach dem Erlaß wichtiger staatlicher Maßnahmen die zuständigen MfS-Offiziere der H A V bzw. X X , schätzte kirchliche Reaktionen ein und unterbreitete detaillierte Vorschläge, wie der innerkirchliche "Differenzierungsprozeß" am besten zu befördern sei. Diese konzeptionelle Zuarbeit war für das MfS von außerordentlicher Bedeutung, besaßen doch anfangs die für Kirchenfragen zuständigen Mitarbeiter nur geringe Kenntnisse über die evangelische Kirche, ihre Organe und internen Verhältnisse. Bis Anfang der sechziger Jahre dominierte ein polares Freund-Feind-Denken, das die Kirche ausschließlich als Agentur des imperialistischen Klassenfeindes ("NATOKirche") wahrnahm. Erst danach setzte sich eine flexiblere - und in ihrer Wirkung für die SED wesentlich erfolgreichere - Kirchenpolitik durch, die 26 Druck: KJ 1958, Gütersloh 1959, S. 144f. Vgl. auch G. BESIER, SED-Staat (Anm. 3), S. 261ff; DERS.: AUS der Resistenz in die Kooperation. Der "Thüringer Weg" zur "Kirche im Sozialismus". In: Günther Heydemann/Lothar Kettenacker (Hg.): Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED-Staat. Göttingen 1993, S. 182-214. 27 BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. H/2, Bl. 133ff. Druck: MORITZ MLTZENHEM: Politische Diakonie. Reden - Erklärungen - Aufsätze 1946 bis 1964. Berlin 1964, S. 49f. 28 EBD., S. 57ff. 29 Vgl. BStU, ZA, MfS 12650/92, Bl. 19.

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auf Spaltung und Integration des ungeliebten Fremdkörpers Kirche in den "real existierenden Sozialismus" abzielte. Lötz war mit seinem Wissen auch ein gefragter Gesprächspartner staatlicher Stellen. Er beriet die Referenten beim Rat des Bezirkes in Erfurt ebenso wie das Staatssekretariat für Kirchenfragen, namentlich die Staatssekretäre Eggerath und Seigewasser, oder den Hauptvorstand der C D U , der jedoch bei der Ausformulierung der SED-Kirchenpolitik zunehmend an Einfluß verlor. Ein wichtiges Beratungsgremium der frühen Jahre stellte auch die Herausgeberkonferenz der 1955 gegründeten Zeitschrift "Glaube und Gewissen" dar, die ihre Existenz einem Beschluß des SED-Politbüros verdankt. An den monatlichen Besprechungen nahm auch Willy Barth teil, der von 1957 bis 1976 die Arbeitsgruppe für Kirchenfragen beim ZK der SED leitete30. In all diesen Kreisen wirkte Lötz als unentbehrlicher und geschätzter Ratgeber. Lötz agierte nicht als Einzelgänger, sondern versammelte in Thüringen zielgerichtet einen Kreis Gleichgesinnter, um den schwankenden Landesbischof kirchenpolitisch festzulegen. Dem Führungsgremium des Anfang 1958 gegründeten "Weimarer Arbeitskreises" gehörten neben Lötz an: Oberkirchenrat Gerhard Säuberlich, bis 1943 Leiter der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft, der Rektor des Predigerseminars Dr. Karl Brinkel, der Weimarer Superintendent Ingo Braecklein, ab 1959 Oberkirchenrat, und Professor Walter Grundmann, der von 1955 bis 1975 das Eisenacher Katechetenseminar leitete. Im "Dritten Reich" war Grundmann als radikaler Deutscher Christ und Leiter des "Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" in Erscheinung getreten. Der Weimarer Arbeitskreis organisierte auf innerkirchlicher Ebene die damals noch heftig umstrittene Annäherung an den SED-Staat. So führte er Ende 1958 gegen den Willen Mitzenheims den Synodalbeschluß zur praktischen Vereinbarkeit von Jugendweihe und Konfirmation herbei, womit die bis dahin geschlossene Ablehnungsfront durchbrochen war. Hierfür gab es gute Gründe, da die Gemeinden dem staatlichen Druck nicht standhielten. Es läßt sich an diesem Beispiel aber auch die gezielte Einflußnahme des MfS nachweisen 31 . Der Weimarer Arbeitskreis wurde mit Inoffiziellen Mitarbeitern durchsetzt, im Führungsgremium hatte das MfS mit Lötz, Braecklein

Vgl. Manfred WlLKE (Hg.): SED-Kirchenpolitik 1953-1958. Die Beschlüsse des Politbüros und des Sekretariats des Z K der S E D zu Kirchenfragen 1953-1958. Berlin 1992, S. 148FF. 31 BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd. H/2, Bl. 61ff., 67ff. Zum Weimarer Arbeitskreis vgl. auch die Einschätzung vom 12.8.1960: "Rolle und Aufbau oppositioneller Gruppen in den evangelischen Kirchen Westdeutschlands und der Deutschen Demokratischen Republik (BStU, ZA, Dokumentenstelle 101642). 30

Gerhard Lötz und das Ministerium für Staatssicherheit

603

(IM "Ingo" 32 ), der seit 1956 als Kontaktperson geführt und 1959 angeworben wurde, und Grundmann (IM "Berg" 33 ) ohnehin die Mehrheit. Im Mittelpunkt aller Bemühungen stand die kirchliche Personalpolitik, auf die das MfS in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen einzuwirken versuchte. Häufig mit Erfolg, wie eine von Pfarrer Walter Schilling herausgegebene Dokumentation eindrücklich aufweist34. Das mit den Jahren immer dichter werdende IM-Netz, das eine beachtliche Anzahl von Oberkirchenräten, Superintendenten und Kirchenjuristen umfaßte, erlaubte eine wirksame Einflußnahme auf innerkirchliche Entwicklungen. Den wohl größten Triumph der Staatssicherheit stellte in dieser Hinsicht die Wahl Braeckleins zum Landesbischof 1970 dar, den Lötz schon 1959 dem MfS als potentiellen Nachfolger empfohlen hatte 35 . Als Braecklein acht Jahre später aus Altersgründen in den Ruhestand trat, versuchten SED und MfS, Oberkirchenrat Walter Saft (EM "Salzmann"36) als Nachfolger aufzubauen. Seine Nominierung wurde im Landeskirchenrat von Braecklein sowie den Oberkirchenräten Walter Sieber (IM "Günter"), Hartmut Mitzenheim (EM "Klinger") und Wolfram Johannes (IM "Nettelbeck") gestützt37. Die Synode wählte jedoch nach langem Ringen den als "reaktionär" geltenden Kandidaten Werner Leich. Bei allen Erfolgen, die das MfS bei der Infiltration der Thüringischen Landeskirche erzielte, eine völlige Kontrolle der innerkirchlichen Entwicklung blieb der Staatssicherheit versagt. Die plurale Verfassung der evangelischen Kirche und vor allem das an demokratischen Spielregeln ausgerichtete Synodalprinzip stellte für die Außensteuerung eine nur schwer zu überwindende Barriere dar. Das MfS war omnipräsent, aber bei weitem nicht allmächtig.

32

Registriernummer: MfS 1387/59 bzw. 10679/60.

33

BStU, ZA, AIM 2455/69.

34

WALTER SCHILLING u.a. (Hg.): Die "andere" Geschichte, Erfurt 1993. Neben Auszügen aus MfS-Dokumenten enthält diese Dokumentation auch ein (unvollständiges) Verzeichnis wichtiger Inoffizieller Mitarbeiter.

35

BStU, ZA, AIM 304386, Bd. 1/1, Bl. 73.

36

BStU, Außenstelle Suhl, AIM 915/88. Zur Einschätzung vgl. auch Rat des Bezirkes Erfurt, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, vom 23.5.1973: "Analyse über die Entwicklung der Thüringer Kirche" (SAPMO, ZPA, IV B2/14/63).

37

Vgl. W. SCHILLING, Geschichte (Anm. 35), S. 201f.

604

Clemens Vollnhals

Anlage:38

Charakteristik des G M "Karl" Berlin, den 8.1. 1958 "Karl" wurde am 27.5. 1955 durch eine mündliche Erklärung für die Zusammenarbeit mit den Organen des M.f.S. gewonnen. Im Laufe der Zusammenarbeit lieferte "Karl" bedingungslos jede erdenkliche Information über a) Vorgänge aus der Landeskirche Thüringen b) aus Besprechungen, Tagungen und Sitzungen in Westberlin c) konkrete Fälle über Verdacht der Feindtätigkeit oder wo die Möglichkeit für Anwerbungen bestand. Alle diese Informationen gab "Karl" in mündlicher Form. Das deshalb, weil "Karl" sich schriftlich nicht binden lassen will. Eine Zusammenarbeit mit dem M.f.S. erfolgt aus Überzeugung. Aus diesem Grunde lehnt auch "Karl" jede finanzielle und materielle Unterstützung ab. Die Treffs mit "Karl" wurden entweder in Berlin in der KW "Burg" oder aber in einem Vorort von Leipzig im Lokal durchgeführt, wo er ständig Aufzeichnungen bei sich hatte, die er uns mündlich mitteilte. Ausser den mündlichen Informationen übergab "Karl" zur Einsichtnahme Protokolle aus Sitzungen und Besprechungen in Westberlin, so u.a. über die Ostkonferenzen, über Synoden, Schreiben der Ev. Kirche in Deutschland, usw. Der Wert dieser Informationen und übergebenen Unterlagen ist sehr hoch einzuschätzen, da durch ihn Informationen dem M.f.S. zugänglich waren, die bisher von keiner anderen Stelle gebracht wurden. Die Zusammenarbeit mit "Karl" beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Entgegennahme von Informationen, sondern mit "Karl" wurden Aktionspläne erarbeitet und durchgeführt, die für die Gesamtpolitik äußerst wertvoll sind. Es wurde auch nach konkreter Absprache mit "Karl" versucht, eine positive Beeinflussung des dortigen Bischofs durchzuführen. Ferner ist durch die Initiative von "Karl" in der Landeskirche Thüringen der Anfang einer Oppositionsbewegung von höheren Kirchenführern organisiert worden. Darüber hinaus wird die Politik der dortigen Kirchenleitung maßgeblich nach konkreten

38

BStU, ZA, AIM 3043/86, Bd.I/1, B1.61f.

Gerhard Lötz und das Ministerium für Staatssicherheit

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"Karl" selbst fühlt sich in seiner jetzigen Position nicht wohl. Er hat mehrmals den Wunsch geäußert, die Stellung aufzugeben. Nur die Zusammenarbeit mit uns hält ihn in seiner jetzigen Funktion. Er kommt deshalb auch gern pünktlich zu den vereinbarten Treffs. Bei diesen wird eine politische Erziehungsarbeit geleistet. "Karl" ist dem Alkohol nicht abgeneigt. In der Regel wurden die Treffs mit "Karl" einmal monatlich durchgeführt, wobei immer seine Besprechung bei "Glaube und Gewissen" in Leipzig zum Anlass genommen wurde, da eine Treffmöglichkeit in seinem Heimatort auf Grund dessen, daß er dort sehr bekannt ist, nicht möglich ist. gez. (Sgraja) Hauptm.

Anke Silomon DDR-KIRCHENPOLITIK VOR DEM ENDE Ein Tag im November 1989 im Bezirk Potsdam "Wollten wir, als wir die DDR wollten, Kirche in der DDR? Aber meine Damen und Herren - ohne Luft zu holen - nein."i Diese deutlichen Worte sprach am 2. November 1989 der Historiker Horst Dohle aus, der von 1975 bis 1989 als persönlicher Referent des Staatss e k r e t ä r bzw. als Leiter der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe beim Staatssekretär für Kirchenfragen der Deutschen Demokratischen Republik eine schillernde Persönlichkeit im Hintergrund dieser Dienststelle war, was die ideologische Unterfütterung staatlicher Kirchenpolitik in der ehemaligen DDR anbelangt. Der 1935 geborene Dohle kann sowohl aus damaliger als auch aus heutiger Sicht als kompetenter Kenner der Kirchenpolitik von Staat bzw. SED bezeichnet werden. Im August 1988 hatte er seine Habilitationsschrift mit dem Titel "Grundzüge der Kirchenpolitik der SED zwischen 1968 und 1978"3, die nach dem Zusammenbruch der DDR neben den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit zu den begehrtesten (und mitunter großzügig zitierten) Überbleibseln des SED-Regimes werden sollte, bei der Akademie der Gesellschaftswissenschaften der DDR eingereicht. Neben den Klassikern des Mar1

2

3

Prof. Dr. Horst Dohle auf einer Veranstaltung mit kirchlichen Amtsträgern am 2.11.1989 in Potsdam. Zu dieser Veranstaltung hatten der Bezirksausschuß Potsdam der Nationalen Front der D D R und der Rat des Bezirkes Potsdam im Haus der DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft) "Hans Rodenberg", für 10.00-13.00 Uhr ca. 70 Personen eingeladen. BRANDENBURGISCHES LANDESHAUPTARCHIV, Rep. 401 A/2502, Karton 309 B597, Rat des Bezirks Potsdam, Sektor Kirchenfragen. Von 1960 bis 1979 hatte Hans Seigewasser diese Funktion inne, 1979-1988 wurde der vormalige Kulturminister Klaus Gysi sein Nachfolger, der seinerseits im Sommer 1988 von Kurt Löffler abgelöst wurde, bis im November 1989 Hermann Kalb übergangsweise und zuletzt Lothar de Maiziere für kurze Zeit das "Amt für Kirchenfragen" der DDR übernahm. HORST DOHLE: Grundzüge der Kirchenpolitik der SED zwischen 1968 und 1978. Berlin, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Institut für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Forschungsbereich Geschichte der Bündnispolitik der SED; Diss. B. Berlin (Ost) 1988: SAPMO [ - Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR; Bundesarchiv Berlin], IPM 2237.

DDR-Kirchenpolitik vor dem Ende

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xismus-Leninismus, Parteibeschlüssen, Reden von ZK-Sekretären und in der DDR und anderen sozialistischen Staaten veröffentlichter Literatur sind im Anhang auch gut drei Dutzend Publikationen aus dem "nichtsozialistischen Ausland" aufgeführt. Dohle zeichnete sich durch die - leider unter in der DDR für Kirchenfragen Zuständigen weniger verbreitete - Eigenschaft aus, einen Einblick in theologische Grundfragen und einen Überblick über kirchliche Organisationsstrukturen gewonnen zu haben. Aus diesen Gründen wurde er gebeten, auf einer Diskussionsveranstaltung in Potsdam einen Vortrag zum Thema "Das Staat-Kirche-Verhältnis - ein Ergebnis des erfolgreichen Weges in 40 Jahren DDR" zu halten, in dessen Anschluß eine Diskussion mit "kirchlichen Amtsträgern" geplant war. Drei Gründe sprechen dafür, sich mit dieser Veranstaltung zu beschäftigen. Der erste ist zugleich Voraussetzung für eine Auseinandersetzung. Dieter Müntz, ein Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung Potsdam, meldete sich kurz vor Schluß, auf Verlangen der anwesenden Kirchenvertreter, für die staatliche Seite zu Wort: "...ich vergaß zu sagen, daß ich die Diskussion auch sehr schön finde - und daß wir - das hätten wir ihnen vielleicht vorher sagen müssen - die Sache aufgezeichnet haben." 4 Den zweiten Grund benannte der Referent Horst Dohle: "Geschichte kennt keine geklärten Fragen. Unsere Behauptung, wir hätten sie geklärt, die straft uns jetzt. Unsere Geschichte holt uns ein." Aus dem von Dohle - retrospektiv betrachtet zu diesem Zeitpunkt geradezu seherisch - eingeräumten Kardinalfehler der DDR-Staats- und Parteiführung ergibt sich die besondere Brisanz dieser Zusammenkunft und damit der dritte Grund: Genau eine Woche nach diesem Gespräch zwischen wenigen Marxisten und vielen gläubigen Bürgern öffnete die D D R ihre Grenzen. Dohle erklärte auch eingangs, "in dieser Situation" nicht ohne weiteres zu dem im Programm ausgedruckten Thema sprechen zu können, sondern schlug vor, sich vielmehr einander in einer offenen Diskussion zu stellen. Diese neue Art des Umgangs gehöre vielleicht "zu einer künftigen Form von Demokratie". Dohle leitete seinen dann doch folgenden - und durch persönliche Bemerkungen bereicherten - Abriß über die staatliche Kirchenpolitik und die darin eingebundene Kurzanalyse von Ursachen für das belastete Staat4

Wenn es nicht anders vermerkt ist, entstammen alle folgenden Zitate der maschinenschriftlichen Abschrift der Tonbandaufzeichnung dieser Veranstaltung, die im BRANDENBURGISCHEN LANDESHAUPTARCHiv unter der in Anm. 1 genannten Signatur archiviert ist. In derselben Akte befinden sich ebenfalls die "Einschätzung der Veranstaltung", die im Sekretariat des Bezirksausschusses Potsdam der Nationalen Front verfaßt wurde sowie einige Pressestimmen. Da weder die einzelnen Teile noch die gesamte Akte durchpaginiert ist, werden keine Seitenzahlen angegeben.

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Anke Silomon

Kirche- sowie Staat-Gesellschaft-Verhältnis mit einem Zitat seines ehemaligen Dienstherren Klaus Gysi 5 ein: "Diese Kirchenpolitik zeichnet sich durch eine gewisse Exotik aus." Dieser Ausspruch vermittelt auch dem Laien eine gewisse Vorahnung von der Schwierigkeit, eindeutige Aussagen über Charakter und Struktur der DDR-Kirchenpolitik zu machen. Für den ehemaligen persönlichen Referenten Gysis haftete bereits der schlichten Aufnahme von Gesprächen zwischen Marxisten und Christen ein Hauch von Exotik an. Eine solche Einschätzung entbehrte einer gewissen Logik nicht, zumal nach dem sozialistischen Verständnis Kirche als Überbleibsel bürgerlicher Strukturen von selbst hätte verschwinden müssen. Diese Theorie war durch die Realität widerlegt worden, und Dohle hatte in den "Ergebnissen und Lehren" seiner Habilitationsschrift mehrfach aus einer Rede des PolitbüroMitglieds Paul Verner zitiert, unter anderem auch die korrigierende Äußerung, die SED gehe davon aus, daß Kirchen für eine lange Zeit existieren würden und '"daß es deshalb notwendig ist, sich Gedanken zu machen, wie die Kirchen in die sozialistische Gesellschaft eingeordnet werden können'." 6 Im Laufe der Staat-Kirche-Beziehungen hatten sich nach Döhles Ansicht Umgangsformen entwickelt, die "im Rest der Gesellschaft durchaus nicht üblich waren". Dazu zählte er die Möglichkeit der gegenseitigen Herausforderung und des immerwährenden Infragestellens der anderen Seite. Der Schwerpunkt der Kirchenpolitik sei in den letzten Jahren nicht mehr das Verhältnis von Staat und Kirche als solches gewesen, sondern "die gesamtgesellschaftliche innere und außenpolitische Entwicklung und die Haltung der Kirchen dazu." 7 Der große Nutzen zum Beispiel des friedenspolitischen Engagements der Kirche für das internationale Ansehen der DDR wurde nicht nur von Dohle genauso klar erkannt wie die Bedeutsamkeit des engen Zusammenhangs von Innen- und Kirchenpolitik und die parallele Entwicklung des Staat-Kirche- und Staat-Gesellschaft-Verhältnisses. Seine fast schon penetrant freundschaftlichen und versöhnlichen Worte suggerierten der Zuhörerschaft in Potsdam, er habe sich im Grunde schon seit Beginn seiner Tätigkeit im Bereich der Kirchenpolitik 8 mit ungeahnter 5 6

7 8

Klaus Gysi wurde im Juli 1988 aus vorgeschobenen gesundheitlichen Gründen von Kurt Löffler abgelöst. H. Dohle, Grundzüge (Aran. 3), S. 183. Die ideologische Sicht vom Absterben der Religion/Kirche wurde in der Mitte der 70er Jahre auch offiziell hinterfragt, tauchte jedoch bis zum Zusammenbruch der DDR immer wieder auf. Vgl. auch Uwe Funk: DDR-Kirchenpolitik zwischen ideologischem Anspruch und politischer Wirklichkeit; Heidelberg 1992, bes. S. 11-21. H. Dohle, Grundzüge (Anm. 3), S. 181. 1963 war Dohle als hauptamtlicher Mitarbeiter im Sektor Kirchenfragen des Rat des Bezirkes Dresden in diesem Bereich erstmals tätig.

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Sensibilität für die Belange der Kirche und ihrer Anhänger eingesetzt. Zwar räumte Dohle ein, sich wie viele Genossen möglicherweise nicht ausreichend dagegen zur Wehr gesetzt zu haben, daß "Marxismus-Leninismus zu einer bloßen Rechtfertigungsideologie für Parteibeschlüsse degeneriert" sei, doch lobte er die Erfolge der DDR-Kirchenpolitik, die ein Vertrauensverhältnis zwischen Kirche und Staat geschaffen hätten. Die in den letzten fünf Jahren rapide fortgeschrittene Verschlechterung der Beziehungen von Staat und Kirche führte er ursächlich auf die Halsstarrigkeit der Führungselite zurück: "Es gehört zu den Nachteilen meiner dienstlichen Funktion, daß ich auch unter der Tatsache leide, daß in den vergangenen 4 - 5 Jahren zunehmend wissenschaftliche Analysen, warnende, ehrliche, offene wissenschaftliche Analysen über unsere wirkliche Lage nicht zur Kenntnis genommen worden sind." So sei vom Staat durch dieses Ignorieren gesellschaftlicher Probleme provoziert worden, daß eine immer weiter schrumpfende Kirche gleichzeitig eine "unglaublich große gesellschaftliche Wirkung und Bedeutung" erlangt habe. Dabei hatte Dohle selbst in seinen "Grundzügen der Kirchenpolitik der SED" noch der Kirche vorgeworfen, sich in den 70er Jahren mehr oder weniger prostituiert zu haben: "Das christliche Proprium, das unverwechselbar Eigene kam in diesem kirchlichen Aktionismus oft gar nicht mehr vor. Kirche wurde verwechselbar mit jeder beliebigen Veranstaltungs- oder Vortragsorganisation."9 Es befremdet dann kaum noch, gerade Dohle in Potsdam sagen zu hören, daß seine "Hoffnung des großen Aufbruchs [...] das eine" und seine "Sorge um die Leute mit den falschen Bärten und den gewechselten Perücken das andere" sei. Dohle brachte zum Ausdruck, daß es sein Traum sei, die Exotik der Beziehungen zwischen Christen und Marxisten zur Normalität werden zu lassen: "Also, wir haben eine ausformulierte[,] im Grunde genommen kirchenpolitisch richtige Grundorientierung in Gestalt unserer Beziehungen." Auf dieser schmalen Basis beschwor er sowohl Genossen als auch Kirchenleute, "daß wir uns miteinander aufmachen, auf einen sehr revolutionären^] das heißt umstürzenden Prozeß, zu einer neuen Gestalt des Sozialismus." Damit hatte er das eigentliche Thema der Diskussion vorgegeben und umriß kurz seine persönliche Vorstellung von der Zukunft seines Landes, der Deutschen Demokratischen Republik: "Es hat nur eine Zukunft als sozialistische Alternative. Den kapitalistischen kleinen Bruder 'Ostdeutschland' neben der starken Bundesrepublik, der hat keine geschichtliche Existenzberechtigung". Unbedingt wichtig erschienen Dohle zudem die beiden Eigenschaften "antifaschistisch" und "demokratisch". Demokratisch stellte er sich zukünftig die politische Entscheidungsbildung innerhalb der 9

H . DOHLE, Grundzüge (Anm. 3), S. 194.

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Bevölkerung vor, auch sollte über die führende Rolle "seiner Partei" nachgedacht werden, die er jedoch "nicht zur Disposition" stellen wollte. Er erklärte dann, "daß in einem erneuerten Sozialismus zwischen Marxisten und Christen eine Wettbewerbssituation zweier großer Visionen möglich" sei, um etwas unbeholfen hinzuzufügen: "Denn ihre Sache mit Jesus Christus halte ich für eine solche." Dohle schränkte allerdings den Kreis von Christen ein, mit denen er einen "Neuaufbruch" wagen wollte: "[...] nach 26 Jahren annähernd Erfahrung mit Ihnen kann mir derjenige Christ gestohlen bleiben, dessen christlicher Glaube keine gesellschaftlichen Folgen hat." Die sich an Döhles Worte anschließende Diskussion nutzten die eingeladenen Christen, um mit zum Teil schonungsloser Offenheit Mißtrauen, Kritik, Ängste und Hoffnungen zu artikulieren und ihrerseits Zukunftspläne zu schmieden. So griff der Pfarrer Karl-Ernst Selke das Stichwort Ehrlichkeit auf und verlangte diese im Zusammenhang mit den Ereignissen um den 17. Juni 1953, wobei er dankbar zur Kenntnis nahm, daß im Oktober 1989 "keine Panzer gerollt sind und daß nicht geschossen wurde." Er betonte sein Mißtrauen darüber, daß der Honecker-Nachfolger Egon Krenz' bei seinem China-Besuch Anfang Oktober das dortige Geschehen "nachdrücklich begrüßt" habe. Selke zeigte sich irritiert vom raschen Sinneswandel einiger Funktionäre, wobei er beispielhaft Hermann Kant nannte und um der Glaubwürdigkeit der Wende willen "neue Gesichter" forderte. Der Potsdamer Pfarrer Uwe Dittmer lobte Döhles aufrichtige Rede, sprach sich jedoch mit dem Hinweis auf den Eifer von Staatsvertretern, seine Telefongespräche abzuhören, gegen ein "vertrauensvolles Verhältnis" und für eine "sachliche Zusammenarbeit" aus: "...und wie wir das raüsbekamen, da sagte der Stadtrat für Inneres [...] 'scheiß Technik'. Das war seine einzige Antwort darauf, keine Entschuldigung, nichts dazu, daß unsere Verfassung gröblichst mißachtet wurde und vermutlich heute, unter der Herrschaft der Staatssicherheit noch immer mißachtet wird, und ich kann dieses Wort vertrauensvolles Verhältnis oder vertrauensvolle Zusammenarbeit als eine Sprechblase nicht mehr hören." Für einen sozialistischen Neuanfang unabdinglich hielt Dittmer die Aufarbeitung der Vergangenheit und das Bekennen zu eigener Schuld, auch, was die gemeinsame deutsche Geschichte von 1933 bis 1945 betraf. Er kritisierte Krenz Worte "Wir haben die Wende herbeigeführt", mit denen dieser die Protestbewegung zu vereinnahmen suchte, und warnte vor der Weiterführung des Personenkults in der DDR. Günther Schobert, Pfarrer aus Wildenberg, verlangte im Zusammenhang mit einem neuen Mediengesetz Pressefreiheit mit allen Konsequenzen, die Kontrolle des "Klub von Herrn Mielke", sowie die Trennung von Regierung und Partei und eine eindeutige Klärung des zukünftigen Sozialismus-Begriffs. An Dohle gewandt forderte er, "die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse

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in Frage zu stellen auf Grund der gemachten Erfahrungen." Der Bundessynodale Udo Semper distanzierte sich von denjenigen seiner Vorredner, die den Staatsfunktionären in erster Linie ihr Alter zum Vorwurf machten und "ihnen Fehler nachzählen, die ich nicht alle kenne." An der wirtschaftlichen Misere sei keinesfalls der Sozialismus schuld. Immerhin sei die Wirtschaft in einer "feindlichen und mißgünstigen Umgebung" aus Trümmern aufgebaut worden. Nicht der Führungsanspruch der SED als solcher sei problematisch, sondern vielmehr die Tatsache, daß die Partei ihn "eher aufgegeben" habe, nachdem sie jede Mitsprache unterbunden hatte. Auf Seiten des Staates beklagte er "Wendehälse" wie Harry Tisch und Kurt Hager. Offene Gespräche über die "Mühen dieser sozialistischen Alternative" verlangte Pfarrer Albrecht, zumal ein Großteil der Bevölkerung "ein Wohlstandsbild [habe], das sich ganz stark am Glücksrad SAT orientiert." Das bundessynodale KKL-Mitglied Dr. Domke richtete sich mit einem Zitat Klaus Gysis an Dohle: "Wir können über alles reden, aber es gibt drei Bereiche des Tabus, da kommen wir auch nicht heran, das ist der Bereich des Staatssicherheitsdienstes, das ist die Armee und das ist die Frage der Volkspolizei." Domke brachte damit sein Mißtrauen darüber zum Ausdruck, daß Döhles offene Worte und Versprechen nur der Beruhigung dienen sollten. Nach einem sehr verhaltenen Beitrag von Dieter Müntz von der SED-Bezirksleitung Potsdam nahm Dohle noch einmal zu den verschiedenen Kritikpunkten Stellung, wobei er betonte, daß zu einer Freundschaft [zwischen Christen und Marxisten, A.S.] auch gehöre, daß man sich schmerzliche Dinge sage. Zur vermeintlichen Bestätigung erzählte er die Geschichte einer "christlichen Freundin", die durch seine - in der Funktion eines FDJ-Sekretärs getätigten Unterschrift wie viele Mitglieder der Jungen Gemeinde Anfang der 50er Jahre relegiert worden war, dann aber nach dem 17. Juni 1953 das Abitur hatte machen können. Die studierte Theologin sei heute Nationalpreisträgerin und gehöre zu den führenden Humangenetikerinnen der Welt! "Vor ein paar Jahren sind wir uns wieder über den Weg gelaufen, und es ist ihre Auffassung, wenn wir nicht so eine Kirchenpolitik gemacht hätten, wie wir sie gemacht haben, wäre aus ihr nicht geworden, was aus ihr geworden ist." Der merkwürdige Versuch, mit Hilfe einer Äußerung von christlicher Seite die SED-Kirchenpolitik zu rechtfertigen, läßt eher die traurige Tatsache erahnen, daß viele Christen sich nicht nur mit ihrer Benachteiligung als Christen in der DDR abgefunden hatten, sondern ihr - wie diese Frau - auch noch positive Seiten abgewinnen konnten. Offensichtlich war Dohle selbst etwas erschrocken, beim Publikum so unverschlüsselt kritische und entschlossene Reaktionen ausgelöst zu haben. In fast jedem Punkt räumte er Verständnis ein, um jedoch sofort seine Aussagen wieder zu relativieren. Die Staatssicherheit sei da, "um uns zu schüt-

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zen und uns nicht zu überwachen. Aber wir sind nicht dazu da, ihren Dienst zu problematisieren. [...] Wir werden keine Privatisierung von Produktionsmitteln zulassen, wir wollen nicht die Gesellschaft der Deformation durch Ausbeutung. Wir werden [die] führende Rolle der Partei nicht problematisieren, wir werden [die] führende Rolle der Arbeiterklasse nicht problematisieren, wir müssen bloß mit diesen Inhalten anders umgehen. Wir können nicht, entschuldigen Sie, den polnischen oder ungarischen Weg gehen, man ist nicht ein bißchen schwanger, ein bißchen Marktwirtschaft geht nicht, Marktwirtschaft will es ganz oder gar nicht, das ist ihr Gesetz. [...] Laßt uns bitte andere Fehler machen als die anderen." Eine Veranstaltung, die vordergründig auf Kooperation zwischen Staat und Kirche ausgerichtet gewesen zu sein schien, war durch die revolutionären Ereignisse tatsächlich zu einem besonderen Treffen geworden. In diesen Tagen im November war den Staatsvertretern klarer als je zuvor, daß sollte die D D R nicht sang- und klanglos in sich zusammenfallen - an der evangelischen Kirche nicht mehr vorbeigegangen werden konnte. Offensichtlich reichten auch dieser starke Druck und das Drängen auf eine wirkliche Veränderung der starren Strukturen nicht aus, um die Staats- und Parteiführung zu einer flexiblen Reaktion zu zwingen. Das Politbüro war verstummt. Die Stimmen der gesellschaftlichen Basis blieben, wie in fast vierzig Jahren DDR-Realität, unberücksichtigt und brachten den unwiederbringlichen Zusammenbruch eines Systems, das in der Folge der rasanten Entwicklung mitsamt seinen positiven Errungenschaften Teil der Geschichte geworden ist.

Anselm Doering-Manteuffel ZEITGESCHICHTE N A C H DER WENDE V O N 1989/90 AUS DER SICHT DES HISTORIKERS Die Vorstellungen vom Gegenstandsbereich der Zeitgeschichte sind von Land zu Land unterschiedlich, denn sie werden bestimmt durch die Besonderheiten der jeweiligen nationalen Geschichte. Sieht man aufs westliche Ausland, läßt sich leicht feststellen, daß in England und Frankreich gewisse Ähnlichkeiten zum deutschen resp. westdeutschen Verständnis vom zeitlichen Horizont der Zeitgeschichte bestehen, beträchtlich weniger hingegen in den USA. Das reflektiert einerseits die Erfahrung von europäischen Nationen, die ihre Geschichte im 20. Jahrhundert als Verlust von Welt- oder Großmachtstellung wahrnehmen, weshalb auch der Erste Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit durchweg im Blickfeld der Zeithistorie liegen; und es reflektiert andererseits die Erfahrung der Vereinigten Staaten, durch den Zweiten Weltkrieg zur hegemonialen Vormacht der westlichen Welt aufgestiegen zu sein. So betonen die Herausgeber des englischen Journal of Contemporary History, Walter Laqueur und George L. Mosse, daß sie es nicht nur für falsch halten, eine starre Periodisierung von Zeitgeschichte anzustreben, sondern daß sie es auch für notwendig erachten, zum besseren Verständnis der Gegenwartsgeschichte bis ins 19. Jahrhundert zurückzugreifen und ebensowenig zum Heute hin eine Grenzlinie zu ziehen. In Frankreich hat erst vor wenigen Jahren René Rémond, der Doyen der französischen Zeitgeschichtsforschung, eine Gesamtdarstellung der Zeit von 1918 bis 1988 vorgelegt, die schon fast programmatisch vom 11. November 1918 ihren Ausgang nimmt 1 . Dagegen weist die Arbeit des Pariser "Institut d'Histoire du Temps Présent" einen deutlichen, aber keineswegs prinzipiellen Schwerpunkt in der Zeit nach 1945 auf 2 . In den USA hinwiederum veröffentlichte

1

2

WALTER LAQUEUR/GEORGE L. MOSSE: Preface. In: Journal of Contemporary History 21, 1986, S. 131-134; René Remond: Notre Siècle de 1918 à 1988 (Histoire de France. 6). Paris 1988. Der erste Teil der deutschen Ubersetzung (1918-1958) ist soeben erschienen: Frankreich im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1994. "Der Arbeitsbereich des Instituts umfaßt die Zeit von 1939 bis zur Gegenwart" (JEANPLERRE RLOUX: Das Institut d'Histoire du Temps Présent in Paris. In: VfZ 30, 1982, S. 361;

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Anselm Doering-Manteuffel

1991 der Zeithistoriker John Lewis Gaddis einen Essay über die Eigenart der Zeitgeschichte, dem zu entnehmen ist, daß er dabei ganz selbstverständlich die Epoche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs meint. Die Frage, ob etwa die Jahrzehnte vor 1945 noch zur Zeitgeschichte zu rechnen seien, hat sich ihm gar nicht gestellt. Die Epoche der Weltkriege ist aus dieser Perspektive Bestandteil der Modernen Geschichte, auf die die Zeitgeschichte seit 1945 als Vorgeschichte der Gegenwart folgt3. In Deutschland liegen die Dinge komplizierter, und das gilt nicht nur für den zeitlichen Horizont. Zur Vorgeschichte unserer Gegenwart gehört der Nationalsozialismus unmittelbar hinzu. Er verklammert die Geschichte der Weimarer Republik mit der der Bundesrepublik und der DDR bis 1989/90, und er bleibt auch in unserer gesamtdeutschen Gegenwart präsent angesichts der aktuellen innergesellschaftlichen Formationsveränderungen und dem damit verbundenen Wandel von Werthaltungen. Doch das "Dritte Reich" erscheint auch wie ein erratischer Block in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts; nicht zufällig hat es bis heute keinen Versuch eines deutschen Zeithistorikers gegeben, im Sinne von Remond eine Geschichte Deutschlands in "unserem Jahrhundert" zu schreiben. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum sich unser Umgang mit der Zeitgeschichte nicht nur vom amerikanischen, sondern auch vom englischen oder französischen unterscheidet. Vielmehr schließt auch die Geschichte des westlichen Nachkriegsdeutschlands einige charakteristische Merkmale ein, die in den anderen Ländern so nicht zu finden sind und die sich als Folgen der teilstaatlichen Entwicklung im Ost-West-Konflikt erweisen. Wie nimmt sich das nun aus, nachdem die Teilung und der Ost-West-Konflikt überwunden sind? Hat sich unser heutiges Verständnis von Zeitgeschichte dadurch verändert, oder: sollten wir es verändern? Um diese Frage behandeln zu können, erscheint es mir notwendig, zunächst die Anfänge des Fachs Zeitgeschichte in der jungen Bundesrepublik zu skizzieren und mit ein paar Sätzen die Traditionen anzudeuten, aus denen es sich damals entfaltete. In einem zweiten Abschnitt will ich auf die Entwicklung der Zeitgeschichtswissenschaft seit Mitte der siebziger Jahre eingehen, weil sich seit jener Zeit unser heute noch dominierendes Verständnis von Zeitgeschichte herausgebildet hat. Der dritte, zentrale Abschnitt gilt dann dem Verständnis von Zeitgeschichte im öffentlichen Bewußtsein unseres Landes und der Frage, ob hier nicht kritische Reflexion und Korrek-

3

vgl. Les Cahiers de l'Institut d'Histoire du Temps Présent 1 [1985] - 13/14 [1990]. Paris 1985-1990. JOHN LEWIS GADDIS: The Nature of Contemporary History. Contemporary History Institute, Ohio University, Mai 1991 (Occasional Papers Series, Nr. 4).

Zeitgeschichte nach der Wende von 1989/90

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turen vonnöten sind. Meiner Meinung nach muß die Antwort lauten: Ja, und zwar ganz entschieden Ja! I. Zunächst also zu den Anfängen des Fachs in der Nachkriegszeit und zu dessen Tradition in den westeuropäischen Ländern und in Deutschland. Die Zeitgeschichte ist nach 1945 in den Westzonen und in der Bundesrepublik institutionell und inhaltlich neu begründet worden. Die inhaltliche Profilierung erfolgte maßgeblich durch Hans Rothfels, der sehr nachdrücklich den Standpunkt der politischen Geschichtsschreibung als Verbindung von Geschichte und Politik repräsentierte - der interpretatorischen Verbindung des Gestern mit dem Heute, denn er wollte durch die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus Mythenbildungen entgegenwirken und die geschichtlich-didaktischen Voraussetzungen für einen politischen Neuanfang in der Bundesrepublik schaffen4. Mit seinem prononciert auf die politische Gegenwart bezogenen Geschichtsbewußtsein unterschied sich Rothfels am Beginn der fünfziger Jahre von der großen Mehrzahl seiner neuhistorischen Fachkollegen, die nach Abstand suchten von dem, was geschehen war, und die die politische Gegenwart strikt von der Geschichte trennten5. Eine Neukonstituierung der Zeitgeschichte erwies sich deshalb als notwendig, weil seit 1918 die Zeitgeschichte in Deutschland immer mehr in den Schatten geraten war. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte es hier wie in England und Frankreich - aus der Tradition des 19. Jahrhunderts hervorgehend als ganz natürlich gegolten, daß sich die Historiker mit der Geschichte ihrer eigen Zeit befaßten6. Für Leopold von Ranke etwa, den Begründer der modernen deutschen Geschichtswissenschaft, verstand es sich nicht nur von selbst, daß er regelmäßig Vorlesungen über die Gegenwartsgeschichte hielt, sondern er war obendrein auch als politischer Berater des preußischen und des bayerischen Königs in die Gestaltung der Tagesgeschehens einbezogen. Gervinus, Sybel und Treitschke betrieben in Deutschland ebenso selbstverständlich Zeitgeschichte wie Guizot, Thiers und Michelet in Frankreich. In England blieb diese Tradition über Spencer Walpole bis hin zu A.J.P. Taylor ungebrochen, während sie in Deutschland nach dem Ende des Ersten Welt4 5

6

HANS MOMMSEN: Hans Rothfels. In: Deutsche Historiker. Bd. IX. Hg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1982, S. 127-147. EBD., S. 143; ERNST SCHULIN: Rückblick auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft. In: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Hg. von Eberhard Jäckel und Ernst Wagner. Stuttgart 1975, S. 11-25, S. 13ff. Vgl. ERNST SCHULIN: Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. In: Festschrift für Hermann Heimpel. Göttingen 1971, S. 102-139.

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kriegs abhanden kam. Natürlich gab es in der Weimarer Republik die starke Konzentration auf die Kriegsschuldfrage und damit auf eine reitgeschichtliche Problemstellung, aber das Motiv für Forschungen auf diesem Feld bestand doch oftmals darin, daß man die Entwicklung seit 1919 und die Gegenwart der zwanziger Jahre, so wie sie war (so wie sie geworden war), nicht wahrhaben und deshalb auch nicht analysieren wollte. Man floh aus der Zeitgeschichte in die Geschichte7. 1918 war die nationale Selbstgewißheit bei der Mehrzahl der vom preußisch-kleindeutschen Geschichtsdenken geprägten Historiker zerbrochen. Das optimistische Vertrauen auf die Stärke und Tragfähigkeit des Reichs blieb eine Erscheinung der Jahrzehnte von 1871 bis zum Weltkrieg, auch wenn es zwischen 1938 und 1942 noch einmal kurz wiederauflebte. Von den zwanziger und dreißiger Jahren her betrachtet, präsentierte sich die deutsche Zeitgeschichte nicht mehr allein als Geschichte von Aufstieg und Machtsteigerung im Sinne des borussozentrischen Geschichtsbildes seit Droysen, sondern vor allem auch von Niederlage und Machtverlust. Unter dem Nationalsozialismus wandte sich die Geschichtswissenschaft dann in noch stärkerem Maß von der neuesten Zeit ab und früheren Epochen zu. Selbst wenn das Fach nur wenig an genuiner NS-Ideologie in sich aufnahm, gab es nach 1945 doch genügend Gründe, die dafür sprachen, die Zeitgeschichte als Teilbereich der Geschichtswissenschaft - der deutschen Geschichtswissenschaft - institutionell und inhaltlich neu zu konstituieren8. Die Anstöße dazu kamen zuerst keineswegs aus den Universitäten, sondern von der Reeducation-Politik und aus dem geistigen Klima der Nachkriegszeit, dessen Imperativ 'Nie wieder!' in Politik und Gesellschaft der späten vierziger Jahre dominierte. Die schwierige und langwierige institutionelle Neukonstituierung ist am Gründungsprozeß des Münchener Instituts für Zeitgeschichte exemplarisch abzulesen9.

7

Vgl. ULRICH HEINEMANN: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen 1983, S. 105-111; WOLFGANG JÄGER: Historische F o r s c h u n g und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914 -1980 über den A u s b r u c h des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1984, S. 68-88, bes. S. 71f.

8

WINFRIED SCHULZE: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989, S. 31-45; WILLI OBERKROME: Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der

Zwi-

schenkriegszeit. In: Nationalsozialismus und Modernisierung. H g . v o n Michael Prinz und Rainer Zitelmann. Darmstadt 1991, S. 216-238. 9

WOLFGANG BENZ: Wissenschaft oder Alibi? Die Etablierung der Zeitgeschichte. In: Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945? Hg. v o n Walter H . Pehle und Peter Sillen. Frankfurt a.M. 1992, S. 11-25, S. 17f.; HELLMUTHAUERBACH: Die G r ü n d u n g des Instituts für Zeitgeschichte. In: V f Z 18, 1970, S. 529-554.

Zeitgeschichte nach der Wende v o n 1989/90

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1952 war es dann Hans Rothfels, der nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil der Zeitgeschichtsforschung inhaltlich die Richtung wies. Als Herausgeber (zusammen mit Theodor Eschenburg) der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" formulierte er für die erste Nummer dieser Zeitschrift ein Programm, in dem er sagte, was nach seiner Auffassung Zeitgeschichte sei und welche Aufgabe sie habe10. Rothfels definierte "Zeitgeschichte" als "Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung", die er dann - historisch keineswegs korrekt, aber subjektiv überzeugend - an das Schwellenjahr 1917/18 als Beginn einer "neuefn] universalgeschichtliche[n] Epoche" knüpfte und zugleich eingrenzte auf die "Phase der Weimarer Republik" und die "nationalsozialistische Phase". Fortan war Zeitgeschichte im Sinne der westdeutschen Geschichtswissenschaft die Zeit von 1917 bis 1945. Das subjektive Moment der Rothfels'schen Eingrenzung ist darin zu sehen, daß hier die - ja eigentlich allgemein zu denkende und dem Wandel der Zeiten unterworfene - "Epoche der Mitlebenden" wie selbstverständlich als "Epoche von uns Mitlebenden" begriffen wurde, weil das die Lebens- und Leidenszeit der Generation der Weltkriege war und weil die deutschen Historiker dieser Generation bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten, über die Zusammenhänge der Epoche zu forschen. Das machte die Festlegung von Rothfels damals so spontan überzeugend und verlieh ihr Geltung weit über die Lebenszeit seiner Generation hinaus. Aber was am Beginn der fünfziger Jahre sachlich zutreffend war, galt in den Sechzigern natürlich nicht mehr uneingeschränkt. Indem die Zeitgeschichtswissenschaft aber noch 1965 und darüber hinaus an der zeitlichen Eingrenzung von Rothfels festhielt, war die Nachkriegszeit in den Augen der Historiker noch zwanzig Jahre nach Kriegsende nicht viel anderes als bloße Gegenwart. Dieser Gegenwart wurde ein geschichtlicher Eigenwert nicht zugemessen. Und der eigentlich dynamisch zu verstehende Begriff von Zeitgeschichte als "Epoche der Mitlebenden" mutierte durch die starre Begrenzung auf 1917 bis 1945 zum Kennzeichen eines zeitlich ebenso starren historischen Blocks 11 . Das hatte Rückwirkungen, die dann das für lange Zeit charakteristische Profil der westdeutschen Zeithistorie mitprägten. Die Forschung konzentrierte sich auf die Frage, warum es zum "Dritten Reich" hatte kommen können, wie dessen Strukturen beschaffen waren und wie seine innere und außenpolitische Entwicklung verlief. Solche Konzentration bewirkte eine 10 11

HANS ROTHFELS: Zeitgeschichte als Aufgabe. In: V f Z 1, 1953, S. 1-8. Dieser Sachverhalt wurde frühzeitig kritisiert v o n EBERHARD JÄCKEL: Begriff und Funktion der Zeitgeschichte. In: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit (wie A n m . 5), S. 162176, bes. S. 170-173.

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Ausgrenzung von Forschungen über die Nachkriegszeit im gesamtdeutschen, im bundesrepublikanischen oder auch im europäisch-atlantischen Bezug. Diese Themen blieben den Politologen und Journalisten überlassen. In den "Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" erschien bis weit in die siebziger Jahre hinein fast kein Beitrag über ein Thema der Zeitgeschichte nach 194512.

n. In der Mitte der siebziger Jahre - und damit wende ich mich dem zweiten Abschnitt zu - war der Punkt erreicht, an dem die Geschichte seit 1945 bereits numerisch eine größere Zeitspanne umfaßte als die unter Bezug auf Rothfels postulierte "eigentliche" Zeitgeschichte der Jahre 1917 bis 1945. Damals wurde ein Dilemma zunehmend deutlicher sichtbar, das heute zwar allmählich überwunden zu sein scheint, dessen Folgen aber noch immer zu spüren sind: Wer in den fünfziger und sechziger Jahren als zünftiger Neuzeithistoriker über zeitgeschichtliche Themen arbeitete, konzentrierte sich in der Regel - nicht zuletzt aus Gründen, die mit der Verfügbarkeit von Archivalien zusammenhängen - auf die Epoche vor 1945. Wer sich dagegen schon damals auf die Nachkriegszeit einließ, war überwiegend - ich habe es schon andeutet - im Fach Politische Wissenschaften verankert. Das begann sich allmählich im Ubergang von den siebziger zu den achtziger Jahren zu verändern. Heute ist die Zeitgeschichte nach 1945 zu einem selbstverständlichen Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft geworden, aber die Folgen dieses früheren Schismas sind noch immer fühlbar. Denn die Neigung, sich entweder auf die erste Hälfte des Jahrhunderts zu spezialisieren oder auf die zweite, hält unvermindert an, auch wenn inzwischen die Forschungen zur Koninuitätsproblematik von den zwanziger und dreißiger Jahren bis in die Nachkriegszeit doch deutlich zunehmen13. Karl Dietrich Bracher hat deshalb den Begriff der "doppelten Zeitgeschichte" vorgeschlagen14. Ihm ging es darum, "zwei Dimensionen von Zeitgeschichte" voneinander abzuheben und gleichzeitig aufeinander zu 12 Vgl. ANSELM DOERING-MANTEUFFEL: Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit. In: VfZ 41, 1993, S. 1-29, bes. S. 2-10. 13 Vgl. EBD., S. 19-27. 14 KARL DIETRICH BRACHER: Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert. Berlin 1981, S. 233-252 ("Die doppelte Zeitgeschichte - zwei gegenwärtige Vergangenheiten"); DERS.: Doppelte Zeitgeschichte im Spannungsfeld politischer Generationen - Einheit trotz Vielfalt historisch-politischer Erfahrungen? In: Zeitgeschichte und Politisches Bewußtsein. Hg. von Bernd Hey und Peter Steinbach. Köln 1986, S. 53-71.

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beziehen: eine ältere und eine neuere Zeitgeschichte, die - Bracher wörtlich "in einer großen Kontinuität der Ideologien und Herrschaftsformen, der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen zwar zusammenhängen, aber dann doch wieder getrennt sind durch den tiefen Einschnitt von 1945", zwei Zeitdimensionen, die, wie Bracher sagt, "seitdem aufeinander stoßen, miteinander ringen, einander überlagern". "Doppelte Zeitgeschichte" meine zunächst die eindringliche Erfahrung der letzten Machtentfaltung und Selbstzerstörung Deutschlands und Europas in der Epoche von 1914 bis 1945 und dann die Erfahrung der neueren Zeitgeschichte, in der sich neue Strukturen Europas abzeichneten. Beide Perioden seien so unterschiedlich wie eng miteinander verflochten, und dieser "Konflikt der Zeitgeschichte" bedeute anderes und mehr als bloß den immer wiederkehrenden Konflikt der Generationen, die sich auf verschiedenartige Erfahrungen in einem veränderten Bezugssystem berufen. In dem "Konflikt der Zeitgeschichte" gehe es vielmehr um den "anhaltenden Einbruch der alten Zeitgeschichte in die neue gegenwärtige", und zwar sowohl in Gestalt des Nationalsozialismus als auch in Gestalt der Weimar-Debatte, wobei das Wort "Weimar" als Synonym gelte für die Problematik der Zwischenkriegszeit insgesamt, für die Selbstzerstörung der Demokratie. Das sei das Besondere der "doppelten Zeitgeschichte". Für Bracher bildete die scharfe Zäsur des Jahres 1945 den Ankerpunkt für jede zeitgeschichtliche Analyse. Er prägte den Begriff der "doppelten Zeitgeschichte" am Beginn der achtziger Jahre, zu einer Zeit also, als die stabile Existenz der DDR noch von niemandem in Zweifel gezogen wurde. Ich habe die D D R bisher bewußt ausgeklammert, um zu demonstrieren, wie wenig sie, solange sie bestand, von der westlichen Zeithistorie wahrgenommen wurde - wenn man von den wenigen wirklichen DDRSpezialisten einmal absieht15. Die Nichtwahrnehmung betraf zum einen den Staat und seine Gesellschaft als Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung, und sie betraf zum andern die wissenschaftliche Produktion derer, die in der DDR Zeitgeschichte betrieben. Das westdeutsche Dilemma einer "doppelten Zeitgeschichte" kannte man in der DDR nicht. Dort begann die Zeitgeschichte erst und eindeutig mit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung 1945/49 und bezog sich nur auf den Zeitraum seither16. Aber natürlich gab es DDR-Forschung zu Fragen der Zwischenkriegszeit, der Epoche des Faschismus, des Zweiten Weltkriegs. Inzwischen ist uns mit der staatli15

Vgl. den Forschungsbericht v o n HERMANN WEBER: Die D D R 1945-1986. München 1988, S. 105-161.

16

ALEXANDER FISCHER/GÜNTHER HEYDEMANN: Weg und Wandel der Geschichtswissenschaft u n d des Geschichtsverständnisses

in der S B Z / D D R

seit

1945. In: Dies.

schichtswissenschaft in der D D R . Bd. II. Berlin 1988, S. 3-30, S. 26f.

(Hg.):

Ge-

620

Anselm Doering-Manteuffel

chen Vereinigung die Geschichte der D D R gewissermaßen zugewachsen. Und das umschließt auch die spezifische Perspektive der Historiker aus der D D R auf die Geschichte ihres Staats, auf die deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte, überhaupt auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Deshalb hat der Münchener Zeithistoriker Hans Günter Hockerts unter Bezug auf Bracher von den "drei Zeitgeschichten" gesprochen, die es nunmehr methodisch zu bewältigen gelte 17 . So, wie die Dinge derzeit liegen, ist der Vorschlag sinnvoll und auch notwendig, denn die Geschichte der D D R ist uns noch viel zu fremd, zu unbekannt, als daß wir sie rasch in die "neuere Zeitgeschichte" miteinbeziehen könnten. Vorläufig müssen wir sie noch wie einen eigenständigen historischen Bereich betrachten. Gleichzeitig macht aber der Vorschlag von Hockerts deutlich, wie heikel solche Unterteilungen sind, sofern sie nicht ausschließlich mit Blick auf die Chronologie zum Zwecke der Periodisierung verwendet werden. Denn nach dem Postulat der "doppelten Zeitgeschichte" drängte sich die Feststellung der "drei Zeitgeschichten" geradezu auf: "drei Zeitgeschichten" als nicht in erster Linie zeitlich, sondern inhaltlich zwar klar aufeinander bezogene, aber doch vor allem gegeneinander abgegrenzte historische Bereiche. Wenn man das weiterdenkt, dann befinden wir uns derzeit in der "vierten Zeitgeschichte", die wiederum chronologisch und inhaltlich von den anderen Bereichen unterschieden wäre. III. Müssen wir Zeithistoriker deshalb nicht das Konzept einer die drei Bereiche integrierenden, dynamischen Zeitgeschichte formulieren? Sollten wir nicht die Definition von Rothfels gezielt wieder aufnehmen und die "Epoche der Mitlebenden" aus ihrer zeitlichen Verkrustung lösen, indem wir sie als das verstehen, was sie eigentlich sein muß: als eine Kategorie, die fließende Bewegung andeutet, gesellschaftlichen Wandel, politische Veränderung und auch die Abfolge der Generationen? Bildet die Zeitgeschichte nicht das Kollektivgedächtnis der Lebenden? Ein Menschenleben wird nicht primär von den Zäsuren in der Geschichte begrenzt, sondern von Geburt und Tod, und die Menschen nehmen ihre Erinnerungen und Verhaltensweisen über die Epochenschwellen mit. Deshalb bildet der historische Horizont geschichtlicher Epochen immer eine fließende Linie. Wo er jeweils zu suchen ist und mit welchen Konturen er sich dem Auge des Betrachters darbietet, hängt davon ab, was gefragt wird und welcher methodische Zugriff

17 HANS GÜNTER HOCKERTS: Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder. In: H J , 1993, S. 98-127, S. 105.

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auf den Gegenstand gewählt wird. So dürfte das Jahr 1917 aus einer heute ja durchaus wieder aktuellen ideologiegeschichtlichen Perspektive seine Bedeutung als Epochenschwelle vorerst behalten. Aus einer strukturgeschichtlichen Perspektive würde man stattdessen eher auf die Krise am Beginn der dreißiger Jahre sehen, die sich sowohl als Weltwirtschaftskrise darstellt als auch als Staatskrise des Deutschen Reichs. Aus einer auf die internationale Politik gerichteten, primär europäischen Perspektive könnte mit guten Gründen ein Zeitpunkt nach 1945 genannt werden - etwa das Jahr 1948/49 als Ausgangspunkt für völlig neuartige (und im Westen bis heute gültige) politisch-ökonomische Bündnisstrukturen wie N A T O und EG. Das Interpretament der "doppelten Zeitgeschichte" und der "drei Zeitgeschichten" spiegelt höchst anschaulich die Erstarrung einer im Prinzip dynamischen Konstellation wider - eine Erstarrung, die durch den Ost-WestKonflikt und die Blockbildung verursacht war. Der Ost-West-Konflikt ist vorbei, die Verkrustungen sind abgeplatzt, die Blöcke gibt es nicht mehr. Stattdessen findet man unter der früher formgebenden Panzerung in West wie Ost vielfältige, oft besorgniserregende Bewegung. Als Historiker erleben wir heute ganz unmittelbar, daß manche unserer Zeitdiagnosen aus der jüngsten Vergangenheit falsch waren und daß manche Grundauffassungen von gestern heute nicht mehr stimmen. Die Geschichte ist prall lebendig und höchst gegenwärtig, auch wenn die Theoretiker des "Posthistoire" noch jüngst über ihr Ende diskutiert haben. Angesichts alles dessen erscheint es an der Zeit, davon abzulassen, die Zeitgeschichte zu partikularisieren, die Epochen des 20. Jahrhunderts als Blöcke zu denken und gegeneinander abzuschotten. Allerdings schließt das Plädoyer für ein dynamisches Verständnis der Zeitgeschichte die Notwendigkeit der Historisierung sämtlicher Teilepochen bzw. Teilbereiche ein. Dies festzustellen ist zwar keineswegs neu, aber es ist auch keineswegs selbstverständlich. Denn die Diskussion über Historisierung in der Zeitgeschichte ist nicht so sehr - dies muß ich ausdrücklich betonen - ein Problem unserer Fachwissenschaft, weil es in ihr seit mehr als einem Jahrzehnt die Tendenz gibt, die Einbettung der zeitgeschichtlichen Epochen in den Gesamtkomplex des 20. Jahrhunderts näher zu untersuchen. Diese Diskussion ist vielmehr eine Resultante des politischen Bewußtseins und der öffentlichen Meinung, aber als solche wirkt sie natürlich auf unsere fachliche Arbeit zurück. Bekanntlich hat Martin Broszat schon 1985 die Historisierung des Nationalsozialismus eingefordert, eine historische Sicht also, die den Nationalsozialismus in die Verläufe und Strukturen des Jahrhunderts hineinstellt, anstatt ihn innerhalb der Geschichte zu separieren, gewissermaßen zu

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"verinseln" 18 . Broszat ging es damals nicht um eine Relativierung des "Dritten Reichs", ganz im Gegenteil. Er wandte sich vielmehr gegen den zunehmend moralisierenden Umgang mit der NS-Zeit, wie er seit der Sendung des melodramatischen Holywood-Films "Holocaust" und im innenpolitischen Klima der Friedensbewegung von Medien und öffentlicher Meinung gepflegt wurde19. Was Broszat damals äußerte, war auch als Kritik an einer verbreiteten Bewußtseinslage in der bundesdeutschen Gesellschaft zu verstehen, welche sich außerhalb des geschichtlichen Prozesses zu stellen neigte und deshalb von ihm des unhistorischen Denkens bezichtigt wurde. Das hat Broszat massiven Widerspruch eingetragen, zumal manche Historiker sein Plädoyer als Vorwurf an die Fachwissenschaft auffaßten und nicht so sehr als das, was es in erster Linie sein sollte: ein Appell an das historischpolitische Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit hier im Land20. Das liegt nun bald ein Jahrzehnt zurück, aber es gilt m. E. unverändert, ja heute umso mehr: Was nottut - und worauf Broszat bereits damals wohl instinktiv, aber noch nicht kritisch reflektiert hinsteuerte - ist vor allem eine Historisierung der Geschichte der alten Bundesrepublik. Schon seit einem knappen Jahrzehnt wurde spürbar, daß das Verständnis der westdeutschen Gesellschaft von sich selbst mit den Realitäten nicht mehr so recht harmonierte, und seit der staatlichen Vereinigung scheint das manifest zu sein. Wo kommt dieses Selbstverständnis her und wie läßt es sich charakterisieren? Die Bundesrepublik befand sich zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in der Lage, sich so unzweideutig gegen Diktatur und totalitäre Herrschaft abgrenzen zu müssen, daß daraus die anfänglich fragile Selbsteinschätzung als Hort der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit herauswuchs. Das war eine Abgrenzung gegen die nationalsozialistische Vergangenheit im "Dritten Reich" und gegen die stalinistische Gegenwart in der DDR 2 1 . Die Bundesrepublik formte so ihr Bewußtsein aus, das bessere Deutschland zu repräsentieren. Wir neigten in der öffentlichen Diskussion 18 MARTIN BROSZAT: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus. In: Merkur 39, 1985, S. 373-385. 19 Vgl. die um ein knappes Jahrzehnt auseinanderliegenden Texte: MARTIN BROSZAT: "Holocaust" und die Geschichtswissenschaft. In: VfZ 27, 1979, S. 285-298; ÜERS.: Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus? In: HZ 247, 1988, S. 1-14. 20

Vgl. DIETER LANGEWIESCHE: Der "Historikerstreit" und die "Historisierung" des Nationalsozialismus. In: Klaus Oesterle/Siegfried Schiele (Hg.): Historikerstreit und politische Bildung. Stuttgart 1989, S. 20-41, bes. S. 24-27.

21

Vgl.

KARL DIETRICH BRACHER:

Zeitgeschichtliche

Kontroversen.

Um

Faschismus,

Totalitarismus, Demokratie. München 1976; FRIEDRICH KARL FROMME: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rats aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur. Tübingen 1960.

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dazu, von einer politisch-moralisch höheren Warte zu urteilen, wenn wir auf die Geschichte vor 1945 sahen oder auf die Gegenwart jenseits der Mauer. Das erzeugte ein im Wortsinn exklusives Bewußtsein. Es verfestigte sich im Verlauf der Jahrzehnte, je deutlicher sich das gesellschaftliche Bedürfnis manifestierte, "mehr Demokratie wagen" zu wollen sowie Pluralismus und Individualismus als Fundament der politisch-sozialen Ordnung wirklich zur Geltung zu bringen. Wir kontrastierten die erfolgreiche Entstehung der zivilen Staatsbürgergesellschaft in der Bundesrepublik mit dem Mißerfolg der Weimarer Demokratie und mit der NS-Zeit, und wir heben heute, seit 1989/90, unsere Errungenschaften beim Blick auf die D D R noch umso leuchtender hervor. Fast scheint es, als brauchten wir eine Art Selbstbestätigung unseres demokratischen und liberalen Bewußtseins, um uns gegenüber den neuen und ungewohnten Einflüssen seit 1990 abzugrenzen. Die ostdeutsche Bevölkerung hat im Begriff des "Besser-Wessi" - obwohl der vordergründig etwas anderes meinte - gerade auch diesen nicht-materiellen Aspekt des deutsch-deutschen Dilemmas prägnant auf den Punkt gebracht. Wir erkennen heute deutlicher als etwa 1985 die Neigung in der westdeutschen öffentlichen Meinung, die liberale Verfassungsordnung und die politische Kultur der Republik als einen Haben-Bestand zu betrachten, der gewissermaßen außerhalb der Zeiten steht, der immer da war und als fester, scheinbar unverlierbarer Besitz behandelt werden kann. Wer denkt schon noch daran, wie mühevoll der Aufbau der Demokratie aus den Trümmern der Diktatur, aber vor allem aus den Traditionen des Obrigkeitsstaats und der Untertanengesellschaft gewesen ist? Und wer denkt schon noch daran, daß dies Traditionen sind, in denen die alte Bundesrepublik und die D D R gemeinsam wurzelten und die in veränderter, neuer Gestalt durchaus Wiederaufleben könnten? Wenn wir uns deshalb von der hohen Warte dieses Besitzes an liberaler Demokratie den Realitäten in Ostdeutschland, der politischen und kulturellen Erblast der DDR-Geschichte, mit Herablassung zuwenden und uns ebenso zu den Ländern Osteuropas stellen, dann kommt in dieser Haltung nicht zuletzt eine weitgehend unhistorische Auffassung von der gegenwärtigen Situation zum Ausdruck.Das gilt auch - und in besonders anschaulichem Maße - für die "Kirchliche Zeitgeschichte" bei ihrer Auseinandersetzung mit der Rolle der Kirchen und mit dem kirchlichen Leben der Menschen in der DDR 2 2 .

22

Als beispielhaft dafür kann die Studie gelten von GERHARD BESIER: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1993. Vgl. dazu die Kritik von FRIEDRICH WILHELM GRAF: Wege der Anpassung. Ein gewandelter Kirchenhistoriker zu den Wandlungen der Kirche (FAZ vom 31. März 1994), und G.BESIERS Leserbrief "Bei Stolpe nicht 'erstaunlich zurückhaltend" 1 (FAZ vom 8. April 1994).

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Als Historiker sollten wir uns aufgefordert fühlen, dazu beizutragen, daß das politisch-kulturelle Denken in der Bundesrepublik ein Stück weit von seiner geschichtlichen Exklusivität abgelöst und in die Zusammenhänge des gesamten Jahrhunderts hineingestellt werden kann. Für die Zeitgeschichtsforschung bedeutet dies, daß die Epoche der alten Bundesrepublik als ein formationsgeschichtlicher Bestandteil der politischen Kultur Deutschlands im gesamten 20. Jahrhundert analysiert werden muß. Das ist bis heute zu selten geschehen23, und zwar meiner Ansicht nach wohl vor allem deshalb, weil uns das spezifisch westdeutsche staatsbürgerliche Besonderheits-Bewußtsein daran gehindert hat, uns selbst innerhalb der Formationsgeschichte der deutschen politischen Kultur genügend kritisch wahrzunehmen. Schon seit Adenauers Kanzlerdemokratie ist der "BesserWessi" in uns gewachsen als eine politisch bedeutungsvolle, gewiß auch berechtigte, aber für das historische Denken heute nachteilige Erscheinung 24 . Wenn im zukünftigen Forschungsprozeß die "drei Zeitgeschichten" mehr und mehr integriert werden sollten, dürfte ein Bild entstehen, das zeigt, wie stark die zweite Republik mit der ersten verbunden war, wieviel an Infrastruktur im Alltagsgeschehen die dreißiger Jahre und die Kriegszeit unverändert überstanden hatte und wie eng die beiden deutschen Nachbarn, die sich nicht kennen wollten, entwicklungsgeschichtlich verbunden waren. Ich wage zu hoffen, daß die Perspektiven und Fragestellungen, mit denen die ostdeutschen Historiker nun in den zeithistorischen Diskurs eintreten, Impulse zu solcher Integration vermitteln werden. Vielleicht wird auch der Förderungsschwerpunkt der Stiftung Volkswagenwerk, Diktaturen im Europa des 20. Jahrhundets vergleichend zu erforschen, Anstöße in dieser Richtung geben25. Das kann aber nur dann gelingen, wenn wir in den Forschungsprozeß die Entwicklung der westlichen Gesellschaften miteinbeziehen, und insbesondere gehört in diesen Kontext die Entwicklung Westdeutschlands - die Entwicklung der nachdiktatorischen, allmählich freier werdenden und sich heute von der Auseinandersetzung mit dem Symboldatum "1968" her definierenden Gesellschaft der alten Bundesrepublik. Uber der vergleichenden Erforschung von Dikta23 Eine Ausnahme bildet etwa das Oeuvre von KARL DIETRICH BRACHER, wie z.B. die Sammlung: Das Deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation. München 1971. 24 Vgl. die Feststellung von ALFRED GROSSER, die das aus der Sicht des. Zeitalters der Entspannungspolitik ganz positiv sieht: "Die Bundesrepublik hat das Glück gehabt, sich zu einer so nachhaltigen Definition gegen etwas gezwungen zu sehen, daß diese doppelte Negation gewissermaßen die Legitimität des Staates mit seiner schlecht gesicherten Souveränität begründet hat" (Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz. München 1974, S. 126). 25 EDGAR WOLFRUM: Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts. Ein neuer zeitgeschichtlicher Förderungsschwerpunkt der Stiftung Volkswagenwerk. In: VfZ 40, 1992, S. 155-158.

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turen im 20. Jahrhundert darf die vergleichende Erforschung der Entwicklung freier Gesellschaften nicht vernachlässigt werden, weil beides aufs engste verknüpft ist. Daraus ergibt sich auch die Möglichkeit zu vergleichenden Längs- und Querschnitten im internationalen Bezug, die heute in der Zeithistorie noch nicht allzu häufig anzutreffen sind. Nur so dürfte die Zeitgeschichte aller Staaten der früheren Blöke als ein eng verwobener Komplex erfaßbar werden und mit ihr auch die europäische Dimension der deutschen Teil-Zeitgeschichten sowie, im Kontrast dazu, die nationalen Besonderheiten.

Leonore Siegele-Wenschkewitz PLÄDOYER FÜR EINEN PERSPEKTIVENWECHSEL IN DER KIRCHENGESCHICHTSWISSENSCHAFT AUF DAS VERHÄLTNIS VON CHRISTENTUM UND JUDENTUM Seit Anbeginn galt in den christlichen Kirchen, seit ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert auch in den reformatorischen Kirchen, daß Abgrenzung vom Judentum und kritische Auseinandersetzung mit jüdischem Glauben und Leben Aufgabe christlicher Verkündigung und Lehre sei. Wenn christliche Theologie beschrieb, warum und worin sie christlich sei, geschah dies oftmals, indem gezeigt wurde, warum sie nicht jüdisch, anders als "die Juden", ja besser als "die Juden" sei. So ist christliche Verkündigung und Lehre, der es um Abgrenzung vom Judentum, um Herabsetzung und Kritik des Judentums ging, in ihrer Wirkung nachteilig, schädigend, lebensbedrohend und zerstörerisch für jüdische Menschen geworden. Theologische Argumente haben sich mit politischen Maßnahmen verbunden, Glaubensund Lehraussagen gaben einen Begründungszusammenhang nicht nur für die Gestaltung der Kirchenordnung, sondern wirkten hinein auch ins soziale Leben. In Zeiten wiederauflebender und neuentfachter Judenfeindschaft, z.B. während des Kaiserreichs oder der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa hat ein intensiver Rückbezug auf antijüdische Traditionen in der christlichen Lehre und Verkündigung stattgefunden. Es begleitet die Geschichte der Kirche, daß in ihr eine ununterbrochene Tradition von Polemik, Kritik und Herabsetzung von Judentum und jüdischen Menschen lebendig war, die immer wieder abgerufen werden konnte. Die Rezeption der Haltung des älteren Luther gegenüber den Juden in den verschiedenen Phasen deutscher Geschichte ist ein Beispiel davon. Geschichtliche Erfahrung nötigt also zu einem veränderten Blick auf das Judentum und jüdische Menschen, zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum und damit auch zu einer Neubewertung der Beziehungen von Christen und Juden in der Geschichte. Erst Jahrzehnte nach der Shoah ist die Einsicht darüber gewachsen, daß christlicher Antijudaismus eine Wurzel des Antisemitismus werden kann und eine Wurzel des Antisemitismus geworden ist. Aufgrund dieses Befunds hat der rheinische Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und

Für einen Perspektivenwechsel in der Kirchengeschichtswissenschaft

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Juden 1980 Mitverantwortung und Schuld der Christen am Holocaust festgestellt und bekannt. Es geht mit dieser Aussage nicht um die Wiederbelebung eines geschichtstheologischen Ansatzes. Vielmehr geht es darum, Verantwortung für die Folgen christlicher Theologie in der Tradition der reformatorischen Kirchen zu übernehmen, um die Bearbeitung der Wirkungen wie der Wirkungsgeschichte christlicher Theologie - vor allem im Hinblick auf die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in der Geschichte der Neuzeit. Für die Kirchengeschichtswissenschaft generell ist die Geschichte der Juden ein marginales Thema geblieben. Und selbst wenn Aufmerksamkeit und Interesse bei einigen christlichen Forscherinnen und Forschern gegenüber dem Problem "Judenfrage" vorhanden ist - es sei z.B. an den Themenkomplex "Luther und die Juden" erinnert -, dominiert hier die Perspektive: Wie haben die Christen die Juden gesehen, wie haben sie theologisch das Verhältnis von Christentum und Judentum bestimmt, und welche Konsequenzen haben sie daraus für das praktische Verhalten gegenüber den Juden gezogen. So ging es weithin in der kirchenhistorischen Forschung um die Begründung und Plausibilität der Haltung der christlichen Gemeinschaft gegenüber den Juden. Das christliche Bild von den Juden, die theologische Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum, die zu staats- und kirchenpolitischen Maßnahmen, etwa der Einführung von Judenordnungen geführt hat, wird jedoch kaum auf die konkrete Lebenswirklichkeit, die tatsächlichen Lebensbedingungen der jüdischen Menschen der jeweiligen Zeit bezogen. Auch da, wo von jüdischer Seite historische Ereignisse und Epochen gründlich erforscht wurden, wird diese Forschung doch in die Kirchengeschichte kaum integriert. Der Grund für eine solche getrennte Wahrnehmung und Forschung von christlicher Kirchengeschichte und der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft liegt nicht darin, daß es keine Interaktionen, keine Einflußnahme von seiten der Christen auf die Lage der jüdischen Gemeinschaft gegeben hätte. Diese Konstruktion einer getrennten Wahrnehmung und Forschung resultiert aus der Tatsache, daß die Juden sich als Minderheit in der Geschichte vorfinden. Die Geschichtswissenschaft und besonders die Kirchengeschichte sind Trägerin der Mehrheitsgeschichte, der Geschichte der christlichen Mehrheit; die jüdische Geschichtsforschung hingegen verfolgt die Perspektive einer Minderheit, die oftmals Opfer der Mehrheit geworden ist. Die hier beschriebene Trennung der Perspektiven ist nicht nur ein Problem wissenschaftlicher Theoriebildung. Sie ist zugleich Spiegel sozialer Gegebenheiten. Denn wenn jüdische Historikerinnnen und Historiker die

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Geschichte ihrer Gemeinschaft erforschen, sind sie doch gehalten, auch die Geschichte der christlichen Umwelt miteinzubeziehen, da sie den Rahmen für die Lebensbedingungen der jüdischen Menschen abgab. In der Kirchengeschichtsforschung und -Schreibung wird jedoch, so scheint es mir, die Gettoisierung der jüdischen Gemeinschaft fortgesetzt. Es bleibt dabei, das in der Geschichte geformte christliche Bild von den Juden zu rekonstruieren, die jüdischen Menschen, ihre Religion und Kultur als Objekte zu betrachten, anstatt die Quellen daraufhin zu befragen: wie haben jüdische Menschen, Frauen und Männer, die jüdische Existenz bestimmt, wie haben sie die Christen gesehen? Eine Theologie, eine Kirchengeschichte, die ökumenische Verantwortung für die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden zu übernehmen bereit ist, hätte anhand einer erweiterten Quellenerschließung die Geschichte von Christen und Juden aufzuarbeiten, und zwar so, daß sie die Juden nicht länger zum Objekt ihrer Geschichte macht, sondern indem sie jüdischen Menschen als eigenständig Glaubenden und eigenständig Handelnden in ihrer Geschichtsbetrachtung Raum gibt. Ferner wäre es wichtig, in der Geschichte der Beziehungen von Christen und Juden Ursache und Wirkung und die Täter-Opfer-Relation genau zu betrachten. Denn jahrhunderte-, beinahe jahrtausendelang ist das Christentum gegenüber den Juden als Staatsreligion aufgetreten; die christlichen Kirchen haben politisch und religiös die Mehrheitsposition, die Juden eine Minderheitenposition innegehabt. Aus dieser Mehrheitsposition hat die christliche Theologie ihr Verhältnis zu den Juden bestimmt, hat Kirchengeschichte die Geschichte dieser Beziehung beschrieben. Es hat sich in der Art und Weise, wie christliche Theologie betrieben worden ist, unmittelbar niedergeschlagen, daß den Juden so lange die politische und religiöse Gleichberechtigung und Eigenständigkeit verwehrt und aberkannt worden ist. Nun, da christliche Theologie ernst damit machen will, die Juden im christlich-jüdischen Gespräch als Partner anzunehmen, ist dafür die unabdingbare Voraussetzung, daß sie die Juden als eigenständig Glaubende und eigenständig Handelnde zu sehen lernt. Jüdische Menschen, jüdische Historikerinnen und Historiker haben ihre Geschichte in der Regel ganz anders erlebt und mit einem anderen Interesse dargestellt als christliche. Christen sollten sich dieser Verschiedenheit der jüdischen Wahrnehmung und Beurteilung nicht länger verschließen; sie sollten, wenn sie über die Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen arbeiten, die Forschungen jüdischer Kolleginnen und Kollegen einbeziehen; sie sollten die christlich-deutsche Geschichte in der Wahrnehmung der jüdischen Zeugen sehen lernen. Durch einen solchen Perspektivenwechsel würde sich der kirchenhistorische Befund selbst, z.B. auch über Äußerungen von Theologen über die

Für einen Perspektivenwechsel in der Kirchengeschichtswissenschaft

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Juden verändern. Denn dieser bliebe nicht darauf beschränkt, die innere Logik der christlichen antijüdischen Polemik nachzuzeichnen und sie plausibel zu machen, sondern sie vielmehr im Zusammenhang mit ihrer Wirkung auf die rechtliche, ökonomische, soziale und kulturelle Lage der jüdischen Gemeinschaft zu beziehen und darzustellen, auf die sie tatsächlich ja auch abgezielt hat. Es würde ferner bedeuten, das, was von jüdischer Seite als antisemitisch erlebt und beschrieben worden ist, als gleichrangigen historischen wie wissenschaftlichen Befund anzusehen. Ein solcher Perspektivenwechsel in der Geschichtsforschung ist also deshalb angezeigt und gewinnbringend, weil er dazu hilft, die geschichtliche Situation umfassender und angemessener aufzuschließen. Die so unterschiedlichen Wahrnehmungen von Wirklichkeit, so unterschiedlichen Sichtweisen gilt es, in der Erfassung und Darstellung von Geschichte aufeinander zu beziehen. Es ist sehr wohl möglich, daß ein solches Vorgehen Selbstkritik und Schulderkenntnis auf der christlichen Seite auslöst. Denn die Schuld so konkret wie möglich aufzuweisen und zu benennen, ist die Voraussetzung dafür, daß Schuldbekenntnisse nicht bloße Rituale bleiben, sondern daß aus ihnen die Kraft zu Umkehr und Erneuerung hervorgeht, die Kraft, daß Christen sich vom Antijudaismus befreien und in ökumenischer Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinschaft ihr Christentum leben können. Ein solcher Rückgang in die Geschichte des Verhältnisses von Christen und Juden, von Kirche und Synagoge verfolgt ein zweifaches Interesse: herauszufinden einerseits, von welchen judenfeindlichen Traditionen, die dem Christentum innewohnen und die der jüdischen Gemeinschaft so großen Schaden zugefügt haben, sich Christen zu befreien hätten; herauszufinden andererseits, an welche positiven Traditionen im Verhältnis von Christen und Juden angeknüpft werden kann. Denn es ist nicht hinreichend, bei der Analyse, beim Herausfinden der judenfeindlichen Elemente christlicher Theologie, bei der Schuldzuweisung stehenzubleiben; sondern die Beschäftigung mit den dunklen Seiten der christlichen Tradition lehrt, Verantwortung für begangenes Unrecht zu übernehmen, und spornt zugleich an, neue Wege zu beschreiten, angemessene Sichtweisen des Judentums, die von jüdischen Identitätsbestimmungen ausgehen, zu entwickeln, Christsein im Hinblick auf die Juden zu beschreiben und nach einem partnerschaftlichen Verhältnis mit den Juden zu suchen. Im Zusammenhang mit einem neuen Zugang zum Problem sind neue Arbeitsfelder entstanden. Ich nenne einige Themenkomplexe, an denen die beschriebenen Forschungs- und Bewertungsansätze deutlich werden:

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Die hermeneutische Fragestellung, die durch das Diktum H. A. Obermans charakterisiert wird: "nicht schuldbewußt, sondern quellenbewußt Geschichte treiben". Welche zusätzlichen Quellen wären durch eine christliche Geschichtsforschung zu erschließen, welche Geschichtsrevisionen wären nötig für eine Kirchengeschichtsschreibung, die sich als Theologie nach Auschwitz versteht? Die Zeit des entstehenden Christentums, die frühe Synagoge, Gemeinsames und Trennendes in der Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum in der Zeit der Kanonbildung von jüdischer und christlicher Bibel; jüdische Traditionsbildung im Talmud, die Kirchenväter und ihre Sicht des Judentums. Die Wirkung der Kreuzzüge auf die Lage der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Soziale, politische, ökonomische und religiöse Umbrüche in der Frühen Neuzeit und die Geschichte der Juden in Europa: die Reformatoren und ihre jeweilige Haltung gegenüber den Juden, z.B. Martin Luther, Martin Bucer, Andreas Osiander, Justus Jonas, Wolfgang Capito; der Zusammenhang von Reformation und Judenvertreibung oder der Abfassung von Judenordnungen in reformatorischen Territorien. Die Haltung von Theologie und Kirche gegenüber der Judenemanzipation. Die jüdische Aufklärung, ihre Ziele, ihre Sicht des Christentums; Probleme der Interaktion von Juden und Christen im Licht der Aufklärung. Die Wissenschaft des Judentums und ihr Beitrag für Entwürfe jüdischer Identität in Deutschland; Wahrnehmungen protestantischer Theologie durch Repräsentanten der Wissenschaft des Judentums. Der Zusammenhang von christlicher antijüdischer Polemik und der politischen Forderung und Rückgängigmachung der Emanzipation in Deutschland während des Kaiserreichs am Beispiel Adolf Stoeckers. Die Rolle von Theologie und Kirche gegenüber jüdischen Menschen und gegenüber dem nationalsozialistischen Rassismus während der NS-Zeit. Ansätze zu einer Begegnung der zwei Glaubensweisen. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und Sexismus in jüdischer und christlicher feministischer Theologie.

Johannes Hampel WORAN DIE AMERIKANER GLAUBEN Anmerkungen zur "civil religion" der USA 1. Großes Erstaunen im Dom zu Augsburg Erzbischof Dr. Josef Stimpfle predigte am Abend des 2. Oktober 1992 aus Anlaß eines Gedenkgottesdienstes für Franz Josef Strauß, zugleich zur Feier des Tages der deutschen Einheit (3. Oktober). Im letzten Teil seiner Ansprache behandelte er die drei Einleitungsworte des Deutschlandliedes "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland" und schloß mit den Worten: "Ich bitte Sie nun, dieses Lied zu singen." Nach einem kurzen Sichverwundern, Erstaunen, Einanderanschauen, das durch die Intonation der Orgel überbrückt wurde, erklang die Nationalhymne durch den tausendjährigen Dom. Noch Tage nach diesem Ereignis waren sich viele Teilnehmer nicht schlüssig, ob hier nicht Religion und Politik "in ungehöriger Weise vermengt" worden seien. Mein Dagegenhalten: "In den USA gehört die Nationalfahne zur Ausstattung jeder Kirche" half wenig. "Die Amerikaner sind doch für uns kein Maßstab; die haben ja auch kein Geschichtsbewußtsein." 2. "Amerika, du hast es besser!" Goethe teilte die Auffassung meines Augsburger Gesprächspartners keineswegs. Er war überzeugt, daß es ein Vorteil sei, "keine Burgen, keine Schlösser" zu haben. Auch die Auffassung, die Amerikaner hätten kein Geschichtsbewußtsein, ist fast das dümmste Vorurteil, das durch seine weite Verbreitung nicht legitimiert wird. Ich selbst legte es auch erst während meines Studiums in den USA ab. Ganz lebendig erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem meiner Lehrer für amerikanische Geschichte (seine Eltern waren Rußlanddeutsche; sie waren Anfang dieses Jahrhunderts in den Staat Washington eingewandert). Mister Rogel machte sich etwas lustig über meine vielen Fragen zur politischen Bildung in den USA: "Ich sehe wir haben es leichter. Für uns gibt es fünf Tabus, die wir einfach glauben: 1. Die Zehn Gebote sind die Grundlage unserer Moral. 2. Durch die Verfassung, die wir uns 1789 gaben, wurden wir

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eine Nation. 3. Der Oberste Gerichtshof bestimmt, was der Verfassung entspricht und was nicht. 4. Abraham Lincoln ist das Vorbild der Amerikaner (the democratic hero). 5. Unsere Flagge erzählt unsere Geschichte; aus 13 Kolonien wurden 50 Staaten. Zugegeben, diese Tabus bedürfen der Erklärung und Interpretation. Dies geschieht im Grunde täglich in den öffentlichen und privaten Schulen. So werden bspw. die nationalen Gedenktage geradezu kultisch gefeiert. Die Flagge der Union wird feierlich gehißt und die Schüler förmlich auf die hohen Ziele der Verfassung eingeschworen: Life, Liberty, Justice for all and pursuit of happiness. Leben, Freiheit, Gerechtigkeit für alle und Streben nach Glück. 3. Die Gründerväter - The founding Fathers Ausgangspunkte sind dabei die wichtigen geschichtlichen Stationen der amerikanischen Geschichte wie bspw. der Pakt der Pilgerväter auf der Mayflower vom 21. November 1620. Damals beschlossen diese Einwanderer, es handelte sich um britische Puritaner, eine neue Gesellschaft auf der Grundlage der 10 Gebote zu errichten. Von Beginn an standen diese "founding fathers" in Gegensatz zur streng hierarchisch geführten anglikanischen Hochkirche und damit auch gegen den König, der ja dieser Kirche vorstand. Der Bruch mit dem König kam 1776, als die 13 nordamerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erklärten. Das Bekenntnis in der Präambel, von Thomas Jefferson formuliert, ist im Grunde das amerikanische Credo, der Kern der civil religion. "Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich (seif evident), daß alle Menschen von der Schöpfung her gleich sind, daß ihr Schöpfer ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte mitgegeben hat. Darunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen bestehen, die ihre Macht von der Zustimmung der regierten Leute (people) herleiten, daß wenn immer eine Regierungsform diese Grundrechte zunichte macht, das Volk das Recht hat, die Regierungsform zu ändern oder zu beseitigen und eine neue Regierung zu wählen, deren Fundament auf solchen Prinzipien beruht und deren Macht so organisiert ist, daß sie ein Maximum an Sicherheit und Glück ermöglicht." Hundert Jahre zuvor hatte der Engländer John Locke (1632-1704) unter Berufung auf das Naturrecht diese Grundsätze ähnlich formuliert. In der englischen, glorreichen Revolution (glorious revolution) waren sie 1688 durchgesetzt und in der "Bill of Rights" feierlich verkündet worden.

Woran die Amerikaner glauben

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Es ist nicht vorstellbar, daß der achtjährige Unabhängigkeitskrieg der 13 Kolonien gegen die englische Krone (1775-83) hätte siegreich geführt werden können ohne jenen Glauben an die hohen Ziele der Unabhängigkeitserklärung. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurde der 1789 beschlossenen Verfassung ein "amendment" hinzugefügt, die "Bill of Rights" (1791), in der die freie Religionsausübung, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, das Recht Waffen zu tragen, Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung und Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren Verfassungsrang bekamen. Die Entstehung der politischen Kultur der USA bedenkend, läßt sich folgendes sagen: Wenn man die Ausgangslage von 1776 betrachtet, ist die Kühnheit der Konzeption und die Weisheit der Umsetzung der Theorie der Aufklärung in den Verfassungstext bewundernswert. Abgetrennt vom Mutterland hatten hier die ersten Kolonien ihre Selbständigkeit errungen und, auf dem europäischen Gedankengut aufbauend und die kolonialen Erfahrungen nutzend, ein Beispiel gesetzt. Die Verfassung machte die USA im 19. Jahrhundert im Zeitalter der Restauration und Industrialisierung für die Europäer zum "Land der Freiheit". Der erste Präsident der neuen "Vereinigten Staaten von Amerika", der die neue Verfassung in die Praxis umzusetzen hatte, wurde 1789 George Washington. 1792 wiedergewählt, konnte er in den 8 Jahren seiner Administration, zusammen mit den Staatssekretären Thomas Jefferson und Alexander Hamilton, eine solide Basis für die Legislative und Exekutive aufbauen. Der Regierungssitz wurde in ein eigenes Territorium Virginiens verlegt und erhielt nach dem ersten Präsidenten den Namen Washington D.C. (District of Columbia). 4. Föderation oder Konföderation. Abraham Lincoln Den schwersten Test hatte die Verfassung der USA im sog. Sezessionskrieg (1861-65) zu bestehen, es war ein außerordentlich grausamer Bürgerkrieg zwischen den an der Sklavenhaltung festhaltenden Staaten des Südens und den die Sklaverei verurteilenden Staaten des Nordens. Hinzu kam, daß die Südstaaten eine Kon-föderation an die Stelle der Föderation setzen wollten, also einen losen Staatenbund an Stelle des Bundesstaates. In den Jahren dieses Krieges wurde Abraham Lincoln (1809-65) zum "Vater der Freiheit", dies nur ein Ehrentitel. Sein gewaltsamer Tod hob ihn in die Aura der Märtyrer. Seine Rede auf dem Schlachtfeld von Gettysburg (1863) gehört zum unaufgebbaren Bestandteil der amerikanischen civil religion. Es heißt dort: "Wir können diesen Boden nicht weihen. Er ist geweiht von den Tapferen, im Leben und im Tod, die hier gekämpft haben ... Uns

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steht nur zu, uns der großen Aufgabe zu verpflichten, die noch vor uns liegt - daß diese Toten unsere Hingabe an die Sache stärken, für die sie ihr Leben dahingaben; daß dank unserer Entschlossenheit die Toten nicht umsonst gestorben sind; daß diese Nation unter Gott wiedergeboren werde in Freiheit; und daß die Herrschaft des Volkes, durch das Volk, für das Vok, nicht vergehe von dieser Erde." Ich schließe mit einem Erlebnis, das ich in der Independence Hall zu Philadelphia hatte, wo in einem Glasschrein das Original der Verfassung der USA zu sehen ist. Ich defilierte wie viele andere andächtig an diesem Schrein vorbei; vor mir ging ein junges Paar. Unmittelbar vor dem Schrein neigte sie sich zu ihrem Begleiter und sagte: "What do you think does it cost?" - Er darauf empört: "What a question! It's priceless, it's our Constitution." - "Was meinst Du, was dieses Dokument kostet? - Was für eine Frage! Es ist unbezahlbar, es ist unsere Verfassung." Für die Bürger der USA ist die Verfassung ein Gegenstand geradezu kultischer Verehrung. Dies erleichtert ungemein die politische Bildung und stiftet über alle Parteiungen hinweg Verbundenheit und Verbindlichkeit.

SCHRIFTENVERZEICHNIS CARSTEN NICOLAISEN (ohne Rezensionen)

1. Die Auseinandersetzungen um das Alte Testament im Kirchenkampf 1933-1945. Theol. Diss. Hamburg 1966 (masch.). 2. (Deutsche Fassung) John S. Conway: Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933-1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge. München 1969 (engl.: The Nazi Persecution of the Churches 1933-1945. London 1968). 3. Die Stellung der "Deutschen Christen" zum Alten Testament. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze II (AGK. 26). Göttingen 1971, S. 197-220. 4. (Bearb.:) Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band I: Das Jahr 1933. München 1971. 5. (Hg.:) Franz Tügel: Mein Weg 1888-1946. Erinnerungen eines Hamburger Bischofs. Hamburg 1972. 6. Wissenschaft im Rahmen der Ev. Kirche in Deutschland (IX): Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte. In: Deutsches Pfarrerblatt 75, 1975, S. 716-717. 7. (Bearb.:) Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band II: 1934/35. München 1975. 8. Der bayerische Reichsstatthalter und die evangelische Kirche. In: ZBKG 46,1977, S. 239-255. 9. Art. "Kerrl, Hanns". In: N D B Bd. 11. Berlin 1977, S. 534. 10. Aus der Arbeit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte. In: AHF-Jahrbuch der historischen Forschung. Stuttgart 1978, S. 80-84. 11. Diaspora zwischen Kommunismus und Katholizismus - die lutherische Kirche in Polen. In: JMLB 26, 1979, S. 116-133; vgl. auch JMLB 27, 1980, S. 161-163.

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12. (An Eberhard Bethge). In: Wie eine Flaschenpost. Ökumenische Briefe und Beiträge für Eberhard Bethge. Hg. von Heinz Eduard Tödt. München 1979, S. 201-202. 13. "Anwendung" der Zweireichelehre im Kirchenkampf - Emanuel Hirsch und Dietrich Bonhoeffer. In: Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre. 2. Band: Reaktionen. Hg. von Niels Hasselmann (Zur Sache. Kirchliche Aspekte heute. 20). Hannover 1980, S. 15-26. 14. Art. "Dibelius, Otto (1880-1967)". In: TRE Bd. W I . Berlin 1981, S. 729731. 15. Barmen V und die Zweireichelehre. In: "...unter Androhung von Gewalt für Recht und Frieden sorgen?" Die V. Barmer These und die politische Wirklichkeit heute (Protokoll Nr. 476 der Ev. Akademie RheinlandWestfalen). Mülheim/Ruhr 1981, S. 25-51. 16. Zur kirchlichen Zeitgeschichte in Deutschland. In: Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der evangelischen Kirche. Allgemeine Mitteilungen Nr. 22 (Karlheinrich Dumrath zum 70. Geburtstag). o.O. 1981, S. 23-31. 17. (Hg.:) Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981 (AKZG. B 13). Göttingen 1982. 18. Art. "Barmer Theologische Erklärung". In: Taschenlexikon Religion und Theologie. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen 1983, S. 142-143. 19. Art. "Kirchenkampf". In: Taschenlexikon und Theologie. 4. Aufl. Bd. 3. Göttingen 1983, S. 72-82. 20. Zur Entstehungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung. In: Die Barmer Theologlische Erklärung. Einführung und Dokumentation. Hg. von Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth. Neukirchen-Vluyn 1983, 4. Aufl. 1984, S. 20-26; 5. Aufl. 1993, S. 22-28. 21. (Hg. zusammen mit Wolf-Dieter Hauschild und Georg Kretschmar:) Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisenburg 1984. Göttingen 1984. 22. Der lutherische Beitrag zur Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung. In: Ebd. (= Nr. 21), S. 13-38. 23. Die Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung im Rahmen des deutschen Kirchenkampfes 1933/34. In: Die öffentliche Verantwortung

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der Evangelisch-Lutherischen Kirche in einer Bekenntnissituation. Das Paradigma des norwegischen Kirchenkampfes (Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg. 7). Erlangen 1984, S. 35-53. 24. (Zusammen mit Clemens Vollnhals:) Evangelische Kirche und öffentliches Leben in München 1945 bis 1949. In: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 19451949. Hg. von Friedrich Prinz. München 1984, S. 131-141. 25. (Mitbearb. zusammen mit Hannelore Braun und Martin Siebert:) Registerband. Dokumente - Institutionen - Personen. Hg. von Gertraud Grünzinger-Siebert (AGK. 30). Göttingen 1984. 26. Widerstand oder Anpassung? Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. In: Der Nationalsozialismus. Band I. Machtergreifung und Machtsicherung 1933-1935. Hg. von Johannes Hampel. München 1985, 2. Aufl. 1988, S. 165-206. 27. Politische Verantwortung in der Nachfolge Christi. Am 9. April 1945 starb Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg. In: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 40, 1985, S. 121-124 (auch in: Schuld, Bekenntnis, Versöhnung. Landeskirchliche Friedenstage 1985, S. 33-38). 28. Ein wütender Bischof schlug auf den Tisch. Treysa im Sommer 1945: Die erste deutsche Kirchenkonferenz nach dem Zweiten Weltkrieg. Es entstehen endlich organisatorische Gemeinsamkeiten nach dem Kirchenkampf. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 25 vom 23. Juni 1985. 29. Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung 1934. Neukirchen-Vluyn 1985. 30. (Bearb. zusammen mit Hannelore Braun:) Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Band 1: Sommer 1933 bis Sommer 1935 (AKZG. A 1). Göttingen 1985. 31. Lutherisches Sammlungswerk im Dritten Reich. In: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 41, 1986, S. 85-88. 32. (Hg. zusammen mit Wolf-Dieter Hauschild und Dorothea Wendebourg:) Kirchengemeinschaft - Anspruch und Wirklichkeit. Festschrift für Georg Kretschmar zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1986, S. 235-248. 33. "Kirchengemeinschaft" nach der Barmer Theologischen Erklärung. In: Ebd. (= Nr. 32), S. 235-248.

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34. Barmen 1934-1984. Bibliographie der 1983-1986 erschienenen Titel. In: Kirchliches Jahrbuch 111. Jg. 1984, Gütersloh 1986, S. 127-146. 35. (Mitwirkung zusammen mit Hannelore Braun:): Inventar staatlicher Akten zum Verhältnis von Staat und Kirchen 1933-1945. Bearb. von Christiana Abele und Heinz Boberach. Kassel 1987. 36. Art. "Kirchenkampf" (Ergänzung und Bibliographie). In: Ev. Staatslexikon. 3. Aufl. Stuttgart 1987, Sp. 1636-1640. 37. Art. "Kirchenkampf. II. Evangelische Kirche". In: Staatslexikon. 7. Aufl., hg. von der Görres-Gesellschaft. Freiburg/Basel/Wien 1987, Bd. 3, Sp. 432-435. 38. Kirchliche Zeitgeschichtsforschung in Deutschland. Entwicklung Methoden - Probleme. In: Amt und Gemeinde 39, 1988, S. 130-136. 39. Bibliographie zur kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 112. Jg. 1985, Gütersloh 1988, S. 120-133. 40. Bibliographie zur kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 113. Jg. 1986, Gütersloh 1989, S. 363-376. 41. Widerstand oder Anpassung? Evangelische Kirche in der Zerreißprobe 1935-1939. In. Der Nationalsozialismus. Band 2: Friedenspropaganda und Kriegsvorbereitung 1935-1939. Hg. von Johannes Hampel. München 1989, S. 213-242. 42. Den tyske kirkekamp og lutherdommens krise. In: Praesteforeningens Blad 79, 1989, S. 161-170. 43. Bibliographie zur kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 114. Jg. 1987, Gütersloh 1990, S. 455-477. 44. Zwischen Theologie und Geschichte. Zur "kirchlichen Zeitgeschichte" heute. In: Der Evangelische Erzieher 42, 1990, S. 410-419. 45. Bibliographie zur kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 115. Jg. 1988, Gütersloh 1991, S. 423-454. 46. (Bearb. zusammen mit Hannelore Braun:): Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriftern von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Band 2: Herbst 1935 bis Frühjahr 1937 (AKZG. B 4). Göttingen 1993. 47. Widerstand oder Anpassung? Die evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg. In: Der Nationalsozialismus. Band 3: Das bittere Ende 1939-1945. Hg. von Johannes Hampel. München 1993, S. 287-322.

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48. (Hg. zusammen mit Leonore Siegele-Wenschkewitz:) Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG. B 18). Göttingen 1993. 49. Art. "Niemöller, Martin". In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. VI (Bautz). Herzberg/Harz 1993, Sp. 735-748. 50. Art. "Bekennende Kirche". In: Lexikon des deutschen Widerstandes. Hg. von Wolfgang Benz und Walter H. Pehle. Frankfurt am Main 1994, S. 178-181. 51. Bibliographie zur Kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 116. Jg. 1989, Gütersloh 1994, S. 411-433. 52. (Bearb. zusammen mit Gertraud Grünzinger:) Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band EI: 1935-1937. Gütersloh 1994. 53. Art. "Niemöller, Martin (1892-1984)". In: TRE Bd. XXIV. Berlin 1994, S. 502-506. 54. (Bearb. zusammen mit Nora Andrea Schulze:) Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Band I: 1945/46 (AKZG. A 5). Göttingen 1995. 55. Bibliographie zur Kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 117./118. Jg. 1990/91. Gütersloh 1995, S. 293-326. 56. Art. "Müller, Ludwig". In: NDB Bd. 18 (erscheint 1996). 57. (Hg. zusammen mit Ernst-Albert Scharffenorth:) Dietrich Bonhoeffer. Berlin 1932/33 (Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd. 12). Gütersloh (erscheint 1996). 58. Bibliographie zur Kirchlichen Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 119./120. Jg. 1992/93. Gütersloh (erscheint 1996). 59. Hugo Hahn. In: Köpfe des Luthertums im 20. Jahrhundert. Teil I: Deutschland. Gütersloh (erscheint 1996).

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ANZINGER, Herbert, Dr.theol., bis 1993 Leiter der Redaktion der "DietrichBonhoeffer Werke", Pfarrvikar in Mannheim BAYER, Ulrich, Dr.theol., bis 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte (Forschungsprojekt "Kirche und Staat in der DDR"), Vikar in Freiburg/Breisgau BETHGE, Eberhard, Dr.h.c. D D , Präsident des Internationalen BonhoefferKomitees und Honorarprofessor für Religion, Kirchengeschichte und Praktische Theologie an der Universität Bonn BOBERACH, Heinz, Dr.phil., Ltd. Archivdirektor i.R., Koblenz BRÄUER, Siegfried, Dr.theol., Oberkirchenrat im Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland, Außenstelle Berlin BRAUN, Hannelore, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München BÜTTNER, Ursula, Dr.phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg und Privatdozentin an der Universität Hamburg CONWAY, John S., Dr.phil., Professor am Department for History, University of British Columbia, Vancouver/Canada DOERING-MANTEUFFEL, Anselm, Dr.phil., Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Tübingen FAULENBACH, Heiner, Dr.theol., Professor für Kirchengeschichte an der Universität Bonn FEIL, Ernst, Dr.theol., Professor für katholische Religionslehre und -pädagogik an der Universität München GRAF, Friedrich Wilhelm, Dr.theol., Professor für Evangelische Theologie und Sozialethik an der Universität der Bundeswehr Hamburg GRESCHAT, Martin, Dr.theol., Professor für Kirchengeschichte an der Universität Gießen

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Autorinnen und Autoren

GRÜNZINGER, Gertraud, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München HAMPEL, Johannes, Dr.phil., Professor für Didaktik der Sozialkunde an der Universität Augsburg HAUSCHILD, Wolf-Dieter, Dr.theol., Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster IMMENKÖTTER, Herbert, Dr.theol., Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Augsburg KRETSCHMAR, Georg, Prof. D. Dr.h.c., Bischof der Ev.-Luth. Kirche von Rußland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien, St. Petersburg LAUTERER, Heide-Marie, Dr.phil., wissenschaftliche Historischen Seminar der Universität Heidelberg

Mitarbeiterin

im

MAGER, Inge, Dr. theol., Professorin für Kirchengeschichte an der Universität Hamburg MAIER, Hans, Dr.phil. Dr. h.c., Professor für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität München MEHLHAUSEN, Joachim, Dr.theol., Professor für Kirchenordnung an der Universität Tübingen MENSING, Björn, Dr.phil., Pfarrer z.A., Gauting bei München NOWAK, Kurt, Dr.theol. Dr.phil., Professor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig RENDTORFF, Trutz, Dr.theol. Dr.h.c., Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Universität München RITTER-MÜLLER, Petra, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für katholische Religionslehre und -pädagogik an der Universität München RÖHM, Eberhard, Dozent für Lehrer- und Pfarrerfortbildung in Württemberg, Leonberg SCHJÖRRING, Jens Holger, Dr.theol., Dozent für Dogmatik an der Universität Aarhus/Dänemark SCHNEIDER, Thomas Martin, Dr. theol., Akademischer Rat am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz SCHULZE, Nora Andrea, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte (Projekt "Edition der Protokolle des Rates der E K D 1945-1948"), München

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Autorinnen und Autoren

SCHWARZ, Karl, Dr.theol., Universitätsdozent am Institut für Kirchenrecht der Universität Wien SlEGELE-WENSCHKEWITZ, Leonore, Dr.theol., stellvertretende Leiterin der Ev. Akademie Arnoldshain und Privatdozentin für Kirchengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt am Main SlLOMON, Anke, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte (Forschungsprojekt "Kirche und Staat in der DDR"), Berlin STOEVESANDT, Hinrich, Dr.theol. Dr.h.c., Leiter des Karl Barth-Archivs, Basel THIERFELDER, Jörg, Dr.theol., Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg VOLLNHALS, Clemens, Dr.phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Abt. Bildung und Forschung, Berlin WOUTERS, Armin, Dr.theol., stellvertretender Leiter des Ökumene-Referats im Erzbischöflichen Ordinariat München WRIGHT, Jonathan R.C., Dr.phil., Historiker am Christ Church College, Oxford/England ZEHRER, Eva-Maria, Dr.theol., derzeit Referentin für Zeitgeschichte, Oelsnitz

Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte Reihe A: Quellen

Reihe B: Darstellungen

Reihe A und Reihe B: Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Joachim Mehlhausen und Leonore Siegele-Wenschkewitz. Bei Subskription ca. 15 % Ermäßigung.

1 Jörg Thierfelder Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm 1975. XVI, 311 Seiten, geb. ISBN 3-525-55700-0

1 Verantwortung für die Kirche Stenografische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Bearbeitet von Hannelore Braun und Carsten Nicolaisen. Band 1: Sommer 1933 bis Sommer 1935. 1985. XLIV, 590 Seiten, 1 Porträt, geb. ISBN 3-525-55751-5 Band 2: Siehe Band 4 dieser Reihe 2 Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens Briefe und Dokumente aus derZeit des Kirchenkampfes 1933-1945. Hrsg. von Erich Dinkler und Erika Dinkler-von Schubert. Bearb. von Michael Wolter. 2., durchges. Aufl. 1986. 403 Seiten, 1 Frontispiz, kart. ISBN 3-525-55752-3 3 Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch Berichte ausländischer Beobachter aus dem Jahre 1945. Bearb. von Clemens Vollnhals. 1988. XLV, 392 Seiten, geb. ISBN 3-525-55753-1 4 Verantwortung für die Kirche Stenografische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Bearbeitet von Hannelore Braun und Carsten Nicolaisen. Band 2: Herbst 1935 bis Frühjahr 1937. 1993. XXXII, 723 Seiten, geb. ISBN 3-525-55755-8 5: Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Band 1:1945/1946 Im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin bearbeitet von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze. Mit einer Einleitung von Wolf-Dieter Hauschild. 1995. XLVIII; 971 Seiten, geb. ISBN 3-525-55756-6

2 Jonathan R. Wright • Über den Parteien Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918-1933.1977. XIV, 276 Seiten, geb. ISBN 3-525-55702-7 3 Heinz Bunotte Bekenntnis und Kirchenverfassung Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte. 1977. X, 261 Seiten, geb. ISBN 3-525-55701-9 4 Johanna Vogel Kirche und Wiederbewaffnung (Vergriffen) 5 Reijo E. Heinonen Anpassung und Identität Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933-1945.1978. 302 Seiten, geb. ISBN 3-525-55704-3 6 Martin N. Dreher • Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. 1978. 259 Seiten, 4 Abb., 1 Faltkarte, geb. ISBN 3-525-55705-1 7 Jens H. Schjarring • Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs. 1979. 354 Seiten, geb. ISBN 3-525-55707-8 8 Kirchen in der Nachkriegszeit Vier zeitgeschichtliche Beiträge. Von Armin Boyens, Martin Greschat, Rudolf von Thadden, Paolo Pombeni. 1979.167 Seiten, geb. ISBN 3-525-55708-6 9 Annemarie Smith-von Osten Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948 Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. 1981. 400 Seiten, kart. ISBN 3-525-55709-4 10 Joachim Beckmann Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte 19461974. 1981. XII, 420 Seiten, kart ISBN 3-525-55710-8

11 Hartmut Rudolf Evangelische Kirche und Vertriebene 1945-1972 Band 1: Kirchen ohne Land Die Aufnahme von Pfarrern und Gemeindegliedern aus dem Osten im westlichen Nachkriegsdeutschland: Nothilfe - Seelsorge kirchliche Eingliederung. Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse. 1984. XXIII, 627 Seiten, 5 Karten, geb. ISBN 3-525-55711-6 12 Hartmut Rudolf Evangelische Kirche und Vertriebene 1945-1972 Band 2: Kirche in der neuen Heimat Vertriebenenseelsorge - politische Diakonie das Erbe der „Ostkirchen". Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse. 1985. XIV, 387 Seiten, geb. ISBN 3-525-55712-4 13 Carsten Nicolaisen (Hg.) Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg / Dänemark 1981. 1982. 361 Seiten, kart. ISBN 3-525-55713-2 14 Johannes M . Wischnath Kirche in Aktion Das Evangelische Hilfswerk 1945-1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission. 1986. XVI, 491 Seiten, geb. ISBN 3-525-55714-0 15 Klaus Tanner Die fromme Verstaatlichung des Gewissens Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre. 1989. XXI, 288 Seiten, geb. ISBN 3-525-55715-9

18 Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus Hrsg. von Leonore Siegele-Wenschkewitz und Carsten Nicolaisen. 1993.429 Seiten, geb. ISBN 3-525-55718-3 19 Thomas M . Schneider Reichsbischof Ludwig Müller Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit. 1993.384 Seiten mit 8 Abb. und 4 Seiten Tafeln, geb. ISBN 3-525-55719-1 20 Protestantische Revolution? Hrsg. von Trutz Rendtorff. Kirche und Theologie in der DDR: Ekklesiologische Voraussetzungen, politischer Kontext, theologische und historische Kriterien. Vorträge und Diskussionen eines Kolloquiums in München, 26.-28.3.1992. 1993. 357 Seiten, geb. ISBN 3-525-55720-5 21 Gottfried Abrath Subjekt und Milieu im NS-Staat Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse 1936-1939. Analyse und Dokumentation. 1994. 459 Seiten mit 8 Abb. und 17 Graphiken, geb. ISBN 3-525-55721-3 22 Heide-Marie Lauterer Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft Der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes. 1994. 240 Seiten mit 4 Abb., geb. ISBN 3-525-55722-1

16 Siegfried Hermle Evangelische Kirche und Judentum Stationen nach 1945 1990. 422 Seiten, geb. ISBN 3-525-55716-7 17 Karl-Heinrich Melzer Der Geistliche Vertrauensrat Geistliche Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg. 1991. 390 Seiten mit 4 Abb., geb. ISBN 3-525-55717-5

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