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German Pages 282 Year 2016
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle
Edition Kulturwissenschaft | Band 39
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.)
Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten
Wir bedanken uns bei allen Einrichtungen, die dieses Buch finanziell unterstützt und gefördert haben. DAB – Deutscher Akademikerinnen Bund e.V., www.dab-ev.org Gerda Weiler Stiftung, www.gerda-weiler-stiftung.de IBG – Innovatives Betriebliches Gesundheitsmangement, www.ibg.co.at Imagine – Verein für Kulturanalyse, www.imagine.at MA7 – Kulturabteilung der Stadt Wien, www.wien.gv.at/kultur/abteilung WPA – Wiener Psychoanalytische Akademie, www.psy-akademie.at
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Nikola Langreiter Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2630-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2630-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung | 9
E motionen und gesellschaftliche T ransformationen Anomie und Gefühl Zur Diskrepanz zwischen kultureller Modellierung und sozialer Strukturierung von Emotionen in der Gegenwar t Christian von Scheve und Maximilian Dehne | 23
Liminality Un-Wohl-Gefühle und der affective turn Paul Stenner | 45
Neurotic citizenship und das Problem der Somatisierung Monica Greco | 69
I feel good! Über Paradoxien des Wohlfühl-Imperativs im Wellness-Diskurs Elisabeth Mixa | 95
S exualität , G eschlecht und U nwohlgefühle Monetarisierung der Gefühle Das Geld als Triebwerk von Emotion und Sexualität Christina von Braun | 133
Affektive Gouvernementalität Eine geschlechter theoretische Perspektive Birgit Sauer | 147
Depression und Geschlecht Ein psychodynamischer Erklärungsversuch Ilka Quindeau | 163
Geschlecht und Gefühl Emotionsnormen in der Konstruktion depressiver »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« Nadine Teuber | 177
S elbstmanagement und B urnout Zum Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur August Ruhs | 197
Von der Kompetenz zum Self Tracking Markus Tumeltshammer | 213
Burnout Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer umstrittenen Diagnose Linda V. Heinemann und Torsten Heinemann | 235
»Ihre Klagen sind Anklagen …« Anmerkungen zur Burnout-Diskussion aus Sicht eines Psychiaters und Psychotherapeuten Rainer Gross | 253
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 269
Vorwort
Dieses Buch versammelt Beiträge von Autorinnen und Autoren verschiedenster Disziplinen, um das Thema gegenwärtiger Befindlichkeiten aus unterschiedlichsten Perspektiven zu untersuchen und damit in eine Diskussion treten zu lassen. Besonders erfreulich ist, dass mehrere psychoanalytische Beiträge in den transdisziplinären Austausch und Dialog zur Untersuchung von Wohl- und Unwohlgefühlen einbezogen wurden. Die unbewusste Dimension gesellschaftlicher Phänomene, wie sie Sigmund Freud grundlegend in einigen Aufsätzen formuliert hat, ist zuletzt ziemlich in Vergessenheit geraten. Durch diese Sammlung von Aufsätzen wird deutlich, dass psychoanalytische Denkansätze eine wichtige Ergänzung und Bereicherung zu den Erkenntnissen anderer Forschungsansätze darstellen. Wie Freud erkannte, sind es unbewusste Wünsche, die die innere Realität beherrschen. Er hob jedoch in seinen sozialpsychologischen Schriften hervor, wie diese inneren unbewussten psychischen Konstellationen zur Gestaltung der äußeren Realität beitragen und diese ihrerseits wiederum auf das Individuum einwirkt (Freud 1921: 104). So sind es auch unbewusste Fantasien, die Paradiese oder Sehnsuchtsorte entwerfen, von denen unbegrenztes Wohlbefinden und Glück erwartet wird, und unbewusste Vorstellungen über verlorene Paradiese, die entsprechenden Enttäuschungen und Ängsten zugrunde liegen und Unwohlgefühle auslösen. Der Inbegriff des grenzenlosen Wohlbefindens – ein »ozeanisches Gefühl«,1 von Freud als sekundäre Quelle von Religion beschrieben –, entspricht der Vorstellung eines intrauterinen Zustandes, in dem Wünsche schon erfüllt sind, bevor sie entstehen, einer Einheit zwischen Ich und Außenwelt. Während die Unwohlgefühle durch den Verlust des Kontakts mit sich selbst und die Enttäuschung und Scham darüber entstehen, den selbstentworfenen Anforderungen nicht zu entsprechen. Etliche AutorInnen in diesem Buch – u.a. Elisabeth Mixa, Ilka Quindeau, aber auch Birgit Sauer – weisen darauf hin, dass die gegenwärtigen Befind1 | Wie Romain Rolland in einem Brief an Freud am 5. Dez. 1927 schrieb (zit. lt. Wangh 1989: 42).
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lichkeiten hauptsächlich an narzisstischen Paradigmen orientiert sind. Und es scheint mir eine wichtige Erkenntnis, die aus der Lektüre dieses Buchs zu ziehen ist, dass der Begriff des Konflikts, als einer inneren Dynamik, von der Wohl- und Unwohlgefühle wesentlich geprägt sind, im aktuellen Diskurs verloren zu gehen droht. Möglicherweise ist der innere Konflikt durch die Überzahl an äußeren Konflikten und deren destruktiver Qualität in Misskredit geraten, es wird zunehmend den Religionen überlassen, sich damit auseinanderzusetzen (und das Problem damit ins Jenseits verschoben) oder als politische Konfrontation ausagiert. Das Wissen um die entwicklungsfördernde Potenz der Auseinandersetzung mit divergierenden psychischen Kräften und Wünschen, so zentral in der Theorie der Aufklärung, verliert derzeit offenbar an Bedeutung. Dadurch wird ein großer Bereich von innerer Freiheit als Quelle von Wohlgefühlen zugunsten einer Pseudoreligiosität aufgegeben oder fällt unter dem Druck soziokultureller Forderungen nach positiver Emotionalität und ›Konfliktfreiheit‹ einer zunehmenden Orientierungslosigkeit zum Opfer (siehe dazu Scheve/Dehne in diesem Band). So präsentiert dieses Buch auf eindrucksvolle Weise das Potenzial einer von allen sehr engagiert geführten, interdisziplinären Auseinandersetzung und es ist zu hoffen und äußerst wünschenswert, dass dieser fruchtbare Polylog Fortsetzung findet! Elisabeth Skale
L iter atur Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII, Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 71-161. Whang, Martin (1989): »Die genetischen Ursprünge der Meinungsverschiedenheit zwischen Freud und Romain Rolland über religiöse Gefühle«, in: Psyche 43 (1), S. 40-66.
Einleitung
Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten durchzuführen, bedeutet zunächst, sich zu vergegenwärtigen, dass sich der Zustand von Gesellschaften nicht nur über Wohlstand oder andere sozio-ökonomische Kategorien beschreiben lässt, sondern v.a. auch über die Befindlichkeiten ihrer Mitglieder1. In diesem Sinne kann ganz allgemein festgehalten werden: Einem relativen Wohlstand westlicher Gesellschaften – trotz heftiger und eruptiver wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen im Gesellschaftssystem – stehen neue Befindlichkeitsstörungen und eine Ausweitung psychiatrischer bzw. zumindest therapeutisch als behandlungsbedürftig erachteter Zustände einer stetig wachsenden Gruppe von Leidenden gegenüber. So berichtet etwa die World Health Organization (2008) über einen dramatischen Anstieg depressiver Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten und prognostiziert Depressionen in 20 Jahren als zweithäufigste Zivilisationskrankheit. Diese Feststellung wirft viele Fragen auf, denen im gegenständlichen Buch systematisch nachgegangen wird. Außer in Statistiken zu Prävalenzen, zeigt sich der Anstieg psychischer Leidenszustände bzw. die verstärkte, auch mediale Aufmerksamkeit dafür sowohl in sich stets wandelnden quantifizierenden Ordnungssystemen, welche die Phänomene besser in den Blick bekommen wollen, als auch in sich intensivierenden Debatten in den Humanwissenschaften. Hinzu kommen sich zusehends weiter differenzierende Diagnose-Schemata, verbunden mit einer tendenziellen Auflösung derselben in diverse Symptome, wobei Ätiologie und Leidenslagen immer mehr aus dem Blick geraten. Spätmodernen westlichen Gesellschaften ist also ein scheinbarer Widerspruch inhärent: Einem gesellschaftlichen Imperativ, sich wohlzufühlen, wie dies insbesondere im Wellness-Diskurs deutlich wird, korrespondiert eine alarmierende Zunahme an psychischen Leidenszuständen, vor allem Depressionen und Burnout. Das Buch Un-Wohl-Gefühle fokussiert auf eben diesen paradox erscheinenden Zu-
1 | Diese Überlegungen fanden sich auch bei einer Tagung zum Thema ›Stress‹ (Zürich 2012) als Ausgangsperspektive der Analysen (vgl. Tagungsbesprechung Koch 2012).
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sammenhang und analysiert das Ineinandergreifen von Wohl- und Unwohlgefühlen im gesellschaftlichen Kontext. Der Frage nach der Zunahme psychischer Leiden widmet sich die soziologische Diskussion seit geraumer Zeit. So nimmt beispielsweise Nikolas Rose (2006) in seinem Beitrag mit dem Titel »Disorders without Borders?« Bezug auf die kontrovers geführte Debatte, ob im Vergleich zu früheren Zeiten tatsächlich ein Anstieg psychischer Erkrankungen zu verzeichnen sei. Er geht davon aus, dass eine solcherart gestellte Frage eigentlich nicht zu beantworten sei, da die Vorstellung davon, was als psychische Normalität bzw. Krankheit gilt, kulturell und historisch variabel ist. Was hingegen festgestellt werden kann, ist ein Ansteigen der Sensibilität gegenüber psychischen Krankheiten, womit sich sowohl das vermehrte Auftreten als auch die Differenziertheit psychiatrischer Diagnosen in Zusammenhang bringen lassen. Zudem spricht er, neben den Marktexpansionsdynamiken der Pharmaindustrie, von einer »moral entrepreneurship«, also von professionellen Eigeninteressen und Eigendynamiken der betrauten Berufsgruppen. Seine grundlegend aufgeworfene Frage lautet, ob wir nicht insgesamt von einer Zäsur in der Selbstwahrnehmung spätmoderner Individuen sprechen können, einer »›psychiatrization‹ of the human condition« (Rose 2006: 481). Eine viel beachtete soziologische Analyse der Ausbreitung von Depressionen im Zusammenhang mit rezenten gesellschaftlichen Entwicklungen, hat Alain Ehrenberg (2004) vorgelegt. In seiner breit rezipierten Studie »Das erschöpfte Selbst« analysiert Ehrenberg, wie kontemporäre gesellschaftliche Bedingungen mit depressiver Erschöpfung in eins gehen. In einer Zusammenschau von psychoanalytischen Ansätzen und soziologischer Analyse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zeigt er, dass der Druck, positive Gefühle zu empfinden, sich als glückliches und erfolgreiches Individuum antizipieren und präsentieren zu müssen, dazu führt, negative Gefühle als umso massiveres Scheitern wahrzunehmen. Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung scheinen in beobachtbarer Verbindung mit Gefühlen der Erschöpfung, einer Erhitzung- und Überforderung zu stehen (Kury 2013). Als Beispiele hierfür können u.a. Philipp Sarasins Studie »Reizbare Maschinen« (2001) ebenso wie die Arbeit von Patrick Kury (2012) »Der überforderte Mensch« dienen. In beiden Analysen wird nachvollziehbar, dass gesellschaftliche Umbrüche mit Erschöpfung(skrankheiten) verbunden sind. Während Sarasin in einer Genealogie des Körpers im Hygiene-Diskurs das Fatigue-Syndrom als beschreibbares Phänomen herausarbeitet, zeigt Kury in einer Geschichte des Stress-Konzeptes, dass verschiedene ›Epochen‹ unterschiedliche Belastungskrankheiten hervorgebracht haben und Burnout als rezent herausragende Erschöpfungsdiagnose firmiert. In beiden Arbeiten ist es eine Form von Erschöpfung – ob Fatigue-Syndrom oder Burn-
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out –, die für emotionale Transformationsprozesse und für Phasen gesellschaftlicher Umgestaltung symptomatisch erscheint. Der erste Abschnitt des Buches – Emotionen und gesellschaftliche Transformationen – widmet sich eben diesen Umbruchphasen im Kontext des seit den 1990er Jahren konstatierbaren affective turns (Clough/Halley 2007; Greco/Stenner 2008; Hammer-Tugendhat/Lutter 2010). Die Beiträge des ersten Buchkapitels werfen grundlegende Fragen zu Veränderungsprozessen von gegenwärtigen Subjektivierungsweisen, von Sozialstruktur und Kultur auf. Die dort versammelten Texte setzen sich mit basalen, sozialen und rituellen Phänomenen rund um gegenwärtige Emotionalitäten im gesellschaftlichen Kontext auseinander ebenso wie mit Diskursen um Somatisierungen von Gefühlslagen und neue Selbstverständnisse formenden Selbsttechnologien. Das Buch wird von einem Beitrag eröffnet, der für eine übergreifende Fragestellung steht – die »Diskrepanz zwischen kultureller Modellierung und sozialer Strukturierung von Emotionen in der Gegenwart«. Christian von Scheve und Maximilian Dehne greifen in ihrem gleichnamigen Beitrag ein klassisches Konzept der Soziologie auf, um die emotionale Verfasstheit westlicher Gesellschaften zu charakterisieren, nämlich jenes der »Anomie«. Anomie bezeichnet allgemein einen gesellschaftlichen Zustand der Regellosigkeit, der durch Prozesse rapiden sozialen Wandels hervorgerufen wird. In Auseinandersetzung mit den Anomie-Theorien von Emile Durkheim, Robert K. Merton und Wilhelm Heitmeyer befragen sie das Konzept v.a. auf seine emotionale Komponente. Vor diesem Hintergrund setzen sie empirische Ergebnisse einer eher strukturell orientierten Emotionssoziologie in Bezug zu emotionssoziologischen Arbeiten, die stärker auf die kulturelle Modellierung von Gefühlen fokussieren, und kommen dabei zu folgendem Befund: Westliche Gegenwartsgesellschaften bewegen sich in Richtung einer emotionalen »Anomiefalle«. Sie zeichnen sich einerseits durch sozialstrukturelle Bedingungen aus, die in weiten Teilen der Bevölkerung zu Angst-, Unsicherheits- und Exklusionsempfinden führen. Andererseits sind sie charakterisiert durch kulturelle Narrative und Programme der Selbststeuerung, die ›positive‹ Gefühle in den Mittelpunkt rücken und eben jene strukturell bedingten Befindlichkeiten als individuelles Versagen pathologisieren. Paul Stenner zeigt in seinem Beitrag »Liminality. Un-Wohl-Gefühle und der affective turn« in Rückgriff auf die im Kurztitel des Buches enthaltene These, wie das Konzept der Liminalität zu einem besseren Verständnis ambivalenter, affektiver Situationen beitragen kann. Bezugnehmend auf die anthropologischen Arbeiten Arnold van Genneps und Victor Turners beleuchtet Stenner emotionale Schwellenzustände, die v.a. dann mit großer Intensität hervortreten können, wenn alte Ordnungen ausgesetzt und neue noch nicht etabliert sind. Dies trifft sowohl auf absichtlich inszenierte Übergangsriten als auch auf unvorhergesehene Situationen wie Unfälle, Krankheiten, Katastrophen oder
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Krisen zu, in denen die durch sie hervorgerufenen Affekte wiederum Prozesse der Ritualisierung evozieren. Im Kontext neoliberaler politischer und ökonomischer Programme gewinnt so das (Selbst-)Management der mit ihnen einhergehenden liminalen Zustände und ihrer Un-Wohl-Gefühle zunehmend an Bedeutung. Monica Greco schließt in ihrem Beitrag »Neurotic Citizenship und das Problem der Somatisierung« an Engin Isins Konzepte der ›Neuropolitik‹ und des ›neurotischen Bürgers‹ an. Während das neoliberale Subjekt »suffizient, überlegt, verantwortlich, autonom und unbelastet« (Isin 2004: 217) ist, ist das neurotische Subjekt »jemand, der ängstlich, unter Stress und zunehmend unsicher ist, sowie angehalten, mit seinen Neurosen fertig zu werden« (ebd.: 225). Diese beiden Figuren schließen einander allerdings, so Isin, nicht aus, sondern implizieren, ja produzieren einander – die Figur des neoliberalen Subjekts ist eine neurotische Fantasie. Vor diesem theoretischen Hintergrund analysiert Greco zunächst den Wandel des ursprünglich sozialkritischen Konzepts des ›Gesundheitswahns‹ zu einer individuellen Pathologie demokratisch ermächtigter, wohlinformierter und selbstbewusster PatientInnen. Von hier schlägt sie eine Brücke zum Diskurs um Somatisierung. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Wandel der Diagnose ›Somatoforme Störungen‹ zu ›Somatischer Symptom-Störung‹ im Rahmen des Entstehungsprozesses der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder der American Psychiatric Association (DSM-5). Greco zeigt auf, wie dieser Diskurs als »neuropolitische Argumentation« im Sinne Isins zu betrachten sei, die sowohl auf PatientInnen- als auch auf ExpertInnen-Seite ›neurotische Subjekte‹ hervorbringt. Elisabeth Mixa analysiert in ihrem Beitrag »I feel good! Über Paradoxien des Wohlfühl-Imperativs im Wellness-Diskurs« das Zusammenwirken von Wohlund Unwohlgefühlen im produktiven, diskursiven Prozess. Im Aufgreifen zentraler ›Werkzeuge‹ und Erkenntnisse aus der Foucault’schen Diskurstheorie sowie aus seinen Analysen zu Heterotopien (Foucault 2005), veranschaulicht Mixa Wirkweisen des Wellness-Diskurses mit all seinen Selbsttechnologien, narrativen Figurationen und Modi der Selbst-Transformation. Mixa arbeitet die These aus, dass Wellness ein spezieller Transformationsdiskurs, ein spätmoderner Anstandsdiskurs ist. Veranschaulicht über das Wellness-Narrativ mit den Gestaltungen der Nixe, der Oase, des Selbst-Coaches, zeigt sie, dass konkrete Praktiken und Heilsversprechen in immer individualisierterer Form das Netz einer neuen Formation stricken. So veranschaulicht und argumentiert sie, wie ein neues Wohlfühl-Dispositiv mit dem Wellness-Diskurs entsteht, welches das der Sexualität überlagert: Wellness erscheint dabei als postsexuelles Symptom eines Transformations- und Emotionalisierungsprozesses in der westlichen Kultur der Gegenwart, welches Geschlechtlichkeiten zentral tangiert und transformiert.
Einleitung
Das Ineinandergreifen von Somatisierungs-, Ökonomisierungs- Emotionalisierungs- und Geschlechterdiskursen ist also symptomatisch für (rezente) Transformationsprozesse in westlichen Gesellschaften. Den hier versammelten Beiträgen liegt ein Verständnis von Gefühlen als historisch und kulturell kontingent und situiert zugrunde. Begriffe wie ›Leidenschaften‹, ›Empfindungen‹, ›Affekte‹, ›Gefühle‹ und andere Bezeichnungen stehen folglich für voneinander unterschiedene Konzepte und vergeschlechtlichte Gefühls- und Existenzweisen (Maihofer 1995).2 Der Begriff der ›Emotion‹ markiert ein (vorläufiges) Ende eines mit dem 19. Jahrhundert einsetzenden Prozesses einer »Somatisierung der Gefühle« (Frevert 2011: 30), die gleichzeitig naturalisiert werden. Mit der Dominanz der Neurowissenschaften erfährt diese Entwicklung aktuell einen Höhepunkt. Neben der Somatisierung von Gefühlen muss auch eine Ökonomisierung von Emotionen konstatiert werden (u.a. Hochschild 1983; Rastetter 2008, Penz/Sauer 2013). So zeichnet etwa Eva Illouz (1997, 2006, 2008) in ihren Analysen die Entwicklung eines »emotionalen Kapitalismus« im 20. Jahrhundert nach, in dem Emotionen zu zentralen Bestandteilen des wirtschaftlichen Lebens werden und umgekehrt das emotionale Leben zunehmend die Form ökonomischer Austauschprozesse annimmt. Emotionen werden in diesem Prozess zu Entitäten, die »bewertet, inspiziert, diskutiert, verhandelt, quantifiziert und kommodifiziert werden« können (Illouz 2006: 161). Für Illouz geht mit dieser Entwicklung auch die Herausbildung eines neuen Subjekttypus – des homo sentimentalis (Illouz 2006) – einher, dessen wesentlichstes habituelles Merkmal die emotionale Reflexivität darstellt. Gertrude Krell und Richard Weiskopf (2006) wiederum interessieren sich in ihren Analysen rund um »Die Anordnung der Leidenschaften« für Diskurse im gesellschaftlichen Umgang mit (geschlechtlich konnotierten) Gefühlen. Am Beispiel des gegenwärtig immer noch sehr einflussreichen Konzepts von Daniel Goleman (1997) zur Emotionalen Intelligenz zeigen sie, wie über eine Strategie des »Reinigens und Richtens« (Krell/Weiskopf 2006: 117-139), etwa der ›Impulskontrolle‹ oder des ›positiven Denkens‹, die ›Ströme der Leidenschaften‹ neu reguliert werden, wobei das Mehr an Selbststeuerung, so Neckel (2005: 427), mit einem Mehr an Kontrolle einhergeht. Gleich einem »Filter« soll die unberechenbare Flut von Gefühlsausbrüchen (Krell/Weiskopf 2006: 120ff.) und ihre bedauerlichen Folgen verhindert und in einen gereinigten und wohltemperierten Fluss umgewandelt werden.
2 | Ein umfassender und aktueller Überblick zum Wandel menschlicher Emotionalität findet sich in Stalfort (2013). Zu aktuellen Neukonnotationen und Verschiebungen vgl. u.a. »E-Motions. Transformationsprozesse in der Gegenwartskultur«, herausgegeben von Elisabeth Mixa und Patrick Vogl (2012).
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Der zweite Abschnitt ist dem Themenfeld Sexualität, Geschlecht und Unwohlgefühle gewidmet, denn die Modulierung neuer Emotionalitäten ist mit Verschiebungen in der Geschlechterordnung verbunden, wie feministische TheoretikerInnen (u.a. Duden 1987; Braun 1990; Honegger 1996) herausgearbeitet haben. Insbesondere der Emotionendiskurs ist untrennbar mit ›Weiblichkeit‹ und Neukonnotationen von Frauenbildern verknüpft. ›Weiblichkeit‹ und ›Nervosität‹ sind zugleich bis hin zu manifest pathologisierten Erscheinungen in genealogischen Diskursen eng ineinander verwoben (u.a. Schaps 1992). Christina von Braun entwickelt ihren Beitrag zur »Monetarisierung der Gefühle. Das Geld als Triebwerk von Emotion und Sexualitat« aus einer kulturtheoretischen Perspektive. Sie veranschaulicht die These, dass das Geld durch seine Abstraktheit von Anbeginn nach dem Körper und den Emotionen des Menschen verlangt hat. Dazu zeichnet sie drei Formen der Gelddeckung nach: Geld wurde historisch durch den Souverän beglaubigt oder durch Realien wie etwa Getreide oder Vieh gedeckt. Sein Abstraktions- und Siegeszug begann allerdings erst, so von Braun, als es im symbolischen Menschenopfer seine Beglaubigung gefunden hatte. In diesem Zusammenhang arbeitet sie die geschlechtliche Codierung des Menschenopfers heraus und zeigt, dass das eigentliche ›Opfer‹ nicht in Form von Tötungsakten, sondern auf symbolische Weise erbracht wurde – durch die Domestizierung der Sexualität. Birgit Sauer verortet in ihrem Text »Affektive Gouvernementalität. Eine geschlechtertheoretische Perspektive« die gestiegene mediale, politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Emotionen im Kontext aktueller Transformationen von Staat, Demokratie und Gesellschaft, die u.a. mit dem Schlagwort »Postdemokratie« (Colin Crouch) auf den Punkt gebracht wurden. Sie zeigt, dass der neue ›Gefühlsdiskurs‹ – im Foucault’schen Sinne verstanden als Rede über Gefühle, als Praxis von Gefühlen sowie als institutionelle Gefühlsarrangements – Ausdruck und zugleich Movens neuer Formen von Selbstverhältnissen und Identitätsentwürfen, neuer politischer Subjektivierungsweisen sowie veränderter Vorstellungen von citizenship darstellt. Affekte institutionalisieren, so Sauers These, neue Machttechniken in den Menschen, nämlich die Unterwerfung unter neue Formen und Erfordernisse der Organisation des Lebens und Arbeitens unter neoliberalen Bedingungen. Geschlechterverhältnisse sind dabei als eine zentrale Dimension dieser Re-Organisation von Politik und citizenship zu betrachten. Vergeschlechtlichte Körper sind Marker, die dieses Herrschaftsverhältnis im Gefühlsmodus dar- und herstellen. Ilka Quindeau widmet sich in ihrem Beitrag »Depression und Geschlecht. Ein psychodynamischer Erklärungsversuch« dem Zusammenhang von Depression bzw. Melancholie und Geschlecht. Sie konzipiert Depression und Melancholie zunächst als unterschiedlich charakterisierte, psychische Bearbeitungsmodi von (unbewussten) Verlusten. Anknüpfend an Freuds Konzept der
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konstitutionellen Bisexualität und der These Judith Butlers, dass Geschlechtszugehörigkeit auch als eine Form von Melancholie begriffen werden kann, beschreibt Quindeau, wie eine in heteronormative Begehrensstrukturen eingebettete, eindeutige Geschlechtsidentifikation im Zuge des Objektwechsels für Mädchen zu einem ›doppelten Verlust‹ führt. Da sich ihre Liebe zunächst auf ein gleichgeschlechtliches Objekt – die Mutter – richtet, handelt es sich um einen Verlust, der innerhalb der Heteronorm nicht betrauert werden kann. Nadine Teuber geht in ihrem Text »Geschlecht und Gefühl. Emotionsnormen in der Konstruktion depressiver ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ dem Zusammenhang von Geschlecht, Emotionsnormen und Depression sowie der geschlechtlichen Codierung von Depression nach. Das empirisch höhere Risiko für Frauen, an einer Depression zu erkranken, kontextualisiert sie u.a. mit den Normen vergeschlechtlicher Arbeitsteilung. So ist der Hauptrisikofaktor für weibliche Depressionen – nämliche kleine Kinder im Haushalt versorgen zu müssen – v.a. als care gap zu interpretieren, denn es zeigt sich etwa, dass das Depressionsrisiko für Frauen in Beziehungen sinkt, wenn sich beide Partner um die Kinderbetreuung kümmern. Darüber hinaus bezeichnet Teuber den Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht als ›Politik des Verlustes‹. Sie rückt die heteronormativ-geschlechtliche Identitätsbildung bei Kindern in den Fokus und argumentiert, dass die nicht betrauerbare Aufgabe des primären, gleichgeschlechtlichen Liebesobjektes durch Mädchen, spätere depressive Entwicklungen bei Frauen begünstigen kann. Auch die kulturelle Symbolisierbarkeit dieser Verluste dekodiert sie anhand vergeschlechtlichter Emotionsnormen, die eine unterschiedliche (Nicht-)Repräsentierbarkeit bedingen. Der dritte und letzte Abschnitt – Selbstmangement und Burnout – ist einerseits dem aktuellen WIE der Bedeutungsproduktionen auf individueller Ebene sowie dem damit u.a. verbundenen und vieldiskutierten Erschöpfungssyndrom Burnout gewidmet. August Ruhs eröffnet die Perspektive auf ›neue Leiden‹ in dieser Rubrik, indem er schon im Titel an Sigmund Freuds einflussreiche kulturtheoretische Schrift zum »Unbehagen in der Kultur« (1930) anknüpft. Er skizziert einen, zum Teil durch seine psychoanalytische Praxis informierten, Erklärungsansatz zum »Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur«. In Anlehnung an Jacques Lacan und Paul Verhaeghe, arbeitet Ruhs heraus, dass die moderne ›perverse‹ Gesellschaft, im Gegensatz zur ›neurotischen‹, nicht auf Verdrängung, sondern auf Verleugnung der Kastration und des existenziellen Mangels beruht. Das Subjekt wird unaufhörlich dazu gedrängt, immer schneller neue Objekte an die Stelle des unaufhebbaren Mangels zu setzen. Der daraus resultierende imaginäre Mangel dieses »kapitalistischen Diskurses« mündet schließlich in eine allgemeine Frustration. Diese aktuelle allgemeine Subjektverfassung mit ihrer »telematischen Mentalität« findet sich in der analytischen Praxis in
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einem »neuen Klientel« mit »neuen Leiden der Seele« und stellt sie vor neue Herausforderungen. Markus Tumeltshammer vergleicht in seinem Beitrag »Von der Kompetenz zum Self Tracking« gängige, auf das Ausbilden und Erhalten von Kompetenzen gerichtete Imperative mit aktuellen Phänomenen, die sich unter dem Begriff des Self Tracking zusammenfassen lassen. Unter Rückgriff auf das von Andreas Gelhard postulierte Eignungsdispositiv verfolgt er die These, dass beide Bereiche innerhalb eines Netzes von Diskursen und Praktiken um Eignung, Optimierung und Kontrolle situiert sind und als individuell zugeschnittene Heilsversprechen einen Horizont von Erfolg und Wohlgefühlen sowie die Vermeidung von Unwohlgefühlen in Aussicht stellen. Er erörtert dies anhand von Fallbeispielen aus dem Diskurs um den Begriff der Kompetenzen, der Quantified-Self-Szene und anhand von Software zum Tracking von Emotionen. Linda Heinemann und Torsten Heinemann fokussieren in ihrem Beitrag »Burnout. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer umstrittenen Diagnose« auf eine Typologie der lebenswissenschaftlichen, insbesondere psychologischen Burnout-Forschung seit der ersten Beschreibung des Phänomens im Jahr 1974 durch Herbert Freudenberger. Ihre Analyse zeigt, dass der Großteil der Forschungsaktivitäten in der Untersuchung der Ursachen von Burnout liegt, zugleich aber die Diagnosekriterien der Symptomatik selbst unklar bleiben. Dies führt zur paradoxen Situation, dass Ursachen, Prävalenzen und Messinstrumente in Bezug auf ein Phänomen erforscht werden, dessen eigentliche Gestalt nicht geklärt ist. Linda und Torsten Heinemann vertreten daher die These, dass es gerade die Unbestimmtheit und Strittigkeit der Diagnose Burnout ist, die die Popularität des Phänomens ausmacht. Sie arbeiten außerdem heraus, dass sich das Verständnis von Burnout in den vergangenen vier Jahrzehnten grundlegend von einer Diagnose für arbeitsbezogenen Stress zu einer »Diagnose mit Selbstoptimierungsauftrag« gewandelt hat: So kam es (1.) zu einer Erweiterung der Diagnose im Sinne eines immer umfangreicher werdenden Symptomkatalogs und einer Ausweitung der Betroffenengruppe, (2.) zu einer emotionalen und normativen Besetzung des Begriffes und (3.) zu einer Individualisierung von Verantwortung für Entstehung, Therapie und Prävention von Burnout. Rainer Gross entwickelt seine »Anmerkungen zur Burnout-Diskussion aus Sicht eines Psychiaters und Psychotherapeuten« aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive entlang der sozialpolitisch brisanten Frage, ob depressive Erschöpfungssymptomatiken als endogen oder exogen verursacht angesehen werden, und schließt damit die Diskussion rund um Unwohlgefühle in diesem Buch ab. Er zeichnet die ätiologischen ›Pendelbewegungen‹ zwischen diesen beiden Polen ausgehend von der Neurasthenie im 19. Jahrhundert bis zur Burnout-Debatte der Gegenwart nach. Gross arbeitet praxisnah drei Ansätze des aktuellen Umgangs von TherapeutInnen mit Symptomen, die mit Burnout
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assoziiert werden, heraus: Den ersten beiden Ansätzen von ›Psychotherapie als Optimierungs-Agentur‹ bzw. ›Reparaturwerkstätte‹, denen gemeinsam sei, dass sie sich auf das Verhalten der Betroffenen konzentrieren und die Arbeitsverhältnisse als im Wesentlichen unveränderbar akzeptieren, stellt Gross einen dritten Ansatz gegenüber, der das Ziel verfolge, die Fähigkeiten der PatientenInnen zur Selbstreflexion, insbesondere zur Differenzierung zwischen äußeren und inneren ›ätiologischen Anteilen‹ bzw. Symptombegründungen zu fördern. Abgelehnte Selbstanteile könnten auf diese Weise intrapsychisch anerkannt werden, was wiederum die interpersonale Toleranz gegenüber anderen Menschen fördern würde. Eines der Spezifika der im vorliegenden Buch versammelten Beiträge liegt in der transdisziplinären Zusammenschau und Perspektivierung der Fragestellung. Der Sammelband führt unterschiedliche theoretische und disziplinäre Ansätze zusammen, die wohl mit ähnlichen Forschungsgegenständen betraut sind, deren Debatten allerdings bislang kaum in Auseinandersetzung stehen. Konkret versammelt das Buch Texte von SoziologInnen, PsychologInnen, Politik- und KulturwissenschafterInnen sowie PsychoanalytikerInnen und PsychiaterInnen. Dieser transdisziplinäre Austausch erscheint gerade für ein Vorhaben bedeutsam, das sich einer umfassenden Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten verschrieben hat. Gefühlslagen und emotionale Subjektivierungsweisen werden in diesem Sinne einerseits als Zustandsbeschreibungen von Individuen mit oder ohne sogenannte Symptome untersucht, zugleich aber auch als Parameter der Formation westlicher Gegenwartsgesellschaften thematisiert. Die verschiedenen Fokussierungen der AutorInnen, die mehrheitlich international anerkannte ExpertInnen zur Thematik gegenwärtiger Wohl- wie Unwohlgefühle sind, ermöglichen es in ihrer Vielfalt, gesellschaftliche Bedingungen für bestimmte Phänomene besser oder überhaupt erst systematisch in den Blick geraten zu lassen. Das Buch Un-Wohl-Gefühle basiert auf einer sehr engagiert geführten Diskussion im Rahmen eines internationalen und transdisziplinären Symposiums in Wien (2013)3 und will weitere Impulse zu diesen – gesellschaftlich wie individuell – brisanten Fragen geben, welche in der scientific community in 3 | Die hier versammelten Beiträge gehen auf Vorträge der Autorinnen und Autoren und intensive Diskussionen eines gleichnamigen internationalen und transdisziplinären Symposiums in Wien (Juni 2013) zurück. Das Symposium wurde in einer Zusammenarbeit von universitärer und außeruniversitärer Wissenschaft vom Institut für Soziologie der Universität Wien veranstaltet und in Kooperation mit der WPA – Wiener Psychoanalytischen Akademie, dem IWK – Institut für Wissenschaft und Kunst, Imagine. Verein für Kulturanalyse und der ÖGS – Österreichischen Gesellschaft für Soziologie/Gesundheitssoziologie durchgeführt.
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dieser Form noch relatives Neuland markieren. Nicht nur die Themenstellung, sondern vor allem der Modus der Zusammenschau disziplinär sehr unterschiedlicher Perspektivierungen ermöglichen, bislang kaum Zusammengedachtes und -gebrachtes neu lesen zu lassen und so Impulse für innovative Weiterentwicklungen zu geben. Alle interessierten und geneigten Leserinnen und Leser mögen durch die vorliegenden Analysen zu Transformationen in der Gegenwartskultur inspiriert und ermutigt sein, bestimmte Themen neu oder auch quer zu denken. Wir danken abschließend allen am Zustandekommen Beteiligten4 für ihren Beitrag, wobei die namentliche Nennung in einer Fußnote nicht als Geringschätzung gedacht ist, sondern vielmehr das Ergebnis einer breiten Zusammenarbeit spiegelt, die eine doch beachtlich lange Auflistung ergibt. Ad personam möchten wir insbesondere Elisabeth Skale, Thomas Hübel, Gerhard Unterthurner, Karl Krajic, Roland Verwiebe, Hans Eppelsheimer, Edith Futscher und Erwin Schuh für ihre jeweils unverzichtbaren Beiträge zur Verwirklichung des Gesamtprojektes danken. Und schließlich bedanken wir uns bei Nikola Langreiter für ihre Professionalität, fachliche Kompetenz, auch bezüglich der Übersetzung von Beiträgen und für die Geduld und Flexibilität beim Lektorat dieses Buches. Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco Wien, August 2015
L iter atur Braun, von Christina (1990): NichtIch. Logik-Lügen-Libido, Frankfurt a.M.: Neue Kritik. Clough, Patricia Ticineto/Halley, Jean (Hg.) (2007): The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham/London: Duke University Press. Duden, Barbara (1987): Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart: Klett-Cotta. Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus. 4 | Imagine – Verein für Kulturanalyse, WPA – Wiener Psychoanalytische Akademie, IWK – Institut für Wissenschaft und Kunst, ÖGS – Österreichische Gesellschaft für Soziologie, Medizin- und Gesundheitssoziologie, MA7 – Wissenschaftsabteilung der Stadt Wien, MA 57 – Frauenabteilung der Stadt Wien, maecenia – Frankfurter Stiftung für Frauen in Wissenschaft und Kunst, Thomas Klein – Almdudler, IBG – Innovatives Betriebliches Gesundheitsmanagement, Institut für Soziologie der Universität Wien, Fakultät für Sozialwissenschaften und Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit an der Universität Wien.
Einleitung
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Emotionen und gesellschaftliche Transformationen
Anomie und Gefühl Zur Diskrepanz zwischen kultureller Modellierung und sozialer Strukturierung von Emotionen in der Gegenwart Christian von Scheve und Maximilian Dehne
E inleitung Die Soziologie befasst sich seit ihrem Beginn mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Wie bestimmen gesellschaftliche Verhältnisse und Veränderungen das Leben der Menschen und wie bringen Menschen selbst diese Verhältnisse und deren Wandel hervor? Zum einen werden diese Fragen aus einem sozialtheoretisch-analytischen Interesse untersucht. Dabei geht es, vereinfacht gesagt, um die Beobachtung, dass Gesellschaft dem Einzelnen zwar als objektive Wirklichkeit gegenübertritt, sie zugleich aber durch das ›handelnde Zusammenwirken‹ Einzelner überhaupt erst hervorgebracht wird. Zum anderen geht die Soziologie diesen Fragen mit dem Interesse nach, wie gesellschaftliche Verhältnisse die konkreten Lebensbedingungen von Menschen beeinflussen. Mit den ›gesellschaftlichen Verhältnissen‹ sind dabei all jene Umstände gemeint, die für das Dasein und alltägliche Miteinander weiter Teile einer Bevölkerung bestimmend sind. Dazu gehören z.B. die Verbreitung und Nutzung von Technologien (soziale Netzwerke, Fernsehen), die Institutionen der Bildung und Ausbildung, politische Programme, das Verhältnis der Geschlechter oder die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Mit den ›Lebensbedingungen‹ sind dabei nicht nur die objektiven Chancen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe – bzw. die Abwesenheit derselben – gemeint, sondern zunehmend auch die subjektiven Erfahrungswirklichkeiten und Befindlichkeiten der Menschen. So gehören Untersuchungen des Wohlbefindens, des Stresserlebens und allgemein der physischen und psychischen Gesundheit in Abhängigkeit der sozialen Lage zum Kanon soziologischer Forschung. Ein zentraler Aspekt dieser ›sozial strukturierten‹ Erfahrungswirklichkeit ist das Empfinden von Gefühlen und Emotionen. Und auch diese Einsicht ist
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nicht neu. Sie gehört, etwa mit Simmel (1901/1983) und Durkheim (1897/1987), zum Gründungsinventar der soziologischen Wissenschaft. Jedoch hat die Soziologie die Gefühle der von ihr untersuchten Akteure im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend aus den Augen verloren und sie erst etwa ab den 1970er Jahren wieder entdeckt. Heute gehören Studien zu den Zusammenhängen von sozialer Lage und Gefühlserleben wieder zum festen Inventar der Soziologie. In der breiten Öffentlichkeit sind solche Untersuchungen vermutlich aus der Forschung zum ›Glücksempfinden‹ oder zur ›Lebenszufriedenheit‹ bekannt; Gefühle, die regelmäßig auf ihre Abhängigkeit von Einkommen und Vermögen geprüft werden. Neben dieser sozialstrukturellen Sicht eröffnet die Emotionssoziologie aber noch eine zweite zentrale Perspektive, nämlich die der kulturellen Prägung und Bedeutung von Emotionen. Wie wir Gefühle wahrnehmen, deuten und zum Ausdruck bringen, ist kulturell und historisch überaus variabel. Soziale Praktiken, Werte und Überzeugungen bestimmen zudem, welcher Status bestimmten Gefühlen in der Gesellschaft zukommt. Scham etwa ist eine in der indonesischen Kultur alltägliche Emotion. Sie zum Ausdruck zu bringen, wird in vielen sozialen Situationen erwartet und eingefordert (RöttgerRössler 2004). Westliche Gesellschaften zeichnen sich hingegen durch die fast vollständige Abwesenheit von Scham in der Öffentlichkeit aus (Scheff 1988). Ebenso können bestimmte Gefühle ›Konjunktur‹ haben, andere hingegen in den Hintergrund gedrängt werden. So galt die Melancholie lange Zeit als Anzeichen von Nobilität und Seriosität (Böhme 1988). Wer heute zur Melancholie neigt, wird vermutlich zum Arzt geschickt. In diesem Beitrag möchten wir diese beiden emotionssoziologischen Perspektiven zur Analyse von Gefühlen in der Gegenwartsgesellschaft zusammenführen. Dazu bedienen wir uns eines klassischen soziologischen Rüstzeugs, dem Konzept der »Anomie«, wie es von Emile Durkheim (1897) und später Robert K. Merton (1938) entwickelt wurde. Obgleich Anomie in der Literatur unterschiedlich definiert wird, kann es allgemein als ein Leiden an sozialer Regel- und Orientierungslosigkeit verstanden werden. Dieses Leiden kommt zustande durch ein Auseinanderdriften von sozialen Normen und Konventionen und den Mitteln, derer es bedarf, um diesen Regeln gerecht zu werden. Darauf auf bauend widmen wir uns kurz in einem Theorieüberblick den beiden skizzierten emotionssoziologischen Paradigmen. Sodann stellen wir aktuelle Befunde aus der eigenen Forschung zur sozialen Strukturierung von Gefühlen in der deutschen Gegenwartsgesellschaft dar, die anschließend in Bezug gesetzt werden zu aktuellen Diagnosen der Emotionskultur moderner Gesellschaften. Wir schließen unseren Beitrag mit einem kurzen Fazit.
Anomie und Gefühl
Theorien der A nomie1 In diesem Abschnitt diskutieren wir zunächst die klassischen Anomietheorien Durkheims und Mertons und wenden uns dann exemplarischen Arbeiten der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer zu, die Anomie unter den spezifischen Bedingungen von Modernisierungsprozessen diskutieren. Dabei legen wir besonderes Augenmerk auf die Bedeutung von Emotionen (vor allem Angst und Unsicherheit) in diesen Theorien.
A nomie als R egellosigkeit : E mile D urkheim Durkheim verwendet den Begriff der »Anomie« zunächst 1893 in seinem Werk Über die Teilung der sozialen Arbeit. Zentral wird die Anomie dann in seiner Studie Der Selbstmord (1897/1987), in der Durkheim vier Typen unterscheidet: den egoistischen, den altruistischen, den fatalistischen sowie den anomischen Selbstmord. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, »dass er nicht von der Art und Weise bestimmt ist, in der der einzelne mit seiner Gesellschaft verbunden ist, sondern von der Art, in der diese ihre Mitglieder reguliert« (ebd.: 296). Er entsteht somit daraus, dass das Handeln der Menschen »regellos wird und sie darunter leiden« (ebd.). Unter Anomie können demnach diejenigen sozialen Rahmenbedingungen und Prozesse verstanden werden, die Durkheim als Ursache für die als anomisch bezeichnete Form des Suizids gelten. Zentral für das Verständnis der Ursachen des anomischen Selbstmords ist Durkheims Menschenbild. Der Mensch sei aufgrund seiner reflexiven Fähigkeiten und dem daraus resultierenden Vorstellungsvermögen in der Lage, eine schier unendliche Vielzahl individueller Bedürfnisse sowie immer höhere Ansprüche zu entwickeln (ebd.: 281). Ein solcher »Homo Nimmersatt« muss auf Dauer notwendigerweise leiden, denn »unbegrenzte Wünsche sind ex definitione nicht zu befriedigen; und nicht ohne Grund wird diese Unersättlichkeit als ein Krankheitssymptom angesehen« (ebd.). Das daraus resultierende Problem ist Durkheim zufolge, dass ein Mangel an klaren und erreichbaren Zielen die Menschen zu »ewiger Unzufriedenheit verdammt« (ebd.: 288f.). Weil der Mensch nun von sich aus nicht in der Lage sei, sich solche erreichbaren Ziele zu setzen, bedürfe er »externer Kräfte«, die seine Bedürfnisse einschränken. Diese Kräfte sieht Durkheim in der Gesellschaft und ihrer sozialen Ordnung, die die legitimen Ansprüche hierarchisch vorschreibt. Soziale Normen regulieren hier die als legitim angesehenen Bedürfnisse und Anspruchsniveaus verschiedener sozialer Gruppen und gewährleisten auf 1 | Dieser Abschnitt basiert maßgeblich auf einem Kapitel der in Bearbeitung befindlichen Dissertationsschrift des zweiten Autors.
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diese Weise in ›normalen Zeiten‹ eine soziale Ordnung, in der jeder weitgehend mit seinem Status zufrieden ist. Dieses Gefüge kann im Zuge sozialen Wandels allerdings auf brechen: »Wenn indes in der Gesellschaft Störungen auftreten, sei es infolge schmerzhafter Krisen oder auch infolge günstiger aber allzu plötzlicher Wandlungen, ist sie zeitweilig unfähig, dieser Funktion [Autorität zu zeigen] zu genügen« (ebd.: 287). Durkheims Kernargument ist also die Annahme stets zu unendlichem Wachstum tendierender Ansprüche, was ohne gesellschaftliche Beschränkung notwendigerweise zu Frustration – und schließlich Suizid – führe. Soziale Ordnungsgefüge, die entsprechende Ansprüche und Ziele legitimieren und regulieren, können durch rapiden sozialen Wandel aus den Fugen geraten, sodass die soziale Regulation hinterherhinkt. In Zeiten von Krisen und Rezessionen, die durch materielle und immaterielle Verluste gekennzeichnet sind, fehlt soziale Regulation vor allem als Orientierung (ebd.: 288). Ähnliches lässt sich jedoch auch für Zeiten schnellen Aufschwungs sagen: »Man weiß nicht mehr, was möglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessen erscheint, welche Ansprüche und Erwartungen erlaubt sind und welche über das Maß hinausgehen« (ebd.: 288). Diese Beispiele verweisen auf zwei auf die Anomie bezogene Argumente: Wandel kann einerseits dazu führen, dass Bedürfnisse ins Endlose wachsen und Frustration hervorrufen (Aufschwung). Andererseits bringt Wandel aber auch Ungewissheit und Verunsicherung hervor, die mit dem Fehlen von sozialen Normen verbunden sind sowie mit Ungewissheit im Hinblick auf die soziale Positionierung und die Angemessenheit von Bedürfnissen. Vor allem dieser zweite Aspekt erscheint für die Zusammenhänge von Emotionen und sozialer Lage bedeutsam, spiegelt er doch in gewisser Weise die Annahme von Kontingenzängsten wider. Diese Angst beruht darauf, dass im Zuge der Sozialisation erworbene Vorstellungen legitimer Ansprüche und Erwartungen durch sozialen Wandel durcheinander geraten und ihre Gültigkeit in Frage gestellt wird. Weitere Hinweise auf das Konzept der Kontingenzangst finden sich in Durkheims Ausführungen zur Sozialstruktur und der Bedürfnisregulation. Weitgehend unabhängig von sozialem Wandel sieht Durkheim seine Erklärung des anomischen Selbstmords dadurch bestätigt, dass ärmere Regionen und niedrigere sozioökonomische Lagen vergleichsweise geringe Suizidraten aufweisen. Mit dieser Argumentation findet ein Wechsel der erklärenden Mechanismen weg von einem Hysteresis-Effekt der Verzögerung zwischen strukturellen und kulturellen Veränderungen hin zu einer rein strukturellen Argumentation statt: »Wenn die Armut gegen den Selbstmord schützt, dann eben darum, weil sie hemmend wirkt. Was man auch tut, immer müssen die Wünsche in gewissem Sinne mit den gegebenen Mitteln rechnen. Was man hat, gilt zum Teil als Ausgangspunkt für das, was man haben möchte. Die Folge ist, daß, je weniger man hat, um so weniger man versucht ist, den Bogen sei-
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ner Wünsche zu überspannen« (ebd.: 290). In diesem Zusammenhang finden sich auch Andeutungen, die strukturell bedingte Möglichkeiten mit epistemischer Kontrolle und Kontingenzangst verbinden: »Der Horizont der unteren Schichten ist zumindest durch diejenigen begrenzt, die ihnen übergeordnet sind; und dadurch sind ihre Bedürfnisse eher abzusehen. Aber diejenigen, die über sich nur die Leere haben, verlieren sich fast mit Notwendigkeit darin, wenn keine Macht sie zurückhält« (ebd.: 295). Obgleich sich gezeigt hat, dass Angst (insbesondere Kontingenzangst) als analytisch tragfähige Komponente in Durkheims Theorie betrachtet werden kann, fokussiert er vor allem den Aspekt der Frustration als Folge von Unterregulation. In der soziologischen Rezeption der Theorie verhält es sich jedoch zumeist umgekehrt. Hier wird im Hinblick auf die subjektiven Konsequenzen von Anomie vor allem Orientierungslosigkeit hervorgehoben. Eine Ursache liegt sicher darin, dass die Frustrationskomponente der Anomie stark an das von Durkheim angenommene Menschenbild gekoppelt ist, das in der modernen Soziologie kaum mehr vertreten wird. Die Komponenten Orientierungslosigkeit und Kontingenzangst hingegen sind deutlich anschlussfähiger an moderne Verständnisse.
Anomie als Ziel- und Mitteldiskrepanz: Robert K. Merton Robert K. Merton gilt als Vertreter der zweiten klassischen Anomietheorie. Auch hier lässt sich der Frage nachgehen, inwiefern sich Anknüpfungspunkte für ein Verständnis der Zusammenhänge von Lebensbedingungen und subjektivem Erleben finden. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass Mertons Interesse kaum dem subjektiven Erleben gegolten hat, dessen nähere Bestimmung er der Psychologie überlassen hat. Andererseits verweist Merton immer wieder auf subjektive Befindlichkeiten und zählt unter anderem Angst explizit zu denjenigen Emotionen, die mit Anomie in Verbindung stehen (Merton 1938: 680). Durch die Analyse der von ihm beschriebenen Randbedingungen und Mechanismen von Anomie lassen sich zumindest drei Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit Emotionen (und insbesondere Angst) rekonstruieren. Zunächst lassen sich die grundlegenden Elemente in Mertons (1963) Ansatz bestimmen, deren Zusammenspiel zur Erklärung sozialer Prozesse und dem Entstehen von Anomie notwendig sind. Wesentlich ist hier die Unterscheidung von Kultur und Sozialstruktur. Die Sozialstruktur ist durch unterschiedliche Verfügbarkeit von Mitteln gekennzeichnet, während für die kulturelle Struktur zwei Aspekte besonders relevant sind: Zum einen beinhaltet sie Vorstellungen von bestimmten Zielen, zum anderen definiert sie Normen im Hinblick auf die legitimen Mittel, die für die Erreichung dieser Ziele zum
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Einsatz kommen. Dementsprechend verstehen wir Anomie hier vor allem im Rückgriff auf den etymologischen Kern des Begriffs primär (und wie bei Durkheim) als einen Zustand der Regellosigkeit. Dabei lassen sich unterschiedliche Zustände und Prozesse ausmachen, die für das Entstehen von Anomie zentral sind. Folgendes vereinfachtes Ablaufmuster kann dazu festgehalten werden: Sofern bestimmte Ziele kulturell stark betont werden, (a) kann dies oder der Umstand, dass die legitimen Mittel zu ihrer Erreichung sozialstrukturell bedingt nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind, dazu führen, dass (b) Normen zur legitimen Erreichung dieser Ziele nicht länger anerkannt werden, sodass (c) daraus ein Zustand der Regellosigkeit resultiert. Eine solche Trennung von Anomie als Zustand der Regellosigkeit und ihren Bedingungen ist notwendig, um die emotionsrelevanten Aspekte in Mertons Theorie eingehender rekonstruieren zu können. Als Ausgangstatbestand der Anomie kann mit Merton ein gesellschaftlicher Zustand verstanden werden, der bestimmte Ziele unterstreicht, während die legitimen Mittel, die zu ihrer Erreichung verwendet werden sollen, weniger betont werden. Die daraus resultierende Problematik eines gesellschaftlichen Ungleichgewichts lässt sich in folgender Frage zusammenfassen: »Which of the available procedures is most efficient in netting the culturally approved value? The technically most effective procedure, whether culturally legitimate or not, becomes typically preferred to institutionally prescribed conduct. As this process of attenuation continues, the society becomes unstable and there develops what Durkheim called ›anomie‹ (or normlessness)« (Merton 1963: 135). So sieht Merton beispielsweise die US-amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit durch eine starke Betonung des materiellen Erfolgs gekennzeichnet, ohne dass dieser eine gleichwertige Betonung der zu seiner Erreichung legitimen Mittel gegenüberstünde. An anderer Stelle präzisiert er sein Verständnis von Anomie weiter: »Insofar as one of the most general functions of social organization is to provide a basis for calculability and regularity of behavior, it is increasingly limited in effectiveness as these elements of the structure become dissociated. At the extreme, predictability virtually disappears and what may be properly termed cultural chaos or anomie intervenes« (Merton 1938: 682). Zum einen beschreibt Merton Anomie hier als einen Zustand der Regellosigkeit, der daraus resultiert, dass Mitglieder einer Gesellschaft Mittel- bzw. Verhaltensnormen aufgrund einer zu starken Betonung von Zielen nicht länger anerkennen. Zum anderen findet sich hier insofern ein Anknüpfungspunkt für Gefühle (im Besonderen Kontingenzangst), als dass das Verhalten Anderer aufgrund dieser fehlenden Anerkennung von Normen schwer vorhersehbar wird. Weitere Hinweise auf Emotionen und insbesondere Kontingenzangst finden sich in dezidiert sozialstrukturellen Komponenten Mertons Theorie. »Anomie is […] conceived as a breakdown in the cultural structure, occurring
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particularly when there is an acute disjunction between the cultural norms and goals and the socially structured capacities of members of the group to act in accord with them« (Merton 1963: 162). Die Möglichkeiten, kulturelle Ziele mithilfe allgemein akzeptierter Mittel zu erreichen, sind demnach sozial ungleich verteilt, d.h. die Chancen schwinden, je weniger solcher Mittel zur Verfügung stehen. Damit ergibt sich ein zunächst naheliegender Bezugspunkt konkreter Emotionen: Akteure, die nicht über die nötigen legitimen Mittel verfügen, müssen befürchten, kulturell vorgegebene Ziele nicht zu erreichen. Daraus lässt sich zum einen die Annahme ableiten, dass Angst infolge variierender Mittelverfügbarkeit sozialstrukturell ungleich verteilt sein kann. Zum anderen unterliegt die Entstehung von Angst aber auch dem Einfluss kultureller Deutungsmuster, die Art und Wichtigkeit von Zielen bestimmen. Je stärker etwa die kulturelle Betonung von Zielen ausgeprägt ist, desto größer sollte demnach auch die empfundene Angst sein, bei Merton vor allem Status-Angst (ebd.: 150). Insgesamt kann Mertons Position hier wie folgt interpretiert werden: Je niedriger die sozialstrukturelle Position ist und je stärker materielle Ziele kulturell betont werden, desto größer ist die konkrete Angst, diese Ziele nicht erreichen zu können. Aus dieser Perspektive ergibt sich ein dritter Anknüpfungspunkt zum Verständnis des Zusammenhangs von Lebensbedingungen und Emotionen, denn Akteure in oben beschriebenen Situationen stecken in einem Dilemma: Was auch immer sie unternehmen, sie können nicht gleichzeitig ihre Ziele und die legitimen Mittel als Orientierungspunkte aufrechterhalten. Solche Situationen produzieren Ungewissheit, indem sie Neubewertungen von Zielen und Mitteln implizieren. Die Situation einer Diskrepanz zwischen Zielen und der Verfügbarkeit von legitimen Mitteln kann insofern auch als eine Ursache von Kontingenzangst in Bezug auf die Gültigkeit von Zielen und Mitteln beschrieben werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich in Mertons Theorie Anhaltspunkte für die sozialen Ursachen und Konsequenzen von Angst finden lassen, wobei drei Varianten von Angst ausgemacht werden können: Sie taucht auf als konkrete Angst um die Erreichung von materiellen Zielen, als Kontingenzangst in Bezug auf die Gültigkeit der Elemente der kulturellen Struktur sowie als Ungewissheit über das Verhalten Anderer. Im Hinblick auf die Ursachen und Konsequenzen dieser Ängste können spezifische Konstellationen der kulturellen Betonung und des sozialstrukturellen Vorliegens von Mitteln und Zielen gelten, wobei sich ein spezifisches Zusammenspiel ergibt: Diskrepanzen zwischen kulturell vermittelten Zielen und der sozial ungleich verteilten Verfügbarkeit von Mitteln, um sie zu erreichen, führen zu konkreter Angst. Gleichzeitig entsteht Kontingenzangst im Hinblick auf die Frage, ob die Ziele oder die Mittelnormen aufrechterhalten werden sollen. Dieser Konflikt wird je nach relativem kulturellem Betonungsverhältnis (auch in den
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verschiedenen Strata) zu einer der beiden Seiten hin aufgelöst. Die massive gesellschaftliche Verbreitung einer spezifischen Form der Bewältigung dieses Konflikts, der Entwertung von Mitteln, führt zu Anomie und Kontingenzangst im Sinne eines Verlusts der Vorhersagbarkeit des Verhaltens Anderer.
Anomie und Modernisierungsprozesse: Wilhelm Heitmeyer In der modernen Sozialforschung vertritt vor allem Heitmeyer (1997) einen Ansatz, der beansprucht, die theoretischen Konzepte Durkheims und Mertons weiterzuentwickeln und für die Analyse anomischer Tendenzen in Gegenwartsgesellschaften fruchtbar zu machen. Dieser Ansatz kann insofern auch als vielversprechend für Untersuchungen der Zusammenhänge von (objektiven) Lebensbedingungen und Emotionen bewertet werden. Das Konzept der Anomie wird darin geeigneter Ausgangspunkt zur Analyse von Gesellschaften betrachtet, die vor allem durch »schnelle, ungerichtete, ungleichzeitige und widersprüchliche Entwicklungen« gekennzeichnet sind und starke anomische Tendenzen aufweisen, die Probleme der Sozial- und Systemintegration mit sich bringen (vgl. Bohle et al. 2004: 59). Verunsicherung stellt dabei einen zentralen Bezugspunkt der Beobachtungen dar: »Bisher dominierende kulturelle, religiöse und familiale Orientierungsmaßstäbe sind ins Schwanken geraten, das Misstrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie steigt, Zukunftsängste machen sich in immer stärkerem Maße breit, zumal die soziale Ungleichheit rapide wächst. Der rasante gesellschaftliche Wandel in den letzten Jahren […] hat zu einer grundlegenden Verunsicherung und Ratlosigkeit geführt, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen und deren individuell wie kollektiv zerstörerische Folgen bislang kaum angemessen wahrgenommen und diskutiert wurden« (Heitmeyer 1997: 10). In der Diskussion beziehen wir uns im Folgenden vor allem auf einen Aufsatz von Bohle, Heitmeyer, Kühnel und Sander (2004). Das darin vertretene Anomiekonzept verstehen die Autoren, wenngleich dabei Durkheims Überlegungen eine zentrale Rolle spielen, vor allem als Weiterentwicklung von Mertons Ansatz, wobei sie zwei Modifikationen vorschlagen, um das Konzept für gegenwärtige Gesellschaften furchtbar zu machen. Erstens halten sie eine Erweiterung des Spektrums möglicher Ziele für notwendig. Demnach sollten Ziele »allgemein Erwartungen und Bestrebungen in Bezug auf das persönliche Leben, in bezug auf soziale, politische, ökonomische Verhältnisse sowie auf die Verfassung der natürlichen Umwelt« (ebd.: 56) umfassen und auch sämtliche Reaktionen auf Ziel-Mittel-Diskrepanzen – etwa Fremdenfeindlichkeit oder psychosomatische Krankheiten – in Rechnung gestellt werden. Zweitens schlagen sie eine Differenzierung gesellschaftlicher Sphären vor, wobei Anomie nicht notwendigerweise als gesamtgesellschaftliches Problem, son-
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dern als auf bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme oder Bevölkerungsgruppen bezogenes Phänomen relevant ist. Anomie bedeutet in dieser Perspektive »die Diskrepanz zwischen den spezifischen Zielsetzungen von Personen/Bevölkerungsgruppen und den spezifischen Begrenzungen des Funktionssystems, auf das sich die Ziele richten« (ebd.: 56). Den Autoren zufolge lassen sich Modernisierungsprozesse (auch) als Kohäsions-, Struktur- und Regulationskrisen mit je unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungs- und Handlungsfolgen verstehen, die als Anomiekomponenten gelten können. Die Kohäsionskrise zeichnet sich durch eine Schwächung sozialer Bindungen und die fehlende Einbettung in feste Strukturen aus. Dadurch werde sowohl die Verbindlichkeit von Normen unterminiert als auch das Aushandeln neuer Regeln verhindert, sodass die Absehbarkeit sozialer Standards abnehme und die Wahrscheinlichkeit von Regelverstößen steige. Kohäsionskrisen führen den Autoren zufolge zu Isolation und Suizid, »zumindest aber zu Identitätsstörungen und Entfremdung« (ebd.: 51). Strukturkrisen verweisen auf ein Auseinanderfallen von kulturellen Zielen und sozialstrukturell gegebenen Mitteln. Zusätzlich beziehen die Autoren Koordinations- und Abstimmungskonflikte mit ein, die zum Beispiel aus der gleichzeitigen Einbindung in verschiedene Bereiche einer funktional differenzierten Gesellschaft resultieren (ebd.). Regulationskrisen beziehen die Autoren auf die geringe Fähigkeit oder Bereitschaft von Gesellschaften, das Streben und Verhalten ihrer Mitglieder ›zu steuern‹. Hier verweisen sie sowohl auf Durkheims Vorstellung, nach der der Einzelne klar definierter und freiwillig anerkannter Ziele bedarf, als auch auf Mertons Argument einer zu starken Betonung bestimmter Ziele. Bohle und seine Mitautoren (2004) nehmen zum einen an, dass die kulturelle Überbetonung einzelner Ziele bzw. Werte »die gesellschaftliche Regulierung der menschlichen Antriebskräfte unterminiert« (ebd.: 47), weil der Motivationsdruck zur Erreichung dieser Ziele die Bereitschaft zum Regelbruch erhöht. Ebenso problematisch sei es, wenn eine Gesellschaft ihre Regeln nicht durchsetzt. Die Autoren postulieren hier, dass der gegenwärtige »kulturelle Pluralismus mit seinen freiheitsverheißenden Möglichkeiten wiederum ein strukturelles Hindernis bei der Durchsetzung allgemeiner Regeln« sei (ebd.: 48). Wie bei Durkheim und Merton findet sich Orientierungslosigkeit auch in diesem Konzept als zentrale Folge von Regulationskrisen und anomischen Bedingungen. Anhand der konkreten Bezugnahme auf Modernisierungsprozesse und die dadurch gekennzeichnete Gegenwartsgesellschaften ist vielfach die These geäußert worden, dass die genannten krisenhaften Entwicklungen zu einer mehr oder wenigen steten Zunahme von Anomie und den entsprechend angenommenen subjektiven Befindlichkeiten geführt haben, die Lange (2007) in einem Überblicksartikel zu den Arbeiten der Forschergruppe um Heitmeyer als »anomischen Schatten der Moderne« bezeichnet. Bildet Angst bei Heit-
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meyer nur einen Teilaspekt einer Beschreibung der Gegenwart, die moderne Gesellschaften massiven anomischen bzw. Desintegrationstendenzen ausgesetzt sieht, so betrachten andere Gegenwartsdiagnosen gerade eine Angstzunahme und ein hohes Angstniveau als ein zentrales Merkmal postmoderner Gesellschaften (etwa Bauman 2000).
S oziologie der E motionen : Z wei Tr aditionen Die Soziologie der Emotionen hat weitreichende Zusammenhänge zwischen sozialer Struktur, Kultur und Emotionen postuliert. Dabei lassen sich grob zwei Forschungstraditionen unterscheiden. Kulturelle Ansätze sehen die Verbindung von Gesellschaft und Gefühlen in erster Linie im Bereich kultureller Deutungsmuster, die das Erleben von und den Umgang mit Emotionen maßgeblich prägen. Sozialstrukturelle Ansätze betonen, dass das Entstehen von Emotionen wesentlich von der Position der Akteure im makrosozialen Raum beeinflusst wird. Obgleich in beiden Traditionen unterschiedliche Verständnisse und Definitionen von Emotionen dominieren, stehen sie insgesamt eher in einem sich wechselseitig ergänzenden Verhältnis zueinander.
Sozialstruktur Strukturelle Ansätze gehen von der Annahme aus, dass die sozial differenzierte Verteilung ökonomischer, kultureller sowie sozialer Ressourcen und die symbolischen Fremd- und Selbstzuschreibungen, die mit unterschiedlichen Statuspositionen einhergehen, für die soziale Strukturierung von Emotionen ursächlich sind (Barbalet 1998). Insofern postulieren solche soziologischen Emotionstheorien ursächliche Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage und dem Erleben – zum Beispiel der Häufigkeit und Intensität – bestimmter Emotionen (Turner 2010). Sozialstrukturelle Emotionstheorien interessieren sich daher weniger für Fragen der Bedeutung von Emotionen und des individuellen und gesellschaftlichen Umgangs mit Emotionen, sondern vorwiegend für ihre sozialen Entstehungsbedingungen. Dabei spielt vor allem die soziale Ungleichheit eine tragende Rolle. Mit Blick auf »Status« und »Macht« als Dimensionen sozialer Ungleichheit wurden diese Zusammenhänge vor allem von Kemper (2006) untersucht. Zwar bezieht sich Kemper vor allem auf Interaktionssituationen, unterstellt jedoch zugleich systematische Auswirkungen der gesellschaftlichen Verteilung der Ressourcen Status und Macht auf das Emotionserleben (ebd.: 109). Kempers theoretischer Ansatz lässt sich dahingehend interpretieren, dass hohe Statusund Macht-Konzentrationen tendenziell mit positiven Emotionen, geringe
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Mengen bzw. Verluste mit negativen Gefühlen wie Ärger, Angst und Furcht einhergehen (Kemper 2006). Weitere Hinweise auf die Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Gefühlen finden sich bei Houser und Lovaglia (2002), die mit Verweis auf unterschiedliche Statuspositionen sozialstrukturelle Effekte auf Emotionen unterstellen, insbesondere in der Interaktion in Gruppen. In dieser Status-Kompatibilitätstheorie der Emotionen (Houser/Lovaglia 2002) wird angenommen, dass vor allem die mit hohen Statuspositionen einhergehenden Ressourcen und Opportunitäten zu positiven, die soziale Kohäsion fördernden Emotionen führen, wohingegen die Restriktionen niedriger Statuspositionen ausschlaggebend für negative, desintegrative Emotionen wie Angst und Ärger sind. Auch Barbalet (1998) postuliert ursächliche Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage und negativen Emotionen, insbesondere dem Ressentiment. Er geht davon aus, dass die kontinuierliche Bewertung der objektiven und symbolischen Lebensumstände als unangemessen, ungerecht(fertigt) oder unterprivilegiert tendenziell zu negativen Emotionen führt, wobei die Handlungsrestriktionen, die aus mangelnden Ressourcen resultieren, die negativen Emotionen spezifizieren. Ähnliche Zusammenhänge werden von Gerechtigkeitstheorien postuliert, die in unteren Gesellschaftsschichten ein hohes Maß an negativen Emotionen wie Wut und Ärger in Reaktion auf als ungerecht empfundene gesellschaftliche Verhältnisse vermuten (Hegtvedt/Markovsky 1995). Wird Ungerechtigkeit nicht konkret erlebt, sondern lediglich antizipiert, wird vornehmlich Angst als resultierende Emotion zugeschrieben, etwa in Form von Statusängsten oder der Angst vor sozialem Abstieg. Auch in epidemiologischen Studien finden sich Hinweise auf die Zusammenhänge zwischen sozioökonomischem Status und der physischen wie psychischen Gesundheit. Dabei werden immer wieder negative Stimmungen und Gefühle als vermittelnder Mechanismus angenommen (Matthews/Gallo 2011). Niedrige Statuspositionen konnten in US-amerikanischen Studien mit einem hohen Grad an depressiven Symptomen und Angstempfinden in Verbindung gebracht werden, die sich wiederum auf die Gesundheit auswirken (ebd.).
Kultur Kulturelle Ansätze der Emotionssoziologie unterscheiden sich von sozialstrukturellen Perspektiven besonders darin, dass sie weniger die sozialen Entstehungsbedingungen von Emotionen in den Blick nehmen als vielmehr den Fragen nachgehen, welche kulturellen Deutungsmuster Sinn und Relevanz von Emotionen bestimmen, welchen Normen und Regeln Emotionen und ihr Ausdruck unterliegen, welche sozialen Praktiken das Emotionserleben rahmen und schließlich, welche kognitiven und körperlichen Strategien zur
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Regulation von Emotionen eingesetzt werden. All diese Aspekte lassen sich zwar analytisch trennen, sind in der empirischen Wirklichkeit aber aufs engste miteinander verwoben. An dieser Stelle sollen kurz einige einschlägige Konzepte und Theorien dargestellt werden, die hilfreich sind, um die Emotionskultur gegenwärtiger (westlicher) Gesellschaften zu beschreiben. Zum einen haben sich zwei Begriffe als zentral für die soziologische Emotionsforschung gezeigt: Gefühlsregeln und Emotionsarbeit. Beide gehen auf Hochschilds (1983) Arbeiten zurück und bezeichnen zum einen soziale Normen und Regeln, die das Erleben und den Ausdruck von Emotionen in bestimmten Situationen rahmen. Emotionsarbeit meint zum anderen die bewusste Regulation und Modifikation von Emotionen mit dem Ziel, das Empfinden oder ein bestimmtes Ausdrucksverhalten (zum Beispiel die Mimik) an soziale Anforderungen und Erwartungen anzupassen. Obgleich sich Hochschilds Studien ursprünglich auf Gefühlsregeln und Emotionsarbeit im Bereich der Erwerbsarbeit beziehen, sind die Konzepte mittlerweile vielfach in empirischen Studien unterschiedlicher Felder angewandt worden (Wharton 2009). Auch hat sich Hochschild (1983) zunächst auf Emotionsarbeit in organisationalen Kontexten (»emotional labor«) konzentriert, ihr Forschungsfeld dann aber auf den Kontext Familie und Geschlechterverhältnisse ausgedehnt. Mittlerweile findet sich in der Soziologie und ebenso in der Psychologie ein breites Spektrum an Arbeiten, die die Idee der Emotionsarbeit aufgegriffen und weiter spezifiziert haben. Dabei nehmen Studien zur Emotionsregulation vorwiegend die psychischen oder dyadischinteraktiven Prozesse der Modulation von Emotionen in den Blick (Gross/Barrett 2011), Arbeiten zum Emotionsmanagement untersuchen die vielfältigen Strategien, anhand derer Akteure die Emotionen anderer regulieren oder beeinflussen (Sieben 2007). Beziehen sich Gefühlsregeln auf bestimmte Situationen, so lassen sich auch situationsunabhängige Wertungen und Bewertungen von bestimmten Emotionen zeigen. In der Sozialpsychologie wird diese Wertschätzung oder kulturelle »Sichtbarkeit« von Emotionen etwa mit dem Begriff des »ideal affect« umschrieben (Tsai 2007), also Gefühlen und Emotionen, die in einer Gesellschaft als besonders erstrebenswert gelten und deren Empfinden sich Akteure als Ziel setzen. In der soziologischen (und historischen) Forschung wird mit dem Begriff der »emotionalen Praktiken« (Scheer 2012) in Anlehnung an Bourdieu ein von Akteuren weitgehend unhinterfragter »Vollzug« von Emotionen unterstellt, der sich in historisch variablen und sozial wie kulturell differenzierten Mustern des Empfindens und »Ausagierens« zeigt. Dazu zählen etwa charakteristische nonverbale Ausdrucksmuster ebenso wie die Art und Weise, über Emotionen zu sprechen oder zu schreiben. Eine konzeptuelle Verbindung vor allem zwischen diesen sprachlichen Ausdrucksmustern von Emotionen und dem »tatsächlichen« emotionalen
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Erleben findet sich in Reddys (2001) Konzept der »emotives«, mit denen er Prozesse an der Schnittstelle von sprachlich-performativer Emotionalität und dem subjektiven Gefühlsempfinden bezeichnet. Emotives werden in Reddys Theorie flankiert von dem Begriff des »Emotionsregimes«, mit dem er Konglomerate von Gefühlsregeln, Praktiken und emotives bezeichnet, die für ein bestimmtes politisches System kennzeichnend sind. Hier findet sich folglich eine wichtige Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Lebensbedingungen – verstanden als symbolisch-normative Ordnung – einerseits und dem Erleben von Emotionen andererseits. Die kulturellen und normativen Deutungsmuster, die Emotionen und das Gefühlsempfinden konstituieren und kennzeichnend sind für bestimmte Praktiken und Emotionsregime, werden vor allem durch diskursive Aushandlungsprozesse und symbolische Repräsentationen geformt, wie sie in den Künsten, der Politik, der Wirtschaft oder den Wissenschaften zu beobachten sind und durch Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden.
G egenwartsdiagnosen I: S ozialstruk tur und E motion 2 Nachdem der vorangegangene Abschnitt die emotionssoziologischen Grundlagen zum Verständnis der sozialstrukturellen und kulturellen Prägung von Emotionen geschaffen hat, werden wir in diesem Abschnitt einige ausgewählte empirische Studien diskutieren, die die soziale Strukturierung von Emotionen in gegenwärtigen Gesellschaften analysiert haben. Auf diese Weise erhalten wir erste Einblicke, wie die (objektiven) Lebensbedingungen die Emotionen von Akteuren zu prägen vermögen und welche Gefühle in besonderem Maße von der sozialen Lage abhängen. Insgesamt ist festzustellen, dass empirische Analysen der sozialen Strukturierung von Emotionen vergleichsweise überschaubar sind, dennoch wichtige Erkenntnisse zur Strukturierung von Emotionen bieten. Collett und Lizardo (2010) haben Zusammenhänge zwischen beruflichem Status und der Häufigkeit des Empfindens der Emotion Ärger in den USA analysiert. Die Ergebnisse ihrer Studie zeigen einen U-förmigen Zusammenhang zwischen dem beruflichen Status und dem Erleben von Ärger: Je niedriger die berufliche Bildung zunächst ist, desto häufiger empfinden die Befragten Ärger. Mit zunehmender Dauer der beruflichen Bildung sinkt dann die Häufigkeit des Ärgererlebens, um dann schließlich ab einem bestimmten Punkt wieder anzusteigen. In ähnlicher Art und Weise hat Schieman (2003), ebenfalls basierend auf Daten für die USA, Zusammenhänge zwischen Alter, Bildung und dem Ärger2 | Teile der Darstellung haben wir vorangegangenen eigenen Arbeiten entnommen, insbesondere Rackow et al. (2012) sowie von Scheve (2014).
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empfinden untersucht. Seine Befunde zeigen, dass mit zunehmendem Alter die Häufigkeit des Ärgererlebens abnimmt und dass dieser Zusammenhang durch das Bildungsniveau beeinflusst wird. Je höher der Bildungsstand, desto weniger deutlich nimmt das Ärgererleben im Alter ab. Lengfeld und Hirschle (2009) haben untersucht, wie sich das Empfinden Angst (operationalisiert als Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes) entlang von sozialen Klassen beschreiben lässt. Ihre Analysen zeigen, dass sich Angehörige der Unterschicht mit Abstand die meisten Sorgen um den Arbeitsplatz machen, gefolgt von Angehörigen der unteren Mittelschicht. Weniger Sorgen machen sich insgesamt Angehörige der mittleren Mittelschicht sowie der Oberschichten. Im Zeitverlauf zwischen 1984 und 2007 haben Lengfeld und Hirschle (2009) beobachtet, dass die Sorgen aller Schichten insgesamt kontinuierlich ansteigen. Bemerkenswert ist, dass die Sorgen der Mittelschichten, insbesondere der mittleren Mittelschicht, in diesem Zeitraum überproportional stark ansteigen und sich fast dem Niveau der Unterschichten annähern. Eine Reihe eigener empirischer Untersuchungen hat sich ebenfalls den Zusammenhängen von Sozialstruktur und Emotionen gewidmet. Dazu zählt unter anderem eine Studie, die den Einfluss sozialer Ungleichheit auf das Emotionserleben, insbesondere von Angst und Ärger, in den Blick genommen hat (Rackow et al. 2012). Hinsichtlich des Erlebens von Ärger zeigen die Analysen, dass insbesondere das Bildungsniveau eine maßgebliche Determinante des Ärgererlebens ist. Menschen mit mittlerer und hoher Bildung erleben deutlich häufiger Ärger als andere Bildungsgruppen. Der berufliche Status ist insofern eine Determinante des Ärgererlebens, als sowohl Selbstständige als auch Angehörige der oberen Dienstklassen ein signifikant höheres Ärgererleben berichten. Eine fehlende Einbindung in das Erwerbsleben wirkt sich sehr unterschiedlich auf das Empfinden von Ärger aus: Während die freiwillige Nichterwerbstätigkeit (etwa bei Rentnern) ein vergleichsweise seltenes Ärgererleben mit sich bringt, geht Arbeitslosigkeit als unfreiwilliger Ausschluss aus dem Erwerbsleben mit einem deutlich häufigeren Empfinden dieser Emotion einher. Hierbei kann jedoch das verfügbare Einkommen kompensatorisch wirken. Insgesamt konnte mit Blick auf das Einkommen festgestellt werden, dass mit steigendem Einkommen die Wahrscheinlichkeit des Ärgererlebens sinkt. Hinsichtlich des Angstempfindens kommt die Analyse zu dem Schluss, dass Menschen mit hohem Bildungsniveau seltener Angst empfinden als solche mit mittlerem oder niedrigem Bildungsniveau. Dieser Zusammenhang wird jedoch bei Betrachtung des beruflichen Status schwächer und ist zudem in weiten Teilen auf Einkommenseffekte zurückzuführen. Der Einfluss des beruflichen Status auf das Angsterleben macht sich vor allem bei Arbeitslosigkeit bemerkbar: Arbeitslose empfinden deutlich häufiger Angst als alle übrigen Berufsklassen. Stärker noch als beim Erleben von Ärger führt hier Arbeitslosigkeit zu einem insgesamt deutlich erhöhten Angstempfinden.
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Dementsprechend sinkt mit steigendem Einkommen auch generell die Wahrscheinlichkeit, Angst zu erleben. Wie beim Empfinden von Ärger ist auch hier bemerkenswert, dass der Einfluss des beruflichen Status auf das Angsterleben nicht in erster Linie eine Frage der Ausstattung mit materiellen Ressourcen ist, sondern vor allem auf der Position in der sozialen Hierarchie beruht, die mit einem Beruf einhergeht. Eine zweite Studie hat sich spezifischer mit den emotionalen Konsequenzen von Arbeitslosigkeit befasst und hier vor allem die zeitlichen Verläufe des Emotionserlebens vor, während und nach der Arbeitslosigkeit untersucht (von Scheve et al. 2013). Die Ergebnisse bestätigen insgesamt Befunde, dass Arbeitslosigkeit zunächst zu einem deutlichen Rückgang der Lebenszufriedenheit führt, die Betroffenen aber nach etwa zwei Jahren trotz bestehender Arbeitslosigkeit wieder auf ihr Ausgangsniveau an Zufriedenheit zurückkehren. Auch zeigt die Untersuchung, dass der Eintritt in Arbeitslosigkeit mit einem zunehmenden Empfinden von Angst und Traurigkeit sowie einem reduzierten Erleben von Freude einhergeht. Das erhöhte Empfinden von Traurigkeit bleibt dabei über den Zeitraum der Arbeitslosigkeit bestehen, wohingegen Angst und Freude sich vergleichsweise rasch wieder an das Niveau zu Zeiten der Erwerbstätigkeit anpassen. Das Ärgerempfinden steigt lediglich während der ersten Monate der Arbeitslosigkeit sowie nach mehreren Jahren ohne Erwerbsarbeit an. In einer dritten Studie schließlich zeigen sich Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage und Gefühlen, die auf Unterschieden in der affektiven Bedeutung der semantischen Felder Autorität und Gemeinschaft basieren (Ambrasat et al. 2014). Obgleich diese Untersuchung sich nicht auf das Erleben diskreter Emotionen, wie zum Beispiel Angst oder Ärger stützt, sondern stattdessen die basale affektive Wahrnehmung sozialer Konzepte (gemessen anhand des semantischen Differenzials) in den Mittelpunkt stellt, lassen sich systematische Unterschiede in der affektiven Bedeutung dieser Konzepte zwischen Akteuren aus unterschiedlichen sozio-ökonomischen Lagen feststellen. Zwar sind diese Unterschiede im Vergleich zu dem ebenfalls in der Studie dokumentierten gesamtgesellschaftlichen Konsens in den affektiven Bedeutungen von Autorität und Gemeinschaft vergleichsweise gering, sie deuten jedoch trotzdem einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss der sozialen Lage auf das subjektive Erleben an. Insgesamt zeigen emotionssoziologische Studien sozialstruktureller Tradition klare Verbindungen zwischen der sozialen Lage und dem Erleben von Gefühlen auf. Obgleich sich Hinweise darauf finden, dass niedrigere Statuspositionen, geringe Einkommen und soziale Exklusion zu einem vergleichsweise häufigeren Empfinden von negativen Emotionen wie etwa Angst und Ärger sowie zu einem erhöhten Stressempfinden führen, lassen diese Befunde kaum verlässliche Rückschlüsse auf langfristige Entwicklungen zu. Erste Hinweise
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auf solche Entwicklungen existieren jedoch, wie etwa die Studie von Lengfeld und Hirschle (2009) zeigt. Um eine direkte und eindeutige Verbindung zwischen den von Anomietheorien postulierten Wandlungsprozessen und dem Gefühlserleben herstellen zu können, bedarf es folglich weiterer Forschung.
G egenwartsdiagnosen II: D ie kulturelle C odierung von G efühlen Emotionssoziologische Gegenwartsdiagnosen sind sich darin einig, dass in modernen kapitalistischen Gesellschaftsordnungen eine zunehmende Ökonomisierung der Gefühle zu beobachten ist, und dass damit deutlich gestiegene Anforderungen an das Vermögen und die Kompetenz, eigene Gefühle zu regulieren, verbunden sind (Hochschild 1983; Neckel 2005). Die aktuellen Debatten um die kulturelle Bedeutung von Emotionen lassen sich auf Hochschilds (1983) Studie zur Emotionalisierung ökonomischer Beziehungen im Sinne einer zunehmenden Emotionsarbeit, vor allem im Dienstleistungssektor, zurückführen, aus der schließlich die These der »Ökonomisierung von Emotionen« entstand. An diese Argumentation schließt die These Illouz’ (2006) an, die eine umgekehrte Wirkungsbeziehung, nämlich die Übertragung ökonomischer Prinzipien auf das private Gefühlsleben, insbesondere in den bürgerlichen Mittelschichten, attestiert. Illouz zufolge werde das Gefühlsleben zunehmend von Effizienzkriterien bestimmt, wie sie sich bislang nur im Kontext wirtschaftlicher Beziehungen fanden. Daraus entwickelt sie die These des »emotionalen Kapitalismus« (ebd.). Neckel (2005) geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass gerade das Konzept der »emotionalen Intelligenz« in seiner popularisierten und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern rezipierten Variante, Ausdruck dieses »emotionalen Kapitalismus« sei. Letztendlich, so Neckel, führe dieses Konzept im Zusammenhang mit entsprechenden Kulturprogrammen des Emotionsmanagements jedoch zur – paradoxen – Situation »affektiver Neutralität« im Sinne Parsons, da Emotionen als Garanten von Authentizität einem zweckrationalen Kalkül unterworfen und intentional angestrebt, ausgelebt, strategisch eingesetzt und zur Effizienzsteigerung instrumentalisiert würden. Dies mache nicht zuletzt die Forderung nach Empathiefähigkeit sichtbar, die als Grundvoraussetzung dafür angesehen werde, Gefühle Anderer möglichst gut zu decodieren und sie gegebenenfalls zum eigenen oder wechselseitigen Vorteil nutzen zu können. Angesichts dieser Diagnosen spricht vieles dafür, die Ökonomisierung der Gefühle als Epitom von Rationalisierungs- und Individualisierungsprozessen im Sinne Max Webers sowie als Begleiterscheinung des vielfach diagnostizierten Verlusts sozialer Bindungen zu betrachten.
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Diese Diagnosen der zunehmenden ›Regulationsbedürftigkeit‹ von Emotionen unter überwiegend ökonomischen Logiken (aber keineswegs auf ökonomische Kontexte begrenzt) findet dabei keinesfalls in einem Raum emotionaler ›Wertfreiheit‹ statt. Ganz im Gegenteil lässt sich gegenwärtig eine Emotionskultur diagnostizieren, in der nicht nur ›positive‹ Emotionen sondern auch ›positives‹ Denken im Vordergrund stehen und zu Zielen des individuellen Handelns stilisiert werden. Diese Kultur ist von Ehrenreich (2010) umfassend beschrieben worden. Demnach werden Glück, Freude, Zufriedenheit und ein insgesamt ›positives‹ Erleben zu Imperativen des Daseins erhoben. Unzählige Ratgeber und populärwissenschaftliche Sachbücher suggerieren erstens, und ganz im Sinne der oben skizzierten emotionssoziologischen Arbeiten, dass Gefühle intentional regulierbar und formbar seien – durch die Arbeit an den Gefühlen selbst oder Änderung der individuellen Lebensumstände, die in einer Veränderung des Gefühlsempfindens resultieren. Zweitens findet sich die klare Vorgabe für das Management der eigenen Emotionen in Richtung der Erzeugung positiver Gefühle, die gewissermaßen als untrügliche Indikatoren für Erfolg und Lebenszufriedenheit dargestellt werden. Bemerkenswert ist dabei insgesamt eine Individualisierung und Subjektivierung des Gefühlshaushalts, sodass nicht etwa objektive und kaum änderbare Lebensumstände und gesellschaftliche Verhältnisse als ursächlich für Emotionen angesehen werden, sondern stets das eigene Vermögen bzw. Unvermögen im Vordergrund steht. Analog zum kulturellen Ziel positiver Emotionalität trägt auch die Pathologisierung negativer Stimmungen und Gefühle zur gegenwärtigen kulturellen Bedeutung von Emotionen bei. Zudem weisen erste Studien darauf hin, dass ein kontinuierliches Streben nach positiven Emotionen tatsächlich zu der zunächst paradox erscheinenden Konsequenz führen kann, negative Emotionen zu verstärken (Mauss et al. 2011), und dass die sozialen Erwartungen zu positiver Emotionalität zu bestimmten »Metaemotionen« gegenüber negativen Gefühlen führen, etwa wenn man sich schlecht fühlt, weil man Trauer empfindet und damit nicht der Norm positiver Emotionalität entspricht (Brock et al. 2012).
S chlussfolgerung Unser Anliegen in diesem Beitrag war es, Zusammenhänge zwischen den sozialen Lebensbedingungen und dem subjektiven Erleben, insbesondere dem Empfinden von Gefühlen aufzuzeigen. Ausgangspunkt unserer Überlegungen waren die soziologischen Anomietheorien Emile Durkheims und Robert K. Mertons. Beiden Theorien zufolge lässt sich Anomie zunächst als ein Zustand der Regellosigkeit verstehen, der durch eine fehlende gesellschaftliche
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Vermittlung von Zielen und Normen zustande kommt (etwa verursacht durch rapiden sozialen Wandel) oder aber durch eine Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und den zur Erreichung dieser Ziele legitimen Mitteln. Auch haben wir gezeigt, dass sowohl Durkheim als auch Merton ein mehr oder weniger spezifisches subjektives Erleben als Konsequenz von anomischen Zuständen annehmen, das vergleichbar ist mit negativen Gefühlen wie Angst (insbesondere Kontingenzangst) und Unsicherheit. Die Vorstellung einer auf gegenwärtige Gesellschaften bezogenen Anomievorstellung der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer (Bohle et al. 2004) hat nahegelegt, dass unterschiedliche Modernisierungsprozesse besonders dazu geeignet sind, in Gegenwartsgesellschaften anomische Zustände hervorzubringen. Anschließend haben wir im Rückgriff auf die Soziologie der Emotionen theoretische Perspektiven aufgezeigt, die Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Lebensbedingungen und dem Gefühlsempfinden einerseits anhand sozialstruktureller und andererseits anhand kultureller Prinzipien darlegen. Beide Perspektiven haben wir sodann mit entsprechenden empirischen Studien bzw. Gegenwartsdiagnosen untermauert. Aus den diskutierten Anomie- und Emotionstheorien lässt sich in Kombination mit den dargestellten empirischen Befunden eine spezifische Sichtweise auf die Sozialität von Emotionen in gegenwärtigen Gesellschaften entfalten. Zum einen lassen sich sowohl anhand von Modernisierungsprozessen und deren individuellen Konsequenzen als auch mit Blick auf empirische Befunde der sozialstrukturellen Emotionsforschung feststellen, dass zumindest bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders von Unsicherheiten und Kontingenzängsten betroffen sind. Ob und inwiefern diese Unsicherheiten tatsächlich die Konsequenz von Modernisierungsprozessen sind und im Zeitverlauf zugenommen haben, lässt sich anhand der existierenden Studien aber kaum sagen. Zum anderen weisen Gegenwartsdiagnosen auf eine ausgeprägte Kultur der positiven Emotionen und des individuellen Emotionsmanagements hin, die unter den Vorzeichen einer Ökonomisierung der Gefühle insgesamt verstanden werden kann. Hier offenbart sich das kulturelle Ziel positiver Emotionalität, das jedoch oftmals in starkem Widerspruch zur sozialstrukturellen Prägung von Emotionen steht. Insofern haben wir es in der Gesellschaft der Gegenwart möglicherweise mit einer klassischen Anomiekonstellation zu tun, die sich insbesondere in ihrer Diskrepanz zwischen kulturellen Emotionszielen und den Mitteln der Akteure zeigt, diesen Empfindungs-Zielen gerecht zu werden.
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E inleitung Seit Monica Greco und ich in dem von uns herausgegebenen Band The emotions: a social science reader (Greco/Stenner 2008) versuchten, das wachsende Interesse der SozialwissenschaftlerInnen hinsichtlich Emotionalität und Affektivität zu dokumentieren, ist dieses Interesse am Affekt regelrecht explodiert und mittlerweile sprechen viele von einem affective turn (Hemmings 2005; Clough/ Halley 2007; Blackman/Venn 2010; Gregg/Seigworth 2010; Leys 2011). Oft, aber nicht ausschließlich, wird diese Wende als Folge der und kritische Reaktion auf die linguistische Wende beschrieben, die meist mit Poststrukturalismus und Sozialkonstruktivismus assoziiert wird (Stenner/Moreno 2013). Ich habe diese Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit beobachtet, nachdem ich seit meiner Doktorarbeit über Eifersucht (Stenner 1992), die ich vor über 20 Jahren abgeschlossen habe, mit einem sozialkonstruktivistischen Ansatz in der Sozialpsychologie arbeite. Damals begann diskursives, poststrukturalistisches und sozialkonstruktivistisches Denken an den kritischen Rändern der Psychologie Einfluss zu nehmen. Wie bei der Wende zu Diskurs oder Text, geht es auch beim affective turn nicht einfach um ein wachsendes Interesse an einem neuen empirischen Gegenstand. Es geht um einen neuen Weg des Denkens und Forschens, um Affektivität verstärkt wahrzunehmen (Stenner/ Greco 2013). Wie Anna Gibbs (2010: 188) schreibt, ist die affektive Wende Teil »des übergeordneten Projekts, den Menschen im Zuge einer grundlegenden Kritik westlicher Rationalität zu überdenken«. Im Versuch, dieses neue Denken zu beschreiben, habe ich skizziert, dass das Konzept der Liminalität dabei eine wichtige Rolle spielen könnte (Stenner 2013). Diese Argumentation werde ich im Folgenden weiterentwickeln. Dabei werde ich zeigen, dass das Konzept der Liminalität eine nützliche Ressource ist, um die ambivalente Natur vieler affektiver Situationen zu verstehen und somit Szenen des Unwohlseins oder die Un-Wohl-Gefühle zu begreifen.
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L imen als eine sensible S chwelle der Tr ansformation und L iminalität als M öglichkeit des W erdens Der Begriff Liminalität kommt vom lateinischen limen, was Schwelle bedeutet. Die Grenzen des Römischen Reichs beispielsweise waren durch Wehrmauern, genannt Limes, markiert, und auch das Wort Limit hat seine Wurzeln hier. Eine Linie kann eine simple Markierung im Raum sein, eine Schwelle hingegen legt die Vorstellung einer aktiveren Beziehung zwischen Kräften nahe, die für die Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen sorgt, oder den Unterschied zwischen innen und außen bewahrt. Diese Idee eines aktiven Gleichgewichts der Kräfte spielt auch im Gebrauch des Terminus Limen in der Psychologie des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Gustav Theodor Fechner (1860) zum Beispiel sprach mit Johann Friedrich Herbart (1824/25) von der Schwelle menschlichen Bewusstseins als einem Limen. So könnten wir also ein Limen nicht einfach als eine Linie oder Grenze definieren, sondern als eine sensible Schwelle des Übergangs. Indem ich das Konzept der Affektivität mit jenem der Liminalität kombiniere, möchte ich über den klassischen anthropologischen Gebrauch des Letzteren hinausgehen und eine allgemeinere Vorstellung von sensitiven Punkten oder Kreuzungen evozieren, an denen unerwartete, aber vielleicht auch neue und wichtige Dinge geschehen.1 Erstmals wurde Liminalität von dem Anth1 | Ich vertrete, dass das Konzept der Liminalität ein transdisziplinäres Potenzial hat und weit über die Anthropologie ausgedehnt werden kann. Für einen anderen, aber dennoch unserer Definition sachdienlichen Gebrauch, möchte ich ein einfaches – von Michel Serres (1987) inspiriertes – Beispiel geben. Man stelle sich vor, in einer Runde von sozialkonstruktivistischen FreundInnen ein gemeinsames Abendessen zu genießen und dabei über Diskursanalyse zu diskutieren. Mitten in der lebhaften Unterhaltung läutet das Telefon. Aus der Perspektive der Ordnungsstruktur oder des Systems des Abendessens mit FreundInnen ist das eine unwillkommene und irritierende Störung. Das läutende Telefon bedeutet Lärm, der das Signal des Systems unterbricht – es interferiert mit dem fröhlichen Fluss der Konversation. Aber es hört nicht auf zu läuten und so geht man widerwillig ans Telefon. Selbstverständlich versucht man dann, mit der Person am anderen Ende der Leitung zu sprechen, die in diesem Fall ein Verfechter der affektiven Wende ist. Aber aufgrund des Lärms, den die FreundInnen am Esstisch machen (sie sind ein wenig betrunken …) kann man nicht hören, was sie sagt. Was ein Signal ist, solange man Teil des betreffenden Systems ist, wird zum Lärm, sobald man in ein anderes wechselt. Das einfachste wäre, mit dem Telefon in ein ruhiges Zimmer zu gehen. Aber man stelle sich vor, aus welchem Grund auch immer, man möchte unbedingt Teil beider Systeme sein – man möchte hören, worüber die konstruktivistischen FreundInnen am Tisch sprechen, aber auch mit dem anti-konstruktivistischen FreundInnen am anderen Ende der Leitung über Affekte sprechen. Es gilt, genau den richtigen Platz zu finden – die Schwelle oder liminale Zone zwischen den beiden Systemen, von wo aus man auf magi-
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ropologen Arnold van Gennep in seinem Buch Les rites de passage (1909) konzeptualisiert. Übergangsriten sind höchst inszenierte Riten wie man sie gemeinhin in sogenannten tribalen oder agrarischen Gesellschaften findet. Sie kommen zum Einsatz, um – für gewöhnlich auf sehr formelle und zeremonielle Weise – sensible Übergänge zwischen Stadien oder sozialen Zuständen im Leben einer Person oder eines Kollektivs zu inszenieren. Ein Beispiel wäre der sensible Wendepunkt, an dem ein Kind als bereit angesehen wird, ein/e Erwachsene/r zu werden und deshalb einem Initiationsritus unterzogen wird. Solche Momente des Wandels sind kritische Kreuzungen, denn, so van Gennep: »Solche Zustandsveränderungen gehen nicht vor sich, ohne das soziale und individuelle Leben zu stören. Hier ist es nun die Funktion der Übergangsriten, die schädlichen Auswirkungen abzuschwächen« (Gennep 2005: 23). Van Genneps Hauptbeitrag bestand darin, ein Dreiphasen-Modell zu erarbeiten, ein Muster der Übergangsriten, wie er es nannte, mit dem sich solche Vorgänge beschreiben lassen. Die erste Phase eines Übergangsritus beinhaltet Riten der Ablösung in denen ein vormaliger Zustand oder eine soziale Position aufgehoben wird. In den Riten der dritten Phase – genannt »rites d’agrégation« (Angliederungsriten) – geht es darum, den neuen Status oder die neue Position zu etablieren und anzuerkennen. Die Zwischen- oder liminale Phase ist jene, in der die vorhergehende Ordnung nicht mehr besteht und eine neue Ordnung noch nicht etabliert ist. Dementsprechend befinden sich die Beteiligten an der Grenze in einer befremdlich unlimitierten Situation, in der sie dann oft einen Test oder eine Probe zu bestehen haben. Van Genneps klassischem Verständnis folgend, bezieht sich Liminalität auf die Außerkraftsetzung struktureller Ordnung, die in der mittleren Phase eintritt, jener der Passage oder des Übergangs. Bei dieser Außerkraftsetzung von strukturierter Ordnung geht es um Werden im Sinn des Überschreitens einer Schwelle zwischen einem Typ von Ordnung zu einem anderen oder zwischen einer Kategorie von Person zu einer anderen. Wobei uns van Gennep ein Bild von Gesellschaft vermittelt, das nicht einfach ein Set von Positionen, Rollen, Strukturen, Zuständen und Status ist (der Einfachheit halber können wir das als Struktur bezeichnen), sondern auch – ein wenig wie ein Foto-Negativ – ein konstant veränderliches Set von Bewegungen von einer Position, Struktur, einem Zustand oder Status in eine oder in einen anderen (der Einfachheit halber können wir diese als Ereignisse des Übergangs oder Werdens besche Weise beide Signale hören und aufnehmen könnte. Diese Position einzunehmen, ist schwierig und heikel, denn sie ist viel eher ein sowohl/als auch- und zugleich ein weder/noch-Raum, denn ein entweder/oder-Raum (Kofoed 2008). Als solcher ist dieser Raum ein flüchtiger, der sich leicht von einer Sache in eine andere verändert. Potenziell ist es auch ein interessanter kreativer Raum, denn wer es aushält, ihn einzunehmen, hat die Chance, etwas zu entwickeln, dass Sozialkonstruktivismus und Affekttheorie integriert.
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zeichnen). Victor Turner (1969/2005) machte diesen Aspekt von van Genneps Arbeit explizit, indem er sich auf diese transitiven, flüssigen Momente der Liminalität als ›Anti-Struktur‹ bezog. Er verwies dabei auf die Unterscheidung zwischen Materie und Antimaterie, wie sie die PhysikerInnen getroffen hatten. Van Gennep war von diesen ›antistrukturellen‹ Übergängen sichtlich fasziniert: Leben bedeutet, schreibt er, »sich zu trennen und wieder zu vereinen, Zustand und Form verändern, sterben und wiedergeboren werden. Es bedeutet handeln und innehalten, warten und sich ausruhen, um dann erneut, aber anders zu handeln. Und immer sind neue Schwellen zu überschreiten: die Schwelle des Sommers oder die des Winters, der Jahreszeit oder des Jahres, des Monats oder der Nacht; die Schwelle der Geburt, der Adoleszenz oder der Reife, die Schwelle des Todes und – für die, die daran glauben – die Schwelle zum Jenseits.« (Gennep 2005: 182) Dieser spezifisch anthropologische Zugang passt zu unserer allgemeineren Definition von Liminalität als sensible Schwelle des Übergangs oder als volatiler Kipp- oder Wendepunkt. Van Genneps liminale Phase ist eine sorgsam gestaltete Aufhebung von sozialer Ordnung, sodass ein Übergang von einer strukturellen Position in eine andere vollzogen werden kann. Recht wortwörtlich ist die liminale Phase eine Zone des Werdens in einem Kontext, in dem die gewohnten strukturellen Regeln nicht mehr gelten. Die Erfahrung während einer solchen liminalen Phase lässt sich – analog zum Kühlmittel in unseren Kühlschränken – als flüchtig beschreiben, sie ist flüchtig, weil sie sich schnell und leicht von Zustand zu Zustand verändert (im Kühlschrank von gasförmig zu flüssig und retour). Ich behaupte, dass etwas (ob es sich um eine chemische Substanz, eine menschliche Erfahrung oder einen sozialen Prozess handelt) liminal ist, wenn es sich an dieser sensiblen und instabilen Schwelle des Übergangs befindet. Dieses Etwas ist dann zugleich ein Ding und ein anderes, zugleich ein Zustand und ein anderer oder weder ein Ding noch ein anderes, weder ein Zustand noch ein anderer. Im Bereich des Menschlichen ist es diese Kombination von ausgesetzter Ordnung, Unsicherheit und Flüchtigkeit, die für jene gesteigerte Intensität von Emotionalität sorgt, wie sie typisch für liminale Zustände ist. Ich schlage also vor, dass liminale Situationen, Zeiten und Räume als Lücken, Brüche und Gräben in Strukturen aufgefasst werden: als marginale Orte und Momente von Bewegung, in der alte Strukturen zerstört und neue Strukturen kreiert werden, gerade so wie frisches Magma, das aus den Gräben des mittelozeanischen Rückens strömt, der Erde eine neue Kruste formt. Wir tendieren dazu, diese paradoxen und schwierigen Ereignisse zu vermeiden, denn ihrer Natur nach sind sie tendenziell zutiefst verstörend und in der Tat affektiv. Poetisch formuliert, sind sie jene Löcher in der Struktur, auf die der texanische Liedermacher Townes van Zandt anspielt, wenn er singt (im Song To live is to fly): We’ve all got holes to fill, Them holes is all that’s real,
Liminality Some fall on you like a storm, Sometimes you dig your own. Wir alle haben Löcher zu füllen, Diese Löcher sind alles, was real ist, Einige kommen über dich wie ein Sturm, Manchmal gräbst du deine eigenen.
I nszenierte und nicht- inszenierte E rfahrungen In diesem Abschnitt werde ich ausgehend von Van Zandts Unterscheidung zwischen jenen Löchern (liminalen Situationen), die ›über einen kommen wie ein Sturm‹, und jenen, die selbst verursacht sind, eine Unterscheidung zwischen nicht-inszenierten und inszenierten liminalen Erfahrungen entwickeln (auf Turner2 und Szakolczai 2000, 2009 aufbauend). Van Genneps Übergangsriten wären hier archetypische anthropologische Beispiele für liminale Erfahrungen, die extrem konstruiert sind, indem sie sorgfältig inszeniert wurden (wenngleich sie in Form eines Tests oder einer Probe ein wichtiges Element der Unbestimmtheit enthalten). Aber nicht-inszenierte Geschehnisse wie Krankheiten, Katastrophen oder andere Krisen sind ungeplante momentane Ereignisse, die im Hinblick auf bestehende ›Struktur‹ ganz ähnlich Brüche erzeugen können. Und damit können diese Geschehnisse auch liminale Erfahrungen bedeuten – in unserem Sinn von sensiblen Punkten oder Kreuzungen an denen unerwartete, aber vielleicht auch neue und wichtige Dinge passieren. Szakolczai schreibt in diesem Kontext von liminalen Situationen aus dem ›wirklichen Leben‹: »In einem Übergangsritus wird soziale Ordnung aber absichtlich temporär ausgesetzt, und eben diese selbe Ordnung wird am Ende der Performanz feierlich wiedereingesetzt. Im Fall von Liminalität im wirklichen Leben, ist die zuvor als selbstverständlich 2 | Turner (z.B. 1982/1995) schrieb von »sozialen Dramen«, von denen manche nicht inszeniert seien. Mit Bezug auf Variationen von ›inszenierten‹ liminalen Erfahrungen, sprach er auch von verschiedenen liminoiden Sphären der postindustriellen Gesellschaften, inklusive der spezialisierten Bereiche von Kunst, Theater, Sport und anderen Freizeitbestrebungen. Er behauptete, dass in funktionell spezialisierten, modernen Gesellschaften liminale Erfahrungen tendenziell auf diese liminoiden Sphären, die bestimmte Qualitäten mit den liminalen Praktiken agrarischer oder tribaler Gesellschaften gemein haben, begrenzt werden. Anders als Letztere tendierten sie jedoch dazu, in ihrem Ethos individualistischer und idiosynkratischer zu sein. Sie seien eher eine Angelegenheit persönlicher Entscheidung, denn eine Verpflichtung, die die gesamte soziale Ordnung durchziehe.
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Paul Stenner aufgefasste Ordnung tatsächlich zusammengebrochen. Deshalb kann sie nicht einfach wiederhergestellt werden. Das bedeutet, dass die momentane Suche nach Ordnung die zentrale Aufgabe in einer liminalen Situation größeren Ausmaßes im wirklichen Leben ist, inklusive aller existenziellen Ängste, die das mit sich bringt. Darüber hinaus sind sogar inszenierte liminale Situationen gefährlich […], weshalb solche Riten nur in Gegenwart von ›Ordnungshütern‹ oder ›Zeremonienmeistern‹ vollzogen werden […]. In [liminalen Situationen] des wirklichen Lebens […] untergräbt die zusammenbrechende Ordnung auch die Autorität jener Individuen, die als ›Hüter‹ oder ›Meister‹ fungieren könnten. In ihrer Abwesenheit und während des beängstigenden Zerfalls aller stabiler Bezugssysteme, wird den dunklen Mächten, die in dieser ›Situation‹ freigesetzt werden, keine effektive Gewalt entgegengesetzt.« (Szakolczai 2000: 218)
Wie bei allen Unterscheidungen ist vielleicht das interessanteste Charakteristikum die liminale Zone der Inter(re-)ferenz zwischen diesen Idealtypen. In Bezug auf den letzten Punkt, berührt diese Distinktion wiederum einen faszinierenden Zusammenhang zwischen Affektivität und Ritual, auf den ich hier nur kurz hinweisen kann (für eine informative Diskussion von Ritual siehe Turner 2005, 1995; Bell 1997). Rituale freilich reichen zurück bis zu dem, was wir ›prähistorisch‹ nennen und sind möglicherweise auch für nicht-menschliche Spezies relevant. Sie lassen sich (nach Whitehead 1926) durch bestimmte exzessive und repetitive Qualitäten definieren, die sich augenscheinlich nicht auf einen Überlebensmechanismus reduzieren lassen (d.h. sie können nicht in Begriffen der Reproduktion des physischen Organismus‹ erklärt werden). Ihr Zusammenhang mit Affektivität scheint ein doppelter zu sein, das ist zumindest die Hypothese, die ich erwäge. Einerseits tendiert die durch nichtinszenierte liminale Erfahrungen (Geschehnisse wie Unfälle, Katastrophen, Krisen etc.) hervorgerufene Affektivität dazu, einen bestimmten Prozess der Ritualisierung hervorzubringen. So, als ob die Wiederholung und die Symbolhaftigkeit des Rituals dazu dienten, die Leidenschaften, die im Spiel sind, zu zähmen und zu bändigen, sie rhythmisch, schematisch, kommunizierbar, ›musikalisch‹3 zu machen. Diesbezüglich könnten wir sagen, dass Rituale 3 | Wie Ed Moreno und ich andernorts argumentiert haben (Stenner/Moreno 2013), können auch Affekte selbst jene rhythmische und repetitive Qualität aufweisen, die typisch für Rituale ist. In diesem Sinn können intensive emotionale Erfahrungen Momenten des strukturellen Zusammenbruchs Struktur verleihen. Man bedenke etwa den Rhythmus, der von extremer Verzweiflung – zum Beispiel nach einem Trauerfall – hervorgerufen wird: Der eigene schluchzende Körper gibt eine rhythmische Struktur und überbrückt damit, was ansonsten womöglich ein existenzieller Abgrund wäre. Affekte verkörpern in diesem Sinn eine Art von »Proto-Kommunikation« (Stenner 2004: 171), die sich anderen (jenen, die unser Schluchzen hören und darauf reagieren) nicht einfach mitteilt und auch nicht dem Subjekt, das da gerade erfährt/zum Ausdruck bringt.
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helfen, Krisen in Dramen zu verwandeln, und in ihrem Prozess womöglich etwas, das roher Affektivität nahe kommt, in sinnvolle und kommunizierbare Emotion überführen. Solcherart, um es anders auszudrücken, können nichtinszenierte liminale Erfahrungen deren inszenierte Variante provozieren und zur Folge haben.4 Inszenierte liminale Erfahrungen mögen demnach als ein althergebrachter Weg, Liminalität zu managen (recht wortwörtlich als das Bühnen-Management von Liminalität) gedeutet werden. Andererseits generieren Rituale ihre eigene Affektivität und kollektive Efferveszenz5 (Durkheim 1912/1981: 565). Oder wie es Whitehead (1926: 20) ausdrückte: »Emotion wartet auf das Ritual; und dann wird das Ritual wegen der es begleitenden Emotionen wiederholt und ausgeführt, Menschen wurden Ritual-Künstler«. So haben inszenierte liminale Erfahrungen ihren Ursprung in der Performanz von Ritualen, mit dem Ziel, »Emotionen um ihrer selbst willen zu erregen, abgesehen von einigen gebieterischen biologischen Zwängen« (ebd.). Ritual, Drama, Theater, Musik, Kunst – vielleicht haben sie alle hier einen gemeinsamen imaginativen Ursprung als inszenierte, selbst-produzierte affektive Erfahrungen. Wenn wir ›unsere eigenen Löcher graben‹ dann deshalb, zumindest zum Teil, weil wir auf die Intensität der Erfahrung, die diese Löcher mit sich bringen, aus sind – manchmal riskieren wir dafür sogar eine Katastrophe. Wenn wir Ritual-KünstlerInnen sind, dann weil wir kreativ mit dem Medium unserer eigenen Gefühle arbeiten. Idealerweise steigert diese Kunstfertigkeit unsere Sensibilität und entfernt uns weiter von den brutalen Nöten der rohen Natur (mit Zähnen und Klauen). Um diese Unterscheidung zu veranschaulichen (und: um sie anschließend zu verwischen), gebe ich im Folgenden je ein Beispiel für die landläufigen ›Typen‹ liminaler Erfahrung.
4 | Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, dem suizidale Depression etwas sehr Vertrautes war, kommentierte diesen Punkt treffend, den ich hier zum Management von Liminalität entwickle: »Viele Menschen haben irgendwann einmal ernste Schwierigkeiten in ihrem Leben – so ernste, dass sie an Selbstmord denken. Das kann einem leicht abstoßend vorkommen, als eine Situation, die zu unschön ist, um Gegenstand einer Tragödie zu sein. Und dann ist es vielleicht eine ungeheuere Erleichterung, wenn einem gezeigt werden kann, dass sich im eigenen Leben so etwas wie die Form einer Tragödie findet – die tragische Ausführung und Wiederholung eines Musters« (Wittgenstein 1968: 86). Hier geht es wiederum um etwas, das als schematisches Gestalten von Chaos, wie es auf einen Zusammenbruch von Struktur folgt, bezeichnet werden könnte. In diesem Sinn gestaltet große Kunst (und um nichts weniger jegliche Form von inszenatorischem Management liminaler Erfahrung) wichtige affektive Erfahrungen. 5 | In der Übersetzung heißt es »Gärungszustand«; in der Literatur ist überwiegend von »Efferveszenz« die Rede; diesen Begriff verwendet auch Paul Stenner (Anm. d. Übers.).
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E in (spekul atives) inszeniertes liminales E reignis : N e wgr ange circa 5000 v. C hr . Wenngleich hier viele konkrete und faktische Beispiele möglich wären, bevorzuge ich ein hochspekulatives Beispiel, das die wichtige Rolle von Imagination im Kontext inszenierter liminaler Erfahrungen in den Vordergrund rückt. Erachten wir mein erstes Beispiel als ein sehr altes Kunstwerk, das vielleicht mit einem sehr alten inszenierten liminalen Erlebnis verknüpft war. Abbildung 1 zeigt ein seltsam schönes Bild einer Dreifachspirale oder Triskele. Diese Dreifachspirale wurde in der Jungsteinzeit, vor ungefähr 5000 Jahren, in den Felsen geritzt. Sie kommt aus der neolithischen ›Ganggrab‹-Anlage im irischen Newgrange. Die Abbildung ist an sich erstaunlich genug, was sie aber noch interessanter macht, ist ihre Positionierung in dem Durchgang. Grundsätzlich ist der Durchgang sorgfältig nach der aufgehenden Sonne ausgerichtet. Er ist so angelegt, dass er das ganze Jahr über dunkel bleibt, abgesehen von einigen Tagen rund um die Wintersonnwende. Ein sorgfältig platzierter Lichtschacht über dem Eingang sorgt dafür, dass diese dunkle Kammer an den Tagen, an denen die Sonne ihren südlichsten Punkt auf dem Himmel erreicht, für jeweils etwa eine Viertelstunde in Sonnenlicht getaucht wird. Man stelle sich vor, wie dieser Lichtstrahl die Kammer füllt, sodass die in den Stein geritzte Spirale beleuchtet und den Anwesenden offenbart wird. Abbildung 1: Die Newgrange Dreifachspirale
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Meiner Meinung nach war dieser Moment der Offenbarung für jene SteinzeitMenschen, denen es erlaubt war, dabei zu sein, zweifellos ein hochsignifikantes und hochzeremonielles Ereignis. Wir können das Ganze bestimmt für ein sorgsam inszeniertes emotionales und ästhetisches Ereignis halten. Aber was mag es für die Anwesenden bedeutet haben? Was mögen sie in der Dreifachspirale gesehen haben? War sie einfach ein schönes Bild? War sie eine stolze Demonstration technischen Könnens? Darüber können wir selbstverständlich nicht befinden, und das macht dieses Beispiel für mich interessant. Es handelt sich dabei bestimmt um etwas Künstlerisches, aber seine Inszenierung zur Zeit der Sonnenwende ist auch recht theatralisch. Reagieren wir einfach auf das Abbild selbst: Es scheint evident, dass es Vielzahl innerhalb von Einheit symbolisiert. Es sind drei Spiralen – d.h. eine Multiplizität – aber sie sind in einer kontinuierlichen Linie gezeichnet. So sind sie eins und dennoch drei. Die Vielen, könnten wir sagen, werden als Eines begriffen, und das ist teils, was PhilosophInnen unter den Begriff der Immanenz fassen. Auf einer anderen, verwandten Ebene ist das Bild als selbstreferenziell zu bezeichnen. Es besteht aus einer einzigen kontinuierlichen Linie vom Beginn bis zum Ende und so bezieht es sich auf sich selbst (es ist einfach, diese Triskele zu zeichnen, ohne den Stift vom Papier zu nehmen). Das Bild ist selbstreferenziell in dem Sinn, dass es kein transzendentes ›Außen‹ braucht, und doch – wie man sieht – erzeugt es eine enge Beziehung zu einem Außen, das sich freilich als Teil seiner selbst herausstellt. Es erzeugt sich und seine Anderssein aus sich selbst heraus. Dasselbe lässt sich auf über das antike ägyptische Symbol des Skarabäus-Käfers anwenden: Dieser wurde als heilig erachtet, denn er schien aus dem Nichts zu kommen und selbsterzeugend zu sein, ein bisschen wie die Sonne. Aus diesem Grund wurde der Skarabäus mit dem Sonnengott Ra assoziiert. Die Dreifachspirale wäre dann eine vergleichbare Figur immanenter selbstreferenzieller Selbsterzeugung.6 6 | Knight und Lomas (2001) beobachten, dass die Sonne drei Monate braucht, um sich vom Äquinoktium/der Tagnachtgleiche (vielleicht der Südliche Rand der ersten Spirale?) zum Solstitium/der Sonnenwende (dem Zentrum der Spirale?) zu bewegen. Drei Mal drei Monate – das entspricht dem neunmonatigen Zeitraum der Schwangerschaft. Das könnte die Annahme unterstützen, dass die Triskele Generativität symbolisiert. Solche Interpretationen sind nicht unbedingt inkompatibel mit den vielen anderen ›Trinitäts‹-Erklärungen, die angeboten werden könnten. Zweifellos würde die Triskele auch dazu dienen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Kontext dreier unendlich wiederkehrender Phasen zu symbolisieren, insbesondere, wenn man beim Nachfahren der Spirale zwischen einer Vorwärtsbewegung (was wir heute ›im Uhrzeigersinn‹ nennen würden) und einer Rückwärtsbewegung (Erinnerung/Erkennen/Antizipation) abwechselt. Die Pointe solcher Bilder liegt nicht darin, zu scharfer analytischer Distinktion an-
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Ein solches Bild könnte gut auch als starkes Symbol für das Selbst und seine enge Beziehung zu seiner Gemeinschaft und zum weiteren Kosmos dienen, alles im immanenten Prozess der Selbsterzeugung. Die Steinzeitmenschen von Newgrange – sofern diese Spekulation zutreffend ist – sahen, während sie der Illumination der Dreifachspirale während der Wintersonnwend-Zeremonie beiwohnten, in gewissem Sinn das Bild ihrer selbst und ihres Platzes in der Welt (gerade so wie, nach Durkheim [1981], sogenannte Totemklans sich selbst im Bild ihres Totemtieres oder -objektes wiedererkannten; gerade so, wie wir uns im Image unserer iPads, iPhones und Wii Konsolen wiederzufinden scheinen). Aber auf welche Art ein Bild ihrer selbst? Vielleicht, und hier spekuliere ich gewagt, auf drei miteinander verbundenen Arten. In der ersten Spirale symbolisiert sich der Mensch, der die Natur seines eigenen Wesens als konkretes Leben erfährt: ein selbsterzeugendes oder autopoietisches Bewusstsein. In der zweiten Spirale bildet sich vielleicht die Identität dieser Steinzeitmenschen als Gemeinschaft, als ›Wir‹ ab. Die selbstreferenzielle Subjektivität ist aufgehoben in einem selbstreferenziellen Kollektiv. Schließlich sind beide – Subjektivität und Kollektivität – aufgehoben in der umfassenderen natürlichen Einheit des Universums. Wortwörtlich finden sie ihren Platz innerhalb der weitesten aller möglichen selbstreferenziellen Totalitäten. Auch wenn wir uns ihrer nicht sicher sein können, die Newgrange-Spiralen-Erfahrung beschreibt ein gutes Beispiel einer inszenierten liminalen Erfahrung. Die Dreifach-Spirale wäre dann ein durch und durch liminales Bild, das wertvolle Einsichten hinsichtlich einer Einheit, die die Leerstellen und Lücken zwischen Selbst, Kollektiv und Kosmos, zwischen Ursprung, Existenz und Bestimmung, Geburt, Leben und Tod, und zwischen dem Innen, dem Liminalen und dem Außen, unterbaut. Aber es ist auch ein Bild, das in jenen liminalen Umständen zu betrachten ist, die es mit hervorbringt. Die Tatsache, dass das Ganggrab sorgsam auf die Wintersonnwende ausgerichtet wurde, legt Übergangsriten in Zusammenhang mit dem Rhythmus der wechselnden Jahreszeiten nahe, und diese Rhythmen wurden – passend für ein Grab – wahrscheinlich mit den liminalen Themen Tod und Wiedergeburt assoziiert. Wir können uns vorstellen, dass innerhalb dieses sorgsam arrangierten Umfeldes, Requisiten wie Masken, bestimmte Kleidungsvorschriften und oft strikte, sozial festgelegte Verhaltensregeln zum Einsatz kamen – wie bei vielen vergleichbaren Ereignissen. Jedenfalls, wenn die gesamte Situation kunstvoll arrangiert und sorgsam inszeniert wurde, sollte das nicht gleichbedeutend damit sein, dass die in solche Übergangsriten involvierten Erfahrungen und Darstellungen nicht real oder nicht authentisch wären. Im Gegenteil, wie im zeitgenössischen Theater, ist die Kunstfertigkeit präzise gestaltet, um zu sensibilisieren, zustiften, sondern zu vielschichtigen Einsichten in eine bemerkenswerte und zum Nachdenken anregende harmonische Einheit.
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zu stimulieren, zu formen und die emotionalen und intellektuellen Reaktionen der Involvierten zu verstärken und sie in die sensible und volatile Zone des Werdens zu ziehen. Der britische Anthropologe Victor Turner widmete einen Gutteil seiner Karriere der Untersuchung dessen, was er für den großen sozialen und persönlichen Wert in Zusammenhang mit dieser Sorte inszenierter liminaler Erfahrung von ›Anti-Struktur‹ hielt. Er beobachtete beispielsweise, dass während einer liminalen Passage die ›Passagiere‹ typischerweise der willkürlichen und veränderbaren Natur der sozialen, strukturbildenden Abgrenzungen unmittelbar ausgesetzt sind. Immer abhängig vom fraglichen Übergangsritus, werden – für eine kurze aber intensive Zeit – Differenzen hinsichtlich Status, Geschlecht, Familienrang und so fort in einen unstrukturierten Schwebezustand aufgelöst. Künftige Könige, zum Beispiel, können – während ihrer Initiation – wie ihre DienerInnen behandelt werden. Auf diesem Wege, so Turner, können liminale Situationen die Bedingungen für eine erfahrungsmäßige Konfrontation schaffen, um zu verstehen, was es bedeutet, außerhalb und jenseits einer strukturell gegebenen sozialen Position/dem eigenen Stand, ein Mensch zu sein. Indem sie uns temporär von unseren strukturellen Ankern befreien, erweitern sie unseren Horizont über unsere für gewöhnlich begrenzten Angelegenheiten und Aufgaben hinaus. Um Turner zu zitieren, in inszenierten liminalen Erfahrungen sind Menschen temporär von sozialer Struktur befreit »nur um, durch diese Erfahrung revitalisiert, zur Struktur zurückzukehren« (Turner 2005: 126). Somit präsentierte Turner inszenierte liminale Erfahrungen als enorm wertvolle formende Erfahrungen und schloss, dass sie zu einem »Gefühl der Menschenliebe« führen können. Sie können dabei helfen, einen Sinn für Gleichheit zu entwickeln und für den gemeinschaftlichen Zweck der Gesellschaft als ganzer, nicht als einer Sammlung von strukturellen Positionen. Könnte die Newgrange Spirale eine kreative Anstrengung gewesen sein, solche kostbaren Einsichten immanenter Einheit zu erlangen: Einsichten in das, was Turner Communitas nannte? Bezeichnenderweise nannte van Gennep solche Einsichten »das Heilige«: »Wenn man im Laufe des Lebens von einer Position in die andere überwechselt, sieht man sich plötzlich […] mit dem Sakralen konfrontiert, wo vorher das Profane war oder umgekehrt.« (Gennep 2005: 23)
E in nicht- inszeniertes liminales E reignis : Paris , 1789 Der Historiker William Sewell liefert in seiner Analyse der Französischen Revolution von 1789 ein interessantes Beispiel einer nicht-inszenierten liminalen Erfahrung. Das Schlüsselkonzept, das Sewell dabei entwickelt, ist nicht Liminalität (obwohl er sich auf dieses Konzept bezieht), sondern Ereignis. Gleich-
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wohl können jene zwölf Tage vom 12. bis zum 24. Juli seiner Analyse entsprechend als liminale Phase genereller Unsicherheit aufgefasst werden. Es »war eine außerordentliche Zeit der Angst, des Jubels, der Gewalt und kultureller Kreativität, die die Geschichte der Welt veränderte«, schreibt er und weiter: »Während dieser Zeit wurden die herkömmlichen Verbindungen zwischen den verschiedenen Strukturen grundlegend durcheinandergebracht. In Konsequenz sind die Handelnden zutiefst verunsichert: Sie wissen nicht, wie das Leben weiter gehen soll. Diese Unsicherheit mag zu verschiedenen Resultaten führen, manchmal sogar für ein und dieselbe Person: Angst, Furcht oder Erheiterung; unablässige Aktivität, Lähmung, extreme Vorsicht oder leichtfertige Hemmungslosigkeit. Aber fast sicher steigert diese Unsicherheit die emotionale Intensität des Lebens, zumindest bei jenen, deren Existenz eng an die verworfenen Strukturen geknüpft ist. Und als in Frankreich im Sommer 1789 die strukturelle Verwerfung durchdringend und tiefgehend ist, lebt gewissermaßen jeder am Rande.« (Sewell 1992: 845)
Wie dieses Zitat nahelegt, ist Sewells wichtigste konzeptuelle Unterscheidung, jene zwischen dem Konzept eines Ereignisses (die Revolution) und dem Konzept sozialer Struktur oder Strukturen. Ich habe schon betont, dass das eine wichtige Unterscheidung ist. Sewells Auffassung von Struktur ist mit der Turners kompatibel, wenngleich sie subtil anders ist. Während für Turner Struktur mit anerkannten ›Positionen‹, ›Rollen‹, ,Status‹, ›Ämtern‹ etc. assoziiert ist (und mit den dazugehörigen mehr oder weniger formalisierten Rechten und Pflichten), bezieht sich für Sewell Struktur auf die fortwährende Reproduktion sozialer Praktiken, seien es Praktiken der Arbeitswelt, des Konsums, kulturelle Aktivitäten oder was auch immer. Dass diese Praktiken nicht frei flottierend sind, sondern in Modi sozialer Macht eingebettet und mit etablierten Wegen der Ressourcenverteilung verbunden, verleiht ihnen ihre Konsistenz und Stabilität über die Zeit. Über die Diskurse ist ihre Durchführung zudem von normativen kulturellen Schemata geformt, die ihnen eine selbstverständliche Natur und eine ebensolche Anmutung verleihen (und die zweifellos die Fragen nach Rechten und Pflichten spezifizieren). Ereignisse hingegen sind Sequenzen von Geschehnissen, die in der Transformation von Strukturen resultieren. Im Sinne Sewells können Ereignisse somit als liminale Geschehnisse oder liminale Aufführungen aufgefasst werden, und damit als Handlungen und Strukturen, die in diesen liminalen Situationen stattfinden und sie zugleich erzeugen, die – in Victor Turners Worten (2005: 95) – »dazwischen« (»betwixt and between«), zwischen den ungeordneten und strukturierten Umständen existieren. In Sewells (nicht-inszeniertem) Beispiel jedenfalls haben wir es nicht mit Bewegungen innerhalb und zwischen mehr oder weniger stabilen strukturellen Positionen zu tun, sondern mit Bewegung der sozialen Struktur selbst. Erstere sind vorhersehbar und relativ leicht zu in-
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szenieren; letztere kommt eher ›wie ein Sturm über eine/n‹, selbst wenn sie – wie ein Sturm – eine Zeit der oft unbemerkten atmosphärischen Vorbereitung brauchen (Sewell schreibt ausführlich über die Umstände, die die Revolution bedingten – inklusive dem Beinahe-Staatsbankrott, der Getreide-Krise und der Verfassungskrise in Zusammenhang mit der Besteuerung). Sewell streicht manche der Charakteristika von nicht-inszenierten liminalen Situationen heraus, indem er nicht nur über die gesteigerte Emotionalität schreibt, die im Spiel war, sondern auch über die grundlegende Ambivalenz und Unsicherheit: das Changieren zwischen Erheiterung und Angst, zwischen Lähmung und leichtfertiger Hemmungslosigkeit.7 Symbolismus, Rituale und andere Formen kollektiver Aktivität werden relevant, erläutert er, und diese Situationen sind im Wortsinn ›dekonstruktiv‹: destruktiv und konstruktiv zugleich. In dieser Diskussion von Ritual bezieht sich Sewell explizit auf Liminalität. Wie erwähnt, wird dem traditionellen anthropologischen Verständnis entsprechend, die mit Liminalität assoziierte Affektivität durch die sorgfältig inszenierten Rituale erzeugt. Wenn er Liminalität in diesem Kontext diskutiert, vollzieht Sewell allerdings eine perspektivische Wende. Er beobachtet, dass während der Ereignisse im Juli 1789 eine gegenteilige Beziehung zwischen Ritual und Affektivität im Spiel war. Er behauptet nämlich, dass die Affektivität und das kollektive Überschäumen in den Ereignissen selbst »die Anwesenden dazu brachte, ihre Gefühle in Ritualen auszudrücken und zu konkretisieren« (Sewell 1992: 871). Zu diesen Ritualen gehörten Prozessionen, die Siege markierten, und die Zurschaustellung der auf Stangen gespießten Köpfe der geschlagenen Opposition. Für Sewell waren diese Rituale Schlüsselelemente des Etablierens einer semantischen Basis, aus der sich eine neue 7 | In der Vorrede zu seinem Tractatus theologico-politicus stellt der Philosoph Spinoza im 17. Jahrhundert wohlstrukturierte und regelgebundene Situationen solchen des Zweifels gegenüber, in denen Menschen in Bahnen geraten, in denen Regeln nutzlos sind. Bestimmt hatte er jene Kriegszustände und religiös motivierten Konflikte vor Augen, die vor und während seiner Lebenszeit endemisch waren und ihn auch ganz persönlich betrafen. In wohlstrukturierten Umständen, meint er, tendiere das menschliche Wesen dazu, »zuversichtlich, prahlerisch und aufgeblasen« zu sein. »Im Glück« würden »selbst die Thörichten sich so von Weisheit erfüllt halten, dass sie es übel nehmen, wenn man ihnen einen Rath geben will«. Aber im Sog von chaotischeren Umständen würden dieselben Leute »nicht [wissen], wohin sie sich wenden sollen. Dann flehen sie Jedweden um Rath an.« Sie würden »jämmerlich zwischen Furcht und Hoffnung hin und her schwanken, und ihre Seele [ist] deshalb Alles zu glauben bereit« (Spinoza 1670/1870: 2-3). Ich denke, Spinoza will damit sagen, dass dieselben Leute am Übergang zwischen diesen beiden Situationstypen sehr verschiedene Charakteristika zeigen können – etwa widersprüchliche Meinungen, Werte und Gefühle. Ich schlage vor, dass wir Spinozas Situationen von Zweifel und Krise als nicht-inszenierte liminale Situationen auffassen.
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Struktur herauskristallisierte. Anders ausgedrückt, die Rituale halfen, eine neue, kommunizierbare Bedeutung von politischer Revolution und Volkssouveränität herzustellen, die eine diskursive Basis der neuen politischen Ordnung bilden sollte. In anderen Worten: Teil dieses kreativen Prozesses in der liminalen Phase war die Erfindung jener Neuerungen, die wir jetzt für selbstverständliche diskursive Elemente moderner Politik halten. Indem ich inszenierte und nicht-inszenierte liminale Erfahrungen einander gegenüberstellte, habe ich einige ihrer wichtigen Unterschiede betont. Aber letztlich will ich beide als liminal charakterisieren – in jenem allgemeineren Sinn des absichtlich oder zufällig ins Spielbringens einer sensiblen Schwelle des Übergangs mitsamt der gesteigerten Affektivität und Emotionalität des Werdens. Meine Kombination der Konzepte von Affektivität und Liminalität mündet in der Vorstellung von sensiblen Punkten, an denen unerwartete, aber vielleicht auch neue und wichtige Dinge passieren: Punkte, an denen womöglich eine ›kritische Masse‹ erreicht ist (wie KernphysikerInnen von jener kritischen Masse an Uranium 235 sprechen, die zu einer Kettenreaktion führt). Nicht weil sie etwas erklären würden, soll diesen sensiblen Punkten des Übergangs Aufmerksamkeit zukommen. Im Gegenteil, sie zeigen auf Situationen der Möglichkeit, in denen, wie Thomassen (2009: 5) beschrieb, ›das, was passiert‹ potenziell viele unterschiedliche Wege nehmen kann, und das tatsächliche Ergebnis ungewiss ist. Im Konzept der Liminalität, um es nochmals zu wiederholen, geht es darum, den Prozess des Werdens zu verstehen, nicht zu erklären, was schon existiert. Eine wesentliche Unterscheidung zwischen inszenierten und nicht-inszenierten liminalen Erfahrungen ist in diesem Zusammenhang, dass Ritual, Kunst, Theater und so weiter speziell dazu gemacht sind (wenn sie funktionieren, selbstverständlich), um Leute in eine sensible und volatile liminale Zone des Werdens zu ziehen. Wir könnten sagen, dass die Inszenierung dazu dient, Formen des Werdens zu unterstützen und zu ermöglichen, die unter profaneren, gewiss chaotischeren, destruktiveren und unvorhersehbareren Umständen weniger wahrscheinlich wären. Aber diese Kontraste, die ich gerade aufgezeigt habe, weisen auf die Tatsache hin, dass Liminalität nicht einfach als Chaos im Gegenteil zu Struktur und Ordnung zu verstehen ist, sondern eher als ein dritter Begriff zwischen Ordnung und Chaos. Das verweist nicht einfach auf den totalen Zusammenbruch oder die Zerstörung von Ordnung, sondern auf die Außerkraftsetzung von Ordnung: eine Suspension, die für gewöhnlich temporär ist – eine ›Dazwischen‹-Phase vor der Etablierung einer neuen Ordnung (Szakolczai 2000: 218). Es ist eine Phase des Werdens zwischen den Modi des Seins oder eine Phase der Transition zwischen Zuständen. Das bedeutet, dass wir liminale Situationen nicht nur mit den vorhersehbaren Umständen vertrauter alltäglicher Routinen unter wohlstrukturierten Umständen kontrastieren können, sondern auch mit den chaotischen Situationen, in denen Ordnung auf eine völlig unvorhersehba-
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re Weise zusammenbricht. Es ist naheliegend, dass wir unter diese letztere Kategorie die intensiven Grenzerfahrungen in Zusammenhang mit großteils nicht-inszenierten Ereignissen subsummieren: wie plötzliche Krankheit, Unfälle, Naturkatastrophen und Folgen von menschengemachten Katastrophen wie Kriegen. Diese sind ›nicht-inszeniert‹ insofern es sich um abrupte und potenziell zerstörerische Erfahrungen von Transition handelt, deren Effekte nicht zu kontrollieren sind und auf die man sich im Vorhinein nicht adäquat vorbereiten könnte (obwohl einiges an Vorbereitung und Inszenierung immer vorhanden ist). Auf derartige nicht-inszenierte Situationen angewandt, legt das Konzept der Liminalität nahe, dass Menschen – ungeachtet des Chaos’, das an einem bestimmten Punkt eintreten mag – während solcher Grenzerfahrungen Wege finden müssen, mittels neuer Formen von Ordnung wieder Struktur in ihr Leben zu bringen. So gesehen können Menschen sich sogar inmitten einer Katastrophe in einem delikaten und empfindsamen liminalen Zustand befinden. Während totales Ungleichgewicht jegliche Kapazität für Kreativität zerstören mag, entsteht mit dem der Liminalität Ausgesetztsein eine außergewöhnliche Zone, in der die kreativen Kapazitäten des Denkens und Fühlens intakt bleiben. Zugleich sind sie von ihren normalen ›strukturellen‹ Zwängen befreit, sodass sie eine neue Intensität und Spontanität erreichen können. Bei solchen unvorhersagbaren Verschiebungen im organisatorischen Schema muss es, wie es Turner (1995: 69) ausdrückt, »ein – wenn auch noch so kurzes – Intervall geben, eine Schwelle (limen), an der die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben und beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat – ein Augenblick reiner Potenzialität, in dem gleichsam alles im Gleichgewicht zittert.« Ereignisse im Sinne Sewells sind solche liminale Situationen insofern sie produktive/destruktive Lücken sind, Brüche und Risse und Leerstellen der Struktur: die Löcher und marginalen Zonen, in denen Potenzial frei werden kann und in denen wie in einem Schmelztiegel neue Struktur erzeugt wird.
Z urück zum affective turn Diese Betonung des Werdens und des Ereignisses als von Struktur unterschieden ist fundamental für viele derer, die einen affective turn propagieren, besonders für jene, deren Arbeit von Gilles Deleuze inspiriert ist. Brian Massumis (1996, 2002) Kritik der ›textuellen‹ oder ›narrativen‹ Akzentuierung des Sozialkonstruktivismus beispielsweise basiert auf einer solchen Unterscheidung zwischen Ereignis und Struktur (Stenner/Moreno 2013). Massumi insistiert, dass Zugänge, die ausschließlich auf semantischer/semiotischer/narrativer Ebene operieren, soziale Struktur privilegierten und jene uneingeschränkte Intensität ignorierten, die er mit dem Terminus ›Ereignis‹ assoziiert. Diese Unterscheidung prägt auch sein Argument, dass »Emotion und Affekt […]
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unterschiedlicher Logik folgen und unterschiedlichen Ordnungen unterstellt sind« (Massumi 1996: 221). Kurz gesagt, was wir ›Emotion‹ nennen, ist für Massumi immer Teil einer normativ bestimmten Ordnung (der ›Struktur‹ zuzurechnen), durch die ›Affekte‹, die in sich autonom, intensiv, a-subjektiv und unbewusst sind (dem ›Ereignis‹ zuzurechnen), geformt und gezähmt werden. Für Massumi, wie für Turner und Sewell, geht es bei ›Ereignis‹ (und folglich bei ›Affekt‹) um die im Raum stehende Mischung antistruktureller Potenzialität: Eine intensive Quelle der Kreativität und des Werdens, die fortwährend gekapert, normalisiert und eingeschränkt wird – allein aufgrund ihrer Aktualisierung in einer strukturierten Form des Lebens; die aber trotzdem in der Struktur latent vorhanden bleibt – als Potenzial, das darauf wartet, abgerufen zu werden. Das verleitet Massumi zeitweise, Ereignis über Struktur zu erheben, aber in besonneneren Momenten erkennt er die liminale Natur dessen, was er andernorts als eine gesonderte ›Ordnung‹ von Ereignis/Affekt missversteht: »Was in diesem Beitrag mit Affekt bezeichnet wird, ist exakt diese Zweiseitigkeit, die zeitgleiche Teilhabe/Mitwirkung/Beteiligung des Virtuellen im Tatsächlichen und des Tatsächlichen im Virtuellen, indem eines aus dem anderen entsteht und wieder zu diesem andern wird. Affekt ist diese Zweiseitigkeit.« (Massumi 1996: 228) In Übereinstimmung mit manchen anderen Statements Massumis8 ist in der Literatur zum affective turn häufig eine moralisierte Version dieses Unterschieds anzutreffen, der oft ein Antagonismus zur diskursiven Orientierung des Sozialkonstruktivismus zugrunde liegt. Patricia Cloughs Argumentation etwa ist entlang des Kontrasts zwischen autonomem und ›gutem‹, körperlichem Affekt einerseits und vermitteltem und ›schlechtem‹, bewusst durchdachtem Diskurs andererseits organisiert. Sie spricht sich zum Beispiel dafür aus, »semiotische Ketten von Bedeutung und Identität und sprachbasierte Strukturen der Bedeutungsgenerierung« ihrer »privilegierten Position […] zu entheben« (Clough 2010: 223). Sind Bedeutung und Diskurs auf diesem Wege dann verdrängt worden, schlägt Clough vor, sie zu ersetzen durch eine Ontologie von »Phänomenen, die nicht vom menschlichen Bewusstsein, von diskursiver oder sprachlicher Kommunikation abhängen«. So mutet Cloughs Arbeit über Affekt wie eine politische Kampagne gegen das Diskursive (alias Struktur) an, unternommen im Namen ›der Chance für etwas Anderes, Unerwartetes, Neues‹. Das führt eine Denkweise fort, die sich der Destruktion jeglicher 8 | Im selben Beitrag behauptet Massumi (1996: 221) z.B., dass eine seiner »eindeutigsten Lektionen […] ist, dass Emotion und Affekt unterschiedlicher Logik folgen und unterschiedlichen Ordnungen unterstellt sind«. Wenn Affekt eine zweiseitige Teilhabe am Virtuellen und am Tatsächlichen ist, dann sollte er mit Sicherheit nicht mit der einfachen Logik zusammengebracht werden, die das Virtuelle von der strukturellen Logik des Tatsächlichen völlig unterscheidet.
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Form von Struktur verschrieben zu haben scheint. Ich habe in diesem Beitrag immer wieder hervorgehoben, dass ein Vorteil des Konzept der Liminalität ist, dabei behilflich zu sein, unsere Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen Ereignis und Struktur zu lenken und so vor jeglicher Tendenz zu warnen, diese Unterscheidung zu moralisieren oder zu polarisieren. Die Tendenz zu polarisieren ist verständlich, sie kann in beide Richtungen ausschlagen. Jene mit konservativer Disposition, die vom Status quo profitieren, genießen wahrscheinlich Struktur und haben einen Horror vor allem, was ›Ereignis‹ genannt werden kann. Jene, die Opfer ungerechter Strukturen sind, wissen eher die Möglichkeiten eines Ereignisses zu schätzen. Linke Intellektuelle sind folglich dazu prädestiniert, Fluss und Wandel, Werden und Transformation zu feiern, weil sie sensibel für die unterdrückerische, im günstigsten Fall restriktive Natur von praktisch allen Formen sozialer Struktur sind. Turner freilich bewertete Antistruktur und ihre Beziehung zu Communitas hoch, betonte aber auch, dass die Wichtigkeit von Antistruktur in ihrer Beziehung zu Struktur liegt.
L iminalität tr aditionell und modern ? Die positiven Qualitäten von Liminalität/Ereignis/Antistruktur, wie sie Turner, Massumi und Co hervorhoben, müssen sich jedoch nicht materialisieren – und können sich wohl nicht materialisieren ohne die Verwobenheit von beidem: Struktur und Ereignis. Zweifelsohne würden Strukturen ohne liminale Erfahrungen erstarren und ihre Passfähigkeit und Relevanz verlieren. Aber gleichermaßen können die – scheinbar unzähligen – liminalen Erfahrungen ohne soziale Struktur chaotisch und destruktiv sein und nicht Communitas hervorbringen, sondern Konflikt, Spaltung und Konfusion. Anstatt formender Erfahrung, können emotionale Übergänge deformierend sein. Diese Seite von Affektivität negieren Massumi und seine Apologeten fahrlässig, und es ist diese Seite von Affektivität, die wohl mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat, indem sich unsere spätmodernen Sozialsysteme als Folge zusehends unbeschränkter ökonomischer Aktivität (oft in Kombination mit militärischer Macht) taumelnd in Richtung neoliberaler Destrukturierung bewegen. Ein Schlüsselproblem von Massumis Arbeit, und der Literatur zum affective turn allgemeiner, ist in diesem Kontext, dass sie dazu tendiert, einfach Ereignis und Affekt in Opposition zu Diskurs und Struktur zu bejubeln, so als ob Struktur der Tyrann wäre und Ereignis das freie Radikal, das den gerechten Kampf dagegen ficht. In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass die AutorInnen der affektiven Wende in einer neuen Terminologie wiederholen, was faktisch Thema des Diskurses der Moderne ist: Die Idee eines Fortschritts, der jegliche Strukturen oder Muster konkreten Lebens demontiert, die nicht durch eine Kombination von Ideologie, Wissenschaft, Technik, Industrie und ökonomischem
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Wachstum gerechtfertigt sind, und das im Namen eines Wandels zu einer erhebenden Freiheit von willkürlichem Zwang. Aber der Traum von einem reinen, unstrukturierten Leben voller unbelasteter Möglichkeit und intensiver, a-subjektiver Erfahrung kann sich allzu leicht in den Albtraum bodenloser Angst und destruktiven Chaos‹ verwandeln, ein Albtraum zusammengefasst in dem, was Arpad Szakolczai (2000) das Paradox der permanenten Liminalität bezeichnete. An anderer Stelle habe ich erläutert, dass das jüngst boomende Interesse an Affektivität und Emotionen unter Sozialwissenschaftlern mit einem gesellschaftlichen Kontext korrespondiert, in dem liminale Situationen der dauerhaften Sorte (›liminale Hotspots‹) wuchern. Mit einer Metapher von Bob Dylan könnten wir sagen, dass je mehr wir dazu ermutigt werden, zu leben wie rollende Steine, die kein Moos ansetzen, um so eher werden wir uns Bob Dylans Frage aus demselben Song stellen: Wie fühlt es sich an? In Großbritannien gibt es einen Kinder-Reim über einen Mann, der in permanenter Liminalität lebte: Er durchlief in rascher Folge Übergangsriten – wie ein rollender Stein, ohne jegliche Stabilität zwischen den Phasen: »Solomon Grundy: geboren am Montag, getauft am Dienstag, verheiratet am Mittwoch, erkrankt am Donnerstag, schwächer geworden am Freitag, gestorben am Samstag, begraben am Sonntag. Das ist das Ende von Solomon Grundy.« Indem wir das Konzept der Liminalität auf zeitgenössische Gesellschaften ausdehnen, müssen wir feststellen, dass Skepsis gegenüber Riten, Zeremonien und Ritualen – die als primitiv und abergläubisch angesehen werden (obwohl sie in dunklen Winkeln noch zur Genüge existieren) – Bestandteil dessen ist, was ›modern sein‹ bedeutet. War eine Reaktion moderner Gesellschaften, Liminalität in spezielle ›liminoide‹ Sphären wie Kunst oder Sport (vgl. Anm. 2) zu verfrachten, war eine andere gleichermaßen signifikante Antwort, das Ritual durch rationalere und wissenschaftliche Prozeduren zu ersetzen, um die Unsicherheiten und Ambiguitäten von Transition zu handhaben. Wir müssen deshalb das beachten, was man als wissenschaftliche Inszenierung von Liminalität bezeichnen könnte. Diese moderne Technik, Liminalität zu managen, ist weniger offensichtlich, weil sie sich selbst als einfache Wahrheit und nicht als Aberglaube ausgibt, als Verstand und nicht als primitive Emotion. Ed Moreno und ich haben Praktiken der Organspende und -transplantation als interessantes Beispiel dafür diskutiert, wie in nicht-inszenierten liminalen Erfahrungen (der Tod eines geliebten Menschen) Techniken für deren wissenschaftliche Inszenierung (z.B. die Intervention eines Transplantationsteams) aufgeboten werden (Stenner/Moreno 2013). Um die modernen Links zwischen Liminalität und Wissenschaft, auf die ich anspiele, besser zu verstehen, macht es Sinn, auf die Arbeit Michel Foucaults zurückzukommen. Eigentlich ließe sich sagen, dass Foucault selbst Liminalität und Affektivität mittels seines Konzepts der »Grenzerfahrungen« verlinkt. Foucault sprach von der »Idee einer Grenzerfahrung, die das Subjekt von sich selbst losreißt« (Foucault 1996: 27).
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Wie Szakolczai (2000) zeigte, war Foucault intensiv mit diesen Erfahrungen befasst, die in einem gewissen Sinn als Test für die Grenzen der geordneten Realität gesehen werden können. Seine berühmten Arbeiten setzen sich mit Grenzerfahrungen von Krankheit, Wahnsinn und Kriminalität auseinander, aber Foucault interessierte sich besonders für die Frage, wie moderne Disziplinargesellschaften typische institutionelle Antworten auf diese Formen von Liminalität entwickelten, um sie zu handhaben. In vielen seiner Bücher (z.B. 2008, 2011) bringt es Foucault gewissermaßen auf dieselbe Art und Weise auf den Punkt: Er kontrastiert die inszenierte und ritualisierte Performativität vormoderner institutioneller Antworten mit den neuen wissenschaftlichen und rationalen Techniken der Disziplinargesellschaft und ihren sorgfältig kalkulierten und überwachten, maschinenähnlichen Abläufen. Zu Beginn von Disziplin und Strafe, um nur ein Beispiel zu geben, wird die ritualisierte und grausame Exekution von Damien, dem Königsattentäter, 1757 dem Stundenplan und den Regeln eines Gefängnisses einige Dekaden später gegenübergestellt. Damit verweist Foucault auf eine tatsächlich neue Weise, Liminalität im gesellschaftlichen Maßstab zu managen. In der Disziplinargesellschaft wurden solche Grenzerfahrungen und Lebensprobleme vermehrt mit Hilfe, wie Szakolczai (2000: 191) schreibt, einer Technik der Marginalisierung (einem Prozess des »Verschweigens, Leugnens oder des Eliminierens der fundamentalen Erfahrungen menschlicher Existenz«) gehandhabt. Die Kranken, die Wahnsinnigen und die Kriminellen wurden marginalisiert, indem sie abgesondert in Spitälern, Gefängnissen und Asylen verwahrt wurden. Sie wurden von den neuen wissenschaftlichen Disziplinen ›programmiert‹, die auch die neuen Berufsgruppen anleiteten, ihr Wissen anzuwenden. Nach Foucault löste die Disziplinargesellschaft die Souveränitätsgesellschaften in etwa zur Zeit Napoleons ab. Deleuze fasst beide gut zusammen, wenn er schreibt, dass: »Das Individuum wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum nächsten über, jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule (›du bist hier nicht zu Hause‹), dann die Kaserne (›du bist hier nicht in der Schule‹), dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, möglicherweise das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin.« (Deleuze 1993: 254)
Hier ist die Verbindung zu van Genneps Bild von Ereignissen des Übergangs von Struktur zu Struktur klar. Es scheint, dass in Disziplinargesellschaften die fixierten Punkte oder ›Zustände‹ über die Eingliederung in eine disziplinierende Institution stabilisiert wurden. Übergänge finden dann in den Passagen zwischen einem gereinigten institutionellen Raum zu einem anderen statt. Der moderne Solomon Grundy ist am Montag in seinem Elternhaus, am Dienstag in der Schule, am Mittwoch in der Kaserne, am Donnerstag in der
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Fabrik, am Freitag im Krankenhaus, und das Wochenende verbringt er im Gefängnis. Dennoch, wie Deleuze betont, befinden sich diese disziplinierenden Institutionen oder »Einschließungsmilieus« seit Jahrzehnten im Zustand einer dauerhaften allgemeinen Krise. »[J]eder weiß, dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind« (Deleuze 1993: 255). Und er meint weiter, dass neue Formen der Macht in Verbindung mit den »Kontrollgesellschaften« von den disziplinären Kräften längst übernommen haben. Die Verantwortung für die soziale Kontrolle, erläutert er, wird zunehmend an omnipräsente Unternehmen und die mythischen Individuen des neoliberalen Kapitalismus abgegeben. Wenngleich Deleuze nicht Szakolczais (2000) Begrifflichkeit verwendet, ist seine Beschreibung der Kontrollgesellschaften eine Beschreibung einer Gesellschaft in permanenter Liminalität, einer Gesellschaft, in der – um einen Satz von Marx und Engels zu zitieren – »[a]lles Ständische und Stehende verdampft« (Marx/Engels 1972: 465).9 Deleuzes Formulierung lautet »permanente Metastabilität«. In Kontrollgesellschaften, behauptet er, wird »man nie mit irgendetwas fertig« (Deleuze 1993: 257). Indem das Unternehmen die Fabrik ersetzt, müssen Löhne und Arbeitsbedingungen ständig neu verhandelt werden – auf Basis von sich stets verschiebenden Kriterien von Leistung und Vergütung. Ausbildung mutiert zu lebenslangem Lernen und die Rechtsprechung erhält kafkaeske Qualitäten unbegrenzten Aufschubs. Das Krankenhaus-Regime wird von einer neuen Medizin »ohne Arzt und Kranken« ersetzt, die Risiko-Gruppen erfasst und Prävention durch Selbstmanagement betont. Marketing – die niemals endende Verführung – wird zur Seele der Gesellschaft. Deleuze formuliert sehr provokativ, wenn er schreibt, »[d]er Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch« (Deleuze 1993: 260). Und die Verschuldung scheint eine wachsende und permanente zu sein. Zum Teil ist das ein Effekt des politischen und ökonomischen neoliberalen Kontexts mit dem Abbau und der Destrukturierung der staatlichen Gesundheitssysteme, der Wohlfahrt und Justiz mittels aggressiver Programme der Privatisierung und Deregulierung, durchgeführt im Namen der ökonomischen Effizienz. Aber es hat noch tiefere Wurzeln. Es scheint, dass wir jetzt in jedem Subsystem von Gesellschaft auf das treffen, was ich Hotspots permanenter oder andauernder Liminalität nennen möchte. Anstatt dass wir uns durch liminale Phasen von einem strukturierten Zustand in einen anderen bewegen, bleiben wir zunehmend in der Schwebe gefangen: in einem Zustand fortwährenden Übergangs, wie ein rollender Stein, der weder Moos ansetzen noch frei rollen kann. Szenen gesteigerter Affektivität und Emotionalität häufen sich rund um diese Hotspots. Wie alle Formen der Liminalität mag das in mancherlei Hin9 | Im anglo-amerikanischen Sprachraum machte Marshall Berman dieses Zitat durch seinen Buchtitel »All that is solid melts into the air« (1982) bekannt.
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sicht eine aufregende oder sogar berauschende Erfahrung von Freiheit und Möglichkeit bedeuten, vor allem für jene, die davon profitieren. Aber der Amivalenz von Liminalität geschuldet, kann das auch eine erdrückende Falle sein, die mehr und mehr Menschen dazu bringt, sich im Chaos von Angst, Entfremdung und Anomie zu drehen. Wie Victor Turner es ausdrückt: »Liminalität ist sowohl kreativer als auch zerstörerischer als die strukturelle Norm.« (Turner 1995: 73) Wenn sich Liminalität der strukturellen Norm selbst annähert, wird es wahrscheinlicher, dass die destruktiven Kräfte Oberhand gewinnen. In diesem Zusammenhang müssen SozialwissenschaftlerInnen, wenn sie kritisch sein wollen, bestimmt mehr anbieten als den üblichen Ruf nach weiterer Dekonstruktion im Namen theoretischer Erneuerung und zur Feier all dessen, was multipel, inkonsistent und im Fluss ist. Ganz gewiss ist ein neues Mantra des Widerstandes nötig. Aus dem Englischen von Nikola Langreiter
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Die Veröffentlichung der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA) im Mai 2013 war ein lange erwartetes und viel beachtetes Ereignis, über das schon Monate im Vorhinein in den Mainstream-Medien berichtet und diskutiert wurde. Die große Medienaufmerksamkeit beschränkte sich nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika, wo das Handbuch als offizielles Klassifikationssystem gilt und von Klinikern/-innen wie Versicherungsleuten benützt wird; auch die europäischen Qualitätszeitungen und Wochenmagazine berichteten, obwohl das DSM als Regelwerk in Europa wenn überhaupt, nur von geringer praktischer Relevanz für Kliniker/-innen ist.1 Der Medienrummel rund um die Veröffentlichung des DSM-5 2013 war der Höhepunkt eines Prozesses, der sich über mehrere Jahre erstreckte, während derer eine bisher beispiellose öffentliche Konsultation und Beteiligung die Vorbereitung der neuen Auflage begleitete. Der Fortschritt des Werks wurde fortlaufend auf einer offiziellen APA-Online-Plattform dokumentiert, wo die breite Öffentlichkeit eingeladen war, sich mit jenen Arbeitsgruppen bekannt zu machen, die für die Überarbeitung bestimmter
1 | In Großbritannien verwendet das National Health Service (NHS) ein anderes Klassifikationssystem (ICD-10), die Patienteninformationen auf der NHS-Webseite inkludieren eine Seite zu der »Controversy over DSM-5: New mental health guide«/»Kontroverse um DSM-5: Neues Handbuch der psychischen Gesundheit«, mit einem Textkasten, in dem erläutert wird, »Warum das DSM für das NHS wichtig ist«. Der Grund ist, so wird den Patienten/-innen mitgeteilt, dass frühere Auflagen des Handbuchs »einen gravierenden Einfluss darauf hatten, wie [in Großbritannien] über mentale Gesundheit gedacht und wie mit ihr umgegangen wird«, und dass das DSM-5 »womöglich einen Einfluss auf die Kapitel zur mentalen Gesundheit des […] ICD-11 haben wird«. NHS Choices 2013, online unter: www.nhs.uk/news/2013/08august/Pages/controversy-mental-health-diag nosis-and-treatment-dsm5.aspx [Zugriff: 2.12.2013].
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Kategorien von Krankheiten verantwortlich waren.2 In drei Phasen der offenen Konsultation, gestaffelt über drei Jahre, erbat die APA Kommentare, Fragen und Bedenken von Interessierten und forderte breit – von Fachgesellschaften bis zu Patientenvereinigungen – auf, an diesem Prozess zu partizipieren. Öffentliche Sichtbarkeit und öffentliches Feedback waren Schlüsselmerkmale des Prozesses der Erstellung des neuen Handbuchs. Zeitgleich unterhielten prominente Patientenaktivisten/-innen Webseiten, meist in Form von Blogs, beobachteten und kommentierten ihrerseits den Fortschritt der DSM-Arbeitsgruppen und veröffentlichten parallel dazu Neuigkeiten, Informationen und Ressourcen zu anderen relevanten oder verwandten Themen (z.B. über die in Vorbereitung befindliche Überarbeitung des ICD-103). Zumindest ein Teil der Rückmeldungen auf der APA-Seite wurde durch die Arbeit dieser Aktivisten/ -innen bzw. ihre Blogs motiviert und organisiert. Während es für das DSM-5 seit Januar 2010 eine eigene Facebook-Seite gab, betrieb The Committee to Boycott Dsm-5/Das Komitee zum Boykott des DSM-5 seit Februar 2013 auf derselben Plattform eine alternative Seite.4 Edward Davies schrieb zwei Monate vor der Veröffentlichung der Neuauflage in einem Editorial des British Medical Journal: »Es gibt bereits so viele Analysen zu diesem Handbuch, dass sich damit mehrere Journale mehrfach füllen ließen.« (Davies 2013) Ich möchte der enormen Vielzahl an Kommentaren und Analysen mit diesem Beitrag nichts hinzufügen. Vielmehr möchte ich den Fokus der Aufmerksamkeit vom Inhalt des Handbuchs zur Dynamik seines Entstehungsprozesses, des wechselseitigen Dialogs seiner Befürworter/-innen und Kritiker/-innen, verschieben. Insbesondere möchte ich auf den Raum dieses Dialogs als einen affektiven und dynamischen Raum fokussieren, der von konkreten, leiblichen Proponenten/-innen verschiedener Absichten bevölkert ist, aber auch von fantasmatischen Figuren: dem/der imaginierten ›Patienten/-in‹, dem/der imaginierten ›Arzt/Ärztin‹, der imaginierten ›Öffentlichkeit‹. Ich werde vor allem eine Kategorie von Erkrankung diskutieren, die jüngst substanziell revidiert und umbenannt wurde und für die Fragen der Nomenklatur, der Klassifikation und der Diagnose nach wie vor extrem kontrovers und umstritten sind. Die Bezeichnung der Kategorie im DSM-5 lautet Somatic Symptom Disorder/Somatische Symptom-Störung; sie ersetzt was im DSM-IV Somatoform Disorders/Somatofor2 | Vgl. www.dsm5.org/Pages/Default.aspx [Zugriff: 2.12.2013]. 3 | Die aktuelle Auflage des International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD)/Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation (WHO); Anm. d. Übers. 4 | Vgl. https://www.facebook.com/pages/DSM-5-Diagnostic-and-Statistical-Manual -of-Mental-Disorders/260197062886?fref=ts and https://www.facebook.com/TheCommitteeToBoycott5?fref=ts [Zugriff: 2.12.2013].
Neurotic citizenship
me Störungen genannt worden war. Beide Kategorien sind zeitgenössische Derivate des älteren Konzeptes der ›Hysterie‹ – auf einige wichtige Unterschiede zwischen diesen werde ich später in diesem Beitrag noch zu sprechen kommen. Konflikte und Debatten über das DSM als Klassifizierungssystem waren Teil der Geschichte des Handbuchs von seiner Begründung an bis zu seiner dritten Auflage (Decker 2013; Mayes/Horwitz 2005; Kirk/Kutchins 1992). Allem Weiteren schicke ich voraus, dass – abgesehen vom politischen Gezeter über einzelne Diagnosekategorien – die Kontroverse über die Diagnose von Homosexualität das bemerkenswerteste Beispiel dafür ist (Bayer 1981). Während von Historikern/-innen und Soziologen/-innen viel über die Dimension der Konflikte geschrieben wurde, kam der Frage, wie verfahrenstechnische (und politische) Normen der Transparenz, Aufgeschlossenheit, Zusammenarbeit, Verantwortung und Respekt für Diversität in die Produktion des Handbuchs eingebettet wurden, wenig Aufmerksamkeit zu. Diese Normen galten vom DSM-III an – wenngleich eher, um dessen Wissenschaftlichkeit und Beständigkeit abzusichern und weniger, um seinen Entstehungsprozess zu demokratisieren. In raren Analysen dieser Dimension der Herstellung des DSM, haben Sadler (2002a) und Sadler mit Fulford (2004) argumentiert, dass ein klares Bekenntnis zu diesen Werten in den Bemühungen sichtbar wurde, den Prozess und sein Ziel durch Beiträge, Bücher und Tagungen transparent zu machen (und jüngst, wie erwähnt, durch eine webbasierte Schnittstelle), um Input von Wissenschaftlern/-innen und Klinikern/-innen über die Psychiatrie hinaus einzuwerben; Interessensvertretungen zu inkludieren; Arbeitsgruppen zu bilden, die eine Bandbreite von Perspektiven präsentieren; und um Kategorien und Kriterien als Entwürfe kursieren und kommentieren sowie kritisieren zu lassen. Zugleich war dieses Bekenntnis immer ein teilweises und gekennzeichnet von einer tiefgreifenden Ambivalenz, denn viele Aspekte des Prozesses blieben der Überprüfung und dem Input von außen verschlossen (Sadler 2002b). In den Jahren bis zur Publikation des DSM-5 wurde die Frage, ob und wie der DSM-Prozess demokratisch verantwortlich gestaltet werden sollte, explizit gestellt (Sadler 2002a; Sadler/Fulford 2004; Porter 2013) – auch im Zuge einer breiteren Diskussion über die Normativität psychiatrischer Diagnosen (Sadler 2002a, 2004). Manche verwarfen die Idee, Patienten/-innen und deren Familien in den Prozess der Überarbeitung einzubeziehen, als »politisch korrekten Nonsens« (Spitzer 2004). Aber des ungeachtet fanden die Vorbereitungsarbeiten für die Neuauflage in einer politischen Landschaft statt, die durch die aufkommenden gesundheitsbezogenen sozialen Bewegungen signifikant verändert worden war (z.B. Barrett 2004; Brown et al. 2004; Scambler/Kelleher 2006). Verändernd wirkte zudem die Problematisierung der Unterscheidung zwischen Laien und Experten/-innen (Epstein 1995; Prior 2003; Thompson et al. 2012), die sich zur Problematisierung jener Formen medizinischer Rationalität erweiterte, die quantifizierbare Evidenz gegenüber nichtquantifizierbaren
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Patientenerfahrungen, -werten und -präferenzen privilegieren (Cronje/Fullan 2003). Diese Entwicklungen trugen zum Gefühl bei, dass die diagnostischen Kategorien selbst sich in einem Prozess der ›Reklassifizierung‹ befänden, den westlichen politischen Vorstellungen entsprechend, eher als politische und ethische, denn als natürliche Kategorien (Bowker/Star 1999). Vor diesem weiten Hintergrund möchte ich im Folgenden den Diskurs rund um Somatic Symptom Disorder/Somatische Symptom-Störung (und unmittelbar verwandte Kategorien) untersuchen, indem ich mich auf einen Vorschlag des politischen Theoretikers und Foucault-Schülers Engin Isin (2004) beziehe. Zusammenfassend argumentiert Isin, dass neoliberale Politik zunehmend von etwas ergänzt wurde, das er »neuropolitics« (Neuropolitik) nennt – eine Form der Politik, der die Annahme vorausgeht, dass Subjekte ›neurotisch‹ sind und welche die Individuen dazu ermutigt, sich selbst als »neurotic citizens« zu konstituieren. Es mag unangebracht scheinen, sich zeitgenössischen Debatten über psychiatrische Klassifikation mit der Referenz auf Neurose anzunähern – also über einen Begriff, der vielen Lesern/-innen als obsolet missfallen wird. Das Konzept der Neurose hat seinen wissenschaftlichen Anspruch verloren und stellt heute gewiss keine formell anerkannte Diagnose dar. Es entspricht nicht jenem neo-Kraepelinschen Zugang, der – wenigstens vordergründig – seit über 30 Jahren, seit der Veröffentlichung der dritten Auflage des DSM 1980 (Decker 2013, 2007; Horwitz 2002), die psychiatrische Klassifikation geprägt hat.5 Diesem Aus-der-Zeit-sein kommt ein spezifischer Wert zu, denn es suggeriert einen Raum, der gewissermaßen außerhalb der Arena aktuell laufender Streitigkeiten über spezifische Termini, Konzepte und Diagnosen liegt. Mittlerweile ist die Neurose ein dermaßen anachronistisches medizinisches Konzept, dass es eine relativierende Distanziertheit ermöglicht, eine Entfernung von der Gegenwart – eine Heterotopie. Isin entwickelt die Konzepte der »neuropolitics« und des »neurotic citizen« (des/der neurotischen Bürgers/-in) als ein Gegenstück zu den Analysen der 5 | Der ›neo-Kraepelinsche‹ Zugang zu psychiatrischer Klassifikation (benannt nach dem deutschen Psychiater Emil Kraepelin, 1856-1926), den die Architekten des DSMIII wählten, betont die Wichtigkeit von Beobachtung und lehnt ätiologische Spekulation ab. Innerhalb dieses Zugangs sind beobachtbare Muster von Symptomen (anstelle von z.B. psychodynamischen Mechanismen) zentral für Klassifikation und Diagnose. Seine Privilegierung der Beschreibung gegenüber der Erklärung ist Grundlage des Kritikpunkts, dass die DSM-Ausgaben von III fortlaufend ›a-theoretisch‹ seien. Kritiker/-innen dieser Ansicht haben wiederum herausgestrichen, dass das Handbuch ›Psychiatrie medizinischen Modells‹ propagiere, eine Psychiatrie, die implizit biologische Erklärungen privilegiere, ohne zu erkennen, dass dies eine Form der theoretischen Selbstverpflichtung mit sich bringt (Porter 2013); siehe Decker (2007, 2013) für eine umfassende Diskussion des Kraepelin’schen Theorieerbes und deren Beziehung zum DSM-III.
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neoliberalen Regierungsformen, insbesondere zu jenen in der Tradition von Gouvernementalität (z.B. Burchell/Gordon/Miller 1991; Rose 1989, 1999; Dean 1999; O’Malley 2000). Die zentralen Erkenntnisse dieser Analysen sind bekannt, ich werde sie hier nicht im Detail wiederholen. Um zusammenzufassen: Neoliberales Regieren wird als Regierungsform präsentiert, die auf sich selbst regierenden Individuen beruht, die sie auffordert, sich angesichts der multiplen Möglichkeiten, über die sie verfügen, und der Risiken, denen sie ausgesetzt sind, als rationale Subjekte zu verhalten. In Pat O’Malleys Worten wird von den Subjekten der neoliberalen Gouvernementalität erwartet, dass sie »ihre Autonomie pflegen und erhalten, indem sie Informationen, Materialien und Praktiken zu einer persönlichen Strategie verknüpfen, die ihr dem Leid Ausgesetztsein identifiziert und minimiert« (zit. lt. Isin 2004: 221). Ihre Freiheit besteht in eben der Fähigkeit des rationalen Kalkulierens und Entscheidens. Zusehends sind sie ›verpflichtet‹, diese Fähigkeit zu üben (Rose 1989) – in einem Umfeld, das durch den progressiven Rückzug des Staates und die Privatisierung von Dienstleistungen gekennzeichnet ist sowie durch einen kulturellen Wandel, der die Bürger/-innen zunehmend zu ›Kunden/-innen‹ macht – in jedem Lebensbereich, von der Bildung bis zum Gesundheitswesen. In der Literatur zu Gouvernementalität ist die typische Charakterisierung des Subjekts, an das sich neoliberale Regierungsformen richten, auf dessen Fähigkeit zur Kalkulation, rationalen Entscheidung und Autonomie konzentriert. Affektivität und Emotion spielen in dieser Charakterisierung keine Rolle. Aber zunehmend – argumentiert Isin – sind Affektivität und Emotion Teil verschiedener Regierungspraktiken, die die Befürchtungen, Ängste und Unsicherheiten adressieren, die Subjekte in einem sozialen Klima erfahren, das von multipler und radikaler Ungewissheit geprägt ist – z.B. in Bezug auf die Ökonomie, auf die Umwelt oder ihre eigenen Körper. »Neoliberales Regieren ist eine Regierungsform, die Subjekte als affektive Wesen anspricht. Innerhalb des neuropolitischen Regimes sind Individuen dazu aufgerufen, ihr Verhalten nicht durch ihre Gewohnheit, kühl zu kalkulieren anzupassen, sondern durch Besänftigung, Beschwichtigung, Beruhigung und v.a. durch das Bewältigen von Ängsten und Unsicherheiten« (Isin 2004: 226). Das neurotische Subjekt wird also nicht als abnorm oder deviant dargestellt, sondern eher als ein ›Objekt der Beruhigung‹. Das reflektiert die Anschauung, dass Ängste als normaler Teil des Lebens anzusehen sind und eher zu managen als zu beheben. Zunächst eine Überlegung zur engen Verwandtschaft, welche die Figur des neoliberalen Subjekts mit jener des neurotischen Subjekts aus Isins Beschreibung verbindet: Das neoliberale Subjekt ist »suffizient, überlegt, verantwortlich, autonom und unbelastet« (Isin 2004: 217), das neurotische Subjekt hingegen »jemand, der ängstlich, unter Stress und zunehmend unsicher ist, sowie angehalten, mit seinen Neurosen fertig zu werden« (ebd.: 225). Weit davon entfernt, wechselseitig exklusiv zu sein, implizieren diese beiden Fi-
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guren einander, mehr noch: produzieren einander (ebd.: 232). Die Figur des neoliberalen Subjekts ist eine neurotische Fantasie, ein idealisiertes Selbst, charakterisiert durch perfekte Autonomie und perfekte Fähigkeiten bezüglich Rationalität und (Aus-)Wahl. Der neoliberale Diskurs fördert diese neurotische Fantasie und stärkt sie auf einer kollektiven Ebene, das heißt, dass es sich um eine normative Fantasie handelt. Die Anforderungen und Erwartungen an Individuen im Namen dieser idealisierten Form von Subjektivität sind ›heroische‹ – sie beinhalten eine Überbewertung der tatsächlichen menschlichen Fähigkeiten und des Bewältigungsvermögens. Der/die neoliberale Bürger/-in ist in seiner Idealform ein/-e ›bionische/r‹ Bürger/-in – ein Supermensch hinsichtlich seiner Ambitionen und seiner Kontrollfähigkeit (und folglich seines Wohlergehens). Dieses neurotische Subjekt könnte sich quasi als die Kehrseite der neoliberalen Medaille offenbaren. Die beiden Figuren stehen in einer »spannungsreichen Beziehung zu einander« (Isin 2004: 223). Das ängstliche Subjekt ist jenes, das zugleich nach Perfektion strebt – nach perfekter Information, perfekter Gesundheit, perfekter Autonomie – und unausweichlich daran scheitert, diese Erwartungen zu erfüllen. Diese Aussagen lassen klar Isins Rückgriff auf Karen Horneys Beschreibung von Neurose erkennen. Dort wird Neurose als ein Bewältigungsmechanismus verstanden, der sich entwickelt, um elementare Ängste zu handhaben. Für Horney (1950) ist die neurotische Person von ihren eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen entfremdet und steckt all ihre Energien in die Realisierung eines idealen, falschen Selbst. Das geradezu unvermeidliche Scheitern, diesem Ideal zu entsprechen, erzeugt Selbsthass, Selbstverachtung und letztlich mehr Angst. Ähnlich dem Ausmaß, in dem neoliberale Regierungsrationalität der Fantasie eines/-er ›bionischen Bürgers/-in‹ verpflichtet ist, werden die Ängste und Unsicherheiten des neurotischen Subjekts als unvermeidbares Nebenprodukt dieser Fantasie auftreten. Sie können deshalb nicht als vorübergehende pathologische Zustände erachtet werden. Im neuropolitischen Regime, das das neoliberale begleitet, konstituieren diese Ängste und Unsicherheiten das Subjekt deshalb nicht als abnorm oder deviant, sondern – Isin zufolge – als ein Objekt der Beruhigung. Der verantwortungsvolle »neurotic citizen« ist der, der sich selbst als neurotisches Subjekt anerkennt (wenngleich meistens in jenem limitierten Sinn, einer neurologischen Spezies anzugehören), und der soziale und kulturelle Investitionen tätigt, um seine Ängste zu bewältigen. Unter diesem Regime konstituiert nur die Unterlassung, Angst als das anzuerkennen, was sie ist, und die Unterlassung, Angst zu managen, das Subjekt als wirklich deviant. In Summe ist die neurotische Subjektivität für Isin gleichzeitig ein Modus der Interpellation und der subjektiven Selbstkonstitution von Individuen als ängstliche, gestresste Wesen; aber sie ist auch ein konkreter Existenzmodus, ein Nebenprodukt der kollektiven Fantasie von dem/der bionischen Bürger/-in – einer Fantasie, die innerhalb der
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neoliberalen Regierungsregimes subjektive Ambitionen und sozio-materielle Praktiken strukturiert. Im Feld der gesundheitsbezogenen Diskurse und Praktiken ist der Aufstieg eines neuropolitischen Regimes, wie es Isin beschreibt, ohne weiteres nachvollziehbar. Im Folgenden werde ich verschiedene Aspekte dieser Entwicklung illustrieren, indem ich die Problematisierung von ›Somatisierung‹ in Bezug auf drei unterschiedliche Kontexte berücksichtige: Der erste und weiteste ist der soziokulturelle Kontext der Spätmoderne; er wird vermittels des Wandels des Konzepts ›Gesundheitswahn‹ untersucht. Der zweite Kontext ist jener des Arztbesuchs aufgrund ›unerklärter Symptome‹ im Bereich der medizinischen Grundversorgung. Der dritte Kontext ist jener der psychiatrischen Klassifikation, genauer: der Wandel von Somatoform Disorders/Somatoformen Störungen (DSM-IV) zu Somatic Symptom and Related Disorders/Somatischen Symptom- und verwandte Störungen (DSM-5).
D er W andel des ›G esundheitswahns ‹: von der K ritik zum S ymp tom In jenen Dekaden, in denen der Neoliberalismus die globale Vorherrschaft übernahm, migrierte das Konzept des ›Gesundheitswahns‹ vom soziologischen Diskurs in den der klinischen Wissenschaftler/-innen und aus der Funktion, für Sozialkritik zu sorgen, wurde jene, klinische Richtlinien zur Verfügung zu stellen. In der folgenden Analyse, die auf dem close reading eines im British Medical Bulletin 2004 publizierten Beitrages beruht, nähere ich mich dem klinisch (re-)definierten Konzept des Gesundheitswahns als einem Symptom einer aufziehenden neuroliberalen Ordnung. ›Gesundheitswahn‹ wurde ursprünglich von Robert Crawford in seinem vielzitierten Artikel Healthism and the medicalization of everyday life/Gesundheitswahn und die Medikalisierung des Alltags (Crawford 1980) als ein soziologisches Konzept geprägt, als Teil einer marxistischen Kritik an der neoliberalen Restrukturierung der US-amerikanischen Gesellschaft. Crawford beschrieb den Gesundheitswahn als eine säkulare und klassenspezifische Ideologie ähnlich einer Religion, in der Gesundheit zum Äquivalent von Erlösung wird. Seiner Ansicht nach bestand das Problem des Gesundheitswahns darin, dass er Gesundheitsprobleme und deren Lösung »prinzipiell […] als Angelegenheiten der persönlichen Kontrolle« (Crawford 2006: 408) definierte. Das ging zu Lasten der Beachtung sozialer Determinanten und der Suche nach kollektiven Lösungen. Im folgenden Jahrzehnt wurde das Konzept des Gesundheitswahns von Wissenschaftlern/-innen in der Tradition der Gouvernementalität aufgegriffen, die – durch Foucaults Arbeit geschult – ziemlich differente (wenngleich verwandte) Analysen anstellten. Bekanntlich war eines der Markenzei-
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chen dieser Tradition, das Konzept ›Ideologie‹ insofern zurückzuweisen, als es die Existenz einer fundamentaleren oder essenziellen ›Wahrheit‹ implizierte, die mit Hilfe der Ideologien maskiert und verzerrt würde. Im Gegenteil wurde ›Wahrheit‹ als durch Diskurse konstituiert aufgefasst – ein Konzept, das für Foucault sozio-materielle Praktiken inkludierte. Dementsprechend galt Gesundheitswahn weder als klassenspezifische Ideologie, die ein falsches Bewusstsein befördert, noch als das funktionale Äquivalent von Religion, sondern vielmehr als eine klassische Ausdrucksform neoliberaler Regierungsformen, in denen der Imperativ des Entscheidens mit dem Sichverlassen auf den Expertendiskurs (d.h. den ›wahren‹ Diskurs) einhergeht. In diesem Kontext wurde Gesundheit nur als eines unter mehreren anderen Feldern aufgefasst, in denen Individuen aufgefordert sind, als freie (aber rationale) Subjekte zu agieren. Der Schwerpunkt der Analyse lag auf den umfassenderen Konnotationen von Gesundheit im Neoliberalismus, in dem gesunde Körper eine neue Art von Sichtbarkeit erlangten und eine neue Art von Bedeutung als materieller Ausdruck der von den Individuen getroffenen Entscheidungen. Es wurde behauptet, dass ein gesunder Körper oder ein auf das Streben nach Gesundheit ausgerichteter Körper, zum objektiven Zeugen für ein Subjekt bzw. für dessen Fähigkeit, als freie/-r und rationale/-r Akteur/-in zu funktionieren – also ein Subjekt, das für die vollständige Partizipation in der neoliberalen Polis qualifiziert ist. Wir überspringen eine Dekade und sehen, dass in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts das Konzept Gesundheitswahn abermals auf ganz andere Weise diskutiert wird – etwa von zwei Autoren in einem medizinischen Journal, Professor für medizinische Grundversorgung der eine, der andere ein prominenter Psychiater. Unter dem Titel »Health for me«: A socio-cultural analysis of healthism in the middle classes/»Gesundheit für mich«: Eine soziokulturelle Analyse des Gesundheitswahns in den Mittelschichten präsentieren die Autoren Gesundheitswahn als ein Phänomen, »das viele Fachleute in den Gesundheitsberufen als allgemeines, zunehmend unbeherrschbares und persönlich aufreibendes Problem sehen: nämlich die Ansichten, das Verhalten und die Erwartungen der sprachgewandten, gesundheitsbewussten und wohlinformierten Mittelschichten« (Greenhalgh/Wessely 2004: 197). In diesem Kontext wird Gesundheitswahn zu einem klinischen Problem und zu einem der öffentlichen Gesundheit, zu einer besonderen, eigenständigen Form der Pathologie – typisch für demokratisch ermächtigte Patienten/-innen, die sich berechtigt fühlen, die Expertenmeinung infrage zu stellen, auf Basis von falschen Ansichten, befeuert von pseudowissenschaftlichen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Informationen, oder sogar ausschließlich auf Basis von Selbstbewusstsein hinsichtlich des evidenten Werts ihrer subjektiven Erfahrung. Durch eine Serie von Falldarstellungen, erstellt mittels einer Synthese realer klinischer Fälle und deren Fiktionalisierung, zeichnen Trisha Greenhalgh und Simon Wessely ein lebendiges Bild solcher Charaktere und ihrer Ansprüche. Explizit
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assoziieren sie Gesundheitswahn mit der Ausbreitung von sogenannten neuen »Krankheiten der Moderne« – unter den referierten Beispielen finden sich unter anderen Fälle chronischen Erschöpfungssyndroms oder myalgischer Enzephalomyelitis (CFS/ME) und multipler chemischer Sensitivität (MCS). Die Autorin und der Autor betonen, dass das (konfrontative) Verhalten und jene Ansichten rund um die Krankheitsursache – die mitunter die Patienten/-innen charakterisieren, die ihre Krankheit in Begriffen von CFS/ME oder MCS beschreiben – typischer für Mittelschicht-Patienten/-innen sind. Obwohl die Symptomgruppen, die mit diesen Krankheitskonzepten verbunden sind, in unteren sozioökonomischen Schichten genauso häufig, wenn nicht häufiger vorkommen. In diesem Ansatz ist der Gesundheitswahn gewissermaßen redefiniert: Das Konzept bezieht sich nicht mehr auf ein kulturell vorherrschendes Phänomen, das auf kapillarer Ebene das Funktionieren einer allgemeineren Machtlogik zugleich reflektiert und verstärkt. Stattdessen bezieht es sich auf die problematischen und irrationalen Exzesse des Strebens nach Gesundheit seitens mancher Individuen, denen bestimmte (Mittelschicht-)Charakteristika, inklusive eines hohen Niveaus des Gesundheitswissens und des Zugangs zu Information, gemein sind. Durch diese engere Definition ist der ›gute‹ oder ›adäquate‹ Gesundheitswahn (und das damit einhergehende Modell von Subjektivität) von Kritik ausgenommen und implizit als kulturelle Norm bestätigt. Das ist wichtig, denn während Greenhalghs und Wesselys Studie scharfsinnig hinsichtlich des (Wieder-)Einbringens der Kategorie für die Analyse von Gesundheitswahn ist, arbeiten sie mit einem rein deskriptiven und paradox individualisierten Verständnis von Klasse, das die systemischen Determinanten des Phänomens nicht kohärent erfassen kann. Als Teil ihrer Analyse der verantwortlichen Faktoren weisen die Autorin und der Autor auf eine breite kulturelle und politische Verschiebung in Richtung ›Patientenermächtigung‹ hin (einschließlich verwandter Vorstellungen wie Gemeinsamkeit und Reziprozität, Patientenzentriertheit, Partnerschaft und Patientenentscheidung) sowie auf die aufstrebende Figur des rationalen, reflexiven und entschlossenen Selbst als Trope und Produkt der Spätmoderne. Und wiederum ist die Bedeutung dieser Konzepte in einem weiteren Rahmen von Machtbeziehungen, die durch eine spezifische Rationalität des Regierens geprägt sind, kein Thema: Auf Basis von Literatur über klinische Erkenntnisse wird die Patientenermächtigung als eine fundamental positive und emanzipatorische Entwicklung präsentiert, deren (einziger?) Nachteil ist, dass sie Raum für das »fordernde und manipulative Verhalten« devianter Individuen schafft, für Individuen, »denen ›Gesundheit für mich‹ über jeglichen Ideen von Gleichheit, Fairness oder Bürgersinn geht« (Greenhalgh/Wessely 2004: 207). Wenngleich Greenhalgh und Wessely Gesundheitswahn als Mittelklassephänomen beschreiben, bieten sie keine soziologische oder klassenbasierte
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Analyse an. Eine solche Analyse – die ich hier keinesfalls anstrebe, sondern nur anrege – würde womöglich zu berücksichtigen haben, wie spezifische emotionsgeladene Zugänge und Verhaltensweisen aus strukturellen Klassenbeziehungen entstehen. Diese sollten nicht bloß aus von fixierten (Klassen-) Positionen ausgehend verstanden werden, sondern auch als Ergebnis konjunktureller Trends und anderer makrosoziologischer Veränderungen im Lauf der Zeit, die bestimmen, ob eine bestimmte Gruppe hinsichtlich Macht und Status auf- oder absteigt, im Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit und zu anderen Gruppen in der Gegenwart. Auf theoretischer Ebene ist ein solcher Zugang am Beispiel des Zusammenhangs von Klasse und Ressentiment von Jack Barbalet (2001) entwickelt worden. Barbalet bezog sich seinerseits auf Thomas Scheffs Analyse der Eskalation von Anfeindung durch wechselseitiges Ressentiment zwischen Gruppen (1990). Scheffs Theorie zufolge können Wut oder Ressentiment aus verdrängter Scham infolge von Zurückweisung entstehen. Solche Spiralen der Scham und Wut können in und zwischen Interakteuren entstehen, auf einem individuellen oder kollektiven Niveau – von direkter persönlicher Interaktion bis hinauf zur Ebene von internationalen Beziehungen zwischen Staaten.6 Im Lichte solcher Theorien fällt es schwer, Greenhalghs und Wesselys Studie über Gesundheitswahn nicht als Ausdruck des Ressentiments gegen den Typus des/der neuerdings ermächtigten Patienten/-in zu lesen, der/die sich über medizinische Experten/-innen ärgert, weil diese ihre Autorität über den Zugang zu Versorgung bewahren und darüber, was als valides Wissen gilt. Eine historisch sensible klassenspezifische Analyse, die wie bei Barbalet eine Soziologie der Emotion einbezieht, bietet möglicherweise auch Erklärungsansätze zum ansteigenden Niveau von Scham/Schamgefühl und (Gesundheits-)Angst in den ›Mittelklassen‹.7 Eine solche Angst steht z.B. womöglich in Verbindung mit der Proletarisierung der Klasse der leitenden Angestellten (Derber 1983; Coburn 1994; Wilson 1991), mit beispielloser Unsicherheit und Prekarität der Angehörigen einer sukzessive ›ausgepressten Mitte‹ im Zusammenhang der gutdokumentierten strukturellen Bedingungen expandierender Ungleichheit. Wenngleich Greenhalgh und Wessely die Relevanz ökonomischer Globalisierung und wachsender Ungleichheit für das Verständnis von Gesundheitswahn anerkennen, bleibt dies auf die Beobachtung beschränkt, dass der Gesundheitswahn Resultat sei von »enorm gestei6 | Nationalismus und Krieg sind die Kontexte, in denen Scheff diese Theorie entwickelt (Scheff 1990). 7 | Die erste Aufgabe einer klassenbasierten Analyse von Gesundheitswahn könnte in diesem Sinn sein, das Konzept von ›Mittelklasse‹ weiter zu spezifizieren, insbesondere im Licht der jüngsten Debatten, die traditionelle Linien der Klassentrennung in Großbritannien problematisierten lines of class demarcation (Savage 2007; Savage et al. 2013).
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gertem Konsumentenbewusstsein und Erwartungen hinsichtlich Gesundheit, Körperimage und Lebensstil« unter jenen, die es absolut und global gesehen »noch nie so gut hatten« (Greenhalgh/Wessely 2004: 202, vgl. 200). Wie gesagt: Mein Ziel ist hier nicht, jene klassenbasierte Analyse nachzuliefern, die Greenhalghs und Wesselys Studie vermissen lässt. Vielmehr geht es mir darum, die Beziehung zu untersuchen, die ihre Analyse unausgesprochen zwischen ›Gesundheitswahn‹ und einem anderen heiklen klinischen und gesundheitspolitischen Problem herstellt, nämlich der ›Somatisierung‹. Die Parallelen zwischen den beiden Konzepten sind in der Tat auffallend. Die während der letzten 25 Jahre am breitesten akzeptierte Definition von Somatisierung stammt von Zbigniew J. Lipowski. Demnach ist Somatisierung »eine Tendenz, somatische Leiden und Symptome zu erleben und zu kommunizieren, für die keine medizinische Ursache gefunden wurde, diese auf körperliche Krankheiten zu attribuieren und für diese medizinische Hilfe zu suchen« (Lipowski 1988: 1359). Lipowski meint, dass Somatisierung sowohl in westlichen als auch in anderen Gesellschaften weit verbreitet und nicht notwendigerweise abnorm ist, ähnlich wie Greenhalgh und Wessely einräumen, dass der Gesundheitswahn Teil einer umfassenderen »Gesundheitskultur« ist, deren Protagonisten/-innen »auch weit außerhalb des Bereichs der Medizin zu finden sind« (Greenhalgh/Wessely 2004: 210). Somatisierung wird nur zu einem signifikanten klinischen und gesundheitspolitischen Problem, wenn »Individuen, die dazu disponiert sind, ihrer somatischen Leiden auf körperliche Krankheit zurückzuführen und folglich medizinische Diagnose und Behandlung suchen, insbesondere, wenn sie das weiterhin tun, obwohl Ärzte ihnen versichern, dass ihre Symptome sich nicht durch eine körperliche Krankheit erklären lassen.« (Lipowski 1988: 1359)
Ähnlich gilt Greenhalghs und Wesselys Sorge den Auswirkungen des Gesundheitswahns auf die Arztbesuche, die dann oft, wie sie behaupten, »mit einer schlechten (oder wenigstens herausfordernden) Arzt-Patient-Beziehung assoziiert werden, was wiederum eine häufige Quelle von Irritation und Stress für die Spezialisten ist. [Gesundheitswahn] ist überraschend wenig erforscht, aber desungeachtet wichtig, nachdem er das Potenzial birgt, die Versorgung im Gesundheitswesen zu verzerren und zu unnötigen Untersuchungen und Behandlungen zu führen.« (Greenhalgh/ Wessely 2004: 210)
Obwohl Lipowski Somatisierung mittels dreier »essenzieller Komponenten« definiert, nämlich der Erfahrung, der Kognition und des Verhaltens, ist Somatisierung – wie das obige Zitat andeutet – nur aufgrund der letzten beiden ein »medizinisches oder psychiatrisches Problem« (Lipowski 1988: 1359). Diese Betonung der beobachtbaren Dimensionen der Somatisierung als medizinisch
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oder psychiatrisch relevant, ist konsistent mit jenem ›deskriptiven‹ Zugang, den die Architekten des DSM-III wählten. Die Beziehung, die Greenhalgh und Wessely zwischen Gesundheitswahn und verschiedenen umstrittenen Krankheiten wie CFS/ME oder MCS herstellen, macht eine ähnliche Trennung der Erfahrung vom Kognitiven/vom Verhalten offensichtlich.8 Wie schon festgestellt, assoziieren die Autorin und der Autor Gesundheitswahn (als ein Set von Ansichten, Erwartungen, Haltungen und Verhaltensweisen) explizit mit einem »bemerkenswerten Anstieg der sogenannten ›Krankheiten der Moderne‹«(Greenhalgh/Wessely 2004: 209). Zugleich unterscheiden sie die »Symptomgruppen und Krankheitsentitäten«, die mit diesen Erkrankungen verknüpft sind, von der Tendenz, diese mit Etiketten wie CFS/ME zu versehen, und der Tendenz, auf allen Ebenen medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (ebd.: 203). In anderen Worten, die erfahrungsmäßige, körperliche Komponente von Krankheiten wie CFS/ME wird von ihren kognitiven und verhaltensbezogenen, sozialen und kulturellen, ›gesundheitswahnmäßigen‹ Dimensionen separiert und ausgeklammert. Wir werden sehen, dass diese Trennung in signifikanter Weise die Revision der DSM-III und SM-IV Kategorie Somatoformen Störungen in Somatische Symptom-Störung für das DSM-5 vorwegnimmt. Während Greenhalgh und Wessely Gesundheitswahn explizit mit Konsumismus verlinken – und besonders mit der Vorstellung demonstrativen (Gesundheits-)Konsums –, verbinden sie an keiner Stelle ihrer Analyse Gesundheitswahn explizit mit Somatisierung. Dennoch sind die Verbindungspunkte und Überlappungen zwischen ihrer (Re-)Definition von Gesundheitswahn und Lipowskis Definition von Somatisierung bemerkenswert und in mehrerlei Hinsicht spezifisch. Das Muster, in dem Konsumismus explizit angesprochen wird, während Bezugnahmen auf Somatisierung implizit bleiben, scheint kein zufälliges zu sein.9 Die Veränderungen in Zusammenhang mit der neuen politischen Gesundheitsökonomie haben das Konzept Somatisierung zusehends unrentabel gemacht, denn Patienten/-innen als Konsumenten/-innen finden seine Konnota-
8 | Zu »umstrittenen Krankheiten« siehe Dumit 2006; für eine Kritik zum Gebrauch dieser Terminologie seitens der Sozialwissenschaftler/-innen siehe Greco 2012. 9 | Es sollte angemerkt werden, dass die Autorin und der Autor sich auf eine Reihe von »Werken verschiedener Traditionen über Gesundheitswahn« berufen, um eine Zusammenfassung »der verschiedenen Folgen des Phänomens Gesundheitswahn« zu bieten (Greenhalgh/Wessely 2004: 199). Von den Texten, die sie in diesem Zusammenhang zitieren, geht es in keinem über Gesundheitswahn als solchen, in keinem wird auch nur der Begriff verwendet. Während sich die meisten um Konsumismus im Gesundheitswesen oder um Medienberichterstattung über gesundheitsbezogene Risiken drehen, ist einer dieser Texte der Somatisierung gewidmet.
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tionen beleidigend und inakzeptabel.10 Greenhalgh und Wesselys Neudefinition von Gesundheitswahn als klinisch signifikantem Phänomen, lässt sich, wie ich meine, als ein Beleg für die »soziale Iatrogenesis« der Somatisierung in diesem neuen Kontext lesen.11 Ihre Studie fügt dem Verständnis von Somatisierung etwas hinzu, indem sie die verstärkenden Effekte des gestiegenen Risikobewusstseins beschreibt sowie jene des Gesundheitswissens, der Teilprofessionalisierung und der Patientenermächtigung hinsichtlich Ansichten, Einstellungen und Verhaltensweisen, die nach Lipowski typisch für Somatisierende sind. Zugleich wird die Problematik der Somatisierung (wieder-)eingeführt und ebenso ihre Verbindung mit einer Reihe von umstrittenen Krankheiten – ohne Referenz auf den aktuellen Terminus und dessen politisch brenzlige Konnotationen. Insofern Greenhalghs und Wesselys Ausführungen zum Gesundheitswahn Psychologie involvieren – das Modell eines für gesundheitswahnmäßige Ansichten, Einstellungen und Verhaltensweisen empfänglichen Subjekts –, ist diese Psychologie nahe dran, die gesundheitswahnsinnigen Individuen als neurotische zu beschreiben. Aber wiederum gehen sie nicht so weit, diesen Terminus zu gebrauchen. Die Autorin und der Autor zitieren Maslows Theorie der Bedürfnishierarchie (Maslow 1943, 1981), um die Mittelschichtspezifik des Gesundheitswahns zu belegen: Jenen, deren Bedürfnisse befriedigt sind, behaupten sie, mag das Streben nach Gesundheit zum Vehikel der Selbstaktualisierung durch »körperliche Erfüllung und ästhetische Perfektion des Körpers« (Greenhalgh/Wessely 2004: 205) werden. Die Unzufriedenheiten und Konflikte, die mit dem Gesundheitswahn als einem System von Anschauungen, Verhaltensweisen und Einstellungen verbunden sind – Eigenschaften, die die Autorin und der Autor durch ihre Vignetten so gut vermitteln – werden dem Faktum zugeschrieben, dass in ihrer Lesart von Maslow, das Bedürfnis der Selbstaktualisierung an sich nicht befriedigbar ist, weil »die Erfahrung der Selbstaktualisierung den Wunsch nach mehr stimuliert« (ebd.: 204). Das ist eine verwunderliche und paradoxe Lesart von Maslows Theorie, die schlicht10 | Für eine Untersuchung des offensiven Potenzials verschiedener Begrifflichkeiten, die Kliniker/-innen verwenden, wenn sie unerklärte Symptome, die durch keine biomedizinische Erkrankung belegt sind, beschreiben, siehe Stone et al. (2002). Wenngleich die Autoren ›Somatisierung‹ nicht getestet haben, ist der Terminus im Englischen ähnlich konnotiert wie der offensivere Ausdruck, der in die Studie einbezogen und auf dieser Basis kritisiert worden ist (Crombez et al. 2009; Sharpe/Mayou 2004). 11 | Das Konzept der »sozialen Iatrogenesis« wurde von Ivan Illich in Die Enteignung der Gesundheit (1975) eingeführt und von Lisa A. Page und Simon Wessely (2003) in einem Beitrag über iatrogene Faktoren, die Arzt-Patient-Konsultationen aufgrund unerklärter Symptome belasten, wieder aufgegriffen. Unter der Rubrik »soziale Iatrogenesis« diskutieren Page und Wessely das Potenzial des iatrogenen Einflusses von Patienten-Selbsthilfegruppen, erwähnen Gesundheitswahn aber nicht.
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weg ›Mittelschicht‹ mit der Befriedigung der höheren Bedürfnisse in der Hierarchie gleichsetzt. Hier ist das Streben nach Selbstaktualisierung nicht unterscheidbar vom Streben nach unrealistischen Idealen, was per definitionem bedeutet, dass es auch eine Quelle ständiger Frustration ist. Auf derselben Linie liegt die Behauptung, dass Gesundheit im Kontext einer Gesundheitswahn-Kultur ein ›neurotisches Ideal‹ konstituiert, ein unrealistisches Bestreben, das (für manche Individuen mehr als für andere) als eine Verteidigung gegen grundsätzliche Angst funktioniert, während es zugleich weitere Angst erzeugt. Diese kohärentere Aussage mag in Horneys Theorie der Neurose angelegt sein, sie inspirierte Maslows Theorie und ist mit dieser auch kompatibel. Wir könnten uns wieder fragen, warum Greenhalgh und Wessely sich dafür entscheiden, Gesundheitswahn als einen Ausdruck der Tendenz zur Selbstaktualisierung zu interpretieren und nicht als einen Ausdruck neurotischer Bedürfnisse. Und eine, wiederum spekulative, Antwort mag lauten, dass sie jede explizite Referenz auf das (nunmehr medizinisch archaische und kulturell suspekte) Konzept der Neurose lieber vermeiden, wenngleich dieses Konzept natürlich im Hintergrund von Maslows Theorie lauert. Gesundheitswahn als Ausdruck der Tendenz zur Selbstaktualisierung darzustellen, erlaubt der Autorin und dem Autor – wenigstens oberflächlich –, die Vorstellung zu bewahren, dass gesundheitsbesessene Individuen Menschen sind, »die es noch nie so gut hatten«, und nicht Individuen, deren persönliche neurotische Muster möglicherweise durch eine pathogene Umwelt aktiv verstärkt werden – und im Speziellen durch (frustrierte) Erwartungen ›bionischer‹ Performanz in Verbindung mit ihrem neoliberalen Dilemma. Betont sollte werden, dass solche Erwartungen in die Regierungsrationalität als Gesamtsystem eingebettet sind und als solche mitbestimmen, was Individuen von Ärzten/-innen und von ›der Medizin‹ erwarten sowie was sie von sich selbst oder ihre Arbeitgeber/-innen von ihnen erwarten. Der breitere Kontext von Erwartungen – verstärkt und fortgesetzt durch die Fantasie eines/-er bionischen Bürgers/-in, genährt durch neoliberale Regierungsformen – ist präzise das, was Isin uns im Konzept des »neurotic citizen« erläutert: »… das neurotische Subjekt will das Unmögliche. Es will absoluten Schutz. Es will absolute Sicherheit. Es will den perfekten Körper. Es will Ruhe. Es will Gelassenheit. Es will das Unmögliche. Nachdem ihm dieses Unmögliche versprochen wurde, kann das Subjekt seine Illusionen nicht angehen. Also artikuliert das neurotische Subjekt neurotische Forderungen. Alle seine Wünsche werden in Rechte verwandelt […] Der neurotic citizen entwickelt eine intensive Aversion gegen die Erkenntnis, dass er im Streben nach diesen Rechten entweder der Notwendigkeit oder der Angst unterworfen sein soll.« (Isin 2004: 232)
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Während dieser breitere soziale Kontext vielleicht zu Recht als jenseits des eigentlichen Bereichs der Medizin angesehen wird, macht Greenhalgh und Wesselys Analyse diesen Kontext als Teil jenes Problems, das sie zu beschreiben suchen, definitiv unverständlich. Um zusammenzufassen: In Greenhalghs und Wesselys Verständnis von Gesundheitswahn ist die Figur des neoliberalen Subjekts – eines, das vermeintlich gestresst, ängstlich und affektgeleitet ist, und das »angehalten ist, seine Neurosen zu managen« (Isin 2004: 232) – in einem doppelten Sinn impliziert. Einerseits und sehr ausdrücklich ist da der/die Konsumist/-in und somatisierende Patient/-in, dessen Neurose genährt wird durch eine Über-Fülle von (Fehl-)Informationen, gepaart mit dem sozialen und moralischen Imperativ, auf seine Gesundheit zu achten. Andererseits verweist die Beschreibung auch auf die Affektivität des Fachpersonals in Gesundheitsberufen, für die der Gesundheitswahn ein »persönlich aufreibendes Problem« ist. Die Aufforderung, sich selbst als gestresstes und ängstliches Subjekt zu erkennen, dessen Affektivität (Selbst-)Management nötig hat, bezieht sich folglich nicht allein auf Patienten/-innen, sondern auch auf Fachleute im Gesundheitsbereich, die gleichermaßen Subjekte neoliberaler Regierung sind. Sollten einerseits gesundheitswahnsinnige Individuen lernen, ihre Erwartungen, ihre Forderungen und Ängste hinsichtlich körperlicher Symptome, die sie wahrnehmen mögen, zu managen, sollten andererseits die Gesundheitsfachleute lernen, solche Individuen als Typ zu erkennen, um über ihre eigenen Gefühlen der Irritation und des Stress’ erhaben zu sein und so ihre Begegnungen mit solchen Patienten/-innen rational und effizient zu handhaben.
N euroliber ale S ensibilität und die F r age der S omatisierung In der vorangehenden Diskussion von Gesundheitswahn als klinischer Angelegenheit und als Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit haben wir gesehen, wie Bürger/-innen als neurotische Subjekte konstituiert werden, unter Bezugnahme auf ihre Ansichten, Einstellungen und Verhaltenswiesen, die sie ihren Symptomen und der medizinischen Profession gegenüber an den Tag legen. Wir haben gesehen, dass das Attribut der neurotischen (d.h. gestressten, ängstlichen) Subjektivität nicht auf Patienten/-innen beschränkt ist, sondern sich auch, wenngleich minimal, auf die Subjektivität der Fachleute in den Gesundheitsberufen in ihrer Begegnung mit solchen Patienten/-innen überträgt. Darüber hinaus habe ich argumentiert, dass Greenhalghs und Wesselys Redefinition von Gesundheitswahn auf dessen Ursachen in sozialen iatrogenen Faktoren hindeutet, die relevant für das Problem der Somatisierung sind und zwar indem sie – wenngleich implizit – eine neue Sensibilität spiegelt.
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Im positiven Sinn ist diese Sensibilität bewusst und aufmerksam hinsichtlich der Präferenzen und Rechte der Patienten/-innen und dementsprechend zurückhaltend mit Etikettierungen, die von Patienten/-innen als stigmatisierend empfunden werden. In einem weniger positiven Sinn ist diese Sensibilität misstrauisch gegenüber Patienten/-innen als neu ermächtigtem Kreis/ermächtigter Wählerschaft und folglich ängstlich und defensiv, sich ihnen zu widersetzen oder von ihnen zurückgewiesen oder bloßgestellt zu werden. Wie wir gesehen haben, ist in Greenhalghs und Wesselys Analyse des Gesundheitswahns die Bezugnahme zu Somatisierung implizit; die neue Sensibilität kann nur durch eine Analyse zweiter Ordnung erkannt werden. Aber anderswo hat sich in etwa während der letzten Dekade ein reflexiver, kritischer Diskurs über Somatisierung entwickelt, der diese neue Sensibilität recht deutlich zu illustrieren vermag. Dieser Diskurs dreht die Frage der Somatisierung sozusagen um und präsentiert das Phänomen als Effekt von Dynamiken während einer ärztlichen Beratung, wo es – wenigstens zum Teil – die Sorgen und Ängste der Ärzte/-innen eindämmt (eher als jene der Patienten/-innen). Das Konstrukt der Somatisierung implizierte traditionell die Annahme, somatisierende Patienten/-innen könnten nicht psychologisch denken und seien auf die somatischen Erklärungen ihrer Symptome festgelegt. Diese Annahme findet sich in Lipowskis ursprünglicher Definition von Somatisierung, der zufolge »die Befundung und folglich die Bedeutung der erfahrenen Symptome in Begriffen einer aktuellen oder behandelten Erkrankung oder Beschädigung des Körpers erfolgen muss, damit der Begriff angewandt werden kann« (Lipowski 1988: 1359). Eine Serie von Studien, die in etwa zur gleichen Zeit wie Greenhalghs und Wesselys Arbeit publiziert wurde, zog den axiomatischen Status dieser Vorannahme in Zweifel und testete sie empirisch mittels der Analyse von Arztbesuchen aufgrund unerklärter Symptome im Bereich der medizinischen Grundversorgung – mit überraschenden Resultaten (Ring et al. 2005; Salmon et al. 2006; Salmon et al. 2007). Eine Untersuchung beispielsweise zeigte, dass Patienten/-innen mit unerklärten Symptomen ihren Ärzten/-innen viele und mannigfaltige Gelegenheiten boten, um ihre Beschwerden nach psychologischen Kriterien zu identifizieren. Obwohl Patienten/-innen unmissverständliche Hinweise auf emotionale und soziale Probleme gaben, wurden diese von den meisten Ärzten/-innen abgeblockt – auf unterschiedliche Weisen: indem der Hinweis ignoriert wurde, indem er normalisiert wurde (»Das ist Pech, nicht wahr?«), indem die Verantwortung des/der Patienten/-in für das Problem herausgestellt wurde oder indem das Thema der Somatik wieder geltend gemacht wurde: »Indem sie in Reaktion auf die Erklärungshinweise der Patienten symptomatische Behandlung zur Verfügung stellten, Untersuchungen oder Überweisungen anordnen, ›somatisierten‹ Ärzte diese Patienten de facto.« (Salmon et al. 2004: 175) Die Autoren merken an, dass klinische Konsultationen »somatisierende Effekte« hätten (Ring et al. 2005) und plädieren für eine weitere Er-
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forschung der Motivationen für die somatisierenden Reaktionen auf Patienten/ -innen (Salmon et al. 2006; Salmon et al. 2007). Vorschläge zum Wesen dieser Motivationen deuten auf multiple Quellen der Angst von Ärzten/-innen hin, wenn sie mit Symptomen konfrontiert werden, die sie nicht erklären können: Diese reichen von der Sorge, eine bestehende körperliche Erkrankung zu übersehen, verbunden mit befürchteten Rechtsstreitigkeiten und medialer Aufmerksamkeit (Fink/Rosendal/Olesen 2005), bis zu Gefühlen der Unzulänglichkeit und Machtlosigkeit gegenüber Manifestationen psychologischen Leidens beim Arztbesuch (Wileman/May/Chew-Graham 2002; Chew-Graham/May/Roland 2004). Das sich verändernde Kräfteverhältnis in der Arztpraxis wird in dieser Literatur explizit als Quelle negativer Emotionen in Bezug auf Patienten/-innen mit unerklärten Symptomen genannt (Wileman/May/Chew-Graham 2002). In dieser Problematisierung traditioneller medizinischer Praktiken/Diagnosen können wir sowohl positive wie negative Aspekte dessen sehen, was wir als neue Sensibilität rund um Somatisierung bezeichnet haben. Einerseits werden die Interessen der Patienten/-innen anerkannt, andererseits die negativen Emotionen und Ängste der Ärzte/-innen im Kontext der Patientenermächtigung und bezüglich ihrer eigenen Grenzen reflexiv bestätigt. In den oben zitierten Beispielen von Forschung, liegt die Betonung eher auf der Figur des Arztes/der Ärztin, denn auf der des des/der Patienten/-in als »jemandem, der ängstlich, unter Stress, zunehmend unsicher und gefordert ist, seine Neurosen zu managen« (Isin 2004: 225). Indem sie die Zuschreibung von Angst umkehren, verweisen die Erkenntnisse aus dieser Literatur schlicht auf das, was in psychoanalytischer Terminologie als Dimension der Gegenübertragung in der klinischen Interaktion beschrieben werden könnte. Aber der Kontext dieser Problematisierung unterscheidet sich sehr von einem psychoanalytischen: Die Angst soll nicht durch spezialisierte Mechanismen oder Prozesse analysiert oder gelöst werden, die Anforderung lautet vielmehr, sie rundweg anzuerkennen und (selbst) auf einer individuellen und symptomatischen Ebene zu managen. Dieses Beispiel illustriert einen anderen Aspekt von Isins Beschreibung des »neurotic citizen«, nämlich wie die Problematisierung von (in diesem Fall) Somatisierung »in einem Zyklus […] überlappender Phasen gefangen ist«: ein Zustand, der überhaupt erst von den neurotischen oder bionischen Erwartungen aufgebracht wurde und dem dann »eine neurotische Problematisierung dieses Zustandes im Zuge der Suche nach Lösungen« folgt, die »geradezu eine neurotische Antwort auf die Neurose ist, und infolge dessen neue neurotische Subjekte hervorbringt (nämlich jene, die [somatisierende] Subjekte betreuen)« (ebd.: 228). Isin identifiziert auch eine dritte Phase, die er als »Neuropolitisierung und Neuromedikalisierung« beschreibt. Diese Phase ist »gekennzeichnet durch eine wachsende Attraktion der neurogenetischen Wissenschaft und der angeschlossenen neurochemischen Industrie« (ebd.), die die Suche nach Problemlösung bestimmt.
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Ähnliche Muster weist jene Diskussion der Veränderung in der Nomenklatur und Klassifikation der Somatisierung im DSM auf, der ich mich im folgenden und letzten Abschnitt zuwende. Die Figur des »neurotic citizen« wird hier dazu dienen, die Aufmerksamkeit – über den Inhalt der diagnostischen Revisionen, die im DSM-5 erfolgten, hinaus – auf die Dynamik zu lenken, die in den Entwurf und seine unmittelbare Rezeption eingegangen ist.
V on S omatoformen S törungen zur S omatischen S ymp tom -S törung : eine S pir ale der politischen K orrek theit und der politischen E mpörung Die Geschichte der Problematik der Somatisierung im DSM reflektiert die Geschichte des Handbuchs selbst. Wie wir gesehen haben, ist diese Geschichte von der dritten Ausgabe an geprägt durch eine radikale Beseitigung psychodynamischer Erklärungen – wahrscheinlich allzu einfacher Erklärungen. Ein Nachhall des Freud’schen Erbes und eine dringende Empfehlung der psychologischen Ätiologie ist in der Kategorie der Somatoformen Störungen im DSM-III und DSMIV zu erkennen. Der Terminus ›somatoform‹ impliziert, dass diese Störungen in der Form von etwas Somatischem auftreten, während es sich faktisch um psychische Störungen handelt. Ähnlich verweist der Begriff ›Konversion‹ in Konversionsstörung (eine Subkategorie Somatoformer Störungen) auf die Freud’sche Auffassung, dass psychische Energie in ein somatisches Symptom umgesetzt werden kann. Anders als in der Psychoanalyse jedenfalls, liegt die Betonung im DSM-III und DSM-IV eher auf der ›medizinisch unerklärten‹ Natur dieser Symptome, einem der Schlüsselkriterien der Diagnose dieser Kategorie, denn auf der Fülle der psychischen Bedeutung oder auf dem Inhalt der Symptome selbst. Wie viele Kommentatoren/-innen bemerkt haben, ist der ›medizinisch unerklärte‹ Charakter der Symptome ein rein negatives diagnostisches Kriterium, basierend auf dem Absenten (organische Faktoren) und nicht auf dem Präsenten. Diese beiden Elemente der Kategorie der Somatoformen Störungen – das Andeuten einer psychischen Ursache und die Betonung auf dem Ausschließen organischer Faktoren – waren über mehrere Jahre Gegenstand der Kritik. In Kombination implizieren sie, dass psychische und organische Ursachen einander ausschließen und prolongieren so einen überkommenen Körper/GeistDualismus. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass die Konnotation der psychologischen Ursache typischerweise für jene Patienten/-innen inakzeptabel ist, die dazu tendieren, ›somatoform‹ so zu interpretieren, dass eine solche Krankheit keine richtige Krankheit ist, weil sie sich ›nur im Kopf‹ abspielt. Während in den letzten zehn Jahren die Revision der DSM-IV Kategorie der Somatoformen Störungen debattiert wurde, nahm die psychiatrische Literatur häufig Bezug auf das Akzeptanzproblem der Diagnose durch die Patienten/-innen. Patienten/
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-innen wurden ausdrücklich zu einem neuen Publikumstyp des DSM erklärt, und die Rezeption einer Diagnose ihrer Klassifikation und deren Implikationen wurden als wichtige Faktoren beschrieben, die in Vorschlägen zur Revision zu berücksichtigen seien (Sharpe/Mayou 2004; Mayou et al. 2005; Kuhl/Kupfer/ Regier 2011). Wenigstens zum Teil als Reaktion auf diese Bedenken wurde auf den Terminus ›somatoform‹ und die Referenz auf ›unerklärte‹ Symptome jetzt verzichtet. Das bedeutet die substanziellste Revision dieser Kategorie von Erkrankungen seit 1980. Die Betonung hat sich verschoben: von einer Absenz biomedizinischer Erklärung (negatives Kriterium) zur Präsenz von ›abnormen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen‹ in Reaktion auf die Symptome – egal, ob diese biomedizinisch erklärt sind oder nicht. Deshalb ist es jetzt möglich eine Somatische Symptom-Störung zu haben, selbst wenn die somatischen Symptome in Verbindung mit einem zugrundeliegenden biomedizinischen Hintergrund (z.B. Krebs) stehen – sofern die Reaktion auf diese Symptome ›abnorme Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen‹ beinhaltet. Darüber hinaus ist es jetzt möglich, unter einem Zustand wie CFS/ME, IBS oder Fibromyalgie (Weichteilrheumatismus) zu leiden, ohne dass dieser zur Störungen in einem psychiatrischen Kontext wird – so lange die Reaktion auf diese Zustände nicht ›abnorme Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen‹ beinhaltet. In der Intention der Arbeitsgruppe, die die alte Kategorie Somatoforme Störungen revidierte, waren diese Veränderungen dazu gedacht, den der Kategorie inhärenten Geist/Körper-Dualismus zu korrigieren, der als Quelle der Stigmatisierung und des Widerstands der Patienten/-innen aufgefasst wurde. Die Überarbeitungen haben sozusagen das Spielfeld nivelliert: Sie subsummieren Patienten/-innen mit konventionellen (›echten‹) Krankheiten und solche mit ›unerklärten Symptomen‹ unter eine Kategorie. Somit haben sie den potenziellen Aufgabenbereich der Diagnose extrem ausgedehnt. Die Reaktionen von unterschiedlichen Interessensvertretern/-innen sind kritisch ausgefallen. Die folgenden Beispiele sind Antworten auf Frances Beitrag im British Medical Journal (2013) entnommen: »›Überbesorgt‹ zu sein, weil man, sagen wir, an Krebs leidet, hat jetzt als mentale Störung zu gelten. Was würde dann der Meinung der Psychiater nach, als gesunde Reaktion auf eine schlechte Diagnose gelten? Freude? Wird das ›neue Normal‹ fordern, dass jede einzelne natürliche menschliche Reaktion auf Unglück durch einen regungslosen und wahrscheinlich betäubten Zustand emotionalen Wohlbefindens zu ersetzen ist? Das ist wahrlich eine schöne neue Welt.« (Erica Verrillo, freie Medizinautorin Williamsburg, Massachusetts, USA)
In solcherart Kritik kommt eine gesellschaftliche Sorge über die Ausdehnung des Einflusses der Psychiatrie zum Ausdruck. Während mindestens einer Dekade wurde die Zunahme psychiatrischer Diagnosen und die Herabsetzung
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diagnostischer Grenzen (wie im Fall der Somatischen Symptom-Störung) als eine fortschreitende »Medikalisierung des menschlichen Daseins« (z.B. Chodoff 2002; Rapley/Moncrieff/Dillon 2011) kritisch hinterfragt. Ich möchte hier diesen Lesarten nicht widersprechen, sondern diese Kritik in einem breiteren Kontext, Isin folgend, als neuropolitische Argumentation betrachten. Indem Angst vor Symptomen medikalisiert wird, sanktioniert die neue Kategorie der Somatischen Symptom-Störung das einerseits negativ mit einer psychiatrischen Diagnose; andererseits legt sie einen diskreten, verschlüsselnden und kostenbewussten Umgang mit Angst nahe. Die überarbeitete Kategorie ermittelt einen weit größeren Pool an Patienten/-innen als potenziell neurotische Subjekte und fordert diese zugleich auf, ihre Ängste und Ansprüche zu managen. Zentrale Konsequenz ist, dass Patienten/-innen nicht ihre Forderungen nach Medikamenten oder nach psychiatrischer Aufmerksamkeit managen sollten (beides ermöglicht die Kategorie, Patienten/-innen widersetzen sich dem allerdings oft), sondern vielmehr ihre Forderungen hinsichtlich unstrukturierter, nicht einkalkulierter klinischer Zeit, wie die folgenden kritischen Reaktionen andeuten: »Wie viel Not darf ein Krebspatient haben? […] Meine Patienten sind schon jetzt oft besorgt, dass sie – sehen andere Leute ihren körperlichen und emotionalen Nöte – riskieren, als negativ, nicht zurande kommend, ›schwach‹ wahrgenommen zu werden oder den Kummer der anderen um sie herum zu steigern, für den sie sich ohnehin schon schuldig fühlen. Es scheint wahrscheinlich, dass diese Zurückhaltung, ihre Sorgen zu äußern und sich Unterstützung zu holen, sich verstärken wird, wenn wir sie mit einer weiteren besorgniserregenden medizinischen Diagnose belasten, mit einer, die ihre Selbstzweifel zu bestätigen scheint. Es gibt schon jetzt zahlreiche Belege dafür, dass Krebspatienten den Spezialisten nicht ihre tatsächlichen Sorgen mitteilen […], und es besteht die Gefahr, dass die Angst vor einer psychiatrischen Diagnose das verstärken wird.« (James H. Brennan, Klinischer Psychologe, National Health Service/University, Bristol, England) »Die Psychiatrie sperrt sich nun, uns zwei Monate zu geben, um über den Tod eines geliebten Menschen hinweg zu kommen. Wie lange planen sie uns zu geben, um über den drohenden Verlust des Lebens, chronische Schmerzen etc. hinweg zu kommen, über eine Verletzung oder Krankheit, die zu Invalidität führt? Werden sie mit einer Skala ankommen? Vielleicht drei Monate für ein ganzes Bein; sieben Wochen für einen größeren Teil des Beins; zweieinhalb Wochen für einen Daumen und zehn für eine Hand. Danach erstatten Sie bitte der psychiatrischen Abteilung Bericht hinsichtlich der erfolgten Gedanken-Reform – entweder ›kognitiv verhaltensmäßig‹ oder die chemische Variante. Herr steh’ uns bei. Konkurrierende Interessen: Ich unterstütze Arbeiter, denen medizinische Hilfe und Invalidenrente verweigert wurde. Ich nehme auch Pillen wie jeder gute Amerikaner.« (Johanna Ryan, Anwaltsassistentin, Elfenbaum Evers & Amarilio, 940 W. Adams, Chicago IL 60607)
Neurotic citizenship »Das ist überhaupt nicht unterstützend. Das entspricht medizinisch dem, einem weinenden Patienten eine Packung Taschentücher hinzuknallen. Das heißt: ›Bitte sei ruhig und höre auf, dich zu beschweren‹.« (Joan S. Crawford, CEng MSc MA, Forscherin und Patientenanwältin, Neurosupport, Liverpool und Chester ME Self Help, Chester, England)
Hinsichtlich solcher Reaktionen mag es ironisch erscheinen, dass die Revision der Kategorie Somatoforme Störungen – zumindest teilweise – explizit von der doppelten Sorge um Rechte und Präferenzen der Patienten/-innen bzw. diese nicht zu missachten beeinflusst und motiviert war. Das öffentliche Bild dieser Sorge war sehr rational, formuliert in Begriffen der ›Patienten-Zentriertheit‹ und der demokratischen Verantwortung. Aber hinter den Kulissen – in anonymisierten qualitativen Interviews mit Forschern/-innen oder durch kurze Bezugnahmen in medizinischen Publikationen – wurde, wie wir gesehen haben, oft auf die Angst der Spezialisten/-innen angespielt, diese manchmal auch explizit benannt. Kliniker/-innen, inklusive jenen, die sich an der betreffenden DSM-5-Arbeitsgruppe beteiligten, wissen um öffentliche und medial ausgeschlachtete Fälle, wissen von Kollegen, die von Aktivisten/-innen verfolgt und bedroht werden. Wie im oben dargestellten Diskurs über Somatisierung, ist deshalb die Problematisierung von Somatoformen Störungen in Somatoforme Symptom-Störung in einem Kreislauf von überlappenden Phasen gefangen: Erstens sind da (neurotische) Patienten/-innen mit einem durch ihre Symptome hervorgerufenen Angstzustand; darauf folgt im Zuge der Suche nach Lösungen eine neurotische Problematisierung dieses Zustands – eine »neurotische Antwort auf die Neurose«, wie es Isin formuliert (2004: 228). Manche Kritiker/-innen meinten, die Revision stand unter dem Druck realer oder imaginierter Patienten/-innen, was in Kriterien mündete, die »politisch korrekt aber wissenschaftlich inkorrekt« (Shorter 2013) sind. Psychodynamisch informierte Kritiker/-innen interpretieren die neue Diagnose explizit als der Gegenübertragung Tür und Tor öffnend: »Als Melanie Klein vom zu dem Zeitpunkt neuen Konzept der ›Gegenübertragung‹ […] erfuhr, bemerkte sie, dass es eine Versuchung von Psychotherapeuten repräsentierte, ihre eigenen psychologischen Probleme ihren Klienten zuzuschreiben. SSD könnte ein ähnliches Problem für Ärzte mit sich bringen. […] [Die Diagnose] repräsentiert die Versuchung, menschlicher Schwäche zu erlauben, die medizinische Praxis zu beeinflussen. Konkurrierende Interessen: M.E. Patient und Rechtsanwalt.« (Peter Kemp, Berater, Teddington)
In diesem Sinn werden Spezialisten/-innen, auch die Architekten/-innen der neuen Diagnose, ihrerseits als ›neurotische Subjekte‹ angesprochen, deren Angst in der neuen Kategorie (ihrem Gebrauch) reflektiert wird, approbiert durch den demokratischen Prozess von Feedback und Kommentierung. In an-
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deren Worten: Der Spieß wurde umgedreht: Im Vordergrund stehen jetzt die Motivationen und »exzessive Gedanken, Gefühle und Emotionen« von Klinikern/-innen gegenüber ihren (angenommen) überängstlichen Patienten/-innen.
S chluss In diesem Beitrag habe ich eine Lesart der zeitgenössischen Problematisierung von Somatisierung durch die Brille von Engin Isins Konzept des »neurotic citizen« vorgeschlagen. Meine Intention war dabei nicht, eine psychodynamische Erklärung von kollektiven und sozialen Prozessen zu liefern, die z.B. auf Freud’schen Annahmen über die Struktur der menschlichen Seele basiert. Die ›Wahrheit‹ über den »neurotic citizen« liegt nicht in den verborgenen Strukturen des menschlichen Geistes, sondern an der Oberfläche des Diskurses: Es ist wahr, dass Individuen aufgefordert sind, über sich zu sprechen, um sich selbst als brauchbare Bürger/-innen des neoliberalen/neuroliberalen Gemeinwesens zu konstituieren. Es ist bezeichnend, dass die Aufforderung an der Oberfläche des Diskurses nicht im Namen von ›Neurose‹, sondern vielmehr im Namen eines ganzen Spektrums von symptomatisch definierten Störungen ergeht, die im Idealfall pharmazeutischer Intervention zugänglich sind. Mit dem Wiederaufgreifen des Begriffs ›Neurose‹ hofft Isin nicht nur, die Rückbesinnung auf die spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen dieser Symptome zu erwirken, sondern auch zu zeigen, wie diese heute Teil der ›neuro-liberalen Gouvernementalität‹ sind: eine Form des Regierens durch Neurose. Da das Konzept des »neurotic citizen« die affektive Dimension des neoliberalen und neuroliberalen Subjekts anspricht, ermöglicht es die Verknüpfung des Diskursiven, des Affektiven und des Vitalen. Damit wird insbesondere berücksichtigt, dass Dynamiken der bürgerlichen und politischen Partizipation sich in körperlichen Dynamiken der Somatisierung niederschlagen können. Die von mir hier präsentierte Analyse weist auf diese Möglichkeit hin, ihre ausführliche Erkundung bleibt einer nächsten Gelegenheit vorbehalten. Aus dem Englischen von Nikola Langreiter
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I feel good! Über Paradoxien des Wohlfühl-Imperativs im Wellness-Diskurs Elisabeth Mixa
Gegenstand sind im Folgenden Transformationen in der Alltagskultur rezenter westlicher Gesellschaften, in denen sich Selbstverständlichkeiten umgestalten: durch plakative Neologismen und wohlige Alliterationen, emotional aufgeladene Verheißungen, die Wünsche und Sehnsüchte abendländischer Existenzweisen in der sogenannten Wohlstandsgesellschaft anrufen – quer zu Sozialstruktur und Geschlecht, durch versteckte Imperative und das Selbst transformierende Praktiken, die sogar im postfordistischen Alltag Zeit und Ort finden: Wellness. Der Beitrag setzt sich mit den unterschiedlichen Dimensionen des Wellness-Diskurses1 auseinander und fokussiert auf Paradoxien des Wohlfühl-Versprechens. Jenseits des zweifelsohne angenehmen Einzelgebrauchs von Wellness-Angeboten und deren individueller Bewertung, wird Wellness als eine neue ›Ästhetik des Seins‹, als Existenzkunst, die mit transformierenden Praktiken verbunden ist, und als hegemonialer Diskurs westlicher Gesellschaften verstanden. In einem sich kontinuierlich verbreiternden und verzweigenden Netz an neuen Angeboten und Lifestyle-Moden entfalten sich Entspannungstechnologien, selbstoptimierende Praktiken, in virtuellen Welten. Wellness ist ein spätmoderner Anstandsdiskurs, ein Transformationsdiskurs mit Transfigurationen und Transzendentalem, ein Diskurs, der ein Dispositiv, ein WohlfühlDispositiv 2 konfiguriert. 1 | Zum Begriff des Diskurses vgl. Michel Foucault (u.a. 1991: 9-49); zur Methodologie der Foucault’schen Diskursanalyse v.a. Philipp Sarasin (2003: 10-60). 2 | Foucault meint mit Dispositiv »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst« und weiter: »[d]as Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann« (Foucault 1978: 119f.). Diese »Formationen« haben »strategische Funktion« in einer Gesellschaft, wobei deren »Hauptfunktion« zu einem gegebenen
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Wellness wird zunächst im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet und in einer dichten Beschreibung als Verhalten und Verhältnisse gestaltender relevanter Diskurs nachgezeichnet (I), um dann auf die damit in Verbindung stehenden Unwohlgefühle und die sie formenden Praktiken und Artefakte einzugehen (II). Schließlich wird das Wellness-Narrativ in einer kulturanalytischen Perspektivierung mit seinen zentralen Figurationen anhand exemplarischer Bildanalysen veranschaulicht (III). Dem folgt eine Theoretisierung, wobei Ausführungen zum Wohlfühl-Dispositiv die Thesen pointieren (IV).3 In Form eines post scriptums erfolgt schließlich ein Ausblick in Unwohlgefühlen (V.).
I. W ellness – ein spätmoderner A nstandsdiskurs Der mit den 1990er Jahren im deutschen Sprachraum einsetzende WellnessBoom kann als gesellschaftlich relevanter Diskurs in actu betrachtet werden. Diskurs wird hier verstanden als eine Anordnung von Wissen, eine Formation, zentriert um die Verbreitung von Vorstellungen, Selbst-Technologien, Lebens- und Gefühlsweisen.4 Damit verbunden ist ein sich verdichtender Prozess der Produktion von Bedeutungen, rekurrierend auf Life Sciences, reproduziert in Bildern, in präskriptiven Texten, Räumen, Begrifflichkeiten, unterschiedlichsten Artefakten und Praktiken. Mit erhöhten Erwartungen an (Gefühls-) Zustände5 und der Vorstellung einfacher Machbarkeiten – einer Revitalisierung im Tagtraumraum –, geht eine implizite Ausgrenzung von notwendiger
historischen Zeitpunkt darin besteht, auf einen Notstand, eine »urgence« zu antworten (ebd.). Hier wird in Anschluss an Gilles Deleuze (1991) die Ereignishaftigkeit innerhalb des Dispositivs genauer untersucht. Nähere Ausführungen zum Wohlfühl-Dispositiv vgl. auch Schroeter 2006. 3 | Die hier vor- und angestellten Überlegungen basieren auf einer lang jährigen Forschung zum Thema, welche unter anderem vom FWF –Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (»Body&Soul«, Wien, 2000-2003) sowie durch maecenia (»Die therapeutische Gesellschaft. Von Wohl- und Unwohlgefühlen in der Gegenwartskultur«, Frankfurt a.M., 2012) gefördert wurde. Erste Thesen wurden in Sauer/Knoll (2006) veröffentlicht. 4 | In meinen methodologischen Ausführungen beziehe ich mich insbesondere auf Michel Foucault (1986: 9-45). 5 | Beispielsweise ist die Wellness-Rhetorik in Wort und Bild voll von Ultimativem und von Superlativen. Das Heilsversprechen von Wellness stellt schließlich Paradiesisches in Aussicht.
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Mühsal im Sinne des Lebens als Entwicklungsprozess einher, zu dem die Bewältigung von Konflikten ebenso gehört wie Leid und Krankheit.6 Der Wellness-Diskurs7 umfasst eine Fülle an Praktiken und Selbsttechnologien. Es sind dies Praktiken der Verbesserung, der Prävention, der Intensivierung und Optimierung, der Öffnung und Introspektion, der (kathartischen) Reinigung,8 des Selbstmanagements in Form von (Selbst-)Coaching und insbesondere Praktiken der Emotionsmodulation, des mood-management. Sie zielen auf den Körper als Medium lebensverlängernder und -intensivierender Subjektivierung. Wellness-Praktiken zeichnet eine (eklektische) Fusion aus westlich adaptierten fernöstlichen Verfahren, hochtechnisierten medizinischen Interventionen wie Screenings und »life shirts«,9 high touch-Behandlungen wie Massagen aller Art, alternativmedizinischen Praktiken, aber auch psychologischen Programmierungstechniken wie NLP aus. Wellness umfasst Techniken, die zuvor in den Bereichen Gesundheit, Sport, Fitness, Ernährung und Kosmetik angesiedelt waren, wobei diese Angebote kombiniert und mit neuen Bedeutungen ausgestattet werden. Das Vermischen und Kombinieren ist im Wellness-Diskurs allgegenwärtig, zeichnet Wellness geradezu aus. Unter dem Schlagwort der Synergie und vermarktet als Lifestyle- und Erlebnisprodukte werden Artefakte, Behandlungen und Urlaube aller Art gleichsam als best of aus »Jahrtausende alten Traditionen« – so eine wiederkehrende Phraseologie – und »neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen« angepriesen. Dabei scheint bedeutsam, dass einerseits verschiedenste Körpereindrücke gemeinsam angesprochen werden,10 wobei die technische Dimension als Blackbox erscheint, während andererseits Triviales – wie etwa Vitamine in Nahrungsmitteln – höchst verwissenschaftlicht in Szene gesetzt wird. Eine Vermischung vorhergehender Körperideologien mit einer gezielten Trivialisierung von Hightech und einer Verwissenschaftlichung von Profanem ist also charakteristisch für Wellness-Kommunikationsstrategien.11 Am Vermittlungsprozess sind neben 6 | Mit dem Wohlfühl-Imperativ vertieft sich selbstverständlich auch die Kluft zu der ohnedies bereits gesellschaftlich benachteiligten Gruppe der ›psychisch Kranken‹. 7 | Eine Deskription von Wellness als Diskurs findet sich auch bei Stefanie Duttweiler (2009). 8 | Zur gesellschaftlichen Organisation von Gefühlen siehe auch Krell/Weiskopf (2006). 9 | Life shirts sind Westen, die die Herzfrequenz und viele andere physiologische Körperfunktionen messen; vgl. http://vivonoetics.com/products/sensors/lifeshirt/ (2.5.2015). 10 | Z.B. Unterwassermusik-Maschinen mit Farben und Stimulationseffekten. 11 | Gwen Bingle (2002) beschreibt das hierfür Spezifische folgendermaßen: »Letztlich wird im Wellness-Konzept eine neue Lebensästhetik ausgehandelt, die zwar auf Körpertechniken, -praktiken und -ideologien des 20. Jahrhunderts rekurriert, sich aber
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den Produzenten viele Berufsgruppen, Freizeiteinrichtungen, öffentliche Institutionen, Gesundheitsorganisationen und explizit auch die Politik beteiligt. Wie kaum ein anderer hat sich der Wellness-Diskurs so sehr rasch als hegemonialer Diskurs verbreiten können.12 Neben neuen Zugriffen und Zuschnitten vermittels Bodyshaping und diversen Psychotechniken, können Wellness-Praktiken auch als Normalisierung und als damit einhergehender geschlechtsspezifischer Verlust von Intimität verstanden werden. Mit Wellness verbunden ist ein Ästhetisierungsdruck, der auf körperliche Funktionen und Verfahrensweisen des Leibes übergreift und auf Normalisierungsprozesse im Gesellschaftlichen (zurück-)wirkt. Er wirkt auf Konzepte von Identität, als Effekte dieser Praktiken, die nicht länger als Unterscheidung, vielmehr als Nivellierung affirmiert werden, damit einhergehend auf Geschlechtlichkeiten als Leerstelle. Vorstellungen und Ereignisse von Krise, von Schwellensituationen, von Ekstase werden gewissermaßen infantilisiert – so wie neue raumgreifende Konzepte von Androgynität, denen die Konnotation von Vorzeitigkeit, nicht von Überschreitung anhaftet. (Innere) Ruhe statt Beruhigung, Latenz als Konstante – damit könnte der Imperativ der Wellness-Bewegung auf den Punkt gebracht werden. In einer ›verweiblichten‹ Wohlfühl-Kultur verdichten sich Rituale der Entgeschlechtlichung und generieren ein geschlechtsloses Selbst. Im Zuge dessen werden sowohl Hierarchien wie Prozesse der Produktion von Bedeutungen gleichermaßen verschleiert.›Feminisierung‹ der Wellness-Kultur bezeichnet gerade diese Selbstbezüglichkeit, das Verwerfen von Öffentlichkeit, Politik und ihre Verfangenheit in Intimität, verdichteten Körperritualen und (Selbst-) Sorgepflichten. Wellness-Visualisierungen und -Inszenierungsweisen rekurrieren in ihrer Latenz auf alte Weiblichkeitsimaginationen und transformieren diese. Die Betonung von Wohlfühlen birgt stereotype Geschlechtscharaktere und reetabliert Naturalisierungen von Weiblichkeit. Wellness-Interventionen zielen auf Empfindungen: Mental Wellness. Neue (Ein-)Geständnistechniken verbreiten sich. Neben Entspannungsmethoden sind es insbesondere Techniken der Autosuggestion, die Stimmungen stimulieren und Gefühle (über-)formen sollen. Dem Versprechen von Risikomanagement und -prävention folgend, wollen Wellness-Tests einen künstlichen Raum der Sicherheit generieren, der aber im Prozess des Messens, Vergleichens und wegen ihrer Kombinatorik und der Neuzuschreibung von Bedeutungen stark von diesen unterscheidet.« Ein Beispiel ist der Fitness-Diskurs samt dessen Körper- und Lebensstilidealen und deren Wellness-Umschriften – ein ergänzender Fokus auf ›leichte Bewegungen‹, die für alle und überall durchführbar sind. 12 | Auch wenn das Wort Wellness bereits von anderen Modeworten überholt wurde, so hat sich dennoch der Diskurs um Wohlgefühle selbstverständlich in unsere Existenzweisen eingeschrieben.
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Optimierens, Verunsicherung und Unzufriedenheit in sich trägt. Körper und Psyche werden zum Text neuer Wohlfühl-Krankheiten. Allgemein kann auch von einem Wellness-Dispositiv gesprochen werden, einem Diskurs, der unser Leben organisiert und es durchdringt – über kulturelle und soziale Grenzen, auch über Geschlechtergrenzen hinweg. Transformationsprozesse im Wellness-Diskurs betreffen Umbauweisen der Psyche, wobei Modi der Selbsttransformation insbesondere die Regulierung und Modulation durch Introspektion, Autosuggestion, Stimulation und jüngst auch self tracking 13 sind. Neue Transformationsräume rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit und Wirkmächtigkeit, mit denen das Vordringen in intimste Refugien verbunden ist und die Grenzverschiebungen von Privatheit hin zu Öffentlichem mit bewirken. Gerade in der Verbreitung der zentralen Figuration des Wellness-Dispositivs, der Wellness-Oase, zeigt sich, dass Wellness ein Phänomen ist, welches in vielen westlichen Gesellschaften vorzufinden ist, wiewohl der Schwerpunkt des Diskurses unterschiedlich gesetzt wird.14 Wellness-Oasen sind spätmoderne Heterotopien, simulierte wie reale Orte der Erneuerung, der Rekreation, in denen Reales, Hyperrealität und Realität in eins fallen. Sie stehen auch für den angestrebten Zustand – ein ganzheitliches Empfinden von absoluter Spannungsfreiheit, sogenannter Entspannung und Entrückung, einer Sehnsucht nach Harmonie, ein allumfassendes Wohlgefühl, bei dem sich der Körper und alle irdischen Abhängigkeiten auflösen. Die Oase ist auch Utopie – (Mental-)Paradies – eine Platzierung ohne wirklichen Ort, indem sie Fantasien und Phantasmen (re-)produziert und repräsentiert: ein Jenseits im Diesseits, ein Tagtraum vom ewigen schönen und gesunden Leben. Zugleich ist die Heterotopie ein wirklicher Ort, ein wirksamer Ort, eine tatsächlich realisierte Utopie. Heterotopien vermögen an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind. Wellness-Oasen stellen somit Gegenplatzierungen dar, Utopien von Körper und Selbst, die zugleich sich realisierende und realisierte Orte sind. Foucault charakterisiert Heterotopien als »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, 13 | Vgl. zum Thema self tracking den Beitrag von Markus Tumeltshammer in diesem Buch. 14 | Im englischen Sprachraum ist v.a. der »discours of happiness« mit dem WellnessDiskurs vergleichbar. So steht in Londons Eliteschulen »Glücksunterricht« auf dem Lehrplan. Im Wellington College, einer Privatschule im Südwesten von London, wird seit 2006 »Well-being« angeboten. Auch Deutschland folgt diesem Lerntrend: In rund hundert Schulen wird »Glück« unterrichtet (vgl. Strassmann 2011).
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Elisabeth Mixa in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gleichermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«. (Foucault 1990: 39).
Der Imperativ zu relaxen und zu genießen bringt individuelle Verhaltensweisen hervor, von der Körperpflege über Schönheitsoperationen bis hin zu eigenen Konsumstilen, die als kollektive Handlungsformen anerkannt und eingeübt, Anerkennung übermitteln und dadurch neue Selbstverständlichkeiten generieren. Wellness kann als exklusives Massenphänomen gesehen werden, mit welchem entlang neuer Geschmacksurteile, entlang von Grenzverschiebungen bzw. -auflösungen und einem neuen Präventionsverständnis – der kultivierten Eigen-/Vor-/Sorge – neue Schichtungen entstehen. In einem Verständnis historisch kontingenter Bedeutungen von Körper, Selbst und Gesundheit kann der Wellness-Diskurs als eine neue, individualisierte Form von Körperpolitik, als eine Politik der Gefühle betrachtet werden, vermittels derer sich neue Selbstverständnisse normalisieren und sich ein neues (Körper-)Wissen formiert. Selbstwert und individuelle Selbstbilder sind vermittels identitätsstiftender Mechanismen Objekte dieser Interventionen. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext kann Wellness als neoliberal zu charakterisierender spätmoderner Anstandsdiskurs bezeichnet werden, als moralische Rede um neue Existenzkünste, verbunden mit Technologien des Selbst, die auf freiwilliger Unterwerfung basieren: In popularisierten Diskursen werden Normalisierungsprozesse über die Formung von Lebensstilen eingeleitet, nicht Normen gesetzt, die mit Transformationen verbunden sind. Anstandsdiskurse (Mixa 1994), insbesondere in Phasen gesellschaftlicher Umbrüche angesiedelt, sind als sich verdichtende, populäre Lebensführungsdiskurse zu bezeichnen, deren Praktiken am Körper, im Fall von Wellness zusätzlich an allen Sinnen einzeln und gleichzeitig, ansetzen. An Rat gebende Medien und Einrichtungen gebunden, werden Ethik und Selbsttechniken vermittelt. Anstand wird im Sinne von drängenden Veränderungen, von anstehenden Verhaltens- und Selbst-Verhältnisänderungen verstanden. Anständiges Verhalten benennt somit auch angepasstes Verhalten. Darin wird eine individualisierte und popularisierte Form der Vermittlung von Regierung, eine Verschränkung von Führung und Selbstführung transportiert. Individualisierung, verstanden als Vereinzelung, nicht Individuation (Kast 1997), ist Teil, nicht Folge dieser auf Freiwilligkeit beruhenden Form der Regierung. Die in das Phänomen spätmoderner Regierung eingebetteten Postulate dieses Selbstverständnisses rekurrieren auf ein neues Verständnis von Freiheit. Sie folgen dem Ausdruck eines ›authentischen Selbst‹, welches sich seiner Emotionen bewusst (Swaan 1990) und als solches Voraussetzung und Zeichen von Gesundheit und Wohlbefinden ist. Unter neoliberalen Vorzeichen erscheint Freiheit, im Sinne von Selbst-Verwirklichung und Selbst-Erfüllung, als ein »regulatives Ideal« (Rose 1989: 265). Das
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»Gebot des Selbstseins«, der paradoxe »Zwang zur Freiheit« (ebd.), geht also mit einem wachsenden Authentizitätsdruck einher, einem Ausdruck eines Selbst, welches sich seiner Emotionen bewusst ist und das Gefühle anderer nachempfinden kann. Dieser authentische Ausdruck ist im Wellness-Diskurs der RelaxAppeal.15 »Die Müdigkeit man selbst zu sein«, die Depression, ist – Ehrenberg (2010) zufolge – in die gesellschaftlichen Rahmen eingebettet, ist eine nicht intendierte Folge aus dem Übermaß an Freiwilligkeit und Wahlfreiheit (Ehrenberg 2004; Summer 2008), ist Folge einer Grenzenlosigkeit. Der Ökonomisierung des Selbst – also das Verständnis eines Selbst, das es stets in seiner Vielfalt zu managen, zu optimieren und gewinnbringend zu präsentieren gilt – korrespondiert eine Vorstellung eines verletzten und verletzlichen Selbst, welches einer ständigen Wartung und Aufladung bedarf. Das emotionale Defizit, verbunden mit dem öffentlichen Eingeständnis und einer neuen Innenwendung, öffnet ehemals private Räume der therapeutischen Behandlung und verwebt diese mit gesellschaftlich erwünschten Gefühls- und Verhaltensweisen, mit vorherrschenden Vorstellungen von positiven, im Sinne von gewollten, weil kontrollierten Emotionen und bewusstem Selbstwert. Dies entspricht einem kulturellen Mythos von Selbstwert, einer Selbstwertschätzung als Akt ziviler Verantwortung und psychischer Gesundheit. Zugleich entwickelt sich vor diesem Hintergrund ein anti-intellektueller emotionaler Ethos als integraler Bestandteil einer neuen therapeutischen Kultur, in der es einerseits um Kontrolle und Medikalisierung bzw. Ausgrenzung heftig-impulsiver, unreguliert-ekstatischer Gefühle geht und andererseits, im Zuge unterschiedlichster Weisen der Selbst-Therapeutisierung, um eine kontinuierliche Begleitung und Formung von Emotionen. Postsoziale Strategien der Verhaltensregulierungen sind an Risikoproduktionen gebunden, denen eine neue Vorsorgerhetorik entspricht (Rose 2000: 95ff.). Verlustängste, im Sinne eines sich als bedroht wahrnehmenden Selbst (Wandel und Migration), auch hinsichtlich der Existenz insgesamt (Arbeit und Reproduktion), werden über ein breites Angebot an Vorsorgeinterventionen und Versicherungen befriedet. Es verbreiten sich Risikoindustrien, die Schutz durch Investition in Sicherheit und Gesundheit anbieten. Im WellnessDiskurs sind dies Techniken des Risikomanagements, alltägliches Stressmanagement, mit dem Zweck der Lebensstiloptimierung. Wichtigste Selbsttechnologie ist das life- und mood management: die erhöhte Aufmerksamkeit und Kontrolle seiner selbst unter Heranziehung unterschiedlichster Begleitungen und Interventionen als lebenslanger Prozess, gebunden an selbstfinanzierten Wohlfühl-Konsum. In einer allgemein als therapeutisch zu bezeichnenden 15 | Relax-Appeal lautete der treffende Slogan einer Wellness-Messe, der sich deutlich in Bezug und Abgrenzung zum ›Sex-Appeal‹ der 1960er und 70er (Life-Time. Die internationale Messe für den Wohlfühlmarkt, Frankfurt, 2002).
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(Gesundheits-)Kultur wird die Bindung eines vulnerablen Selbst an ständige Aufmerksamkeiten und Beratungen, in eigens dafür vorgesehenen Räumen, die dieser Selbstkultivierung gewidmet sind und die mit speziell ausgebildeten TrainerInnen Heil versprechen, normalisiert. Mit dem Konzept der Ich-AG, welches sich im Wellness-Diskurs als Bild eines affizierbaren Body & Soul-Entrepreneurs moduliert wiederfindet, deren Shareholder es beständig zu managen gilt, erfährt auch das Selbstverständnis eines unternehmerischen Selbst mit Wellness eine Popularisierung und Normalisierung. Wellness bietet neue identitätsstiftende Mechanismen zur raschen und effektiven Wiederherstellung der Arbeitskraft, verstanden als Freizeitarbeit am Selbstdesign. Es werden unterschiedlichste Techniken angeboten, effektive Selbstmarketingstrategien von Coachings über Typberatungen bis zu Mentaltrainings, die dem geforderten proteischen Charakter der ›Marke Ich‹ entgegen kommen (Meschnig 2003: 33). Dementsprechend werden präventivmedizinische Maßnahmen, insbesondere aber psychologische Interventionen für das emotionale Selbstdesign gleichsam als Durchhaltestrategie Bestandteil einer neuen Wiederherstellungs-Freizeitkultur, in welcher sich auch die Grenzen zwischen (Körper-)Arbeit und Freizeit verschieben. Wellness als Investition in das Selbst vermittelt Wissen und Wert, ist Dienst an sich und seinem Arbeitswert. Denn, wie die Arbeit selbst, wandeln sich auch die Arbeitenden zu Dienst leistenden KonsumentInnen. Dieser Konsument »ist nicht mehr, wie der Produzent, als Subjekt-Objekt-Verhältnis in Analogie zur Mensch-Maschine-Beziehung strukturiert, sondern er ist ein sich selbst transformierendes Netzwerk« (Treusch-Dieter 2003: 60). »Unser Unternehmen ist gesund, weil wir es wieder sind.«, »Gesundheit erhalten, Job behalten!« (Fit2Work): gezählte Krankenstandstage, glückliche Unternehmen – aus der Losung »Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut« wurde das Bekenntnis der eigenverantwortlichen ArbeitskraftunternehmerInnen, die durch ihre trainierte psychische Gesundheit und geübte positive, emotional gesunde Ausstrahlung die Wirtschaft in Gang halten.16 Im Zuge unterstützender Anpassungsinitiativen an gegenwärtige Arbeitsbedingungen vermittels unterschiedlicher Wellness-Technologien, etablieren sich gleichsam als Nebenwirkung neue Stigmatisierungen, nämlich die der temporär erschöpften Arbeitsunfähigen, die sich zwar aus anerkanntem Grunde krank fühlen, jedoch eigenverantwortlich scheinbar bislang nichts gegen diesen Zustand getan haben,
16 | Beispielsweise stellt die Initiative FIT 2 WORK (www.fit2work.at) das Eröffnen neuer Chancen in Aussicht ebenso Beratung und Unterstützung bei gesundheitlichen Problemen am Arbeitsplatz. Neben Ernährungsberatung bietet die Einrichtung insbesondere Mentaltrainings, Brainpower-, Entspannungs- und Stressbewältigungstrainings, also Wellness-Praktiken, an.
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obwohl Gesundungsmöglichkeiten bekannt sind, die also, so die Logik, wider besseren Wissens gehandelt haben, denn fit for work ist machbar … Der sich vollziehende Prozess der »Ökonomisierung des Sozialen« (u.a. Bröckling et al. 2000) ist mit einer Emotionalisierung nahezu aller gesellschaftlicher Bereiche, einer »Therapy Culture« (Furedi 2004) verbunden. Im Zuge dieser Dynamik werden soziale Probleme zusehends in emotionale übersetzt. Die Zusatzdiagnose Burnout ist für diese Entwicklungen beispielhaft.17 Eine ähnliche Dynamik der Neukodierung findet sich auch in der gesellschaftlichen Bedeutung des Begriffs »Healthism«. 18 Teil der Übersetzung sozialer Rahmenbedingungen in individuelle, behandlungsbedürftige psychische Störungen ist also das Thema Gesundheit selbst, insbesondere vermittelt durch das Motiv Überkonsum. Generell haben sich mit der gesellschaftlichen Verpflichtung auf Wohlgefühle (Toleranz-)Grenzen verschoben, eine allgemeine Sensibilisierung gegenüber »Störungen«19 ist entstanden. Man könnte sie mit Silvia Bovenschen (2000) als Idiosynkrasien, als eine Art Überempfindlichkeit bezeichnen: So wird beispielsweise das ›Nicht-in-der-Mitte-Sein‹, die fehlende Balance als behandlungsbedürftiger Zustand thematisiert. Eine neue Art von Wahnsinn entsteht mit dem Aufkommen des Wellness-Wahn: Wohlgefühle erscheinen abruf bar, machbar, erwerbbar, buchbar, konsumierbar. In einem Spektrum vielfältiger Wohlfühl-Verbesserungsangebote, deren Nutzung mit einem versteckten Imperativ verbunden ist, wird Überforderung – einerseits als Reaktion auf Handlungsdruck in Wahlfreiheit und andererseits als immanente Wirkung von Vereinzelung – zur krankmachenden Begleiterscheinung.
17 | Zum Thema Burnout siehe auch die Beiträge von Heinemann/Heinemann und Gross in diesem Buch. 18 | Neben der Ausweitung von Essstörungsdiagnosen sind es Zwänge, die mit der Vorstellung machbarer Gesundheit und ewiger Jugend einhergehen. 2000, also zeitgleich mit dem Wellness-Boom, wird eine Reihe an Störungen definiert und diagnostizierbar gemacht, die deutlich im Kontext mit gesellschaftlichen Themen stehen: Gesundheitsund Jugendwahn (so z.B. auch das Dorian Gray Syndrom). Der »Healthism« wiederum macht zwischen 1980 und 2000 eine Karriere von der wissenschaftlichen Gesellschaftskritik (Crawford 1980) zur Befindlichkeitsstörung. 19 | Der Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos formuliert zum Begriff der Störung: »Die in der heutigen Psychiatrie etablierte Bezeichnung ›Störung‹ anstelle des früher üblichen Terminus ›Erkrankung‹ wurde zwar vorwiegend eingeführt, um die Stigmatisierung des Patienten durch die Konnotation von krank im Sinne von minderwertig zu vermeiden, sie verrät aber auch eine Sichtweise, die den Schwerpunkt auf die Dysfunktionalität – eben die Störung der Funktionen legt.« (Mentzos 2013: 19)
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II. U nwohl-G efühle in Z eiten der › guten G esundheit‹ 20 Zunächst taucht Wellness als Problematisierung eines bislang gültigen Gesundheits-Begriffes auf: Wellness wird als ›gute Gesundheit‹ übersetzt und mit Wohlbefinden überschrieben – eine moralische Umschrift als Verpflichtung auf Gesundheit, der eine individuelle Ethik entspricht. Individualisiert, an konsumvermittelten Selbstgenuss gebunden, kann Wellness als leere, unendlich flexible Formel verstanden werden, mit der sich bisherige Grenzen und Verständnisse auflösen und der sich keineR widersetzen kann. In einem neuen ›Willen zur Gesundheit‹ werden alle Gesunden zu lebenslänglich Behandlungsbedürftigen – zu chronisch Gesunden. Als Gegenteil von Wellness entsteht eine Art »Wahnsinn« (Greco 2004: 296), ein Unwille oder das Unvermögen, sich wie ein vernünftiges Subjekt zu verhalten. Dieser Wahnsinn kann als Gegenpol von Wohlbefinden, als Befindlichkeitsstörung bezeichnet werden. Das Online-Lexikon Wikipedia liefert die folgende Definition: »Eine Befindlichkeitsstörung (umgangssprachlich auch: Unwohlsein) ist eine negative Empfindung, die rein subjektiv wahrgenommen wird und nicht notwendigerweise Krankheitswert besitzt (dafür ist auch der Begriff Befindlichkeitsbeeinträchtigung üblich). Ihr Gegenteil ist das Wohlbefinden.«21 Unter Berufung auf die Weltgesundheitsorganisation WHO wird sodann zwischen körperlichem, seelischem und sozialem Wohlbefinden unterschieden und schlussfolgernd zusammengefasst: »Mit schlechtem Allgemeinbefinden ist auch eine individuelle Disharmonie der körperlichen, seelischen und sozialen Integration gemeint.« Das Netz psychosoziale Gesundheit, welches Befindlichkeitsstörungen Krankheitscharakter beimisst, unterscheidet körperliche, seelische sowie psychosomatische Beeinträchtigungen. Auf überwiegend seelischem Gebiet werden folgende »Störungen« genannt: »Gemütslabilität, unbegründete Ängstlichkeit, Nervosität, innere Unruhe, Überempfindlichkeit, Reizbarkeit, Lustlosigkeit, Unentschlossenheit, schnelle Ermüdbarkeit, Schwunglosigkeit, mangelnde Belastbarkeit, Abgeschlagenheit, Nachlassen von Merkund Konzentrationsleistung und schließlich Vergesslichkeit«22
20 | Dieser Kapiteltitel spielt an Eva Illouz’ Analyse zu »Gefühlen in Zeiten des Kapitalismus« (2007) an, zumal diese Arbeit grundlegend für das Thema ist. 21 | Eintrag Befindlichkeitsstörung, http://de.wikipedia.org/wiki/Befindlichkeitsst% C3%B6rung (4.3.2015). In diesem Text werden Definitionen aus dem Internet herangezogen, weil diese, mehr als Fach-Lehrbücher, das Alltagsverständnis formen und repräsentieren. 22 | ht tp.//w w w.psychosoziale-gesundheit.net /psychiatrie/bef indlichkeit.htm (4.3.2015).
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Alle diese Symptome bewegen sich in einer Grauzone zwischen einer quasi neurotischen Gesundheit23 und einem Zustand mit psychiatrischem Krankheitswert. Diese Grauzone umfasst auch viele neue Syndrome,24 die offensichtlich Zeitgeistleiden darstellen. Dazu gehören unterschiedliche Formen von Abhängigkeit, v.a. von nicht substanzengebundenen potenziellen Suchtmitteln wie bei Computer-, Kaufoder Sexsucht. Aber auch Panikattacken, die relativ neu im immer differenzierter werdenden Spektrum an behandlungsbedürftigen Ängsten aufscheinen, bewegen sich in einem dekontextualisierten, also ätiologie- und beziehungsfreien diagnostischen Raum. Zu diesen gleichsam leichten Störungen zählen auch diverse Syndrome, beispielsweise das Messie-Syndrom (eine ›Desorganisationsproblematik‹), das Münchhausen-Syndrom (eine artifizielle Störung, ähnlich der Hypochondrie), das Peter-Pan-Syndrom (unermesslich kindliches Verhalten bei Männern) oder das schon länger bekannte Dorian-Gray-Syndrom (eine Erscheinung, die durch die Unfähigkeit zu altern, die Ablehnung der eigenen Gestalt und einen exzessiven Gebrauch an Lifestyle-Angeboten der Medizin gekennzeichnet ist).25 Von den bisweilen vage benannten Unwohlgefühlen deutlich abgegrenzt sind manifeste Leidenszustände. Eine gegenwärtig weit verbreitete Diagnose, keine Befindlichkeits-, sondern eine ›Persönlichkeitsstörung‹, ist das Borderline-Syndrom. Es weist, laut Indices, manifesten Krankheitscharakter auf und wird mit einer Vielzahl eigens gefasster Leidenszustände beschrieben, die, auch für sich genommen, Krankheitswert haben (z.B. Angstsymptomatiken). Im Fokus der Aufmerksamkeit steht herausragend eine mangelnde Affektkontrolle.26 Christine Ann Lawson formuliert in ihren sehr anschaulich verfassten Analysen Folgendes: »Die Borderline-Störung (BPD) ist die am meisten verbreitete Persönlichkeitsstörung, nahezu sechs Millionen Amerikaner sind davon betroffen. Menschen, die an einer Borderline-Störung leiden, sind unbeständig und sprunghaft, impulsiv und selbstzerstörerisch, und sie haben Angst vor dem Verlassenwerden. Klinisch gesehen besagt der Begriff, dass sie sich auf der Grenze zwischen gesundem und verrücktem Verhalten bewegen« (Lawson 2015: 11). 23 | Vgl. dazu den Beitrag von Monica Greco in diesem Buch. 24 | Syndrome bezeichnen das Zusammentreffen verschiedener Krankheitszeichen, also unterschiedlicher Symptome. 25 | Alle genannten Syndrome finden sich auf Wikipedia zum Thema Befindlichkeitsstörungen, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Messie-Syndrom, http://de.wikipedia.org/ wiki/M %C3 %BCnchhausen-Syndrom http://de.wikipedia.org/wiki/Healthism, http:// de.wikipedia.org/wiki/Peter-Pan-Syndrom, http://de.wikipedia.org/wiki/Dorian-GraySyndrom (4.3.2015) 26 | Vergleichsweise zur fehlenden Kontrolle über Affekte beschreibt Monica Greco am Beispiel der Alexithymie, den fehlenden Ausdruck für Gefühle als ebenso symptomatisch für gegenwärtige Pathologisierungsprozesse (Greco 2000: 265-285).
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Als Krankheitsbild wird im Internet formuliert: »Borderline-Patienten leiden unter Störungen der Affektregulation, also der Unfähigkeit ihre inneren gefühlsmäßigen Zustände zu kontrollieren […] Die intensive Anspannung hat eine stress-abhängige Reaktion zufolge, sodass sich die Wahrnehmung des eigenen Körpers verzerrt oder gar auflöst. Dieser Zustand wird als Dissoziation bezeichnet.« 27
Und weiter heißt es zu dem die zwischenmenschliche Interaktion beeinträchtigenden Beziehungsleben: »intensiv aversive Emotionen«, »Schuld, Scham, Ohnmacht, Selbstverachtung«, »Schwankungen im Selbstwertgefühl« und Angst, sowohl vor dem Verlassenwerden als auch vor sozialer Nähe (ebd.). Als Symptome werden also Angst, Sucht, Selbstwertstörungen, Depressionen, Essstörungen und posttraumatische Symptomatiken gewertet, als psychische Folge von Gewalttaten und/oder schwerer Vernachlässigung. Ähnlich der Symptome, welche die Grauzone neuer Unwohlgefühle ausdrücken, handelt es sich auch hier um ein umstrittenes Terrain zwischen einer ätiologischen These genetischer Vererbung, der These von Missbrauch als Ursache bis hin zu einem Plädoyer, den Begriff aufzugeben, zumal in Fragen der Ursachen, Abgrenzungen und Therapien kein Konsens besteht. Inwiefern das Borderline-Syndrom als Symptom unserer Zeit und Kultur gefasst werden kann, wird im Folgenden nochmals aufgegriffen werden. Was in diesem Zusammenhang wichtig erscheint, ist der Fokus der Borderline-Diagnose auf eine Pathologie unkontrollierbarer Affekte und ein Zuviel an (negativen) Emotionen, die Beziehungen stören. Pathologisierungsprozesse28 verlaufen auf unterschiedlichen Ebenen.29 Mit Wellness erfahren diese allerdings eine neue Form des Zugriffs und eine 27 | w w w.neurologen-und-psychiater-im-net z.org /psychiatr ie-psychosomatikpsychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung /krankheit sbild/ (8.8.2015). 28 | In der Pathologie geht es, als Lehre von den Krankheiten, trotz beiderlei Wortbedeutungen, nicht um den »Sinn der Leidenschaften«, sondern um die »Vernunft des Leidens« (vgl. zum Begriff https://de.wikipedia.org/wiki/Pathologie [1.4.2015]), um pathogenes Geschehen im Menschen, das nicht selbst, sondern in Form von Indices ermittelt wird. Die so identifizierten Störungen (die ›Gestörten‹) stellen zugleich eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung, des common sense des Wohlfühlens dar. Mit der Dominanz der Neurowissenschaften ist eine weitere Somatisierung und Verlagerung von Gefühlen in Endorphine und ähnliche Substanzen verbunden. 29 | Z.B. über Diskursivierung von teils neuen psychiatrischen, diagnostischen Symptomatiken und Begriffen in unterschiedlichen Medien, meist über mediale Skandalisierungen, die sich so im Verlauf verbreiten und durchsetzen; über Differenzierungsprozesse und damit verbundene Grenzverschiebungen, was folglich eine deutliche
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selbstpathologisierende Wende: über ein neues Selbst-/Körperverständnis als osmotisch im Austausch mit Übeln wie Wohltaten stehend, affizierbar, vulnerabel, unausgeglichen, insgesamt jedenfalls unstimmig und ungestimmt sowie weiters vor allem über die Arbeit am Selbst und der damit einhergehenden Erschöpfung. Pathologisierungen entstehen nicht zuletzt auch über eine Vielzahl an Paradoxien und Widersprüchen, die mehr als neue Unübersichtlichkeiten produzieren sowie einer insgesamt Borderline artigen Kultur der Verunsicherung, in der Stress als ständige Bedrohung des Selbst auch körperliche Spuren hinterlässt. Anhand scheinbar bedeutungsloser, alltäglicher Prozesse wie baden oder eben wellnessen und über einfache Alltagsartefakte soll im Folgenden veranschaulicht werden, wie sich über präskriptive Texte, über Worte wie Bilder, über Farben und Qualitäten, konkrete Handlungen und Selbstverhältnisse formen, die zusehends deutlicher von einem kränkelnden Individuum ausgehen.
Selbst-Coaching oder mikrokosm(et)ische Betrachtungen – eine kleine Alltagspsychopathologie Neben unterschiedlichen stimmungsstimulierenden Inszenierungen – speziellen Massagewannen und -duschen, Unterwasser-Entspannungsmusikgeräten, Kerzenschein, Musik- und Blumenarrangements, sind es v.a. duftende Essenzen zur Körperpflege, die eine Wohlfühl-Atmosphäre im Alltag erzeugen sollen. Das Wellness-Bad ist im Zuge von rooming und homing alltägliche Einrichtung, ein tagtäglich für das Selbst-Coaching genützter Raum. Und es ist zugleich eine Seifenblase, eine Essenz, die jedeR erwerben und gleichsam selbsttherapeutisch, je nach Bedarf, einsetzen kann, auch als eine Ersatzhandlung, etwa als Sublimierung für Wärme und Sexualität. Die hier zusammengefasste Artefaktanalyse thematisiert eine, sich über die Zeit kontinuierlich wandelnde Bäderserie,30 die immer facettenreicher und regalfüllender wurde und bis heute, noch spezialisierter und zugleich alltäglicher, verbreitet ist: das Tetesept Wellness-Bad.
Grauzonen entstehen lässt; über Neukonnotationen von Symptombildern, die als Unruhe in dem Individuum gleichsam aufgepfropft werden. 30 | So erscheint bereits 2000 in Drogeriemärkten eine eigene Wellness-Bäderserie von Tetesept unter dem Logo »Wellness-Bad« firmieren mit »Hot Spring«, »Blue Sky«, »Red Sunset« und »Golden Oasis« vier verschiedene Substanzen mit unterschiedlichen Wirkstoffen, die entsprechende Zustände herbeirufen wollen. Exotische Duftmischungen versprechen Wirkweisen, die in Form kleiner Geschichten auf dem bildreichen Verpackungskarton nachzulesen sind.
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Abbildung 1: Tetesept-Bäder
Am Anfang steht eine Aufforderung: Relax. Feeling, Emotion, Harmony – allesamt Wellness-Motive und zugleich Heilsversprechen. Die dazugehörigen Bilder vermitteln einen sinnlich-erotischen Eindruck, wie der Blick durch einen Duschvorhang, durch einen Schlitz, ein Schlüsselloch einer Badekabine.31 Der Einblick ist in scharfem Kontrast zum verschwommenen Hintergrund auf einen Ausschnitt fokussiert, der in Nahaufnahme Blüten oder Früchte freigibt. Das Licht und die angeschnittenen Pflanzen sind ästhetisch und lustvoll in Szene gesetzt. Es geht um die Essenz. Farbe und Bilder verweisen auf diese Ingredienzien, deren Indikationen und Wirkweisen nahezu lexikalisch aufgelistet sind, gleich einem Rezept. Zentral sind der Modus der Beruhigung, die besänftigende und meditative Farbgebung, die Pflanze und ihr schon zu erahnender Duft. Verglichen mit der ersten Serie aus dem Jahr 2000, ist die Ausgangsperspektive dieser Folgeserie nicht mehr lediglich der bedrohte Körper, sondern es sind bedrohte Befindlichkeiten, die behandelt werden wollen. Nicht mehr alleine das Wasser reinigt. Es ist das Wasser, angereichert um geheimnisvolle Beigaben, das wirkt. Feeling, pure Sinnlichkeit – gute Gefühle sind Motiv und Versprechen. Es geht nicht mehr um Power, Kraft und gestählte Körper wie im Fitness-Diskurs, sondern um positive Schwingungen: »über den Duft die Seele ansprechen«, »über ätherische Öle die Stimmung positiv beeinflussen und ein Gleichgewicht zwischen Körper und Seele herstellen, die Sinne stimulieren«. Nicht mehr »Körper und Geist« sind es, die in einer bedrohlichen Umwelt der Pflege bedürfen, jetzt sind es innere Zustände, (Ver-)Stimmungen, Gefühle, die behandelt respektive evoziert werden wollen. Es geht nicht mehr um die vier Elemente und deren Energie. Alles dreht sich um das fünfte Element, den Äther: »ätherische Öle« und »Aroma Therapie«, um Therapien also, d.h. eine Behandlung, ein Heilverfahren zur Linderung oder Heilung von Krankheiten. 31 | Die Figur des Schlüssellochs ist in tiefenpsychologischer Betrachtung eine Schlüsselszene psychosexueller Entwicklung.
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Die Aromatherapie32 funktioniert auf feinstofflicher, ätherischer Ebene: Über die äußere Stimulation werden innere Empfindungen moduliert. Der Geruchssinn wird angesprochen, was zu entsprechenden Sinneswahrnehmungen (z.B. Gefühlseindrücken, Erinnerungen) führen soll. Das osmotische Austauschmodell von Körper und Umwelt funktioniert über die Öffnungen, das Eindringen und Einwirken des Feinstofflichen in den Körper über die Poren der Haut: eine Verschiebung von der noch dem Fitness-Diskurs verpflichteten Kräftigung (des Körpers) zur Stimulation von Stimmungen (Emotionen) durch Behandlung mit ätherischen Essenzen. Die Bewegung der Entwicklung verläuft, so könnte man sagen, vom Äußeren, dem Kosmos, der Welt, den Naturgewalten zum Inneren, dem Mikrokosmos der Pflanzen und den Gefühlen. KonsumentInnen erhalten eine kleine Einschulung in die Wirkung von Farben, Blüten, Früchten und v.a. die Wirkweisen der enthaltenen Essenzen. Über die Beschreibung der Potenziale der Ingredienzien entfaltet sich ein Lexikon der Alltagpsychopathologien. Die Rede ist von: »Stimmungsschwankungen«, »seelischer Erstarrung«, »nervlicher Überreizung«, »Aufregung«, »Stress«, »stressbedingte[r] Überforderung«, »ängstlicher Zurückhaltung«, »nervöser Erschöpfung«, »psychische[r] Übermüdung«, »Erschöpfung«, »Freudlosigkeit«, »seelische[r] Anspannung«, »Müdigkeit«, »Abgespanntheit«. Die Beschreibungen lesen sich wie ein Fragebogen zu Symptomen von Burnout oder nahenden depressiven Verstimmungen, auch Borderline-Symptomatiken. Demgegenüber werden die positiven (erwünschten) und in Aussicht gestellten Befindlichkeiten wie folgt beschrieben: »Gelassenheit«, »Ruhe«, »Entspannung«, »Selbstsicherheit«, »Selbstvertrauen«, »Zufriedenheit«, »Zuversicht«, »Ausgeglichenheit«, »Harmonie«, »schöpferisches Denkvermögen«, »klare Gedanken«, »Frische«, »Kraft«, »Freude«, »Heiterkeit«, »Fröhlichkeit«, »Schwung«, »Energie«. Deutlich, man kann auch sagen wortwörtlich, sichtbar wird hier das Ineinandergreifen von Emotionalisierungs- und Pathologisierungsprozessen, wie sie für den Wellness-Diskurs bezeichnend sind. Selbst-Coaching, meist verbunden mit einer Art Selbst-Hypnose, zumindest Autosuggestion, sind jene Praktiken, die mit Wellness Einzug in intimste Räume finden: Gefordert sind allgegenwärtige Gefühlskontrolle, Messen und Vergleichen von gesellschaftlich Gewünschtem, in diesem Falle einem herausragenden Gefühlszustand. Dieser wird als normal suggeriert. Unterstellt werden Unwohlgefühle, die im Sinne von Konflikt und Spannung als Entwicklungsmodus und Individua32 | Aromatherapie als Bestandteil der Phytotherapie und komplementärmedizinisches Verfahren hat die Behandlung mittels ätherischer Öle über Einatmen oder Einmassieren zum Gegenstand. Sie zielt auf ›Befindlichkeiten‹, einerseits auf ›Beschwerden‹ als Beeinträchtigungen der Wohlgefühle und andererseits auf ›Befindlichkeitsstörungen‹ als alltägliche Unwohlgefühle.
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tionsprozess anerkannt werden müssten. Mit Wellness kommt es hingegen zu einer Nivellierung von Konflikten als »Störung« der Harmonie und einer Umschrift von Spannung in Anspannung. Folglich muss das Selbst stets aufmerksam begleitet, also gecoacht und behandelt werden. Zunächst unsichtbar bleibt auch, dass es hier um einen Konsum von Ersatzformen von Sexualität wie Begegnung mit anderen geht, also um Ersatzhandlungen.33 Re-Kreation: in selbst inszenierten Traumwelten und in einem über Artefakte und Essenzen stimulierten Sinnesrauch, welcher über suchtartigen, weil kontinuierlich anzuwendenden Konsum von Wellness-Artefakten, ganz selbst und freiwillig gewählt aus einer sich stets wandelnden und erweiternden Produkt- und Angebotspalette, (ein) selbst kreiert wird. Einer vordergründigen Entsexualisierung der Darstellung korrespondiert die gleichzeitige Sexualisierung der Handlungen, Räume, Artefakte, meist über eine deutliche Ästhetisierung, die mit Ersatzformen von Sexualität operiert. Sex findet sich wieder in dem Pool unterschiedlicher Gesundheit intensivierender und Alterung verhindernder Maßnahmen, wird zum Therapeutikum. Als sexualisierte Selbstbezüglichkeit, als erwerbbare (sexuelle) Energie könnte Wellness auch als postsexuelles Symptom34 gelesen werden, als safest Sex – kontrolliert (räumlich, zeitlich), entlastend (von Auseinandersetzungen mit sich und PartnerInnen) und beruhigend (im Hinblick auf mögliche Folgen). Nach dieser Exkursion in Wellness-Bäder im privaten Raum, soll im Folgenden die zentrale Gestaltung des Wellness-Narrativs – die Wellness-Oase – einerseits als öffentliche Einrichtung und andererseits als Gefühlszustand anhand von zwei Bildanalysen näher betrachtet werden. Untrennbar mit der Oase ist die Wellness-Nixe verbunden, die in einem mehrfachen Verweiszusammenhang mit dem Diskurs wie dem Begriff selbst steht. Mit ihr wird die Erzählung fortgesetzt.
III. G renzfigur ationen und Tr ansformationen : D as W ellness -N arr ativ »Liebe Gäste, Sie suchen eine Oase der Ruhe und Geborgenheit? Eine nie versiegende Quelle natürlicher Inspiration? Raum für Harmonie und innere Balance? […] Es sind Orte der Sehnsucht und Erfüllung. In einer herzlichen Verwöhnatmosphäre ist alle Zeit, um die kostbarsten Momente im Leben zu genießen; ganz für sich oder auch in der Be33 | Dieser Prozess bleibt unsichtbar, wenngleich ein Produkt einer ähnlichen Bäderserie sogar explizit den Titel »Streicheleinheiten« als Heilversprechen trägt. 34 | Zum Begriff der Postsexualität und zur Transformation des Begehrens vgl. Berkel (2009).
I feel good! gegnung mit weltoffenen Menschen. Zuverlässige und sensible Mitarbeiter widmen Ihnen ihre volle Aufmerksamkeit und tragen als lizenzierte Trainer, Sportwissenschaftler, staatlich anerkannte Physiotherapeuten und Kosmetikerinnen dazu bei, dass Sie im Urlaub ganz zu sich selber finden und neue Kraft tanken. Lassen Sie sich beschenken: mit Zeit für Gefühle und echter Sinnlichkeit!« (WellFit-Spa 2010: 2).
Spas,35 die zumeist auch als Oase bezeichnet werden, sind im Zuge der Wellness-Welle neu entstandene Orte, an denen – folgt man der hier zitierten Beschreibung – »Sehnsucht« und »Erfüllung« ineinander übergehen, also Phantasmatisches und Reales vorherrschen, Wunsch und Erfüllung zusammenfallen, implodieren. Zeitlosigkeit, Ruhe, Geborgenheit, Raum nur für sich, Harmonie und innere Balance, eine Schwerelosigkeit werden in Inseraten in Aussicht gestellt und angepriesen. Fitness, Gesundheit, Schönheit und Zeit für Gefühle und kostbare Momente mit verbriefter Qualität lizensierter Betreuung, die volle und ausschließliche Aufmerksamkeit des Anderen für das Selbst, lauten die an Begehren und Sehnsüchte anknüpfenden Versprechen, die für irdisches Wohlsein sorgen wollen. Eine Realität hyperrealer Inszenierung: Spuren der Erinnerung an den alle einenden Ort, wo man ›ganz für sich‹ sein kann, verbunden mit einem Geschenk, dem Wellness-Imperativ: »Zeit für Gefühle und echte Sinnlichkeit!« Wellness-Oasen sind besondere Gestaltungen, es sind gleichsam dritte Orte. Sie sind Tropen im Wellness-Diskurses gleich wie reale Orte. Dort herrschen paradiesische Zustände: exotisch Fremdes, dem das Unheimliche genommen wurde, Verzauberndes und Sinnliches, Luxuriöses, alles wohltemperiert, vollkommene Harmonie, innere Balance – absolute Wohlgefühle. Die zentrale Wellness-Diskurs-Figuration der Oase bezeichnet sowohl einen imaginären Innenraum im Körper jeder und jedes Einzelnen, das »Mentalparadies«,36 als auch einen kollektiven gesellschaftlichen Ort. Zunächst aber bedeutet Oase lediglich ein abgegrenztes Gebiet in einer Wüste – erstrahlt und 35 | Die Bezeichnung ›Spa‹ wird im Wellness-Diskurs als eine Abkürzung des lateinischen sanus per aquam, aber auch auf den Anfang des letzten Jahrhunderts beliebten belgischen Kurort Spa zurückgeführt. Generell knüpfen diese Einrichtungen als gesellschaftliche Orte an unterschiedliche, v.a. antike Bädertraditionen an. In ihrer Bedeutung und Konnotationen sind sie davon jedoch grundlegend zu unterscheiden, zumal sie ein neuartiges Phänomen darstellen. Die wichtigste Umkodierung erfolgt hinsichtlich des sozialen Aspekts: Waren und sind Bäder in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen Orte der Geselligkeit und der leiblichen Lust, so sind Wellness-Oasen eindeutig Orte der Abkehr (von außen) und der Einkehr sowie des disziplinierten Genießens. 36 | Das »Mentalparadies« ist eine Begrifflichkeit bzw. das Logo der Frankfurter Wellness-Messe (Life-time 2002); der Terminus wurde dort mit Wellness synonym verwendet.
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belebt unter sonst äußerst widrigen Umweltbedingungen von Trockenheit, Hitze, Eintönigkeit in Farbe und Form, stiller Leere, auch gewissermaßen einer Abwesenheit von Lebendigkeit, einer schattenspendenden und erfrischenden Flora. Oase und Wüste stellen eine dichotome Einheit dar, Gegenbilder an den Extrempunkten von Natur(gewalten), die gerade durch ihren Gegensatz so fantastisch und faszinierend sind. Das Wasser kennzeichnet Oase wie Spa. Es zeichnet sie überhaupt erst als solche aus: Oase meint ein bewässertes Gebiet in der Wüste. Wasser ist Topos von Wellness, eine Metapher für Wohlgefühle und zugleich das Medium, um diesen Zustand zu erreichen. Oft wird Wasser als Synonym für Wellness gebraucht.37 Die Wellness-Wellen-Wasser-Frau Das Wasser steht in Verbindung mit einer Frauendarstellung, eine weitere Diskursfiguration und Metapher für Wellness. Die Wasserfrau, die in einer Genealogie von Nixengestalten steht, und das Wasser signifizieren einander gegenseitig. Wasserfrauen werden im Wellness-Diskurs nahezu inflationär abgebildet. Die Nixe ist Symbol für Wellness und wird auch synonym eingesetzt. Als Zitat auf bislang vorherrschende Bilder von Nixen, die in einer langen abendländischen Tradition stehen (vgl. u.a. Kraß 2010; Syfuß 2006), erfährt die Figur dunkler, verschlingender Weiblichkeit, unmöglicher Liebe und mit Verlust und Schmerz bezahlter Leidenschaft innerhalb des Wellness-Diskurses einen Wandel, gleichsam eine Reinigung und Erleuchtung. Abbildung 2: Wellness-Wasserfrau
Glätte und Oberfläche verdeckten den (Unter-)Leib. Der Kopf der Frau spiegelt sich im Wasser, das sich angesichts der Wellenlosigkeit nur in einem künstlichen Becken befinden kann. Ein gedoppelter Kopf dominiert das Bild: Die
37 | Zur Bedeutung des Wassers im Wellness-Diskurs vgl. Mixa/Lauggas (2005).
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Wasserfrau ist eine in Selbstsicht statt Weltsicht versunkene Janus-Gestalt,38 der die Verführungs- und Anziehungskraft, die Macht und das Geheimnis durch die Wellness-Welle geraubt wurden. Es gibt kein (geschlechtliches) Gegenüber, nur einen leeren Raum. Die Nixe als Leidenschaft entfachendes Wesen – halb Tier, halb Mensch – ist maximal noch in einem Zitat auf die Vogelfrau über die Arm- und Handhaltung sichtbar. Die tierisch-triebhafte Sexualität – möglicherweise in Form der beiden Torso-ähnlichen Gestalten im Hintergrund – erscheint als vorzeitlich zurückgelassen. Es bleibt eine asexuelles Wasserwesen mit zwei Köpfen, die das Bild beherrscht: Ehemals als Figuration für intensive, geschlechtliche Gefühle, für (sexuelle) Verführung, erscheint die entsexualisierte Wellness-Nixe nochmals gereinigt und moduliert. Die Nixe ist auch Angstgestalt (vgl. u.a. Kast 1982), welche die Angst vor übermächtigen und übermächtigenden Affekten symbolisiert, also auch einer Angst vor (viel und unkontrollierbarer) Nähe, vor Sexualität. Soft Skills, Sinnlich-Ästhetisches, Flüssig-Wässriges, Formlos-Diffuses, Natürlich-Reines, Kindlich-Verführendes füllen den Horizont, der unter einer neuen ›Feminisierung‹ erscheint. Diese dem ›Weiblichen‹ zugeschrieben Attributionen stehen in einer langen abendländischen Tradition. Neu scheint jedoch, dass die Ausgrenzung von einem Einschluss überlagert wird. Es findet sich also ein paradoxer Zusammenhang zwischen Flexibilisierungstendenzen und einer Zementierung der Geschlechterordnung (vgl. Mixa/Vogl 2010). Das Mentalparadies oder »Total entspannt seit Robinson« Auf dem nächsten Bild, einem Werbesujet in einer Zeitschrift,39 sind ein Mann und eine Frau zu sehen. Sie sitzen nahe nebeneinander, mit verschränkten Beinen, auf einem Felsplateau in aufrechter Haltung, ihre Hände ruhen im Schoß. Beide Figuren haben Augen und Mund geschlossen, nehmen dieselbe Arm- und Beinhaltung ein. Hinter ihnen liegt Weite und Ruhe vermittelndes Wasser, das mit dem hellblauen Himmel zusammentrifft, von dem es durch einen weißlich-zartrosa Streifen am Horizont getrennt wird. Stille und Ruhe und sonst nichts: »Total entspannt seit Robinson.« Beide Gestalten wirken 38 | Es sind zwei Köpfe zu sehen, die ineinander übergehen, Abbildungen des römischen Licht- und Sonnengotts Janus ähnlich. Er ist Gott allen Ursprungs, des Anfangs und Endes, auch Herrscher über die Quellen. In seinem Falle ist jedoch ein Kopf nach rückwärts, in die Vergangenheit, die Geschichte, und der andere ist nach vorne, in die Zukunft, gewandt: Weltsicht. Die abgebildete Nixe kann/muss sich selbst ansehen: Selbstsicht. 39 | Das Inserat des Reisunternehmens Robinson (https://de.wikipedia.org/wiki/Ro binson_Club) war in einer der Sommerausgaben der Zeitschrift »Men’s Health« 2005 abgedruckt.
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selbstversunken, ganz bei sich und anderswo. Die legere Kleidung, die konzentriert-angespannte Körperhaltung und der entrückte Gesichtsausdruck deuten auf eine Übung hin, eine Meditationsübung. Ihre Köpfe sind mit dem Himmel verbunden und von hinten kommt ein Licht. Es geht um Wasser, Licht und Luft, um Geistlich-Spirituelles: Weite, Kosmos, Äther, Erleuchtung. Sie tun das gleiche nebeneinander, gehören zusammen. Sie sind zu zweit und jedeR für sich alleine. Es lässt sich wenig über die Art der Beziehung, die die beiden zueinander haben, sagen. Ihr Verhältnis ist asexuell dargestellt: Der Unterleib verschwindet in den weiten Trainingshosen und wird von den Händen verdeckt. Offensichtlich aber teilen sie eine außergewöhnliche Erfahrung, eine besondere Stimmung, die sich in ihnen abzuspielen scheint. Das Bild handelt von einer besonderen Art der Verbindung zweier Menschen: Sie sind im Mentalparadies. Abbildung 3: Wellness-Oase
Der Gestalt des Mentalparadieses als Sehnsuchtsort der Entrückung von irdischen Anforderungen und als regressive, primärprozesshafte Erinnerungsspur, korrespondiert ein realer und phantasmatisch-fiktiver Ort, die WellnessOase. Als Krisenheterotopie wird sie zum Raum für Revitalisierungsprozesse vulnerabler spätmoderner Subjekte, deren Sehnsucht nach Spannungsfreiheit die eigene Implosion zeitigt, eine Leere, die mit suchtartigem Wohlfühl-Konsum gefüllt werden könne und solle. Die zentrale Botschaft dieser Wellness-
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Abbildung ist, neben der Visualisierung des besonderen spirituellen Zustands, die Frage (gegengeschlechtlicher) Beziehungen und Verhältnisse zueinander. Deutlich ist die Innenwendung als Zustand totaler Entspannung. Was aber die sichtbare Innenwendung zur Abwendung transformiert, zu einer asozialen Geste fixiert, wie in einem Kippbild, ist die körperliche Bezugslosigkeit, die fehlende Berührung der beiden Gestalten, was eine Beliebigkeit bis Bedeutungslosigkeit der Beziehung impliziert. Ob Burnout oder Boreout – angesichts dieser greif baren Paradiese kann niemand mehr seine alltägliche und oft sehr einfache Zufriedenheit finden. Verbesserung statt Besserung, Prävention statt Genesung, Training statt Müßiggang – das lebenslange Lernen für ein überglückliches, langes, langes Leben ist ein Selbstprojekt, auf welches jedeR verpflichtet wird: Selbstoptimierung. Die Vernachlässigung der self-awareness und emotionalen Intelligenz beschreibt dabei gleichsam ein pathologisches Unvermögen, das bestenfalls noch therapiert werden kann.
Grenzenlose Wohlgefühle und ›Störungen‹ im Bilddiskurs Generell zeigen die Ergebnisse der Bildanalysen40 folgende Gemeinsamkeiten: Die Bilder sind durch eine Dekontextualisierung des Raumes gekennzeichnet. Die Szenen finden in einem entgrenzten Raum, einer austauschbaren Örtlichkeit, einem (N-)Irgendwo und Überall statt, womit Grenzenlosigkeit suggeriert und thematisiert wird. Eine, manchmal nur implizite, Glätte und Oberfläche dominieren (Haut und/oder Spiegel – oft über das Wasser vermittelt). Meist durchziehen Dichotomien (starke Kontrastsetzungen, etwa Ruhe/Unruhe) die Darstellungen, sehr oft aber vermittelt auch diffus Verschwommenes, eine Unschärfe als Inszenierungsmodus, die Assoziation von Geheimnis, Intimität, Sinnlichem, wie es auch in der vorgestellten Bäderserie deutlich wurde. Die Ästhetisierung im Diskurs zeigt sich v.a. in exotisch-sinnlichen Arrangements und Lichtsetzungen. Es kommen allgemein bekannte Symbole und Metaphern zum Einsatz. Personendarstellungen zeichnen sich durch strahlende, vergeistigt-entrückte Gesichter aus – die Augen sind durchwegs geschlossen, die Haltungen raumgreifend (Glück, Schwerelosigkeit, Spiritualität suggerierend). Begegnungen, Vereinigungen, aber auch einfach das Relaxen für sich alleine, finden an einem dritten Ort statt, in einem virtuellen Raum, in dem jedeR für sich ist. Die Innenwendung markiert gleichzeitig eine Abwendung vom Anderen. Drei Gestaltungen des Wellness-Narratives sind damit vorgestellt: die Nixe, die Oase, der/die Selbst-Coach. Nun ist zu fragen, ob und wie sich neue Stö40 | Visualisierungen sind ein wesentlicher sinnlicher Kommunikationsmodus im Wellness-Diskurs, folglich waren Wellness-Bildmaterial und entsprechende Analysemethoden (Bildanalyse, Bilddiskursanalyse) im Forschungsprozess zentral.
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rungsbilder mit der Wellness-Erzählung in Verbindung bringen lassen. Die Themen lauten Dislokation – überall und nirgends –, Dissoziationen hinsichtlich der Positionierung der Gestalten zueinander, Innenwendungen, die einer Abwehr von Realität und der Idealisierung und Flucht in eine virtuelle Welt gleichkommen. Entsexualisierte Figuren stehen sexuellen Ersatzhandlungen gegenüber: Über den Geruch und das Spüren, das Eindringen von Wirkstoffen über die Poren in die Haut und zu den Gefühlen, ist Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität latent im Spiel, jedoch in Form eines postsexuellen Begehrens. Mit den drei Bildanalysen lassen sich Thesen zu den Modi implizit thematisierter ›Störungen‹ ausmachen. Die Tetesept-Badezusatz-Serie führt in ein phantasmatische Ersatzwelten, wobei dieser Wohlfühl-Konsum zugleich im Modus der Sucht verläuft. Die Nixe ohne Gegenüber, versunken in kindlichphantasmatisches Genießen, lässt sich als asexuelle Angstgestalt lesen, der die Leidenschaften für andere und ihre Unwiderstehlichkeit genommen wurden. Und schließlich das Mentalparadies als realer Ort, der sich allerdings als ersetzbar, quasi allerorts in der Realität auffindbar, erweist, wobei er sich durch Unbegrenztheit und damit auch Dislokation, ein ›Überall und Nirgendwo‹ auszeichnet. Gestalten an diesem dritten Ort weisen eine Art Dissoziation auf, die sich in einer asozialen Haltung anderen gegenüber – soweit diese überhaupt vorhanden sind – ausdrückt. Entrücktes, Verrücktes – das Pendeln zwischen zwei gänzlich gegensätzlichen Welten, dem Alltag und dem Oase-Erlebnis – ist verbunden mit dem Wunsch nach einer phantasmatischen Hingabe an illusionären Zauber, der aber als Realität erfahren werden kann. Es gibt keinen Kontakt zu einem wie auch immer geratenen Außen, die Innenwendung ist eine soziale Abkehr, die jedoch einen dritten Raum im Selbst hervorbringt, das Mentalparadies. Unbegrenztes und Grenzenlosigkeit erschweren die Orientierung im Raum, machen ihn kaum fassbar. Dislokation und Dissoziation, die Frage der Innenwendung als Abkehr, Mentalparadise und Wellness-Oasen als dritter Ort und Raum der Sakralisierung des Selbst, ein Prozess der Nivellierung auf die Mitte, sowie einer Infantilisierung von Sexualität, einem post-sexuellen Syndrom – all das sind pathogene Bedingungen für ein vulnerables Selbst.
Wellness – ein spätmodernes Märchen Das Wellness-Narrativ, welches auch als spätmodernes Märchen und Neo-Religion gelesen werden kann, konturiert also bedeutsame Figurationen – die Nixe, die Oase, den Coach. Im Wellness-Dispositiv tauchen retuschiert-kaschierte Angstgestalten und rettende Engel ebenso auf wie paradiesische Sehnsuchtsorte. Die zauberhafte, magische Rhetorik und Metaphorik des Diskurses, die in in litanei- bzw. mantraartigen Wiederholungen in immer unterschiedlicheren, konsumierbaren Wohlfühl-Waren auftaucht, verspricht Heil. In der Wellness-Erzählung entwickelt sich gleichzeitig, gleichsam als legitimatorischer Horizont,
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eine unüberschaubare Menge an Übeln: Ob in Beipackzetteln zu Artefakten oder Rahmungen von Bildern – es enthüllt sich ein Raum der Störungen, Befindlichkeitsstörungen, die als Alltagspsychopathologien popularisiert werden. In Prozessen der Profanisierung und Entsexualisierung sowie einer Innenwendung als Abkehr und Loslösung von allen Konflikten und sozialen Beziehungen, entsteht ein spannungsfreier Raum, der aus einer Implosion, einem Freispielen von Bezogenheit, erwächst. Ein neues Selbst mit einem neuen Raum zeigt sich: das Mentalparadies als letzter sakraler Ort und als Sehnsuchtsgestalt. Der freiwillig gewählte Weg durch ein dunkles All an alltäglichen Bedrohungen, allen voran Stress, folgt einem versteckten Imperativ: Relaxe und genieße! Neben diversen Selbsttechnologien, sollen die Medien Wasser und Nixe sowie zahlreiche auratisch wirkende Essenzen, die über körperliche Öffnungen, v.a. die Poren, einwirken und einfach, wie im Schlafe, Erholung und Glücksgefühle hervorbringen: Zauberhaft-Magisches als Heilsweg. Aber anders als in allen Märchen gibt es kein gutes Ende, keine implizite oder explizite (Er-)Lösung. Das spätmoderne Wellness-Subjekt ist ein chronisch Gesunder, eine chronisch Gesunde, welche in ständiger Bedrohung lebt und unentwegt an der Illusion ewiger Harmonie, an sich selbst arbeitet. Gleich dem Verhältnis von Adler und Prometheus findet er sich in nagender und unendlich ermüdender Selbstverbesserung wieder, ohne jemals Zufriedenheit zu erlangen.41 Und gleich einem bösen Fluch, ist die zauberhafte und verführerische Rede von der guten Gesundheit, von Genuss, Entspannung und paradiesischen Wohlfühl-Zuständen von Paradoxien begleitet, die sich double-bind-artig in den Wirkweisen enthüllen. Die freiwillige Unterwerfung, der Zwang zur Freiheit, der Innenwendung, entspricht eine entpolitisierte, anti-intellektuelle Vereinzelung. Insbesondere die suchtartige Abhängigkeit von Wohlfühl-Konsum einerseits und eine Rat gebende Begleitung – eine Führung in bislang als intim geltenden Bereichen und Räumen des Selbst – andererseits trotzen, entgegen aller Heilsversprechen, einer vermeintlichen Autonomie: Vielmehr kommt es zu einer Selbstpathologisierung.42 41 | Mit Byung-Chul Han lässt sich der Mythos des Prometheus »zu einer Szene des psychischen Apparats des heutigen Leistungssubjekts umdeuten, das sich selbst Gewalt antut, das mit sich Krieg führt. Das Leistungssubjekt, das sich in Freiheit wähnt, ist in Wirklichkeit gefesselt wie Prometheus. Der Adler, der an seiner ständig nachwachsenden Leber frisst, ist sein Alter Ego, mit dem es Krieg führt. So gesehen ist das Verhältnis von Prometheus und Adler ein Selbstverhältnis, ein Verhältnis der Selbstausbeutung. Der Schmerz der an sich schmerzlosen Leber ist die Müdigkeit. So wird Prometheus als Subjekt der Selbstausbeutung von einer endlosen Müdigkeit erfasst. Er ist die Urfigur der Müdigkeitsgesellschaft« (Han 2013: 5). 42 | Dies ist ein Beispiel für den Prozess fortschreitender Psychiatrisierung und Selbstpathologisierung wie ihn Nicolas Rose (2006: 481) in seinem Aufsatz als »psychiatrization of the human condition« herausarbeitet.
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IV. D as W ohlfühl-D ispositiv oder vom S ex - zum R ela x -A ppeal Wellness präsentiert sich als eine Art Gegenbild, ein Gegenbild zu bedrohlichen Übeln der westlichen Gegenwartsgesellschaft: Ruhe und Entschleunigung gegen Lärmbelästigung und Rushhour; Harmonie gegen Spezialisierung und Zergliederung; Kontemplation versus Zerstörung durch Krisen, Wirtschafts-Kriege, Terrorismus; Natur und Natürlichkeit versus Künstlichkeit des Lebens; Sinnlichkeit versus Rationalität und Rationalisierung; Gefühle versus Technik und Börsenindex; Entlastung durch Einfachheit versus Informationsfluten; Magie und Spiritualität versus Profanisierung und Entzauberung; Prävention statt Invasion; lokal versus global und dann noch einfach angenehm. Abbildung 4: Wellness als Burnout-Prävention
Wellness verspricht Ausgleich, Harmonie, Balance, Energie – womit Körper und Selbst zugleich als bedroht und aus dem Gleichgewicht geraten vorgestellt werden. Energie als zentraler Begriff der Industriegesellschaft verknüpft den menschlichen Körper mit ökonomischen Leistungsverhältnissen und Haushaltung. In einem »Narrativ der Emotionen« (Rose 1991: 257) erscheint Stress als Hauptbedrohungsszenario im Wellness-Diskurs: Stress als selbst zu verantwortende, individualisierte Überforderungsreaktion, als Fehlanpassung des gesamten Body & Soul-Systems mit einschneidenden Folgen. Ähnlich dem Virus als »mastermetaphor« der globalisierten Welt (Sarasin, 2004: 291), welche in mehrfach doppeldeutiger Weise die Lust an schrankenlosem Austausch und die Angst vor Infektion in diesen Kontakten signifiziert, kann, so die hier angestellte These, Stress als mastermetaphor neoliberaler Lebens- und Arbeits-
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verhältnisse gelten: Er bezeichnet die Turboenergie und die Verausgabung im Sinne der Selbstverwirklichung (Eustress) sowie die Angst vor der daraus resultierenden individualisierten Erschöpfung (Disstress). Stress und Überforderung auf allen Ebenen des Seins sind die zentralen Bedrohungsszenarien respektive Legitimationsstrategien im Wellness-Diskurs. Relax ist Imperativ gleich wie paradiesische Verführung. Genießen ist Praxis, Genuss das Heilsversprechen. Auf einem expandierenden WohlfühlMarkt, auf den Jahrmärkten der Wohlgefühle, werden unterschiedlichste Artefakte, Techniken, Einrichtungen, Trainings vorgeführt. Selbsttechnologien wie Subjektivierungsweisen sind Selbst-Coaching und mood management, wobei alles gestattet ist, was »einfach gut tut«. Cremen, massieren, stimulieren … Wellness-Praktiken setzen am Körper an und sind denn doch deutlich unterschieden von vorangegangenen Diskursen, etwa dem Fitnessdiskurs. Im Wellness-Diskurs ist Wohlfühlen, sind Gefühle und das Selbst, Fokus von Selbsttechnologien. Body & Soul erweist sich als neues Label und Metapher für Wellness. Das emotionale Selbst stellt, stets bedroht durch eine gefährdende Umwelt, ein vulnerables Selbst, verletzlich und anfällig, dar. Der Körper erscheint nicht mehr als »reizbare Maschine« wie im Hygienediskurs (Sarasin 2001: 20). Der ständigen Wartung und Aufladung bedürfen die affizierbare Systeme des Wellness-Diskurses. Wellness-Praktiken sind sich laufend ändernden Life-Style-Moden unterworfen. Ein Beispiel ist der Lauf-Boom (Frauenlauf, Firmenläufe, national veranstaltete Marathon-Läufe etc.), aktuell aber auch die unterschiedlichsten Varianten von self tracking. In diesen Prozessen kommt es zu einer verstärkten Ästhetisierung und Naturalisierung emotionaler Inszenierung als authentisch. Einem Optimierungsstreben der vergesellschafteten Einzelnen entspricht ein freiwillig gewähltes Effizienzdiktat, eine nanotechnologische Zeitrechnung, die sich als Steigerung der Lebensqualität anpreist. Wellness ist kein Diskurs wie jeder andere. Wellness ist ein spätmoderner Anstandsdiskurs, angesiedelt an gesellschaftlichen Umbruchprozessen, verbunden mit einer Popularisierung von neuem Wissen und neuen Verhältnissen sowie mit adäquaten Verhaltensmodi, ein Transformationsdiskurs, der anstehendes (im Sinne von verändertem, drängendem) Verhalten ›verregelt‹. Thema und Gegenstand sind Gefühle, Wohlgefühle. Wellness kann als jener Diskurs bezeichnet werden, der für den Emotionen-Diskurs im deutschen Sprachraum firmiert. Denn mit Wellness findet eine weitere Verschiebung statt: In dem Maße, in dem Selbstwertkultivierung zum Akt ziviler Verantwortung wird und sich soziale Fragen zusehends in emotionale transformieren, entwickelt sich der Anstandsdiskurs vom Verhaltensdiskurs zum emotionalen Performancediskurs. Angepasstes Verhalten wird in einem ökologischen und ökonomischen Umgang mit emotionalen Ressourcen artikuliert. Während anständiges Verhalten zunächst an ein System der Normen und der Disziplin gebunden war, entwickelt sich in der Kontrollgesellschaft (Deleuze 1991) in einer sich verdichtenden
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therapeutischen Kultur das Modell der Beratung als neue Form der (Selbst-) Führung heraus. Das Anwachsen der Authentizitätsindustrie wirft die Frage nach neuen Psychotechniken auf. Als zentrale (Beg-)Leitfigur, als spätmoderner Engel, erweist sich der/die Selbst-Coach. Vom moralischen Verhaltenscodex und von sanktionierten Vorschriften entwickelt sich der Anstandsdiskurs zur Selbstanleitung mit Begleitung. Mit diesem Umstand ist auch eine wissenschaftsgeschichtliche Verschiebung von der ›Couch zum Coach‹ skizziert – eingebettet in Techniken von der Psychoanalyse über Humanistische Therapien und Körpertherapien, zu systemischen Interventionen bis zum Neurolinguistischen Programmieren (NLP), insbesondere aber zu autosuggestiven Verfahrensweisen. In einer erweiterten Palette von (suggerierten) Gesundheitsrisiken (Lupton 1999) etablieren sich neue ›Technologien der Sicherheit‹, im Falle von Wellness sind dies Entspannungs- wie Selbst-Optimierungstechniken. Der Wellness-Diskurs figuriert gleichzeitig ein neues Dispositiv, ein Wohlfühl-Dispositiv, verstanden als Formation, verbunden mit einem dichten Netz an eigenen gesellschaftlichen Einrichtungen, den Spas, Gestaltungen und Figurationen, verbunden mit objektivierenden wie subjektivierenden Praktiken, in dem sich ein neues Wissen herausbildet, das folgendermaßen pointiert werden kann: von ›sa voir‹ zu ›se voire‹, von der Weltsicht zur Selbstsicht. Modus der Transformation der Emotionen ist das Reinigen, Modulieren, Stimulieren und Inszenieren eines moderaten Selbst. Transfigurationen im Wellness-Diskurs sind die Nixe und die Oase, auch als genealogische Gestaltungen. Nixe wie Wasser bedeuten Gefühle, die mit Wellness neu konnotiert werden. Wasser als zentrales Medium soll in Bezügen zur Lehre von den Elementen gelesen werden: Während um die Wende zum 19. Jahrhundert, ähnlich wie heute, eine Wassersehnsucht zu konstatieren ist, erfährt das damals mehrheitlich als bedrohliches Element mystifizierte Wasser (Foucault 2001) und ebenso die Leidenschaft signifizierende Nixe mit Wellness eine Reinigung von Aquatischem. Wasser wird als neues Leitmedium (positiver Vibrationen) entdeckt. Über die Figur der Nixe wurden aktuelle Umschriften der Geschlechterordnung thematisiert. Mit dem Wellness-Diskurs verschwinden die bedrohlich, verschlingenden, verführenden Züge der Nixe. Als Vergleichsfigur kann jene der Hysterika um die Jahrhundertwende, welche das Ekstatische, Unkontrollierbare signifiziert, fungieren (Eiblmayr et al. 2000). Dem Wohlfühl-Dispositiv ist die Erschöpfung inhärent. Nicht in einer kompensatorischen Bedingung, in welcher das Wellness-Angebot als verständliche Ruhesehnsucht auftritt, sondern vielmehr in einer produktiven Ausbreitung und im gegenseitigen Verweis aufeinander, haben sich Begrifflichkeiten wie Wellness und Burnout in unseren Alltag eingeschrieben – und das in einer solchen Geschwindigkeit und mit solcher Vehemenz, dass sie bereits alltäglich, auch für das Darstellen der eigenen Bedeutsamkeit, verwendet werden. Wellness ist selbstverständlich geworden: Die dynamische Differenzierung von Begrifflichkeiten wie Techniken verweist, neben immer neuen Technologien der
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Selbstoptimierung und Entspannung, auf deren Normalisierung im Alltag. Mit Wellness verbunden sind (neue) Befindlichkeitsstörungen, aber auch das Entstehen symptomatischer Pathologien: Neben der Depression ist das v.a. die Boderline-Persönlichkeitsstörung. Mit Wellness entstehen neue gesellschaftliche wie emotionale Räume: Heterotopien. Das Mentalparadies Wellness, wiewohl Simulakrum, kann als geschützter Raum verstanden werden, weil Figurationen postmoderner Kulturen selbst als Symptome ihrer institutionellen und ideologischen Rahmenbedingungen verstanden werden müssen. Das Symptom ist gleichermaßen Vergegenständlichung simulierter Verfassungen (wie Utopien) oder einfach nur von Wünschen. Das Mentalparadies ist folglich nicht bloß Sehnsucht, sondern nunmehr realer Ort geworden – Rekreations- und Transformationsraum. Gleichsam als »dritter Ort« (Bhabha 2000) ist es simulierte Realität, Hyperrealität, die konstituiert werden kann auf Basis der Mobilisierung sogenannter innerer Räume – den Räumen von Träumen und Leidenschaften, den Räumen unserer ersten Wahrnehmung. Neue Inszenierungsweisen versuchen, selbst transitorischen Räumen, aber auch Räumen kindlicher Erinnerung (Disneyfizierung), Gestalt zu geben. Das Mentalparadies als »dritter Ort« – als Meditations-, Wachtraumraum und virtueller Raum – fungiert auch als Auflösungsgestalt von Grenzen und damit von Örtlichkeit. Das (Mental-)Paradies ist getragen von der Sehnsucht nach Anbindung an die sogenannte alte Welt, an das alte Wissen – darin eingeschlossen ist eine ästhetische Aufladung von Geheimnis, in welchem Magischem, Mythischem und dem Zitieren von Elementen alten Wissens Bedeutung zukommt. Neben Modi der Re-Mythifizierung und Ritualisierung basaler körperlicher Verrichtungen und Tätigkeiten, stehen Praktiken der mentalen Stärkung im Zentrum: Selbststärkung in Abgeschiedenheit qua leiblichem Sein in ruhiger Bewegung als ästhetische Praxis. Es geht um Praktiken der Läuterung: ›das Finden der Mitte‹, ›der Weg als Ziel‹, das Lob von Wiederholung und Langsamkeit, von Umkehr und/als Selbstbegegnung. Die Neuordnung von Beziehungen lässt sich als Vorkommen intimster Rituale an öffentlichen Orten bzw. als Auflösung von Örtlichkeit selbst beschreiben, als Profanisierung durch Kommerzialisierung und Technisierung von Berührung und Sexualität. Sie lässt sich beschreiben als tendenzielle Auflösung von Grenzen zwischen Innen und Außen, die über die Haut als Kommunikationsorgan angezeigt werden. Sie zeigt sich in Form der Suche nach einem scheinbar letzten ›heiligen Ort‹ im Innersten des Körpers, was schließlich eine Sakralisierung des Selbst gleichkommt. Einer fokussierten Aufmerksamkeit auf sich und das Selbst korrespondiert eine asoziale Abkehr von anderen. Heterotopien sind an Zeitschnitte gebunden, an Heterochronien. An diesen ›anderen Orten‹ verbinden sich endlos akkumulierte Zeit – Zeitlosigkeit, Langsamkeit, Ewigkeit – und das Flüchtigste der Zeit – ein Fest für die Sinne.
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Die Zeit wird aufgehoben, indem man in ihre Ordnung eintaucht. Das Eintauchen in Zeitlichkeiten, das der herrschenden Verknappung von Zeit (Stress) zuwiderläuft, ist das Motiv und Heilsversprechen von Wellness schlechthin. Wellness-Oasen scheinen eine seltsame Mischung unterschiedlicher Heterotopie-Formen (Foucault 1990: 40) darzustellen. Im Zentrum der Diskurse steht allerdings die Oase als Ort für Entspannungssuchende, Gestresste. Als Ruheraum trägt sie auch die Züge der Krisen-Heterotopie. Die Oase ist zugleich auch Blase, Uterus, virtueller Raum, ein Ort der Abschließung von Realität und Äußerem. Die Oase kann in diesem Sinne auch als Bunker oder Bollwerk gelesen werden, vor einer im Diskurs als bedrohlich bis feindselig vorgeführten Umwelt, in der es zu relaxen gilt, auch gleichsam als ›Abtauchen‹ und Schutz vor realen Kriegs- und Krisenszenarien. Wellness kann als postsexuelles Symptom gelesen werden, als eine Über lagerung des Sexualitäts-Dispositiv durch das Wohlfühl-Dispositiv: Die Aufforderung zur Entspannung führt zu Spannungsverlust. Während es über Ästhetisierungsprozesse zu einer Sexualisierung kommt, finden sich unter den Wellness-Praktiken Ersatzformen von Sex – Cremen, Massieren, Stimulieren. Texte wie Visualisierungsweisen zeugen von einer Infantilisierung von Sex: »es wird kuschelig«. Die ohnedies bereits entsexualisierte Nixengestalt wird mit der Wellness-Welle von den letzten Resten an Aquatischem gereinigt – heftige Gefühle und Extatisches werden moduliert. Die mit Wellness sich vollziehende Bewegung vom Sex-Appeal der 1960er Jahre hin zu einem Relax-Appeal der Jahrtausendwende markiert eine Verschiebung des Sexualitätsdispositivs hin zu einem allgemeinen Wohlfühl-Dispositiv, eine Entwicklung, die insbesondere auch mit bio- und reproduktionstechnologischen Revolutionen zusammengedacht werden muss (Treusch-Dieter 1990). Wellness ist ein Zauberwort und »Zauberworte haben eine Geschichte, die nicht durch große Ereignisse markiert wird, sondern durch langsame Verschiebungen oder plötzliche Verwerfungen ihrer Bedeutung, durch das Verblassen ihrer Ausstrahlungskraft oder das Auftauchen einer neuen Wahrheit«, konstatiert Sarasin (2001: 29) in Auseinandersetzung mit dem Hygienediskurs und er wirft die Frage auf, ob nicht, unter neuen Namen wie etwa auch Wellness, die Faszination für die Hygiene ungebrochen bleibt (ebd.: 29f.). Aus Perspektive der gegenständlichen Ausführungen ist die Frage zu bejahen: Viele Dimensionen des Hygienediskurses finden in Wellness eine Kontinuität, deutliche Brüche und Umschriften wurden jedoch sichtbar. Der Wellness-Diskurs steht in einer Genealogie von Umbruchdiskursen. Als Transformationsdiskurs von Emotionen und Selbstverhältnissen kann er in eine Genealogie von Anstandsdiskursen der Moderne eingereiht werden. Wellness ist keine Utopie mit Veränderungsimpetus oder -wunsch, sondern eine hegemoniale Vertröstungsstrategie mit paradiesischen Verheißungen, die sich im Hier und Jetzt realisieren (sollen). Wellness ist Neoreligion.
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Als eine spezielle kulturelle Diskursformation, die an Wohlgefühlen, Innenwendung und rooming bzw. homing orientiert und an Konsum gebunden ist, könnte Wellness auch als Neo-Biedermeier beschrieben werden. Verbunden mit einer neoliberalen Umgestaltung der Kontrollgesellschaft, mit Sinnentleerung, Diffamierung und Selbstdiskreditierung von bislang geltenden Glaubenssystemen, werden neue Grenzlinien gezogen. Das Wellness-Narrativ kann als Bild der Verdrängung angesichts weltweiter Krisen und Konflikten dechiffriert werden, als eine Sublimierung, als Flucht in eine imaginäre Welt, in ein Wunderland. In einer Beschwörung von Gesundheit und Glück verheißender Natürlichkeit verbirgt sich ein Prozess überhöhender Ästhetisierung und manipulativer Inszenierung von Lebendigkeit. Double-bind-artig bewegen sich in latenten Inhalten versteckte Imperative einer normativen Normalisierung von Herstellungsprozessen und deren gewünschten Resultaten. In einer erweiterten Palette von sogenannten Gesundheits-Risiken, zeigen sich neben klassischen Erschöpfungssymptomatiken wie Burnout und (Erschöpfungs-)Depressionen zusehends neue Störungsbilder, die sich in einer Grauzone zwischen gestörter Gesundheit und behandlungsbedürftiger Krankheit bewegen und zum Teil offensichtliche Zeitgeistleiden sind.
V. P ost S crip tum : U nwohlgefühle Ausgehend von der Perspektive, dass jede Kultur und Epoche je spezifische Störungsbilder aufweist, die einer intensiven (psychiatrischen) Behandlung zugeführt werden,43 wird hier die These aufgestellt, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die, ähnlich der Hysterie, mehrheitlich bei Frauen diagnostiziert wird, symptomatisch für die Grenzgänge in der Gegenwartskultur zu sein scheint. Die sie beschreibende, allgemein kennzeichnende mangelnde Affektkontrolle erscheint als zu regulierender Gegenpol zur zentralen Bedeutung von Mittelmaß, der Angemessenheit und Notwendigkeit der Kontrolle, von Nivellierung und Latenz als Konstante. Auch die diagnostisch beschriebene innere Anspannung in Form der Allgegenwart von Stress steht für pathogene Züge einer Gesellschaftsformation. Betrachtet man die einzelnen Borderline zugeschriebenen Symptome, so finden sich markante Parallelen zur postsexuellen, Borderline-artigen Symptomatik der Gegenwartskultur. Unter Bedingungen einer »culture of fear« (Furedi 2006) einer weiter wuchernden »consumer culture« (Feathererstone 1991) und eines Mythos des Ultimativen – Höchstleistungen und Himmlisches –, verstärken sich im und mit dem Wellness-Diskurs 43 | Hierfür ist die Hysterie unter Frauen an der Wende zum 20. Jahrhundert breit analysiert und beispielgebend (vgl. u.a. Braun 1990).
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einzelne Gefühle, die ein spezifisches gesellschaftliches Stimmungsumfeld beschreiben und gleichzeitig individuelle (Ver-)Stimmungen hervorbringen. Angst, Selbst-Zerstörung, Bindungsprobleme, permanente Überforderung als krankmachender Stressor sind gesellschaftliche wie individuelle Symptome, wo nur noch Zauberer, Ritter oder Götterinnen helfen können, die auch als solche auftreten. Individualisierung und Flexibilisierung sind hegemoniale gesellschaftliche Begriffe bzw. Schlagworte im Diskurs, die mit einer Problematisierung von bisherigen sozialen Beziehungsformen und von Sexualität verbunden sind. Wellness wird in dieser gesellschaftlichen Dynamik als bedeutsamer Überlebensund Funktionsmechanismus angeboten. Die Verdrängung von Konflikt bis zur Verleugnung des Wider-Sinns charakterisiert den Modus, wobei Konkurrenz und Risiko als unbegrenzbare Stressoren die eigene Unvollkommenheit und Hilflosigkeit spiegeln. In Form von drohenden und virulenten Krisen tritt das Verdrängte im Latenten auch individualisiert zutage. Das eigene Funktionieren wird über freiwillige Befolgung expliziter wie impliziter Imperative in eigens dafür geschaffenen Räumen, einem abgestürzten Computerprogramm gleich, wieder hergestellt. Anpassung an Gegebenes erscheint als Leistung. Häufig wird Wellness auch als Kompensation in dieser auf vermehrter Leistung, Konkurrenz- und Arbeitsdruck basierenden aktuellen Gesellschaftsformation beschrieben, was das ›Auftanken‹ in einem Spa, um wieder ›fit to work‹ zu sein, ja zweifelsfrei auch ist. In diesem Beitrag wurde jedoch eine andere Perspektive eingenommen: Der Wellness-Diskurs mit all seinen Artefakten und Techniken wurde in seiner produktiven Kraft, in seiner Gestaltungsmacht, insbesondere aber in seiner das Selbst transformierenden Wirkweise analysiert, womit neben Kontinuitäten wie dem Fitness-Diskurs, v.a. Brüche und neuartige Verbindungen in den Blick gerieten. Thematisiert wurden die Paradoxien, das oft widersprüchliche Nebeneinander, oder auch seltsam anmutende neue Verschränkungen, die gesellschaftlichen Transformationsprozessen innewohnen. Emotionen, Körper, Geschlecht, Soziales und Räume, Verhalten und Verhältnisse wandeln sich im Wellness-Diskurs, der neue Richtungen vorgibt. Es geht um Einpassungen, die zugleich mit Freiheitsgewinnen verbunden sind, und um Pathologisierung bislang privater, intimer Gefühle, um die Entstehung neuer Befindlichkeitsstörungen aufgrund neuer Sensibilitäten bei gleichzeitiger Sensibilisierung sich selbst gegenüber. Es vereint sich die Vergesellschaftung selbstzufriedener, wohltemperierter Mittelmäßigkeit im Empfinden bei gleichzeitiger Nivellierung von Ekstase und unkontrollierbaren Intensitäten. Die Innenwendung als soziale Abwendung wandelt die herkömmliche Beziehungsformen, Verhältnisse wie Selbstverhältnisse. Konsum- und Leistungsgesellschaften schüren Schönheits- und Gesundheitswahn sowie Perfektionismen aller Art. Denn es geht um das Ultimative, um noch besser, schöner, gesünder, klüger, um
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einen Vergleich, der sich unter neoliberalen Verhältnissen notgedrungen konkurrenzförmig und nicht gerade unblutig Geltung verschafft. Relax [!] geht wohl mit dem gleichen Paradoxon einher, wie das Authentische, das mit der Aufforderung verbunden ist, ganz man selbst zu sein, so, dass die Inszenierung nicht merkbar sein darf. Es ist wie die Losung: »sei spontan« oder »sei kreativ« – etwas, das, indem es als Aufforderung ausgesprochen ist, ein Paradox etabliert und nicht mehr funktionieren kann. Relax als gesellschaftlicher Imperativ bedeutet eine vergesellschaftete Individualisierung, das Ende des Eigensinns, eben eine Form der Individualisierung im Sinne von Gouvernementalität – eingespannt in eine Anforderung an Reglements, die zwingend, weil vernünftig sind, eine Freiwilligkeit als Zwang, in der alle Grenzen aufgelöst sind. Die neuen Befindlichkeitsstörungen sind so gesehen allesamt Implosionen, die mit einer Erosion des Sozialen einhergehen und vice versa, einem Kollaps des Selbst in einem Zersetzungsprozess, der auffrisst. Dies ist einem narzisstischen Modus von Sucht immanent, jener zwanghaften Kränkung, weil man nicht genügt, wo doch alles möglich erscheint, der Allmachtsfantasie der Optimierung ins Uferlose, der Jagd nach abruf barer Intensität und Herrlichkeit, weil man die eigene Knechtung nicht ertragen und nicht sehen kann. Die Mechanismen des permanenten Strebens und Nichtgenügens beschreiben den Weg in die Depression: Das Setzen gesellschaftlicher Standards, die eigentlich unerreichbar sind; der Druck, diese zu erreichen bei latenter Androhung von Sanktionen, nicht Strafe, aber etwas, womit man bezahlen muss; es ist der gesellschaftliche double bind von »jeder ist seines Glückes Schmied« jenseits von Förderung oder Ausgleich; die enorme Kluft zwischen Imagination und Realität, die scheinbar in Wellness zusammenfällt und die – wiewohl Scheinwelt –, indem Reales, Hyperrealität und Realität in eins gehen, so attraktiv ist. Zwei regressiv wuchernde Phantasmen versprechen das Vermeiden von Unwohlgefühlen: die Oase mit der hyperrealen Herstellung absoluter Spannungsfreiheit wird Zufluchtsstätte. Und zweitens die Technologien des Selbst, das Einölen in einem künstlichen Innenraum, der in einer bunt blubbernden und wohlriechenden Seifenblase intrauteriner Gefühle der Einzigartigkeit in Negation notwendiger Abhängigkeiten freisetzt. Zwei Figurationen pathologischer Weiblichkeiten erscheinen am Horizont der Unwohlgefühle: die Erschöpfte, die sich in der Depressionen wiederfindet, und die Grenzgängerin, welche eine Persönlichkeitsstörung, das BorderlineSyndrom, an der Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit ansiedelt. Die um Aquatisches gereinigte Wellness-Wasserfrau in einer Genealogie von Nixengestalten, markiert einen Transformationsprozess, auch im Hinblick auf die Geschlechterordnung, die, ähnlich der Hysterie, kulturelle Symptome zum Sprechen bringt.
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Sexualität, Geschlecht und Unwohlgefühle
Monetarisierung der Gefühle Das Geld als Triebwerk von Emotion und Sexualität Christina von Braun
Der Meister für dieses Thema wäre natürlich der verstorbene Michel Foucault. Er hat vieles von dem ausformuliert, womit wir uns hier beschäftigen: vor allem die Tatsache, dass in der Moderne, die er mit dem Beginn der Aufklärung ansetzt, nicht mehr von einer Unterdrückung der Sexualität die Rede sein kann. Vielmehr gehe es um die Dienstverpflichtung von Sexualität und Emotionalität durch die Macht. Leider definiert Foucault diese Macht aber nicht genauer. Sie kann ebenso gut eine politische Instanz wie Hegels »Weltgeist« sein, der ›Volkswille‹ populistischer Bewegungen oder ›die Geschichte‹ im Kollektivsingular (Foucault 1979). Tatsächlich scheint die Wirkungskraft dieser Macht, die uns alle im Griff hat, auf ihrer Undefinierbarkeit zu beruhen. Ich möchte mit meinem Beitrag versuchen, dieser Leerstelle einen Namen zu geben – den Namen Geld. Foucault war sich der Bedeutung des Geldes durchaus bewusst. Das erkennt man an seiner Reaktion auf Pierre Klossowskis bahnbrechenden Essay von 1970 Die lebende Münze, in dem der Philosoph und Künstler vorschlägt, eben das zur Währung zu machen, was der Kapitalismus nur versteckt andeutet: den menschlichen Körper: »Würde man das, was wir hier industrielle Sklavin nennen, nicht bloß als Kapital, sondern als lebendes Geld veranschlagen […], so würde sie im gleichen Augenblick die Qualität des Wertzeichens übernehmen.« (Klossowski 1998: 88f.) In dieser Funktion könne der menschliche Körper das Gold ersetzen, das »wegen seines universalen Regiments ebenso unmenschlich wie praktisch« ist. Kunstwerke oder andere seltene Objekte können diese Funktion nicht erfüllen. »Aber ein lebendiges Objekt, Quelle wollüstiger Sensationen, wird entweder Währung und wird die neutralisierenden Funktionen des Geldes aufheben, oder aber es wird den Wert des Tausches auf die besorgte Emotion begründen.« (Ebd.: 86) In gewisser Weise greift Klossowski mit seinem Vorschlag das Konzept des zeremoniellen Tausches auf, bei dem der menschliche Körper die höchste Form einer Gabe darstellt, die zwischen Gemeinschaften zirkulieren kann.
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Er zeigt, dass dieser Gedanke auch der modernen Geldwirtschaft zugrunde liegt – nur, dass sich der Tausch nicht von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, sondern zwischen Individuen vollzieht, den Prinzipien der freien Marktwirtschaft entsprechend: Damit »die menschliche ›Person‹ die Funktion des Geldes erfüllen« kann, müssen Produzenten, »anstatt sich Frauen ›zu leisten‹«, »in Frauen« bezahlt werden. Die Unternehmer müssen ihre Ingenieure und Arbeiter »in Frauen« bezahlen. »Wer würde dieses lebende Geld unterhalten? Andere Frauen. Was das Gegenteil nahe legt: daß die berufstätigen Frauen sich ›in Männern‹ bezahlen lassen würden.« Wer unterhielte oder »hielte dieses virile Geld bei Kräften?« Natürlich jene, »die über das weibliche Geld« verfügen. Wer sich die Skandale um den Volkswagen-Konzern oder die ›Lustreisen‹ von Versicherungsagenten anschaut,1 der weiß: Klossowski bildet nichts weniger als die Wirklichkeit des Finanzkapitalismus ab. Die moderne Industrie, so sagt er denn auch, basiert auf »einem lebendigen Geld, das als solches zwar uneingestanden, aber bereits existent ist« (ebd.: 82f.). Foucault hat dem Autor und seinem Aufsatz hohe Anerkennung gezollt, und tatsächlich vermittelt Klossowski eine Ahnung davon, dass die ›liquide Identität‹ der Foucault’schen Macht mit monetärer Liquidität zu tun haben könnte. In Klossowskis Aufsatz gibt es keinen Hinweis darauf, dass er die Geschichte des Geldes kennt, und dass er weiß, dass seine Phantasie an eine lange – zum Teil unbewusst – tradierte Erinnerungskette anschließt: Deren Spuren aber, so möchte ich zeigen, haben sich unseren Körpern und unserer Emotionalität bis in die Jetztzeit eingeschrieben. Wenn wir Geld als Tausch- oder Zahlungsmittel, als Wertmesser oder Wertauf bewahrungsmittel bezeichnen, benennen wir damit nur die Funktionen des Geldes, noch nicht sein ›Wesen‹. Auch unterschlägt diese Beschreibung die Tatsache, dass Geld alles andere als ein geschlechtsneutrales Instrument des Handels ist. Geprägtes Geld ist ein Schriftsystem, es entstand aus Symbolen, die entwickelt wurden, um eine größere Tempel- oder Palastwirtschaft zu ermöglichen. Schrifttheoretiker gehen heute davon aus, dass die Schrift aus den Notwendigkeiten der Buchhaltung entstand (Schmandt-Besserat 1982, 1986). Tonklumpen, die als Symbole für Waren, Dienstleistungen, Schuldoder Eigentumsverhältnisse dienten, wurden später durch Schrifttafeln ersetzt. Die Nähe von Geld und Schrift erklärt, warum sich später beide Systeme parallel zueinander entwickelten: 150 Jahre nach der Einführung des Alphabets in Griechenland wurden die ersten Münzen geprägt. Die Erfindung des Buchdrucks schuf die Voraussetzungen für das Drucken von Papiergeld, das 1 | Zum VW-Konzern vgl. Leyendecker 2007; im Jahr 2007 lud die Hamburg-Mannheimer-Versicherung ihre 100 erfolgreichsten Vertreter zu einer Sexparty nach Budapest ein. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 300.000 Euro. Im Vertreter-Magazin schwärmte man später vom »Mordsspaß«, den man gehabt habe (Voss 2011).
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auch bald danach eingeführt wurde. Heute, wo wir über E-mails miteinander kommunizieren, zirkuliert auch Geld als elektronischer Impuls. Historisch und aktuell gilt: Dort, wo die intensivste schriftliche Kommunikation stattfindet, zirkuliert auch die größte Geldmenge. Da das Geld bei diesem Prozess immer zeichenhafter wurde – nach den Münzen kamen Wechsel, Schecks, dann Aktien, Papiergeld, heute ist es meistens ein elektronischer Bit – und sich immer leichter vermehren ließ, stellte sich auch die Frage nach seiner Beglaubigung immer nachdrücklicher. Diese Rolle sollte dem menschlichen Körper zugewiesen werden, wie die Geschichte der Gelddeckung zeigt.
G elddeckung durch den S ouver än Von den drei Formen der Gelddeckung besteht eine in der Autorisierung durch den Souverän. Einer Münze wird das Symbol einer Stadt, eines Herrschers oder einer Gottheit aufgeprägt. Dies beglaubigt das Geld. Allerdings haben die Herrscher die Macht der Geldemission immer wieder dazu verwendet, ihre Gewinne daraus zu ziehen. Das begann schon in der Antike und zog sich durch die gesamte Geschichte. Allein im Jahr 1303 entwertete Frankreich den Silbergehalt seiner Münzen um mehr als 50 Prozent. »Gelegentlich überstieg das Staatseinkommen Frankreichs durch Währungsmanipulationen das aller anderen Einnahmequellen.« (Reinhart/Rogoff 2009: 88) In der Zeit der Herrschaft Heinrichs VIII und der seines Nachfolgers verlor das Englische Pfund 83 Prozent seines Silbergehaltes (ebd.: 175). »Unter Ökonomen war Heinrich VIII von England für seine Beschneidung der Reichsmünzen mindestens ebenso bekannt wie für die Enthauptung seiner Königinnen.« (Ebd.: 175) Mit der Beglaubigung durch den Souverän ist es also nicht weit her – und mit diesem Problem setzten sich sämtliche Geldtheorien der letzten 800 Jahre auseinander: von Nicolas von Oresme, der im 14. Jahrhundert das Geld den »Falschmünzerkönigen« (Burckhardt 1999: 191) entziehen wollte, bis zu Friedrich von Hayek, der 1977 in seinem Buch Die Entnationalisierung des Geldes für eine generelle Abschaffung nationaler Währungen plädierte: »Wenn man die Geschichte des Geldes studiert, kann man nicht umhin, sich darüber zu wundern, dass die Menschen den Regierungen so lange Zeit eine Macht anvertraut haben, die sie über 2000 Jahre hinweg in der Regel dazu gebraucht haben, sie auszunützen und zu betrügen.« (Hayek 1977: 14)
D ie materielle D eckung des G eldes Zweitens wird Geld gedeckt durch Realien wie etwa Getreide oder Vieh. Das zeigen viele Geldbegriffe. Das Wort shekel zum Beispiel kommt aus dem Akka-
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dischen und bedeutet wiegen. Das lateinische Wort für Geld, pecunia, leitet sich ab von pecus, Vieh. Auch unser Begriff Kapital bezeichnet eigentlich die Köpfe einer Herde, deren Junge die Zinsen sind. (Aristoteles [Politik 1258a5] verwendete denselben Begriff für beides [Zinsen und Junge]: tokos. Wortwörtlich bedeutet er: Sprössling, davon leitet sich der englische Begriff token ab). Unter den Realien galt Grund und Boden immer als »das Pfand höchster Sicherheit und damit höchster Liquiditätsprämie« (Heinsohn 1998: 251). Aber das täuscht: Grund und Boden lässt sich vermehren – etwa durch Bewässerung oder Entwässerung. Oder er verschwindet – etwa durch die Erderwärmung und den steigenden Meeresspiegel. Die Prekarität des Bodens scheint einer der Gründe zu sein, warum ausgerechnet in den Niederlanden – wo ein großer Teil des Bodens unter dem Meeresspiegel liegt – schon früh der Handel mit virtuellen Waren florierte. Das zeigt die Tulpenspekulation von 1635. Ging es bei dieser Spekulation zunächst um reale Tulpenzwiebeln, so wurden diese bald nur noch auf der Basis von Katalogbildern gehandelt: Zettel mit Eigentumsüberschreibungen wanderten von Hand zu Hand, und Händler verkauften Tulpen, »die sie gar nicht liefern konnten, und zwar an Käufer, die über kein Bargeld verfügten, sie zu bezahlen, geschweige denn die Absicht hatten, sie jemals einzupflanzen« (Dash 2001: 144). Nicht durch Zufall entstand in den Niederlanden die erste Börse und wurde auch Kunst schon früh zu einer alternativen Währung. Der berühmte englische Tagebuchverfasser John Evelyn, der im 17. Jahrhundert Europa bereiste, besuchte im August 1641 Rotterdam und war beeindruckt von den vielen Bildern, die es dort auf einem Jahrmarkt zu kaufen gab: »Der Grund für diesen Vorrat an Bildern und ihre Billigkeit rührt von ihrem Mangel an Land her, in der sie ihr Kapital anlegen könnten, weshalb es nichts Besonderes ist, einen ganz gewöhnlichen Bauern zu finden, der zwei- oder dreitausend Pfund für diese Ware ausgibt. Ihre Häuser sind voll davon und sie verkaufen sie auf ihren Messen mit sehr hohem Gewinn.« (Evelyn 1818/1959: 21) Am längsten hielt sich die Gelddeckung durch Edelmetalle – paradoxerweise deshalb, weil deren Wert selber symbolischer Art ist. Man kann Gold oder Silber wiegen oder auf ihren Feingehalt prüfen, aber ihr Wert war und ist immer fiktiv. In Babylon wurde er nach sakralen Gesichtspunkten festgelegt: Während der gesamten Antike und noch weit bis in Mittelalter und Neuzeit hinein betrug das Wechselverhältnis von Gold und Silber 1:13⅓. Warum? Gold war ein Symbol der Sonne, das Silber ein Symbol des Mondes, und das Wertverhältnis stammte »aus dem Verhältnis der Umlaufszeiten der betreffenden Gestirne zueinander« (Laum 1924/2006: 128). Das Rechenverhältnis für die Edelmetalle, das die babylonischen Priester vom Himmel geholt hatten, hielt sich über Jahrhunderte und dieser mythische Hintergrund erklärt, warum Gold auch nach der Aufgabe des Goldstandards seinen Wert als Anlageobjekt nicht einbüßte.
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Dass es auch mit der materiellen Deckung des Gelds nicht weit her ist, zeigt auch die Tatsache, dass heute nur noch ein Bruchteil des zirkulierenden Kapitals in materiellen Werten oder der ›Realwirtschaft‹ seine Entsprechung findet. Zwar behauptet der moderne Finanzmarkt, dass das Geld keiner Deckung bedarf. Aber vieles deutet darauf hin, dass gerade das abstrakte, elektronische Geld beglaubigt werden will. Eben diese Funktion hat der menschliche Körper zu erfüllen, und sie war von Anfang an angelegt in der dritten Form der Geldbeglaubigung.
D ie sakr ale G elddeckung Die dritte Form der Gelddeckung entstand in Griechenland, der Wiege Europas, und kommt aus dem sakralen Opferdienst im Tempel. Das ahd. Wort Gelt heißt eigentlich Götteropfer. Gelten heißt so viel wie zurückzahlen, zahlen, kosten, wert sein, vergelten, entschädigen, aber auch zerschneiden. Geld ist »die der Gottheit zu entrichtende Abgabe« (Laum 1924/2006: 39). Vom Begriff Geld leitet sich die Gilde (oder Zunft) ab, die zunächst Opfergemeinschaft bedeutete (ebd.: 39). Das griechische Wort obolós, von dem auch unser Obolus in der Kirche kommt, bedeutet Bratenspieß und verweist auf das Instrument, mit dem die Mitglieder der Gemeinschaft am Opfermahl teilnahmen. Diese kleinen Bratenspieße wurden zu einer Währung: Sie hatten keinen materiellen, nur einen symbolischen Wert, der sich aus ihrer sakralen Funktion bei den Opferzeremonien ableitete. Die Opferhandlung verschwand, aber das Symbol blieb übrig: Es substituierte das eigentliche Opfer. Die Bratenspieße wurden durch Münzen ersetzt, auf die das Abbild von Opfertieren – Stierhörner – oder von Opferwerkzeugen geprägt war, und diese Münzen gingen in den profanen Handel über: Die erste Münze Griechenlands hießen obolós. Kurz: Das reale Opfer wurde durch ein Zeichen für das Opfer ersetzt – und diese Zeichenhaftigkeit bestimmte einerseits über die weitere Entwicklung des Geldes zur Abstraktion, bedingte andererseits aber auch, dass der Rückbezug auf die sakrale Beglaubigung durch das Opfer nicht verloren gehen durfte. Das der Gottheit dargebrachte Opfer sollte diese dazu bewegen, den Feldern, der Viehzucht und dem Kinderreichtum ihren Segen zu verleihen – also Fruchtbarkeit in jedem Sinne des Wortes über das Land zu bringen. Deshalb fanden die Opferkulte auch in den Tempeln von Fruchtbarkeitsgöttinnen wie Artemis oder Hera statt. Die ältesten bekannten Münzen wurden in Ephesos, dem Heiligtum der Diana oder Artemis, gefunden. In den Tempeln dieser Fruchtbarkeitsgöttinnen befanden sich später auch die ersten Münzstätten und Banken Griechenlands. Weil die theologische Beglaubigung des Geldes am nachhaltigsten erschien, erinnert die Architektur unserer Banken und Börsen bis heute an den Ursprung des Geldes aus dem Tempel. Sie erlaubte es
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den Banken schließlich, auf die Konvertibilität ihrer Noten zu verzichten, die Bank of England war die erste. Je abstrakter das Geld wurde, je prekärer seine Deckung durch materielle Werte oder den Souverän wurde, desto nachdrücklicher verlangte die Geldwirtschaft nach der theologischen Beglaubigung. Bekanntlich steht auf den US-amerikanischen Dollarnoten: »In God we trust« (und nicht: In Gold we trust). Bis heute befinden wir uns im Tempeldiskurs der Antike, wie nicht nur die Gestalt des Stiers an der Börse zeigt. Mit dem Opfergedanken ging auch der Fruchtbarkeitskult auf das Geld über. Dieser Übergang der sakralen Fruchtbarkeitsrituale auf das Geld erklärt auch, warum das Vokabular der Finanzwirtschaft so theologisch klingt – mit seiner Nähe von Schuld und Schulden, Credo und Kredit –, und in den Börsenberichten so viele biologistische Begriffe verwendet werden: Zyklus, Blüte, Wachstum und Kreislauf etc. An diese Tradition schließt auch die Deutsche Bank an, wenn sie ihre Anlageberater in einem Flyer aus dem Jahr 2010 als Gärtnerinnen darstellt, »die sich um die zarten Pflanzen in Ihren Depots kümmern«. Wie ist es möglich, dass ein Opfer Geld ›deckt‹? Das erklärt sich aus der Gesellschaft der Gabe: Indem sie zirkulieren, garantieren Gabe und Gegengabe das soziale Band; sie bannen die Gefahr von Konflikten innerhalb und zwischen Gemeinschaften. Der Opferritus greift das Prinzip von Gabe und Gegengabe auf – nun jedoch im Tausch mit der Gottheit. Opfer und Gabe haben aber nur einen Wert, wenn sie den Gebenden ›enthalten‹. Es geht darum, »etwas von sich selbst als Pfand abzutreten, etwas, was mit dem Körper oder den Gütern des Opfernden oder der Gruppe, die die Opfergabe darbringt, assimiliert wird« (Hénaff 2009: 266f.). Das heißt, wenn im Tempel ein Tier geopfert wurde, so war damit eigentlich der Mensch gemeint. Darauf verwiesen die Opferrituale selbst. »In Ägypten stellte das Siegel, mit welchem die Opfertiere bezeichnet wurden, einen knieenden Mann dar, der mit auf den Rücken gebundenen Händen an einen Pfahl befestigt ist, und dem das Messer an der Kehle sitzt‹.« (Laum 1924/2006: 146) Der Stier als Opfertier ist also Stellvertreter des Menschen und wird an seiner Stelle geopfert. Erst aus diesem Zusammenhang, dass das Geld nicht nur ein Substitut für das Tieropfer ist, sondern letztlich selbst auf einem symbolischen Menschenopfer beruht, begreift man, warum dem reinen Zeichen bis heute so viel Glauben geschenkt wird: Die letzte Instanz, die dem Geld seine Glaubwürdigkeit verleiht, ist das Menschenleben. Dass unser Glaube ans Geld bis heute auf diesem Gedanken beruht, zeigen die modernen Geldzeichen: Die beiden Striche im Dollar ($), dem englischen Pfund (₤) und neuerdings auch dem Euro (€) sind Relikte der Stierhörner (Kallir 1961/2002: 40). Dies ist nur ein Beispiel unter vielen für die lange – oft unbewusste – Erinnerungskette, die wir im Geld finden.
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D ie geschlechtliche C odierung des O pfers Nicht ganz überraschend: Die Ableitung der Gelddeckung aus der Logik von Menschenopfer und Fruchtbarkeit ist geschlechtlich codiert. Das zeigt sich an zwei Opferzusammenhängen, wobei der eine sich auf den weiblichen, der andere sich auf den männlichen Körper bezieht. Der ›weibliche‹ Opferzusammenhang stammt aus den ersten Gesellschaften, die Landwirtschaft betrieben, Tiere gezüchtet und, anders als die Jäger und Sammler, in die Natur eingegriffen haben. Es waren überhaupt die ersten Gesellschaften, die Opferkulte kannten. Jäger und Sammler erfuhren sich als Teil von Flora und Fauna; sie hatten ein Anrecht, sich ebenso von deren Fruchtbarkeit zu ernähren wie jedes Tier und jede Pflanze – auch wenn sie dafür ein anderes Lebewesen töten mussten. Die Agrargesellschaften dagegen griffen in die Natur ein, sie machten sich gegenüber der Schöpfung schuldig. Um ihre Schuld gegenüber der Gottheit, Schöpfer der Natur, zu sühnen, brachten die Menschen ihr die erste Ernte oder das erstgeborene Lamm der Herde dar. (Hier konstituierte sich der Zusammenhang von Schuld, Schulden und Schuldgefühlen, der bis heute über die Diskurse in Theologie, Ökonomie und Psychologie bestimmt.) Das drückte sich einerseits in frühem Messer- oder Spatengeld aus; der Opfervorgang zeigte sich andererseits aber auch am Muschelgeld. Der weibliche Körper galt als das höchste Opfer: Er stellte die wertvollste Gabe dar, die eine Gesellschaft ›von sich‹ geben kann. Für dieses Opfer standen Muschelketten, die dem Brautkauf dienten und zugleich als Geld zirkulierten. Das weibliche ›Opfer‹ wurde nicht in Form eines Tötungsakts, sondern auf symbolische Weise erbracht: durch die Domestizierung der weiblichen Sexualität. Wie die Natur wurde sie dem Reglement der Gesellschaft unterworfen. Das geschah etwa durch die Genitalbeschneidung, die abgebundenen Füße der Chinesinnen oder Einrichtungen wie die Ehe, in der den Frauen die sexuelle Mündigkeit abgesprochen wurde. Warum wurde ausgerechnet die Kaurimuschel zum Symbol dieses Opfers? Weil Kaurimuscheln den weiblichen Genitalien auffallend ähnlich sehen. In einigen Regionen der Welt war dieses Geld noch bis ins 20. Jahrhundert gebräuchlich. Viele ökonomische Begriffe in der chinesischen Sprache verweisen bis heute auf Muscheln und das Muschelgeld, und es taucht auch weiterhin als Banksymbol auf. Das Opfer, das sich auf die männliche Sexualität bezieht, ist unserem Geld historisch näher und hängt mit geprägtem Geld zusammen. Auch hier geht es um eine durch das Opfer gesicherte Fruchtbarkeit. Das höchste Opfertier, der Stier, stand für Männlichkeit und wurde in Opferritualen Fruchtbarkeitsgöttinnen wie Artemis dargebracht. Man hat sich lange gefragt, was die Kugeln auf dem Brustpanzer der Artemis darstellen, hielt sie für Fruchtbarkeitssymbole: Brüste, Eier, Früchte o.ä. Es sind Fruchtbarkeitssymbole, aber nicht weibliche. Vielmehr handelt es sich um die Hoden der Stiere, die Artemis geopfert
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wurden. Dies bedeutete Opferhandlung (der Mensch gibt vom Wertvollsten, was er besitzt) und Fruchtbarkeitsritual zugleich. Die jungfräulich gebärende Muttergottheit sollte zur Entfaltung ihrer Fruchtbarkeit gebracht werden. Auch hier implizierte das Opfer die Domestizierung der Sexualität – in diesem Fall jener des Mannes. Im Englischen war das ursprüngliche Wort für Kastration: to geld. Es ist verwandt mit unserem Wort Geld ebenso wie mit der Gilde als Opfergemeinschaft. Diese Kastration war Voraussetzung für die Fruchtbarkeit des Geldes. Der Vorgang, der sich hinter dieser symbolischen Kastration verbirgt, spiegelt sich in der Geschichte des Alphabets wider – ein weiteres Indiz für die Nähe von Schrift und Geld. Alle Zeichen des Alphabets sind ursprünglich Hieroglyphen, sakrale Symbole. Das Wort Alpha – der erste und wichtigste Buchstabe unseres Alphabets – leitet sich ab vom semitischen Wort eleph (Stier, Ochse). Die Gestalt des Alpha durchlief viele Transformationen, die von einem klar erkennbaren Stierkopf ausgingen. Im Laufe seiner Geschichte stellte sich das Zeichen quer, dabei u.a. die Bedeutung des Pfluges assimilierend, um schließlich auf dem Kopf stehend durch einen Querstrich ergänzt zu werden. Dieser verweist auf das Joch und damit auf den kastrierten Stier. »Die Bezähmung des Ochsen ist die große Errungenschaft der sich entwickelnden Agrarzivilisation und stellt, wie die Erfindung des Alphabets, einen Meilenstein im Fortschritt des Menschen dar.« Die beiden Ereignisse vollzogen sich zeitgleich (Kallir 1961/2002: 39). Zuletzt nahm das Zeichen – wie die Götter Griechenlands – anthropomorphe Gestalt an: Die beiden Striche des A, die ursprünglich die Stierhörner markierten, wiesen nun nach unten und markierten die Beine des aufrecht stehenden Menschen. Alfred Kallir, der sich lange mit der Geschichte der Zeichen des Alphabets beschäftigt hat, schreibt dazu: »Erst als der Buchstabe beginnt, Mensch (bzw. Mann) zu symbolisieren, erscheint er von vorne und stehend.« (Ebd.: 77) Das Alpha symbolisiert nun den über die Natur herrschenden Mann: das ›Alphatier‹. An die Stelle seines Geschlechts setzt sich die Schriftfähigkeit. Nicht durch Zufall werden die Schreibwerkzeuge immer wieder als ein Phallussymbol beschrieben und leiten sich wie Worte Pen und Pencil von Penis ab. Der Prozess wird noch heute sichtbar im Stierkampf, der zumeist im Zeichen der christlichen Gottesmutter und damit der antiken jungfräulich gebärenden Fruchtbarkeitsgöttinnen stattfindet. Beim Kampf betritt der Stier die Arena als Repräsentationsfigur männlicher Potenz. Gegen ihn nimmt sich der Torero geradezu fragil aus, was durch seine feminine Kleidung betont wird. Er symbolisiert geistige Potenz, die sexuelle Potenz besiegen soll. Die Gegenüberstellung dieser beiden Prinzipien von Männlichkeit macht das Erregungspotential der corrida aus. Und jenes der Börse: Schon auf antiken Vasenmalereien wird männliche Macht – ob gegenüber der Ehefrau, der Hetäre oder dem Schüler – als Geldbeutel dargestellt, der die Form des männlichen Genitals
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hat. Denn in Griechenland wird aus semen sema (das Zeichen); männlicher Samen verwandelt sich in Geld, und dieses entwickelt seine spezifische Form von Fruchtbarkeit: Das geprägte Geld Griechenlands wird das erste sein, auf das es Zinsen, also ›Sprösslinge‹ gibt. Erst vor dem Hintergrund dieser Verwandlung von männlicher sexueller Potenz in geistige, auf dem Zeichen beruhende Potenz versteht man, warum in den höheren Etagen der Finanzwirtschaft quasi-vatikanische Verhältnisse herrschen: Da der männliche Körper den kastrierenden Preis des Geldes entrichtet hat, gebührt ihm auch die Frucht des Opfers. Die Bedeutung des männlichen Askese-Ideals für die Geschichte des Geldes bildet keinen Widerspruch zu den von Versicherungen organisierten ›Lustreisen‹, zur Käuflichkeit von Betriebsräten oder der sexuellen Unersättlichkeit eines IWF-Chefs: Denn in jedem dieser Fälle geht es um bezahlte Sexualität. Es ist also letztlich Sex im Auftrag des Geldes.
C hristliche R eligion und G eld Rückblickend stellt sich die Frage: Wie konnte sich diese Symbolik von Opfer und Potenz und Fruchtbarkeit so lange halten? Die Antwort: Es ist der christlichen Religion zu verdanken, dass das Geld den Rückbezug zum sakralen Ursprung solange bewahrt hat. Sowohl die Opfer- als auch die Inkarnationslehren machten das Christentum zum idealen kulturellen Nährboden für die weitere Entwicklung der Geldwirtschaft (Hörisch 2009: 317). Schon ab Konstantin dem Großen diente der als männliches Opfer codierte Leidensweg Christi der Beglaubigung von Münzen. Das Kreuz wurde Münzen aufgeprägt. Im Symbol des Kreuzes bilden, wie beim Geld, Opfer und Fruchtbarkeit eine Einheit: Das so genannte ›Kreuzesparadox‹ besagt, dass das Kreuz Opfer und Auferstehung, Tod und Leben symbolisiert. Erst als das Kreuz diese doppelte Bedeutung angenommen hatte, wurde es von den Christen als Symbol des Glaubens akzeptiert. Die Symbolik des Kreuzes entspricht den beiden Seiten des Geldes: Opfer auf der einen, Leben auf der anderen Seite. Als sich im 13. Jahrhundert zum ersten Mal seit der Antike die Geldwirtschaft wieder durchsetzte, Handel und städtisches Leben eine neue Blüte erfuhren, nahm die Hostie die Form der Münze an. Eine Rolle spielten auch Reliquien: die wichtigste Handelsware des Frühmittelalters. Denn wo es Reliquien gab, entstanden Messen, die von Anfang an sowohl Pilger- als auch Handelsorte darstellten. Bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts ergingen in Deutschland neun von zehn Privilegien für Marktgründungen an die Geistlichkeit. Kurz: Nicht durch Zufall entwickelten sich die moderne Geldwirtschaft und der Kapitalismus im christlichen Kulturraum und kam gerade hier die Idee der freien Marktwirtschaft auf.
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D ie moderne O pfer - und I nk arnationslogik des G eldes Die Aktualität einer Deckung des Geldes durch Opfer und Fruchtbarkeit zeigt sich an vielen Phänomenen. Man kann die moderne Opferlogik des Geldes am Beispiel von den sechs Millionen Menschen festmachen, die bei der Finanzkrise von 2008/09 alleine in den USA Arbeit und Behausung verloren haben: Sie mussten dran glauben, damit alle wieder ans Geld glauben konnten. Oder an der Tatsache, dass die US-Armee 2009 zum ersten Mal seit 35 Jahren ihr Rekrutierungssoll erfüllen konnte, obwohl es ganz klar war, dass die Soldaten in Kriegsgebiete geschickt werden (Tyson 2009). Die Opferlogik zeigt sich auch an den erhöhten Preisen für Grundnahrungsmittel, die durch die Spekulation entstehen und dazu führen, dass viermal so viel Geld in Mais investiert wird wie es überhaupt Mais gibt. Dadurch wird dieses Grundnahrungsmittel für viele Menschen unerschwinglich. Ein weiteres Beispiel sind Fonds, die die Wall Street 2009 – ein Jahr nach der Lehman-Pleite – entwickelte. Sie basieren auf Lebensversicherungen, die (wie die Immobilienfonds, die dem Crash von 2008 vorausgingen) in ›Pakete‹ zusammengefasst sind. In diesen Fonds lagern die Lebensversicherungen von älteren Menschen und Kranken mit geringer Lebenserwartung. Einen Markt für den Weiterverkauf von Lebensversicherungen gab es schon vorher. Goldman Sachs hat einen handelbaren Index geschaffen, in dem »Investoren darauf setzen können, ob Menschen länger als erwartet leben oder früher als geplant sterben« (Anderson 2009). In den neuen Fonds sollte der Investor durch Diversifikation vor den Gefahren geschützt werden, die beim Kauf einzelner Lebensversicherungen entstehen. »Das ist kein hypothetisches Risiko. Genau das passierte in den 1980ern, als neue Behandlungen plötzlich das Leben von HIVPatienten verlängerten. Investoren, die ihre Policen in der Erwartung gekauft hatten, dass die meisten Opfer innerhalb von zwei Jahren sterben würden, verloren am Ende Geld.« (Ebd.) Über diese Anlagen berichtete die New York Times auf ihrer ersten Seite und fügte hinzu, Wall Street wolle mit den neuen Fonds das Modell der subprime mortgage securities wiederholen. Es beruht auf dem Gedanken, dass der Immobilienmarkt nur in einem Gebiet, nie aber landesweit zusammenbrechen könne. Dementsprechend besteht »der ideale ›bond‹ [oder Fonds] aus Lebensversicherungen mit einem breiten Spektrum von Krankheiten – Leukämie, Lungenkrebs, Brustkrebs, Diabetes, Alzheimer. Denn wenn zu viele Menschen mit Leukämie im Portfolio sind und eine Therapie gefunden wird, würde der Bond abstürzen.« (Ebd.) Im Industriekapitalismus – das hat Marx gezeigt – trug die Arbeitskraft von Menschen zur Akkumulation des Kapitals bei. Im Finanzkapitalismus, wo es vornehmlich um die Beglaubigung des Geldes geht, werden Menschen ausgesondert, damit sie durch ihren sozialen oder realen Tod das Geld beglaubigen. Das ist eine ganz andere Funktionalisierung von Armut.
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Auch die Inkarnationslogik des Geldes bemächtigte sich des menschlichen Körpers. Das zeigt sich an der Geschichte der käuflichen Sexualität, die immer in enger Parallele zur Geschichte des Geldes verlief. Die Prostitution entstand mit der Geldwirtschaft und breitete sich immer dann aus, wenn auch das Geld eine wichtige Rolle in der Ökonomie spielte (Braun 2012). Die Sexindustrien, so der frankokanadische Soziologe Richard Poulin in seinem Buch La Mondialisation des industries du sexe, »werden heute als der ›Sektor‹ mit der höchsten Expansionsrate eingeschätzt« (Poulin 2005: 11). Die Dichte des Geldflusses entspricht der weltweiten Zirkulation von Menschenkörpern. Das gilt nicht nur für die Prostitution, sondern ganz allgemein für den Arbeitsmarkt. Aber hinsichtlich der Prostitution ist es besonders auffallend. Man mag die Ausweitung der Prostitution mit den ›Notwendigkeiten‹ des männlichen Sexualtriebs erklären. Man kann sich aber auch fragen, ob nicht andersherum der männliche Sexualtrieb als Produkt des Finanzkapitalismus zu begreifen ist. »In den in voller Expansion befindlichen Sexindustrien, die erhebliche Bevölkerungsbewegungen produzieren und phantastische Profite und Einkommen generieren, konzentrieren sich die fundamentalen Charakteristika der aktuellen kapitalistischen Wirtschaft«, schreibt Poulin (ebd.: 21f.). Das klingt weniger nach Sexualbedürfnissen als nach den Bedürfnissen des Geldmarktes. Aber das Geld will nicht nur Sex haben, wie Klossowski schreibt, es möchte sich auch in ›echten Kindern‹ inkarnieren. In der Renaissance hieß es von den Ehefrauen der Geldwechsler, sie seien unfruchtbar: Das sei der Preis dafür, dass das Geld ihres Mannes seine Fruchtbarkeit entwickeln konnte. In einigen Darstellungen schöpft die Frau des Geldwechslers Hoffnung aus den Evangelien, laut denen im Leib Marias ein Zeichen Fleisch geworden ist (Shell 1995: 126). Diese Phantasie findet in den modernen Reproduktionstechniken mit ihren Samenbanken, Börsenagenturen für Eizellen und bezahlten Leihmüttern ihre konkrete Umsetzung, Nicht zufällig gab England eine neue Zweipfund-Münze heraus: Auf der einen Seite ist mit der Queen die traditionelle Genealogie, auf der anderen die Doppelhelix zu sehen – das Symbol einer neuen Vorstellung von Genealogie. In Rumänien kostet eine weibliche Eizelle 100 bis 1.400 Euro, in den USA sind bis zu 100.000 US-Dollar zu bezahlen – etwa für das Ei der Absolventin einer der Ivy-League-Eliteuniversitäten. Der männliche Samen ist günstiger zu haben und kann auch besser gelagert werden – mit dem Erfolg, dass es inzwischen Samenspender gibt, die über ihre verstreuten Kinder Excel-Tabellen führen. Die New York Times berichtete kürzlich von einem Vater, aus dessen in einer Samenbank gelagertem Samen 150 Sprösslinge hervorgegangen sind. Alles zusammengenommen – die Kosten für Samenspende, Eispende, Leihmutterschaft, medizinische Leistungen, Maklergebühren und juristische Beratung (es kommt oft zu komplizierten Verträgen) – müssen Eltern für ihre ›High-Tech-Kinder‹ mindestens 120.000 Dollar zahlen.
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Es ist aber vor allem das Geld, das seine Fertilität unter Beweis stellt. Insgesamt werfen die Reproduktionstechniken – Ei- und Samenspende, Surrogatmutterschaft, Embryoadoption – die Frage nach den ›echten‹ Eltern auf. Schon 1990 war ein Gericht bei einem Streit zwischen den intentionalen Eltern und einer Leihmutter, die das Kind nach der Geburt nicht hergeben wollte (es war auch genetisch ihr Kind), zum Urteil gekommen, dass die Frau, »die die Zeugung des Kindes beabsichtigt hatte«, als »die natürliche Mutter« zu gelten hat. Ähnlich entschied auch der Oberste Gerichtshof von Kalifornien in einem anderen Fall: Die Frau, »die die Zeugung des Kindes arrangiert«, also bezahlt hat, sei die ›wahre Mutter‹ (Debora L. Spar, The Baby Business. How Money, Science, and Politics Drive the Commerce of Conception, Boston 2006, S. 84f.). Konsequent zu Ende gedacht impliziert dies, dass das Geld selbst zum Erzeuger des Kindes wird. Dass es also gewissermaßen fähig geworden ist, das Menschenleben, durch das es beglaubigt wird, auch selbst zu produzieren. Man sieht also, dass diese Foucault’sche »Macht«, die Sexualität und Fortpflanzung in ihren Dienst nimmt, ziemlich deckungsgleich ist mit dem Faktor Geld. Man kann die zeitlichen Parallelen von freier Marktwirtschaft und Liberalisierung der Sexualmoral für einen historischen Zufall halten. Man kann sich aber auch fragen, ob nicht die Erotisierung des Geldmarktes zwingend zu einer engen Verbindung von Geschlecht und Geld führte. Kann eine Gesellschaft, die das individuelle Streben zur Triebkraft der Ökonomie macht, dieses Ziel erreichen, ohne die sexuellen Triebe in ihren Dienst zu nehmen? Und muss sich nicht die Erregung durch Profite, die immer wieder von Psychologen und Betroffenen als handlungsmächtiger Motor der Ökonomie beschrieben wird, zwangsläufig auf die Geschlechtlichkeit auswirken? Und soll man es für einen Zufall halten, dass medizinischen Reproduktionstechniken zu eben jener Zeit entstehen in der sich das Geld von seiner letzten materiellen Bindung – dem Goldstandard – löst und in die unkontrollierte Vermehrung übergeht? Kurz: Muss nicht die Neugestaltung der Geschlechtlichkeit und der Geschlechtsidentität, die sich in den letzten hundert Jahren – zumindest in den Industrieländern – vollzogen hat, auch als Folge der Geschichte des Geldes begriffen werden? In diesem Fall wären wir in der Tat schon längst zu ›lebenden Münzen‹ geworden. Eben dieser Zustand verschafft uns einerseits Wohlbehagen – Sex und Gefühle erscheinen berechen- und bezahlbar. Andererseits bereitet uns diese ›liquide‹ Existenz aber auch Unbehagen, Angst, Schuldgefühle.
Monetarisierung der Gefühle
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Affektive Gouvernementalität Eine geschlechtertheoretische Perspektive Birgit Sauer
1. P olitik , D emokr atie und E motionen . E inleitung1 Westliche Demokratien – und vor allem Deutschland und Österreich als Folge manipulativ-emotionaler politischer Inszenierungen im Nationalsozialismus – haben ein ambivalentes Verhältnis zu Emotionen. Tendenziell sollen weder politische Entscheidungen noch das Handeln staatlicher Akteure und Akteurinnen emotionsgeleitet sein; vielmehr soll das politische Geschäft dem Prinzip der Rationalität folgen. So gilt die Zähmung (bestimmter) Emotionen als normative Voraussetzung der Demokratie. Allerdings soll politisches Engagement durchaus mit Leidenschaft zur Sache erfolgen, und die Bürger/-innen sollen den gewählten Repräsentanten und Repräsentantinnen zumindest für die Dauer einer Legislaturperiode Vertrauen entgegen bringen. Staatliche Akteure und Akteurinnen haben sich freilich am Gemeinwohl und nicht an ihrer Befindlichkeit, die Wähler/-innen an der Realisierung der eigenen Interessen durch die Partei ihrer Wahl zu orientieren. Vor allem aber sollen politische Entscheidungen der Bürger/-innen wie auch jene der Politiker/-innen und Beamten und Beamtinnen auf Informiertheit, also auf Wissen basieren. Wissen und Emotionen etablierten sich in der Politik wie in den (Sozial-)Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als nicht-vereinbare Gegensätze, sodass beispielsweise die Emotionalisierung von Wahlkämpfen lange Zeit weder in Deutschland noch in Österreich eine verfügbare Strategie war – im Unterschied beispielsweise zu den USA. Erst in den 1960er Jahren propagierten die neuen sozialen Bewegungen unter dem Motto der Betroffenheit und als Kritik an der Trennung von öffentlich und privat einen explizit emotionalen Politikstil. Dieser Politikmodus wurde von den etablierten Parteien skeptisch betrachtet und blieb daher lange aus dem politischen System exkludiert.
1 | Ich danke Otto Penz für wichtige Anregungen und Diskussionen.
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Nun scheint die Trennung zwischen Demokratie und Gefühl im politischen Alltag am Beginn des neuen Jahrtausends auch in westlich-liberalen Demokratien zunehmend suspendiert zu werden (Bargetz/Sauer 2010). Die gegenwärtige Form der »Mediokratie« (Meyer 2001) ist geradezu geprägt durch die Grenzüberschreitung zwischen einerseits Politik als rationaler, wissensbegründeter Handlungsform staatlicher Akteure und Akteurinnen sowie andererseits Politik als Leidenschaft und Engagement. Wahlkämpfe wurden zunehmend zu Hochzeiten leidenschaftlichen politischen Agierens, in denen mit stets neuen Mitteln und Techniken eine potenzielle Wählerschaft mobilisiert werden soll, um so die eigenen Stimmen – vor allem durch Stimmung – zu maximieren. Gefühle gelten nun als zentrale Ingredienzien von Wahlkampagnen – eine Binsenwahrheit, die die politikwissenschaftliche Wahlforschung aber erst allmählich zur Kenntnis nimmt (Hofinger 2011). Bereits Max Weber postulierte in seinem Vortrag Politik als Beruf aus dem Jahr 1919, dass politische Mobilisierung und politisches Engagement Antrieb und Motivation brauche, also »Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium« (Weber 1993: 32). Ebenso leben die Medien in ihren politischen Segmenten seit geraumer Zeit von einer Kombination aus Emotion und Politik. Wer als Politiker/-in glaubwürdig sein will, muss Betroffenheit oder privat-familiäre Empathie als Ausweis von Authentizität demonstrieren. War also das politisch-staatliche Feld in Westeuropa bis in die 1990er Jahre emotional restriktiv geordnet und waren nur gewisse Emotionen an bestimmten Orten bzw. zu bestimmten Zeiten zugelassen, so wird nun die Veröffentlichung von vormals als privat oder intim erachteten Details von Politikern/Politikerinnen, eben auch die öffentliche Demonstration von Emotionen, im Zeitalter der Personalisierung von Politik geradezu erwartet. Politiker/-innen greifen immer häufiger auf Emotionen als Legitimationsbasis und als Ressource von Identitätspolitik zurück. Andreas Dörner hat dies treffend als »Politainment« bezeichnet (Dörner 2001). Allerdings ist die Ökonomie der Emotionen im politischen Feld eine Ökonomie ungleicher Verfügbarkeit, der prekären Allokation sowie der Ab- und Aufwertung. So ist die Ressource Emotion für Politikerinnen vergleichsweise unzugänglicher. Die Geschlechterdifferenz blieb in westlich-liberalen Demokratien ein Modus, um die Grenze zwischen Politik und Gefühl, zwischen Wissen und Emotion, nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch aufrecht zu erhalten. Ganz wie seit der Frühzeit der politischen Moderne soll die Trennung von Körper und Geist, von Gefühl und Vernunft durch Frauen repräsentiert, ja sogar verkörpert werden. Frauen galten daher lange Zeit als zu emotional und folglich als nicht für die Politik geeignet. Politikerinnen wird nach wie vor stärkere Emotionalität und deshalb eine geringere Distanziertheit im Politikgeschäft als Makel unterstellt, und es wird behauptet, dass ihnen dadurch der gewisse Antrieb zur Macht fehle. Politikerinnen müssen sich im Unterschied zu Politikern daher bewusst emotionslos geben. So war Angela Merkel nach ihren
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Wahlsiegen – und selbst gegenüber einem unflätigen Gerhard Schröder in der sogenannten Elefantenrunde – immer bemüht, keine Emotionen zu zeigen. In Deutschland fand die von jeher skeptisch beäugte Kombination von Politik und Gefühl jüngst ihren Ausdruck im vieldeutigen Begriff des »Wutbürgers«. Als pejorativer Begriff fand er Eingang in die mediale Debatte durch ein Spiegel-Essay von Dirk Kurbjuweit über die Bürger/-innen-Proteste gegen den Stuttgarter Bahnhof im Herbst 2010. Wutbürger bezeichnet eine bürgerliche Mitte, die ihre Contenance verloren habe und nun ihren Gefühlen freien Lauf lasse, ohne Rücksicht auf den Schaden, den das Allgemeinwohl durch diese Untemperiertheit nehme (Matzig 2011). Der Effekt dieser Ökonomie der Gefühle ist Kontrolle als Grundlage demokratischer Herrschaft. Die paradoxe Trennung von Politik und Gefühlen lässt also einen politischen Herrschaftsmechanismus entstehen, der politische Handlungsräume begrenzt und es ermöglicht, spezifische Gruppen und deren Interessen aus dem Raum des Politischen zu exkludieren. Die Trennungsnorm ist zugleich aber auch eine Gelegenheitsstruktur für die Tabuisierung oder auch Forcierung bestimmter Gefühle in der Politik. Allerdings zeigen emotionale politische Mobilisierungsstrategien in europäischen Demokratien seit den 1990er Jahren in der Tat bedrohliche Seiten: Ein rechts-populistischer, nationalistischer und rassistischer Gefühlsdiskurs begann, die politische Auseinandersetzungen vieler europäischer Staaten zu prägen. Populistische Strategien versuchen aus Polarisierungen politisches Kapital zu schlagen. Sie konstruieren ein binäres Deutungsmuster von »denen da unten« und einer verhärteten und macht-kalten politischen Klasse: »denen da oben«. Im Kontext einer Politik der Zugehörigkeit soll durch die Zeichnung von Bedrohungsszenarien Angst gegenüber »Anderen«, vornehmlich gegenüber Migranten und Migrantinnen, mobilisiert und zugleich das »Eigene«, das »Wir« hergestellt werden (Ahmed 2004: 71ff.). Diese paradoxen Konstellationen einer neuartigen »Politik der Gefühle« sind von einer intensivierten wissenschaftlichen Debatte über Emotionen begleitet: In den vergangenen zehn Jahren wurde zunächst durch Hirnforschung und Neurowissenschaft eine Gefühlsdebatte (z.B. Damasio 2004), auch »emotionale Wende« oder »affective turn« (Clough 2007), angestoßen, die dem Thema Gefühl zu neuer, auch medialer Publizität und Wichtigkeit verhalf. Auch die Wirtschaftswissenschaften trieben die Bedeutung von Emotionen, nicht zuletzt im Kontext der Finanzkrise, diskursiv voran (Frey 2008). Kurzum: Wir sind derzeit mit einer erklärungsbedürftigen politischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit für Gefühle konfrontiert. Auch die politikwissenschaftliche Gefühlsstarre der Nachkriegsjahre scheint sich aufzulösen. Ganz allmählich entstand in den vergangenen zehn Jahren – jenseits der Wahlforschung – eine politiktheoretische Debatte, die sich der Ambivalenz der Destruktivität von Emotionen für demokratische Politik, also der Skepsis, und
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ihrer Produktivität, also ihrer Wichtigkeit für politische Mobilisierung und für politisches Engagement, stellt (Flam 2002; Klein/Nullmeier 1999; Marcus 2002; Nussbaum 1996, 2001, 2013; Rancière 1995; Mouffe 2002).
2. F r agen an den E motionsdiskurs Wie ist nun die Rolle von Emotionen im politischen Geschehen in diesem Spannungsfeld einzuschätzen? Welche Funktionen können und sollen Emotionen im Kontext demokratischer Politik übernehmen? Und welche Bedeutung haben Geschlechterdifferenz bzw. Geschlechterverhältnisse in diesem Politik-und-Affekt-Arrangement? Um diese Fragen beantworten zu können, so schlage ich vor, muss die Rede über Gefühle und Politik im Kontext aktueller Transformationen von Staat, Demokratie und Gesellschaft verortet werden, Veränderungen, die mit »Postdemokratie« (Rancière 2002; Crouch 2004) auf den Begriff gebracht wurden. Genauer beschreiben ließe sich das Schlagwort als Vertrauensverlust in demokratische Institutionen und in politische Repräsentanten und Repräsentantinnen, sinkende Wahlbeteiligung, wachsende Unzufriedenheit mit der Performanz demokratischer Institutionen, Erosion sozialstaatlicher Sicherheit und damit der Entsolidarisierung – es geht um die viel beklagte Politik- bzw. Parteienverdrossenheit, die eine Legitimationskrise repräsentativer Demokratie zur Folge hat. Doch auch der Bedeutungs- und Gestaltungsverlust von Staaten gegenüber der Ökonomie im Rahmen einer neoliberalen Neuordnung des Verhältnisses von Markt und Staat sind Kennzeichen einer Repräsentationskrise liberaler Demokratien und bilden, so meine Überlegung, den Kontext des politischen Emotionsdiskurses. Ich möchte im Folgenden herausarbeiten, dass die mediale, politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Emotionen ein Symptom und zugleich Motor der aktuellen Transformationen von Gesellschaft, Staat und Demokratie in westlich-kapitalistischen Gesellschaften ist – Transformationen, in denen Affekte im Leben und Arbeiten von Menschen wie auch in ihrem politischen Handeln neu formatiert werden bzw. neue Bedeutung erhalten. Der neue Gefühlsdiskurs ist Ausdruck und zugleich Movens neuer Formen von Selbstverhältnissen und Identitätsentwürfen im Neoliberalismus, neuer politischer Subjektivierungsweisen sowie veränderter Vorstellungen von citizenship, von politischen und sozialen Rechten, also des Verhältnisses zwischen Bürgern bzw. Bürgerinnen und dem Staat. Der Gefühlsdiskurs – verstanden im Foucault’schen Sinne als Rede über Gefühle, als Praxis von Affiziertsein sowie als institutionelle Gefühlsarrangements, nicht zuletzt auch in der Arbeitswelt – trägt dazu bei, dass staatsbürgerliche Rechte neu begründet und mithin Bürger/-innen in der Demokratie neu situiert werden. Im Rahmen neoliberaler Subjektivierung sind Affekte neue Techniken der »Führung« bzw. der »Regie-
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rung« von Menschen (Foucault 2000). Affekte institutionalisieren, so meine These, auf der einen Seite neue Machttechniken in den Menschen, nämlich die Unterwerfung unter neue Formen und Erfordernisse der Organisation des Lebens, des Zusammenlebens und Arbeitens unter neoliberalen Bedingungen. Auf der anderen Seite bilden Affekte als Regierungstechnik und als Modus der (politischen) Subjektbildung auch den Ausgangspunkt möglicher Widerstandsformen des »Nicht-so-Regiert-Werden-Wollens« (Foucault 1990) und neuer Formen von Solidarität. Affekte sind, so verstanden, ein notwendiges Element des Politischen im Sinne Hannah Arendts (1993) – nämlich gemeinsam etwas zu beginnen. Dieses Gemeinsame beruht auf Affizierung, auf Betroffen-Sein, auf Beziehung und Relation, auf Zugewandtheit und Empathie – freilich in einem stets antagonistischen gesellschaftlichen und politischen Raum. Geschlechterverhältnisse sind eine zentrale Dimension dieser politischen Re-Organisation im Rahmen eines neuen Gefühlsdispositivs und neuer affektiver Subjektivierungsweisen. Vergeschlechtlichte Körper sind Markierungen, die diese neuen Herrschafts- und Beherrschungsverhältnis im Gefühlsmodus dar- und herstellen. Zugleich öffnen affektive Subjektivierungsweisen auch Chancen der Erosion von hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit und Möglichkeiten neuer emanzipativer Politikformen. Um diesen Argumentationszusammenhang zu verdeutlichen, werde ich zunächst kurz meine Begrifflichkeit definieren und zugleich den affective turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften skizzieren. Dann werde ich die aktuelle Herausbildung einer neoliberalen Gefühlstechnologie, einer affektiven Gouvernementalität unter einer Geschlechterperspektive genauer darstellen und anschließend politische und demokratietheoretische Implikationen erläutern. Abschließend werde ich die Frage diskutieren, wie Affekte als Teil demokratischen Handelns konzeptualisiert werden können, ohne hetzerischen Mobilisierungskampagnen, ohne einer Politik der Stimmungsmache, der Angst und der Ausgrenzung in die Hände zu arbeiten.
3. D er affective turn – zum politischen und wissenschaf tlichen D iskurs über G efühle und A ffek te Mit dem Begriff »Affekt« soll im Unterschied zu Emotionen bzw. »emotionalen Gefühlen«, die auf eine kognitive Form des Erlebens, Erfahrens und Wahrnehmens abheben (Döring 2007: 14ff.), das unmittelbare Zusammenspiel von Körper, Empfinden und Kognition betont werden. Dies zielt darauf, die Trennung von Geist und Materie bzw. Körper, von Kognition und Emotion und damit auch von Männern und Frauen begrifflich-konzeptionell zu über-
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winden. Peter Goldie spricht von Gefühlen als »unreflective consciousness« (Goldie 2009: 62ff.). Unter Bezug auf Brian Massumi (2002) wird unter Affekt die unmittelbare und unwillkürliche körperliche Reaktion auf einen äußeren Reiz, das gleichsam prä-kognitive Erleben der Umwelt bzw. das Affiziertsein von der Wirklichkeit verstanden. Im Unterschied dazu geht Sara Ahmed davon aus, dass mit dem Konzept Affekt die Trennung in ein »Innen« und ein »Außen« überwunden werden kann, dass also Affekte weder innere Regungen in Reaktion auf etwas Äußeres sind, noch als ein äußerer Eindruck auf ein Innen verstanden werden können. Die Etablierung des Affekt-Konzepts in der feministischen Diskussion zielt darauf, den Körper bzw. körperliche Materialität (wieder) in die politische und politiktheoretische Debatte zurück zu bringen. Gefühle, so Sara Ahmed, werden verkörpert, sie werden im und durch den Körper gespürt (Ahmed 2004: 15). Doch weder Gefühle noch menschliche Körper sind natürlich gegeben. Gefühle öffnen den menschlichen Körper gegenüber anderen Menschen, wie auch gegenüber machtvollen sozialen und politischen Verhältnissen (ebd.). Ahmed macht anhand politisch produzierter Gefühle – etwa Angst vor den Anderen – deutlich, wie Machtverhältnisse Körper formen und beeinflussen. Die Analyse von Affekten ist somit immer auch Macht- und Herrschaftsanalyse. Auch wenn ich die Begriffe Affekt, Gefühl und Emotion weiterhin synonym verwende, möchte ich drei Aspekte aus diesen Debatten um den »affective turn« festhalten: Erstens: Kognition erfolgt immer im Modus der Emotion, und Emotionen sind ohne Kognition nicht wahrnehmbar. Döhring (2007) bezeichnet dies als Konzept der »emotionalen Gefühle«. Zweitens: Weder Affekte noch menschliche Körper sind natürlich im Sinne von vorgesellschaftlich erlebbar. Vielmehr formen und beeinflussen Machtverhältnisse den Körper wie auch die Gefühle. Affekte sind also politisch-kulturelle, d.h. symbolisch kodierte und gesellschaftlich konstruierte Wahrnehmungsund Handlungsmuster. Sie sind als das Ergebnis eines historisch spezifischen Deutungs- und Definitionsprozesses von körperlichen Erfahrungen zu fassen (Kochinka 2004). Normen und soziale Verhältnisse lassen Affekte und körperlich spürbare Gefühle entstehen und machen diese überhaupt erst intelligibel (de Sousa 1997). Drittens: Affekte sind – so möchte ich in Analogie zu Foucaults Sexualitätsdispositiv formulieren (Foucault 1983) – die Bezeichnung für ein historisches Dispositiv, also eine kontextbezogene Machtkonstellation (Sauer 1999). Das Gefühlsdispositiv prägt die innere Logik von Praxen, Normen, Institutionen und Symbolen und stellt damit individuelle Motivationen unter die Kontrolle von Institutionen, nämlich von affektiven Institutionen. Dieses Konzept von Affekten impliziert, dass auch von keiner vordiskursiven Logik des Zusammenhangs von Politik, Geschlecht und Emotionalität
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ausgegangen werden kann. Vielmehr ist die Ordnung von Gefühl und Politik sowie von Geschlecht und Affekt im politischen Raum Element einer historisch entstandenen »Politik der Gefühle« (ebd.).
4. D as neoliber ale G efühlsdispositiv oder die H er ausbildung einer » affek tiven G ouvernementalität« Im Folgenden möchte ich zeigen, dass bzw. wie Affekte ein unabdingbares Element des »neoliberalen Regierens« bzw. einer »aktiven Gouvernementalität« (Foucault 2004 II: 174) sind. In einem neu entstehenden Emotionsdispositiv werden die alten Trennlinien zwischen Gefühl und Politik sowie Geschlecht und Politik zwar nicht aufgehoben, wohl aber verschoben. Die im liberalen Gefühlsdispositiv eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse werden also vermutlich nicht beseitigt, sondern re-strukturiert. Der Wandel von Gefühlsverhältnissen gründet in neuen ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen, nämlich dem Wandel westlicher Industriegesellschaften hin zu Dienstleistungs- und Wissensökonomien sowie der neoliberalen Re-Organisation von Staat und Ökonomie. Diese Transformationen korrespondieren mit einer Re-Emotionalisierung einst als gefühlsfrei gedachter Sphären – nämlich sowohl der Arbeitswelt wie auch der Politik. So arbeitete Arlie Hochschild (2003) in ihrer bahnbrechenden Studie über Flugbegleiterinnen bereits in den 1970er Jahren die Kommodifizierung von emotional labour und die Notwendigkeit von emotion work als Teil des Arbeitsprozesses heraus (ebd.: 7). Entfremdung und Enteignung durch Emotionsarbeit stehen im Zentrum ihrer Überlegungen, also die Kritik an einer Mobilisierung von Emotionen, die das Ziel hat, den Mehrwert zu steigern und Emotionen für Unternehmensziele auszubeuten. Dies, so Hochschild, entfremde nicht nur von den Arbeitsprodukten, sondern auch und vor allem von der eigenen Person (ebd.). Im Neoliberalismus erodieren nun die einstigen Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen Arbeit und Freizeit, Produktion und Reproduktion. Niklas Rose (2000) bezeichnet dies in seiner Kritik am Neoliberalismus als »Ökonomisierung des Sozialen«. Auch Gefühle werden damit in neuartiger Weise »entgrenzt« und ökonomisiert. Einstige Beziehungsarbeit bzw. affektive Arbeit ist also nicht mehr auf die Intimsphäre begrenzt, vielmehr verlangt die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit (sowohl in Bezug auf Zeiten wie auch auf Räume und Orte) die »ganze Person« im Arbeitsprozess mit ihren körperlichen, kognitiven wie auch affektiven Fähigkeiten. Menschen sollen ihre Gefühle, ihre Leidenschaften und ihr Engagement als Humanressource in den Arbeitsprozess einbringen. Was einst vornehmlich für Dienstleistungsberufe
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galt, also die Notwendigkeit von Gefühlsarbeit, wird nun in allen Arbeits- und Lebensbereichen gefordert. Menschen werden als kreative und selbstverantwortliche Individuen angerufen, die in der Lage sind, die notwendigen Emotionalisierungs- und Disziplinierungsleistungen zur Arbeit quasi selbst gewollt und freiwillig zu erbringen. Diese neoliberale affektive Bewirtschaftung und die Indienstnahme von Gefühlen für das neoliberale Projekt ökonomischer Hegemonie instituieren also neuartige Techniken der emotionalen Steuerung. Vassilis Tsianos und Dimitris Papadopoulos (2006) sprechen vom »embodied capitalism«. Damit meinen sie, dass kapitalistische Wertschöpfung zunehmend durch den Körper hindurch und mit dem Körper möglich ist, sei es in der Reproduktionsmedizin, sei es im Einsatz der ganzen Person für die Arbeit. Im Zentrum dieser Gefühlsstrategie steht das »Selbstregieren« der Individuen (Foucault 2004 I: 297). Mit dem Konzept des »affektiven Selbstunternehmertums« (im Anschluss an Foucault 2004 I: 314) bzw. der »affektiven Subjektivierung« wollen Otto Penz und ich (Penz/Sauer 2014) deutlich machen, dass eine neue Form der »Führung« und der Regierung von Menschen mit und durch Gefühle, nämlich das »affektive Selbstregieren«, normalisiert und gefördert wird (ebd.). Der homo oeconomicus wir ergänzt, nicht ersetzt, durch den homo affectus. Im Anschluss an Michel Foucault kann man diese Konstellation (Foucault 2004 II: 174) als »affektive Gouvernementalität« bezeichnen. Vertreter/-innen des »kognitiven Kapitalismus«-Ansatzes weisen auf die andere Seite der affektiven Gouvernementalität hin: Im »kognitiven Kapitalismus«, der sich durch »cooperative labour of human brains joined together in networks by means of computer« auszeichnet (Moulier Boutang 2011: 57), werde, so Michael Hardt (1999), Antonio Negri und Michael Hardt (Hardt/Negri 2002: 291-314) und Paulo Virno (2004), »affektive Arbeit« zu einem bedeutenden Element immaterieller Arbeit. Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit – also affektive Kompetenzen – werden zu zentralen Kompetenzen, und in kommunikativen Netzwerken am Arbeitsplatz und in der Freizeit entstehen Verknüpfungen, Beziehungen und Nähe – also Affekte. Dies hat Konsequenzen für die Geschlechterverhältnisse. Gefühle können nicht mehr in eine konstruierte familiäre Privatsphäre abgedrängt und dort durch eine allein dafür zuständige Person, in der Regel eine Frau, »befriedigt« werden (auch Flam 2002: 12f.). Vielmehr ist durch die »Politisierung« der Gesellschaft und der Privatheit (Greven 1999), dadurch, dass Geschlechter- und Intimverhältnisse verhandelbar wurden, eine Intensivierung von Gefühlen, ein Mehraufwand an Gefühlsarbeit für Frauen wie auch für Männer in der Privatsphäre und im Erwerbsleben feststellbar. Dies impliziert eine neuartige Form von Affektmanagement am Arbeitsplatz »Familie« – in der Regel zwischen Frauen, seien dies pflegende Töchter oder Schwiegertöchter und pflegebedürftige Mütter, seien dies Arbeitgeberin und pflegende Migrantin.
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Die Thesen von einer Erosion von Geschlechterbildern und -identitäten, von einem »De-gendering« und dem Auflösen von Zweigeschlechtlichkeit im Modus der affektiven Arbeit, wie sie Hardt (1999), Hardt und Negri (2002) und Cristina Morini (2007) vertreten bzw. in Aussicht stellen, müssen allerdings in Frage gestellt werden. Zwar verschieben sich im Modus der affektiven Arbeit Geschlechterrollen und -bilder, nicht zuletzt sind es weibliche Fähigkeiten oder besser Zuschreibungen, die nun zur Grundlage von kapitalistischer Mehrwertproduktion werden, zwar werden die alten Institutionen der Geschlechterdifferenz und hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit flexibilisiert und auch Männer werden »affektiv subjektiviert« und unterworfen, doch – wie Angela McRobbie (2010) unter Verweis auf Donna Haraway schreibt – ist auch affektive Arbeit durch die Gleichzeitigkeit der Erosion von hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit und ihrer Intensivierung gekennzeichnet. In einer Studie über die österreichische Post konnten Otto Penz und ich (Penz/Sauer 2012) herausarbeiten, dass über Affekte Zweigeschlechtlichkeit rekonfiguriert und neuartig hierarchisiert wird. Männer definieren ihre produzierten Gefühle am Arbeitsplatz als neue Kompetenz, während sie Frauen »natürlicherweise« zugeschrieben werden. Die neuen Formen des Selbstmanagements setzen somit auf Geschlechterdifferenz als Form der Subjektivierung.
5. A ffek tive P olitisierung Die politischen Konsequenzen dieser emotionalen Techniken der Selbst- und Fremdführung, also der neuen affektiven Gouvernementalität möchte ich im Folgenden in vier Punkten zusammenfassen. Erstens: Das Konzept der »affektiven Gouvernementalität« verweist, Foucault folgend, auf den Zusammenhang von politisch-staatlicher Steuerung des Lebens der Menschen und der Herausbildung von Individualität und Identität, also der Subjektivierung im doppelten Sinne der Subjektwerdung und der Unterwerfung unter Macht und Herrschaft im Modus der Emotion (Foucault 2000: 50). Affektive Arbeit und affektive Subjektivierung, also die Notwendigkeit, sich selbst als affektbezogene Person zu entwerfen, sind Elemente eines biopolitischen Arrangements bzw. einer neuen biopolitischen Regierungsweise, die über Affizierung auf das Leben der Menschen zugreift. So forcieren beispielsweise Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken diesen unmittelbaren Zugriff auf Menschen, auch auf ihre affektiven Qualitäten und Fähigkeiten als ökonomische Ressource. Der Staat soll Menschen »aktivieren«, sie als ganze Personen erfassen. Affektive Gouvernementalität als Fremd- wie auch als Selbstregierung ist somit eine Form von Herrschaft, die zu einer Entmächtigung, zu einem Verlust von Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeit und mithin zu einer Erosion von Demokratie führen kann.
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Zweitens: Eine zunehmende Entparlamentarisierung und Informalisierung von Politik verändern das politische Handlungsgefüge ebenso wie der so genannte Globalisierungsdruck, der nationalstaatliche Politikspielräume verengt und die sozialen Voraussetzungen politischer Partizipation erodieren lässt. Zugleich sind mit dieser »post-demokratischen« Konstellation (Crouch 2004) neue Formen politischer Mobilisierung »von oben« verbunden. Affekte sollen aktiv hervorgebracht und auch zu Ressourcen in der Demokratie werden, sie sollen die Entgrenzung von öffentlich-politisch und privat moderieren: Ulrich Bröckling spricht vom »Imperativ der Partizipation« im Neoliberalismus (Bröckling 2005: 22). Bürger/-innen sollen, ja müssen sich gleichsam politisch engagieren und gemeinsam etwas tun, vornehmlich im sogenannten bürgerschaftlichen Engagement. Dem Prozess steigender parteipolitischer Interesselosigkeit und Entfremdung, dem demokratischen Legitimationsverlust soll also durch neue Gefühlstechniken, d.h. durch die Mobilisierung von Affekten, durch Affizierung im nachbarschaftlichen Engagement entgegengetreten werden. Zivilgesellschaftliche politische Partizipation, die affektive Mobilisierung wird so aber in neuartiger Weise Teil von Herrschaft. Partizipation mutiert zu einer Strategie, mit der nicht zuletzt »an die ›Eigenverantwortung‹ der Bürger/-innen im Gemeinwesen appelliert wird« (Wöhl 2007: 112), um sozialstaatlichen und demokratischen Abbau zu kompensieren oder zu kaschieren. Und ganz offenbar sind in das post-demokratische »Sinnvakuum« der Parteipolitik, das durch die radikale neoliberale Transformation des Alltags der Menschen wie auch des politischen Raumes geschaffen wurde, populistische Parteien vorgedrungen. Eine instrumentelle Mobilisierung von Gefühlen für politische Identitätsbildung und zur Etablierung von Angstregimen (etwa die Angst vor Fremden oder vor Terroristen), aber auch Emotionalisierung zur Steigerung von Legitimität (z.B. durch öffentliche Sicherheitsregime) laufen Gefahr, den Boden für eine populistische anti-egalitäre und ausschließende Gefühlspolitik zu bereiten. Drittens: Damit verbunden ist ein Konzept von citizenship, das Bürger/-innen vornehmlich als Konsumenten und Konsumentinnen, als Kunden und Kundinnen betrachtet. Die neuen Lebensweisen im Modus der Emotion werden nämlich zur Voraussetzung für den Zugang zu bzw. den Ausschluss aus staatsbürgerlichen Rechten. Wer die Kunst des affektiven Selbstunternehmertums nicht beherrscht, läuft Gefahr, nicht nur aus Arbeitszusammenhängen, sondern auch aus politischer Teilhabe und von politischen Rechten ausgeschlossen zu werden. Die Forderung, die eigenen Affekte zu managen und produktiv einzusetzen, läuft somit Gefahr, Menschen zu entmächtigen und sie aus dem politischen Gemeinwesen, aus der politischen Öffentlichkeit auszugrenzen. Zwar wird Frauen heute das Wahlrecht nicht mehr mit Verweis auf ihre Emotionalität verweigert, doch der Umgang mit den eigenen Gefühlen und dem eigenen Körper wird in ganz essentialistischer Weise ein Merkmal
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für Zugehörigkeit: Nur wer seine Gefühle meistert und moderiert – sie punktgenau einsetzen kann – ist ein guter neoliberaler Bürger, und diese Fähigkeit wird vornehmlich weißen Männern der Mehrheitsgesellschaft unterstellt. Frauen aus Minderheiten – aber auch spezifischen marginalisierten Männlichkeiten, z.B. migrantischen jungen Männern, wird diese Fähigkeit abgesprochen. So produziert der Gefühlsdiskurs immer auch Bürger/-innen zweiter Klasse. Viertens: Die Mobilisierung von Affekten für die kapitalistische Ökonomie zeitigt gleichsam einen Übersprungseffekt der Affekte vom Erwerbsleben in die Sphäre der Politik. Die Organisation des Lebens und Arbeitens, also auch Politik und Regulierung erfolgen über Beziehungen und Affektivität, sie werden strukturiert und organisiert über Nähe bzw. Distanz, durch Relation und Kooperation. So gesehen sind Affekte ganz grundlegende Elemente auch des öffentlich-politischen Raums. Politik erscheint als affektiver Raum, der im Alltag der Menschen angesiedelt ist, nämlich ein Raum der Erwerbsarbeit, der prekären Tätigkeit oder der Erwerbslosigkeit, der Sorge um sich und um andere. Die zunehmende Informalisierung von Arbeit, die Aufhebung der zeitlichen und räumlichen Trennung von Arbeit und Leben sowie die affektive Arbeit in Netzwerken und die »affektive Subjektivierung« in und durch Arbeit eröffnen neuartige Chancen der Affizierung gegen kapitalistische Entfremdung sowie neue Räume politischer Affektivität des gemeinsamen Handelns. Michael Hardt bezeichnet dies als »Biopolitik von unten« (Hardt 1999: 98). Dies sind Entwicklungen, die sich die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre einst zum Programm gemacht hatten, die sie also in gewisser Weise mit vorbereitet haben. Was damals eine Forderung der Frauenbewegung war, hat heute – partiell – reale Form angenommen: Die Geschlechterverhältnisse haben sich entlang der Trennlinie zwischen öffentlich und privat/intim verschoben, nicht zuletzt in dem Maße, wie Frauen erwerbstätig wurden. Politisierung erfolgt heute nicht mehr nur oder gar vornehmlich über den sogenannten »öffentlichen Bereich« und die dazugehörenden Organisationen wie die Parteien und Gewerkschaften, auch nicht vornehmlich in Bezug auf Partizipation am bzw. im politisch-staatlichen System. Die Interessenvermittlung durch Parteien und Gewerkschaften funktioniert immer weniger. Auch die klassisch-liberale und repräsentative Form der Mobilisierung über »Ideologien«, wie dies die Parteien taten und partiell bis heute tun, ist kaum noch erfolgreich. Vielmehr werden Betroffenheit und Affekte zum Ausgangspunkt für politische Mobilisierung, die dementsprechend nicht mehr auf spezifische Räume und Zeiten begrenzt ist. D.h., der Raum des Politischen – der eben nicht als distinkte Sphäre gedacht werden sollte – entsteht aus »affektiver politischer Subjektivierung« und umgekehrt: Er produziert diese. Gefühle sind so denkbar als widerständige, als ermöglichende Praxis, erlauben sie doch das Mitein ander mit anderen, bieten sie doch die Chance, die eigene Verletzbarkeit wie
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auch jene der anderen wahrzunehmen und zum Ausgangspunkt politischen Handelns zu machen (Hark/Villa 2011). So praktizieren z.B. die Occupy-Bewegungen oder die Refugee-Camps diese neuen Formen der politischen Mobilisierung auf der Basis alltäglicher Erfahrungen, auf der Grundlage von Nähe – nämlich des Zusammen-Campierens –, also auf der Basis von Affektivität. Auch in der aktuellen Care-Debatte wird die Bedeutung von Emotionen für Politik wieder mit der Frage politischen Em powerments durch Gefühle diskutiert.
6. K urzes F a zit : »A ffek tive D emokr atie « Zweifelsohne ist die strategische Emotionalisierung von Politik, Demokratie und Staatlichkeit im Kontext neuer politischer Konstellationen mit Skepsis zu betrachten. Allerdings darf diese negative Sicht auf die Politisierung bzw. Instrumentalisierung von Gefühlen nicht entkontextualisiert erfolgen – sonst verkommt sie zum moralisierenden Argument. Sie darf vor allem nicht den Blick darauf verstellen, dass Affekte auch und gerade Möglichkeiten für emanzipatives politisches Handeln eröffnen können. Das Verhältnis von Affekt und Politik bezeichnet – so hoffe ich gezeigt zu haben – nicht nur einen politischen Stil (z.B. den Populismus), nicht nur eine durch populistische Parteien an die Lebenswelten der Menschen herangetragene Form der Politisierung und nicht nur eine Form der Manipulation zum Zweck des politischen Ausschlusses der als »Andere« Identifizierten. Freilich sollte es einer machttheoretischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Affekten und Politik auch immer um die Frage gehen, wie Affekte produktiv für die Aufrechterhaltung und Verschiebung von Herrschaftsverhältnissen konzeptualisiert und gedacht werden können. Dies gilt auch und gerade für gegenwärtige Transformationsprozesse und gegenwärtige Veränderungen von Regierungstechniken. Auch der Wutbürger und die Wutbürgerin sind deshalb nicht notwendig Feinde der Demokratie, sondern Wut »entsteht als Reaktion auf Unterdrückung, zugleich aber beinhaltet sie die Möglichkeit, der Herrschaft etwas entgegenzusetzen« (Purtschert 2008: 3). Affekte und Affiziertsein, gemeinsames Handeln und Empathie sind die Grundlagen des Politischen. Affekte sind also als eine immer schon vorhandene Dimension politischen Handelns und Politik ist als grundsätzlich affektbezogen zu denken. Diese Konstellation möchte ich vorläufig als »affektive Demokratie« bezeichnen. Für das Konzept einer »affektiven Demokratie« ist m.E. der feministische Anspruch der Herrschaftskritik, wie ihn auch die frühe Frauenbewegung erhob, zentral: Frauenbewegtem Aktivismus ging es um die Politisierung und Kritik versteinerter, herrschaftsförmiger Geschlechterverhältnisse, versteinert
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in einer restriktiven Politik der Gefühle. In einem Konzept »affektiver Demokratie« können aber Affekte nicht einseitig positiv zelebriert werden, weder als harmonisches Solidaritätsgedusel, noch als ein Instrument, das eine agonale Spannung inszeniert, wie dies Chantal Mouffe (2002) vorschlägt. Vielmehr müssen Affekte stets in ihrer herrschaftlichen Wirkmächtigkeit zwischen Alltag und Politik hinterfragt werden. Die Vorstellung einer »affektiven Demokratie« muss somit die Spannung zwischen Affekten als kreativ-emanzipatorischem Aspekt von Handeln und Affekten als herrschaftlich überformten, politischen Instrumenten fassen. Und »affektive Demokratie« braucht Institutionen und Mechanismen, die dieses Spannungsverhältnis zumindest zeitweise auf Dauer stellen, um es dann auch wieder auflösen zu können. Für die Sichtbarmachung und Repräsentation von Frauen wurde das Instrument der Quote etabliert, für die Repräsentation von Gefühlen bräuchte es beispielsweise kommunikativer Foren, die ein kritisches Infragestellen von Herrschaftskonstellationen in gemeinsamem Denken, Debattieren und Handeln ermöglichen. Eine »affektive Demokratie« braucht also Zeiten und institutionelle Formen, um den je individuellen bzw. kollektiven Gefühlen nachzuspüren, aber auch, um über sie nachzudenken, um also herausfinden, woher sie kommen, was sie ausgelöst hat und welche Bedeutung sie für das je eigene Leben, aber auch für das Leben anderer Menschen haben.
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Depression und Geschlecht Ein psychodynamischer Erklärungsversuch Ilka Quindeau
Depressionen gelten gegenwärtig als die am meisten verbreitete psychische Erkrankung in modernen Gesellschaften; insbesondere Frauen sind davon betroffen. Es ist zu vermuten, dass sich hinter dieser Diagnose sehr unterschiedliche Krankheitsbilder und klinische Phänomene finden. Ich möchte in diesem Aufsatz im Anschluss an Sigmund Freud und Judith Butler den Zusammenhang von Geschlecht und Depression bzw. Melancholie entfalten und mit dieser Argumentation einen Baustein liefern, um das steigende Ausmaß depressiver Erkrankungen zu erklären. Im ersten Teil beginne ich zunächst mit der begrifflichen Unterscheidung von Depression und Melancholie. Dazu werde ich sie aus einem engen Krankheitsverständnis lösen und als universelle Antworten auf eine Verlusterfahrung beschreiben. Im zweiten Teil werde ich mich mit dem Zusammenhang von Depression, Melancholie und der Entwicklung von Geschlechtszugehörigkeit befassen. Als gesellschaftliches Ordnungsprinzip erhält das Geschlecht erst in der Moderne den immensen Stellenwert, der ihm in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften zukommt und der sich in den letzten Jahren noch zu steigern scheint. Aufgrund technologischer Entwicklungen kommt dem Geschlecht inzwischen schon pränatal Bedeutung zu, und die Lebenswelt von Säuglingen wird von Anfang an zunehmend geschlechtsspezifisch gestaltet. Interessant sind daher jene Ausschließungs- und Verwerfungsprozesse auf der psychischen Ebene, die von der binären Codierung durch die Heteronormativität erzwungen werden, und die eine Reihe unbewusster Konflikte und Symptombildungen nach sich ziehen. Die Zunahme von Depressionen wird auch mit der gesellschaftlichen Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung in Zusammenhang gebracht, in diesem Sinne spricht etwa Alain Ehrenberg von einer »Kultur der Autonomie« (2004). Inzwischen herrscht in allen Lebensbereichen die fortwährende Erwartung, das eigene Leben autonom und selbstbestimmt zu gestalten. Der
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permanente Zwang, Entscheidungen treffen zu müssen und sei es nur im Hinblick auf Strom- oder Handytarife, führt bei vielen Menschen zu einem dauernden Erschöpfungszustand. Unter diesem an sich selbst gestellten Anspruch leiden depressive Menschen. In den gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften stellen nicht länger Gehorsam und Disziplin die Ideale der mündigen Bürgerinnen und Bürger dar, sondern Initiative und Handlungskompetenz. Depression lässt sich in diesem Sinne als »Krankheit der Verantwortlichkeit«, als »typische Pathologie des demokratischen Menschen« (Ehrenberg 2004: 4) verstehen. Ehrenberg unterscheidet terminologisch nicht zwischen Depression und Burnout, das in letzter Zeit zu einem Modethema geworden zu sein scheint. Von der Symptomatik her gibt es kaum nennenswerte Unterschiede zur Depression, wenngleich es sich beim Burnout nicht um eine anerkannte klinische Diagnose handelt. Wie Ehrenberg die Depression betrachtet – insbesondere in seiner Kritik an der neoliberalen Ideologie des autonomen, selbstbestimmten und entscheidungsstarken Einzelnen – erschiene es schlüssiger, wenn er von Burnout sprechen würde. Denn der Depression haftet das Stigma des Passiven, Vermeidenden und Abhängigen an. Dieses wird häufig mit geschlechtsspezifischen Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung gebracht, weshalb zumeist Frauen als depressiv gelten. Ihre Lebenszeitprävalenz wird mit etwa 20 Prozent fast doppelt so hoch eingeschätzt wie die von Männern mit zwölf Prozent. Die Bedeutung der Geschlechternormen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Erkrankungen wird instruktiv von Nadine Teuber diskutiert (2011).
1. D epression und M el ancholie z wischen L ebensgefühl und K r ankheit Angesichts der Vielgestaltigkeit depressiver Zustände erscheint es mir wenig sinnvoll, sie allein als Symptome einer Krankheit zu sehen. So möchte ich die Perspektive erweitern und für eine Unterscheidung verschiedener depressiver Phänomene plädieren, deren Spektrum von Lebensgefühl und Stimmungslagen bis hin zur Krankheit reicht. Die Frage, ob oder inwieweit einer psychischen Ausdrucksform Krankheitswert zukommt, wird im Wesentlichen durch sich wandelnde kulturelle und historische Faktoren bestimmt. Diese fließende Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit zeigt sich auch im psychoanalytischen Krankheitsverständnis, das psychische Erkrankungen nicht als Störungen auffasst, die beseitigt werden müssen, sondern als sinnhafte psychische Ausdrucksformen. Sie stellen scheiternde, leidvolle Versuche dar, psychische Konflikte und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten und zu bewältigen.
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Symptome sind somit Bedeutungsträger, sie verweisen auf zugrundeliegende konflikthafte Prozesse. Gemeinsam ist den verschiedenen Bestimmungsversuchen der Depression ein Zustand, der sich als Reaktion auf einen Verlust, als eine Art von Trauer, kennzeichnen lässt. Nun ist dieser Verlust im Unterschied zur gewöhnlichen Trauer selbst in der Depression verloren gegangen, d.h. den Betroffenen ist es in der Regel nicht einmal bewusst, dass sie trauern bzw. dass sie überhaupt einen Verlust erlitten haben. Ich möchte daher eine terminologische Unterscheidung vorschlagen und von der bewussten Trauer zwei Formen unbewusster Trauerprozesse, d.h. zwei Modi der psychischen Verarbeitung von Verlusten, abgrenzen: Depression und Melancholie. Während der Begriff der Melancholie als psychiatrische Kategorie eine besonders ausgeprägte, schwere Form der Depression beschreibt, findet er in den Kulturwissenschaften eher Verwendung zur Bezeichnung einer Stimmungslage oder eines Lebensgefühls. Demgegenüber erscheint es mir sinnvoll, auch die Melancholie – wie die Depression – weder auf das eine noch das andere zu beschränken und sie ebenfalls im Spektrum zwischen Lebensgefühl und Krankheit anzusiedeln. Die Psychodynamik von Depression und Melancholie entfaltet sich in einem Beziehungsgeschehen. Von zentraler Bedeutung sind dabei Befriedigungsmöglichkeiten, die ihren Ort in der Beziehung zum Anderen haben. Der Verlust, der auf depressive oder melancholische Weise verarbeitet wird, lässt sich von daher inhaltlich näher charakterisieren als verlorene Befriedigungsmöglichkeiten sowie als Verlust des Anderen, von dem diese Befriedigung ausgeht. Diese Verlusterfahrung entsteht nun nicht notwendig durch den tatsächlichen Verlust einer Person, wesentlich ist vielmehr, dass eine Befriedigungsmodalität wegfällt, die bisher bedeutsam war, bzw. dass der, die, das Andere für diese Art von Befriedigung nicht mehr zur Verfügung steht. Als paradigmatische Szene in der frühen Entwicklung eines Kindes lässt sich in diesem Zusammenhang die Situation des Abgestillt-Werdens anführen, bei der die Befriedigung der oralen Wünsche durch die Brust der Mutter endet. Selbst wenn man diese Situation nicht nur als traumatische konzipiert, in der etwa dem Kind die Brust abrupt entzogen wird, sondern als einvernehmliches Zusammenspiel von Mutter und Kind, handelt es sich bei dieser Szene um eine unvermeidbare, universelle Verlusterfahrung. Diese ergibt sich zwangsläufig aus der somatischen und psychischen Entwicklung des Kindes. Da wir gewohnt sind, menschliche Entwicklung im Wesentlichen als ein Fortschreiten, als Ausdifferenzieren von Strukturen und Funktionen zu betrachten und mit einer positiven Konnotation zu versehen, mag es vielleicht befremdlich erscheinen, Entwicklung unter dem Aspekt von Verlusten zu fokussieren. Doch gerade für das Verständnis depressiver oder melancholischer Phänomene erscheint es mir hilfreich, auch die Kehrseite dieser Entwicklung zu beleuchten: Mit jedem Entwicklungsschritt in Richtung Individuation und
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Autonomie ist ein Verlust von Abhängigkeit verbunden. Die Beziehungsstrukturen verändern sich, es fallen Befriedigungsmöglichkeiten weg, die bis dahin wichtig waren. Dies gilt für das Abgestillt-Werden des Säuglings ebenso wie für das Laufen- und Sprechen-Lernen oder die Ablösung in der Adoleszenz. Auch wenn die oralen Wünsche nach Passivität und Abhängigkeit im Laufe der Entwicklung im Wesentlichen dem Unbewussten verfallen, bleiben sie weiter wirksam und erfordern psychische Verarbeitung. Die beiden Modi der Depression und der Melancholie stellen in dieser Sichtweise universelle Grundformen psychischer Verarbeitung von Verlusten dar, die bei weiteren, kontingenten Verlusterfahrungen im Verlauf des Lebens immer wieder aktualisiert werden und sich bei entsprechend ungünstigen Bedingungen auch zu Krankheiten entwickeln können. Die Abhängigkeit vom Anderen, die der Verlusterfahrung zugrunde liegt, resultiert nun nicht nur aus dem unbewussten oralen Wunsch nach Passivität und Abhängigkeit. Sie stellt zugleich eine existenzielle Grundstruktur dar, die sich aus dem Primat des Anderen ergibt, von dem die Befriedigung ausgeht. Dieses Angewiesensein auf den Anderen wird mithilfe des depressiven bzw. des melancholischen Modus auf je spezifische Weise unterschiedlich verarbeitet: Die Depression verleugnet bzw. verwirft diese Abhängigkeit, die Melancholie sucht sie in Form der Sehnsucht zu bewahren. Diese Differenzierung kann anhand klinischer Beobachtungen noch einmal verdeutlicht werden: So beschreiben depressive Patientinnen und Patienten häufig einen ausgeprägten, charakteristischen Zustand von Leere; atmosphärisch wird dies oft auch in der therapeutischen Beziehung spürbar. Paradox ließe sich formulieren, dass mit der Depression eine Leere dargestellt wird oder pointierter: Im depressiven Modus wird Leere unbewusst inszeniert. Dementsprechend ist auch kein Gefühl spürbar. Die Depression kennzeichnet vielmehr einen Verlust, der sich auch auf das Gefühl selbst ausweitet. Betroffen ist dabei nicht nur das Gefühl von Verlust, sondern weitergehend häufig jegliches Gefühl; es wird nicht nur kein Verlust empfunden, es wird vielmehr gar nichts empfunden. Das heißt, im depressiven Modus geht es nicht – wie bei der Melancholie – um ein Gefühl von Verlust, sondern um den Verlust des Gefühls. Der Verlust, der zu betrauern wäre, wird verleugnet: Es gibt nichts, was verloren wäre; etwas ehemals Wertvolles wird nachträglich als niemals existent dargestellt. Genau dies zeigt sich in der unbewussten Inszenierung der Leere. Depression wäre in dieser Weise zu verstehen als eine radikale Form der Abwehr von Verlust und darüber hinaus auch von Abhängigkeit. Denn die Verleugnung bezieht sich nicht nur auf den Verlust selbst, sondern weitergehend bereits auf die Beziehung zum Anderen bzw. auf die in ihr zunächst enthaltenen und dann verlorenen Befriedigungsmöglichkeiten. Diesen wird im depressiven Modus jegliche Bedeutung entzogen. Damit entfällt auch die Angewiesenheit auf Befriedigung durch den Anderen, welche die Abhängig-
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keit begründet. Indem der Verlust der befriedigenden Beziehung auf so grundlegende Weise abgewehrt wird, lässt sich in der Depression auch ein Versuch der Bewältigung von Abhängigkeit erkennen. Die Verleugnung des Verlusts ist zugleich eine Verleugnung von Abhängigkeit und Angewiesensein oder – in einer abstrakteren Formulierung – eine Verleugnung von Alterität. Wie die Depression stellt auch die Melancholie einen unbewussten Modus der Trauer, der Verarbeitung von Verlusten dar. Während die Depression diese Verluste in der beschriebenen Weise verleugnet und sich der Verlust auch auf das Gefühl selbst bezieht, bleibt die Empfindung von Verlust in der Melancholie bestehen. Wenngleich dieser Verlust von den Betroffenen auch nicht inhaltlich näher spezifiziert werden kann, sondern sich meist nur als dumpfes, undifferenziertes und zugleich umfassendes Gefühl äußert, bleibt er in Form der Sehnsucht der Wahrnehmung noch zugänglich. Diese Sehnsucht bringt zugleich die Abhängigkeit vom und Angewiesenheit auf den Anderen zum Ausdruck, die in der Depression verleugnet wird. Sie wird jedoch auch in der Melancholie nicht anerkannt, sondern verschwimmt in dem undifferenzierten, diffusen Gefühl. Somit wird die Alterität des Anderen ebenso wenig gewahrt wie in der Depression. Wollte man aus dieser Perspektive die Depression und die Melancholie nosologisch kategorisieren, so wäre nicht wie in der psychiatrischen Diagnostik die Melancholie die schwerere Erkrankungsform, sondern die Depression mit ihren vergleichsweise archaischeren, rigideren Abwehrformationen. Doch wesentlicher als die Frage nach dem Krankheitswert erscheint mir die Konzeption des depressiven und des melancholischen Modus als universelle Formen der Verarbeitung von Verlusterfahrungen. Ich habe diese beiden Modi zu Anfang von der Trauer abgegrenzt und beziehe Depression und Melancholie im Wesentlichen auf Verluste, die nicht betrauert werden können. Damit folge ich implizit der üblichen, jedoch normativen Vorstellung von Trauer, die davon ausgeht, dass Verlusterfahrungen gleichsam vollständig und restlos verarbeitet bzw. psychisch »integriert« werden können. Es wäre zu fragen, ob dies wirklich eine sinnvolle Konzeptualisierung darstellt oder ob sie nicht vielmehr unserem Wunschdenken entspringt. Nichtsdestoweniger erscheint es mir sinnvoll, den Begriff der Trauer in diesem Sinne vorerst beizubehalten, jedoch mit dem Anliegen, dem depressiven bzw. melancholischen Modus die pejorative Konnotation einer unangemessenen, tendenziell pathologischen Reaktion auf einen Verlust zu nehmen und sie der Trauer zur Seite zu stellen. Die begriffliche Unterscheidung von depressiven und melancholischen Modi, die gewöhnlich im Begriff der Depression zusammenfallen, ermöglicht darüber hinaus, verschiedene Formen der Verarbeitung von Verlusten zu beschreiben, in denen sich ein unterschiedlicher Umgang mit Abhängigkeit und Angewiesenheit auf den Anderen sowie mit der Alterität des Anderen zeigt.
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2. D epression , M el ancholie und die E nt wicklung der G eschlechtszugehörigkeit Als Antworten auf Verlusterfahrungen haben Depression und Melancholie denselben Entstehungskontext; in einer ersten Annäherung wurden diese Verluste bereits näher spezifiziert als Wegfall von Befriedigungsmöglichkeiten, die sich aus der Beziehung zum Anderen ergeben. Da nun insbesondere Frauen von depressiven Erkrankungen betroffen sind, wenngleich in den letzten Jahren auch ein deutlicher Anstieg der Depressionen bei Männern zu verzeichnen ist (vgl. Leuzinger-Bohleber), wäre nach Gründen für diesen geschlechtsspezifischen Unterschied zu suchen. Will man diesen Befund nun nicht soziologisch interpretieren und eine Ursache dafür im Geschlechterverhältnis oder im Wandel der Geschlechterrollen ansetzen, bietet sich eine psychodynamische Betrachtungsweise an, die den Fokus auf die Besonderheiten der weiblichen Entwicklung legt. Dieses Vorgehen könnte jedoch Gefahr laufen, den Blick vorschnell zu verengen auf – im Zusammenhang der Psychodynamik – möglicherweise vermeintliche geschlechtsspezifische Unterschiede. In meiner Argumentation möchte ich die Entstehung der Depression daher erst allgemein im Zusammenhang der Geschlechtsentwicklung bei beiden Geschlechtern ansiedeln, um dann in einem weiteren Schritt die weibliche Entwicklung noch einmal gesondert zu fokussieren. Im Prozess der Geschlechtsentwicklung sehe ich eine paradigmatische, universelle Verlusterfahrung, für die keine Trauer möglich ist und die daher in einem depressiven oder melancholischen Modus verarbeitet werden muss. Da es ungewöhnlich ist, die Geschlechtsentwicklung unter dem Aspekt eines Verlustes zu betrachten, möchte ich diesen Gedanken kurz erläutern: Die Geschlechtsentwicklung in der frühen Kindheit lässt sich als Prozess zunehmender Vereindeutigung beschreiben, an dessen Ende eine gefestigte Geschlechtsidentität steht, d.h. das sichere Bewusstsein, ein Mädchen oder ein Junge zu sein. Betrachtet man diesen Prozess nun nicht als das mehr oder weniger reibungslose Ablaufen eines biologischen Programms, sondern als Entwicklungsaufgabe einer aktiven psychischen Aneignung, öffnet dies den Blick für die psychischen Konflikte, die mit dem Erwerb der Geschlechtsidentität einhergehen. Eine zentrale Rolle in diesem Konfliktgeschehen spielen die bisexuellen Identifizierungen des Kindes. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, bildet sich die psychische Struktur des Kindes durch Identifizierungen mit beiden Elternteilen, d.h. sowohl durch gleichgeschlechtliche als auch durch gegengeschlechtliche Identifizierungen. Im Zuge der Herausbildung einer eindeutigen Geschlechtsidentität muss die gegengeschlechtliche Identifizierung aufgegeben werden; unter diesem Aspekt stellt der Prozess der Geschlechtsentwicklung auch einen Verlust dar, der eine psychische Verarbeitung erfordert. Charakteristisch für diese Verluste ist nun, dass sie niemals be-
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wusst werden. Darüber hinaus ist auch kein gesellschaftliches und wohl auch nur selten ein individuelles Bewusstsein vorhanden, dass es sich überhaupt um Verluste handelt. Das Kind kann somit nicht um seine verlorenen Identifizierungen trauern, sondern ist vielmehr genötigt, sie in einem melancholisch-depressiven Modus zu verarbeiten. Bevor ich diesen Modus im Einzelnen nachzeichnen werde, möchte ich noch auf einen anderen Aspekt eingehen: Aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen gestaltet sich die Geschlechtsentwicklung zunehmend prekär: So nimmt einerseits die Bedeutung des Geschlechts als Ordnungskategorie in modernen Gesellschaften stetig zu und lässt das Geschlecht zum Kern personaler Identität werden. Dies vollzieht sich unter den Bedingungen einer fortbestehenden Geschlechterhierarchie, die eine eindeutige Zuordnung der Einzelnen zu einer der Kategorien, d.h. eine binäre Codierung des Geschlechts in Männlichkeit und Weiblichkeit, verlangt. Andererseits lösen sich traditionelle Geschlechterrollen und fördern die Illusion von nahezu unbeschränkten Wahlmöglichkeiten. Es ist zu vermuten, dass diese ambivalente gesellschaftliche Situation mit dazu beiträgt, auch die psychischen Konflikte und Verlusterfahrungen im Zusammenhang der Geschlechtsentwicklung und damit depressive oder melancholische Modi zu aktualisieren. In einem weiteren Argumentationsschritt möchte ich die Besonderheiten der weiblichen Entwicklung fokussieren und der Frage nachgehen, ob sich darin Momente finden lassen, die das erhöhte Ausmaß depressiver Erkrankungen bei Frauen im Vergleich zu Männern verständlich werden lassen. Zur Erklärung dieser geschlechtsspezifischen Differenz wird zur oben skizzierten These einer melancholisch-depressiven Geschlechtsentwicklung unter der gesellschaftlichen Bedingung einer binären Codierung des Geschlechts eine weitere gesellschaftliche Ordnungsstruktur herangezogen: der Primat der Heterosexualität und die damit verbundene Verwerfung homosexueller Beziehungen. Von diesem Primat ist die weibliche Entwicklung in besonderer Weise betroffen, da sich die primäre Liebe des Mädchens auf ein gleichgeschlechtliches Objekt, die Mutter, bezieht. Diese Liebe wird nun im Prozess der Geschlechtsentwicklung und der in der Regel damit verbundenen heterosexuellen Objektwahl verworfen. Psychoanalytische Geschlechtertheorien befassen sich seit Freud mit der Bedeutung und den Auswirkungen des sogenannten »Objektwechsels«. Ohne die Diskussion hier noch einmal im Einzelnen führen zu können, geht es dabei um die (umstrittene) Annahme, dass das Mädchen in der ödipalen Situation die primäre Liebe zur Mutter löst und ihr Begehren auf den Vater richtet. Betrachtet man diesen Objektwechsel unter der Bedingung des gesellschaftlichen Primats der Heterosexualität, wird deutlich, dass es sich auch hierbei um einen erzwungenen Verlust handelt, der nicht betrauert werden kann. Insofern ist die weibliche Entwicklung von einem doppelten Verlust betroffen, der psychisch verarbeitet werden muss: vom Verlust der heterosexu-
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ellen Identifizierung, den die Entwicklung der Geschlechtsidentität verlangt, und vom Verlust des primären, homosexuellen Liebesobjekts, den die heterosexuelle Objektwahl erfordert. Dieser doppelte Verlust und die Notwendigkeit seiner Verarbeitung tragen möglicherweise zur höheren depressiven Erkrankungsrate bei Frauen bei.
Das Konzept der Melancholie und der Identifizierung bei Freud Bekanntlich differenziert Freud nicht zwischen Melancholie und Depression und entwickelt sein Konzept der Melancholie in Abgrenzung zur Trauer: Die Melancholie stellt einen unabgeschlossenen Trauerprozess dar. Während die Trauerarbeit zu einer vollständigen Ablösung der Libido vom verlorenen Objekt führt und die freigewordene Libido für neue Objektbesetzungen verfügbar macht, wird sie im Falle der Melancholie auf das Ich selbst zurückgezogen. Diese freigewordene Libido dient dann dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen: »Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hat sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich« (Freud 1917: 435). Soweit die frühere Vorstellung von Melancholie bei Freud: Melancholie stellt eine Verarmung des Ichs dar. Später wurde diese Auffassung revidiert; in »Das Ich und das Es« greift Freud (1923) den Vorgang der Melancholie noch einmal auf und bezeichnet ihn als häufigen und typischen psychischen Vorgang, der großen Anteil an der Ich-Bildung trägt und an dem, was man Charakter nennt. Der Grund für diese Revision liegt in einem veränderten Verständnis der Bedeutung der Identifizierung. Die Identifizierung gilt als Vorstufe der Objektwahl, sie sei eine frühe Art der Auszeichnung eines Objekts: Entsprechend der Phase der Libidoentwicklung soll das Objekt im oralen Modus »einverleibt«, »gefressen« werden. Insofern stellt die Identifizierung eine Bereicherung des Ichs dar: Das verlorene Objekt wird mittels der Identifizierung im Ich wieder aufgerichtet, das Ich verändert sich partiell nach dem Vorbild des verlorenen Objekts. Wichtig ist auch der Hinweis Freuds, dass es eine Identifizierung bei erhaltenem Objekt gibt, d.h. das Objekt muss nicht aufgegeben werden. Die libidinöse Besetzung kann neben der Identifizierung bestehen bleiben. Der melancholische Modus erhält damit wesentliche Bedeutung für die Bildung des Ichs. Was bedeutet dies nun für die Entwicklung des Geschlechts, der Geschlechtszugehörigkeit? Bei den Objekten, die für die frühe Ich-Bildung maßgeblich sind, handelt es sich um die primären Bezugspersonen des Kindes, in der Regel Vater und Mutter, d.h. erwachsene Männer und Frauen mit einer ausgebildeten Geschlechtsidentität. Da sich das Kind mit beiden Objekten, mit
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beiden Elternteilen, identifiziert, finden sich in seiner Ich-Struktur zugleich weibliche und männliche und damit sowohl gleich- als auch gegengeschlechtliche Identifizierungen. Empirisch zeigt sich dies an der Überzeugung kleiner Kinder, beide Geschlechter zu sein oder zumindest werden zu können. So sind Jungen in den ersten drei oder vier Lebensjahren in omnipotenter Illusion fest davon überzeugt, später einmal Kinder gebären zu können, oder gehen Mädchen davon aus, noch einen Penis zu bekommen. Im Laufe der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit verschwinden diese Überzeugungen; die gegengeschlechtlichen Identifizierungen werden unbewusst. Dies ermöglicht eine eindeutige Geschlechtsidentität, das sichere Gefühl, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, und damit die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Geschlechts. Dem Gewinn an Identität steht jedoch der Verlust von Identifizierungen und das heißt von Verhaltens-, Erlebens- und Befriedigungsmöglichkeiten gegenüber. Diese Überlegungen werfen neues Licht auf das inzwischen etwas verstaubte Konzept der konstitutionellen Bisexualität, an dem Freud zeit seines Lebens festhielt, wenn er auch noch 1930 sein Unbehagen darüber zum Ausdruck brachte, dass es »noch sehr im Dunkeln« liege und »noch keine Verknüpfung mit der Trieblehre gefunden« habe (Freud 1930: 466). Betrachtet man die Bisexualität als Ergebnis von Identifizierungen mit beiden Elternteilen statt – wie Freud – als hereditäre biologische Anlage, ließe sie sich mit der Triebtheorie verknüpfen; dies hätte weitreichende Folgen für die psychoanalytische Konzeptualisierung der Geschlechtsentwicklung, die im Einzelnen auszuführen den Rahmen dieses Aufsatzes übersteigen würden. Erste Ansatzpunkte für solch eine Neukonzeptualisierung finden sich etwa in der Theorie Judith Butlers zur melancholischen Identifizierung (2001).
Der Zusammenhang von Melancholie und Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit in der Theorie Butlers In dem Aufsatz »Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung« formuliert Judith Butler (2001) als zentrale These, dass die Geschlechtszugehörigkeit eine Art von Melancholie darstellt. Unser Selbstverständnis, männlich oder weiblich zu sein, d.h. die Geschlechts-«Identität« (wenn man diesen Begriff verwenden will), kann als Ergebnis eines melancholischen Prozesses verstanden werden. Butler weist damit auf den oben skizzierten Verlustcharakter der Geschlechtsentwicklung hin, der in den biologischen Ansätzen, die dem Geschlecht den Anschein von Natürlichkeit, von Selbstverständlichkeit geben, verloren geht. Bei der Etablierung der Geschlechtszugehörigkeit und der damit verbundenen Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Geschlechts handelt es sich um einen psychischen Prozess, der den Verzicht auf bisexuelle
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Omnipotenz-Phantasien erfordert und mit einer Form der Trauerarbeit – bzw. präziser: mit einem depressiv-melancholischen Prozess – einhergeht. Während die psychoanalytische Theoriebildung die Identifizierung mit beiden Elternteilen auf der Ebene des Charakters ansiedelt (das wäre die Ebene des Gender), bezieht Judith Butler den Prozess der Identifizierung explizit auch auf die Ebene des Körpers (die Ebene des Sex). Damit wird der Einsicht Rechnung getragen, dass psychische und biologische Faktoren untrennbar miteinander verwoben sind. Butler rekurriert dabei auf die Überlegung Freuds, dass das Ich vor allem ein »Körper-Ich« sei (Freud 1923: 255); als körperliches nimmt das Ich eine geschlechtsspezifische Morphologie an. Die frühe Form der Identifizierung, verstanden als eine Form der Einverleibung oder Inkorporation – so lässt sich jetzt sagen – bildet den Körper, bildet die geschlechtsspezifische Morphologie. Diese Annahme, dass Objektbeziehungen bzw. der Niederschlag solcher Beziehungen den Körper hervorbringen, stellt eine starke Zumutung an unser herkömmliches Verständnis dar, das den Körper als etwas Gegebenes, Naturhaftes ansieht. Um Missverständnisse zu vermeiden ist zu betonen, dass Butler den Begriff von »Bildung« des Körpers im Sinne von Formung verwendet und nicht etwa im Sinne von technischer Herstellung (Butler 1991, 1995). Neben der Bildung der geschlechtsspezifischen Morphologie des Körpers kommt der Identifizierung noch die bereits genannte Funktion zu im Hinblick auf die Verarbeitung eines Verlusts. Im Modus der Identifizierung wird eine verlorene, aufgegebene Objektbeziehung verarbeitet. Während Freud die Identifizierung als zentralen Modus zur Bildung des Ichs bzw. der psychischen Struktur fokussiert, weist Butler auf einen interessanten, damit verbundenen Aspekt hin: Als Verinnerlichung des Objekts stellt die Identifizierung zugleich auch eine Nicht-Anerkennung des Verlusts dar. Wenn das verlorene Objekt verinnerlicht wird, gibt es nichts mehr, was verloren wäre. Indem das verlorene oder aufzugebende Objekt qua Identifizierung zu einem Teil der eigenen psychischen Struktur wird, bleibt es zugleich erhalten. Die Identifizierung sei nach Butler somit eine magische, eine psychische Form der Bewahrung des Objekts, d.h. das, was aufgegeben werden soll, wird zugleich bewahrt. Soweit stellt sich die Melancholie als äußerst produktiver, ›trickreicher‹ Modus der Verarbeitung von Verlusten dar, der Objektbesetzungen für die Ich-Bildung verfügbar macht. Aber das Ganze hat auch seine Schattenseite: nämlich den Verlust, die Aufgabe von Objektbesetzungen, welche die Voraussetzung für die Identifizierung bilden. Im Hinblick auf die Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit bezieht sich der Verlust – wie bereits beschrieben – auf die gleichgeschlechtliche Objektbesetzung, die mit der Identifizierung aufgegeben werden muss: die primäre Liebe des Mädchens zur Mutter bzw. des Jungen zum Vater. Die Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil setzt – nach Butler – die Aufgabe des gleichgeschlechtlichen Begeh-
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rens voraus: Das Mädchen wird Mädchen, indem es ihr Begehren der Mutter gegenüber aufgibt und sich mit ihr identifiziert; die Besetzung der Mutter als Liebesobjekt wird ersetzt durch Identifizierung, die wiederum zur Bildung des eigenen Ichs, der eigenen Geschlechtsposition notwendig ist. Die Identifizierung erhält und konserviert damit sowohl das Verbot einer homosexuellen Bindung als auch homosexuellen Begehrens, zugleich wird der unbetrauerte Verlust inkorporiert. Dieser Zusammenhang zwischen der Aufgabe des Begehrens und der Identifizierung, den Butler nachweist, leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit. Aus psychoanalytischer Perspektive scheinen nun noch einige Ergänzungen oder Modifikationen angebracht. Butlers Argumentation erweckt tendenziell den Eindruck eines Ersetzungsverhältnisses: Das Begehren wird durch Identifizierung ersetzt. In Freuds Darlegung (1923) findet man jedoch den Hinweis, dass die Identifizierung die Objektbesetzung nicht notwendig aufhebt, sondern daneben bestehen bleiben kann. Dieses Nebeneinander von Identifizierung und Objektbesetzung scheint mir das Verhältnis von Eltern und Kind auch zutreffender zu beschreiben. Nichtsdestoweniger erfährt diese Objektbesetzung jedoch eine entscheidende Wandlung, die als Entsexualisierung bezeichnet werden könnte. Die Liebe und das Begehren des Kindes den Eltern gegenüber werden voneinander getrennt; das Begehren – oder präziser: die auf den Körper der Eltern bezogenen oralen, analen und phallischen Wünsche des Kindes – werden ins Unbewusste verdrängt. Es scheint mir nun genau dieser Verlust des sexuellen Begehrens zu sein, der mit der Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, mit der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit einhergeht und der nicht betrauert werden kann. Diese Überlegungen stehen im Übrigen auch im Einklang mit der freudschen Formulierung des Ödipuskomplexes. Der Erwerb der Geschlechtsidentität geht im Ausgang des Ödipuskomplexes einher mit der Aufgabe des sexuellen Begehrens, was Freud allerdings – wie mir scheint zu Unrecht – nur auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil bezieht. Im Hinblick auf das heterosexuelle Begehren nimmt er hingegen Verschiebungsvorgänge der Objektbesetzungen an, die im Laufe der Adoleszenz schließlich in die Besetzung eines außerfamilialen Liebesobjekts münden. Auch diese Verschiebung gründet in einem Verlust, der von Freud jedoch nicht thematisiert wird. Dieser Verlust durch die Aufgabe des Begehrens beiden Elternteilen gegenüber erfordert eine psychische Verarbeitung, die sich aufgrund der fehlenden Trauermöglichkeiten als depressiver oder melancholischer Modus beschreiben lässt. Diese Verarbeitung stellt sich nun im Hinblick auf das hetero- und das homosexuelle Begehren unterschiedlich dar. Aufgrund der kulturellen Vorherrschaft der Heterosexualität ist das homosexuelle Begehren in stärkerem Ausmaß von der Verdrängung betroffen. Judith Butler bezeichnet diesen Vor-
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gang daher auch nicht als Verdrängung, sondern in Anlehnung an Lacan als Verwerfung, die das Moment der Ausschließung hervorhebt (Butler 2001). Der Begriff der Verdrängung setze ein bereits geformtes Subjekt voraus; Verwerfung sei dagegen der Akt einer Negierung, die das Subjekt selbst begründet und formt. Da die Entstehung der Geschlechtsidentität in die Subjektkonstitution eingewoben werden soll, erscheint mir diese Begriffsverwendung schlüssig. Die Konzeption der Verwerfung könnte auch einen Ansatzpunkt bieten zur Differentialdiagnose von Depression und Melancholie bzw. zur Unterscheidung des depressiven und des melancholischen Modus. Als charakteristisches Merkmal der Depression gilt eine spezifische Form von Leere, nicht ein Gefühl von Verlust, sondern der Verlust dieses Gefühls. Genau dies kennzeichnet auch den Modus der Verwerfung, der sich nicht in Affekten oder Stimmungslagen manifestiert, sondern vielmehr durch deren Ausbleiben. In diesem Sinne lässt sich in der Verwerfung auch ein zentraler Modus der Depression erkennen. Die Depression könnte so verstanden werden als nachträglicher psychischer Verarbeitungsversuch des unbetrauerten Verlusts der primären Liebe. Während die melancholische Geschlechtsentwicklung einen regelhaften Prozess in modernen Gesellschaften beschreibt, der durch die zentrale Bedeutung des binär codierten Geschlechts als Ordnungsstruktur hervorgebracht wird und die Einzelnen zu einer Vereindeutigung ihrer Geschlechtsposition sowie den damit verbundenen Ausschließungen und Verwerfungen zwingt, stellt die Depression einen weiteren Schritt der psychischen Verarbeitung, eine Form der Abwehr dieser melancholischen Grundsituation dar. Die Depression lässt sich als Verwerfung der Melancholie, als doppelte Verwerfung betrachten. So wird nicht nur das körperliche Begehren verworfen, sondern zugleich die Liebe, indem vorgegeben wird, nie geliebt und daher auch nie verloren zu haben. Dies unterscheidet sie von melancholischen Verarbeitungen, bei denen die Liebe nicht vollständig der Verleugnung verfallen ist, sondern im diffusen Gefühl eines Verlusts noch spürbar bleibt. Die Verwerfung des homosexuellen Begehrens stabilisiert nach Butlers Argumentation die Geschlechtsidentität. Diese These eines engen Zusammenhangs von Geschlechtsidentität und Objektwahl erfordert einige Erläuterungen. Butler beschreibt damit keinen notwendigen, naturhaften Zusammenhang, sondern vielmehr einen sozialen Tatbestand (im durkheimschen Sinne eines »fait social«), der sich aus der kulturellen Vorherrschaft der Heterosexualität und der großen Bedeutung des Geschlechts als Ordnungsstruktur in modernen Gesellschaften ergibt. Weiblichkeit und Männlichkeit werden nicht als biologische Anlagen konzipiert, sondern als etwas Ausgebildetes, als »Errungenschaften«, die zusammen mit dem Erlangen der Heterosexualität entstehen. Durch das Zusammenziehen von Geschlechtszugehörigkeit und Heterosexualität, das unsere kulturelle Logik erfordert, wird eine Bedrohung
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der Heterosexualität – etwa durch verworfene homosexuelle Strebungen – zu einer Bedrohung der Geschlechtszugehörigkeit. Männlichkeit und Weiblichkeit, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, werden somit wesentlich durch die heterosexuelle Ordnung gestützt. Wenn die Annahme einer bisexuellen Identifizierung des Kindes mit beiden Elternteilen zutrifft, dann besteht die Entwicklung der Geschlechtsidentität darin, die Identifizierung mit dem jeweils anderen Geschlecht zu verwerfen, um so zu einem eindeutigen, ›eigenen‹ Geschlecht zu kommen. Hier scheint mir auch der wesentliche Effekt der kulturellen Vorherrschaft der Heterosexualität zu liegen; es geht dabei weniger um die Objektwahl, also um homosexuelle oder heterosexuelle Bindungen, als vielmehr um die binäre Codierung des Geschlechts, die zu einer eindeutigen Zuordnung – entweder männlich oder weiblich – und damit zu einer Ausschließung des anderen zwingt. In diesem Punkt liegt m.E. die Relevanz der Theorie von Judith Butler für die Psychoanalyse bzw. psychoanalytische Theoriebildung: Die binäre Codierung des Geschlechts erhält erst in der Moderne den immensen Stellenwert, den sie gegenwärtig in unserer Gesellschaft besitzt; interessant sind daher jene Ausschließungs- und Verwerfungsprozesse auf der psychischen Ebene, die von der binären Codierung erzwungen werden, und die vermutlich eine Reihe unbewusster Konflikte und Symptombildungen nach sich zieht. Die beiden Modi der Depression und der Melancholie können in der beschriebenen Weise als Antworten auf diese Konflikte verstanden werden. Die vorgeschlagene Konzeptualisierung eines depressiven und eines melancholischen Modus zur Verarbeitung von Verlusten löst Depression und Melancholie aus einem einseitigen Krankheitsverständnis und siedelt sie als universelle Formen der Verarbeitung psychischer Konflikte im Bereich zwischen Lebensgefühl und Krankheit an. Im psychodynamischen Sinn bedeutet der Verlust des Anderen einen Verlust an Befriedigungsmöglichkeiten, die von diesem Anderen ausgehen. Der depressive und der melancholische Modus antworten auf diesen Verlust. Exemplarisch zeigen sich die depressiven und melancholischen Modi an der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit, die mit der Individuation einhergeht und eine ganze Reihe von Konfliktlagen umfasst. Der Verlustcharakter dieses Entwicklungsprozesses wird besonders sichtbar am Konflikt im Gefolge der gleich- und gegengeschlechtlichen Identifizierungen, da letztere zugunsten einer eindeutigen Geschlechtsidentität aufgegeben werden müssen. Diese Argumentation der melancholischen Geschlechtsentwicklung bietet einen Ansatz, um das steigende Ausmaß depressiver Erkrankungen in modernen Gesellschaften zu erklären. Während die gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Geschlechtszugehörigkeit zunimmt, wird der Erwerb einer Geschlechtsidentität als psychische Entwicklungsaufgabe zugleich individualisiert und den Einzelnen aufgegeben. Mit der Auflösung festgelegter, traditioneller Ge-
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schlechterrollen scheint sich dabei den Einzelnen größere Wahlfreiheit zu bieten, die sich jedoch vor dem Hintergrund der weiter bestehenden binären Codierung und der Geschlechterhierarchie als überaus spannungsvoll und konfliktreich erweist und die Einzelnen tendenziell überfordert. Die Vervielfältigung der Geschlechterrollen einerseits und die hohe Bedeutsamkeit der Geschlechtszugehörigkeit als Ordnungsmoment moderner Gesellschaften andererseits stellen die Einzelnen vor eine paradoxe Situation, die Wahlfreiheit zugleich suggeriert und versagt und damit zur Entstehung psychischer Krankheiten beitragen kann.
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Geschlecht und Gefühl Emotionsnormen in der Konstruktion depressiver »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« Nadine Teuber
E inführung : D epression als F r auenkr ankheit Depressionsdiagnosen nehmen weltweit zu (WHO 2005, zit. lt. LeuzingerBohleber 2005a) und erhalten vermehrt mediale Aufmerksamkeit. Die Depression, seit den 1970er Jahren als »common cold of psychiatry« (Seligman 1975) bezeichnet, wurde in den letzten Jahren von den Printmedien zum »Krebs der Seele« (Hoischen 2008) erklärt. Der aktuelle Depressionsdiskurs erinnert an die Präsentation einer Pandemie (Miller 2008). Darian Leader (2008) vergleicht Vorstellungen über depressive Störungen heute mit der schwarzen Pest des Mittelalters. Der viel zitierte Soziologe Alain Ehrenberg (1998) konstatiert für die heutige neoliberale Gesellschaft eine moderne Erschöpfung, die Erschöpfung man selbst zu sein. Es ist die Kehrseite der Selbstoptimierung, des ökonomisierten Wellness-Gedankens und der Coaching-Systeme, die schnelle Wohlfühl-Hilfe versprechen, eine Abweichung von diesem Ideal jedoch vermehrt individuell pathologisieren und biologisieren. Zugleich steigt die Zahl der Depressionsdiagnosen kontinuierlich, ebenso wie die Zahl der Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund psychischer Krankheiten zunimmt. Unklar ist dabei jedoch, ob es sich hier um eine tatsächliche Zunahme von Krankheiten handelt oder um ein verstärktes gesellschaftliches und mediales Bewusstsein für (Mode-)Diagnosen wie Depression, Aufmerksamkeitsstörung und Burnout. Möglicherweise sind die steigenden Zahlen der Ausdruck einer strengeren Sanktionierung von »Un-Wohlgefühlen«? Aber unabhängig davon, ob die Depression nun eine neue, eine alte oder auch keine »Volkskrankheit« (Leuzinger-Bohleber 2005b) darstellt, ist eine ihrer bemerkenswertesten Eigenschaften ihr auffälliger Gender Gap, d.h. der ihr zugrunde liegende Geschlechtsunterschied. Obwohl Diagnosen männlicher Depressionen in aktuellen Studien aufschließen, so sind Frauen bislang
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einem mindestens doppelt so hohen statistischen Depressionsrisiko ausgesetzt als Männer (Piccinelli/Wilkinson 2000). Die Zahlen der unterschiedlichen Studien variieren dabei je nach Depressionsdiagnose und Untersuchung zwischen einem eineinhalb- bis zweifach erhöhten Risiko (ebd.). Dies gilt für fast alle psychiatrisch definierten Depressionstypen und ist weitgehend unabhängig vom kulturellen Hintergrund (Nolan-Hoeksema 1990). Für Deutschland veröffentlichte die DEGS Studie zur Gesundheit Erwachsener des Robert Koch Instituts (RKI) 2013 aktuelle Zahlen: die Zwölf-Monats-Prävalenz diagnostizierter Depressionen für Frauen liegt dort bei 8,1 Prozent. Für Männer liegt sie mit weniger als der Hälfte der Häufigkeit bei 3,8 Prozent (Busch et al. 2013, zit.n. Müters/Hoebel/Lange 2013). 70 Prozent aller Antidepressiva werden in den USA an Frauen verschrieben, oftmals durch den Hausarzt, ohne vorherige klinische Diagnostik oder therapeutische Begleitung (McGrath et al. 1990). Frauen nehmen nicht nur mehr Antidepressiva ein, sie zeigen auch eine längere Krankheits- und Episodendauer, erkranken in jüngerem Alter als Männer und suchen wegen depressiver Verstimmung schneller und öfter Hilfe auf. Gefühlsmerkmale der depressiven Patientenrolle stimmen dabei mit klassischen Beschreibungen traditioneller Weiblichkeit soweit überein, dass die Depressionsforscherin Ellen McGrath in Weiblichkeit per se eine milde Manifestation der Depression zu erkennen vermag (McGrath et al. 1990). Die Psychiaterin Kay Redfield Jamison formuliert es ähnlich: »Depression, somehow, is much more in line with society’s notions of what women are all about: passive, sensitive, hopeless, helpless, stricken, dependent, confused, rather tiresome, and with limited aspirations.« (Jamison 1997: 122) Diese Persönlichkeitsmerkmale und ihre zugehörigen Emotionen stimmen wiederum mit sozialpsychologischen Definitionen stereotyper Weiblichkeit/Feminität in Fragebögen überein, die dann wiederum eingesetzt werden, um z.B. Gesundheit und Wohlbefinden zu untersuchen. So entsteht eine Übereinstimmung zwischen gesellschaftlich als unerwünscht normierten Emotionen, symbolischen Geschlechtszuschreibungen und Krankheitsvorstellungen, die für das individuelle Krankheitserleben, die psychologische Forschung und die klinische Praxis wichtige Konsequenzen nach sich zieht. Sie führt nicht nur dazu, dass Frauen eher bereit sind, Depressionen an sich wahrzunehmen, deswegen Hilfe aufzusuchen und somit auch vermehrt diagnostiziert werden – sie führt auch dazu, dass Männer Depressionen bei sich weniger erkennen, und dass sowohl männliche Patienten als auch Kliniker/-innen dazu neigen, Depressionen bei Frauen eher zu benennen und zu behandeln als bei Männern. Die hier vorliegenden Überlegungen zum Zusammenhang von Geschlecht, Depression und Emotionsnormen nehmen ihren Ausgang von der Beobachtung, dass die Depression zunächst als eine Frauenkrankheit erscheint, d.h. Frauen scheinen für depressive Störungen empfänglicher als Männer. Mit Ehrenberg ist zu fragen, warum vor allem Frauen müde davon sind, sie selbst zu sein. Da-
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bei geht es hier keinesfalls um eine Naturalisierung von Frauen und Männern als Kranke, sondern um die Frage, wie entsprechende differenztheoretischen Befunde mit der Betrachtung eines kulturhistorischen Geschlechts der Depression bzw. mit einer geschlechtlich kodierten Wahrnehmung depressiver Störungen sowie von symbolischer Weiblichkeit und Gefühlsnormen, zusammenwirken. Dieser Beitrag fokussiert im Folgenden auf die Wahrnehmung und diskursive Vergeschlechtlichung der Depression. Dabei wird der Verhandlung von Geschlecht in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konzeptualisierung depressiver Symptome nachgegangen: Wie beeinflusst und strukturiert Geschlecht klinische und theoretische Konzepte über depressive Störungen? Wie schreibt sich ein Wissen über symbolische Weiblichkeit und Männlichkeit in die Theorien über Depression und schließlich in ihre Behandlung ein? Geschlechterkonstruktionen werden sowohl in der Psyche als auch im Körper depressiver Patienten/Patientinnen wirksam. Vorstellungen über richtiges Mann und Frau sein beeinflussen, wie Patienten/Patientinnen ihre Depression erleben und kommunizieren, sie beeinflussen auch ob und wie Kliniker/-innen Depression überhaupt diagnostizieren. Sie beeinflussen, ob Gefühle oder Stimmungen1 im Kontext von Geschlechternormen als kongruent mit dem eigenen Geschlecht erlebt werden oder als Überschreitung oder Abweichung wahrgenommen werden – z.B. fremd oder beschämend wirken –, oder in abgewehrter Form vorwiegend ein Körpererlebnis bleiben.2 Im Folgenden wird – unter Bezugnahme auf sozialpsychologische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Konzepte – der Zusammenhang zwischen Geschlechternormen und Depressionskonzepten als eine Politik 1 | In dem Artikel werden die Begriffe Gefühl und Emotion weitgehend synonym verwendet. Auch wenn in der Literatur Gefühl traditionell als die subjektive Interpretation, das subjektive Erleben eines komplexen psychischen Emotionsprozesses verstanden wird. Ähnlich wie bei der im angelsächsischen Raum gebräuchlichen Unterscheidung Sex/Gender, die im Text durch den Begriff Geschlecht aufgehoben ist, erscheint eine Trennung des physiologisch und kognitiven Emotionserlebens von seiner subjektiven Erfassung als erlebtes Gefühl problematisch. Daher wird in diesem Text auf eine Ausdifferenzierung von Stimmung, Affekt, Emotion oder Körpererlebnis verzichtet, obwohl sich argumentieren lässt, dass depressive Verstimmungen überdauernde Stimmungszustände sind, die eben nicht mit kurzweiligen Emotionen gleichzusetzen sind. Ebenso ist das diagnostische Gefühl der Leere in der Depression von dem Gefühl vorherrschender Traurigkeit klinisch zu unterscheiden. Für eine Übersicht psychoanalytischer Affekttheorie siehe z.B. die Arbeit von Döll-Hentschker 2008. 2 | Vgl. hierzu z.B. die Annahme einer höheren Alexithymierate bei Männern (Levant/ Pollack 1995) oder die von Horst Eberhardt Richter (1993) postulierte »höhere Fähigkeit zum Leiden« von Frauen.
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des Verlustes betrachtet. Dabei wird, vermittelt über die geschlechtsspezifische Normierung von Emotionen, ein Zusammenhang zwischen Depression, Weiblichkeit und Männlichkeit postuliert. Sozialpsychologische und medizinische Studien konstatieren in Übereinstimmung mit epidemiologischen Untersuchungen zur Häufigkeit der Depression unterschiedliche Risikofaktoren für Frauen, die einen engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsverhältnissen nahelegen. Frauen sind noch immer weitgehend für die Emotionsarbeit in Familie und Gesellschaft zuständig, d.h. sie sind stärker als Männer einem, von der Forschung als »Stress of Caring« (Belle 1982) bezeichneten Zustand ausgesetzt, der wiederum mit einem höheren Depressionsrisiko in Verbindung steht. Diese gesellschaftlichen Prozesse bilden sich in kulturellen Emotions- und Geschlechternormen ab, die ihrerseits die Depressionsdiagnosen beeinflussen. Darüber hinaus verweisen psychoanalytische Depressionskonzepte auf einen individuellen innerpsychischen Zusammenhang zwischen Verlust, Depression und familiären Identifizierungsprozessen mit Vater und Mutter, der in der Entstehung der Geschlechtlichkeit selbst eine bedeutsame Rolle spielt. Schließlich führt eine kulturhistorische Kontextualisierung von Geschlecht und Depression, ausgehend von der Melancholie in der Antike bis zur heutigen Werbung für Antidepressiva, auf die Spuren einer gesellschaftlichen Verlustpolitik, die bestimmt, wessen Gefühle symbolisierbar und in kulturelle Zeichen übersetzbar sind und welches Erleben keinen Zugang zur Sprache und zur Darstellbarkeit finden kann, also welche Verluste bzw. Affekte unsichtbar im Körper eingeschrieben bleiben.
1. G eschlecht als sozialpsychologischer R isikofaktor Die in der empirisch-quantitativen psychologischen Forschung diskutierten Risikofaktoren für ein erhöhtes Depressionsrisiko bei Frauen beziehen sich vor allem auf ein niedrigeres Einkommen von Frauen, ein vermehrtes familiäres Sorgen für Andere (etwa in der Pflege von Kleinkindern und alten Familienangehörigen), bis zum Erleben traumatischer Erfahrung von sexuellen Übergriffen und körperlicher Gewalt (McGrath et al. 1990). Dabei fällt auf, dass es neben den Faktoren, die das Risiko für Depression generell erhöhen (wie Trauma, Armut, geringer Bildungsstatus) – und von denen Frauen überproportional häufiger betroffen sind –, Bereiche gibt, die vor allem für Frauen, nicht aber für Männer, Depressionserkrankungen mit bedingen. Diese sind insbesondere Faktoren, die traditionell als »biologisches Schicksal« von Frauen definiert werden wie Schwangerschaft, hormonelles Ungleichgewicht, Prämenstruelles
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Syndrom (PMS)3, bis zum neuronal begründeten höheren »Empathiequotienten« von Frauen (Fine 2010). Der soziale Kontext, in dem eine Frau schwanger ist, ein Kind zur Welt bringt oder eine als behauptetes Ergebnis evolutionärer Entwicklung »naturalisierte« Empathiefähigkeit entwickelt, spielt jedoch eine bedeutende Rolle. Risikofaktoren für Frauen sind vor allem im Bereich der Fürsorge für Andere bzw. im Bereich der Emotionsarbeit angesiedelt. Hier erscheint der Gender Gap der Depression vor allem als ein Care Gap: Der Hauptrisikofaktor einer weiblichen Depression ist die Anwesenheit kleiner Kinder im Haushalt, je mehr Kinder, desto stärker steigt das Risiko an (McGrath et al. 1990). Es sinkt jedoch in Partnerschaften, in denen sich beide Partner um die Versorgung der Kinder kümmern; dies gilt auch für die Wahrscheinlichkeit postpartaler Depression (McMullen/Stoppard 2006). Auch wird in Studien immer wieder berichtet, dass es einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen dem Ehestatus und Depressionen bei Frauen, nicht aber bei Männern, gibt (Brown/Harris 1978; Gutierrez-Lobos 2000). Wie schon Emile Durkheim (1897) in seinen Studien über den Selbstmord bemerkt, hat »die Ehefrau ganz allgemein weniger Vorteile vom Familienleben als der Mann. […] Dies liege darin, »daß die eheliche Gemeinschaft der Frau schadet und die Anfälligkeit für den Selbstmord stärkt«. Neben der Bedeutung von sozialer Rollenteilung identifizieren psychologische Studien einen Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen und Depression. So entstehen über eine weibliche Rollenidentifikation, in der Frauen niedrigeren Selbstwert angeben, geringere Selbstwirksamkeitsüberzeugungen aufweisen und stärker zu so genanntem ruminativen, grüblerischen Denken neigen, weitere Risikofaktoren für die Depressionsgenese (u.a. Nolan-Hoeksema 1990; McGrath et al. 1990). Dass ruminatives Denken – immer wieder zurückkehrende, grüblerische Gedanken über ein Problem, für das sich keine Entscheidung treffen und keine Lösung finden lässt – und niedriger Selbstwert auch Folgen einer gesellschaftlichen Rollenaufteilung sind, in der Frauen ökonomisch abhängiger sind und tatsächlich weniger Kontrolle über die Problemlösemöglichkeiten haben, wird hingegen selten adressiert (Sieverding 1999). Eine interdisziplinäre Risikobetrachtung zeigt jedoch eine zentrale Verflechtung von kulturellen, binären Geschlechternormen und gesellschaftlichen Geschlechterpraxen mit einer klinischen Diagnose- und Behandlungspraxis. Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder sind in einer heteronormativen, zweigeschlechtlichen Matrix eng mit binär 3 | PMS wird in ausgeprägter Symptomatik klinisch als Prämenstruelles Dysphorisches Syndrom definiert. Diese Krankheitsdiagnose wurde aktuell erstmals als eigenständige Kategorie in den Hauptteil des diagnostischen Manuals DSM-5 der American Psychiatric Association inkludiert.
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strukturierten Emotionsnormen verbundenen und gehen einher mit entweder als weiblich oder männlich codierten Gefühlen. So schreiben sich vergeschlechtlichte Gefühle in die Psyche von Männer und Frauen ein, sie beeinflussen eine gesellschaftliche Rollenteilung, durch die Frauen einem größeren Risiko für depressive Erkrankungen ausgesetzt sind, und sind von dieser Rollenteilung ihrerseits beeinflusst. Die Risikofaktoren verweisen auf gesellschaftliche Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen, die unterschiedliche Emotions- bzw. Gefühlsnormen produzieren, sie werden aber in der empirisch-psychologischen Literatur oftmals als individualisierte geschlechtsrollenspezifische Risikofaktoren vor allem beschreibend und ohne den sozio-kulturellen Kontext dargestellt. So werden diese Einschreibungsprozesse durch sozialpsychologische quantitative Studien nicht nur nicht hinterfragt, sondern mit hergestellt (Teuber 2011). Dies ist insbesondere problematisch weil, wie Cordelia Fine in ihrer Analyse von Geschlechterbildern in neurowissenschaftlicher Forschung beschreibt, bereits die Vorannahmen über Geschlechterstereotype weitreichende Auswirkungen auf die Ergebnisse psychologischer Forschung haben: »The activation of gender stereotypes, even by means as subtle as our suspicion that they have found a home in the minds of others, can have measurable effects on our attitudes, identity and performance.« (Fine 2010: 235)
2. G eschlecht, D epression und V erlust »You are what you have loved.« (Darian Leader 2008)
Dass Frauen eher an internalisierenden Störungen leiden und Männer eher zu externalisierenden Störungen – wie Risikoverhalten, Substanzmissbrauch oder Aggression – neigen, wird in der psychoanalytischen Literatur viel diskutiert (Deserno 1999). Erklärungsansätze für eine geschlechtsdifferente Emotionsregulierung und geschlechtlich unterschiedliche Symptom-Entstehungen oder -Abwehrprozesse verlaufen jedoch kontrovers. Wie vollziehen sich individuellen Einschreibungen gesellschaftlicher Vorstellungen von symbolischer Männlichkeit und Weiblichkeit im Kind und innerhalb der Familie? Woher stammen Identifizierungen mit dieser oder jener Gefühlsnorm? Emotionsnormen werden nicht nur von außen mit einem blauen oder rosa Body in die Wiege gelegt, sie werden nur zum Teil bewusst tradiert und lassen sich daher auch nur begrenzt durch das bewusste Vermeiden von stereotyper Kindererziehung, wie sie in feministischen Interventionen seit den 1970er Jahren versucht wurde, verhindern (Fine 2010). Sie sind ebenso Ausdruck unbewusster Identifikationsprozesse, die an der Schnittstelle von kulturellen Einflüssen, ge-
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lebten Familienrollen und vor allem dem elterlichen Unbewussten selbst als rätselhafte Botschaften im Kind zusammentreffen (Laplanche 2004). Wie aber vollziehen sich diese Prozesse, und wie werden Mädchen verstärkt zu Carework und Erschöpfung sozialisiert? Mehrere psychoanalytische Theorien gehen von der Erfahrung eines Verlustes oder Mangels aus, der nicht nur in Konzeptualisierungen der Depression, sondern auch in Geschlechtertheorien zentral ist. Eine Verlusterfahrung steht sowohl in der Entstehung der Depression als auch in der Aneignung der Geschlechtlichkeit im Zentrum. Dabei sind zwei Aspekte des Verlusterlebens interessant: Erstens können – ausgehend von Freuds klassischer Theorie der melancholischen Identifizierung (Freud 1917 GWX), die den Prozess der Verinnerlichung eines verlorenen (Liebes-)Objektes beschreibt, der in die Depression führen kann – für Männer und Frauen unterschiedlich bedeutsame Verlusterfahrungen konstatiert und mit einer geschlechtsspezifischen Entwicklung depressiver Störungen in Verbindung gebracht werden (Blatt 2004). Zudem wird zweitens die Geschlechtsentwicklung selbst als ein Verlustprozess beschrieben, in dem das Kind erkennt, nicht Mutter und Vater sein zu können (Fast 1996) oder aber nicht Mutter und Vater begehren zu können (Butler 1991). Der erste Aspekt der geschlechtsspezifischen Verlusterfahrungen geht zurück auf Thesen zur Depressionsentstehung nach Sidney Blatt (2004): Er geht in seiner Konzeptualisierung von zwei unterschiedlichen Depressionstypen aus, deren Genese und Entstehungsbedingungen aus unterschiedlichen frühen Phasen der kindlichen Entwicklung herrühren. So beschreibt Blatt die anaklitische Depression als eine Depression, die durch frühe Beziehungsverluste (etwa eine depressive unerreichbare Mutter) ausgelöst wird und vor allem Frauen betrifft. Später im Leben kann ein Objektverlust, wie z.B. das Verlassen-werden durch den Liebespartner, diese Form der depressiven Entwicklung aktualisieren und eine anaklitische Depression auslösen. Der frühe Objektverlust funktioniert dabei als Hintergrund vor dem, der spätere wirksam wird. Mit dieser Depression gehen Gefühle einher von Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Bedürftigkeit dem wichtigen Anderen gegenüber, der die betroffene Person verlassen hat. Diese Form der »Beziehungsdepression« tritt nach Blatts Forschung kongruent mit den Geschlechternormen häufiger bei Frauen auf: »Females are usually more vulnerable to dysphoria in response to disruptions of interpersonal relations, such as withdrawal of affection and the unavailability of others.« (Blatt 2004: 92). Das Gegenstück, die introjektive Depression, rührt nach Blatt hingegen eher aus späteren Konflikten in der Zeit der Über-Ich-Bildung und bezieht sich thematisch auf Identitätsfragen und eine übersteuerte, zu strenge Selbstwahrnehmung. Introjektive Depressive scheitern an zu hoch gesetzten Zielen und geraten z.B. über Identitätskonflikte im beruflichen Leben in die Depression. Thematisch findet sich hier eine Nähe zur gesellschaft-
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lichen Vorstellung über den Zusammenhang von beruflicher Anstrengung, Scheitern, Erschöpfung und Burnout. Aber anders als von Blatt erwartet, ist diese zweite Form einer späteren Depression nicht – wie man geschlechtsrollenkonform erwarten könnte – häufiger bei Männern, sondern ebenso häufig bei Frauen. Frauen scheinen somit einem doppelten Depressionsrisiko ausgesetzt, welches sie sowohl für anaklitische Beziehungsverluste (reproduktive Emotionsarbeit) als auch für Identitäts- und Rollenkonflikte (Produktionssphäre) verletzlich macht. Dieser Befund entspricht der soziologischen Theorie der doppelten Vergesellschaftung von Regina Becker-Schmidt (1987), in der sich Frauen heute sowohl für Reproduktion als auch für Produktion verantwortlich sehen, während Männer sich von dem Bereich der expressiven Beziehungspflege weiterhin weniger tangiert erleben. Blatts Ergebnisse spiegeln sich auch in den bereits diskutierten internationalen Depressionszahlen sowie in den aktuellen Angaben zur allgemeinen Gesundheit Erwachsener wider. In der repräsentativen DEGS Studie des RKI beschreiben sich fast doppelt so viele Frauen als chronisch gestresst als Männer, nämlich 13,9 Prozent der Frauen im Vergleich zu 8,2 Prozent der Männer. Frauen geben zudem an, unter mehr gleichzeitigen Folgestörungen wie Burnout, Depression und Schlafstörungen zu leiden als Männer (Hapke et al. 2013). Blatts Depressionstheorie ist ebenso bedeutsam für den oben genannten zweiten Aspekt zum Zusammenhang zwischen Geschlecht, Depression und Verlust. Denn seine Annahmen zur unterschiedlichen Depressionsgenese bilden implizit auch eine Geschlechtertheorie der Depression ab, indem die anaklitische Depression der Frauen in Verbindung gebracht wird mit frühen unsymbolisierbaren, körpernahen Verlusten auf Ebene früher Beziehungserfahrungen mit dem ersten Liebesobjekt – der Mutter. In psychoanalytischen Geschlechtertheorien wird ein solcher Zusammenhang zwischen frühen weiblichen Verlusten und späteren männlichen explizit mitverhandelt. Um den Zusammenhang mit Depressionstheorien aufzuzeigen, soll hier zunächst nochmals kurz auf Sigmund Freuds Melancholietheorie verwiesen werden. Freuds Theorie der melancholischen Identifizierung verweist auf einen unbetrauerbaren Verlust, der nicht der Realität zugeführt werden kann, nicht bewusst werden darf, sodass der »Schatten des Anderen« auf das Ich fällt (Freud 1917 GWX: 435). Später hat Freud diesen Prozess auch als die Art und Weise bezeichnet, wie sich Identität notwendig über Identifikations- und Verlustprozesse herausbildet (Freud 1923 GW XIII). Judith Butler ist es nun wiederum zu verdanken, dass sie die Theorie der melancholischen Identifizierung zu einer Theorie der Geschlechtlichkeit an sich gemacht hat (Butler 1991). Das Mädchen wird zum Mädchen, in dem es aufgrund des Homosexualitätstabus das Begehren nach der Mutter aufgibt; im Lacan’schen Sinne verwirft. Das Mädchen wird so die Frau, die es in einer doppelten Verneinung, nie geliebt und daher nie verloren hat. Für den Jungen gilt ein ähnlicher Prozess, der sich jedoch auf
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den Vater und somit zumeist eben nicht auf das erste früheste Liebesobjekt bezieht. Ein Unterschied, der in vielen psychoanalytischen Geschlechtertheorien verhandelt wird. So finden sich frühe »konstitutive Mangelerfahrungen von Mädchen« in klassischen psychoanalytischen Geschlechtertheorien seit Freud wie auch in deren kritischen feministischen Revisionen wieder (zur Kritik psychoanalytischer Geschlechtertheorien z.B. Rohde-Dachser 1989/1996). Gemeinsam ist den Theorien die Abwendung des Mädchens von der Mutter und ihre Aufgabe als begehrtes Liebesobjekt – unabhängig, ob sie vom Penisneid (Freud 1904/1905 GWV), vom Homosexualitätstabu (Butler 1991), von der bedrohlichen frühen Symbiose (Irigaray 1979; Chasseguet-Smirgel 1976) oder von der Hinwendung zur symbolischen Welt des Vaters (Kristeva 2007) ausgehen. Und diese Abwendung des Mädchens von der Mutter und ihre Aufgabe als begehrtes Liebesobjekt bedeuten für das Mädchen, nicht aber den Jungen, einen primären Liebesverlust (Quindeau 2005). Dieser ermöglicht die Subjektkonstitution des Mädchens in Abgrenzung zur Mutter, macht sie aber verletzlich für eine spätere depressive Entwicklung. Das Mädchen verliert die Mutter als erstes Liebesobjekt anders und zu einem früheren Zeitpunkt als der Junge. Dem Jungen wird die heterosexuelle Bindung an sein erstes Liebesobjekt später – mit dem Eintritt in das Inzesttabu des Ödipus – versagt. Aufgrund dessen, dass er von der Mutter schon immer als der Andere gedacht wird, besteht zudem weniger Gefahr, dass er Selbstobjekt der Mutter wird, und es ist ihm leichter, sich selbst als von ihr getrennt, als autonom, agentisch und selbstwirksam zu erfahren (Mertens 1994). Mit Laplanche (1988) lässt sich dies nicht so sehr als ein Sich-Identifizieren des Kindes mit den Eltern, sondern zuerst als ein Identifiziert-Werden durch den Anderen verstehen: Es ist die Anrufung des Kindes, das über die Eltern angesteckt wird von den unbewussten Vorstellungen über Sexualität und Geschlecht. Geschlechtlichkeit ist eine rätselhafte, enigmatische und überwältigende Botschaft des elterlichen Unbewussten, die es fortan für das Kind zu entschlüsseln gilt (Laplanche 2004). Die Botschaft ist immer eine überwältigende, rätselhafte, weil das Kind nicht weiß, was die erwachsene Sexualität von ihm will. Laplanche zeichnet hier eine allgemeine Verführungstheorie nach, die er als anthropologische Grundbedingung des Menschen annimmt. D.h. auch in Situationen, in denen keine konkrete Verführung, kein traumatischer Missbrauch erfolgt, weiß das Kind nicht, wie das Rätsel, das die Geschlechtlichkeit und Sexualität aufgibt, zu lösen ist – und noch zentraler weiß auch der Erwachsene das Rätsel nicht zu lösen. Auch im Unbewussten des Erwachsenen handelt es sich um die Spuren der eigenen, polymorph perversen, verdrängten und unverstandene Sexualität der eigenen Kindheit (Laplanche 1988). Zusammenfassend sind die Verluste und Aufgaben, die mit der Aneignung der Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung einhergehen, für Mädchen jedoch frühere und daher – unbetrauerbare –, sie führen in eine
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melancholische Konstitution, die eine spätere depressive Entwicklung möglicherweise fördert bzw. dafür empfänglicher macht. Sie sind früher und daher körpernäher, sie schreiben sich in das Erleben des eigenen weiblichen Körpers ein und sind zunächst nicht symbolisier- und darstellbar. Mit diesen Verlusten gehen möglicherweise besonders frühe ambivalente Beziehungsverarbeitungen einher, in denen der (die) Andere als besonders zentral und zugleich besonders bedrohlich erlebt wird. Wie es Chodorow (1985) und Gilligan (1996) in ihrer differenzfeministischen Aufarbeitung der Weiblichkeitstheorie betonen: Das kleine Mädchen identifiziert sich anders als der Junge mit weiblichen Emotionsnormen (wie Anlehnung, Ähnlichkeit, Bezogenheit und Empathie), gleichzeitig markiert diese Identifizierung auch den frühen Verlust des weiblichen, begehrten Objektes. Der Junge hingegen, schon immer als anders, different und abgegrenzt vom frühen Liebesobjekt konzipiert, identifiziert sich mit dem Vater und der symbolischen Welt des Vaters bzw. mit dem verlorenen homosexuellen Begehren nach dem Vater. In Bezug auf die Entwicklung einer Depression, ist die Frage, wie sich der Umgang mit diesen frühen Erfahrungen von Gleichheit und Ungleichheit bzw. mit unterschiedlich symbolisierbaren Verlusten in der Familie, in der traditionell die Mutter das erste Liebesobjekt darstellt, verändert, wenn sich Familienstrukturen historisch verändern. Denkbar ist jedoch, dass Codierungen binärer Zweigeschlechtlichkeit und mit ihnen einhergehende Triangulierungsprozesse von Ich, Nicht-Ich und Vorstellungen über das Paar, auch dann wirksam bleiben, wenn sie nicht auf die Norm einer heterosexuellen Kleinfamilie treffen, die vielen der hier besprochenen Geschlechtertheorien implizit zugrunde gelegt wird. Die Frage ist weiter, wie frühere nicht symbolisierbare Verluste gesellschaftlich oder kulturell dargestellt und einer Bearbeitung zugänglich gemacht werden können. Möglicherweise setzen psychoanalytische Therapien depressiver Frauen an diesem Punkt an, indem die Bedeutung der von Marianne Leuzinger-Bohleber (2001) hervorgehobenen unbewussten frühen »archaischen weiblichen Destruktivität« anerkannt wird und frühe körpernahe Phantasien und Prozesse über Weiblichkeit symbolisierbar gemacht werden. Und das unabhängig davon, ob die destruktiven Phantasien mit frühen Verlusten, mit der übermächtigen Mutter oder mit dem anatomischen weiblichen Körpererleben als solches in Verbindung gebracht werden. Leuzinger-Bohlebers Arbeiten zur Medea-Fantasie bei ungewollt kinderlosen Frauen zeigen etwa, wie archaische Phantasien über den weiblichen Körper von depressiven Müttern an ihre Töchter weitergegeben und in der klinischen Behandlung erfahrbar werden.
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3. Z ur K ulturgeschichte der M el ancholie . E ine P olitik des V erlustes Die Frage nach Codierungen von Geschlechtlichkeit sowie der Symbolisierbarkeit und kulturellen Darstellbarkeit von männlichen und weiblichen Verlusten ist Teil einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung der Depression (Schiesari 1992; Radden 2000). Wessen Verlust findet Eingang in kulturelle Repräsentation, etwa in die Kunst, in die Sprache, in Rituale. Auch hier werden vergeschlechtlichte Linien bzw. Diskursstränge identifiziert, die mit einer weiblichen und einer männlichen Depression einhergehen. Diese verweisen sowohl auf eine geschlechtlich unterschiedliche Repräsentierbarkeit bzw. NichtRepräsentierbarkeit von Verlusten als auch auf einen sich verändernden Blick auf die Krankheit Depression. So stehen milde depressive Störungen von Frauen zwar in Einklang mit traditionellen Weiblichkeitsnormen – durch eine Überbetonung extremer Weiblichkeit, ausgedrückt in Passivität, Rückzug, Hilflosigkeit etc., stellen sie aber auch eine Verweigerung gegenüber den weiblichen Generativitätsanforderungen dar. Klinische Depression überschreitet die Toleranzgrenzen dessen, was noch als normales/normiertes weibliches Verhalten anerkannt wird. Die Depressive verweigert weibliche Emotionsnormen, indem sie sie überschreitet. Der narzisstische Rückzug aus der Objektbeziehung führt zu einer Verweigerung der Depressiven, in ihrem sozialen Kontext zu funktionieren, die zugedachte Emotionsarbeit zu leisten. So entsteht eine widersprüchliche Situation – zum einen liegt in der Psychodynamik der Depression ein Schutz von Beziehungen bzw. ein Schutz vor Objektverlust durch melancholische Identifizierung. Zum Anderen stellt die Depression auch eine Verweigerung von Beziehung dar. Diese Widersprüchlichkeit entspricht wiederum der Betonung der Ambivalenz in der frühen Objektbeziehung, die nach Freud die Bedingung der Entstehung einer klinisch relevanten melancholischen Identifizierung ist (Freud 1917 GW X). Dass die Depression Weiblichkeitsvorstellungen überschreitet, zeigt sich auch in Bildern der Werbung für Antidepressiva seit den 1950er Jahren bis heute, die Jonathan Metzl (2003) auf die zugrundeliegenden unbewussten Geschlechterbilder untersucht. Dabei adressieren einschlägige Werbekampagnen von heute oftmals die Doppelrolle der Frau als Verantwortliche für Haushalt und Kinder sowie als erfolgreich Berufstätige. Ambivalent bleibt jedoch die Verknüpfung: Wird die Frau müde, weil sie ihrer Frauenrolle und Doppelbelastung überdrüssig wird oder ist es die Depression, die sie daran hindert, ihren Rollenverpflichtungen nachzukommen (vgl. Abb. 1 und Abb. 2).
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Abbildungen 1 und 2: Werbung für Antidepressiva aus den 1950er Jahren und von 2006
Passend zur ansteigenden Rate verschriebener Antidepressiva äußert Francis Fukayama die Sorge über eine Androgynisierung der Gesellschaft durch Psychopharmaka. Indem Antidepressiva die Frauen zu vermännlichen drohten, verweibliche Ritalin die Jungen. So entstehe gefährliches Mittelmaß, das die Chance des historisch bekannten männlichen Genies verhindere (Fukuyama 2002; Schaper-Rinkel 2007). Francis Fukuyamas Vorstellung, dass es die Extreme sind, die (vor allem männliche) Größe hervorbringen, ist dabei eine sehr alte: Sie findet sich historisch im Diskurs der (männlichen) Melancholie. Bis in die Antike zurück macht die Depression den Träger der Melancholie nicht allein zum Objekt von Verlusten sondern auch zum Subjekt einer Ermächtigung. So findet sich bereits in Aristoteles Problemata das folgende Problem: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker« (Aristoteles Problemata Physica XXX1). Auf diesen Zusammenhang zwischen männlicher Melancholie und besonderer Gabe und Größe greift der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs in den folgenden Jahrhunderten über die Renaissance und Romantik bis in Freuds Trauer und Melancholie unter unterschiedlichen Vorzeichen immer wieder zurück (Radden 2000; Schiesari 1992). Heute scheint dieser Zusammenhang jedoch – sieht man ab von Elementen der Modediagnose Burnout (siehe dazu den Beitrag von Heinemann/Heinemann in diesem Band) und individuellen Künstler- und Geniebiografien – weitgehend verschwunden. Die Melancholie adelt den Melancholiker, der zwar unbenommen leidet, sich jedoch gleichzeitig durch besondere Größe auszeichnet. Gerade sein »als weiblich konnotiertes« Leiden führt ihn ein in den Status des Besonderen. Diese Linie von Genie und Wahnsinn verfolgt Edgar Forster
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(1998) bis in die heutige Diskussion von melancholischer (Un-)Männlichkeit.4 Einen modernen Anschluss an das Besondere der männlichen Depression stellt die US-amerikanische Gesundheitskampagne des National Health Service (NHS) »Real Men Real Depression« auf. Hier werden vor allem starke, beruflich erfolgreiche, maskuline Männer porträtiert, deren Krise und ihre Bewältigung unter dem Slogan »It takes courage to ask for help«, sie zu dezidiert mutigen Depressiven macht. So befreit die Kampagne männliche Depressive vom Makel der Effeminisierung, in dem Hilfesuchverhalten von Männern von (weiblicher) Schwäche zu (männlicher) Stärke umcodiert wird (NHS 2006). Abbildung 3: Real Men. Real Depression
4 | Auf eine berühmte Ausnahme eines ›Mehr‹ an Bedeutung gegenüber dem Melancholie-Kanon verweist Juliana Schiesari (1992): Hildegard von Bingen geht als (einzige) prominente weibliche Stimme des Mittelalters nicht von einer besonderen Gabe durch die Melancholie aus und entwirft als erste eine spezifische Therapie der Melancholie der Frau.
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A usblick : V erlustpolitik und G eschlechter der D epression Verluste bzw. die auf sie zurückgehenden Identifizierungen und die damit einhergehenden Gefühlsnormen von Frauen und von Männern erhalten gesellschaftlich und psychodynamisch unterschiedliche Bedeutung, in dem männliche Verluste symbolisierbar und ermächtigend sein können – inklusive der Aneignung weiblicher Eigenschaften durch die Melancholie, während frühe weibliche Verluste sprachlos und passiv im Körper verleiblicht bleiben und weniger gesellschaftliche Wahrnehmung oder Anerkennung erhalten. Mit André Green (1993) könnte man sagen, dass sie in der »weißen Trauer« kannibalisch konserviert bleiben. Judith Butler (1991) spricht, mit Maria Torok und Nicolas Abraham (1987), von Krypten in der Psyche, die im Sinne eines vergeschlechtlichten embodiement, Geschlechtlichkeit überhaupt erst hervorbringen, Christoph Dejour (2012) in einer Weiterentwicklung von Laplanches Verführungstheorie vom amentalen Unbewussten. Die gewählten Metaphern der Verkörperlichung und Verdinglichung früher, weiblich konnotierter Emotionsregulierung entsprechen dabei den Metaphern der Verdinglichung der heutigen Depression. Parallel zur Entzauberung der Melancholie verliert die Diagnose der Depression mit zunehmender Medikalisierung ihren symbolischen Mehrwert. Der männliche Melancholiker wird ikonografisch zur weiblichen Depressiven. Der Soziologe Allan V. Horowitz (2010) beobachtet eine Medikalisierung der Traurigkeit und bringt diese in Verbindung mit rein deskriptiven symptomatischen, psychiatrischen Kategorien, die verstehende psychoanalytische Krankheitskonzepte weitgehend abgelöst haben. Hier verlieren die Depression und die Depressive an Bedeutung: Das Symptom spricht keine Sprache. In dem Sinne, wie männliche und weibliche Berufe einhergehend mit Statusunterschieden ihr Geschlecht wechseln (von der Informatikerin zum Informatiker, vom Sekretär zur Sekretärin) oder wie die geschlechtliche Bedeutung von Farben historisch veränderbar ist, wechseln offenbar auch Krankheiten ihr Geschlecht, wenn gesellschaftliche Codes, Prestige und Wahrnehmung sich verändern. Es ist hier abschließend zu fragen, was es bedeutet, wenn die Depression zusammen mit der Wiederentdeckung des Melancholie-Diskurs in der Kunst, der medialen Präsenz von an Depression erkrankten Popstars, Fußballgrößen und anderen (männlichen) Spitzensportlern und der ModeDiagnose Burnout, bis hin zur Diskussion um die Einführung einer neuen Kategorie der »männlichen Depression«, erneut umcodiert wird. Möglicherweise ist bereits ein erneuter Prozess der geschlechtlichen Umcodierung von Depressionen im Gange.
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A bbildungen Abbildung 1: www.bonkersinstitute.org/showpics/femtired.gif (abgerufen am 05.08.2015) Abbildung 2: https://ukiahcommunityblog.files.wordpress.com/2009/09/zo loft_ad.jpg (abgerufen am 05.08.2015) Abbildung 3: https://masculinityanddepression.files.wordpress.com/2014/03/ screen-shot-2014-03-13-at-3-48-12-pm.png (abgerufen am 05.08.2015)
Selbstmanagement und Burnout
Zum Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur August Ruhs
Anlässlich eines Vortrags an der Universität Mailand, 1972, nahm Jacques Lacan auch die in seinem Seminar L’envers de la psychanalyse (1969/70) an vielen Stellen berührte Frage nach der Möglichkeit eines spezifischen kapitalistischen Diskurses im Kontext seiner Theorie der »vier Diskurse« wieder auf: »Der kapitalistische Diskurs«, so heißt es dort, »ist etwas ganz Tückisches. Alles läuft wie am Schnürchen, besser könnte es nicht laufen. Aber es läuft einfach zu schnell, es verschleißt sich, und verschleißt sich so sehr, dass es sich verzehrt.« (Lacan 1972, zit. lt. Dufour 2005) Diesen Diskurs, der die Grundlage der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse unter dem Diktat des Kapitalismus bildet, betrachtet Lacan als eine Pervertierung des Herrndiskurses, der in dieser Entstellung die Triebmaschine nicht mehr durch das einschränkende und untersagende Gesetz bremst und hemmt, sondern das Subjekt unaufhörlich dazu drängt, immer wieder und immer schneller neue Objekte an jene Stelle zu setzen, die, strukturell gesehen, im unaufhebbaren Mangel der menschlichen Existenz und im unauffüllbaren Loch des Realen begründet liegt. Der imaginäre Mangel, der sich aus den letztlich unbefriedigenden Ersatzobjekten ergibt, führt dazu, dass der kapitalistische Diskurs in einen Zustand der allgemeinen Frustration mündet. Wo der Herrndiskurs die Kastration einsetzt und unter dem Gewicht der symbolischen Schuld den existenziellen Mangel in einen imaginären Mangel, in die Unvorstellbarkeit des Phallus als Objekt überführt, überdreht der Diskurs des Kapitalisten das Räderwerk des Bedürfnisses und befiehlt dort ein Genießen, wo das Gesetz des symbolischen Vaters im Herrndiskurs gerade das Zurückweichen vor dem Genießen zum Ziel hat. In einem gewissen Gegensatz zu dieser Mentalität, in der ein anderer Bedeutungsaspekt des ›Speed-kills‹-Slogans zu Tage tritt, steht eine Geschichte, die mir öfters in den Sinn kommt und die sich vor längerer Zeit in meiner analytischen Praxis ereignete. Eine meiner Patientinnen verabschiedete sich am Ende ihrer sie zufriedenstellenden Analyse und am Ende der letzten Sitzung mit folgender Bemerkung: »Ob es nun unüblich ist oder nicht, ich möchte mich bei Ihnen für Ihre Arbeit mit einem kleinen Geschenk bedanken«, wobei
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sie mir ein kleines Paket übergab, welches offensichtlich ein Buch enthielt. Tatsächlich war es das, genauer gesagt der Roman Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny (1983). Damit könnte meine Analysantin mit geliehenen Worten zum Ausdruck gebracht haben, dass sie in ihrer Analyse mit der Entdeckung oder Wiederentdeckung der Langsamkeit auch ein Kernstück der freudschen Praxis erfasst hatte (Ruhs 2012: 72). Diese besondere Praxis hatte nicht zuletzt durch die Intervention einer Hysterica ihren Anfang genommen. Als Emmi von N. Freuds hypnotisierendem Drängen mit der Aufforderung: »Seien Sie still – reden Sie nichts – rühren Sie mich nicht an!«, Einhalt gebot (Freud 1893: 100). Dem Appell folgend gelang es Freud, den Platz des Meisters zu verlassen und, die Position eines Objekts einnehmend, dem/der anderen, dem/der Patienten/ -in, einen Subjektstatus einzuräumen. Dies ging mit einem geduldigen Zuhören gegenüber allem, was Patienten/-innen sagten, einher, ein langsames und behutsames Prozedere, welches immer länger dauerte, je mehr sich das Wissen des Analytikers nur als eine von den Analysanten/-innen ausgehende Unterstellung und Hoffnung erwies und je mehr tiefere Regressionszustände und sorgfältiges Durcharbeiten als unabdingbar betrachtet wurden, um befriedigende Resultate bezüglich des Verständnisses und der Heilung von seelischem Schmerz und psychischem Leiden zu erreichen, insbesondere für die Behandlung schwerer gestörter Patienten/-innen jenseits des Neurosenbereichs. In Korrelation zur leisen Stimme des Intellekts, welche, so Freud in der Charakterisierung der sublimen Agentur seiner enthüllenden Arbeit, nicht ruhe, bevor sie sich Gehör verschafft habe (Freud 1927: 377), sind Langsamkeit und Geduld notwendige Bedingungen für alle Versuche und Diskurse, welche nach Wahrheit und Aufklärung trachten. Und da die Psychoanalyse in ihren verschiedenen Formen der Anwendung eines der wichtigsten Projekte für diese Bemühungen darstellt, sind Langsamkeit und Geduld, Wahrheitsliebe und Entschiedenheit wesentliche Merkmale ihrer Züge und Werte. Aber genauso wie alle anderen Diskurse von Wahrheit und Aufklärung hat auch die Psychoanalyse ihre sozio-politische Bedeutung während der letzten Jahrzehnte verloren, wobei sie Schritt für Schritt durch andere allgemeine Mentalitäten ersetzt wurde, welche sich für das Enthüllen verborgener Beweggründe, latenter Bedeutungen und unbewusster Motive in mikro- und makropolitischen Sphären nur wenig interessiert zeigen. Im Zuge einer demonstrativen Obszönität von Macht und Gewalt hat sich dem gegenüber eine andere Aufklärung entfaltet, die weniger im Sinn hat, dem Menschen Mündigkeit zu verleihen, als vielmehr an seiner absoluten Beherrschung zu arbeiten. Eine Aufklärung, wie sie der militärischen Strategie und dem Luftkrieg eigentümlich ist: Aufklärung als Omnipräsenz des Blicks, als sich der Totalität annähernde Ausleuchtung der Welt, als Bewegung auf Bahnen, welche sich an der Lichtgeschwindigkeit orientieren.
Zum Unbehagen in der gegenwär tigen Kultur
In den aktuellen Entwertungsversuchen der Psychoanalyse und in der immer wieder vorgebrachten Kennzeichnung als Auslaufmodell müssen wir in unserer gegenwärtigen ökonomistisch geprägten »Erlebnisgesellschaft« Angriffe auf den obsolet gewordenen Auftrag der Psychoanalyse sehen, welcher darin besteht, den Menschen nicht unbedingt materiellen Wohlstand und konsumorientiertes Glück zu verheißen, ihnen dafür aber Autonomieerweiterung, Emanzipation und Geschichtsbewusstsein in Aussicht zu stellen. Was die Analyse versprechen kann und was immer auch mit einer Art Trauerarbeit einhergehen muss, gehört daher eher zu den Kategorien von Verlust, Desillusion, Akzeptierung von Mängeln und Unvollständigkeit, fragwürdig gewordene Werte, welche zu den aktuellen gesellschaftlichen Zielen des Gewinns von Fähigkeiten und Kompetenzen, von Spiritualität und Emotionalität in einem gewissen Widerspruch stehen, zu Verheißungen also, wie wir sie in den Katalogen fast aller anderen zeitgenössischen Psychotherapien und in den Institutionen von well-being und fitness, kurzgeschlossen unter dem unenglischen Begriff Wellness laufend, vorfinden (Haubl 1997). Hier zeigt sich ohne Zweifel eine der Auswirkungen einer gesellschaftlichen Haltung, die im Diskurs des Kapitalismus und in seinen unzähligen Dispositiven nach der Überwindung eines letztlich strukturellen menschlichen Unbehagens trachtet, welches, wie Freud anmerkte, darin begründet ist, dass in der Natur des Sexualtriebes selbst etwas liege, was der vollen Befriedigung entgegenstehe (Freud 1910: 89). Damit wird auf einen außerhalb der gesellschaftlichen Repression und auch außerhalb eines grenzenlosen Genießens herrschenden fundamentalen Mangel hingewiesen, der sich nicht aufheben lässt und der sich auf das Reale im Sinne Lacans bezieht. Dieses unfassbare und unerfassbare Reale, diesen in der Symbolisierung nicht aufgegangenen Rest, der auf Grund seiner Unerreichbarkeit als Ursprung des Begehrens, aber auch des neurotischen Symptoms wirkt, verspricht das kapitalistische Dispositiv zu stopfen – mit seinem Arsenal von Objekten des Genießens, welche unter der Ägide von Wissenschaft und Kunst bereitgestellt werden. Damit bietet sich das konsumierbare Objekt als Heilmittel gegen eine lästige Unbefriedigung an, wodurch das Subjekt in einen Teufelskreis von Ersatzgenüssen hineingezogen wird. Mit anderen Worten heißt dies, dass der Diskurs des Kapitalisten das Problem des Begehrens (als zum Teil unbefriedigte Sehnsucht, als Wunsch, dem kein Objekt wirklich entspricht) über den Gewinn von Genießen lösen möchte. Soziokulturelle Hintergründe und Konsequenzen einer solchen Orientierung für die gesellschaftlichen Verhältnisse und insbesondere für die Subjektivitäten ihrer Mitglieder in normalen und pathologischen Dimensionen beschreibt der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe (2013) eindrücklich unter dem Blickwinkel der Dualität von Patriarchat und Neurose und deren Niedergang im Laufe des vergangenen Jahrhunderts. Darauf bezogen hatte
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Herbert Marcuse schon 1963 von einem »Veralten« der Psychoanalyse gesprochen und damit die Unangemessenheit ihrer an bürgerlich-patriarchalischen Strukturen orientierten Theorien angesichts einer »vaterlosen Gesellschaft« gekennzeichnet (Marcuse 1965: 85ff.). Nach Verhaeghe ist eine patriarchalische Gesellschaft eine typisch neurotische Gesellschaft und umgekehrt erscheint die Neurose immer auch als Ausdruck einer patriarchalischen Sozietät. Der Urvater positioniert sich auf der Basis von Repression und der Setzung des Gesetzes im Namen des Vaters. Das Gesetz setzt also das phallische Prinzip als Basis für die symbolische Ordnung. Jeder Mangel, so Verhaeghe, wird mit der Tatsache der Kastration erklärt: »Damit wird suggeriert, dass alles voll und ganz erklärbar ist. Das wahre Objekt der Repression ist jenes, welches dieser phallischen Ordnung entgeht, etwas, mit dem wir uns nur ungern beschäftigen, weil es Angst hervorruft. Die Reduktion der Frauen auf eine Kategorie kastrierter und damit minderwertiger Wesen stellt eine beruhigende Strategie dar. Dies erklärt die beiden Formen der Neurose in der patriarchalischen Gesellschaft mit der für sie typischen Geschlechterverteilung: die Zwangsneurose für die Männer und die Hysterie für die Frauen. Die Zwangsneurose versucht, sich an das ödipale Gesetz und die Regeln zu halten, während die Hysterie das Subjekt dazu bringt, sich jenseits dieser Sicherheit zu begeben. Beide Arten der Neurose bilden Symptome, um sich selbst zu erhalten.« (Verhaeghe 2013: 84) Heutzutage haben wir uns offensichtlich der Patriarchen der Vergangenheit und der Urväter entledigt, welche die Dinge sozusagen am Laufen hielten. Dies ist, so Verhaeghe weiter, zweifellos ein kultureller Fortschritt und die Probleme, mit denen wir es in unserer heutigen Gesellschaft zu tun haben, sollten nicht als Vorwand für eine Rückkehr zu den vermeintlich guten alten Zeiten benutzt werden (ebd.: 84f.). Dies würde dann der sogenannten brechtschen Maxime von Walter Benjamin entsprechen, wonach man nicht am guten Alten, sondern am schlechten Neuen anknüpfen soll (Benjamin 1938: 537). Bei der Frage nach dem Selbstverständnis der gegenwärtigen Gesellschaft und ihren Kennzeichnungen fällt der Begriff einer »perversen Gesellschaft« häufig auf – so etwa permanent bei Elisabeth Roudinesco in ihrem Buch La part obscure de nous-mêmes (Roudinesco 2007), wobei Verhaeghe (2013) dieser Qualifikation noch den Begriff der »Big-Brother-Gesellschaft« hinzufügt. In dieser Hinsicht ist davon auszugehen, dass sich die traditionelle Gesellschaft auf Repression und die damit verbundene Wiederkehr des Verdrängten gründete. Grundsätzlich verdrängt wird dabei der Mangel an sich, das heißt die Tatsache, dass die symbolische Ordnung nicht in der Lage ist, das Reale des Triebs vollständig zu erfassen. Über die ödipale Struktur soll das Subjekt diesem Mangel auf der Grundlage des väterlichen Gesetzes und des Verbots des Genießens als jouissance mit phallischen Begriffen begegnen. Für das Weibliche jenseits des phallischen Genießens gibt es keinen Platz.
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Die moderne perverse Gesellschaft beruht anstelle einer Verdrängung auf einer Verleugnung und zwar nicht nur der Kastration, sondern darüber hinausgehend des Mangels an sich. Der verbietende Vater und dessen Gesetze werden verlacht und verworfen. Stattdessen treffen wir auf einen Big Brother, der das konträre Gesetz vorgibt, nämlich: Genieße! Genieße so viel und so lang du kannst, denn du lebst nur einmal. Auf die Sexualität angewandt bedeutet dies, dass das einstige Verbot durch ein Gebot ersetzt wurde. Anstelle des ödipalen Gesetzes haben wir es nun mit dem informierten Einverständnis zwischen den Partnern/-innen oder sogar einem Vertrag zu tun: Alles ist erlaubt, solange die Teilnehmer/-innen damit einverstanden sind. Die zugrunde liegende Botschaft lautet: Es gibt keinen strukturellen Mangel, vielmehr ist ein perfektes und restloses Genießen möglich. Dies ist die Botschaft, welche die neue Bibel der Werbewirtschaft andauernd wiederholt, indem sie uns permanent mit ihren Geboten bombardiert. Verhaeghe (2013: 85f.) nennt dies pervers, weil sich diese Strategie derselben Manipulation wie der Perverse bedient: Das Opfer wird mit dem Versprechen des ultimativen Genießens verführt, doch wird dieses Versprechen nie eingehalten, ganz im Gegenteil. Die einzige Sache, an welcher der Perverse interessiert ist, ist sein eigenes Genießen. Die moderne Werbung suggeriert, dass sie sich wirklich um uns kümmert, dass sie uns mit den perfekten Produkten versorgt, die zu vollem Genießen führen. Doch natürlich ist ihr einziges Interesse ihr eigener finanzieller Profit. Sowohl die neurotische als auch die perverse Gesellschaft erschaffen sich ihren eigenen Mythos, um die zugrundeliegende Wahrheit über diesen Mangel zu überdecken. Die neurotische Gesellschaft versorgte uns mit dem Mythos des perfekten Paars und ewiger Liebe: Finde den perfekten Partner/die perfekte Partnerin – und du wirst für immer glücklich sein. Die zugrundeliegende Wahrheit ist jedoch, dass sich der perfekte Partner/die perfekte Partnerin als kastriert erweist. Unter dem Strich bleiben Schuldgefühle. Der moderne Mythos sagt uns: Wir brauchen nur die richtigen Produkte zu erwerben, um Zugang zum unmittelbaren Genießen zu erhalten. Die zugrundeliegende Wahrheit ist, dass wir uns vor der totalen jouissance fürchten. Dieser Mythos hat einen sehr wichtigen Nebeneffekt, zumal er die Illusion der Freiwilligkeit erweckt: Alles ist nur eine Frage der Entscheidung und der persönlichen Anstrengung. »Wenn Sie sich nicht entscheiden und nicht hart genug arbeiten, ist es allein Ihr Fehler und Ihre Schuld.« Damit haben wir es zusätzlich mit einer neuen Art von Schuldgefühlen zu tun: Wenn wir nicht genießen, bedeutet dies, dass wir als Verlierer/-innen dastehen, die an ihren Aufgaben gescheitert sind. »Das ist subtiler als die Lösungen durch den Herrndiskurs, welche die Unterwerfung mit der Aussicht auf ein Genießen in einer zukünftigen Welt fordern«, sagt diesbezüglich Christian Demoulin und fügt hinzu, dass sich
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allerdings das Begehren als unreduzierbar erweise (zit. lt. Devaux 2005: 5; Übers. A.R.). Mit diesem zunächst grob erhobenen Befund einer aktuellen allgemeinen Subjektverfassung korreliert in meiner Praxis mit ihren verschiedenen Settings von Einzel- und Gruppenpsychoanalysen eine Gruppe von Patienten/ -innen, die sich, typologisch betrachtet, von der ganz am Anfang erwähnten Patientin recht deutlich unterscheiden, jener Patientin also, die dem Träumen und damit auch der romantischen Liebe noch verhaftet war und die mir unter Hinweis auf ihre Fähigkeit zur Entwicklung einer ordentlichen Eifersucht beigebracht hatte, dass der Traum von der Zündung einer Wasserstoff bombe selbst in Zeiten des kalten Krieges nicht nur auf die Angstlust eines ungerichteten Zerstörungsgedankens verweisen muss, sondern auch die Erinnerung an jene wasserstoff blonde Sexbombe zu wecken imstande ist, mit welcher der Vater heimlich und längere Zeit hindurch sowohl die Mutter als auch die Tochter hintergangen habe. Auf der anderen Seite situieren sich jene Leute, die zumeist zwischen 20 und 30 Jahre alt und vorwiegend männlichen Geschlechts sind und die einen Großteil meiner aktuellen Klientel ausmachen. Ihre Charakteristik entspricht weitgehend einem Patiententyp, den Devaux 2005 in einem Vortrag treffend definiert hat: »Man findet bei diesen jungen Menschen etwas Invariantes im Sinne eines chaotischen Lebenslaufes, irgendwie verfahren, ohne stabile Markierungen – vor allem in Bezug auf das Schulische: Zumeist haben sie einen Mittelschulabschluss, diesen oft mit extremen Schwierigkeiten erworben, aber nicht wirklich mit einem Mangel an intellektuellen Fähigkeiten verbunden. Danach und oft nach ein bis zwei ›sabbatical years‹ beginnen sie ein Studium, das sie verschleppen, das sie schlecht und recht immer wieder aufnehmen, bis sie es schließlich ganz aufgeben. Die Gründe, die dafür angegeben werden, sind vielfach und variantenreich. Danach beginnt ein bildungsbezogenes Herumirren: Sie wandern von Schule zu Schule, von der einen Fakultät zur anderen, von Privatschulen zu diversen Fort- und Ausbildungen ohne wirklich ihre Lauf bahn zu beenden. Manche können sich ein Diplom in einem Gegenstandsbereich erwerben, der sie nicht wirklich interessiert und mit dem sie sich nicht in eine Berufslaufbahn einschleusen. Das Weitere gehorcht derselben Logik. In einer prekären Situation wechseln diese jungen Leute zwischen Arbeitslosigkeit und kleinen Jobs im Hotel- und Gastronomie- oder im Sozialbereich. Das sind dann wenigstens Arbeiten, die sie zwar nicht interessieren, durch die sie aber auch nicht ins Randgruppenmilieu fallen. Manche sagen, dass sie einen sozialen Erfolg und einen materiellen Wohlstand anstreben, ›ein prima Leben‹, wie sie sich ausdrücken. Aber diese Aspiration ist von den Mitteln abgekoppelt, durch die man sie erreichen könnte.
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Eine solche Abwesenheit eines Schwerpunkts findet sich auch in den Beziehungen dieser jungen Menschen wieder. Die Zahl der Beziehungen, in denen sie gewissermaßen ›umrühren‹, überrascht durch ihre Größe, aber sie scheinen auswechselbar zu sein. Ein Kamerad ersetzt leicht einen anderen und eine emotionale Trennung berührt sie kaum. Es gibt wenig Platz für eine Wahl in ihren Beziehungspositionen. Vor allem die Angst vor der Einsamkeit leitet ihr Handeln. In der Gruppe hingegen haben sie das Gefühl zu leben, zu existieren, der Leere zu entkommen. Alkohol und Drogen dienen auch dem Ausgleich dieses Leereerlebnisses und werden unter diesem Titel unmäßig genossen. Was das Liebesleben betrifft, werden die Beziehungsabbrüche und Partnerwechsel wie ein unfreiwilliger Umweg auf der Suche nach einem Partner/ einer Partnerin erlebt, der als Stützpunkt dienen und dem Leben Sinn verleihen soll. Wenn sich eine Begegnung herstellt, scheint der Partner/die Partnerin das eher chaotische Leben dieser jungen Leute zu beruhigen und es ihnen zu ermöglichen, sich an ihnen festzuhalten und ein Zukunftsprojekt zu entwickeln. Nicht ohne Not natürlich, denn diese Verankerung im Sinne einer Fusion mit einem idealisierten Mitmenschen lässt dem Mangel kaum einen Platz und ist aus diesem Grund auch sehr fragil. Dieser Typ von Liebesbindung erstarrt in der imaginären Dimension der Komplementarität, des Geheges zu zweit, und er fixiert das Subjekt in einer Pseudokonsistenz. Diese löst sich aber auf, sobald eine Schwierigkeit in der gemeinsamen Existenz auftaucht. Diesseits ihrer realistischen und ›objektiven‹ Dimension verweist diese Bewährungsprobe tatsächlich auf eine grundsätzliche und wegen der strukturellen Verfassung unvermeidliche Begegnung mit dem Realen des sexuellen Nicht-Verhältnisses [im Sinne eines nicht harmonischen, nicht proportionalen Verhältnisses zwischen Mann und Frau, wie es sich im Geschlechterkampf zeigt, Anm. A.R.], was sie aber zu vermeiden versuchen und dem sie ausweichen. Wie soll man sich diesem Realen stellen, wenn man bislang alle möglichen Vermeidungsstrategien eingesetzt hat, um sich in einen Schutzraum zu flüchten? Gerade unter einem solchen Zustand des Schwankens stehend, konsultieren diese Leute oft Psychiater/-innen, Psychotherapeuten/-innen oder Psychoanalytiker/-innen. Diesen gleichen Eindruck einer Fahrt ohne Kompass erhält man, wenn sie versuchen, die Koordinaten ihrer Lebensgeschichte zu entfalten: Ihre Erzählweise zeugt von einer außerordentlichen Schwierigkeit, ihre Geschichte zu subjektivieren und Verbindungen herzustellen zwischen Ereignissen und einer gewissen Neigung in ihrer Lebensbahn. Man könnte noch, bunt zusammengewürfelt, einiges an Merkmalen hinzufügen: die Langeweile, ein rein verbales Engagement für die großen humanitären Angelegenheiten, ihr tiefes Desinteresse für die diversen Angelegenheiten in ihrer Umgebung, bei manchen von ihnen aber auch Geschmack an
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Veranstaltungen, bei welchen ein Genießen des Körpers ins Spiel gebracht wird und bei welchen die Grenzen permanent hinausgeschoben werden.« (Devaux 2005: 1ff.; Übers. A.R.) Dieser phänomenologische Ansatz, der quasi faktorenanalytisch ein fiktives Subjekt auf einer in der Praxis durchaus beobachtbaren und konkreten Grundlage beschreibt, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er Symptome auf die Ebene von Merkmalen des Lebensstils hebt. Damit schiebt sich die Frage nach den kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich derartige und für Vertreter/-innen einer anderen Generation zumindest befremdliche Erfahrungs- und Erlebnisweisen herstellen können, in den Vordergrund. Zur Erklärung bieten sich zunächst jene soziologischen Ansätze an, die sich unter Hinweis auf einen allgemeinen Mentalitätswandel bzw. auf gegenwärtige Veränderungen von Subjektivität von einem Verfall sozialer und politischer Kategorien zugunsten eines radikalen ökonomistischen Denkens sprechen und die auf den Verlust der Erkenntnis hinweisen, dass das Soziale das Individuum hervorbringt, dass es durch einen logischen Zwang entsprechend seiner inhärenten Institutionen funktioniert, welcher der Kommunikation durch die menschliche Sprache geschuldet ist, und dass es daher nicht auf eine Instanz zu reduzieren ist, welche dem Individuum entgegensetzt ist und dessen Handlungen durch äußere Grenzen, Versagungszwänge, Verbote und Einschränkungen nachteilig beeinflusst. Auch Sozialpsychologie und die Entwicklungslehren des Psychischen sind der Auffassung, dass Phantasien und psychische Strukturen transindividuell und historisch determiniert sind. In dieser Perspektive korrespondieren Veränderungen der sozialen Bedingungen mit veränderten Sozialisationstypen, welche durch vorherrschende Charaktermerkmale definiert werden können. In dieser Hinsicht sind seit den 1970er Jahren zwei Paradigmenwechsel zu erkennen, welche zumeist unter dem Begriff des »narzisstischen Sozialisationstyps« einerseits und des »postmodernen Sozialisationstyps« andererseits abgehandelt werden. Wir erinnern uns, dass die 1960er Jahre von Kämpfen gegen Elterngenerationen charakterisiert waren, welche nicht nur in die Grausamkeiten des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges verwickelt waren, sondern die auch für spätere Kriege und Katastrophen wie vor allem in Vietnam verantwortlich zeichneten. Bisweilen radikalste Auseinandersetzungen also, welche mit einer hohen Besetzung von sozialen und politischen Kategorien als tragende Werte und Tugenden und diesbezüglich mit einem nicht unpathetisch vorgetragenen Verantwortungsbewusstsein nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft geführt wurden. Weitgestreute Gruppenexperimente mit einer Vielzahl von Selbsterfahrungsgruppen und vielen Methoden der Gruppenpsychotherapie waren Kon-
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sequenzen dieser neuen Orientierung. Auf dem Gipfel des Psychobooms dieser Zeit konnte Irvin Yalom (1970) mehr als 200 verschiedene Formen von Gruppenpsychotherapien in der kalifornischen Region feststellen. Darüber hinaus waren Äußerungen von deutschen psychoanalytischen Institutionen nicht selten, wonach empfohlen wurde, die individuelle Psychoanalyse nur zu didaktischen Zwecken bzw. zu Lehranalysen heranzuziehen, während therapeutische Ziele durch psychoanalytische Gruppenpsychotherapien verfolgt werden sollten, um die heilbringenden Wirkungen der Psychoanalyse auf faire und demokratische Art und Weise zu verteilen. In den 1970er Jahren jedoch drängte sich die Ideal- und Führerfigur des »Narziss« in den Vordergrund und schob immer mehr und mehr die vorherigen Erziehungsideale von Emanzipation, Selbstbestimmung, politischen Bewusstsein und Solidarität beiseite. Einige Soziologen wie Thomas Ziehe in Deutschland (1975) oder Christopher Lasch in den USA (1979) veröffentlichen Bücher über Pubertät und Narzissmus und riefen überhaupt die Epoche des Narzissmus aus, bevor Häsing, Stubenrauch und Ziehe (1979) die Frage stellten: »Narziss – Ein neuer Sozialisationstyp?«Damit definierten sie den neuen Charakter der jungen Generation mit folgenden Persönlichkeitszügen (nach Pfeiffer/Pietzker 2001: 11f.): • • • • •
eine schwache Identifizierung mit den Elternrepräsentanten ein ins Kosmische erweitertes und auf Omnipotenz abzielendes Ich-Ideal die Verdrängung von Schuldgefühlen das Streben nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und die Vermeidung von Kränkungen durch einen Rückzug in die Innerlichkeit mit dem Ziel, das äußerst verletzliche Selbstwertgefühl abzustützen.
Diese vorherrschenden Merkmale Jugendlicher, welchen die Abwendung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Weigerung, sich an ihr abzuarbeiten, und ein verstärkter Zwang zur Anpassung entsprachen, womit eine Antwort auf einen drohenden Selbstwertverlust durch die gesellschaftlichen Strukturen gesucht wurde, wurden allerdings nach und nach von neuen Tendenzen abgelöst. Schließlich konnten rezentere psychosoziologische und kulturelle Untersuchungen einen neuen Sozialisationscharakter ausmachen, welchen man nunmehr als »telematischen« oder »postmodernen« Typ bezeichnete, angelehnt an die »telematische Weltrevolution«, wie sie der Philosoph Vilém Flusser mehr als zwei Jahrzehnte zuvor immer wieder ausgerufen hatte (Flusser 2007). Unter »telematischer Gesellschaft« wollte man das positive utopische Projekt einer möglichen Gesellschaft und das Gegenkonzept zu eher pessimistischen zeitgenössischen Theorien und Medienkritiken, wie sie von Jean
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Baudrillard, Paul Virilio und anderen repräsentiert wurden, verstanden wissen (vgl. Wikipedia 2010). Flusser behauptete, dass jede Gesellschaft auf einer KoAktivität von Dialogen und Diskursen beruht. Durch die Mittel einer »dialogischen Kommunikationsform« würden Informationen produziert, während durch »diskursive Formen der Kommunikation« die Informationen verbreitet würden. Gemäß dieser Annahme ließen sich drei verschiedenen Gesellschaften unterscheiden: 1. Die herkömmliche und traditionelle Idealgesellschaft mit einem Gleichgewicht von Dialogen und Diskursen. 2. Die autoritäre Gesellschaft mit einer Dominanz der Diskurse. Der Mangel an Dialogen ruft eine Armut an Informationen hervor. Diskurse werden nur durch Dialoge aufgefüllt. 3. Die revolutionäre Gesellschaft der Zukunft mit einer Dominanz von Dialogen, welche permanent Informationen erzeugen. Durch diese Informationsflut werden alte Diskurse zerstört. Als Konsequenz gibt es in der telematischen Gesellschaft keine Autoritäten. Entsprechend der Netzwerkstruktur ist die Gesellschaft vollkommen intransparent und steuert sich kybernetisch selbst. In diesem Sinn bezeichnet Flusser das Telematische als »kosmisches Gehirn« (ebd.: 3). Somit ist die »telematische Weltrevolution« mit einem Paradigmenwechsel verbunden, der durch die Subversion der Kultur der Logik durch einen Iconic-Turn gekennzeichnet ist. Während der Prozess der Zivilisation durch den Übergang von der Magie der Bilder zur linearen Schrift mit der Entwicklung alphanumerischer Codes charakterisiert war, konnte man nun den gegensätzlichen Prozess beobachten. Jedoch führte der Wechsel vom Konzeptuellen zum Imaginären eher zu neuen Formen der Schrift und der textuellen Kommunikation als zum Ende von Dialog und Diskurs, wie man an den signifikanten Veränderungen in der Literatur sowie an der Explosion von neuen Texten in Chatrooms, Multi User Dungeons1, Newsgroups und EMails erkennen kann. In diesem Sinn verändern die digitale Metamorphose der Medien und die Integration von Text, Grafik, Bild, Film und Sound in den Hypermedia die menschlichen Arten der Wahrnehmung und des Denkens. Die Möglichkeit von computerbasierten Präsentationen textuellen Materials im Internet und in anderen Multimediaproduktionen erzeugen mannigfaltige neue literarische Formen wie Hyperfiktion, Hypertextpoesie oder Hyperdrama, womit das Konzept der individuellen Autorschaft zugunsten niemals endender Narrative
1 | Auf einem zentralen Server laufendes Rollenspiel für mehrere gleichzeitig sich einloggende Spieler (Mudders, Chatters oder MudHeads).
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durch eine Vielzahl von anonymen Produzenten, die durch die Schreibfabrik des World Wide Web verbunden sind, aufgegeben worden ist. Unter dem Einfluss der telematischen Mentalität führten der erstaunliche Fortschritt der Kommunikationstechnologie und der Auf bau des weltweiten Netzwerks einerseits zu einer verschwimmenden Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit mit dem »eindrucksvollen Niedergang des Intimlebens«, wie Julia Kristeva in ihrem Buch Die neuen Leiden der Seele (1995) behauptete, und andererseits zur Auflösung etablierter Identitäten, schmerzvoll und verstörend zwar für viele, aber auch jenen das befreiende Gefühl vermittelnd, gleichzeitig in verschiedenen Welten leben zu können, welche als Cyborgs, Chatters und Mudders den Gebrauch des Internet beherrschen, dabei allerdings oftmals in dessen unendlich erscheinender Welt versinken. Im Gegensatz zum narzisstischen Typ, der sich in die Intimität zurückzog, um den schwachen Kern seines Ich vor dem bedrohlichen Einfluss der Realität zu schützen, scheint das telematische Subjekt weniger an den Schwierigkeiten der Grenzen zu leiden, da ihm die Kategorien von Innen und Außen immer obsoleter geworden sind. Um in Relation zum narzisstischen Sozialisationstyp Kategorienhomogenität herzustellen, schlage ich »dissoziatives Subjekt« anstelle des telematischen Subjekts vor. Unter diesem Blickwinkel spricht Slavoj Zizek häufig von einer »Externalisierung des harten Kerns der Subjektivität«, womit er in die gleiche Richtung weist wie Kristevas Behauptung von der »Aufhebung des psychischen Raums« (vgl. Pfeiffer/Pietzker 2001: 15). Es ist ganz offensichtlich, dass solche Befunde gemeinsam mit den bereits erwähnten Umbrüchen in den Bereichen von allgemeiner Mentalität, Subjektivität, sozialen Identitäten, Bewusstseinsphilosophie und Kommunikationsformen nicht ohne erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit und auf das Selbstverständnis der Psychoanalyse in allen ihren Varianten und Anwendungen sowohl im praktischen als auch theoretischen Bereich vor sich gehen. So lässt sich beim dissoziativen Subjekt als eine der Folgen der »telematischen« und »postmodernen Mentalität« ein spezifischer Angriff auf unsere psychoanalytischen Behandlungsdispositive nachweisen. Während die dem narzisstischen Sozialisationstypus entsprechenden Subjekte mit einem Verlangen nach psychoanalytischer Behandlung es auf jeden Fall vorzogen, sich unter das intime und schützende Dach der Einzelanalyse zu begeben, anstatt sich möglicherweise schmerzhaften und frustrierenden Gruppentherapieerfahrungen zu unterziehen, versuchen dissoziative Subjekte, beide Settings in ihren gewohnten und dem Mainstream entsprechenden Formen zu vermeiden bzw. trachten sie danach, die analytischen Beziehungskonstellationen und ihre genuinen Kommunikationsweisen innerhalb des klassischen Rahmens zu modifizieren. Bis vor kurzem sah sich beispielsweise die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPA) veranlasst, die Regeln der Lehranalysen für jene
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Länder und Regionen zu verändern, in denen es für die Kandidaten/-innen nicht möglich war, eine psychoanalytische Ausbildung unter den üblichen Bedingungen zu absolvieren. In der Zwischenzeit können wir einen wachsenden Anspruch auf derartige irreguläre Analyseformen wie etwa »remote analysis«, »phone analysis« oder »skype analysis« auch bei therapiebedürftigen Patienten/-innen und in Gebieten feststellen, wo es keinen Mangel an den üblichen psychoanalytischen Möglichkeiten gibt. Und andererseits können wir zahlreiche Chatrooms ausmachen, wo eine Art von Selbsterfahrung als Substitut für gruppenpsychoanalytische Erlebnisweisen gepflegt wird. In beiden Fällen werden übliche therapeutische Settings oft als altmodisch und den aktuellen Standards von Wellness und psychischer Gesundheit gegenüber als unangemessen betrachtet, auch nicht zu einem Alltagsleben mit seinen Kämpfen mit Zeit, Stress und Geschwindigkeit passend, worunter sich letztlich die angstvolle Vermeidung von wirklichen intersubjektiven Beziehungen außerhalb partieller Kontakte verbirgt. In den neuen Räumen wird die offensichtlich notwendige Anonymität (bzw. »Pluri-Nonymität«) durch den teilweisen Einsatz eines auf eine Stimme oder auf einen geschriebenen Text reduziertes Subjekt gewahrt. Was nun analytische Theorie und klinisches Verständnis betrifft, muss die erwähnte Auflösung des psychischen Raumes durch das dissoziative Subjekt als Herausforderung für das Herzstück der psychoanalytischen Subjektivitätsund Persönlichkeitstheorien betrachtet werden, deren Bemühungen immer darauf gerichtet waren, die Differenz zwischen dem Innen und dem Außen im Hinblick auf die Funktion des Ich als Vermittler zwischen den beiden Sphären aufrecht zu erhalten. Unter diesem Blickwinkel hat es die Psychoanalyse in ihrem Bestreben, neurotische Störungen im Rahmen ihres herkömmlichen therapeutischen Feldes zu behandeln, immer schon mit dialektischen Subjekten zu tun gehabt, welche in der Lage waren, die gegensätzlichen Räume und Tendenzen der Psyche in einer dritten beobachtenden, erlebenden und beurteilenden Instanz mit einer begrenzten Freiheit des Handelns und des Verhaltens bei einer mehr oder weniger großen Vorhersagbarkeit aufzuheben. Im Gegensatz dazu scheint das dissoziative Subjekt dazu gezwungen – oder sollen wir sagen: dazu fähig zu sein? –, verschiedene synchronische Identitäten zu leben und auf einem digitalen Niveau und auf einer Null-Eins-Basis zu funktionieren. Im Hinblick auf klinische Beschreibungen ist das auffällig zunehmend – wie etwa bei Identitätsdiffusion und Spaltung von Repräsentanzen bezüglich guter und böser Objekte und bezüglich guter oder böser Selbstanteile bei verschiedenen psychischen Störungen, namentlich bei den sogenannten Borderline-Störungen, deren Status als autonome klinische Struktur oder als eine Übergangsform zwischen neurotischer, perverser und psychotischer Struktur oder aber als verfehlte Diagnose einer hysterischen Störung hier nicht diskutiert werden kann.
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Auf jeden Fall gibt es Versuche, den Innen-Außen-Dualismus der Psychoanalyse durch einen konstruktivistischen Relativismus zu ersetzen und in der gegenwärtigen Bewusstseinsphilosophie vom Antagonismus von Subjekt und Objekt abzurücken, was schließlich in eine so genannte »Ding-Psychologie« münden würde, wie sie schon von Günter Anders in Die Antiquiertheit des Menschen beschrieben wurde (vgl. Lütkehaus 1995). In die gleiche Richtung können wir auch die gegenwärtigen Fragen und Probleme von Sex und Gender mit ihren Beiträgen zur Identität der Subjekte laufen sehen, woraus die große Variabilität sexueller Identitäten resultiert, wie sie sich durch alle möglichen Kombinationen der letztlich irreduziblen Kategorien von Weiblichkeit und Männlichkeit als feminin-maskuline, hetero-homosexuelle, transvestitische und transsexuelle Einordnungen ergeben. Unter diesen Bedingungen scheint eine der wichtigsten Bemühungen und Herausforderungen in der analytischen Arbeit darin zu bestehen, dass sich auf der einen Seite die Analytiker/-innen der Grenzen zwischen dem sogenannten Normalen und dem sogenannten Psychopathologischen in ihrer Beziehung zu neuen Formen der Subjektivität und zu den »neuen Leiden der Seele« im Sinne Kristevas bewusst sind, und dass sie auf der anderen Seite eine neutrale Position einnehmen zwischen einer enthusiastischen Affirmation hinsichtlich der Veränderungen individueller und kollektiver Mentalitäten bzw. hinsichtlich unüblicher Organisationen sozialer Beziehungen und – gegensätzlich dazu – apokalyptischen Phantasien und Gefühlen angesichts eines Verfalls traditioneller Werte und eines Verlustes gewohnter psychosozialer Strukturen in den Problembereichen der Identität und speziell der geschlechtlichen Identität, angesichts der Schaffung neuer Partnerschaften und familialer Kollektive, welche durch veränderte Ideologien und Lebensphilosophien gefördert werden. Daher müssen wir neue »Normalvorbilder« von psychischen Störungen in Erwägung ziehen, so wie auch Freud immer wieder die Trauer der Melancholie, das Träumen der psychotischen Halluzination, die Fehlleistungen den neurotischen Symptomen usw. gegenübergestellt hat. Wenn die Psychoanalyse in ihren verschiedenen therapeutischen Anwendungen, Techniken und Settings darin besteht, die unbewussten Motive menschlichen Handelns zu erforschen und dabei jene besonders zu beachten, welche den Wert von Symptomen beanspruchen oder Leidens- bzw. Schmerzzustände verursachen, und wenn die entsprechenden Forschungsergebnisse dem Vorhaben dienen, diese entsprechend Freuds »Junktim von Heilen und Forschen« (Freud 1926: 293) zu beseitigen oder herab zu mildern durch ein sorgfältiges und möglichst vollständiges Durchqueren ihrer unbewussten phantasmatischen Fundamente, stehen wir oft der Tatsache gegenüber, dass dieses Modell bei vielen unserer Patienten/-innen nicht funktioniert, vor allem nicht bei jenen jüngeren Patienten/-innen, welche nach Paul Verhaeghe (2007: 1ff.) eher an »Alexithymie« als an »romantischer Liebe« leiden.
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Es bleibt noch zu überlegen, inwiefern Bestimmungen und Hinweis auf Sozialisationstypen mit normalen und pathologischen Dimensionen, auf allgemeine Subjektivitäten und Mentalitäten und ein kumulativ orientiertes Streben nach psychoanalytischen Erkenntnissen Gefahr laufen, an Objektivierungsversuchen von Symptomen irrezugehen, sodass wir alle ähnlichen Menschen auch auf eine ähnliche Weise behandeln wollen. Dies wird uns durch andere Therapien aus den Bereichen der Psychiatrie und der Psychotherapie auch häufig vorgelebt. Dass wir vor solchen Entwicklungen auch in den eigenen Reihen nicht gefeit sind, zeigt sich etwa an der von Otto F. Kernberg entwickelten und gegenwärtig relativ populären »transference focussed psychotherapy« (TFP) mit ihrem normierten Interventionssystem und ihren laufenden empirischen Überprüfungen und Objektivierungsversuchen des therapeutischen Prozesses (Clarkin/Yeomans/Kernberg 2008). Die Tatsache, dass die psychischen Defizite, die wir anstelle von neurotischen Symptombildungen bei vielen unserer aktuellen Patienten/-innen vorfinden, in der Dysfunktionalität unserer Gesellschaft und in den perversen Auswirkungen des kapitalistischen Diskurses begründet liegen, sollte uns nicht daran hindern, die Singularität und den konkreten Inhalt allgemeinerer Strukturen in der Behandlung in den Vordergrund zu stellen und uns auf das je Private und Persönlichste zu konzentrieren, was in den hier zu betrachtenden Fällen allerdings nicht ohne die Überwindung größerer Schwierigkeiten gelingt. Der Mangel an symbolischer Ausstattung, um dem beschriebenen gegenwärtigen Unbehagen in der Kultur wirksamer zu begegnen, das Fehlen von Fundamenten der Identität, das Vorherrschen des imaginären Ich gegenüber dem symbolischen Subjekt, wodurch eine Pathologie der Leere vorgetäuscht wird, welche sich in Wirklichkeit durch eine Pathologie der Überfülle auf Grund eines Mangels des Mangels auszeichnet, macht es dem Analytiker/ der Analytikerin schwer, an ein Symptom interpretierend herangehen zu wollen, welches sich massiv in seinem Gesicht eines geschlossenen Genießens präsentiert und von daher jeder Deutung einen Riegel vorschiebt. Darüber hinaus stellt man immer wieder fest, wie sehr verschlossen das Subjekt sein Unbewusstes hält, was den Eintritt in das psychoanalytische Dispositiv durchaus nicht erleichtert. Sofern man in Anbetracht dieser Hindernisse aber nicht kleinmütig werden möchte oder in andere Vorgehensweisen flüchten will, die dem Analytischen nicht angemessen sind, stellt sich der Kur eine Schwierigkeit in den Weg, welche auf die von Anne-Marie Devaux formulierte Frage hinausläuft, wie man es dem Patienten/der Patientin gestatten kann, ein Analysant/eine Analysantin zu werden (Devaux 2005: 5). Die darauf zu gebende Antwort läuft zwangsläufig und erfahrungsgemäß auf eine von Beginn an anzustrebende und von dem Patienten/der Patientin auch schon zu Beginn erwartete Intervention hinaus, welche zur Kategorie
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des Aktes gehört und ein Sprechen ins Spiel bringt, welches folgenreich ist und eine Diskontinuität in einem festgefahrenen Diskurs erzeugt. Dies müsste einer Subversion des Symptoms zu seinem Aspekt eines Zeichens, zu einem Index eines Leidens oder zu einer Identifikation entsprechen. Man darf sich hier von nichts beirren lassen, darf sich auch wohl nicht auf ein ruhiges Quartier wohlwollenden psychoanalytischen Schweigens zurückziehen, was letztlich in den hier zur Debatte stehenden Fällen zu nichts führt. Das permanente und hartnäckige Insistieren auf den Signifikanten, die sich im Diskurs des Analysanten stets äußern und wiederholen, führen mit Beharrlichkeit und einigem Glück zu jener segensreichen Spaltung des Subjekts, welche von einer gewohnten Signifikantenkette zu einer anderen führen könnte, sodass sich auch das im Symptom geronnene Reale des Genießens umreißen und einkreisen lässt.
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Von der Kompetenz zum Self tracking Markus Tumeltshammer »Am einfachsten scheint es, einen Seelenprozeß nach dem anderen zu betrachten und jedesmal zu prüfen welche wertvollen Aufgaben des praktischen Lebens durch die Berücksichtigung des bestimmten seelischen Vorgangs gefördert werden können. Wir würden dann etwa mit dem Wahrnehmungsvorgang beginnen, würden darauf zum Gedächtnis übergehen, zur Aufmerksamkeit, zum Gefühl, zur Suggestion, zum Willen und so weiter.« (Münsterberg 1914: 189) »Ubiquitous self-tracking is a dream of engineers.« (Wolf 2010a)
E inleitung Mit Kompetenzen, so scheint es, lassen sich gegenwärtig mehr oder weniger alle menschlichen Handlungspotenziale erschöpfend durch einen Begriff adressieren. Das Resultat ist eine de facto unüberschaubare Menge von Kompetenzkomposita und Ausdifferenzierungen von Teilkompetenzen, die im Diskurs um den Begriff der Kompetenzen zirkulieren (vgl. Haeske 2008; Knoblauch 2010). Ob es nun darum geht, ein bestimmtes Level der Beherrschung einer Fremdsprache zu beschreiben (Sprachkompetenz), die Fähigkeit, Brüche zu zerlegen (mathematische Kompetenz) oder eine Aufgabe gemeinsam mit anderen zu lösen und dabei Konflikte auszuhalten (soziale Kompetenz): Es sollen Kompetenzen sein, die gelernt, geprüft und zertifiziert werden. Aber auch wenn es darum geht, Konflikte in der Familie oder in der Arbeit ›fähig‹ auszutragen, die eigenen Gefühle zu erkennen und regulieren zu können, werden zunehmend Fragen der individuellen Kompetenz im Hinblick auf die Bewältigung der je postulierten Probleme aufgeworfen. ›Sich wohlfühlen können‹ lautet eine Zielbeschreibung im kompetenzorientierten Planungsdo-
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kument einer großen österreichischen Erwachsenenbildungseinrichtung (vgl. Rieder/Brugger 2009). Die Europäische Union hat in Ihrer Empfehlung für acht Europäische Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen festgestellt, dass der »konstruktive Umgang mit Gefühlen« ein wichtiger Faktor zur Ausbildung der jeweiligen Schlüsselkompetenzen darstellt (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union 2006). Anders als der vergleichsweise etwas aus der Mode gekommene Begriff der Qualifikationen zwingen Kompetenzen Ihre TrägerInnen stärker zu deren Darstellung und Aktualisierung (Traue 2010: 52) sowie einer entsprechenden reflexiv geforderten Selbsterforschung. So zum Beispiel im Rahmen der Erarbeitung von Kompetenzportfolios, wo in Einzel- und Gruppenreflexionen bereits vorhandene Kompetenzen verschiedenster Art der TeilnehmerInnen zu Tage gefördert werden sollen. Als eine spezifische Form der Selbsterforschung, mit dem Ziel der »Selbsterkenntnis durch Zahlen« konzipieren Mitglieder des Netzwerks Quantified Self (QS) ihre auch unter dem Begriff self tracking firmierenden Aktivitäten. Unter self tracking lassen sich vor allem Aufzeichnungen von körper- und gesundheitsbezogenen Daten und deren Auswertung zusammenfassen. Ein weiteres großes Anwendungsfeld sind productivity tools, die ganz allgemein ein besseres Selbst- und Zeitmanagement durch gezielte Handlungsaufzeichnung und -kontrolle in Aussicht stellen. QS existiert als Label, seit es 2007 von den US-amerikanischen Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly als Name einer Website (http://quantifiedself.com/) gewählt wurde, die eine Vernetzung von Menschen, »running interesting personal data projects« (Wolf 2010a), unterstützt. QS besteht aus losen Gruppen, die sich in lokalen Meetings und auf internationalen Konferenzen treffen, um sich dort über die Möglichkeiten des Sammelns und Auswertens persönlicher Daten auszutauschen. Was und womit dabei gemessen wird, unterliegt prinzipiell keiner Einschränkung. Ob nun mit einer fix installierten Station die Zusammensetzung der Raumluft gemessen wird und per SMS eine Warnung erfolgt, wenn die CO2-Konzentration einen definierten Grenzwert erreicht, oder körperbezogene Daten über so genannte wearables erhoben werden: Die Bandbreite ist groß. Wearables sind tragbare Geräte, die, mit den entsprechenden Sensoren ausgestattet, unterschiedlichste Parameter messen und dokumentieren. So können etwa Schrittzähler und Pulsmesser kombiniert mit einer entsprechenden App auf dem Smartphone zum ›persönlichen‹ Lauftrainer werden, indem sie zusätzlich zum Puls auch die gelaufenen Kilometer anzeigen, die beim Gehen/Laufen verbrauchten Kalorien errechnen und eine/n darauf aufmerksam machen, dass das nächste Training ansteht, wenn man innerhalb einer bestimmten Zeit eine vorab als Ziel definierte Gewichtsabnahme erreichen möchte. Andere, mit Bewegungssensoren ausgestattete Armbänder informieren über die Zahl der im Tiefschlaf verbrachten Stunden pro Tag.
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Es gibt unüberschaubar viele Anwendungen und Ideen, manche adressieren explizit das Feld der Gefühle. Im Rahmen von mood tracking sollen Emotionen gemessen werden – ein innerhalb des QS-Netzwerkes prominent verhandeltes Thema. Seit der Gründung von QS haben sich weltweit lokale Szenen gebildet (in Europa Anfang 2014 in über 30 Städten). Neben IT-Unternehmen wie Intel (offizieller QS-Partner), Versicherungsgesellschaften, oder Regierungsorganisationen wie dem National Center for Telehealth & Technology, das dem US-Verteidigungsministerium untergeordnet ist, interessieren sich auch zunehmend WissenschaftlerInnen (Medizin, Psychologie, Sozialwissenschaften) für self tracking und seine Anwendungsmöglichkeiten. In meinem Beitrag möchte ich Fragen zu Ähnlichkeiten und Unterschieden diskutieren, die sich zwischen aktuellen Imperativen hinsichtlich des Ausbildens von Kompetenzen und dem Phänomen self tracking herstellen lassen. Dabei verfolge ich die These, dass beide Komplexe sich innerhalb eines Netzes von Diskursen und Praktiken um Eignung, Optimierung und Kontrolle befinden und als individuell zugeschnittene Heilsversprechen einen Horizont von Erfolg und Wohlgefühlen sowie die Vermeidung von Ungwohlgefühlen in Aussicht stellen. Dazu werde ich in einem ersten Schritt bestehende Auseinandersetzungen zum Kompetenzbegriff einbringen und so diskursive und genealogische Einbettungen aktueller Kompetenzkonzepte- und Gebräuche anreißen. In einem zweiten Schritt werde ich Diskursfragmente, die dem QSNetzwerk zuzurechnen sind, sowie Anwendungsbeispiele von self tracking-Verfahren vorstellen. Dabei wird jeweils ein Fokus auf die Frage nach der Adressierung von Emotionen gelegt. Die These, dass sowohl Verfahren des Prüfens und Trainierens von Kompetenzen als auch die Verfahren des self tracking innerhalb eines Arrangements operieren, das sich als Eignungsdispositiv bezeichnen lässt, geht auf Andreas Gelhard (2012, 2011) zurück. Eine zentrale Praxis dieses Dispositives ist die systematische Verhaltensbeobachtung. In seiner Kritik der Kompetenz (2011), leitet Gelhard aktuelle Fassungen des Begriffes genealogisch über psychologische Test-, Trainings- und Prüfungstechniken her. Ausgehend vom beginnenden 20. Jahrhundert vergleicht er diese in ihrem allumfassenden Anspruch mit christlich-protestantischen Techniken der Seelenbearbeitung des 17. Jahrhunderts. Beiden Techniken liegt nach Gelhard zugrunde, ein Maß für alles gelten zu lassen: Während die christliche Seelenprüfung jegliches Widerfahrnis der Dichotomie von Erlauben/Verbieten unterstelle, so zielten heutige kompetenzfeststellende bzw. – fördernde Maßnahmen auf Eignung d.h. Können/Nichtkönnen ab (Gelhard 2011: 119ff.). Ich gehe außerdem davon aus, dass die von Gilles Deleuze (2005) zu Beginn der 1990er postulierte Kontrollgesellschaft Realität geworden ist. Nach Deleuze ersetzt die Kontrollgesellschaft mit ihren Disziplinierungsmaßnahmen die Gussformen von ehedem – Schule, Militär oder Fabrik. Permanente Weiterbildung löst tendenziell die Schule ab, das disziplinie-
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rende Modell der Fabrik wird durch das universelle Modell des Unternehmens ersetzt, das »ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet« (Deleuze 2005: 9). Während die Disziplinargesellschaften Individuen gezwungen hätten, immer wieder neu anzufangen (als SchülerIn, als ArbeiterIn, als SoldatIn), seien die Menschen in der Kontrollgesellschaft damit konfrontiert, nie fertig werden zu können (Life Long Learning).
K ompe tenzen Begriffsgeschichtlich erlangt Kompetenz im deutschen Sprachraum erst im Lauf des 20. Jahrhunderts Bedeutung im alltäglichen Gebrauch. Zuvor ist es ein v.a. im juristischen und administrativen Bereich gebräuchliches Wort, das in erster Linie Zuständigkeit zum Ausdruck bringt (Müller-Ruckwitt 2008: 108). Heute ist das Sprechen über Kompetenzen in Diskurse und Praktiken der Aktivierung sowie der Responsibilisierung eingebettet (Traue 2010: 49) und hat eine dementsprechende Bedeutungserweiterung erfahren. Dort wo es um die Herstellung von Handlungskompetenz geht, werden Individuen in die Pflicht genommen, wird das Subjekt unter dem Aspekt der Aktivierung adressiert: Qualifikationen erlangt und hat man, Kompetenzen hingegen gilt es prinzipiell ohne Ende aufzubauen, zu erhalten, zu erweitern etc. Historisch sind auf Personen oder Organisationen bezogene Kompetenzen und die mit ihnen einhergehenden, subjektivierenden Anrufungen nicht losgelöst von psychologischen und pädagogischen Diskursen, deren Verbreitung und Verschränkungen im 20. Jahrhundert, zu begreifen. Für die Psychologisierung, also für die Verbreitung psychologischer Denkweisen und Kategorien im Alltagsleben, können unterschiedliche Ausgangspunkte festgemacht werden: Eva Illouz etwa betont die Bedeutung der Psychoanalyse und deren Institutionalisierung in den USA, ausgehend von Sigmund Freuds Clark-Lectures (vgl. Illouz 2009: 45ff.). Sie beschreibt, wie die sich entwickelnde Psychologie nach Etablierungsmöglichkeiten sucht und in Industrie und Arbeitswelt einen Diskurs einleitet, »der die Individuen und ihre Gefühle in den Mittelpunkt stellte« (ebd.: 119). Für die Ausbildungsprogramme und die arbeitenden Individuen gewinnen soziale Kontakte und deren Nutzbarmachung als Kriterium von Eignung immer stärker Bedeutung. Die Hawthorne-Untersuchungen Elton Mayos und die aus ihnen hervorgegangene Human-Relations-Bewegung gelten als wichtiger Referenzpunkt auf dem Weg zur gesteigerten Bedeutung von informellen Aspekten in der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen. Im Gegensatz zur Hervorhebung Freuds durch Eva Illouz, betont Andreas Gelhard aber die Rolle der differenziellen Psychologie William Sterns (1871-1938) und der
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Psychotechnik Hugo Münsterbergs (1863-1916). Ihr wichtiger Beitrag in der Herausbildung des Eignungsdispositivs sei dabei die Zurverfügungstellung passender Test- und Prüfungsverfahren gewesen. Gelhard verwendet den Begriff Dispositiv anknüpfend an Michel Foucault als »Formation, die zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, auf eine dringende Anforderung zu antworten (de répondre à urgence)« (Foucault 1976: 299, zit.n. Gelhard 2012: 45). Die ab 1900 entstehenden Test- und Trainingsverfahren der Angewandten Psychologie hat Gelhard als Grundlage von heute zur Anwendung gebrachten Kompetenz-Konzepten freigelegt (Gelhard 2011, 2012). Neben Fragen der Ungleichheit von Bildungschancen (auf welche die Entwicklung von Intelligenztests eine Reaktion gewesen ist), waren es vor allem Fragen physischer und psychischer Erschöpfungszustände in der Industrie (das so genannte Monotonieproblem), denen durch psychotechnische Selektions- und Trainingsmethoden begegnet werden sollte (vgl. Gelhard 2012: 46). Es sind also zunächst v.a. die mit den Arbeitsbedingungen des Fordismus einhergehenden Unwohlgefühle, mit denen ein Umgang gefunden werden sollte. Dabei steht die Selektion der am besten Geeigneten im Mittelpunkt, aber es ging auch um Optimierung: Münsterberg, dessen eignungsdiagnostische Verfahren auch als grundlegende Vorarbeit für heute gängige Personalverwaltungsansätze gelten (vgl. Traue 2010: 56), schrieb 1912 in Psychologie und Wirtschaftsleben: »Gerade weil so viele Ungeeignete auf dem Arbeitsplatz stehen, wird es solche dringende Sorge, Mittel und Wege ausfindig zu machen, durch die der Leistungswert gesteigert werden kann« (Münsterberg 1997: 91). Dabei sieht sich die Psychotechnik als Wissenschaft von Sozialingenieuren »im Dienste der praktischen Kulturaufgaben« (Münsterberg 1914: 1) und beansprucht eine Haltung, die sich mehr oder weniger ›nur‹ einer psychologischen Verbesserung im Dienste der an sie herangetragenen Aufgaben verschreibt: »Die angewandte Physik klassifiziert ihre Teile auch nicht mit Rücksicht auf die verschiedenen physikalischen Phänomene, die zur Anwendung kommen mögen, sondern mit Rücksicht auf die verschiedenen technischen Aufgaben, denen die Kenntnis der Physik dienstbar werden soll.« (Ebd.: 191)
Ein wichtiger Referenzpunkt im Diskurs um die Kompetenzen, ist zudem der 1973 erschienene Artikel Testing for competences rather than for intelligence des Psychologen David McClelland (vgl. Gelhard 2011: 53ff.; Erpenbeck 2007: XVIII; Haeske 2008: 168; Müller-Ruckwitt 2008: 143ff.). Dieser besteht v.a. aus einer harschen Kritik der damals dominierenden Intelligenztests: McClelland betonte, dass die an klassen- und schichtgebundenes Wissen orientierten Tests eine soziale und rassistische Auslese und Reproduktion begünstigen. Es war aber nicht die Selektion an sich, die er für problematisch hielt, sondern die Validität ihrer Methoden. Er schlug also vor, Verfahren zu entwickeln, die an
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den praktischen Erfordernissen von bestimmten Berufen orientiert sind, und zunächst in qualitativen Schritten zu beobachten, was z.B. ein Polizist können muss, um seinen Job zu erfüllen (criterion sampling). Nachdem dieses Vorgehen zu einer unbewältigbaren Menge an Kategorien führen würde, definierte er vier Meta-Kompetenzen, die ein möglichst breites Feld beruflicher Eignung abdecken sollten: »(a) Communication skills. (b) Patience (c) Moderate goal setting sowie (d) Ego development«. Diese sollten in Beobachtungen der Performanz on-the-job validiert werden. Zu den von McClelland beschriebenen (und heute omnipräsenten) communication skills gehören auch »[t]he abilities to know what is going on in a social setting and to set the correct emotional tone for it« (McClelland 1973: 10). Beim Erforschen und Konstruieren von Kompetenzen sind für McClelland keine Grenzen gesetzt: »It is difficult, if not impossible, to find a human characteristic that cannot be modified by training or experience« (ebd.: 8). Diese Annahme der universellen Trainierbarkeit menschlicher Eigenschaften, die für Andreas Gelhard gar das »Axiom aller modernen Kompetenztests« (Gelhard 2011: 61) darstellt, muss tatsächlich als zentrale Aussage in gegenwärtigen Verschränkungen von pädagogischen, psychologischen und ökonomischen Diskursen gesehen werden, die sich auf die Subjektivität ihrer AdressatInnen beziehen. Ungefähr zur gleichen Zeit, in der McClelland seine Vorschläge zur Kompetenztestung in den Diskurs einbrachte, führte der deutsche Volkswirt Dieter Mertens (1974) den Begriff der Schlüsselqualifikationen ein, dessen Ausrichtung sich später in den heute im bildungspolitischen Bereich präsenten Schlüsselkompetenzen (s.o.) niederschlagen sollte. Ähnlich wie McClelland ging es Mertens darum, eine Reihe von Meta-Fähigkeiten auszubuchstabieren, die einerseits beruflichen Erfolg versprechen und es andererseits ermöglichen, auf nicht näher definierte »Anforderungen im Laufe des Lebens« zu reagieren. Zentral war für Mertens, dass die Erfüllung solcher katalogisierten Kategorien1 in einen spezifischen Umgang mit sich selbst eingebettet sein sollte: »Die mentale Kapazität soll nicht mehr als Speicher von Faktenkenntnissen, sondern als Schaltzentrale für intelligente Reaktionen genutzt werden.« (Mertens 1974: 40) Diese Vorstellung von Selbststeuerung/Selbstregulation ist im Zusammenhang mit Kompetenzentwicklung ein prominenter Topos. Exemplarisch sei 1 | Er nennt als Beispiele: »Förderung der Fähigkeit zu lebenslangem Lernen und zum Wechsel sozialer Rollen, Distanzierung durch Theoretisierung, Kreativität, Relativierung, Verknüpfung von Theorie und Praxis, Technikverständnis, Interessenanalyse, gesellschaftswissenschaftliches Grundverständnis; Planungsfähigkeit; Befähigung zur Kommunikation, De-Kodierungsfähigkeit; Fähigkeit hinzuzulernen, Zeit und Mittel einzuteilen, sich Ziele zu setzen, Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zur Ausdauer, zur Konzentration, zur Genauigkeit, zur rationalen Austragung von Konflikten, zur Mitverantwortung, zur Verminderung von Entfremdung, Leistungsfreude« (Mertens 1974: 40).
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hier das Bild der Fernbedienung als Metapher genannt. Es findet sich in einer Anleitung für das Training Emotionaler Kompetenzen (TEK) des klinischen Psychologen und Verhaltenstherapeuten Matthias Berking (2008). Dabei handelt es sich um ein mehrstufiges Gruppentraining, mit dem Ziel, Emotionen besser regulieren zu können. Berking greift auf neurowissenschaftlich begründete Emotionsentstehungsmodelle zurück, die der Kognition bei der Bezeichnung und Beeinflussung von Emotionen eine wichtige Rolle beimessen (Neuroplastizität). Zentrale Schritte sind dabei in »Basiskompetenzen« eingeteilt, die aufeinanderfolgen und verschiedene – als »Teufelskreise« beschriebene – Formen anhaltenden Stresserlebens unterbrechen sollen. Dies wird als Ergebnis des Wechselspiels zwischen verschiedenen (Hirn-)Arealen dargestellt, wobei das Einwirken auf die Amygdala als Angst- und Stresszentrum den Dreh- und Angelpunkt abgibt. Durch Muskel- und Atementspannung, Versuche, »negative Gefühle« zu akzeptieren und »positiver zu denken«, »bewertungsfreie Wahrnehmung« und »neutrales Benennen« von Gefühlen, soll ermöglicht werden, »sich selbst in diesen ohnehin schon schwierigen Situationen innerlich liebevoll […] zu unterstützen« und die erlebten Unwohlgefühle im Rahmen von Psychoedukation zu regulieren (Berking 2008: 35ff.). Visualisiert werden die einzelnen Schritte des Trainings durch eine Serie von begleitenden Bildern eines Gehirns, in denen die bei der jeweiligen Stufe als zuständig identifizierten, aktiven Areale hervorgehoben sind. Die Bilderserie zur Basiskompetenz 3, dem »neutralen Benennen der Gefühle«, wird dabei von einer vor dem Gehirn befindlichen (Fernseh-)Fernbedienung visualisiert, die von zwei Händen gehalten wird (ebd.: 53). Dem breit aufgestellten Indikationsbereich von TEK entsprechend könne es, so Berking, »· als flankierende Maßnahme während einer ambulanten Einzeltherapie · als Teil eines stationären Behandlungsangebotes · oder zur Präventionsarbeit mit Risikogruppen eingesetzt werden« (ebd.).
Die TU Dresden bietet das TEK für die Zielgruppe »[j]eder, der sich seinen Gefühlen stellen möchte« (Technische Universität Dresden, Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie o.J.) an. Damit erfährt der Indikationsbereich eine interessante Erweiterung, legt das doch nahe, dass jede/r, der/die sich seinen/ihren Emotionen stellen möchte, zu einer Risikogruppe gehört. Das »bei Patienten und berufsbezogenen Personengruppen« nachgewiesen wirksame Training versetze die Zielgruppe in die Lage, einen »angemessenen Umgang mit negativen Emotionen im Berufsleben« zu erlangen, »körperliche und psychische Gesundheit [zu] stabilisieren« und »das erworbene Wissen als Burnoutprävention auf der Basis von arbeitsstrukturellen Ursachen« einzusetzen (ebd.).
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Es ist der an das Eigeninteresse appellierende Diskurs der Prävention (Bröckling 2004: 213f.), der sich über dieses Angebot des mit dem Begriff der Kompetenz operierenden Trainings dem Feld der Emotionen annähert. Gefühle stellen in diesem Diskurs eine potenzielle Bedrohung dar und nicht die mit ihnen in Verbindung stehenden Umfeldbedingungen. Während Wut auch als Ausdruck eines gerechten Zorns auf ungerechte Verhältnisse gelesen werden könnte, legt das Verständnis von Emotionen hier lediglich unter Kontrolle zu bekommende Impulse, Muskelspannungen, Atemfrequenzen und durch den Prozess der Beschreibung kognitiv zu regulierende Prozesse frei, eine Problemlage der prinzipiell ›intern‹ (selbstgesteuert) begegnet werden soll, angeleitet von ExpertInnen. Während für die junge Psychotechnik noch die Arbeitsorganisation im angehenden Fordismus und deren Effizienzsteigerung im Mittelpunkt des Interesses stand, spannt sich heute der Horizont der Wissensgesellschaft über der als Humankapital begriffenen Bevölkerung auf. Ausgehend vom Szenario immer schneller verfallender Wissensbestände, sollen sich die spätkapitalistischen Subjekte mittels Lebenslangem Lernen formbar und für einen pädagogischen Zugriff stets bereithalten. Mit dem Begriff der Pädagogisierung werden deshalb Entwicklungen beschrieben und kritisiert, die in Programmen des Lebenslangen Lernens ihre Gestalt am deutlichsten zeigen. Thomas Höhne bezeichnet das auch als »Ausgreifen pädagogischer Semantiken«, mit denen Probleme, die vormals eher anderen Sphären (sozialen oder politischen etwa) zugeordnet waren, neu gedeutet und adressiert werden (Höhne 2004: 1f.). Eine auf die Steigerung von Bewerbungs-Kompetenzen Arbeitsloser abzielende, aktivierende Sozialpolitik ist ein prägnantes Beispiel dafür. Kaum ein Feld findet sich, das nicht mittels Coaching optimiert werden soll, dessen individuell zugeschnittenes Heilsversprechen wiederum in einer besseren Performanz und in einer Optimierung des eigenen Handlungsvermögens als Anpassung an externe Umfeldbedingungen liegt. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um die Optimierung von Abläufen einer Organisation handelt (z.B. beim Coaching von Studierenden, um diese in kürzeren Zeiträumen durch ein Studium zu schleusen) oder um die Adressierung von im ›Privaten‹ angesiedelten Problemen (z.B. im Beziehungscoaching). Da wo gecoacht wird, sind (Selbst-)Kompetenzen nicht weit. Ansatzpunkt für jeglichen Wandel im Kontext pädagogischer Bemühungen – ob nun individuell oder sozial – sind Bildung und Erziehung, die in der Regel Veränderungsbedarf an dem/der Einzelnen anmelden. Eine ähnliche Bewegung formuliert Sabine Maasen für den therapeutischen Diskurs seit den 1970er Jahren: »Denn während es Ende der sechziger Jahre noch hieß: Du bist krank, weil die Gesellschaft krank ist, also musst du die Gesellschaft ändern, kehrte sich Anfang der siebziger
Von der Kompetenz zum Self tracking Jahre die Botschaft um: Die Gesellschaft ist krank, weil du krank bist, also musst du dich verändern.« (Maasen 2011: 11)
Besonders deutlich wird diese besondere Art, Probleme zu identifizieren und sie zu adressieren in einem Text Lutz von Rosenstiels, einem der Herausgeber des Handbuch Kompetenzmessung (2007).2 2009 erklärt er in einem Text, der den Titel Kompetenzen erkennen und entwickeln in der Krise3 trägt, welche Handlungsoptionen er angesichts der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise für angebracht hielte, und welche wichtige Rolle dabei Emotionen spielen: »Emotional erschütternde Erfahrungen wurden in der derzeitigen Krise sicherlich von vielen Unternehmern und Führungskräften gemacht. […] Weiterbildner sollten versuchen in einem das künftige Handeln begleitende[n!] Coachingprozess die bisherigen Verhaltensweisen, insbesondere auch die begangenen Fehler, kritisch reflektieren zu lassen und daraus neue Handlungskompetenz der Betroffenen zu entwickeln.« (Rosenstiel 2009: 11)
Von Rosenstiel erregt sich über die »Unverschämtheit« von AkteurInnen, die in Krisenzeiten »Prämien oder Boni einfordern« und zögert nicht mit Schuldzuweisungen. Wenn es jedoch zum Umgang mit dieser Schuld kommt, dann ist der Horizont nicht etwa der einer politischen und/oder rechtlichen Lösung der verhandelten Problemlage. Vielmehr sei es – eingedenk der »systemischen« Ursachen der Krise, die er durchaus einräumt – notwendig, mittels Weiterbildung, Coaching und der Adaption von Verhaltensweisen auf AkteurInnen der Krise einzuwirken, um diese neue Handlungskompetenzen gewinnen zu lassen (ebd.: 11). Die emotionalen Erschütterungen von »Unternehmern und Führungskräften« sind für Rosenstiel eine Ressource, aus der Veränderung geschöpft werden soll. Ob »die Krise« nun »ein Problem« darstellt, das unter dem Aspekt »emotional erschütternder Erfahrungen« mit dem Auf bauen von »Handlungskompetenz« bei UnternehmerInnen und Führungskräften adressiert werden kann und soll, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Die He2 | Mit kompetenzfeststellenden Verfahren wird geprüft, inwiefern ein Individuum tatsächlich in der Lage ist, spezifischen Anforderungen (etwa eines Berufes oder einer Tätigkeit) zu genügen. Das Handbuch Kompetenzmessung stellt dafür verschiedenste Formate katalogartig aus, um ein für den jeweils anstehenden Zweck passendes Verfahren zu finden. Mit diesen Verfahren lassen sich nicht nur die unterschiedlichsten Eigenschaften von Individuen erfassen, sondern »Kompetenzbilanzen« für ganze Organisationen errechnen – alles das, nach dem Verständnis der Herausgeber, im Hinblick auf »überraschende Lösungen [und] schöpferisch Neues« (Erpenbeck 2007: XIX) 3 | Der Text wurde als ergänzendes Material im Rahmen eines Vorlesungszyklus Mitarbeiterorientierte Unternehmensführung an der LMU München veröffentlicht.
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rangehensweise an Probleme – das Heil im Identifizieren und Trainieren von Kompetenzen beim Individuum zu suchen – ist aber symptomatisch für das von Gelhard konstatierte Dispositiv der Eignung. Rosenstiels Krisen-Bezug verdeutlicht einerseits die Besonderheit des Kompetenzdiskurses, psychologische und pädagogische Sicht- und Handlungsweisen zu verbinden und diese auf verschiedenste Felder anzuwenden, und andererseits, wie dabei Emotionen von AkteurInnen als Ressource verstanden werden, die es zu verwerten gilt. Zusammen mit John Erpenbeck liefert Lutz von Rosenstiel in der Einleitung des Handbuchs Kompetenzmessung einen Hinweis auf die Verwandtschaft des Kompetenzdiskurses mit aktuellen Formen des self tracking. Auch Letztere lassen sich als die Aufzeichnung und Konstruktion »tatsächlicher Performanz« begreifen – also jener realisierten Handlungsvollzüge, die für Erpenbeck und Rosenstiel die zur Sichtbarmachung und Herstellung von Kompetenz notwendigerweise zu beobachtende Instanz darstellen: »Offensichtlich sind Kompetenzen nur anhand der tatsächlichen Performanz – der Anwendung und des Gebrauchs von Kompetenz aufzuklären.« (Erpenbeck 2007: XVIII) Während Kompetenzen hier als eine Form der Sichtbarmachung von (unterschiedlichsten) Handlungspotenzialen konzipiert sind, gilt es diese performativ zu realisieren – mit anderen Worten: die jeweilige Kompetenz individuell zu gebrauchen.4 Für diese Zwecke finden sich zahlreiche – je nach Verwertbarkeitskontext – unterschiedlich angelegte Prozeduren im breiten Feld des Messens und Trainierens von Kompetenzen. Sind die kompetenzfeststellenden Verfahren, wie sie das Handbuch Kompetenzmessung anbietet, v.a. im berufspädagogischen Kontext angesiedelt, so haben die Technologien der QS-Szene nicht (notwendig) diesen Horizont. Aber beide teilen den Aspekt des Messens, Sichtbarmachens und Trainierens von Handlungen. Im Folgenden werde ich nun Diskursfragmente aus dem Feld des self tracking am Beispiel von Quantified Self vorstellen und diese am Schluss im Lichte des bisher Gesagten auf Ähnlichkeiten und Unterschiede betrachten.
S elf tr acking Gary Wolf, einer der bekanntesten Protagonisten der Quantified Self-Szene und Mit-Gründer der Website quantifiedself.com, skizziert vier Punkte, die er als Voraussetzung für das von ihm mitgetragene Phänomen sieht: (1) Kleinere und bessere Sensoren, (2) deren Verbreitung in Form von tragbaren Geräten (Smartphones), (3) die Normalisierung der Veröffentlichung von Informationen in sozialen Netzwerken und (4) die transhumanistische Superintelligenz, 4 | Dieses Verständnis geht auf die linguistischen Konzepte von Kompetenz (Sprachwissen) und Performanz (Sprechen) bei Noam Chomsky zurück. (Knoblauch 2010:240ff)
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versinnbildlicht als cloud. (Wolf 2010a). Er eröffnet einen vielzitierten Beitrag über QS in der New York Times mit der Feststellung: »Humans make errors. We make errors of fact and errors of judgment. We have blind spots in our field of vision and gaps in our stream of attention. Sometimes we can’t even answer the simplest questions. Where was I last week at this time? How long have I had this pain in my knee? How much money do I typically spend in a day? These weaknesses put us at a disadvantage. We make decisions with partial information. We are forced to steer by guesswork. We go with our gut.« (Ebd.)
Der Umstand, dass Menschen Fehler machen, bringe Nachteile. Bei einem Vortrag auf der TED (Technology, Entertainment, Design) einer jährlichen Konferenz in Monterey erklärt er 2010: »The self is just our operation center, our consciousness, our moral compass. So, if we want to act more effectively in the world, we have to get to know ourselves better.«(Wolf 2010b) Während sich im ersten Satz dieser Äußerung Wolfs die »Schaltzentrale für intelligente Reaktionen« bei Dieter Mertens (s.o.) als Assoziation aufdrängt, ist es v.a. der zweite Satz, mit dem er die individuelle Verheißung von QS offenlegt: Um wirksam durchs Leben zu gehen, muss man sich selbst besser kennenlernen. Diese Form der Selbsterkenntnis, so verraten schon der Name als auch das Motto des Netzwerks (»Self knowledge through numbers«), soll durch das Verwenden quantifizierender Verfahren erlangt werden. Das dabei konstruierte Quantified Self bezeichnet er als »alternate route« zu sprachlich vermittelter, therapeutischer (Selbst-)Erforschung. Dabei kommen, das kann man in manchen online zur Verfügung stehenden Präsentationen im Rahmen von QS-Meetings gut nachvollziehen, gar nicht rein quantifizierende Verfahren zur Anwendung. Gezählt wird zwar immer, aber oft versehen die self tracker ihre Daten noch mit »qualitativen« Informationen. Was aber wird zum Gegenstand des trackings (und somit zur Grundlage des Quantified Self ) gemacht? Auf diese Frage ist keine erschöpfende Antwort möglich, aber der Großteil der Messbemühungen dürfte sich auf arbeits-, gesundheits-, fitness- und ernährungsbezogene Aspekte beziehen, wobei innerhalb dieser Bereiche jeweils ähnliche Fragestellungen verfolgt werden: Womit verbringt man in welchem Ausmaß wie viel Zeit? Welche Mengen wovon konsumiert man innerhalb bestimmter Zeiteinheiten? Welche Dinge erledigt oder unterlässt man innerhalb einer bestimmten Zeit? Entgegen den in der Einleitung bereits angesprochenen Anwendungsmöglichkeiten, die oft stark normalisierend vorgehen (z.B. Fitness-Apps, bei denen man die täglich gelaufenen Kilometer, die verbrannten Kalorien, die abgenommenen Kilos anhand von vorgegebenen Algorithmen ausgerechnet und präsentiert bekommt), liegt die Emphase bei Wolf aber auf stark individualisierten Anwendungen. Er betont, dass viele self tracker zunächst gar nicht wissen würden, welche Ziele sie eigentlich verfolgen: »[T]hey continue, because they believe their numbers hold
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secrets that they can’t afford to ignore, including answers to questions they have not yet thought to ask.« (Wolf 2010a) Dieser schon beinahe mystisch begründete Impetus zeigt sich in den von Wolf selbst vorgestellten Anwendungsbeispielen allerdings ganz ›handfest‹: Er bringt Beispiele, in denen Menschen sich das Kaffeetrinken abgewöhnen wollen oder viel Geld verdienen, in dem sie anderen Menschen oder Unternehmen die nötige Hard- und Software verkaufen, um gegangene Schritte oder geschlafene Stunden zu zählen. In einem Beispiel wird die schlechte Stimmung eines Probanden einer Feldstudie für Intel geschildert, die jeden Tag zur gleichen Zeit wiederkehrt. Randomisiert bekommt der Proband einen Anruf, in dem er gefragt wird, wie er sich gerade fühlt. In den daraus entstandenen Daten erkennt der Proband ein Muster: In der Erkenntnis, dass dieses Unwohlgefühl täglich just auf dem Weg von der Arbeit nach Hause entsteht, liegt gleichzeitig der Ausgangspunkt für die Bewältigungsstrategie: Einerseits beschäftigen ihn noch Gedanken von unerledigten Dingen in der Arbeit, während bereits neue Anforderungen entstehen. »With help, he learned to take a short mental break right there. He was much relieved.« (Wolf 2010a) Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass der Proband in der Auseinandersetzung mit dem aus den Daten generierten Feedback ›emotionale Kompetenz‹ entwickelt hat und durch gezielte Selbstregulation im richtigen Moment den empfundenen Unwohlgefühlen ausweichen kann. Was das tracking von Emotionen (mood tracking) betrifft, so unterscheidet Gary Wolf selbst explizit zwischen Standardisierungen, die etwa ein fix vorgegebenes Emotionsschema propagieren, und einer individuellen, zunächst deskriptiven Erschließung von Emotionen (Wolf 2009). In QS-Präsentationen und Konferenzbeiträgen, die um das Thema mood tracking kreisen, steht tatsächlich nicht immer eine vorab definierte Zielgerichtetheit des Messens im Raum. Die im Rahmen dieser Arbeit recherchierten Beiträge geben aber doch Grund zur Annahme, dass Fragen der Eignung, der Optimierung und der Anpassung an (schwierige) Umfeldbedingungen im Vordergrund stehen. Ein Beispiel aus der Quantified Self Bay Area Meetup Group, die von Gary Wolf selbst koordiniert wird, illustriert, dass eine Sichtweise auf das self tracking ungenügend wäre, die vorgibt, es würde sich dabei um eine Art ungerichteter Selbstexploration handeln. Der Psychologe Michael Cohn präsentiert seine eigenen Erfahrungen »on tracking commitment«.5 Ausgangsprobleme sind für ihn dabei Unwohlgefühle im Zusammenhang mit Prokrastination und Zeitverschwendung: Anstatt Dinge zu erledigen, die ihm rational einen »big return« verschaffen würden, surft er im Internet oder spielt Videospiele. Er schildert, wie er zunächst versucht, sich mit rationalen Argumenten zum 5 | Alle folgenden Zitate Michael Cohns stammen aus seinem Vortrag, der als Video im Quantified Self-Blog von Ernesto Ramirez dokumentiert wurde (Ramirez 2014), Transkription: MT.
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Arbeiten zu bringen: »I should work hard now, so I can relax later.« »I will prioritize task x because it will have large returns later on.« All diese Argumente fruchten aber nicht, so Cohn, als er ein von sich selbst um vier Uhr früh am Computer gemachtes Selbstporträt an die Wand projiziert und feststellt: »The Problem is this guy. […] In fact this guy is my worst enemy. Because a lot of the time, when I actually have to regulate my behaviour and decide what I am doing, he is the one making the decisions, and he, flat out, does not care. […] This guy is ruthless, he’s crazy.« (Ramirez 2014)
Cohn stellt sein Alter Ego, das er später auf Rückfragen aus dem Publikum als eher traurige Figur beschreibt, ironisch als seinen »schlimmsten Feind« dar, den es unter Kontrolle zu bringen gilt. Dies habe er auf verschiedenen Ebenen vollbracht: Zunächst habe er erst einmal eine Sprache finden müssen, die »that guy« auch verstehen würde. In Form von Schwüren hat Cohn sich selbst gegenüber so eine entscheidungseinengende Struktur simuliert: »I started things like saying: ›I, Michael Alexander Cohn vow, that for the next seven days I will spend one hour per day on task X«. And that kind of graven-in-stone commitment actually turned out to work pretty well for me. Because that’s a language that guy does understand. It doesn’t leave me any room at all to decide.« (Ramirez 2014)
Diesen Vorgang der geplanten Verhaltensänderung bezeichnet er als irrational. Das ist insofern interessant, als er dafür unter anderem auch den Begriff contracting verwendet: Cohn bedient sich Methoden, die in der systemischen Beratung und in der Personalentwicklung angewendet werden, um die Beziehungen zwischen verschiedenen (Auftrags-)PartnerInnen zu definieren und zu klären, was der/die eine von der/dem anderen zu erwarten hat. Was Cohn im Umgang mit sich selbst als irrational beschreibt, sieht aus der Entfernung aus wie ein sehr gut in hegemoniale Rationalitäten der Selbstführung passendes Planungshandeln. Das tracking selbst stellt dabei die Grundlage der Kontrolle des eigenen Handelns dar. In hunderten von Tabellen zeichnet Cohn in 50-Minuten-Einheiten auf, was er jede Woche erledigen möchte, womit er seine Zeit tatsächlich verbracht hat, mit wem er sich getroffen hat, wann er sich die Haare wäscht, wie viele Schritte er macht, wie viele Stunden er schläft, wie viel Zeit er mit anderen Menschen verbringt, welche Bücher er gelesen hat, welche Medikamente er genommen oder wann sein Knie weh getan hat. Auch wenn er bei weitem nicht mit allen gesammelten Daten etwas anfängt oder der Meinung ist, sie seien dazu da, um retrospektiv Sinn daraus zu generieren, so sei das Aufzeichnen selbst eine Form der Prokrastination, die ihm jedoch helfe, »back on track« zu gelangen und das Erreichen seiner Ziele zu kontrollieren. Wenn es einmal nicht klappe, dann würde er das Büßen, nicht
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das Bestrafen als Umgang mit der so entstandenen Dysfunktion vorziehen. Als er dies jedoch näher erörtert, gesteht er sich selbst ein, dass die Reaktion auf ein Abweichen der gesetzten Ziele in einer selbst gewählten – einer Strafe nicht ganz unähnlichen – Versagung liegt: »Not necessarily punish myself when things go wrong, but figuring out, how do I make up for it. How do I try and fix the problem? And a lot of the time it’s taking something that I was doing to procrastinate or distract myself and you now I will not gonna do that for a day or a couple of days or a week. So it’s a little bit like punishment but that’s fine, because that’s a language that that guy can understand. It helps me tell myself: ›Yes I am serious. My actions have consequences.‹ And those boundaries have actually been really helpful to me.« (Ramirez 2014)
Die Journalistin, Schriftstellerin und Netzexpertin Kathrin Passig führt zu den Möglichkeiten des self trackings an, dass es v.a. die eher einfach individuell modifizierbaren Eigenschaften sein würden, die für die Messenden von Interesse sind, und weniger die möglicherweise stärker beeinflussenden, aber weniger leicht veränderbaren Umfeldbedingungen (Passig 2013: 90). Einerseits gibt es das Beharren darauf, die eigenen Daten anhand der eigenen Relevanzen zu messen. Das kann – wie bei der QS-Konferenz 2013 im Amsterdam gezeigt wurde – z.B. das grafische Abtragen und Vergleichen der Anzahl täglich verbrachter Yoga-Minuten mit der Anzahl der täglichen Tagebuch-Einträge in einem geteilten Kalender sein, der Stimmungslagen erfassen soll (Barooah/ Cousins 2013). Zunehmend gibt es aber auch Webangebote, die durch ein stark vorstrukturiertes, reglementiertes Schema verschiedene Werte erfassen, aufzeichnen und den BenutzerInnen im Nachhinein zugänglich machen bzw. präsentieren. Ein weiterer Input der oben genannten Tagung – ein Vortrag eines Mitbegründers des Webservices moodscope – zeigt aber schon in eine andere Richtung, nämlich jene des Geschäftsmodells. Das Webservice (moodscope 2014) überträgt die selbst protokollierten Stimmungslagen an ausgewählte FreundInnen im Netz, welche intervenieren können, wenn sie das aufgrund der übermittelten Daten für angebracht halten. Der Online-Dienst MoodPanda (MoodPanda 2014) z.B., lässt eine/n in beliebiger Frequenz auf einer Schiebeleiste zwischen einem traurigen und einem lustigen Smiley die Frage: »How are you today?« beantworten. In einem Freitextfeld lassen sich Gründe dazu anführen, die zusammen mit dem aufgezeichneten Wert der MoodPandaCommunity oder auch der Öffentlichkeit auf facebook und twitter zugeführt und dort kommentiert werden können. Im sogenannten Worldfeed lassen sich die Einträge anderer BenutzerInnen live verfolgen und kommentieren bzw. mit hugs versehen (sie entsprechen den facebook likes). Interessant ist (neben der im Vergleich zu anderen Diensten sehr grob granulierten Skala), dass die eigene Verlaufskurve immer im Vergleich zum World Mood erscheint, der über die
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Zeit hinweg auf einer Skala von 1 bis 10 um den Vergleichswert herum variiert. Dem sich selbst(bewusst) vermessenden Individuum wird hier der normalisierende Vergleich plakativ gegenübergestellt, der sich selbst aus den zur Verfügung gestellten Daten speist. Eine weitere App, der T2 mood tracker wurde vom National Center for Telehealth and Technology entwickelt, einer Einrichtung, die dem US Department of Defense zugeordnet ist. Ursprünglich als Software konzipiert, die die Verhaltensänderungen von SoldatInnen nach Kampfeinsätzen aufzeichnen und überprüf bar machen sollte, ist es mittlerweile als App für Android und iOS kostenlos für einen viel breiteren BenutzerInnenkreis verfügbar. Die Software adressiert das Wohlergehen ihrer BenutzerInnen, die durch regelmäßige Selbsteinordnung auf (auch individuell konstruierbaren) Skalen den nötigen Input liefern. »The app records a range of emotions for anxiety, depression, head injury, stress, posttraumatic stress and a user’s general well being.« (National Center for Telehealth and Technology 2014) Abbildung 1: Ein Screenshot der App »T2 Mood Tracker«
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Es werden jedoch auch Verfahren zum tracking von Emotionen erforscht und entwickelt, die den (aufwändigen) Weg über eine Selbstkategorisierung durch die AdressatInnen meiden, indem sie direkt von physiologischen Signalen auf Emotionen schließen wollen, z.B. über die Messung der Herzfrequenz (Ivonin et al. 2013). Die auf diese Weise gesammelten und generierten Daten und Anwendungen können sowohl für Unternehmen als auch für Regierungen von Interesse sein. So führt der britische National Health Service (NHS) mittlerweile ein eigenes Download-Portal mit auf unterschiedliche Gesundheitsaspekte bezogenen Apps. Dort findet sich unter mental health auch die Software Mindlogr, die es BenutzerInnen erlaubt, eine Art Videotagebuch zu führen: »This allows them to let go of their worries and reflect on their days and weeks past.« (Calthor 2014) In Österreich wirbt die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft mit dem Einhalten von fünf »Gesundheitszielen« (Blutdruck, Gewicht, Bewegung, Tabak, Alkohol) (Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft 2014). Wer nicht raucht, den Alkoholkonsum mäßigt, das Gewicht reduziert usw., wird in Form eines Nachlasses beim zu entrichtenden Selbstbehalt ›belohnt‹. Die Vorstellung der Kombination des umfangreichen Datensammelns und -aggregierens mit solchen Incentive-Systemen (welche die Kehrseite der Belohnung der einen, nämlich das Bestrafen der anderen, in der Regel nicht thematisieren) gibt durchaus Anlass, sich auch eher dystopische Szenarien für die Zukunft auszumalen. So schlägt das explizit auf Quantified Self bezugnehmende Konzept Health 2050 der Innovationsforscherin Melanie Swan die umfassende Integration verschiedener Datenquellen vor, um auch eine Veränderung von »mindsets« herbeizuführen, wenn es um psychische Gesundheit geht: »In addition so stigmas surrounding seeking mental health assistance, costs are high, and options are not well-known. A shift to positive positioning of mental performance optimization techniques rather than disease cures or ›seeking help‹ may cause more people to investigate solutions. Additionally, a number of new health data streams may be extremely revelatory such as measuring baseline and variability in individual and population levels of biophysical chemicals like cortisol (related to stress), oxytocin (related to feelings of connection), and dopamine (related to the ability of focus), and quantified assessments of qualities such as empathy, loneliness, happiness, and fulfillment. With the presence of technology tools such as the therapeutic intimacy of the mobile phone, mental performance assessment and optimization could be extended quickly to the vast majority of the population.« (Swan 2012: 98)
Im Zuge dieses Überwachungs-Szenarios wird die proaktive Selbstoptimierung im Namen der Prävention dem Suchen von Hilfe vorgezogen und der für die BenutzerInnen selbst kaum zu kontrollierende, permanente Datenstrom des eigenen Mobiltelefons in ein therapeutisches Vertrauensverhältnis
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umgedeutet. Stefan Selke verweist jedoch auch auf bottom-up-Möglichkeiten des self tracking, bei dem Kranke bzw. PatientInnen ihre eigenen Daten in die Hand nehmen um auf diese Weise »Wirkungsversprechen der Pharmaindustrie kritisch zu evaluieren, als Gegenexperten aufzutreten oder durch die gemeinsame Reflexion ihrer persönlichen Erfahrungen dazu beizutragen, neue Heilmethoden zu entwickeln« (Selke 2014: 178f.). Welche Macht den BenutzerInnen im Zuge der digitalisierten Selbstquantifizierung zusteht, deren Verbreitung und Erfolg jeweils auch abhängig davon ist, ob sie genutzt wird oder nicht, ist eine Frage, auf die die Soziologin Jennifer R. Whitson erhellende Antworten bietet. Sie betrachtet dazu das Feld des self tracking unter dem Aspekt von gamification. Gamification bedeutet, dass spielerische Logiken und Abläufe in vormals spielfremde Kontexte übersetzt und angewandt werden. Die These Whitsons lautet, dass gamification eine Form der Überwachung darstellt, die angenehm ist (Whitson 2013: 164). Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass ein von den NutzerInnen als angenehm wahrgenommener Rahmen, dazu beitragen kann, Hemmschwellen zu senken, bestimmte Technologien zu nutzen. Als Beispiel nennt sie die öffentliche Problematisierung und Widerstände gegen Gesichts-Erkennungs-Verfahren an Flughäfen bei der Einführung militärischer Anti-Terror-Maßnahmen. Die Anwendung im Kontext von Social-Media-Kanälen wie facebook und deren Tagging-Praktiken wird hingegen von vielen BenutzerInnen angenommen: »[P]lay is a cultural practice and public legitimation tool that encourages the acceptance of otherwise contentious technologies. Gamification, in particular, applies playful frames to non-play spaces, leveraging surveillance to evoke behaviour change.«(Whitson 2013: 164)
Ein Beispiel für die gamification des Quantified Self ist die Webanwendung HabitRPG, die eine effizientere Zeiteinteilung und Taskplanung verspricht und wie ein Role-Playing-Game (RPG) aufgebaut ist, in dem man gemeinsam mit anderen Aufgaben erledigen muss. Während es in ›echten‹ RPGs darum geht, in Geschichten einzutauchen und dort Abenteuer zu erleben, verschiedenste Formen von Punkten anzuhäufen und mit diesen wiederum seinen Charakter aufzubauen, sind die Missionen, die man in HabitRPG im virtuellen Land Habitica zu erledigen hat, konkrete, selbst gesetzte Tasks aus dem realen Alltagsleben: Das tägliche Arbeiten von zwei Stunden an einem Artikel etwa. Aber auch ein Anruf bei der Mutter (ein Beispiel, das die Software vorschlägt) kann zu einem Task werden, der einem/einer, wenn abgehakt, Gold und Edelsteine bringt, die man z.B. in schöneres Gewand für den spieleigenen Avatar investieren oder aber damit sich selbst Belohnungen erkaufen kann: z.B. eine Folge der Lieblingsserie anschauen oder ein Stück Kuchen essen (ebenfalls beispielhafte Vorschläge der Software). Wer nicht genug der negativ gewichteten
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Tasks abgearbeitet hat, dem wird nahegelegt, sich die als Belohnung gekennzeichneten Tätigkeiten zu versagen. Michael Cohn, dessen tracking-Gewohnheiten ich weiter oben geschildert habe, benutzt HabitRPG und erklärt, dass es deswegen effektiv sei, weil man die Freunde, mit denen man dort vernetzt ist, nicht im Stich lassen könne (Ramirez 2014). Über einen als Spiel aufgezogenen Rahmen, ist man so in ein Netz gegenseitiger Kontrolle eingebunden, das nicht als unangenehm empfunden wird und das das eigene Verhalten beeinflussen soll. Die Verhaltensänderung wird dabei als Spiel inszeniert, bei dem eine Aufzeichnung und Quantifizierung von Aktivitäten der BenutzerInnen/SpielerInnen erfolgt und die dabei gewonnenen und aggregierten Daten ein permanentes Feedback darstellen. Dieses Feedback vermittelt Macht und Kontrolle über sich selbst und ist dadurch angenehm, was Whitson mit Michel Foucaults Überlegungen zur Selbstsorge verknüpft (Foucault 1988, zit.n. Whitson 2013: 167f.). Gelungene gamification bedeutet also, dass die BenutzerInnen sich als SpielerInnen begreifen und als solche das jeweilige tracking als eine Auszeit von alltäglichen Verpflichtungen, also angenehm, empfinden. Die Freude am Spiel entsteht durch die Affirmation der Regeln, während Regelbrüche das Spiel bedrohen. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum von Spielen ist, dass sie Wahlfreiheit als Element beinhalten. In diesem Zusammenhang spricht Whitson auch von participartory surveillance, einer Form der Überwachung, die in der freiwilligen Teilnahme der Überwachten begründet ist und durch die Freiheit der BenutzerInnen, jederzeit auszusteigen, erst ermöglicht wird (Whitson 2013: 171f.). Hierin liegen gleichzeitig auch Grenzen der als Spiel propagierten Verhaltensmodifikation: Die hierarchische Implementierung in Arbeitsumgebungen zur Produktivitätssteigerung sei deshalb in der Praxis bisher nicht besonders erfolgreich gewesen, wie die Soziologin und Surveillance-Forscherin an Beispielen demonstriert. Ein Spiel, dass man nicht beenden, aus dem man nicht aussteigen kann, wird nicht als Spiel wahrgenommen: »The moment you understand that you are working, you are not playing.« (Whitson 2013: 175) Sie betont die Risiken von function creep, der Anwendung von gesammelten Daten in einer Weise, die ursprünglich nicht vorgesehen war, und hebt hervor, dass es vor allem die hinter gamifizierten Anwendung stehenden Algorithmen sind, die es aufzudecken gilt: Sie stellen die Spielregeln dar, über die verhandelt werden können muss, wenn man davon ausgehen soll, dass es sich um ein faires Spiel handelt.
S chluss Ich habe versucht zu zeigen, wie sich kompetenzadressierende Verfahren, eingebettet in psychologische und ökonomische Diskurse und Praktiken, heraus-
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gebildet haben, die mit Andreas Gelhard (2012) als Dispositiv der Eignung zu sehen sind. Kompetenzen verstehe ich in diesem Dispositiv als messbar gemachte Handlungspotenziale, die am Individuum identifiziert, von ihm gefordert und hergestellt werden müssen. Dabei ist die Adressierung und Bearbeitung von Emotionen von der Psychotechnik des frühen 20. Jahrhunderts bis in die postfordistischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts stets Diskursbestandteil gewesen. Im Zuge aktueller Diskurse und Praktiken um self tracking ist dies auch der Fall: Emotionen stellen die Adresse unterschiedlichster Mess- und Trainingsformate dar. All dem ist die Vorgangsweise gemein, Optimierung durch systematische Verhaltensbeobachtung anzustreben. Kompetenzadressierende Verfahren, wie sie etwa das Handbuch Kompetenzmessung listet, transportieren noch stärker das Bild der Psychotechnik, die sich in den Dienst der jeweils zu optimierenden Sache stellt. Was das self tracking betrifft, so wäre zunächst zu unterscheiden, welche Formen es annehmen kann: Während manche standardisierten Formate mit unzugänglichen Algorithmen die BenutzerInnen immer innerhalb eines bestimmten Schemas (Gewicht, Fitness, Happiness …) normalisieren, sind prinzipiell auch stärker selbstbestimmte Formen des tracking denkbar. In einigen Quantified Self-Diskursfragmenten wird immer wieder hervorgehoben, dass es nicht die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse ist, nach denen gesucht wird, sondern vielmehr geht es um die den individuellen Interessen angepasste Applikation, die maximale Gültigkeit und Sinn für das jeweils eigene Selbst erzeugt. Gleichzeitig sind die Probleme, die digitalisiert-vernetzte self tracker beschäftigen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in die sie hineingesetzt sind, eben nicht grundverschieden von allen anderen. So lässt sich erklären, dass manche auf QS-Konferenzen und -Meetings präsentierten Beiträge eher an Kurse für Selbst- und Zeitmanagement unter Berücksichtigung aktueller technologischer Entwicklungen erinnern, als an Foren, in denen man sich für noch nicht beschrittene Wege der Selbsterkenntnis interessiert. Das Implementieren von Spiel-Logiken zur Aktivitätsaufzeichnung und Handlungsmodifikation mittels tools wie habitRPG macht die Angelegenheit nicht weniger ambivalent: Einerseits ermöglichen sie spielerische Formen der Selbstsorge, die angenehme Formen der Kontrolle und Macht (über sich selbst) erzeugen, während der Prozess des tracking selbst und die dabei gesammelten Daten bzw. ihre Verwendung der Kontrolle der BenutzerInnen in der Regel entzogen sind. Das Potenzial im Rahmen von mit Erfolg und Wohlgefühlen lockenden self tracking-Angeboten zum/zur »PsychotechnikerIn« seiner/ihrer selbst zu werden, besteht jedenfalls.
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L iter atur Amtsblatt der Europäischen Union (2006): Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.12.2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, online unter: www.bmukk.gv.at/medien pool/15538/eu_amtsblatt_schlkomp.pdf (22.04.2013). Barooah, Robin/Cousins Jon (2013): Mood, Emotion, and Meaning, online unter: http://vimeo.com/66928697 (30.05. 2014). Berking, Matthias (2008): Training emotionaler Kompetenzen : TEK – Schritt für Schritt, Heidelberg: Springer-Medizin-Verlag. Bröckling, Ulrich (2004): »Prävention«, in: Ders./Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 210216. Calthor, Jerry (2014): Mindlogr | Health Apps Library, online unter: http://apps. nhs.uk/app/mindlogr/(30.05.2014). Deleuze, Gilles (2005): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Breit, Helmut/Rittberger, Michael/Sertl, Michael (Hg.): Kontrollgesellschaft und Schule, Schulheft, Innsbruck u.a.: Studien-Verlag, S. 7-14. Erpenbeck, John (2007): Handbuch Kompetenzmessung : Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis, Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Gelhard, Andreas (2011). Kritik der Kompetenz. Zürich: diaphanes. Gelhard, Andreas (2012): »Das Dispositiv der Eignung. Elemente einer Genealogie der Prüfungstechniken«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2 (1), S. 43-60. Haeske, Udo (2008): »Kompetenz« im Diskurs: eine Diskursanalyse des Kompetenzdiskurses. Berlin: Verlag Pro Business. Höhne, Thomas (2004): »Pädagogisierung sozialer Machtverhältnisse«, in; Ribolits, Erich/Zuber, Johannes (Hg.): Pädagogisierung. Die Kunst, Menschen mittels Lernen immer dümmer zu machen!, Schulheft, Innsbruck u.a.: Studien-Verlag, S. 30-44. Illouz, Eva (2009): Die Errettung der modernen Seele : Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ivonin, Leonid/Chang, Huang-Ming/Chen, Wei/Rauterberg, Matthias (2013): »Unconscious emotions: quantifying and logging something we are not aware of«, in: Personal and Ubiquitous Computing 17, S. 663-673. Knoblauch, Hubert (2010): »Von der Kompetenz zur Performanz«, in: Kurtz, Thomas/Pfadenhauer, Michaela (Hg.): Soziologie der Kompetenz, Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Schriften zur Wissenssoziologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 237-255. Maasen, Sabine (2011): Das beratene Selbst: zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern. Bielefeld: transcript.
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A bbildung Abbildung 1: Screenshot der Android-App »T2 Mood Tracker«, Markus Tumeltshammer 2014
Burnout Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer umstrittenen Diagnose Linda V. Heinemann und Torsten Heinemann
In der therapeutischen Praxis stellen sich regelmäßig Patientinnen1 vor, die Symptome wie Energiemangel, Gereiztheit, Schlafstörungen, häufige Infekte und ein allgemeines Gefühl des Unwohlseins beschreiben. So verschieden ihre Lebensgeschichten, beruflichen Hintergründe und sozio-ökonomischen Kontexte auch sind, so stimmen ihre Berichte und Erzählungen doch darin überein, dass sich die Betroffenen »in ihrer Haut nicht mehr wohl fühlen« und registrieren würden, dass sie in ihrem Alltag nicht mehr so gut »funktionieren« wie dies früher der Fall war. Ihre konkrete Situation und Befindlichkeit fassen die Patientinnen immer häufiger mit dem Begriff »Burnout« zusammen – eine Selbstdiagnose, die ihren aktuellen Zustand in der eigenen Wahrnehmung absolut treffend zu beschreiben scheint. Burnout ist in der Gegenwartsgesellschaft zu einem der meistgenannten und vieldiskutierten Unwohlgefühle geworden, mit dem Patientinnen die wahrgenommenen Folgen der wachsenden Leistungsanforderungen in Berufs- und Privatleben auf den Punkt bringen. Insbesondere im deutschsprachigen Raum ist Burnout zu einer Modediagnose mit geradezu inflationärer Verwendung geworden. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht in einer überregionalen deutschen Tageszeitung, einer Wochenzeitung oder einem Magazin über Burnout berichtet wird. Hier finden sich Artikel über erschöpfte Leistungssportlerinnen, ausgebrannte Stars, die des Erfolgs überdrüssig seien, gestresste und entkräftete Managerinnen und Angestellte und neuerdings auch über Studierende, die unter gestiegenem Wettbewerbsdruck, der wahrgenommenen Notwendigkeit zur Rationalisierung und (Selbst-)Optimierung leiden würden. Gemeinsam ist diesen Artikeln sowie den Schilderungen von Patientinnen, dass sie zu dem Er1 | Es wird im gesamten Text das generalisierte Femininum verwendet. Soweit nicht explizit gekennzeichnet, ist damit immer auch die männliche Form gemeint.
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gebnis kommen, Burnout sei der Preis für die gestiegene gesellschaftliche Produktivität und den individuellen Leistungsdruck. Burnout-Patientinnen sind, wie es scheint, diejenigen, die mit den Anforderungen der neoliberalen Gesellschaft nicht mehr mithalten können und wollen. Bemerkenswert ist, dass die Diagnose als eine Krankheit der Leistungsträgerinnen inszeniert wird, die nur bekommt, wer auch Außergewöhnliches geleistet hat. »Nur wer gebrannt hat, kann auch ausgebrannt sein«, ist die implizite und manchmal auch ausdrückliche Botschaft. Weniger klar ist allerdings, was genau eigentlich mit dem Begriff Burnout gemeint ist, ob und inwiefern es sich hierbei um eine sinnvolle Diagnose handelt und was die Popularität von Burnout in der Gegenwartsgesellschaft ausmacht. Während im Alltag regelmäßig von dem Begriff Gebrauch gemacht wird, ist das Krankheitskonzept insbesondere unter Medizinerinnen und Psychologinnen äußerst umstritten. Trotz intensiver Forschungsanstrengungen ist es, wie wir im Folgenden zeigen werden, bis heute nicht gelungen, hinreichend zu klären, ob und inwiefern sich Burnout als Diagnose beispielsweise von einer Depression oder anderen psychischen Störungen unterscheidet. Diese Unklarheiten sind auch zentrale Gründe, warum Burnout bis heute nicht in den medizinischen Standard-Klassifikationssystemen International Classification of Diseases (ICD) (World Health Organization 1992) und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) (American Psychiatric Association 2013) als eigenständige Krankheit angeführt werden. Im ICD-10 wird Burnout lediglich als Zusatzdiagnose genannt, während der Begriff und das Krankheitskonzept im DSM-5, welches im Mai 2013 veröffentlicht wurde, überhaupt nicht auftauchen. Eine Aufnahme von Burnout als eigenständige Krankheit in den ICD-11 ist nicht geplant. Trotz oder gerade aufgrund dieser Tatsache wird über Burnout als Krankheit und über konkrete Burnout-Fälle insbesondere in den Medien intensiv berichtet. Ausgehend von dieser Differenz zwischen der Popularität und positiven Bezugnahme zu Burnout im Alltagsdiskurs und der Unklarheit des Konzepts im wissenschaftlichen Bereich werden wir im vorliegenden Beitrag die Entwicklung des Konzepts nachzeichnen und dessen heutige Popularität untersuchen. Um dem Thema nachzugehen, werden wir in einem ersten Schritt den historischen Entstehungskontext beschreiben. Anschließend rekonstruieren wir, wie Burnout in den vergangenen 40 Jahren in den Lebenswissenschaften und insbesondere in der Psychologie erforscht wurde. Wir entwickeln eine Typologie der Burnout-Forschung und zeigen, dass es gerade die Art und Weise der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ist, die zu dessen Unklarheit beiträgt. Zudem arbeiten wir heraus, dass sich das Konzept und Verständnis von Burnout in den vergangenen vier Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat. Hierbei lassen sich drei Aspekte oder Dimensionen unterscheiden, die sich veränderten: (1) die Erweiterung der Diagnose, das heißt ein immer umfangreicher werdender Symptomkatalog sowie die Ausweitung der betroffenen Berufsgruppen; (2) die emotionale und normative Besetzung des Begriffs
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und (3) die Verschiebung von Verantwortung für die Entstehung und Behandlung der Symptomatik. Burnout, so unsere These, ist von einer Diagnose für arbeitsbezogenen Stress innerhalb einer spezifischen Berufsgruppe zu einem allgemeingültigen Konzept für psychische Belastungen in der Leistungsgesellschaft sowie einem damit verbundenen individuellen Selbstoptimierungsauftrag geworden. Diese Bedeutungsverschiebung ist es, die die Popularität dieser Diagnose ausmacht. Unsere Argumentation stützt sich auf eine umfassende Analyse von wissenschaftlichen Publikationen, Medienbeiträgen und (Ratgeber-)Literatur zu diesem Thema. Wir schließen mit einigen Überlegungen zur Funktion und Attraktivität von Burnout in der neoliberalen Gesellschaft. Aus dem Gesagten wurde bereits deutlich, dass wir Burnout als Konzept und Diagnose weder in Frage stellen noch befürworten. Vielmehr zeichnen wir den Umgang mit diesem Phänomen in Medizin und Psychologie sowie in den Medien nach und versuchen, den aktuellen ›Hype‹ um diese Diagnose zu verstehen.
D ie ›E rfindung ‹ von B urnout Im populärwissenschaftlichen und medialen Diskurs über Burnout entsteht oft der Eindruck, es handele sich um ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, um eine Krankheit der in die Krise geratenen New Economy und der Finanzkrise. Tatsächlich wurde der Begriff jedoch bereits in den 1970er Jahren geprägt, um damit ein durch arbeitsbezogenen Stress ausgelöstes, nachhaltiges Gefühl der Erschöpfung und Antriebslosigkeit zu beschreiben. Im Jahr 1974 veröffentlichte der klinische Psychologe und Psychoanalytiker Herbert Freudenberger im Journal of Social Issues einen Artikel mit dem Titel »Staff Burn-Out« (Freudenberger 1974). Wenige Monate nach Freudenberger veröffentlichte Sigmund Ginsburg (1974) einen Aufsatz zum Thema Burnout mit dem Titel »The problem of the burned-out executive« im Personnel Journal. Dieser Text entstand unabhängig von der Arbeit Freudenbergers, was darauf hindeutet, dass der Begriff zu diesem Zeitpunkt schon Teil der Alltagssprache war. Heute wird meist nur Freudenberger als ›Erfinder‹ von Burnout genannt, da er in den Folgejahren das Konzept mit einer ganzen Reihe von Publikationen und vor allem auch Sachbüchern einem breiten Publikum bekannt machte (Freudenberger 1977a, 1977b, 1975; Freudenberger/Richelson 1980; Freudenberger/North 1985). In seinem Artikel von 1974 beschreibt er einen Zustand, den er selbst erlebt und an Kolleginnen beobachtet hat und den diese als »ausgebrannt sein« bezeichneten. Arbeitnehmerinnen bezeichneten sich also schon als »burned out«, bevor sich Wissenschaftler wie Freudenberger daran gemacht haben, das Konzept systematisch auszuarbeiten und als Krankheit zu etablieren. In diesem Punkt unterscheidet sich Burnout von vielen anderen psychischen Störungen,
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bei denen die Krankheitsdefinition und die Begriffswahl von medizinischen und psychologischen Expertinnen ausgingen bzw. ausgehen. Freudenbergers Verdienst ist es, das bereits zirkulierende Erfahrungswissen über den Zustand Burnout systematisch erfasst und dokumentiert zu haben. In seinem Artikel von 1974 nennt er zum einen eine Reihe von physischen Anzeichen, die er für charakteristisch für den Zustand des »ausgebrannt seins« hält: Erschöpfung, Müdigkeit, Anfälligkeit für Erkältungen, Kopfschmerzen, gastrointestinale Probleme, Schlafstörungen sowie Kurzatmigkeit. Zum anderen berichtet er psychische Symptome wie beispielsweise veränderte Emotionalität, Frustration, Ärger, übersteigertes Misstrauen, Gefühle der Omnipotenz, gesteigerte Risikobereitschaft, Barbituratmissbrauch, Zynismus, Besserwisserei und Anzeichen von Depression. Hervorzuheben ist insbesondere der letztgenannte Punkt. Freudenberger setzt Burnout nicht mit einer Depression gleich. Vielmehr können sich seiner Ansicht nach in einem fortgeschrittenen Stadium Anzeichen einer Depression manifestieren. Zusammenfassend kann man sagen, dass die erkrankte Person immer mehr Zeit am Arbeitsplatz verbringt und dabei zusehends weniger leistungsfähig ist. Der Autor verfolgt dabei einen rein deskriptiven Ansatz und nimmt keine normative Bewertung der Symptome vor. Die betroffenen Kolleginnen werden weder stigmatisiert noch heroisiert. Die Erkrankung ist für ihn eine Folge der auszehrenden Arbeitsbedingungen und liegt nicht in der Verantwortung der Mitarbeiterinnen. Hervorzuheben ist der klare Bezug zum Arbeitsplatz: Burnout ist nach Freudenberger zunächst ein eindeutig arbeitsbezogenes Phänomen. Wichtig ist dabei der Kontext, in dem Freudenberger seine Beobachtungen bezüglich ausgebrannter Arbeitnehmerinnen machte. Er und seine Kolleginnen engagierten sich in der »free clinic movement«, einer Anfang der 1960er Jahre ins Leben gerufenen Initiative, die Menschen mit geringem oder fehlendem Einkommen kostenlosen Zugang zu medizinischer und psychologischer Behandlung ermöglichte. Das Motto der Bewegung lautete: »Gesundheitsvorsorge ist kein Privileg sondern ein Grundrecht!«2 Die Ausgebrannten waren also gerade nicht Managerinnen oder andere Leistungsträgerinnen, mit denen diese Diagnose in der Gegenwartsgesellschaft immer wieder in Verbindung gebracht wird. Vielmehr handelte es sich um Personen, die mit Menschen in akuten Lebenskrisen arbeiten: Medizinerinnen, Therapeutinnen und Sozialarbeiterinnen in Frauenhäusern, Beratungsstellen, Notaufnahme- sowie Drogenhilfeeinrichtungen. In seiner ersten Publikation zum Thema Burnout fokussiert Freudenberger nicht allein auf die Symptome, sondern gibt auch Hinweise zur Behandlung und Prävention. Er schlägt vor, Mitarbeiterinnen am Arbeitsplatz besser zu unterstützen, für eine optimale Einarbeitung zu sorgen sowie regelmäßig 2 | Im Original lautet der Slogan: »Health Care is a Right Not a Privilege!«
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Supervision, Teamsitzungen und Fortbildungen anzubieten. Zudem legt er nahe, eintönige Tätigkeiten zu vermeiden oder wenn dies nicht möglich ist, eine konsequente Rotation der Dienste sicherzustellen. Zwar sieht Freudenberger auch in individuellen Faktoren wie beispielsweise aufopferungsvollem Arbeiten infolge eines übersteigerten Bedürfnisses nach Anerkennung Auslöser für Burnout. Dennoch beschreibt der Großteil der Präventionsmaßnahmen Veränderungen des Arbeitsplatzes. So fordert Freudenberger Vorgesetzte dazu auf, darauf zu achten, dass keine Mitarbeiterin dazu gezwungen wird, monotone Arbeiten immer und immer wieder zu übernehmen, dass auf ausreichende Ruhezeiten geachtet werden soll, oder dass neue Mitarbeiterinnen nicht ohne Vorbereitung in emotional herausfordernde Situationen geschickt werden. Aus heutiger Sicht ist es durchaus bemerkenswert, dass sich die in dem Artikel beschriebenen Interventionen ausschließlich auf die jeweilige Organisation beziehen. Burnout gilt in dieser Anfangsphase, wie schon geschildert, gerade nicht als individuelles Problem oder gar Versagen, sondern als ein strukturelles und organisatorisch verankertes Phänomen, welches auch auf der Ebene der Organisation bearbeitet werden muss. Die Verantwortung für die psychische Gesundheit liegt ganz klar bei der jeweiligen Institution. Freudenberger selbst hat nach seinem 1974 erschienenen Artikel das Burnout-Konzept weiterentwickelt und detailliert ausgeführt, unter anderem in dem gemeinsam mit Geraldine Richelson verfassten Buch »Burn-Out: The High Cost of High Achivement – What It Is and How to Survive It« (1980). Hier klingt zum ersten Mal an, dass Burnout vor allem einen bestimmten Persönlichkeitstyp, nämlich Leistungsträgerinnen mit besonders hohen Ansprüchen an sich selbst und andere betrifft. Dort ist zu lesen: »It would be virtually impossible for the underachiever to get into that state [burn-out]. Or the happy-go-lucky individual with fairly modest aspirations. Burn-out is pretty much limited to dynamic, charismatic, goal-oriented men and women or to determined idealist who want their marriages to be the best, their work records to be outstanding, their children to shine, their community to be better.« (Freudenberger/ Richelson 1980: 19) Gleichzeitig wird die Analyse in diesem Buch und anderen Publikationen Freudenbergers deutlich differenzierter, wobei weiterhin gesellschaftliche, organisatorische und individuelle Faktoren als Auslöser für Burnout genannt und für die Prävention angeführt werden.
D ie historische E nt wicklung des K onzep ts im A nschluss an F reudenberger Freudenbergers Überlegungen zu dieser scheinbar neuen psychischen Störung wurden von Beginn an kontrovers diskutiert. Dies lag zum einen daran,
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dass seine Ausführungen ganz zentral auf Selbsterfahrung und -beobachtung beruhten und deshalb die Objektivität seiner Krankheitstheorie angezweifelt wurde. Neben dieser Kritik an der Evidenz und der methodischen Qualität wurde zum anderen die Berechtigung als eigenständige Diagnose in Frage gestellt. Gleichwohl wurde und wird das Konzept so ernst genommen, dass es in den vergangenen drei Jahrzehnten eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Burnout gab und nach wie vor gibt. Im Anschluss an Freudenbergers frühe Arbeiten wurden in den folgenden Jahren über eintausend psychologische und medizinische Studien zu Burnout angefertigt. Um einen Überblick über die lebenswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Burnout zu gewinnen, haben wir eine umfangreiche Literaturrecherche der medizinisch-psychologischen Veröffentlichungen zum Thema Burnout seit seiner ersten Beschreibung durch Herbert Freudenberg (1974) durchgeführt. Ausgangspunkt war eine Recherche in der Literaturdatenbank PubMed, die medizinische und psychologische Publikationen aus über 5.000 internationalen Fachzeitschriften verzeichnet.3 Sucht man in dieser Datenbank im Zeitraum 1974 bis 2011 nach dem Titelstichwort »Burnout« so erhält man 1.255 Artikel.4 Einige dieser Artikel beschäftigen sich jedoch mit der Gefahr des Ausbrennens von Zähnen bei zahnchirurgischen Behandlungen mit einem Laser und anderen Phänomenen, für die ebenfalls der Begriff Burnout verwendet wird. Bereinigt um diese anderen Verwendungsweisen des Begriffs, ließen sich insgesamt 1.226 Artikel identifizieren, die sich mit dem hier relevanten Syndrom beschäftigen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Analyse dieser so ermittelten Publikationen. Betrachtet man die Anzahl der jährlich veröffentlichten Studien, so zeigt sich ein stetiger Anstieg der wissenschaftlichen Beiträge seit dem Jahr 1978 (eine Veröffentlichung) bis ins Jahr 2011 mit 145 Veröffentlichungen. Die Zahl der Publikationen nimmt dabei über die Zeit exponentiell zu. Allein an dieser 3 | Bei PubMed handelt es sich um die zentrale Referenzdatenbank der US-amerikanischen National Library of Medicine. Insgesamt sind hier mehr als 22 Millionen Artikel aus allen Bereichen der Medizin katalogisiert. Diese Datenbank hat sich innerhalb der Lebenswissenschaften als zentrale Referenz etabliert und gilt unter Medizinerinnen, Psychologinnen, Biologinnen, Chemikerinnen, Neurowissenschaftlerinnen und unter anderen im Bereich der Lebenswissenschaften tätigen Forscherinnen als entscheidendes Nachschlagewerk. 4 | Für die Suche wurden verschiedene Schreibweisen des Begriffs, beispielsweise »Burnout« oder »burned out« verwendet, um möglichst alle zum Thema existierenden Zeitschriftenpublikationen zu erfassen. Um die Suche weiter einzugrenzen, wurden nur Artikel berücksichtigt, die in englischer Sprache publiziert wurden und denen ein Abstract mit der Fragestellung und den zentralen Ergebnissen vorangestellt ist. Dieses letzte Kriterium trifft auf fast alle publizierten Studien zu.
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Entwicklung zeigt sich ein wachsendes wissenschaftliches Interesse an diesem Thema. Um zu untersuchen, ob dieser Verlauf spezifisch für die Untersuchung des Burnout-Syndroms ist, oder ob er eher den generellen Anstieg von medizinischen und psychologischen Forschungsarbeiten repräsentiert, haben wir als Vergleich Studien zum Thema Depression herangezogen. Diese Studien wurden nach den gleichen Suchkriterien in PubMed ermittelt. In Abbildung 1 ist der prozentuale Anstieg von Burnout-Studien im Vergleich zu Artikeln über Depression dargestellt. Vor allem ab dem Jahr 2004 steigt die Anzahl der Burnout-Studien im Vergleich zu Depressions-Studien steil an. Zwar hat sich seit 1978 die Anzahl der veröffentlichten Arbeiten zur Depression prozentual deutlich erhöht, im Vergleich zu Untersuchungen zum Burnout-Syndrom ist diese Zunahme jedoch viel geringer. Dies verdeutlicht, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Burnout tatsächlich und parallel zum wachsenden Interesse in den Medien zugenommen hat und verstärkt zu diesem Konzept geforscht wird. Abbildung 1: Prozentualer Anstieg von Burnout-Studien im Vergleich zu Artikeln über Depression von 1978 bis 2011
Inhaltlich lassen sich die publizierten Forschungsarbeiten in sechs verschiedene Kategorien unterteilen. (1) Eine erste Gruppe von insgesamt 101 Forschungsarbeiten untersucht, mit welchen psychischen und körperlichen Symptomen das Burnout-Syndrom verbunden ist. Hier geht es darum, das Phänomen von
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anderen Störungen abzugrenzen und verbindliche Kriterien der Definition und Diagnose von Burnout zu bestimmen (beispielhaft Leiter/Maslach 1999; Schaufeli/Taris 2005; Pines/Maslach 1978). (2) Einen zweiten Schwerpunkt bilden Studien, die sich mit potentiellen Auslösern und begünstigenden Faktoren für Burnout befassen (beispielhaft Cherniss 1980; Demerouti et al. 2001; Hudek-Knezević/Kalebić 2011; Maglica/Krapić 2011). Dies ist mit 628 Artikeln die umfassendste Kategorie. Hier werden sowohl individuelle Prädispositionen und Persönlichkeitsmerkmale als auch organisationsspezifische oder gesellschaftliche Faktoren bzw. Stressoren beleuchtet, die zu einem gehäuften Auftreten von Burnout führen können. (3) Studien, die sich mit der Diagnostik von Burnout befassen, stellen mit 53 Veröffentlichungen die dritte Kategorie dar (beispielhaft Balogun et al. 1995; Beckstead 2002; Gil-Monte 2005). In diesem Zusammenhang wurden vor allem Fragebögen entwickelt und auf ihre Gütekriterien hin überprüft. Der wohl bekannteste Fragebogen ist der von Christina Maslach und Susan E. Jackson (1981) konstruierte Maslach Burnout Inventory (MBI). Er entwickelte sich in den Jahren nach seiner Veröffentlichung zu dem am häufigsten angewendeten psychometrischen Maß zur Erfassung von Burnout und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. (4) Mit der Entwicklung eines anerkannten Messinstruments wurden zunehmend Prävalenzstudien in verschiedenen Berufsgruppen oder Gesellschaften durchgeführt (insgesamt 335 Arbeiten). Berufsgruppen, die besonders im Fokus der Burnout-Forschung stehen, sind medizinisches Personal (Blanchard et al. 2010; Pejušković et al. 2011; Santen et al. 2010), Lehrerinnen (Gil-Monte et al. 2011; Skaalvik/Skaalvik 2009) und Sozialarbeiterinnen (Evans et al. 2006; Lloyd/King/Chenoweth 2002; Tam 2005). (5) In der fünften Kategorie sind jene 159 Artikel enthalten, die sich mit der Prävention von Burnout befassen. Hier werden Programme entwickelt und evaluiert, die das Ziel haben, das Auftreten von Burnout zu verringern oder ganz zu vermeiden (beispielhaft Awa/Plaumann/Walter 2010; Zołnierczyk-Zreda 2005). (6) Die letzte Kategorie (43 Studien) umfasst Arbeiten, die darauf abzielen Biomarker, also biologische Auffälligkeiten und Kennwerte, bei Burnout-Patientinnen zu bestimmen, die eine bessere Diagnose und Behandlung dieser Krankheit erlauben. Beispielsweise wurden BurnoutPatientinnen auf elektrophysiologische Unterschiede in ihrer Hirnfunktion (Luitelaar et al. 2010) oder auf Abweichungen im Immun- oder Hormonsystem untersucht (Mommersteeg et al. 2006a; Mommersteeg et al. 2006b; Moya-Albiol/Serrano/Salvador 2010).5 In Abbildung 2 sind die Kategorien sowie die jeweilige Anzahl der zugeordneten Studien dargestellt. Allein an dieser Verteilung wird ein großes Ungleichgewicht der Burnout-Forschung ersichtlich. Der überwiegende Teil der 5 | Alle von uns identifizierten Studien wurden mindestens einer der genannten Kategorien zugeordnet, in einigen Fällen jedoch auch mehr als einer Kategorie.
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Forschungstätigkeit liegt in der Untersuchung von Ursachen und begleitenden Umständen der Symptomatik. Gleichzeitig bleibt jedoch vollkommen unklar, durch welche Symptome sich die vermeintliche Erkrankung überhaupt auszeichnet und bemerkbar macht. Es stellt sich die Frage, wie man Untersuchungen zu den Ursachen einer Symptomatik durchführen kann, wenn keine einheitlichen Diagnosekriterien für den zu untersuchenden Zustand existieren. Es ist also davon auszugehen, dass in diesen Arbeiten zahlreiche Ursachen identifiziert werden, die zu psychischen Problemen führen können. Ob es sich dabei jedoch immer um dieselben Mechanismen und daraus resultierenden Störungen handelt, bleibt offen. Damit wird ein Zirkelschluss deutlich: Weil die Symptomatik unklar und scheinbar wandlungsfähig ist, ist es schwierig, genaue körperliche Symptome oder Messinstrumente für sie zu identifizieren. Dies spiegelt sich dann auch in der wissenschaftlichen Erforschung des Phänomens wider. Zwar existieren einige weithin anerkannte Fragebögen zur Messung von Burnout, einen klaren Konsens wie es ihn beispielsweise bei der Diagnose von affektiven Störungen, zu denen Erkrankungen wie die Depression oder die Manie gehören, gibt es allerdings nicht. Es ist daher überraschend, dass trotz fehlender diagnostischer Klarheit des Krankheitskonzepts derart exzessiv Prävalenzen für die unterschiedlichsten Berufsgruppen bestimmt werden. Vielmehr würde man erwarten, dass zunächst das zu untersuchende Phänomen Burnout selbst geklärt und hinreichend definiert wird, bevor man sich daran macht, Messinstru mente zu entwickeln, auslösende Faktoren zu bestimmen und Programme zur Prävention zu erarbeiten. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall: Während Studien zur Eingrenzung und Definition der Krankheit einschließlich der Forschung zu Biomarkern über die vergangenen 35 Jahre auf einem sehr niedrigen Niveau stagnieren, haben die publizierten Arbeiten zu den Ursachen der Krankheit, ihrer Verbreitung in verschiedenen Berufsgruppen und Kontexten sowie zu Behandlungsstrategien überproportional zugenommen. Dass diese Art der Forschung nicht gerade zu einer Klärung des Phänomens beiträgt, sondern es eher diffus erscheinen lässt, liegt auf der Hand.
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Abbildung 2: Anzahl und inhaltliche Ausrichtung von Burnout-Studien zwischen 1978 und 2011
Welche Probleme und Konsequenzen mit diesem Vorgehen verbunden sind, zeigt sich unter anderem an den durchgeführten Prävalenzstudien. Bei amerikanischen Medizinstudenten wurde ein Anstieg des Burnout-Syndroms von 21 Prozent der befragten Studenten im ersten Studienjahr auf 31 Prozent im vierten Jahr des Studiums gemessen (Santen et al. 2010). Im Vergleich dazu liegt die 12-Monats-Prävalenz für Depressionen in Deutschland bei 11,9 Prozent (Jacobi/Hoyer/Wittchen 2004). Auch im Verhältnis zu anderen etablierten und weithin anerkannten psychischen Störungen sind die Prävalenzraten von Burnout extrem hoch (ausführlich dazu Heinemann/Heinemann 2013: 134f.). Angesichts dieses Befundes muss man die Frage stellen, welchen Wert eine Diagnose hat, wenn ein Drittel oder manchmal sogar die Hälfte einer Population für krank erklärt wird. Indem ganz selbstverständlich Krankheitshäufigkeiten angegeben werden, entsteht der Eindruck, es gäbe ein klar abgrenzbares und abzugrenzendes Krankheitsbild. Damit wird der Blick auf das eigentliche Problem verstellt, nämlich die Unklarheit der Diagnose. Das Krankheitskonzept wird damit ad absurdum geführt und Burnout in seiner Unschärfe reproduziert und etabliert. Auf der Basis dieser Ergebnisse ist zu überlegen, warum überhaupt am Krankheitskonzept von Burnout festgehalten wird, und was die Attraktivität von Burnout in der Gegenwartsgesellschaft ausmacht. Wie wir im Folgenden zeigen werden, ist es die Art und Weise des wissenschaftlichen sowie gesellschaftli-
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chen Umgangs mit Burnout, die zu einer Veränderung des Krankheitskonzepts seit seiner ersten Beschreibung durch Freudenberger geführt hat. Eben diese Verschiebung auf drei zentralen Dimensionen deckt sich mit dem aktuellen Zeitgeist und macht Burnout zu dem Unwohlgefühl des 21. Jahrhunderts.
V on arbeitsbe zogenem S tress zur M odediagnose Die Analyse unseres Literaturkorpus hat gezeigt, dass das Interesse an Burnout über die vergangen 30 Jahre in der Wissenschaft stark zugenommen hat. Es wurde jedoch auch deutlich, dass die Art wie bzw. auch von wem dieses Phänomen untersucht und bewertet wird, sich über die Jahrzehnte stark gewandelt hat. Es lassen sich Veränderungen auf drei Dimensionen in der wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Burnout beobachten, die wir im Folgenden als Verschiebungen beschreiben. Die erste Dimension dieser Veränderung ist eine systematische Ausweitung der Diagnose. Dies lässt sich sowohl hinsichtlich der beschriebenen Symptome als auch hinsichtlich der betroffenen Berufsgruppen feststellen. Schon bei Freudenberger war, wie unsere Ausführungen deutlich gemacht haben, Burnout alles andere als streng definiert und von etablierten Krankheiten abgrenzbar. Es war auch nicht Freudenbergers Ziel, eine neue »Krankheit« zu erfinden, sondern stattdessen ausgehend von teilnehmenden Beobachtungen und eigenem Erleben qualitativ Zustände zu beschreiben und die gemachten Erfahrungen zu systematisieren. Im Anschluss an Freudenberger kam es zu einer deutlichen Ausweitung der Symptome, unter denen Burnout Patientinnen leiden. Während Christina Maslach in dem von ihr entwickelten Fragebogen (Maslach/Jackson/Leiter 1996) Symptome in den drei Dimensionen Depersonalisierung, emotionale Erschöpfung und dem Erleben von Wirkungslosigkeit beschreibt, listet Matthias Burisch (2010: 25f.) in seiner Übersichtsarbeit zum Burnout-Syndrom über 100 verschiedene Symptome auf sieben verschiedenen Ebenen auf. Die Anzahl der mit Burnout in Verbindung gebrachten Symptome hat also seit den ersten Beschreibungen dieses Zustandes deutlich zugenommen, was ganz entscheidend zur »Undefiniertheit« und »Schwammigkeit« des Konzepts beigetragen hat. Neben der Erweiterung der beschriebenen Symptome ist es zu einer Ausweitung der Berufsgruppen gekommen, die mit Burnout in Verbindung gebracht werden. Der von Maslach konstruierte Fragebogen sowie die zahlreichen Messinstrumente, die im Anschluss daran entwickelt wurden, trugen zur vermeintlichen wissenschaftlichen Fundierung und Etablierung des Konzepts bei. Zu nennen sind hier neben dem MBI unter anderem das Burnout Measure, das Shirom-Melamed Burnout Measure, das Oldenburg Burnout Inventory oder das Copenhagen Burnout Inventory (Halbesleben/Demerouti 2005; Kristensen et al.
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2005; Milfont et al. 2008; Qiao/Schaufeli 2011; Schaufeli/Dierendonck 1993). In dem Moment, in dem ein Instrument vorlag, mit dem Burnout vermeintlich valide und reliabel gemessen werden konnte, wurde begonnen, verschiedene Berufsgruppen systematisch zu untersuchen. Ursprünglich stand vor allem medizinisches und sozialarbeiterisches Personal im Fokus der Untersuchung. Mit dem Aufkommen von verschiedenen Burnout-Fragebögen und deren Übersetzung in andere Sprachen wurden nach und nach immer mehr Berufsgruppen untersucht: Lehrerinnen, Studentinnen (insbesondere nach der Hochschulreform), Managerinnen, Angestellte, Arbeiterinnen und (Leistungs-)Sportlerinnen. Die Analyse unseres Textkorpus zeigt, dass zwar die mit Abstand am häufigsten erforschte Berufsgruppe medizinisches Personal ist. Über 700 Studien wurden alleine mit Pflegepersonal und Ärztinnen durchgeführt. In weiteren 150 Studien wurden andere medizinische und/oder soziale Berufe sowie Psychologinnen als Sample herangezogen. Daneben weist der von uns untersuchte Textkorpus jedoch eine Vielfalt an anderen Berufsgruppen auf. Viele Artikel untersuchen Belastung von Angestellten aus den unterschiedlichsten Bereichen (103 durchgeführten Forschungsarbeiten). Verhältnismäßig wenige Studien liegen zu Burnout bei Arbeiterinnen vor (10 Studien).6 Eine bemerkenswerte Veränderung gab es auch bei der emotionalen und normativen Besetzung des Begriffs. In frühen Arbeiten zu Burnout wird der Zustand wie jede anderer psychische Störung oder Krankheit beschrieben. Es ist ein unerwünschter Zustand, den es zu behandeln gilt, der aber an sich keine positiven Aspekte enthält. Auch wird keine differenzierte Unterscheidung oder gar normative Wertung im Vergleich zu anderen Krankheiten vorgenommen. Heute ist Burnout hingegen ein hochgradig emotionales und normativ aufgeladenes Thema. Dies hat vor allem mit der These zu tun, dass insbesondere motivierte, engagierte Personen, so genannte Leistungsträger, betroffen seien. Burnout wird damit regelrecht zu einer Auszeichnung – oder anders gesagt: Wenn man schon eine psychische Störung gegebenenfalls verbunden mit körperlichen Symptomen hat, dann eine möglichst weniger stigmatisierende. Dies lässt sich unter anderem im klinischen Alltag beobachten. Als häufiger Therapieanlass geben Patientinnen im Erstgespräch an, sie würden unter Burnout leiden. Zugleich weisen sie die Möglichkeit einer Depression oder einer anderen psychischen Störung weit von sich. Ein Grund hierfür ist die unklare wissenschaftliche Definition von Burnout, die es Personen mit ganz unterschiedlichen Symptomen erlaubt, auf die Krankheit Bezug zu nehmen. Burnout wird auch – sicher nicht ausschließlich – aufgrund der mangelnden 6 | Weitere Berufsgruppen, die in zehn oder mehr Studien untersucht wurden sind Psychologinnen, weitere medizinische und soziale Berufsgruppen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Studentinnen, Managerinnen, Patientinnen und Industriearbeiterinnen (in absteigender Anzahl).
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Fundierung zu einer Deckdiagnose mit einer durchaus positiven oder zumindest weniger stigmatisierenden Besetzung. Letzteres hat auch mit der populärwissenschaftlichen Bearbeitung des Themas zu tun. Am auffälligsten aber ist die Verschiebung von Verantwortung für Burnout, die sich in den vergangenen Jahren beobachten lässt. Wie wir gezeigt haben, ging Freudenberger davon aus, dass nicht allein das Individuum für die Störung verantwortlich ist. Im Gegenteil: Die zentralen Auslöser waren für ihn bestimmte Arbeitsbedingungen und Arbeitskontexte. Für die Burnout-Behandlung und Prävention schlug er dementsprechend kollektive Maßnahmen vor, beispielsweise verstärkte Supervisionsangebote, Verbesserungen am Arbeitsplatz, Reduktion der Arbeitsbelastung und Jobrotationen. Diese Haltung spiegelt sich in der Anfangsphase der Burnout-Forschung wider: Viele der wissenschaftlichen Beiträge stammen aus der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie. Die Verantwortung für Burnout wird damit automatisch nicht allein den Betroffenen zugesprochen, sondern es wird immer auch der organisationale sowie zuweilen auch der gesellschaftliche Kontext reflektiert und systematisch in die Analyse einbezogen. Von dieser ersten Phase lässt sich eine spätere Phase abgrenzen, in der eher eine Individualisierung von Verantwortung zu beobachten ist. Nicht mehr die Gesellschaft oder die Organisation muss sich ändern, sondern die betreffende Person. Der Schwerpunkt der publizierten Studien hat in dieser zweiten Phase einen klar klinischen Fokus, in dem eher das Individuum und seine diagnostizierbare Störung, als die Organisation, in der es arbeitet, im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht (vgl. auch Maslach/Schaufeli/Leiter 2001). Sehr deutlich zeigt sich das an diversen Interventionsstudien, die fast ausnahmslos individuelle Verhaltensänderungen vorschlagen und evaluieren (beispielhaft Pejušković et al. 2011). Organisatorische Interventionen werden dagegen kaum thematisiert und wissenschaftlich fundiert (Awa/Plaumann/Walter 2010). Diese Entwicklung zeigt sich auch an einer Vielzahl von Burnout-Ratgebern, die allesamt Handlungs- und Therapieanweisungen geben, die sich allein auf eine Veränderung der betroffenen Person beziehen. Das liegt zum einen in der Natur des Genres: Von einem Ratgeber wird zumindest ein Stück weit erwartet, dass er konkrete Tipps gibt, wie eigenes Verhalten modifiziert werden kann, um leistungsfähiger, gelassener oder glücklicher zu werden. Gleichwohl könnten diese Bücher als Alternative zur Verhaltensanpassung einen Wechsel in ein weniger belastendes Umfeld vorschlagen. Auch im medialen Kontext wird wenig über gesellschaftliche Faktoren gesprochen. Zwar wird vereinzelt auf strukturelle Bedingungen hingewiesen, die das Burnout-Risiko erhöhen, wie beispielsweise bei Lehrerinnen oder im Spitzensport, allerdings sind mit diesem Hinweis meistens keine Konsequenzen verbunden. Vielmehr bleibt es auch in diesen Bereichen den Betroffenen überlassen, wie sie mit der Situation und ihrem psychischen Zustand umgehen.
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A t tr ak tivität und F unk tion von B urnout heute : E ine D iagnose mit S elbstop timierungsauf tr ag Die hier skizzierte Verschiebung auf den drei genannten Dimensionen erklärt viel von der heutigen Attraktivität von Burnout. Die Erweiterung der Diagnose ermöglicht es einer Vielzahl unterschiedlicher Personen, sich Burnout zuzuschreiben, sofern sie mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Da es sich um eine scheinbare »Sieger-Krankheit« handelt, fällt es, so die hier vertretene These, Menschen leichter, sich zu ihren psychischen Problemen zu bekennen und sich in Behandlung zu begeben. Die Gefahr einer Stigmatisierung ist scheinbar geringer als bei anderen psychischen Störungen.7 Burnout wird damit zu einer Deck- oder Sammeldiagnose für eine Vielzahl unterschiedlicher psychischer Zustände mit mehr oder weniger klinischer Relevanz. Aus organisatorischer sowie gesellschaftlicher Sicht weist Burnout eine gewisse Attraktivität auf, da den Individuen damit die Verantwortung für ihr psychisches und physisches Leiden zugewiesen werden kann, ohne bestehende Arbeitsund allgemeiner Gesellschaftsbedingungen in der neoliberalen Gesellschaft hinterfragen oder verändern zu müssen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Gemeinhin wird Burnout, wie eingangs herausgearbeitet, als der Preis der heutigen Leistungsgesellschaft betrachtet. Wer nicht Schritt halten kann, fällt heraus und muss lernen mit seinen Defiziten umzugehen. Dies führt zwar nicht unbedingt zu einer Stigmatisierung und kann in bestimmten Kontexten vielleicht sogar als Beleg für besonders intensive Arbeitsleistungen interpretiert werden. Aber letztlich wäre es doch nur ein Zeichen dafür, dass das Individuum nicht so leistungsfähig ist, wie es sein könnte oder sollte. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Betroffenen für längere Zeit ausfallen und arbeitsunfähig sind. In der aktuellen Debatte ist in der klinischen Forschung, vor allem aber in der Ratgeberliteratur zu Burnout ein spezifischer Bearbeitungsmechanismus zu beobachten, der sich perfekt in die Logik der neoliberalen Leistungsgesellschaft einfügt und das ist der Auftrag zur Selbstoptimierung. Burnout soll von den Betroffenen möglichst zügig, unter Einsatz optimaler Ressourcen und durch den vollen persönlichen Einsatz bearbeitet und gelöst werden. Dies zeigt sich schon in den Titeln einiger dieser Ratgeber: Den Burnout besiegen: Das 30-Tage-Programm (Karsten 2008), 30 Minuten Burn-out (Berndt 2011), Schutz vor Burn-out: Ballast abwerfen 7 | Unseres Wissens existieren bisher keine Studien, in denen untersucht wird, ob das Burn-out-Konzept tatsächlich den Umgang mit psychischen Störungen in Unternehmen erleichtert oder im Gegenteil den Druck auf die Organisationsmitglieder eher erhöht. Wie bereits an anderer Stelle in diesem Artikel herausgearbeitet, gibt es aber eine Reihe von Anhaltspunkten, die darauf hindeuten, dass Burn-out als stigmatisierend wahrgenommen wird.
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– kraftvoller leben (Nelting 2012) oder Reclaiming the Fire: How Successful People Overcome Burnout (Berglas 2001). Die erfolgreiche Managerin, Arbeitnehmerin oder Lehrerin setzt sich nicht nur einfach mit dem Problem Burnout auseinander, sondern setzt auch hier ihre ganze Energie möglichst effizient in das Wiederherstellen der eigenen Leistungsfähigkeit. Durch das Bearbeiten von Burnout wird man nicht nur wieder fit, sondern es ist eine Lernerfahrung, die die Betroffenen besser und letztlich leistungsfähiger zu machen scheint. Dies ist zumindest die Vorstellung, welche durch die genannte Ratgeberliteratur vermittelt wird. Es sind mit anderen Worten die Ideale der Leistungsgesellschaft, die zunächst als Krankheitsauslöser genannt, in einem zweiten Schritt aber für die Bearbeitung des Problems herangezogen werden. Die erschöpften Menschen sollen sich nicht einfach nur erholen und ausruhen, sondern sie sollen und müssen an sich und ihrem Problem arbeiten. Burnout scheint damit heute nicht allein eine Krankheit zu sein, sondern zugleich eine Ressource und Bewältigungsstrategie, um mit den gestiegenen Leistungsanforderungen in der Gegenwartsgesellschaft umzugehen und diese erfolgreich zu bearbeiten. Das Konzept Burnout lässt aufgrund seiner wissenschaftlichen und medialen Bearbeitung zwei Lesarten zu, die zunächst widersprüchlich erscheinen, sich bei genauer Betrachtung aber sehr gut ergänzen und in die Logik der Leistungsgesellschaft einfügen.
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A bbildungen Abbildung 1: Prozentualer Anstieg von Burnout-Studien im Vergleich zu Artikeln über Depression von 1978 bis 2011, Grafik: Linda V. Heinemann, Torsten Heinemann Abbildung 2: Anzahl und inhaltliche Ausrichtung von Burnout-Studien zwischen 1978 und 2011, Grafik: Linda V. Heinemann, Torsten Heinemann
»Ihre Klagen sind Anklagen …« Anmerkungen zur Burnout-Diskussion aus Sicht eines Psychiaters und Psychotherapeuten Rainer Gross
In den Diskussionen zum Burnout-Begriff (als Codewort für fast jegliches Unbehagen am/im heutigen Arbeitsleben) erleben sich viele Psychotherapeuten/ -therapeutinnen im Spannungsfeld zwischen ihren eigenen therapeutischen bzw. psychiatrischen Positionen, dem sozialwissenschaftlichen Diskurs zum Thema und den überbordenden öffentlich-medialen Wortmeldungen. Die Perspektiven bzw. Einschätzungen dieser drei Diskursfelder erscheinen oft als widersprüchlich – mit recht wenig ›Übersetzungsanstrengung‹ z.B. zwischen der Fachmeinung der Psycho-Helfer/-innen und den Sozialwissenschafter/-innen. Daher die folgenden Überlegungen – nach Teilnahme an einer Podiumsdiskussion anlässlich einer Veranstaltung, die den Beweis erbrachte, dass eine fruchtbare Diskussion zwischen Psychoanalytikern/-analytikerinnen bzw. Psychotherapeuten/-therapeutinnen und Sozialwissenschafter/-innen zu diesen Themen sehr wohl möglich ist. Mein Titel »Ihre Klagen sind Anklagen …« stammt von Sigmund Freud: In »Trauer und Melancholie« beschrieb er 1917 subtil die Schwierigkeit der Melancholiker (für uns heute: der Depressiven). Sie können jene Menschen, von denen sie verlassen oder gekränkt wurden, nicht vergessen oder loslassen und daher auch nicht »nach dem Einfluss einer realen Kränkung oder Enttäuschung seitens der geliebten Person« symptomfrei weiterleben (Freud 1917: 434). Den Grund dafür sieht Freud in ihrer Unfähigkeit, auch die aggressiven Impulse gegenüber den verlorenen Liebesobjekten bewusst zu erleben. Bei Freuds Patient/innen sind die enttäuschenden Objekte Menschen, während die Klagen der heutigen Burnout-Betroffenen über ihre Kränkungen oder die mangelnde Anerkennung jetzt nicht mehr Liebesbeziehungen, sondern Arbeitsbeziehungen betreffen (wobei diese Arbeitsbeziehungen für viele wichtiger geworden sind als die privaten Beziehungen). In diesem Fall können zwar
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die aggressiven Strebungen gegen die Arbeitssituation bewusst erlebt werden, kaum aber die immer noch intensiv positive/libidinöse Besetzung der Arbeit! Aber auch heute sind die Klagen der Betroffenen Anklagen: »Burnout bezeichnet niemals bloß individuelles Leiden, sondern stets auch gesellschaftliche Pathologie; […] Wer Burnout sagt, spricht im Modus der Kulturkritik.« (Bröckling 2013: 179) Als Psychoanalytiker darf ich ergänzen: Viele Betroffene sprechen wohl im Modus der unbewussten Kulturkritik, aber auch die Psychiater/-innen haben im Rahmen des Burnout-Hypes die Kulturkritik wieder entdeckt: Auch ihre Klagen sowohl über inflationäre Verwendung und Funktionalisierung der »Selbst-Diagnose Burnout« als auch über aktuelle Arbeitsbedingungen sind oft als Anklagen zu verstehen!
I. Wohl keine ›Laien-Diagnose‹ bzw. Selbst-Etikettierung hat jemals so viel (mediale) Aufmerksamkeit erreicht wie die ›Nicht-Diagnose‹ Burnout: In den letzten Jahren wurde im deutschen Sprachraum mit Sicherheit über Burnout wesentlich mehr diskutiert und geschrieben als über alle anderen ›anerkannten‹ Diagnosen zusammen. In der International Classification of Diseases (ICD) als weltweit gültigem Diagnose-System der Weltgesundheitsorganisation WHO existiert Burnout auch weiterhin nur als Zusatz-Information »Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung«. Ebenso im aktuellen, erst im Mai 2013 veröffentlichten Diagnostic and Statistic Manual (DSM-5) der American Psychiatric Association. Der anbrandenden ›Flutwelle‹ von Selbstbeschreibungen so vieler Betroffener als Burnout-Opfer hielten speziell die Psychiater/-innen noch lange (fast beschwörend) die ›richtige‹ Diagnose entgegen: »Die Diagnose lautet ausnahmslos Depression!« So eine der führenden Expert/innen noch 2011 (Heuser 2011). Gleichzeitig aber boten immer mehr Kliniken bereits adaptierte Behandlungs-Module für Burnout-Opfer an, Spezialausbildungen in Richtung Stressbewältigung, Achtsamkeit etc. boomen. In einem Versuch, zumindest teilweise die Diskurshoheit in der BurnoutDiskussion für die Behandler/-innen zurückzugewinnen, veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie (DGPPN) anlässlich des Jahreskongresses im November 2012 ein Positionspapier zum Thema Burnout: Darin warnt die Fachgesellschaft »vor einem unwissenschaftlichen und unkritischen Gebrauch des Begriffs Burnout für quasi sämtliche psychischen Störungen, die im Zusammenhang mit einer Arbeitsbelastung stehen«. Es gebe auch weiterhin keinen Grund »in Deutschland aus der ICD-10 der WHO auszuscheren und mit dem Burnout-Begriff quasi eine
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neue, deutsche Krankheitsdefinition zu schaffen« (Berger et al. 2012: 12). Ein solcher diagnostischer deutscher Sonderweg würde auch das Risiko erhöhen, dass schwerer erkrankten Patienten/Patientinnen wirksame Therapien vorenthalten würden. Betont wird aber die Wichtigkeit von Burnout als »Risikozustand«, der zu Folgekrankheiten wie eben Depression und Angsterkrankungen führen kann, falls die andauernde Überforderung und der chronifizierte Stress nicht behandelt werden. Mehrfach wird im Positionspapier betont, dass durch die Burnout-Diskussion die Wichtigkeit der verschärften Arbeitsbedingungen und der erhöhten Stress-Load in Arbeitsprozessen als pathogene Faktoren deutlicher geworden seien (während sich die Psychiatrie in den Jahren davor eher auf individuelle/ biologische ätiologische Faktoren konzentriert hatte). Dementsprechend sehen die Autoren/Autorinnen dann auch Burnout-Prävention »nicht primär als Aufgabe des medizinischen Versorgungssystems, sondern der Sozialpartner, Politiker, Krankenkassen.« Zumindest angedeutet wird eine Relativierung der exogenen Ätiologie der Burnout-Symptomatik: »Gefordert ist auch der Einzelne. Er selbst kann Stressoren und Belastungen entgegenwirken und somit seine eigenen gesundheitlichen Ressourcen weniger gefährden.« (Ebd.: 13) Weitere Versuche zur Rückholung in eine innerfachliche Diskussion bildeten ein Themenheft der Zeitschrift Psychotherapeut vom März 2013 (dessen Editorial schon resignativ titelt: »Alles Burnout oder was?« [Cierpka/Kast/Henningsen 2013]) und zuletzt insgesamt sechs Artikel in der Juli-Nummer von »Der Nervenarzt« zum Thema. Dieses Periodikum ist die wohl einflussreichste Fachzeitschrift für Psychiater/innen in Deutschland. Bei aller Berechtigung einer konsequenten Verweigerung des Status einer ›offiziellen‹ Diagnose (und gleichzeitig vollem Verständnis für den Wunsch vieler Betroffener, ihren Leidenszustand ernst genommen zu sehen) stellt sich doch auch die Frage, welche Vorteile sowohl die Betroffenen als auch die behandelnden Psychiater/-innen bzw. Therapeut/-innen aus dieser prekären Situation eines massiven Leidenszustandes ohne diagnostisches Etikett gewinnen könnten? Für die Behandler/-innen ergibt sich durch die ›Burnout-Epidemie‹ eine massive Erweiterung ihres Patienten/Patientinnen-Klientels (heute oft auch »Kunden/Kundinnen« genannt). Viele Kur-Kliniken, psychosomatische Spezialeinrichtungen etc. (mit offenem Grenzbereich hinüber zu Wellness-Einrichtungen und esoterischen Entspannungs-Angeboten) haben sich bereits auf Behandlung von Burnout-Symptomatik spezialisiert und sind mit diesen Angeboten teilweise auch in neue, sozialökonomisch besser situierte Bevölkerungsschichten ›vorgedrungen‹. Die auch im DGPPN-Papier angedeutete Gefahr einer Zweiklassen-Gesellschaft bezüglich Stigmatisierung entspricht der resignativen Einschätzung vieler klinisch tätiger Kollegen/Kolleginnen: Schlimmstenfalls werden in
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Zukunft in der Psychiatrie die schwerer erkrankten (und immer noch stigmatisierten) Depressions-Patienten/Patientinnen behandelt, während die vornehmeren Spezial-Kliniken die »Burnout-Betroffenen« wieder in jene Leitungsfunktionen zurückführen dürfen, deren Anforderungen ihre Symptomatik primär ausgelöst haben. Auf Seite der Betroffenen aber ergibt sich durch die (vom Expertensystem teilweise übernommene) Selbst-Etikettierung als »Burnout-Opfer« die Möglichkeit, sich als intensiv leidend zu empfinden, gleichzeitig jedoch als nicht psychisch krank: Das Etikett Burnout liefert ja die Garantie einer rein exogenen Ätiologie der Symptomatik mit: Hier erkrankte nicht ein vielleicht doch etwas schwaches und nicht so widerstandsfähiges Individuum (wie es dem Selbstbild vieler Depressiver entspricht). Im Gegenteil: Ein gesundes, starkes und besonders leistungsbereites Subjekt wurde durch Über-Forderung Opfer unaushaltbarer Arbeitsbelastung! Dies erklärt – so meine These – den massiven Distinktions-Gewinn durch die Selbstbeschreibung als »Burnout-Opfer«.1 Erst seit kurzer Zeit wird die bisher so konsequent postulierte ausschließlich exogen-traumatische Ätiologie der Burnout-Symptomatik relativiert bzw. in Frage gestellt (so zuletzt von Rössler et al., Rau/Henkel sowie Hillert/Koch/ Lehr in der oben erwähnten Ausgabe von »Der Nervenarzt« [2013]). Diese (sozialpolitisch brisante) Einschätzung von depressiver bzw. Erschöpfungssymptomatik als exogen verursacht oder aber endogen (im Sinne von: persönlichkeitsbedingt, eher psychogen) kann man durch die Geschichte der Psychiatrie seit über hundert Jahren verfolgen:
II. Bereits vor über 100 Jahren gab es eine mit der aktuellen Situation annähernd vergleichbare Periode von ökonomischer Globalisierung und Reizüberflutung durch (auch damals schon als zu schnell empfundenen) technischen Fortschritt: Daher gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch vergleichbare Ängste bzw. ›Zeit-Diagnosen‹ bezüglich der Risiken dieser allzu großen Beschleunigung aller Lebensvorgänge: »By the 1860ies some psychiatrists stood ready to advance the extreme position that modern civilization by its very existence makes for nervousness.« (Gay 2002: 132) In seiner eleganten Studie über die Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts betont Peter Gay, dass sich fast alle damaligen Beobachter/-innen einig darüber waren, dass im »century of nerves« (ebd.) der Trubel des modernen 1 | Erst die letzten Jahrzehnte mit ihrer Popularisierung der diversen Trauma-Diskurse eröffneten erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, aus einem Opferstatus, aus einer Berufung auf erlittenes Unrecht symbolisches Kapital zu lukrieren.
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städtischen Lebens und der allzu schnelle Wandel der gesamten Lebens- und Arbeitsbedingungen einen rapiden Anstieg von Nervenerkrankungen bewirkte! Auch die Überforderung durch Reizüberflutung als ätiologischer Faktor wurde oft betont: »The feeling of having to take in more stimuli that one could readily assimilate – in short, nervousness – was generated« (ebd.: 145). Spätestens aber um 1880 wurde die »Nervosität« nicht nur zu einer Krankheit, sondern fast zu einem allgemeinen Kulturzustand erklärt: Das Grundlagenwerk veröffentlichte der New Yorker Nervenarzt George M. Beard mit Neurasthenia 1880 (ins Deutsche übersetzt bereits 1881 unter dem Titel Die Nervenschwäche [Neurasthenia], ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung). In den folgenden zehn Jahren erschienen im deutschsprachigen Raum über 100 Veröffentlichungen zu diesem Thema. Beard selbst hatte explizit postuliert, dass der erste und wesentlichste Grund der Nervosität in der modernen Zivilisation und den sie begleitenden Umständen liege. Unter diesen Umständen verstand man: Beschleunigung vieler Lebensbereiche durch Technik (Eisenbahn, Elektrizität, Telegraphie etc.), gestiegener Leistungsdruck im industriellen Kapitalismus, Hektik der reizüberfluteten Großstadt, Individualisierung der Gesellschaft und Repression von Emotionalität und Sexualität. Für Beard war die Neurasthenie ihrem Wesen nach eine nordamerikanische Neurose, verursacht durch die intensive wirtschaftliche Entwicklung, die den Arbeitsdruck steigerte und die »erschöpfende« Verdrängung von Gefühlen erforderte. Beard prophezeite jedoch, dass die Neurasthenie auch Europa erreichen sollte, sollte der alte Kontinent jemals »amerikanisiert« werden. Die Symptome der Neurasthenie wurden als komplex und in sich widersprüchlich beschrieben: Einer tiefen Erschöpfung der Nervenkraft stand die übersteigerte nervöse Reizbarkeit gegenüber, daneben litten die Patienten/Patientinnen unter multiplen physischen Symptomen wie Erröten, abnormem Schwitzen, Herzklopfen, Muskelzittern etc. Die Neurasthenie war damals als individuelle Diagnose und Selbst-Etikettierung, aber auch als ›Kulturdiagnose‹ ebenso beherrschend wie heute »Burnout«.2 Die Anerkennung der Neurasthenie als der modernen psychischen Erkrankung bedeutete auch die Durchsetzung eines Konzeptes von exogener Ätiologie dieser Störung: Nicht mehr die familiär-hereditäre »Degeneration« wurde für die Symptomatik verantwortlich gemacht, sondern die Beschleunigung und Reizüberflutung durch hektisches urbanes Leben nach der industriellen Revolution.
2 | Im Gegensatz aber zum Burnout ist Neurasthenie bis heute Bestandteil der offiziellen Diagnose-Systeme – etwa im ICD-10: F48.0 als eine von vielen »neurotischen Belastungs- und somatoformen Störungen« (ICD-10, 2001, Bd. 1: 384).
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Bereits wenige Jahrzehnte später schlug das ätiologische Pendel wieder in die Gegenrichtung aus: Statt der exogen bedingten nervösen Erschöpfung war für Sigmund Freud und sein psychoanalytisches Modell des Konfliktes zwischen den intrapsychischen Instanzen Es, Ich und Über-Ich wieder der endogene Faktor zentral. Auch für die entstehende moderne positivistischphänomenologische Psychiatrie stand – hier aus biologischen Erwägungen – neuerlich die endogene Ätiologie im Mittelpunkt. Und so kann diese Pendelbewegung zwischen vorwiegend endogener oder aber exogener Ätiologie der »Nervosität« bis heute nachgezeichnet werden: In den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts betonte die Antipsychiatrie und die Psychiatrie-Kritik wieder den exogenen, gesellschaftlichen Anteil an der Ätiologie psychischer Störungen, ab den Neunzigerjahren wurde der Trauma-Diskurs immer wichtiger – ebenfalls mit Betonung der exogenen ätiologischen Faktoren. Im Gegensatz dazu bestärkten die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und ein beginnendes Selbstbild des Menschen als »neurochemisches Selbst« (Rose 2012) wieder Konzepte der endogenen Verursachung psychischer Störungen – bis zuletzt die »Burnout-Epidemie« wieder eine praktisch ausschließlich exogene Ätiologie postulierte.
III. Statt eines innerpsychischen Konfliktes (wie in den klassischen psychodynamischen Krankheitskonzepten konzipiert) erleben die Patienten und Patientinnen die Überforderung durch äußere »Stressoren« als entscheidend. Das Leiden daran betrifft heute nicht mehr nur die »moralische Elite« der ehrenamtlichen Helfer (wie im klassischen ersten Fallbeispiel von Freudenberger 1974), auch nicht mehr ›nur‹ die Professionellen im psychosozialen/pädagogischen Feld (wie noch früher von Maslach und Jackson [1981] postuliert) – nach einer ersten Ausweitung auf die »Leistungs-Elite« der Manager/-innen kann heute praktisch jeder/jede sich aufgrund der Arbeitsbedingungen von Burnout betroffen fühlen. Dies mag auch daran liegen, dass die noch vor wenigen Jahrzehnten auf einzelne Professionen beschränkte Belastung durch »Gefühls-Arbeit« (im Sinne von Arlie Hochschild [2008]) heute ebenfalls ubiquitär geworden ist: Die Verpflichtung zur Steuerung und Kontrolle speziell der eigenen Affekte und die Notwendigkeit zur durchgehend freundlich-gelassenen und wertschätzenden Grundhaltung betrifft heute praktisch alle Berufstätigen, die auch nur irgendwie ›mit Menschen zu tun haben‹. Im Zeichen der professionellen Beziehungsgestaltung nach dem Bild der heute für alle Branchen empfohlenen Verkäufer/-innen/Käufer/-innen-Konstellation sollen wir immer verständnisvoll sein und freundlich lächeln … Dies führt speziell in
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jenen Branchen so oft zum zynischen Umgang mit Klient/innen und dann zur Erschöpfung, in denen die Asymmetrie des Affektausdrucks den professionellen Handlungen inhärent ist: Lehrer/-innen, Pflegepersonal, Ärzte/Ärztinnen etc. haben ebenso wie alle anderen Menschen das Bedürfnis, für ihre Leistung (inklusive affektiver Zuwendung) von ihren Patienten/Patientinnen/Klienten/ Klientinnen/Schülern und Schülerinnen geschätzt, vielleicht sogar geliebt zu werden – zumindest aber wünschen sie sich von ihren Klient/innen deren Dankbarkeit, deren Lob! Dies allerdings wird von den zusehends mündigen (und daher oft anspruchsvolleren) Klienten/Klientinnen/Patienten/Patientinnen tendenziell seltener gewährt als in früheren Zeiten mit noch unangetastetem Experten-/Expertinnen-Status. So bleibt die Emotionsarbeit der Profis in den helfenden Berufen oft von Klienten-/Klientinnenseite unbedankt, die Anerkennung müsste also aus anderen Quellen kommen: Zum Beispiel durch Lob, Anerkennung und Zuwendung von Vorgesetzten. Bekanntlich wird auch dies nicht an allen Arbeitsplätzen ausreichend erteilt. Die logische Folge bei den Expert/innen sind Gratifikationskrisen am Arbeitsplatz (nach dem Modell von Siegrist 1996). In den rezenten Arbeiten von Psychiater/-innen und Therapeut/innen zum Thema Burnout wird oft auf diese Gratifikationskrisen (und ihre biologischen Folgewirkungen) verwiesen, die als Prädiktoren für Erschöpfungszustände leichter zu operationalisieren sind als das bezüglich der Symptomatik extrem ausgeweitete Burnout-Kon strukt. Zur Erklärung speziell der frühen Phasen von Burnout-Prozessen wird sowohl das Modell von Siegrist als auch das Anforderungs-Kontroll-Modell gerne herangezogen: A) Anforderungs-Kontroll-Modell bzw. Demand/Control/Support-Modell (Karasek/Theorell 1990): Diese Autoren postulieren, dass der entscheidende Langzeit-Stressor in Berufssituationen ein Gefühl der eingeschränkten persönlichen Kontrolle beim professionellen Handeln wäre – und damit ein Erleben von mangelnder Selbstwirksamkeit: Wenn im Job hohe Anforderungen (»high demand«) einem geringen Entscheidungsspielraum entgegenstehen (»low control«) und dann noch wenig Unterstützung von Vorgesetzen kommt (»low support«) wird dies häufig zum Burnout führen. Diese pathogene Wirkung eines eingeschränkten Entscheidungsspielraums (selbst wenn nur subjektiv empfunden) konnten auch Rössler et al. 2013 in einer groß angelegten Studie bestätigen. B) Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist seit 1996): Siegrist beschreibt Arbeit im Wesentlichen als einen Tauschprozess zwischen Leistung und Gegenleistung. Wird aber der Grundsatz der Gerechtigkeit bei diesem Tausch verletzt – indem z.B. einer hohen Verausgabung keine angemessene Belohnung gegenübersteht – dann stellt dies für die betroffene Person eine »Gratifikationskrise« dar, ausgelöst durch das Ausbleiben erwarteter und legitimer Belohnungen. Dabei geht es nicht nur um materielle Gratifikation
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(Gehalt), mindestens ebenso wichtig sind Sicherung des sozialen Status von Beschäftigten (Aufstiegs-Chancen, Arbeitsplatzsicherheit) sowie selbstwertstabilisierende Gratifikation in Form von Wertschätzung und Anerkennung des Geleisteten – insbesondere durch Vorgesetzte. Eine chronische »effort-reward-inbalance« (Siegrist 2013: 113) gefährdet das Selbstwertgefühl und erhöht dadurch das Burnout-Risiko. Das biologische Substrat für beide Modelle A und B wäre eine chronische Dysregulation im stressverarbeitenden System des Körpers: Dies führt zu langfristig erhöhten Cortisol-Spiegeln im Blut, diese wiederum stellen (nachgewiesenermaßen) ein erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, Typ-II-Diabetes etc. dar – und vor allem auch für Depression. Trotz aller Leitartikel und aller Einigkeit im Beschreiben von BurnoutSymptomatik als Folge des individuellen, fast aber auch schon kollektiven Leidens an den Zwängen der gegenwärtigen Arbeitswelt konzentrieren sich die meisten Ansätze zur Prävention auf »Verhaltensprävention« – also auf Modifikation der individuellen Risikofaktoren: 86 Prozent der Studien bezüglich Prävention von Stress-Belastung und Burnout beziehen sich auf die individuelle Ebene, wobei meist kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen empfohlen werden (Walter/Krugmann/Plaumann 2012). Die meisten der empfohlenen Konzepte zur Stress-Reduktion sind bezüglich ihres Erfolges (noch) nicht belegt – ganz im Gegensatz zu den speziell im angelsächsischen Raum dominierenden Ansätzen zur »Verhältnis-Änderung«: Dabei ist der Ansatzpunkt eine Veränderung der Arbeitsbedingungen, um diese für die Arbeitnehmer/innen erträglicher zu gestalten. So weist z.B. eine europaweite Studie an älteren Erwerbstätigen (Survey of health ageing and retirement in Europe [SHARE]) darauf hin, dass das mittlere Level von Arbeitsstress in einem EU-Land umso höher ist, je geringer dessen Investitionen in wichtige arbeitspolitische Programme sind (zit.n. Siegrist 2013: 115). Glißmann und Peters berichten über eine Initiative von Beschäftigten und Betriebsräten bei IBM: Dort verzweifelten die Angestellten an jenen Arbeitsbelastungen, die sie sich selbst auferlegten. So beschlossen sie, ihr schlechtes Gewissen über zu geringe Motivation etc. in »Anstoß-Texten« niederzuschreiben und sich so auszutauschen über das ständige Insuffizienzgefühl (es ist nie genug), die Wendung in ein kollegiales Gegeneinander (die anderen arbeiten zu wenig) und die daraus resultierenden Spannungen: »Ich selbst bin unter der neuen Form unternehmerischer Herrschaft unvermeidlichen Selbsttäuschungen unterworfen, die ich selbst bearbeiten muss. […] Aber diese Bearbeitung gelingt mir nicht allein, sondern nur in der Verständigung mit anderen Individuen.« (Zit. lt Brenssell 2013: 22) Diese Solidarisierungs-Anstrengung der vereinzelten Hochleister wirkt der Idealisierung der Konkurrenz und Autonomie entgegen und ermöglicht das Spüren gegenseitiger Abhängigkeit nicht als Schwäche, sondern auch als ein stützendes Element.
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Die Relation zwischen exogenen Belastungsfaktoren und individuellen ›endogenen‹ Risikofaktoren, insbesondere der Mechanismus einer Transmission der äußeren Belastungen in intrapsychische bzw. internalisierte Strukturen oder auch Symptome bleibt aber notwendigerweise komplex: Für die »Internalisierungs-Richtung« hat bereits 1997 Pierre Bourdieu bemerkt: »Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, die heute sämtliche Arbeitnehmer in Mitleidenschaft zieht, einschließlich derjenigen, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind… […] Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, der Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen.« (Bourdieu 1997: 100) Spätestens durch die massive mediale Beschäftigung mit diesen Phänomenen allerdings ist in den letzten Jahren auch die Gegenrichtung (von innen nach außen) wichtiger geworden: Unabhängig von den statistisch erhebbaren Daten, ja oft im Widerspruch zu diesen »objektiven Fakten« werden die subjektiven Befindlichkeiten der Betroffenen zusehends als relevant eingeschätzt: So kommt Martin Dornes am Ende seines Buches zur Modernisierung der Seele in einer zusammenfassenden Einschätzung der aktuellen Befindlichkeiten von Kindern, Erwachsenen, Familie und deutscher Gesellschaft zum Schluss, dass alles nicht so schlimm sei wie in der medialen Darstellung: »Die Daten geben keine Verschlechterungsdiagnose her«. Aber schon im nächsten Satz folgt die resignierende Relativierung: »[…] aber die gefühlte Wirklichkeit widerspricht den Daten« (Dornes 2012a: 427).3 Neben der gefühlten Wirklichkeit konnte man im Spiegel (Spiegel-Online am 30.01.2012) auch schon von »gefühlten Fakten« lesen. Dazu nochmals Martin Dornes im Interview fast schon resignierend auf die Frage, ob die empirischen Daten die tatsächliche Lage vielleicht nur unvollständig abbilden könnten? »Das kann sein. Aber eine Gegenfrage: Was wäre denn die Tiefenwirklichkeit, die atmosphärisch gespürt, aber in empirischen Befunden nicht hinreichend erfasst werden kann? […] Wollen wir atmosphärischen Labilitätseindrücken, die manchmal auch etwas Richtiges erfassen, den Raum einräumen, den wir ihnen heute zubilligen, oder ihnen sogar den Vorzug geben vor empirischen Stabilitätsbefunden?« (Dornes 2012b: 34) Die Frage scheint mir fast schon beantwortet: Ob wir dies als Experten/ Expertinnen nun begrüßen oder nicht – die »atmosphärischen Labilitätseindrücke« dominieren die Diskussion: Einer »hyper-objektiven« Naturwissenschaft bzw. Neurowissenschaft mit ihrem fast schon imperialen Anspruch 3 | Vgl. zu dieser neutralen bis positiven Bewertung der »gefühlten Wirklichkeit« die eindeutig negative Einschätzung des vergleichbaren Begriffs der »gefühlten Wahrheit« bzw. »truthiness« in den USA (z.B. in Westen 2013: 108f.).
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auf Deutungshoheit steht so eine Absolutsetzung der subjektiven Eindrücke gegenüber: Daher fällt den Therapeuten/Therapeutinnen eine Positionierung zwischen Szientismus und der ›Stimme des Bauches als Letztbegründung‹ zusehends schwerer.
IV. Aber die Positionierung speziell der Psychotherapeuten/-therapeutinnen bei der Gewichtung äußerer und innerer/individueller Faktoren im Rahmen ihrer Einschätzung und Behandlung der Erschöpfungszustände ihrer Patienten/ Patientinnen bleibt auch schwierig in einem umfassenderen Sinn: Auf naturwissenschaftlicher Ebene scheint die uralte Streitfrage von Anlage vs. Umwelt bzw. nature or nurture weitgehend entschieden – weil obsolet geworden: Bei der Ätiologie praktisch aller psychischen Erkrankungen wird von den meisten Autoren/Autorinnen zunehmend die komplexe Interaktion zwischen Anlage-Faktoren und Umwelt-Bedingungen hervorgehoben: In den meisten Fällen wird auf epigenetischer Ebene entschieden, welche genetischen Faktoren durch fördernde oder belastende Umweltbedingungen zum Tragen kommen bzw. auf molekularer Ebene »exprimiert« werden. Sehr eindrücklich wurde dieses komplexe und lebenslange Zusammenspiel von Anlage und Umwelt von Glen Gabbard am Beispiel der Persönlichkeitsstörungen beschrieben: »It’s neither nature nor nurture – it’s always nature via nurture!« (Gabbard 2005: 649) Seit Jahrzehnten häufen sich auch die Belege dafür, dass die elterliche Liebe den wichtigsten fördernden Umweltfaktor darstellt – oder allgemeiner: die Anerkennung in allen frühen zwischenmenschlichen Beziehungen. Erst dadurch werden Kinder resilient, d.h. widerstandsfähig gegen all die belastenden Faktoren ihrer Umwelt – resilient auch gegen spätere Belastungen am Arbeitsplatz. Wer also früh Anerkennung erfahren hat, wird später nicht so verzweifelt auf immer neue Zufuhr von Lob und narzisstischer Gratifikation angewiesen sein – wird daher auch sein Selbstwertgefühl leichter autonom steuern können. Wer aber als erwachsener Arbeitnehmer/-in noch hungrig nach Anerkennung ist, dem fällt die Befriedigung dieses Bedürfnisses unter den heutigen Arbeitsbedingungen immer schwerer: Axel Honneth (2010) und in seiner Nachfolge zuletzt Hartmut Rosa (2012) beschreiben neben anderen Allokations-Kämpfen auch eine starke Konkurrenz um die Mangel-Ressource-Anerkennung als Signatur unseres Zeitalters: Heute gebe es kaum mehr »positionelle« Anerkennung (z.B. für einen Lehrer/eine Lehrerin, Arzt/Ärztin etc. schon aufgrund seiner Position bzw. Ausbildung und Erfahrung) – hingegen wird Anerkennung fast nur mehr nach aktueller »Performanz« gegeben: Im Falle des Professors/der Professorin zählen nur mehr die Publikationen der letzten Jahre oder die aktuell akquirierten
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Drittmittel, der Arzt/die Ärztin bzw. der Therapeut/die Therapeutin muss seine Kompetenz in jeder Behandlung neu beweisen etc. etc. Daher eine vorläufige These: Vielleicht könnte man dann Burnout auch beschreiben als einen Versuch, doch noch Anerkennung für die ›Alt-Leistungen‹ zu erreichen (die ja kaum mehr ›gelten‹): Und zwar dadurch, dass man jetzt die Anerkennung für das Arbeitsleid (wenn schon nicht für die früher geleistete Arbeit) sucht – und im Falle der Veröffentlichung einer Burnout-Symptomatik oft auch findet. Man kann die Selbstbeschreibung als Burnout-Opfer auch lesen als eine subversive Verwendung des rhetorischen Arsenals der neoliberalen Optimierungsgesellschaft: Unsere Wettbewerbsgesellschaft funktioniert nur durch »dynamische Stabilisierung«: Sie muss immer mehr wachsen, schneller werden, innovativer werden etc. Dies ist auf ökonomischer Ebene schwer genug zu erreichen bzw. durchzuhalten, auf subjektiver Ebene jedoch so gut wie unmöglich: Da ein Subjekt nicht beliebig beschleunigt, vergrößert, optimiert werden kann – muss es »Desynchronisations-Probleme« geben zwischen dem immer schnelleren Rhythmus des modernen Lebens und der »Eigenzeit« der nicht beliebig zu beschleunigenden Subjekte (Rosa 2012). Parallel zur Dynamik des »Immer schneller« im Arbeitsprozess gibt es auch den Zwang zum »Immer mehr« bezüglich unseres Konsum- und Freizeitverhaltens: Möglichst alle Optionen müssen ausprobiert werden, immer mehr Angebote konsumiert etc. – sodass auch immer öfter über »FreizeitStress« geklagt wird. Am Ende wird ein Zustand der Erschöpfung, der Lähmung und des vielzitierten »rasenden Stillstands« beklagt. Da jegliche Schwäche, ja schon jedes bewusste Spüren negativer Affekte in der allzeit so positiv gestimmten Rhetorik unserer Zeit als Versagen eingeschätzt wird, sehe ich die Selbstbeschreibung der »Ausgebrannten« als subversiven Versuch, das rhetorische und begriffliche Instrumentarium des überfordernden Systems gegen eben dieses System zu wenden: Die Betroffenen sind erschöpft und letztlich arbeitsunfähig nicht durch zu wenig, sondern durch zu viel Anstrengung – dabei aber eben nicht krank (und daher potenziell schwach), sondern gesund, aber erschöpft nach allzu großer Leistung: Sie empfinden sich subjektiv als ausgepowerte Helden auf dem Kampfplatz des Arbeitslebens und nicht als kranke »Minderleister«! Was sie überfordert hat, muss jeden überfordern – es war eben »objektiv« zu viel – wodurch sie auch den gefährlichen Konsequenzen eines neuen Begriffs von Autonomie entgehen: Sie waren eben nicht ihres eigenen Glücks/Unglücks Schmied, sondern Opfer des Systems (siehe oben) … Man könnte also in ökonomischen Termini formulieren: Burnout wäre die Anmeldung eines ›psychischen Privat-Konkurses‹ des unternehmerischen Egos als Folge nicht mehr einbringbarer ›Anerkennungs-Außenstände‹. Wenn diesen erschöpften Kriegern/Kriegerinnen der Hochleistungs-Gesellschaft
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dann Psychotherapie empfohlen wird, hören wir oft die resignative Einschätzung: Was kann das noch bringen?
V. Grob vereinfacht kann man beim Umgang der Therapeuten/Therapeutinnen mit den Symptomen von Erschöpfung, Überforderung und Burnout drei unterschiedliche Ansätze unterscheiden: I a) Psychotherapie als Optimierungs-Agentur entspricht dem aktuellen Trend, statt Therapie lieber Supervision, Coaching oder Beratung anzubieten: Therapeutisch sollen hier Ratschläge zur Steigerung der Effizienz und zum besseren Funktionieren wirken – zur Leistungssteigerung sowohl in Arbeitszusammenhängen als auch in emotionalen Beziehungen. (Coaching wird lieber angenommen als Supervision, Supervision wiederum deutlich lieber als Therapie …) Ich sehe hier eine Kollusion zwischen Therapeuten/Therapeutinnen und Patienten/Patientinnen bzw. eine geteilte Tendenz, die Ursache »irgendwo da draußen« zu suchen – wobei immer ein exogenes Trauma im Fokus steht und kein intrapsychischer Konflikt … I b) Psychotherapie als Reparaturwerkstätte: Während Möglichkeit I a sich den (laut Selbsteinschätzung) starken, aber durch übergroßen Einsatz überforderten Subjekten und deren Versagensängsten zuwendet, wäre Möglichkeit I b ein Angebot für die Unfallopfer der Konkurrenzgesellschaft bzw. die schon von Exklusion bedrohten Individuen: Durchaus mit empathisch-warmherzigem Zuspruch und viel Verständnis und Stärkung durch Ressourcenorientierung etc. werden die Betroffenen mittelfristig wieder in die Spur gebracht und sollen wieder am Arbeitsleben teilnehmen können. Natürlich gibt es fließende Übergänge zwischen den Ansätzen I a und I b, je nach ›Zielgruppe‹ bzw. sozioökonomischer Schicht: Idealtypisch findet die Optimierung der Mittelschicht-Klienten/-Klientinnen in der Privatordination statt, während die psychiatrische Klinik als Reparaturwerkstätte für die oft bereits ›abgehängten‹ Unterschicht-Patienten/Patientinnen fungiert. Bei allen Unterschieden haben sowohl die Optimierungsansätze als auch die ReparaturVersuche gemeinsam, dass sie sich auf das Verhalten der Betroffenen konzentrieren und die Arbeitsverhältnisse (oft durchaus verständnisvoll, aber co-resignativ) als im Wesentlichen unveränderbar hinnehmen. II) Ein qualitativ anderer Ansatz würde versuchen, durch Psychotherapie die Fähigkeiten der Patienten/Patientinnen zur Selbstreflexion, insbesondere zur Differenzierung zwischen äußeren und inneren »ätiologischen Anteilen« bzw. Symptom-Begründungen zu fördern. Hier kommen also sowohl die äußere Realität mit erhöhten Arbeitsanforderungen als auch deren Internalisierung durch die symptomatisch gewordenen Arbeitnehmer/-innen in den Fokus: Da-
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durch wird auch das Spüren einer Spannung, eines intrapsychischen Konfliktes im Subjekt möglich – was primär verunsichern kann. Aber nur eine emotional fundierte Selbstreflexion, ein bewusstes affektives Erleben des eigenen Leidensweges als konflikthaftes Geschehen macht es möglich, auch die ›bösen‹ bzw. heutzutage eher schwachen, ohnmächtigen Persönlichkeitsanteile im Bewusstsein zu halten und nicht (wegen übergroßer Scham) sofort wieder verdrängen zu müssen. So erhalten auch diese ungeliebten Selbst-Anteile eine Art ›Stimmrecht‹ in unserem intrapsychischen Parlament – im Sinne einer primär intrapsychischen Toleranz. Dadurch können alte ›eingefrorene‹ Konflikte wieder verflüssigt werden, neue Entscheidungs-Optionen eröffnet, der Patient/die Patientin kann sich als selbstwirksam erfahren. In einem zweiten Schritt ermöglicht diese intrapsychische Anerkennung der abgelehnten Selbstanteile im Sinne einer »Demokratisierung des Selbst« bei vielen Menschen auch eine interpersonale Toleranz gegenüber anderen Menschen, Mitgefühl auch für deren Schwäche. Hier sehe ich die Nahtstelle zwischen individuellen und sozialen Konflikten: Wenn ein Individuum sich nicht als lebenslang und »unheilbar« konflikthaftes Subjekt begreifen kann, besteht die Gefahr, dass auch soziale und politische Fragen für diesen Menschen nicht als Konflikte – als kompromisshaft lösbare Konflikte – erscheinen. Unsicherheit und Ambivalenz können kaum toleriert werden. Das wiederum bewirkt eine Haltung von Unterwerfungsbereitschaft gegenüber den Imperativen vermeintlicher »Sachzwänge«. Der Philosoph der Anerkennung, Axel Honneth, kommt von einem anderen Ausgangspunkt zu ähnlichen Ergebnissen und bezeichnet die »intrapsychische Toleranz« als Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratie überhaupt: »dass die BürgerInnen einer zivilen Demokratie zur Mitwirkung am konfliktreichen Prozess der öffentlichen Meinungsbildung nur dann in der Lage sind, wenn sie in ihrer eigenen Entwicklung die Erfahrung intrapsychischer Konflikte haben machen können, die ihnen für die Tatsache des sozialen Dissenses gewissermaßen einen Verständnishorizont verschafft.« (Honneth 2004: IX).4 Es wäre also eine auch sozialpolitisch wichtige Forderung, dass der Verständnishorizont der Therapeut/innen jenseits von Optimierung und Reparatur sowohl intrapsychische als auch interpersonelle und gesellschaftliche Konflikte im Blick behält. Eine Fokussierung ausschließlich auf einen dekontextualisierten Homo oeconomicus kann die Individualisierung und Pathologisierung gesellschaftlicher Probleme nur fördern, statt diese Entwicklung zu problematisieren. Daher bleibt die Tätigkeit der Therapeut/innen eine eminent
4 | Bezeichnenderweise stammt dieses Zitat aus Honneths Einleitung zu Alain Ehrenbergs Das erschöpfte Selbst (Ehrenberg 2004: I-IX).
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politische – auch und gerade dann, wenn sich Ärzte/Ärztinnen oder Therapeuten/Therapeutinnen als ›unpolitische‹ Experten/Expertinnen verstehen.
L iter atur Beard, George M. (1880): A practical treatise on nervous exhaustion (Neurasthenia), its symptoms, nature, sequence, treatment, New York: W. Wood. Berger, Mathias et al. (2012): Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPPN) zum Thema Burnout, online unter: www.dgppn.de Bourdieu, Pierre (1997): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion, Konstanz: KUV-Verlag. Brenssell, Ariane (2013): »Psychosoziale Folgen der Finanzkrise und Diskurse der Pathologisierung«, in: Kerbe. Forum für soziale Psychiatrie 31 (3): S. 20-23. Bröckling, Ulrich (2013): »Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad. Konturen einer Zeitkrankheit«, in: Neckel, Sighard/Wagner, Greta (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp, S. 179-200. Cierpka, Manfred/Kast, Verena/Henningsen, Peter (2013): »Alles Burnout oder was?«, in: Der Psychotherapeut 58 (2), S. 109. Dornes, Martin (2012a): Die Modernisierung der Seele. Kind/Familie/Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Fischer Dornes, Martin (2012b): »Die meisten Menschen sind nicht überfordert. Martin Dornes im Gespräch«, in: Psychologie heute (5), S. 30-35. Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus. Freud, Sigmund (1917): »Trauer und Melancholie«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 428-446. Freudenberger, Herbert (1974): »Staff burnout«, in: Journal of Social Issues 30 (1), S. 159-165. Gabbard, Glen (2005): »Mind, Brain, and personality disorders«, in: American Journal of Psychiatry 162, S. 648-655. Gay, Peter (2002): Schnitzler’s Century. The making of middleclass culture 1815-1914, New York: Norton. Heuser, Isabella (2011): »Burnout ist eine Form der Depression«, in: Psychologie heute 12, S. 29-34. Hillert, A./Koch, S./Lehr, D. (2013): »Das Burnout-Phänomen am Bespiel des Lehrerberufs. Paradigmen, Befunde und Perspektiven berufsbezogener Therapie- und Präventionsansätze«, in: Der Nervenarzt 84 (7), S. 806-812.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Christina von Braun ist Kulturtheoretikerin, Autorin und Filmemacherin sowie Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Gründungleiterin des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und wurde 2013 mit dem Sigmund Freud Kulturpreis ausgezeichnet. Zu ihrem Werk gehören neben zahlreichen Büchern und Aufsätzen zur Geistes-, Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte mehr als fünfzig Filmdokumentationen. Jüngste Publikationen: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte (2012), Nicht ich. Logik Lüge Libido (1985/2009), Glauben, Wissen und Geschlecht in den drei Religionen des Buches (2009) sowie mit Bettina Mathes Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen (2007). Maximilian Dehne promoviert am Max-Weber-Kolleg in Erfurt zum Thema Soziologie der Angst. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die Soziologie der Emotionen, interdisziplinäre Angstforschung, Attributionsforschung sowie Theorien dynamischer Systeme und sozialpsychologische Fragen. Monica Greco arbeitet als Lektorin für Soziologie am Goldsmiths College der Universität London. Sie ist Autorin des Buches Illness As a Work of Thought – A Foucauldian Perspective on Psychosomatics (Routledge 1998) und zahlreicher Beiträge über verschiedene Aspekte der Psychosomatik, der Medical Humanities sowie des Vitalismus. Greco ist Mitglied der Alexander von Humboldt Stiftung und derzeit Sekretärin der UK Alexander von Humboldt UK Association. Rainer Gross ist Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Er arbeitet als Chefarzt der psychiatrischen Abteilung in Hollabrunn/Niederösterreich und als Psychotherapeut in freier Praxis in Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte (auch als Seminarleiter in vielen Fortbildungen der letzten 15 Jahre) sind die Anwendung psychodynamischer Konzepte in der Akut-Psychiatrie sowie das Themenfeld Psychiatrie/ Psychoanalyse und Film; neben zahlreichen Aufsätzen publizierte er Der Psychotherapeut im Film (Kohlhammer-Verlag 2012).
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Un-Wohl-Gefühle
Linda Verena Heinemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für medizinische Psychologie der Goethe-Universität Frankfurt und als psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis tätig. Sie hat in Frankfurt a.M. Psychologie studiert und wurde mit einer neurowissenschaftlichen Arbeit ebendort promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klinische Psychologie sowie gesellschaftlicher Konzeptionen von psychischer Krankheit und Gesundheit. Torsten Heinemann ist Marie Curie Fellow an der University of California, Berkeley und Juniorprofessor für Soziologie an der Universität Hamburg. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaften und Psychologie in Frankfurt a.M. und promovierte mit einer Arbeit zur Popularität der Neurowissenschaften in der Gegenwartsgesellschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Soziologische Theorie, Wissens- und Wissenschaftssoziologie, Medizinsoziologie, Kultursoziologie und Wissenschaftskommunikation. Elisabeth Mixa ist Soziologin, freie Wissenschaftlerin und Psychotherapeutin in Ausbildung. Sie ist Initiatorin und Projektleiterin des transdisziplinären Symposiums »Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten« (Wien 2013) und Vorsitzende von Imagine. Verein für Kulturanalyse. Forschungsschwerpunkte: Gesundheits-, Emotions- und Kultursoziologie, Geschlechtertheorien. Publikationen: zuletzt bei Turia + Kant herausgegeben mit Patrick Vogl (2012) E-Motions. Transformationsprozesse in der Gegenwartskultur. Sarah Miriam Pritz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Soziologie und soziale Ungleichheit an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Zu den Forschungsschwerpunkten der Germanistin und Soziologin gehören die Emotions- und Kultursoziologie sowie Methoden und Methodologien qualitativ-empirischer Sozialforschung. Ilka Quindeau ist Psychologin und Soziologin und arbeitet als Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DPV/IPV) in eigener Praxis sowie als Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Fachhochschule Frankfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechter-, Biografie- und Traumaforschung. Zuletzt erschienen bei Klett-Cotta: Männlichkeiten – Wie weibliche und männliche Psychoanalytiker Jungen und Männer behandeln (2014) zusammen mit Frank Dammasch sowie Verführung und Begehren – die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud (2008). Jüngste Veröffentlichung im Psychosozial Verlag: Sexualität (2014). Derzeit arbeitet sie v.a. an einer Monografie auf Basis des Forschungsprojekts Trauma im Alter – Spätfolgen von Krieg und Nationalsozialismus (Beltz-Verlag 2015).
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
August Ruhs ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychoanalytiker (IPV), Gruppenpsychoanalytiker und Psychodramalehrtherapeut. Er ist Vorsitzender des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse, der Tiefenpsychologischpsychoanalytischen Dachgesellschaft sowie Mitbegründer und Vorsitzender der Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule. Bis 2011 war er stellvertretender Leiter der Universitäts-Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinuniversität Wien. Ruhs veröffentlichte zahlreiche Publikationen sowie Übersetzungen aus dem Bereich der klinischen, theoretischen und angewandten Psychoanalyse; er ist Mitherausgeber der Zeitschrift texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. Birgit Sauer arbeitet als Universitätsprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Die Forschungsschwerpunkte der Politikwissenschaftlerin sind Gender- und Governance-/Critical Governance Studies, Vergleichende Geschlechterpolitikforschung, Demokratie und Differenz, Staats-, Demokratie- und Institutionen-Theorien sowie Emotionen und Politik. Zu diesen Themen hat Sauer umfangreich geforscht und publiziert. Christian von Scheve ist Juniorprofessor für Soziologie und Leiter der Arbeitsgruppe Soziologie der Emotionen am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Zudem ist er Forschungsprofessor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Emotionen, Kultur- und Wissenssoziologie, Wirtschaftssoziologie und Sozialpsychologie. Zu den aktuellen Veröffentlichungen gehören Collective Emotions (hg. mit Mikko Salmela, Oxford University Press 2014) und Emotions and Social Structures: The Affective Foundations of Social Order (Routledge 2013). Elisabeth Skale ist Fachärztin für Psychiatrie, Psychoanalytikerin/Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) und Lehranalytikerin. Derzeit leitet sie den Lehrausschuss der WPV und das Department Theorie/Geschichte/Kultur der Wiener Psychoanalytischen Akademie. Außerdem arbeitet sie als Psychoanalytikerin in freier Praxis. Paul Stenner war nach seinem PhD an der Universität Reading an diversen britischen Universitäten tätig und ist heute Professor für Sozialpsychologie an der britischen Open University. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Emotionen, Menschenrechte, Lebensqualität und aktives Altern; Stenner bevorzugt Prozess-Ansätze. Unter zahlreichen Publikationen u.a. mit Steve Brown Psychology without foundations: history, philosophy and psychosocial theory (Sage 2009). Mit Monica Greco gab er The emotions: a social science reader (Routledge 2008) heraus.
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Un-Wohl-Gefühle
Nadine Teuber hat im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Geschlecht als Wissenskategorie am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema Das Geschlecht der Depression promoviert (die Arbeit ist 2001 bei transcript erschienen). Die Psychologin ist Lehrbeauftragte am Arbeitsbereich Psychoanalyse der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Psychoanalytikerin in Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (FPI). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechterkonstruktionen und Krankheit, Trauma und Antisemitismus. Markus Tumeltshammer arbeitet als Soziologe mit dem Fokus auf bildungsund kultursoziologische Fragestellungen. Er ist Mitarbeiter der Studienprogrammleitung Geschichte an der Universität Wien.
X-Texte bei transcript Kai Hafez
Freiheit, Gleichheit und Intoleranz Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas
2013, 376 Seiten, kart., 29,80 E, ISBN 978-3-8376-2292-8 Wo steht der Islam in Deutschland und in Europa? Dieser Band gibt den ersten Überblick über die Integration des Islam. Er zeigt, dass die liberalen Gesellschaften des Westens im Umgang mit dem Islam weit hinter ihren Ansprüchen zurückbleiben und sich grundlegend neu erfinden müssen. »Das Buch formuliert ein paar unangenehme Wahrheiten. [Eine] außerordentlich faktenreiche, umfassende, wissenschaftliche Monographie.« (SWR2 – Die Buchkritik, 23.8.2013) »Kompakte Informationen und der Quellenreichtum machen das Buch zu einer aufklärerischen Lektüre, die analytischen Tiefgang und Leidenschaft bietet.« (Deutschlandradio Kultur –Lesart, 11.08.2013) »Kai Hafez geht den brennenden Gesellschaftsfragen unserer Zeit auf den Grund.« (Wiener Zeitung, 16.04.2013)
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Globaler lokaler Islam bei transcript Sabine Schmitz, Tuba Isik (Hg.)
Muslimische Identitäten in Europa Dispositive im gesellschaftlichen Wandel
Dezember 2014, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,99 E, ISBN 978-3-8376-2561-5 In vielen Teilen Europas sind Muslime heute Staatsbürger des jeweiligen Landes und ein Teil der jeweiligen Gesellschaft. In der Folge begegnen sie häufig einem medial, politisch oder auch gesellschaftlich forcierten religiösen »Identifikationsvordruck«, der auf vielfältige Weise Rahmungen für ihre Selbstdefinition bzw. ihr Selbstverhältnis setzt. Diese Strukturen bilden ein heterogenes Netz aus diskursiven und nicht-diskursiven Elementen. Aus unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Perspektiven untersuchen die Beiträge des Bandes diese Dispositive und zeigen ihre Wirkmächtigkeit für die kollektive Identität der Muslime in verschiedenen Ländern Europas auf.
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Europäische Horizonte bei transcript Elke Ariëns, Helmut König, Manfred Sicking (Hg.)
Glaubensfragen in Europa Religion und Politik im Konflikt
2011, 232 Seiten, kart., 27,80 E, ISBN 978-3-8376-1707-8 Burkas in Frankreich, Moscheebau in Köln, Minarette in der Schweiz – der öffentliche Diskurs über die Integration von Muslimen in Deutschland und Europa ist geprägt vom Konflikt zwischen Religionsfreiheit und der westlichen Trennung von Religion und Politik. Doch wie neutral muss der Staat hier eigentlich sein? Wie können die Errungenschaften der Aufklärung verteidigt werden, ohne dass das Recht auf Religionsausübung verletzt wird? Und welchen Stellenwert hat Religion in den modernen westlichen Gesellschaften noch? Diesen und weiteren Fragen gehen die Beiträge in diesem Band nach. Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Islamwissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Migrationsforschung beleuchten das Verhältnis von Staatlichkeit und Religion.
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Globaler lokaler Islam bei transcript Samuel M. Behloul, Susanne Leuenberger, Andreas Tunger-Zanetti (eds.)
Debating Islam Negotiating Religion, Europe, and the Self
2013, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 E, ISBN 978-3-8376-2249-2 Conspicuously, Islam has become a key concern in most European societies with respect to issues of immigration, integration, identity, values and inland security. As the mere presence of Muslim minorities fails to explain these debates convincingly, new questions need to be asked: How did »Islam« become a topic? Who takes part in the debates? How do these debates influence both individual as well as collective »self-images« and »image of others«? Introducing Switzerland as an under-researched object of study to the academic discourse on Islam in Europe, this volume offers a fresh perspective on the objective by putting recent case studies from diverse national contexts into comparative perspective. »Insgesamt weisen die verschiedenen Einzelfallstudien eindrucksvoll nach, wie zentral der Religionsdiskurs für die normativen Grenzziehungen und Identitätsfragen des Ich und Wir in westeuropäischen Ländern ist.« (Portal für Politikwissenschaft, 12.03.2014)
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Kultur und soziale Praxis bei transcript Naime Çakir
Islamfeindlichkeit Negotiating Religion, Europe, and the Self
August 2014, 274 Seiten, kart., 27,99 E, ISBN 978-3-8376-2661-2 Kann es eine Islamfeindlichkeit ohne die Religion des Islam geben? Naime Çakir zeigt, dass nicht allein die Terroranschläge des 11. September 2001 für die zunehmenden antiislamischen Vorurteile und Feindbilder in Deutschland verantwortlich sind, sondern auch die Erkenntnis, dass die ehemaligen Gastarbeiter ihren Lebensmittelpunkt auf Dauer in die Bundesrepublik verlegt haben und nun für sich beanspruchen, Objekt von Verantwortung zu sein. Damit waren für die Residenzgesellschaft und für die Einwanderer die etablierten Rollen des Gastgebers und des Gastes irritiert. Die Studie zeichnet nach, wie der Islam zum Gegenstand öffentlicher Anerkennungskonflikte gemacht worden ist, da es einer Neujustierung der Rollen innerhalb des Gesellschaftsgefüges bedurfte, die die Marginalisierung der mittlerweile etablierten Einwanderer weiterhin zu gewährleisten hatte.
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X-Texte bei transcript Tatjana Thelen
Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen
2014, 298 Seiten, kart., 29,99 E, ISBN 978-3-8376-2562-2 E-Book: 26,99 €, ISBN 978-3-8394-2562-6 »Care« ist in den letzten Jahren zunehmend in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen gerückt. Vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung führt Tatjana Thelen dieses zentrale Thema mit der Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen zusammen – einem Schlüsselproblem sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Das legt den Grundstein für eine innovative Theorie von Care/Sorge und eröffnet neue Blicke auf Prozesse der Gemeinschaftsbildung. Die Studie verbindet Perspektiven der Sozialanthropologie, Europäischen Ethnologie und Soziologie, bietet jedoch auch wichtige Einsichten für die Praxis in Pflege und Betreuung.
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Sozialtheorie bei transcript Gabriele Winker, Nina Degele
Intersektionalität Zur Analyse sozialer Ungleichheiten (2., unv. Auflage 2010)
2009, 166 Seiten, kart., 13,80 E, ISBN 978-3-8376-1149-6 Der erste deutschsprachige Überblicksband über die internationale Debatte um Intersektionalität, die die Diskussion um soziale Ungleichheit in der Soziologie und den Gender Studies seit Jahren zunehmend belebt. »[M]it dem Band von Gabriele Winker und Nina Degele [liegt] eine grundlegende, umfassende, klar strukturierte und gut lesbare Einführung in den Begriff [vor], verbunden mit einem präzise dargelegten Vorschlag zu seiner methodischen Umsetzung in sozialwissenschaftlichempirischen Studien.« (Olaf Stieglitz, H-Soz-u-Kult, 30.10.2009) »[U]neingeschränkt empfehlenswert, auch für den Einsatz in der Hochschullehre, und es ist von hohem Anregungspotential für die wissenschaftliche Weiterentwicklung intersektionaler Analysen von sozialen Ungleichheiten.« (Heike Kahlert, querelles-net, 1/2010)
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Sozialtheorie bei transcript Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.)
Eigenverantwortlich und leistungsfähig Das selbständige Individuum in der sich wandelnden Arbeitswelt
2013, 152 Seiten, kart., 19,99 E, ISBN 978-3-8376-2588-2 E-Book: 17,99 €, ISBN 978-3-8394-2588-6 Neue Arbeitsformen bieten neue Freiheiten, prägen aber auch neue Phänomene der Belastung: zwischen eigenverantworteter Freiheit und neuen Abhängigkeiten. Wie gehen die Menschen damit um und bleiben gesund und leistungsfähig? Wie kann man diesem Wandel aus gesellschaftlicher Sicht begegnen? Und wie reagieren wir individuell auf diese Herausforderungen? Die Beiträge des Bandes geben Antworten. »Sowohl für den Einsteiger ins Thema Wandel der Erwerbsarbeit – Wandel der Lebensbedingungen, als auch denjenigen, der tiefer mit der Materie vertraut ist, bietet diese Tagungsdokumentation wertvolle Impulse zum weiterlesen, -recherchieren und -forschen. Der Versuch einen Bogen von den allgemeinen Grundlagen hin zu speziellen – vom Wandel der Erwerbstätigkeit geprägten – Gesellschaftsfeldern zu spannen, ist gelungen.« (Maria Wolf, www.socialnet.de, 04.06.2013)
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X-Texte bei transcript Dierk Spreen
Upgradekultur Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft
Juli 2015, 160 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3008-4 E-Book: 17,99 €, ISBN 978-3-8394-3008-8 Enhancement, Prothesen, Körper-Upgrade – in letzter Zeit ist einetechnologische Durchdringung des Körpers zu beobachten, die als Symptom eines tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Wandels hin zu einer Optimierungs- und Upgradekultur zu begreifen ist. Warum sollten die sich generalisierenden Optimierungsimperative vor dem Leib Halt machen? Im Kontext einer zunehmenden technischen Reproduzierbarkeit des Körpers scheint das Individuum von den Schranken seiner natürlichen Konstitution befreit: Medikamentöse und chirurgische Optimierungsmöglichkeiten werden unabhängig von medizinischen Indikationen ebenso aktiv genutzt wie technologisches Enhancement oder verdatete Leistungs- und Gesundheitskonzepte. Dierk Spreen rekonstruiert die Entstehungskontexte des Wertewandels zu einer Upgradekultur und diskutiert Möglichkeiten der sozialtheoretischen Stellungnahme.
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