Umgestaltung und Erneuerung im vereinigten Deutschland [1 ed.] 9783428478323, 9783428078325

VorwortDieser Sammelband vereint die überarbeiteten Beiträge einer Tagung der Fachgruppe Geschichtswissenschaft der Gese

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German Pages 169 Year 1993

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Umgestaltung und Erneuerung im vereinigten Deutschland [1 ed.]
 9783428478323, 9783428078325

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Umgestaltung und Erneuerung im vereinigten Deutschland

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 39

Umgestaltung und Erneuerung im vereinigten Deutschland

Herausgegeben von

Dieter Voigt und Lotbar Mertens

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Umgestaltung und Erneuerung im vereinigten Deutschland I hrsg. von Dieter Voigt und Lothar Mertens. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 39) ISBN 3-428-07832-2 NE: Voigt, Dieter [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft ...

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-07832-2

Inhalt Vorwort.....................................................................................................................

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Lothar Mertens Die Evangelischen Landeskirchen seit der Wende ............................................

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Sabine Gries und Sabine Meck Das Erbe der sozialistischen Moral. Überlegungen und Untersuchungen zum Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR.......................................................

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Hansjörg Geiger Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit ..............................................

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Heinz Klaus Mertes Auftrag und Wirkung der Medien im vereinten Deutschland . ................. .........

82

Wolfgang Zimmermann Schicht- und Nachtarbeit im sich verändernden Deutschland .... ......... ..... .........

91

Walter Heering Objektive und subjektive Dimensionen der Untemehmensrestrukturierung in Ostdeutschland..................................................................................................

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Paul Gerhard Klussmann Antworten der Literatur auf den Prozess der deutschen Vereinigung .............

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Die Verfasserinnen und Verfasser.............................................................................

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Vorwort Mehr als ein halbes Jahrhundert nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur hat die in der DDR verbliebenen Menschen geprägt. Weit mehr als drei Millionen flohen aus diesem Staat. Die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland - historisch gesehen nicht mehr als eine Episode - stellt die Betroffenen vor Probleme von großer persönlicher Tragweite. Die schlimmste Folge aus vielen Jahrzehnten verbrecherischer Diktatur ist, daß sie die Menschen tief zeichnete, ihre Persönlichkeit verbog, verkrüppelte und zerstörte. Ganze Generationen wurden um Lebensglück und Freiheit betrogen, wurden der Arbeit entfremdet und jeder demokratischen Tradition beraubt. Diesen Menschen gelten die vorliegenden Untersuchungen. In den Referaten der fünften Tagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. in Tutzing wurde versucht, über ausgewählte Lebensbereiche fundierte Aussagen vorzulegen. Bochum, im Januar 1993

Dieter Voigt

Lothar Mertens

DIEEVANGELISCHEN LANDESKIRCHEN SEIT DER WENDE I. Vorbemerkung Die Entwicklung der Evangelischen Landeskirchen nach der Wende in der DDR im Oktober 1989 nahm während der Monate des Umbruchs, bis zur Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990, einen ambivalenten Verlauf. Die Haltung in den Evangelischen Landeskirchen schwankte stark und führte teilweise zu abrupten Meinungsänderungen, in denen Zustimmung zu Ressentiment umkippte und umgekehrt. Die diffizile Problematik der Stasi-Verstrikkung von Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern als sogenannte IMs (Inoffizielle Mitarbeiter) des Ministeriums für Staatssicherheit, wird in diesem Beitrag nicht behandelt (zur Dimension der Stasi-Verquickung siehe Flocken 1991, S. IV; Durth 1992, S. 10; Hartmann 1992, S. 1238 f.). Dieses Problem soll keineswegs nivelliert werden, doch ist eine präzise Schilderung der Angelegenheit zu komplex: die zwingend gebotene individuelle Betrachtung jeder einzelnen Verpflichtung und der persönlichen Hintergründe, Zwänge und Motive des jeweils angeworbenen IMs im Kontext der historisch-politischen Bedingungen des "real existierenden Sozialismus" in der DDR in den siebziger und achtziger Jahren würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Überdies bietet eine Rückschau auf die mehr institutionell-administrativen Veränderungsprozesse die Chance, diese wegen ihres äußerlich scheinbar unspektakulären Ablaufs eher unberücksichtigt gebliebenen internen Schwierigkeiten bei der organisatorischen Vereinigung Deutschlands näher zu betrachten (siehe Falcke 1991 zu den mannigfaltigen Problemen wie Kirchensteuer, Militärseelsorge und Religionsunterricht). Die dabei aufgetretenen Probleme, Ängste und psychologischen Hemmschwellen erscheinen typisch für die unterschiedliche Befindlichkeit der Menschen in Deutschland und für die zum Teil konträre Sicht und Beurteilung der Entwicklung der vergangenen beiden Jahren in Ost und West (Böhme 1991, S. 28). Die bei vielen ehemaligen DDR-Bürgern noch immer vorhandene, und angesichts aktueller wirtschaftlicher Krisensymptome, sich häufig noch verstärkende, melancholisch-larmoyante Einschätzung einer "verpaßten O!ance" in der Wendezeit prägt auch das Zusammenwachsen der Evangelischen Landeskirchen im vereinigten Deutschland.

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II. Struktur Alle Menschen und Institutionen in der DDR waren seit der Wende im Herbst 1989 mannigfaltigen Veränderungen, ungewohnten Entscheidungen und neuen Problemen ausgesetzt. Doch wohl keine andere gesellschaftliche Institution! mit Ausnahme der SED (bzw. PDS) stand so im Zentrum der Wünsche, Fragen, Hoffnungen und Ängste der Nachwendemonate, wie die acht Evangelischen Landeskirchen in der DDR (Lohmann 1990 b, S. 192 f.). Dies waren (Stand 1990; Schmidt/Bischof 1990, o.S.): Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen (1.700.000 Mitglieder), Landesbischof Johannes Hempel, Sitz der Kirchenleitung: Dresden; Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen (833.000 Mitglieder) Landesbischof Werner Leich, Sitz der Kirchenleitung: Eise nach; Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburg (496.000 Mitglieder) Landesbischof Christoph Stier, Sitz der Kirchenleitung: Schwerin; Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (706.000 Mitglieder), Bischof Christoph Demke, Sitz der Kirchenleitung: Magdeburg; Evangelische Kirche in Berlin-Erandenburg [Region DDR] (875.000 Mitglieder), Bischof Gottfried Forck, Sitz der Kirchenleitung: OstBerlin; Evangelische Landeskirche Pommern (306.000 Mitglieder), Bischof Horst Gienke, Sitz der Kirchenleitung: Greifswald; Evangelische Landeskirche Anhalt (136.000 Mitglieder), Kirchenpräsident Eberhard Natho, Sitz der Kirchenleitung: Dessau; Evangelische Kirche des Görlitzer Kirchengebiets (94.000 Mitglieder), Bischof Joachim Rogge. Die Grenzen der einzelnen Landeskirchen entsprechen nicht immer den Grenzen der fünf neuen Bundesländer: So liegen die Mecklenburgische und die Pommersehe Landeskirche zwar im wesentlichen auf dem Gebiet des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, schließen im Süden aber einige politisch zu Brandenburg gehörende Kreise mit ein (Perleberg, Prenzlau und Templin). Die Kirchenprovinz Sachsen hingegen erstreckt sich über die vier Bundesländer: In der Hauptsache über Sachsen-Anhalt aber auch über Kreise in Brandenburg, Thüringen und dem Freistaat Sachsen. Die Anhaltinische Landeskirche und die Thüringische Landeskirche sind 1 Zum Vereinigungsprozeß der Jüdischen Gemeinden in der DDR mit dem westdeutschen Zentralrat der Juden siehe Mertens 1992, S. 294 f.

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auf ihre Bundesländer begrenzt. Der Freistaat Sachsen hingegen wird, neben der Kirchenprovinz in den Kreisen Eilenburg und Torgau, von der Sächsischen Landeskirche und dem Görlitzer Kirchengebiet abgedeckt (l..ohmann 1990 b, s. 192 f.).

III. Wendezeit

In den ersten Wochen und Monaten war die Kirche noch federführend und zuweilen sehr aktiv am Umbruch beteiligt; so waren die kirchlichen Friedensgebete die Keimzelle der Montagsdemonstrationen (Pollack 1990, S. 240 f.). Die gar nicht hoch genug einzuschätzende Moderatoren- und Schlichterfunktion kirchlicher Würdenträger wie Oberkirchenrat Martin Ziegler, Pastor Martin Lange und Monsignore Karl-Heinz Ducke (von der katholischen Kirche) an den zahlla.en "Runden Tischen" in der gesamten DDR und vor allem auch am sogenannten "Zentralen Runden Tisch" in Ost-Berlin haben entscheidend mit dazu beigetragen (Thaysen 1990, S. 36 ff.), daß die Ereignisse in der DDR im Spätherbst mit dem Attribut "friedliche" Revolution in die deutsche Geschichte eingegangen ist und nicht die Gefahr von rumänischen Verhältnissen bestand (Ziegler 1990, S. 179). Aber außer dieser demokratischen Leitungsfunktion, sowie der Kenntnis und Beherrschung basisdemokratischer Verfahrensregeln, wie Debattenstruktur, Geschäftsordnungen etc., die auf Synoden und Kirchentagen mannigfach erlernt und eingeprobt worden waren, haben evangelische Pfarrer, im Unterschied zu ihren katholischen Amtskollegen, auch aktiv, zumeist sogar initiierend und federführend, in dieser Phase gewirkt (Hartmann 1990 a, S. 1; Neubert 1990, S. 234). Stellvertretend seien nur einige genannt: Karl Wilhelm Ebeling, Heinz Eggert, Rainer Eppelmann, Joachim Gauck, Markus Meckel, Gottfried Müller, Friedrich Schorlemmer und Wolfgang VIImann. Aber auch Synodale und engagierte Laien wie Lotbar de Maiziere und Walter Romberg sind zu erwähnen. Bis auf Eggert, heute Innenminister in Sachsen, Gauck und Schorlemmer waren alle anderen Genannten als Minister in der letzten DDR-Regierung tätig. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch Richard Schröder, Professor an der Humboldt-Universität, der SPD-Fraktionsvorsitzender war. Insgesamt befanden sich unter den 400 freigewählten Volkskammerabgeordneten neunzehn ordinierte PfarrerZ (Hartmann 1990 b, S. 45). Gegen diese Übernahme politischer Ämter durch evangelische Pastöre, 2 Zum Vergleich der Höchststand unter den 518 Abgeordneten des Deutschen Bundestages lag in der 7. Wahlperiode (1972-76) bei fünf Pfarrern; Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949-1982. Baden-Baden 1984, 3. durchges. Aufl., S. 201.

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die auf kommunaler Ebene in noch viel größerem Umfang erfolgte (Henkys 1990 e, S. 174), gab es nur vereinzelt Kritik und Bedenken. So etwa vom thüringischen Landesbischof Werner Leich, der um die erfolgreiche Durchsetzung des geistlichen Auftrages der Kirche fürchtete, wenn allzu viele Hirten ihre Herde wegen eines Wechsels von der Kanzel in die Politik im Stich lassen würden (Leich 1990, S. 197 ff.). Verständnis für die politische Mitwirkung kirchlicher Mitarbeiter und Pfarrer in der gesellschaftlichen Ausnahmesituation äußerte hingegen der Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Christoph Demke, obgleich die chronischen Vakanznöte durch die neuen Politiker im Talar verstärkt wurden und zu einer zusätzlichen Belastung der auf der Kanzel verbliebenen Berufskollegen führten (Demke 1990, S. 92). In dieser Phase des gesellschaftlichen Umbruchs nahmen die Evangelischen Landeskirchen auch in der Vereinigungsfrage eine Vorreiterrolle ein (Falcke 1991). Bereits im Januar 1990 hatte man sich auf einer gemeinsamen Tagung im niedersächsichen l..occum in einer gemeinsamen Erklärung von der "Evangelischer Kirche in Deutschland" (EKD) und dem "Bund der Evangelischen Kirche in der DDR" (BEK oder Kirchenbund) für die staatliche und kirchliche Einheit ausgesprochen: "Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen in beiden Staaten ist für die Kirchen eine wichtige Grundlage ihres gemeinsamen Wirkens. Wir haben dieses Gefühl gestärkt, wir empfinden es selbst. Wir wollen, daß die beiden deutschen Staaten zusammenwachsen" (Gemeinsame Erklärung 1990, S. 9). Während der politische Vereinigungsprozeß, besonders nach den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990, einer Lawine gleich, ein immer rasanteres Tempo annahm, das zugleich beängstigte, da die Konzepte und Vorgaben zunehmend undurchdachter und fehlerhafter wirkten, war in der Evangelischen Kirche urplötzlich der anfängliche Elan wie weggefegt (Henkys 1990 d, S. 85; Hahn 1990, S. 1). Zwar konstituierte sich im Mai 1990 eine Gemeinsame Kommission von EKD und Kirchenbund, um alle Modalitäten der kirchlichen Vereinigung zu besprechen (Ruh 1991, S. 379). Zugleich jedoch wurde als Termin für den Zusammenschluß das Jahr 1993 projektiert-angesichtsder im Sommer 1990 einsetzenden Wirtschafts- und Währungsunion ein deutliches Signal für eine zögernder werdende Vereinigungsbereitschaft (Bischof Hempel 1990, S. 1; DDR-Bischof 1990, S. 3). Denn die Kirche suchte "protestantischgründlich" und vor allem in Ausschußsitzungen gernählieh vor sich hin grübelnd auf der "Kriechspur der Geschichte" ihren Weg zu finden (Sattler 1990 a, S. 1). Der Bischof von Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck, verglich die Situation der ostdeutschen Landeskirchen sogar mit dem biblischen Auszug der Israeliten aus dem ägyptischen Pharaonenreich (Buchmann/Giesemann 1991, S. II.). Darüberhinaus trat eine Diskrepanz auf zwischen den Vorstellungen der Kirchenhirten und der Herde ihrer Gläubigen. Statt der Euphorie der Wende-

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monate herrschten nun in den Kirchenleitungen enttäuschte Hoffnungen und melancholische Abschiedsstimmung, die mitunter larmoyanter Trauer wich (Ziegler 1990, S. 179). Analog zum untergehenden Staat, dessen Bürger zaghafte Züge einer DDR-Identität erst dann erkennen ließen, als die sozialistische Ordnung, die dieses Bewußtsein jahrzehntelang propagiert hatte, längst vor den neuen Realitäten kapituliert hatte, entdeckten auch die Glieder der acht Landeskirchen in der DDR nun - vor allem im Vergleich mit der EKD und der kirchlichen Situation in der alten Bundesrepublik - bewahrenswerte Bedingungen und ideelle Vorteile (Zeddies 1990, S. 66 ff.). Der Zittauer Superintendent Dietrich Mendt (1990 a, S. 163) sprach von der Wahl zwischen einer missionarischen Kirche oder der einer religiösen Belanglosigkeit. Andere Theologen warnten: "Wurde die Macht bisher als Bedrohung erfahren, kann sie nun als Verlockung erscheinen" (Bleibender Auftrag 1990, S. 4). Die Konzeption einer ihre Identität wahrenden Minderheitskirche (Ruh 1991, S. 380), die nicht zur Staatskirche werde, verteidigte auch der Theologe Ehrhart Neubert (1990, S. 236). Die von ihm vertretene Idee der Bekenntnisgemeinschaft offenbart die generellen Bedenken ostdeutscher Theologen gegen eine Volkskirche, die verklausuliert den Staat vertritt. Der darin immanente Vorwurf gegenüber der EKD kann und muß mit den negativen Erfahrungen aus vierzig Jahren DDR-Staat erklärt werden. Auch der Erfurter Propst Heino Falcke betonte im Februar 1991 rückblickend: "Gerade in den Schwächen unserer DDR-Kirchen, ihrem Minorisierungsprozeß, ihrer Finanz-schwäche, ihrer politischen Machtlosigkeit, lagen auch ihre Stärken. Unser Versagen lag darin, daß wir diese dreifache Schwäche nicht wirklich angenommen haben. Es wäre doppeltes Versagen, wenn wir jetzt aus ihnen weglaufen in Positionen geborgter, scheinbarer Stärke" (Ruh 1991, S. 380). Diese Haltung kritisierte energisch der SPD-Fraktionsvorsitzende in der letzten DDR-Volkskammer, Richard Schröder, der zwar bejahte, daß die Kirche in der DDR als einzige nicht ideologisch vom Staat vereinnahmte Institution zeitgleich privilegiert wie auch diskriminiert gewesen sei. Der Ost-Berliner Theologe betonte jedoch, die Evangelischen Landeskirchen hätten sich zu DDR-Zeiten nie gegen ein staatliches K.irchensteuereinzugssystem, gegen Religionsunterricht oder Militärseelsorge ausgesprochen. Vielmehr seien ihnen diese Dinge entzogen bzw. verwehrt worden. In Anbetracht der finanziellen Abhängigkeit von den Westkirchen und der östlichen Vorbehalte gegenüber der EKD in diesen Streitfragen meinte Sehröder pointiert: "Man kann nicht den Wald abholzen und das Echo stehenlassen" (Ruh 1991, s. 380).

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IV. Differenzen Bereits in der Loccumer Erklärung war konzediert worden: "Unsere Interessen und Überzeugungen stimmen nicht immer überein. Das muß berücksichtigt werden" (Gemeinsame Erklärung 1990, S. 9). Die der EKD zugeschriebene Rolle und deren institutionelle Darstellung als zu wenig staatskritisch (Hartmann 1991, S. 467) in manchen DDR-Kirchenartikeln aus der 1. Hälfte des Jahres 1990, suggerierten statt des wiedergewonnenen Verwandten im biblischen, eher den Begriff des "großen Bruders" im Orwellschen Sinne. In Umwandlung eines bekannten Bibelspruches schien das Motto nun "Freuet euch bloß nicht" zu lauten. Richard Sehröder fragte sich angesichts derartiger Larmoyanz, ob denn nun ein "Naturschutzpark für eine DDR-Identität" gewünscht werde? (Schröder 1990, S. 47). Denn die äußerlich so einträchtig und harmonisch verlaufende Vereinigung der Evangelischen Landeskirchen verdeckte nur den überaus spannungsreich und zwiespältig abgewickelten inneren Prozeß des Zusammenschlusses. Lediglich zwei Punkte, die Frage der Kirchensteuer und die der Militärseelsorge wurden dabei öffentlich und unerbittlich ausdiskutiert (siehe die Dokumentation in Hartmann 1990 d, S. 215 ff.). Besonders die finanzielle Abhängigkeit vom reichen Bruder aus dem Westen wurde dabei wortreich beklagt. Neben dem Verlust des persönlichen Kontaktes und der Bürgernähe durch die Abkehr von der in der DDR praktizierten Methode der persönlichen Entrichtung der Kirchensteuer in den Gemeinden, führte die fortbestehende finanzielle Abhängigkeit von den westdeutschen Landeskirchen zur Verbitterung (Zeddies 1990, S. 68). Ostdeutschen Klagen wie "Wir sind Bettler" (Was können die Ostkirchen 1991, S. III) oder "Gottes Geist erstickt im Mammon" (Buchmann 1991, S. I) standen zynische Fragen wie "Begnadete Schnorrer?" (Ludwig 1991, S. 34) aus den alten Bundesländern gegenüber. Altbischof Schönherr warnte, daß durch die westdeutsche Einzugspraxis ein oberflächliches Kirchenverständnis gefördert werde. Darüberhinaus werde durch die Anonymisierung eine Austrittswelle begünstigt (Lohmann 1990 a, S. 100). Rentner würden gar nichts mehr bezahlen, obgleich sie in der früheren DDR die zuverlässigsten Zahler waren. Die Anhaltinische Landeskirche stellte in ihrer Synode im Mai 1990 in einem Arbeitspapier das Pro und Contra der beiden Erhebungsweisen auf. Neben den bereits genannten Ablehnungsgründen wie Furcht vor Gemeindeaustritten und dem Fortfall des individuellen Kontaktes wurde als negativ die fehlende Trennung von Staat und Kirche empfunden. Besonders stark rückte indes der persönliche Kontakt ins Zentrum der Argumente. Bei den Gemeindemitgliedern könne ein Gefühl des Abgabenzwangs entstehen, das eventuell ein Absinken der Kollekten und Spenden bedinge. Der Wegfall eines Gespächsan-

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lasses könne bei den Gemeindemitgliedern den Eindruck entstehen lassen, die Kirchensteuer würde nur noch verwaltet und wäre nicht mehr wie ehemals eine "Gemeindeaufbauinitiative" (Lohmann 1990 a, S. 100). Dies würde zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche führen (Zeddies 1990, S. 68). Für das auf Drängen der EKD eingeführte Steuerabzugsverfahren (Stappenbeck 1991, S. 4 f.) wurde unter Pro als Argument die automatischen Anpassung der Kirchensteuer an die Lohn- und Gehaltsentwicklung der Gläubigen aufgeführt. Dies war aber, unter Berücksichtigung der Austrittsbefürchtungen3 und Anonymisierungstendenzen, äußerst ambivalent und durchaus auch als ContraArgument zu verwenden. Überdies ist ein großer Teil der Bürger in den neuen Bundesländern infolge ihrer geringen Durchschnittsverdienste weitgehend von der Zahlung von Lohn- und Einkommenssteuer befreit - und damit auch von der Kirchensteuer (Raiser 1990, S. 17). Da die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Gemeinschaft das einzige Land ist, in dem vom Staat die Kirchensteuer eingezogen wird, hatte die EKD auch mit Blick auf die Steuerharmonisierung in der EG auf die Einführung in den neuen Bundesländern massiv gedrängt und für den Fall der Verweigerung mit der Einstellung aller Zahlungen an die Ostkirchen gedroht. Denn die Ausdehnung des Systems erhöht nicht nur dessen Bedeutung, sondern verschafft zusätzlich ein Argument gegen eine rasche Abschaffung, da diese Regelung doch gerade erst eingeführt worden sei (Baum 1990, S. 6). In der nächsten Dekade werden ungeachtet aller Lamenti jährlich zwischen 200 und 300 Millionen DM aus den alten Bundesländern in die a>tdeutschen Landeskirchen fließen (Bräuning 1990, S. 17; Lohmann 1990 a, S. 99). Milliardensummen waren bereits vor 1989 als kirchliche Transferleistungen zur Unterstützung in die DDR geflossen (siehe ausführlich in Volze 1990, S. 59 ff.). Allein die Rheinische Landeskirche errechnete für sich einen Betrag von 535 Millionen DM (Möhrke 1990, o.S.). In der Frage der Militärseelsorge wurde für eine Übergangszeit von drei Jahren den a>tdeutschen Kirchen das Recht zugebilligt, eine neue, an die Ortsgemeinde gebundene Form der Militärseelsorge zu entwickeln. Nach dieser Frist soll eine für alle in der EKD zusammengeschlossenen Landeskirchen akzeptable Form der Militärseelsorge gefunden werden (Hartmann 1991, s. 469). Verstärkt wurde diese Skepsis noch von der Angst eines bloßen "Anschlusses", bei dem auch die inhaltlichen Komponenten außer acht bleiben würden (Hasse 1990, S. 21). Der Dresdner Superintendent Ziemer klagte im Mai 1991 sogar: "Auch wir werden abgewickelt" (Ziemer 1991, S. II). Die mit3 Die Ostregion der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg mußte innerhalb eines Jahres, bis zum Dez. 1990, auf Grund des neuen Kirchensteuereinzugsverfahrens einen Mitgliederrückgangvon fünf Prozent hinnehmen (Nur fünf Prozent 1990, S. 5).

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glieder- und finanzschwache Diaspora-Situation verstärkte dabei den Wunsch nach dem Fortbestand von gemeinsamen Kooperationsstrukturen innerhalb der ehemals im Kirchenbund zusammengeschlossenen Gliedkirchen in der ExDDR (Henkys 1990 d, S. 86). Den ostdeutschen Wunsch nach einer neu zu verfassenden Grundordnung für die Dachorganisation EKD lehnten die westdeutschen Bischöfe ab. Dies geschah allerdings weniger als Affront gegenüber den ostdeutschen Landeskirchen (An einer Reform 1991, S. 1), sondern vielmehr aus der schmerzlichen Einsicht, daß ein derartiges Unternehmen zuviel Zeit und Kräfte gebunden hätte - bei einem völlig ungewissen Verfahrensausgang. Denn den Synodalen aus der alten Bundesrepublik war der Fehlschlag der EKD aus den siebziger Jahre noch in leidvoller Erinnerung, als die Annahme einer nach langwierigen Beratungen erarbeiteten neuen Grundordnung schließ.. lieh am ablehnenden Votum einer einzigen Landessynode (in Württemberg) scheiterte (Ruh 1991, S. 379).

V. Historische Reminiszenz Die Frage der rechtlichen Trennung ist umstritten, da selbst Kirchenjuristen divergierende Auffassungen vertreten (Campenhausen 1990; Harder 1990; Hofmann 1990; Kopp 1990). Formell sind die Landeskirchen auf dem Territorium der ehemaligen DDR nie aus der EKD ausgetreten (Odin 1990, S. 65). Sie haben lediglich erklärt, daß sie die ihnen innerhalb der EKD verfassungsmäßig zustehenden Mandate nicht mehr wahrnehmen würden (Henkys 1990 a, S. 7; Kopp 1990, S. 19). Allerdings wurde von ihnen mit dem Kirchenbund (offizieller Titel: "Bund der Evangelischen Kirche in der DDR") ein rechtlich neuer, eigenständiger Dachverband begründet. Wenn es auch vielleicht im streng juristischen Sinne keine Trennung gab, so war die faktische umso tiefgreifender (Schloz 1990, S. 418). Die Auffassung der EKD-Rechtskommission, daß die acht Landeskirchen in der DDR kirchenjuristisch nie aus der EKD ausgetreten seien (Odin 1990, S. 62 ff.), sondern ihre Mitgliedschaft lediglich ruhe, wurde daher von der DDR-Seite energisch zurückgewiesen, denn dies hätte eine Aufgabe der zwanzigjährigen eigenstaatlichen Entwicklung und einen Verzicht auf die immanenten Ideen und Wunschvorstellungen bedeutet. Martin Ziegler, der Sekretariatsleiter des Kirchenbundes sprach davon, daß diese zwanzig Jahre kein "kleiner Zwischenfall" gewesen seien (Ziegler 1990, S. 177) und ein bloßer Beitritt daher, auch im Umgang mit der eigenen Geschichtserfahrung nicht realistisch sei. Altbischof Krusche wies in einem Gespräch nach der Wende darauf hin, daß die im Jahre 1968 modifizierte DDR-Verfassung die staatlichen Möglichkeiten einer Beschneidung der Evangelischen Kirche als

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Organisation erheblich erweiterte und daher eine kirchliche Reaktion notwendig machte. Die im Jahre 1969 erfolgte Gründung des "Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR" war die organisatorische Erwiderung um der Befürchtung nach einem Verdikt der EKD als illegale gesamtdeutsche Institution durch die SED-Führung zuvor zu kommen (Krusche 1990, S. 51 f.). Die letzte gesamtdeutsche Klammer sollte beseitigt werden, um die gemäß der SED-Ideologie entstehende DDR-Nation mit allen originären Elementen auszustatten, "eine eigenständige Nationalkirche eingeschlossen" (Odin 1990, S. 62). Allerdings war dieser staatlichen Abtrennung von den ostdeutschen Landeskirchen, besonders von der thüringischen unter Bischof Mitzenheim, durch eine bereitwillige Anpassung Vorschub geleistet worden (Helwig 1984, S. 918). Werner Krusche bekräftigte außerdem seine Auffassung: "Wer den anderen diJs Evangelium mitteilen will, muß mit ihnen ganz und gar die Situation teilen". Seine erstmals in den siebziger Jahren geäußerte Einsicht hatte dem damaligen Bischof der Kirchenprovinz Sachsen auch scharfe Kritik eingetragen, da er sie mit der Forderung nach einem Berufsverbot für in den Westen übergesiedelte Pfarrer verbunden hatte (Krusche 1990, S. 52). Andererseits belegten im Juni 1990 durchgeführte empirische Befragungen an der Kirchenbasis eine breite Zustimmung zum staatlichen und als auch kirchlichen Vereinigungsprozeß. Daß diese rascher erfolgen sollten als der europäische Einigungsprozeß meinten dabei 43 % der Befragten, während 26 % für eine zeitgleiche Entwicklung eintraten. Ein Viertel der befragten Protestanten trat sogar für einen unverzüglichen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes ein (Hannemann/Francke 1990, S. 140). Beeinflußt wurden die unterschiedlichen Ansichten dabei weniger von der konfessionellen Bindung der Befragten, als vielmehr von ihrer parteipolitischen Einstellung. Doch diese beiden Variablen können auch kumulieren, wie beispielsweise im Falle von katholischen Bürgern, die bei der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 die CDU oder die DSU gewählt haben und nun für diesen Beitritt eintreten. Im Gegensatz dazu stehen die konfessionell ungebundenen Personen, die, wenn sie POS-Wähler waren, diese Option strikt als "Anschluß" ablehnten (Hannemann/Francke 1990, S. 141 f.). Bereits bei der Volkskammerwahl lag der Prozentsatz der evangelischen Bürger, die die Allianz für Deutschland (von CDU/DNDSU) gewählt hatten, mit 61,8 % deutlich über deren Gesamtergebnis in der DDR von 48,1 %. Ein Fünftel der Protestanten hatte, im Trend liegend, für die SPD votiert (Thaysen 1990, S. 215). Die gesamtdeutsche Synode konstituierte sich schließlich Ende Juni 1991 in Coburg. Insgesamt bilden nun 24 Landeskirchen mit insgesamt 30 Millionen Mitgliedern, davon 5,1 Millionen in der früheren DDR, die EKD (Ruh 1991, S. 378). Ein Viertel der 160 Synodalen wurden von den acht Landeskirchen in den neuen Bundesländern gewählt. Angesichts der unterschiedlichen Größen ein Zugeständnis an die früheren DDR-Kirchen (Böhme 1991, S. 28; Hartmann 1991, S. 468; Gesamtdeutsche Synode 1990, S. 1). 2 Voigt/Mertens

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VI. Gemeinsame Probleme Grundsätzlich war die Situation der Evangelischen Kirche in Ost und West vor der Wende von dem gleichen Grundproblem gekennzeichnet. Die Säkularisierung ist ein prägnantes Kennzeichen moderner Industriegesellschaften. Während in der Bundesrepublik Deutschland die pluralistische Gesellschaftsform den Einfluß und die gesellschaftliche Rolle der Kirche einschränkte, konzedierte in der DDR die autoritäre Macht von Staat und Partei der Kirche nur einen sehr beschränkten Tätigkeitsraum in der so oft beschriebenen Nischengesellschaft des "real existierenden Sozialismus". Nach Meinung des Leipziger Religionssoziologen Detlef Pollack entwickelte sich die Kirche "zu einer Art Gegeninstitution zum offiziellen Gesellschaftssystem, zu einer Institution des Inoffiziellen" (Pollack 1990, S. 239). Allerdings bestand dadurch ein klares, eindeutig fixiertes Feindbild beim Kampf gegen die Gefahren (Thaysen 1990, S. 39; Ziegler 1990, S. 178) in einer "ideologischen Diaspora", um einen von Bischof Krusche im Jahre 1974 geprägten Topoi zu benutzen (Krusche 1990, S. 53). Darüberhinaus erleichterte die unter dem Kreuz der Unterdrückung gebotene und auch praktizierte Solidarität den Umgang untereinander. Partikulare Bestrebungen war ähnlich der politischen Fraktionsbildung in der SED verpönt. Innerkirchlicher Pluralismus und differierende Gruppeninteressen wurden zurückgestellt; sie blieben dadurch ungelöst und verborgen. Es ist daher zu erwarten, daß auch in den neuen Bundesländern durch die einsetzende Ausdiskutierung strittiger Fragen und Inhalte die Haltung der Gläubigen sich von einer stärker eigenverantwortlich und partizipatorisch-aktiven Einstellung (Für eine mutige Kirche 1990, S. 5) zu einer eher distanziert-abwägenden Konsumentenhaltung wandeln wird (Schloz 1990, S. 419). Wie langsam oder wie schnell dies geschehen wird, hängt entscheidend vom Talent und dem Willen der einzelnen Kirchenleitungen ab, ob und wie weit sie die Gemeindemitglieder bei den Aufgaben und Inhalten der Zukunft (weiter) einbinden können und wollen (Schweitzer 1990, S. 191; Zeddies 1990, S. 67). Der westliche Konsum-Materialismus bietet, im Gegensatz zum weltanschaulichen Materialismus des sozialistischen Weltbildes, ein unscharfes, eher verschwommenes Bild der drohenden Gefahr einer sukzessiv fortschreitenden gesellschaftlichen Säkularisierung (Schloz 1990, S. 419). Das Menetekel einer langsam trivialisierenden und individualisierenden Betreuungs- und Kommandogesellschaft ist am Ende des 20. Jahrhunderts keine bloße Fiktion. Die mit dem christlichen Verständnis von Gemeinde verbundene Form von geschwisterlicher Gemeinschaft und Zusammenhalt ist in Deutschland, wie auch der Sozialismus, eher "Mega-Out". Besonders vor den Gefahren des bloßen Wohlstandsstrebensund der mate-

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riellen Oberflächlichkeit des Alltags haben die Kirchen in der Noch-DDR frühzeitig und beharrlich gewarnt. Das Unbehagen über den sich ankündigenden allgemeinen Wohlstand ließ manche Kirchenleitung das Hohe Lied der materiellen Entsagung und der demütigen Rückbesinnung zu ideellen Werten singen (Mendt 1990 a, S. 163 f.). Sogar Bibelpassagen, wie das bekannte Gleichnis vom reichen Jüngling (Matthäus 19,26) wurden entsprechend ausgelegt: "Wir Christen wissen, daß 'Wohlstand' kein letzter Lebenswert ist. Wir wissen es ebensogut wie wir wissen, daß Armut nicht gottgewollt ist. Aber nirgendwo ist in der Bibel versprochen, daß Wohlstand glücklicher machen kann, im Gegenteil, es wird immer wieder davor gewarnt" (Mendt 1990 b, S. 4). In einem als "Gesprächsangebot aus dem Kirchenbund" untertitelten Kirchenzeitungsartikel wird der politische Wiedervereinigungswille der DDR-Bürger angezweifelt. Dieser Wunsch sei "deutlich auch von ökonomischen Zwängen und vom Streben nach vermehrtem Wohlstand und nicht nur von dem Gefühl der nationalen Einheit bestimmt" (Bleibender Auftrag 1~, S. 4). Diese indirekte Unterstellung, die DDR-Bürger hätten ihre Identität für den kapitalistischen Wohlstand eingetauscht (Hartmann 1990 c, S. 134), wird dadurch noch verschärft, daß davon gesprochen wird: "Ein solcher Wunsch darf jedoch nicht zu Lasten des Selbstbestimmungsrechtes anderer Völker, vor allem der Nachbarn Deutschlands gehen" (Bleibender Auftrag 1990, S. 4). Das moralisch-theologisch als so verwerflich angesehene Streben nach Wohlstand - konkret nach dem bundesdeutschem Lebensstandard- geht anscheinend für die Verfasser einher mit ideologischer Großmannssucht bzw. neoimperialen Hegemoniebestrebungen (Hartmann 1990 c, S. 134). Ein heik1es Problem und eine wohl noch die nächsten Jahre die Gemüter bewegende Frage ist die Diskussion um die Rolle der Kirche in der früheren DDR. Die Einschätzung mancher Beobachter, daß die "Kirche im Sozialismus" systemstabilisierend gewirkt habe, ist noch lange nicht ausdiskutiert (Henkys 1990 e, S. 173; Hartmann 1992, S. 1236 f.). Selbst kirchliche Würdenträger wie Bischof Demke konzedieren im Rückblick, daß die Kirchenleitungen "es an Deutlichkeit gegenüber der früheren Staats- und Parteiführung haben fehlen lassen" und vielleicht schon einige Jahre früher "mit kräftigen Tönen in der Öffentlichkeit" auf die notwendigen Veränderungen hätten drängen sollen (Demke 1990, S. 89). Stattdessen wurde in einer Verlautbarung zum 35jährigen Bestehen der DDR im Jahre 1984 noch erk1ärt, daß die DDR-Regierung erkannt habe, daß "die Kirchen nicht die Feinde des Sozialismus" seien und umgekehrt die evangelischen Christen gelernt hätten, daß der sozialistische Staat die Kirchen nicht "aus der Gesellschaft verdrängen oder Sterbehilfe leisten" wolle (Urban 1984, S. 1131). Der auf der Eisenacher Synode 1971 geprägte, ideologiebehafte Begriffvon der "Kirche im Sozialismus", der ursprünglich nur den existientiellen Bezugsrahmen definieren sollte, d.h. die Rolle der Kirche in der DDR als Zeugnis- und

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Dienstgemeinschaft nicht neben oder gegen, sondern im Sozialismus, bot genügend Raum für Mißverständnisse (Helwig 1984, S. 919; Hartmann 1992, S. 1236 f.; Neubert 1990, S. 232). Die fehlende Ausformulierung der Formel "Kirche im Sozialismus" ermöglichte Fehlinterpretationen wie etwa: "Kirche für den Sozialismus" (Krusche 1990, S. 52); besonders nach dem Grundkonsens, der seit dem Honecker-Schönherr-Treffen vom März 1978 galt (Urban 1984, S. 1130 f.). Bischof Krusche sprach daher bereits im Jahre 1976 von einem "schmalen Pfad zwischen Opposition und Opportunismus" (Helwig 1984, s. 919).

VII. Resümee Die argwöhnische Skepsis und die exaltierten Befürchtungen der Evangelischen Landeskirchen in der früheren DDR haben sich nicht bestätigt. Doch wurde im Verlauf des kirchlichen Vereinigungsprozesses immer deutlicher, daß die eigenen Vorstellungen, ein neues Dach aus der EKD und dem Kirchenbund bilden zu können und die kirchliche Vereinigung in einem gemeinsamen Wandel beider Seiten zu erzielen, unerreichbare Illusionen waren. Die acht Landeskirchen sind vielmehr wieder in eine strukturell unverändert gebliebene EKD eingegliedert worden (Hartmann 1991, S. 469; Durth 1992, S. 10). Analog zur politischen Einheit blieb auch bei der kirchlichen Vereinigung schließlich kaum etwas als bewahrenswert Empfundenes übrig (Holzhauer 1991, S. 17; Durth 1992, S. 10), das den Staat DDR überdauerte.

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Evangelische Landeskirchen

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Lotbar Mertens

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Sabine Gries/Sabine Meck DAS ERBE DER SOZIALISTISCHEN MORAL Überlegungen und Untersuchungen zum Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR I. Einleitung Auch in der DDR war es nicht anders: am Abend, wenn die kleinen Kinder müde werden, wenn sie die Augen nur noch mit Mühe aufhalten können, dann kommt das Sandmännchen geschlichen und streut ihnen Schlafsand hinein. Das Sandmännchen, das die DDR-Kinder besuchte, hatte aber nicht nur Sand bei sich, sondern auch mancherlei beherzigenswerte Ratschläge. Und was da so nett und freundlich mit: "Guten Abend, meine lieben kleinen Freunde." beginnt, klärt im folgenden die Dreijährigen darüber auf, wie wichtig es ist, gute, starke und tapfere Freunde zu haben. Und wer sind diese Freunde? Die Soldaten und Offiziere der Nationalen Volksarmee. "Ja, liebe Mädchen und Jungen, das ist schon eine schöne Sache, solche guten Freunde zu haben. Macht es wie sie: zuverlässig und einsatzbereit sein und alle Aufgaben fleißig und gewissenhaft erfüllen. Eure guten Leistungen [Ordnung, Sauberkeit, Gehorsam, Disziplin; S.G./S.M.; siehe dazu Rogge 1987, S. 42 ff.] sind das beste Dankeschön für die Genossen unserer Nationalen Volksarmee, die auch den Frieden unserer Heimat schützen. Auch heute versehen sie ihren Ehrendienst, do.mil ihr ruhig schlafen könnt. Sie alle wünschen Euch eine gute Nacht" (Zitzlaff/Lessing/Fischer 1982, S. 103). In nuce wird in dieser kurzen Kindersendung das DDR-Gesellschaftsbild dem Zuschauer und Zuhörer vor Augen gebracht: hier im Staate DDR leben gute, friedliebende, mutige und vor allem fleißige Menschen, dort draußen irgendwo lauern Feinde, die kleinen Kindern nicht einmal ihren ruhigen Schlaf gönnen. Aber starke, tapfere Soldaten passen schon auf, daß nichts Schlimmes geschieht. Man weiß kaum zu sagen, was hier perfider ist: die tantenhafte Besserwisserei der Darstellung, die Wehrpropaganda, die in dieser Art (und für diese frühe Altersklasse) selbst für deutsche Verhältnisse einmalig sein dürfte, oder die ganz offensichtliche Verängstigung und Verunsicherung der Kinder, die objektiv ja weder einer militärischen Bedrohung noch gar einer akuten Kriegsgefahr ausgesetzt waren (und diese Tatsache durchaus nicht tapferen Soldaten der Nationalen Volksarmee zu verdanken hatten). Aber die Aussage ist klar: du als DDR-Kind bist gut, andere Menschen, die nicht denken wie du, sind schlecht und wollen dir etwas Böses, aber der Staat paßt auf, daß dir nichts Schlimmes geschieht. Du kannst ruhig schlafen ... Dieses

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Gesellschaftsbild wurde in der DDR durchaus nicht nur Kindern nahegebracht Bei aller Bedrückung und Einschränkung des einzelnen enthielt es eine bestechende Aussage: wer Sozialist ist, der ist von vornherein gut. Auf das Rechtsbewußtsein des Einzelnen und der Gesellschaft mußte dieses Selbstbild gewichtigen Einfluß nehmen.

II. Der Begriff "Rechtsbewußtsein" 2.1 Definitionen Immer schon haben Menschen sich Fragen gestellt, die das Gebiet des Rechtsbewußtseins und des Rechtsempfindens erhellen sollten: Was ist Rechtsbewußtsein überhaupt? Was Gerechtigkeit? Wann mahnt mich mein Gewissen davor, Unrecht zu tun, und warum? Haben alle Menschen das gleiche Rechtsempfinden? Was erkennt das Rechtsempfinden als unmoralisch, und wie geschieht das? Wie entwickelt das menschliche Individuum überhaupt seine Moral? Der vorliegende Datensatz aus dem Forschungsprojekt "Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR" wurde mit einem separaten Fragebogen zum Selbstausfüllen vom 12. März bis 23. April 1990 in den Aufnahmestellen Gießen und Schöppingen erhoben. Der Untersuchungszeitraum deckt sich mit der Untersuchungsphase ·nach der Volkskammerwahl.l Mit diesem Fragebogen zu Recht und Gesetz versuchten wir, das Rechtsbewußtsein der Übersiedler aus der DDR zu messen. Unter Rechtsbewußtsein ist ein (nach Schwind 1992, S. 152) von verschiedenen Variablen abhängiges juristisches Konstrukt zu verstehen, zu dem es bislang kaum empirisch gesicherte Ergebnisse gibt. Wir haben uns somit auf ein von der Soziologie, Kriminologie und anderen Wissenschaftszweigen kaum erkundetes Gebiet begeben und waren uns der methodischen Probleme wohl bewußt. Sicher ist aber, daß das Rechtsbewußtsein abhängig ist vom erreichten Stand der Moralität. In der vorliegenden Untersuchung gehen wir von folgender Hypothese aus: Wenn gesellschaftlicher Wertewandel Veränderungen der individuellen Normakzeptanz hervorruft, dann muß durch die Übersiedlung aus einem totalitären Staat in ein freiheitlich demokratisches System eine Veränderung des Rechtsbewußtseins hervorgerufen werden- vorausgesetzt, das Wertesystem des Die Gesamtuntersuchung ist in folgende Phasen eingeteilt: vor Grenzöffnung (10.10. · 8.11.1989); unmittelbar nach Grenzöffnung (9.11.- 30.11.1989); nach Grenzöff. nung (4.12.1989- 31.1.1990); vor der Volkskammerwahl (1.2- 14.3.1990); nach der Volkskammerwahl (20.3.- 23.4.1990); vor der Währungsunion (30.4.- 30.6.1990).

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

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verlassenen Systems wurde akzeptiert. Wir versuchten mit unserem Fragebogen die individuellen Voraussetzungen für solch eine Bewußtseinsänderung zu erfassen. Das heißt, wir können Informationen geben über: 1. Informiertheit = Rechtskenntnis der Übersiedler über das bundesrepublikanische Rechtssystem, 2. das daraus folgende Rechtsverständnis, 3. Akzeptanz oder Nichtakzeptanz des ehemaligen DDR-Rechts sowie Akzeptanz oder Nichtakzeptanz des Rechts- und Wertesystems der gewählten neuen Gesellschaft, 4. mit Einschränkungen sind Aussagen zur Moralität der befragten Übersiedler möglich. 2.2 Die Stufenleiter der Moral Der amerikanische Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg hat mit Hilfe langjähriger Untersuchungsreihen ein Entwicklungsmodell der Moralität aufgestellt (Zimmer 1986, S. 138 ff.), das die Grundlage unseres Untersuchungsansatzesbilden soll. Demnach durchläuft das Kind im Verlaufe seiner Sozialisation verschiedene Stadien der Moralität, die immer differenzierter werden und schließlich auf einer Stufe der Moral, die über dem Gesetz steht, enden können. Allerdings führt diese von Kohlberg erforschte Entwicklung nicht zwangsläufig zu dem hier angestrebten Idealziel - da dem Menschen seine Moralität nicht naturgegeben zuwächst, Eltern und Gesellschaft ihm ihre eigene Moral ständig vorleben, kann der Einzelne mit seinem persönlichen Rechtsempfinden durchaus auf einer niedrigen (auch auf einer sehr niedrigen) Stufe dieser Skala stehenbleiben. Es ist uns bei der Heranziehung der Kohlbergsehen Thesen durchaus bewußt, daß sowohl sein wissenschaftlicher und gedanklicher Ansatz als auch seine Aussagen selbst nicht unproblematisch sind, daß seine amerikanischen Ergebnisse nicht geradlinig auf deutsche gesellschaftliche und rechtliche Gegebenheiten und Traditionen übertragen werden können. Aber Kohlbergs Denkansatz ist der umfassendste und differenzierteste; er erscheint uns im Vergleich zu anderen Erklärungsversuchen zum schwierigen Forschungsgebiet Rechtsbewußtsein immer noch am meisten überzeugend. Welches sind nun nach Kohlberg die einzelnen Stadien der Entwicklung des Rechtsempfindens? 1. Die niedrigste Stufe umfaßt das Wechselspiel von fraglosem Gehorsam auf der einen und Angst vor Bestrafung auf der anderen Seite. Derjenige, der die Macht hat, seine Moral, sein Rechtsempfinden durchzusetzen, der hat in den Augen des Beherrschten auch Recht, und seine Moral ist die richtige. Es wird nicht nur aus Angst vor Sanktionen gehorcht, sondern vor allem, weil der Beherrschte gar nicht auf den Gedanken kommt, an den Vorstellungen

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Sabine Gries/Sabine Meck

und Wünschen des Herrschers zu zweifeln. Dieser ist sakrosankt und seine Befehle sind es ebenfalls. Ihre Rechtlichkeit ergibt sich allein schon durch die Tatsache, daß sie ausgesprochen wurden. 2. Das zweite Stadium nennt Kohlberg die "Marktplatz-Moralität" (Zimmer 1986, S. 138). Danach werden gut und böse nach einem sehr einfachen Prinzip unterschieden: gut ist, was für den Einzelnen angenehme, schlecht, was für ihn unangenehme Folgen zeitigt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das für mich Gute für einen anderen schlecht ist. Es ist ein rein egozentrischer Standpunkt, der allerdings im Gegensatz zum ersten Stadium schon berücksichtigt, daß Wünsche und Befehle, die an den Einzelnen herangetragen werden, falsch sein können. Diese beiden Stadien, die das unterste Niveau der Moralität bilden, gelten in unserer Gesellschaft allerdings nicht als verbindlich für Erwachsene. Deren Rechtsempfinden siedelt meist auf dem Niveau der "konventionellen Moral" (Zimmer 1986, S. 138), die Kohlbergs Entwicklungsstadien drei und vier um faßt. 3. Auf dieser Entwicklungsstufe gilt es als moralisch, selbst Gutes zu tun und anderen nicht willentlich und in böser Absicht zu schaden. Ob das, was man selbst für gut hält, diesen Anspruch auch wirklich einlöst, wird dabei aber nicht gefragt. 4. Auf dieser Stufe der moralischen Entwicklung kommen zum ersten Male die Begriffe Gesetz und Gesellschaft ins Spiel. Hier nun findet sich nach Kohlberg der typische gesetzestreue Bürger: er befolgt die Gesetze, ohne nach ihrem Sinn zu fragen, und hält die gegebene soziale Ordnung hoch, ganz gleich, wie sie aussieht. Kohlberg gibt an, daß die meisten (von ihm untersuchten) Menschen nicht über dieses konventionelle Niveau hinausfinden, das ein Kind spätestens mit der Pubertät erreicht hat (Stadium 2 etwa mit zehn Jahren). Bei manchen Menschen (nach Kohlberg sind es nur wenige) führt die Entwicklung des Rechtsbewußtseins aber noch weiter. Es schließt sich ein zweistufiges "postkonventionelles Niveau der Moralität" an. 5. Auch auf diesem Niveau ist der Einzelne gesetzestreu, aber nicht deshalb, weil es die Gesetze nun einmal gibt oder weil man für Nichteinhaltung bestraft werden kann, sondern sie sollen befolgt werden, weil sie rational entwickelt wurden und das Ergebnis mehrheitlicher (demokratischer) Entscheidungen bilden. 6. Darüber hinaus gibt es noch die Möglichkeit einer höheren Gerechtigkeit, die über allen Gesetzen steht, und der sich geschriebenes Recht im Zweifelsfalle unterzuordnen hat (Kohlberg 1964 passim). Um diese eher abstrakte Stufenleiter mit Leben zu füllen, müssen wir uns fragen, ob ein Mensch eigentlich in jeder ihn umgebenden Gesellschaft die

Rechtsbewußlsein in der ehemaligen DDR

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Möglichkeit geboten bekommt, die sechste Stufe der Moralität überhaupt zu erreichen. Zumindest müssen nach unserem heutigen Verständnis vorgegeben sein: - ein Gesetzgeber, der nicht gleichzeitig auch Sanktionsinstanz ist (Gewaltenteilung); - ein Gesetzgeber, der seinen eigenen Gesetzen unterworfen ist und dem gegenüber der Bürger seine Rechte einklagen kann (Verwaltungsgerichte; zur A~chaffung der Verwaltungsgerichte in der DDR siehe Henrich 1989, s. 80 ff.); - ein Gesetzgeber, der von einer demokratischen Mehrheit berufen wurde und auch wieder abgesetzt werden kann (freie Wahlen); - Rechtssicherheit durch eindeutige Gesetze und berechenbare Verfahren; - eine Gesellschaft, die unmoralisches Verhalten (Denunziation, "graue" Märkte, Unterschleife etc.) nicht belohnt; - eine Gesellschaft, in der keine Doppelmoral herrscht; das heißt, offiziell belobigtes Verhalten darf nicht privat unmoralisch sein. Leicht lassen sich noch weitere wichtige Punkte finden, die der Entwicklung eines hohen Niveaus des Rechtsbewußtseins dienlich sind, und ebenso sicher wird es die hier grob skizzierte Idealgesellschaft kaum einmal geben. Dennoch ist sie so weit wie möglich anzustreben, um den Menschen eine Chance zu bieten, überhaupt so etwas wie ein moralisches Rechtsempfinden zu entwickeln. Es fragt sich nun, ob für eine solche Entwicklung im Staat DDR die Grundlagen gegeben waren. 2.3 Welche Formen des Rechtsempfindens konnte der DDR-Bürger entwickeln? Auf Kohlbergs Thesen fußend, hat Schmidtchen (1984 passim) ein eigenes System des Rechtsbewußtsein entwickelt, das kürzer und prägnanter als das seines Vordenkers ist (allerdings ist es dadurch auch gedanklich schlichter). Schmidtchens Modell begnügt sich mit drei Abstufungen: 1. Stufe des moralischen Realismus: "Wer stiehlt, wird bestraft. Wer nicht erwischt (oder bestraft wird), darf stehlen." 2. Stufe der heteronomen Moral: "Man darf nicht stehlen, weil es verboten ist." Dabei wird nach dem Sinn dieses Verbotes nicht gefragt. 3. Stufe der autonomen Moral: "Man darf nicht stehlen, weil das kein vertretbarer Grundsatz ist." Gemeint ist damit, daß niemand mehr seines Eigentums sicher wäre, wenn Diebstahl nicht untersagt würde (Schwind 1990, S. 173).

Auch Schmidtchen geht davon aus, daß nur die wenigsten Menschen die höchste Stufe des Rechtsbewußtseins erreichen. Doch hier muß man sich 3 Voigt/Mertens

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Sabine Gries/Sabine Meck

fragen, ob die Stufen eins und zwei eigentlich mit dem hier gemeinten Rechtsbewußtseinsbegriff vereinbar sind. Schließlich erreichen sie nicht einmal das Niveau der Lesebuchweisheit "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Gibt es also kaum Menschen, die überhaupt erfassen, was Rechtsbewußtsein und Moral sind, geschweige denn nach diesen Vorgaben leben? Wir sehen das anders. Auch ein unentwickeltes Rechtsbewußtsein auf einem niedrigen Niveau ist eine Form, zumindest eine Vorform von Rechtsbewußtsein. Hier nun soll untersucht werden, ob und wieweit der DDR-Bürger unter den Vorgaben seines Staates ein erwachsenes Rechtsbewußtsein im von Kohlberg gemeinten Sinne entwickeln konnte. Wir setzen als eine Grundlage eines sicheren Rechtsbewußtsein die Identifizierung mit dem gegebenen Recht (den Gesetzen also) voraus. Und bereits an dieser Stelle treten Zweifel auf, ob die Mehrzahl der DDR-Bürger die Gesetzgebung des eigenen Staates bejahte. Mehreres spricht dagegen: Die gesamte Rechtspflege und Gesetzgebung der DDR wurde durchaus nicht auf Wunsch des Volkes oder gar mit seiner Zustimmung geschaffen. Es war immer ein fremdes Recht: Besatzungsrecht zuerst, offen parteiliches Recht zugunsten einer vorgeblich herrschenden Arbeiter-und-Bauern-Macht später. Dieses Recht wollte expressis verbis ungerecht sein, in positivem Sinne ungerecht natürlich, als Machtinstrument einer bisher angeblich stets unterdrückten Klasse. Darüber hinaus war es fremdes Recht, mit vielen Übernahmen aus der Sowjetunion versehen, wie Lekschas et al. (1983 passim) mehr als einmal lobend erwähnten. Fremdes Recht aber wird von der Bevölkerung eines Landes immer schwer akzeptiert, schon gar nicht, wenn es objektive Verschlechterungen mit sich bringt (siehe dazu auch Reinemann 1976, S. 85 ff., der sich ausführlich mit dem Widerstand von Volk und Juristen gegen die Einführung des römischen Rechts im deutschen Kulturgebiet des 15./16. Jahrhunderts beschäftigt). Darüber hinaus war das DDR-Recht ein bewußt diffuses Recht, das eindeutige Strafbestände und Zuordnungen vermissen ließ. Was konnte nicht alles Sabotage sein (beispielsweise objektives Nicht-Können bei der Normerfüllung) oder Widerstand (zum Beipiel das Einfordern von rechtlich relevanten Ansprüchen). Gut war immer nur, was dem Staate nützte, und das konnte jeden Tag etwas anderes sein. Eine solche Gesetzesgrundlage läßt ein Rechtsgefühl gar nicht erst aufkommen; entwickelt es sich doch, so meist gegen das geschriebene Gesetz. Zumeist führt es aber nur zu gedankenlosem Ducken unter unverständliche Vorschriften und zu einem Gefühl der Erleichterung, wenn man selt~t wieder einmal davongekommen ist. Der Staat DDR verlangte von seinen Bürgern geradezu das Ausüben einer doppelten Moral. Damit ist nicht nur ein Reden mit gespaltener Zunge gemeint

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

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- hier privat, dort offiziell. "Die perfekt kontrollierte Schizophrenie, die perfekt verbalisierte Heuchelei - die bereits den Vierzehnjährigen in der DDR so selbstverständlich ist wie Großstadtkindern das Überqueren belebter Straßen," (Ash 1981, S.76) fiel nicht nur dem britischen Journalisten Timothy Garton Ash als DDR-typisches Charakteristikum auf. Er setzte seine Beobachtungen fort: "Die Bereitschaft zum Doppelleben impliziert auch die Akzeptierung einer Doppe/moral: Ich bin bereit, einem staatlichen Verhalten zu applaudieren, dem ich im privaten Bereich niemals Anerkennung zollen würde" (etx:l.). Diese Haltung einer subjektiv nur äußerlichen Unterwerfung (wie tief der innerliche Schaden dabei ging, wurde von den so Handelnden bewußt übersehen), wurde von den Regierenden, die ja begeisterte Kämpfer für den Sozialismus und sozialistische Persönlichkeiten heranziehen wollten, eher zähneknirschend akzeptiert, war aber nicht wirklich erwünscht. Der Staat forcierte eine etwas anders gelagerte Form von Doppelmoral: die Unterstützung und Belobigung eines Verhaltens, das sonst - auch von der DDR selbst - geschmäht wurde, immer dann, wenn es gegen den Hauptfeind Kapitalismus ging. Der nämlich sollte gehaßt und bekämpft werden - und zwar ganz ausdrücklich auch militärisch und durch "gerechte" Kriege. So lernten es schon die Dreijährigen im Kindergarten, wenn sie sangen: "Lieber Soldat, du trägst ein Gewehr./Lieber Soldat, dich lieben wir sehr./Mit Panzer und Flugzeug bist du stets bereit/für uns Kinder alle im Ehrenkleid' (Deja-Lölhöffel1988, S. 113) oder: "Mein Bruder ist Soldat/im großen Panzerwagen,/und stolz darf ich es sagen:/Mein Bruder schützt den Staat. ... Und greift uns jemand an,/so hat er nichts zu lachen,/die Volkssoldaten wachen/und stehen ihren Mann" (etx:l.). Und es blieb nicht beim Singen. Die Schulkinder fingen beim Geländespiel feindliche Agenten, kämpften beim "Manöver Schneeflocke" um Ruhm und Ehre und lernten, wie lustig es sich im Miniaturpanzer fahrt. Und das alles im Namen des Friedens und der Völkerfreundschaft... Der Staat verhielt sich darüber hinaus selbst "kriminell", da er die von ihm selbst eingesetzten Rechte im speziellen Falle (und es gab viele spezielle Fälle) nicht befolgte und einhielt oder gar bewußt brach. In der DDR-Verfassung wurden so die Menschenrechte hoch gehalten, und viele Artikel lesen sich durchaus demokratisch (so wurde etwa das Briefgeheimnis garantiert). In Wirklichkeit war es aber fast jedem erwachsenen DDR-Bürger klar, daß er mit ständiger Bespitzelung rechnen mußte, gegen die er sich auf keine Weise auflehnen konnte (es gab weder Verwaltungsgerichte noch die Möglichkeit, sich mit seinen Problemen legal an die Öffentlichkeit zu wenden; das war dann gleich wieder der Straftatbestand der "Verunglimpfung"). Nun läßt sich hier einwenden, daß diese staatliche Überwachung den meisten Menschen ja nicht direkt Schaden zufügte, weil die Zahl der bewußt und willentlich ungerecht behandelten Personen sich - zumindest in den letzten Jahrzehnten - in überschaubaren Grenzen hielt. Das denkt sich beruhigend, geht

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Sabine Gries/Sabine Meck

aber an der Wirklichkeit vorbei. Ein Individuum kann kaum eine selbstbewußte und kritische Persönlichkeit entwickeln, wenn es unmündig gehalten wird, sich ständig mißtrauisch beobachtet fühlt und zudem noch seinen Lebensweg mit ihm unbekannten Fallen gespickt weiß, in die es ahnungslos stolpern kann. In genau dieser Situation befanden sich aber die DDR-Bürger, wenn eine solche Feststellung inzwischen auch gerne abgewiegelt wird. Sie lebten unter dem Druck einer vollkommenen Vertrauenslosigkeit (weder vertraute der Staat den Bürgern noch vertrauten die Bürger dem Staat) und einer permanenten Rechtsunsicherheit, die in den letzten zweihundert Jahren in Deutschland eben nicht mehr das Übliche waren. Auch in monarchischen Zeiten konnte der Untertan sich im allgemeinen darauf verlassen: daß geschriebenes Recht galt und für alle Menschen gleich war; daß seine Richter unparteiisch entschieden und nicht einer bestimmten Ideologie verpflichtet waren; daß er Anspruch auf einen Rechtsbeistand hatte (in der DDR gab es 600, überwiegend SED-gebundene Rechtsanwälte (Friedrich 1989, S. 125), in der Bundesrepublik Deutschland bei dreieinhalbmal mehr Einwohnern 52.000); daß er ein Einspruchsrecht hatte (über den Einwurf "Dann gehe ich eben zum König." lächelt man heute, aber diese Möglichkeit bestand wirklich und wurde auch genutzt); daß das Recht nicht gebeugt wurde; daß es keine Sondergesetze für verschiedene Stände und bestimmte Bevölkerungsgruppen mehr gab; daß der König (Kaiser; Regierung) nicht in laufende Prozesse eingriff (es blieben einzig ein Begnadigungsrecht und die Möglichkeit, ein Todesurteil nicht zu bestätigen). Mit einem solchen Recht konnte der Einzelne sich - bei a1len staatlichen Mängeln und Ungerechtigkeiten - identifizieren. Er lernte auch aus Erfahrung, daß er in einem Staat lebte, der zwar mit heutigen Demokratien nicht zu vergleichen war, aber eben auch keine Willkürherrschaft verkörperte, wie es die DDR, die bewußt Unrechtsmaßnahmen gegen die Bürger des eigenen Landes einsetzte, auf weiten Strecken war. (Zu vergleichen ist mit dieser Rechtssituation- bei aller Vorsicht und allen Unterschieden - durchaus die nationalsozialistische Zeit mit ihren Ausgrenzungs- und Sondergesetzen; der wichtigste Unterschied bestand darin, daß die Nationalsozialisten die traditionelle Rechtssicherheit weiterhin vortäuschten. da ihre Gesetzgebung auch bei den unmenschlichsten Inhalten formal akribisch genau und nachvollziehbar blieb. Daß viele Menschen dieses Unrecht erst spät durchschauten, lag wahrscheinlich auch daran, daß sie auf Grund historischer Erfahrungen ihrem Staat, ihrer Regierung ein solches unredliches und ungerechtes, ja kriminelles Denken und Handeln einfach nicht zutrauten. Die DDR-Gesetzgebung war dahingegen bewußt indifferent formuliert und bot daher einen weiten Spielraum für jeweils staatsgenehme Auslegungen.) Parallel zu dieser Vertrauenslosigkeit entwickelte sich in der DDR eine zweite Form des Verhältnisses Bürger/Staat, die sich auf das Rechtsbewußtsein des Einzelnen ebenso desaströs auswirken konnte: die Komplizenschaft. Dabei sind hier zwei verschiedene Arten zu unterscheiden. Zum einen gab es das all-

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

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gemeine Stillschweigen über Dinge, die geschahen, obgleich es sie offiziell in einem sozialistischen Staat nicht geben durfte, wie beispielsweise Selbstmorde (dazu ausführlich Matussek 1992, passim). "Suizid-Forschung in der ehemaligen DDR war eine Geheimwissenschaft, denn die Selbsttötung war eines der großen Tabu-Themen im realen Sozialismus.... Im Sozialismus gab es keine unglücklichen Menschen, ... Und da in der DDR der Sozialismus wirklich geworden war, konnte es hier auch keine Selbstmordopfer geben" (ebd., s. 12 f.) Komplizenhaft ging es aber auch auf einem weiteren Gebiet zu, bei den kleinen Gaunereien des Alltags. DDR-Bürger wurden von ihrem Staat im allgemeinen als unmündige Kinder betrachtet und behandelt, die zwar manchmal der Rute bedurften, deren Streiche und Näschereien man sonst aber großmütig übersehen konnte. So blieben die lieben Kleinen zufrieden, und der materielle und psychische Schaden wurde leichtfertig übersehen. Wer sonst nur brav Partei und Staat als allmächtig und richtungsweisend anerkannte und akzeptierte, konnte sich schon einiges an Verantwortungslosigkeit leisten: 30 % uneheliche Kinder, Scheidung als Normalfall, der alltägliche Klau am Arbeitsplatz, bewußte Produktion von Aussschuß, um "Schrottnormen" einzuhalten oder um zweitklassige Ware selbst erwerben zu können und anderes mehr. Diese Verhaltensweisen wurden als normal angesehen, und niemand fragte danach, ob sie einem reifen Erwachsenen angemessen sind: "Gegenüber der Lamoryanz der Kleinen, die sich im Gegensatz zu den Großen stets gehängt sehen, ist Skepsis angebracht: Wer von Regierungskriminalität spricht, darf von der Kriminalität jener, die sich regieren ließen, nicht schweigen. Denn ohne Untertanenkriminalität, for die es in Ostdeutschland Orden, Sonderurlaub und Plattenbauwohnungen gab, wäre auch von der SED kein 'Unrechtsstaat' zu machen gewesen" (Leggewie/Meier 1992, S. 69; Hervorhebung im Text). 2.4 Empirische Untersuchung zum Rechtsbewußtsein der DDR-Übersiedler Die Gesamtzahl der auswertbaren Fragebögen zu Recht und Gesetz betrug 1.024. Die Gesamtuntersuchung "Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR" ist bei 6.821 verwertbaren Fragebögen repräsentativ für die Flüchtlinge und Übersiedler im Untersuchungszeitraum Oktober 1989 bis Juni 1990. Bei N 1.024 auswertbaren Fragebögen sind auch unsere Aussagen zum Rechtsbewußtsein repräsentativ für die Übersiedler im genannten Untersuchungszeitraum (weiterhin siehe zur Repräsentativität und zur Methodenkritik Brenske 1992, S. 15 ff. u. S. 52 ff.; Schlüter 1992, S. 5 ff.). Zur Methodenkritik ist für den Fragebogen "Rechtsbewußtsein" anzumerken: ein Pretest fand aus Zeitgründen nicht statt; inhaltlich erfolgte keine Un-

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terteilung in Fragen, die Rechtskenntnis messen, und Fragen, die Moralität, Rechtsgefühl oder Bewußtsein messen; eine Vergleichsuntersuchung aus westlichen Ländern liegt bislang nicht vor, so daß die Daten relativ isoliert im Raum stehen. So ist zum Beispiel nicht zu überprüfen, ob etwa bei Bundesbürgern eine entsprechende Rechtskenntnis des eigenen Systems vorhanden ist. 2.5 Ausgewählte empirische Ergebnisse Zum besseren Verständnis soll zunächst kurz die sozio-demographische Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe "Recht und Gesetz" im Vergleich zur Gesamtgruppe dargestellt werden. Für die Gesamtgruppe (N 6.821) gelten folgende Aussagen:

1. Der DDR war die Jugend davongelaufen. Der Anteil der F1üchtlinge und

Übersiedler an der Altersklasse 18 - 29 Jahre beträgt in allen Untersuchungsphasen mehr als 50 %, meist nahezu 60 %. Nur vor Grenzöffnung lag der Wert bei 46,3 %. In der DDR fielen zum Vergleich auf diese Altersklasse 24,9 % der Bevölkerung ab 18 Jahre (errechnet aus Angaben des Stat. Jb. der DDR 1989, s. 355). 2. Der DDR war eine Qualifikationselite geflohen. Vor Grenzöffnung Jagen die Hoch- und Fachschulabschlüsse der Befragten in ihren Werten weit über DDRNiveau. Dominant ist insgesamt der Anteil an Facharbeitern bzw. Personen mit abgeschlossener Lehre (siehe dazu Brenske 1992). 3. Hinsichtlich der Geschlechterverteilung spiegeln die Flüchtlinge/ Übersiedler genau das Gegenteil der DDR-Bevölkerung. Während dort der Frauenanteil den der Männer überwog (Frauen 53,2 %, Männer 46,8 %; errechnet aus Angaben des Stat. Jb. der DDR 1989, S. 360), waren in unserer Untersuchung die Männer überrepräsentiert. Für die 1.024 Befragten, die auch den Fragebogen zum Rechtsbewußtsein ausfüllten, gilt: Alter: Hinsichtlich ihrer Altersstruktur waren die 1.024 zum Recht befragten Übersiedler älter als die Vergleichsgruppe (Gesamt ohne die 1.024). Die über 40jährigen waren hier sehr viel stärker vertreten.

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

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Tabelle 1: Altersstruktur der Flüchtlinge/Übersiedler und der zu Recht und Gesetz Befragten

Jahre

Gesamtgruppe N 5.797 in X

Gruppe "Recht" N 1. 024 in X

18 - 24

34,1

33,7

25 - 39

48,4

45,3

40 und älter

17,5

21,0

100,0

100,0

Total

Chi2=7,51208 df=2 p--{),02338 +

Geschlecht. In dieser Teilgruppe waren prozentual sehr viel mehr Frauen vertreten als in der Gesamtgruppe. Tabelle 2 : Geschlechterverteilung der Flüchtlinge/Übersiedler und der zu Recht und Gesetz Befragten

Geschlecht männlich weiblich Total

Gesamtgruppe N 5.797 in %

Gruppe "Recht" N 1.024 in X

61,9

57,6

38,1

42,4

100,0

100,0

Chi2: 6,70723 df= 1 p= 0,00960 ++

Berofsausbildung: In der Art der Berufsausbildung unterschieden sich die beiden Gruppen kaum. Geringfügig mehr ohne Ausbildung waren in der Gruppe "Recht" vertreten.

40

Sabine Gries/Sabine Meck

Tabelle 3: Berufsausbildung der Flüchtlinge/Übersiedler und der zu Recht und Gesetz Befragten

Gesamtgruppe Berufsausbildung

Gruppe "Recht"

N 5.604

in

N 982

~

in~

ohne Ausbildung Lehre Fachschulausbildung Hochschulausbildung

3,7 73,8

73,6

16,1 6,3

15,6

Total

99,9

100,0

Chi2= 2,88579 df= 3

4,8

6,0

p= 0,40957 ns

Religionszugehörigkeit: Ähnliches gilt auch für die Konfessionszugehörigkeit Geringfügig mehr aus der Gruppe "Recht" gaben an, keiner Konfession anzugehören. Tabelle 4: Religionszugehörigkeit der Flüchtlinge/Übersiedler und der zu Recht und Gesetz Befragten

Gesamtgruppe Konfession evangelisch katholisch andere keine Total

Gruppe "Recht"

N 5.585

N 991

in

in

~

25,8

~

24,5

6,4

6,6

1,1 66,8

0,8 68,1

100,1

100,0

Chi2 = 1,32392 df= 3

p= 0, 72346 ns

Wichtiger als die sozio-demographische Zusammensetzung der Gruppen ist für das Verständnis des Rechtsbewußtseins die Frage nach dem: Warum sind die Übersiedler damals in den Westen gekommen, welche Gründe und Motive lagen ihren Handlungen zugrunde? Wir gehen davon aus, daß Einstellungen und Rechtsbewußtsein miteinander korrelieren. Auf die offenen und geschlossenen Fragen nach den Gründen für die Flucht/Übersiedlung erhielten wir verschiedene Antwortkategorien, die wir zu einer statistischen Größe, dem Flüchtlings-Unzufriedenheitsindex, kurz FUX genannt, zusammenfaßten (siehe dazu Schlüter 1992, S. 146 ff.). Wichtig ist

41

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

hier, daß jede einzelne Aussage, die auf eine bestimmte Unzufriedenheit schließen ließ, nach einem - subjektiv festgelegten und mehrfach überprüften Punktesystem - bewertet wurde. Zunächst wurden jeweils eine politische und eine wirtschaftliche Unzufriedenheit ermittelt, die wir aus der Gesamtzahl aller Antworten errechneten, die sich in eine der Unzufriedenheitskategorien einordnen ließ. Im nächsten Schritt führten wir eine Clusteranalyse durch. Wir erhielten insgesamt vier optimale Cluster, in die sich alle Untersuchungspersonen einordnen ließen. Die Statistik erbrachte somit vier Gruppen von Übersiedlem, die sich in ihrer politischen und wirtschaftlichen Unzufriedenheit deutlich voneinander unterschieden. 9000

..." 8000 0

"8:I 7000 L

CT 111 01

§6000

.t: 0

" 5000 ~

.Jl

< L

~4000

"EE JOOO :I

(/)

~2000

......"

~

1000 0

2

J

4

5

6 7 Anzahl Cluster

8

Diagramm 1: Ermittlung der optimalen Clusteranzahl (N. 6.821)

9

10

42

Sabine Gries/Sabine Meck

Diese vier Cluster lassen sich wie folgt einteilen: Cluster A: hauptsächlich politisch Unzufriedene. Cluster B: politisch und wirtschaftlich Unzufriedene. Cluster C: die Gründe der Unzufriedenheit liegen in keinem der beiden Bereiche. Cluster D: Wirtschaftsflüchtlinge/-übersiedler.

10

.c 9 u

111

~

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8

a. 7 )( 6

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Cll

'0

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2

o

"ij 4

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c:: ~ 3 Cll

·;:

"S N c::

c"

2

oD

=>1 0

0

B

1

2

J

4

5

6

7

Unzufriedenheitsindex - wirtschottlieh

8

Diagramm 2: Position der vier Clusterzentren im Raster der politischen und wirtschaftlichen Unzufriedenheit (N 6.821)

Insgesamt können wir für alle 6.821 Befragten feststellen: die politische Unzufriedenheit der Übersiedler überwog die wirtschaftliche; im Zeitverlauf nahm die politische Unzufriedenheit stark ab, während die wirtschaftliche kontinuierlich zunahm.

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

43

1

"

Befl"agungapha••

Diagramm 3: Die 4-Ciuster-Lösung der UnzufriedenheilSindices (politisch und wirtschaftlich im Zeitverlauf für N 6.821)

Die Qusteranalyse gekreuzt mit den sozio-demographischen Variablen zeigte: Jüngere waren eher wirtschaftlich unzufrieden als Ältere. Die Quster setzten sich altersmäßig wie folgt zusammen: Tabelle 5: Altersstruktur der Flüchtlinge/Übersiedler- aufgeteilt in vier Clusterzentren (N 6.821)

A

B

c

D

Alter

in "

in "

in "

;n "

18 - 24

27,9

34,2

33,8

43,1

25 - 39

49' 1 23,1

49,9

46,0

46,1

15,9

20,1

10,8

100' 1

100,0

99,9

100,0

40 und älter

Total

Chi2: 108,28782 df= 6 p= 0,0000 ++

Männer waren insgesamt wesentlich unzufriedener als Frauen. Im politischen Bereich zeigen sich kaum Unterschiede, aber politisch und wirtschaftlich waren die Männer unzufriedener. Frauen dominieren in der Gruppe C. Wir vermuten hier die Frauen, die ihren Männem nachgereist waren und sich eigentlich mit den Verhältnissen in der DDR arrangiert hatten. Frauen und Männer teilen sich in den Clustern wie folgt auf:

44

Sabine Gries/Sabine Meck

Tabelle 6: Geschlechterverteilung der Flüchtlinge/Übersiedler- aufgeteilt in vier Clusterzentren (N6.821)

männlich

weiblich

Cluster

in "

in "

A

22,7

22,4

B

32,9

28,9

27,7

35,9

16,7

12,8

100,0

100,0

c D

Total

Chi2: 60,94938 df= 3 p= 0,0000 ++

UnzufriederY\eitsindex

.t=====4=====~====:to=,='g===t:o=,2===o·=H~II.Jmw•lt 4

Befragungsphase

5

6

Diagramm 4: Mittlere UnzufriedenheilSindices der Flüchtlinge/Übersiedler im Zeitverlauf

(N 6.821)

Es ließen sich auch noch andere Unzufriedenheitsindices ermitteln- Das Diagramm 4 stellt verschiedene Füxe dar. Wir erkennen, daß zum Beispiel die schlechten Umweltbedingungen noch kein Motiv zur Flucht/Übersiedlung gewesen sind. In der damaligen DDR hatte sich zum Zeitpunkt der Befragung noch kein Bewußtsein für Umweltfragen herausgebildet. Der FUX Freiheit hat im Zeitverlauf kontinuierlich abgenommen; wie oben bereits erwähnt auch der politische FUX. Im hier dargelegten Zusammenhang nimmt der FUX Rechts-

45

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

bewußtsein eine herausragende Stellung ein. Unter Unzufriedenheit mit Recht und Gesetz werden hier vor dem Hintergrund der geäußerten Kritik der Übersiedler verstanden: direkte Kritik an der Rechtssprechung in der ehemaligen DDR; empfundene und zum Ausdruck gebrachte Einschränkung in den Grundrechten; das impliziert alle Aussagen zum Verlust der Freiheit; Menschenrechte, die verletzt wurden; Kritik am totalitären Staatssystem der DDR; erlebte Unmündigkeit des DDR-Bürgers in rechtlichen und staatlichen Fragen. Im Fragebogen Recht und Gesetz wurden nur die Antworten auf Fragen zu Erwartungen an das Rechtssystem in der Bundesrepublik nicht berücksichtigt, da diese nicht auf Unzufriedenheit mit Recht und Gesetz in der DDR schließen ließen. Zum FUX Rechtsbewußtsein lassen sich zunächst folgende Aussagen treffen: Wir errechneten zunächst die Mittelwerte für den FUX R in Abhängigkeit von ausgewählten sozio-demographischen Variablen. Mit Hilfe des H-Testverfahrens von Kruskal und Wallis ermittelten wir die Standardabweichungen in den Häufigkeitsverteilungen. Der Chi2-Test zeigte kein einziges signifikantes Ergebnis in allen berechneten Gruppen. Die Unzufriedenheit mit Recht und Gesetz erbrachte keinerlei Differenzen in den einzelnen Altersgruppen oder zwischen den Geschlechtern.

25

18- 24

25 - 39

40 und Olter

Alter ln Jahren Diagramm 5: Mittlerer rechtlicher UnzufriedenheilSindex in Abhängigkeit von der Altersgruppe (N 1.024)

Sabine Gries/Sabine Meck

46

25

männlich

weiblich

Geschlecht Diagramm 6: Mittlerer rechtlicher UnzufriedenheilSindex in Abhängigkeit vom Geschlecht (N 1.024)

Ebenso hatte der Familienstand keinen Einfluß auf das Rechtsbewußtsein. Das gleiche gilt für die Berufsausbildung (Diagramm 7) oder die Herkunft aus den verschiedenen Bezirken der DDR. Ziehen wir jedoch die oben aufgezeichneten vier Cluster A- D heran und setzen diese in Korrelation zum FUX R, so erhalten wir folgendes Ergebnis: Je größer die Unzufriedenheit mit den politischen Bedingungen, desto höher die Unzufriedenheit auch mit Recht und Gesetz. Die reinen "Wirtschaftsflüchtlinge" äußerten die geringste Kritik (Diagramm 8). Unsere empirischen Ergebnisse lassen sich zunächst wie folgt zusammenfassen: 1. Die Befragungsphase zu Recht und Gesetz deckt sich nahezu mit dem Zeitraum nach der Volkskammerwahl (in der Gesamtuntersuchung die 5. Phase 20.03.90-23.04.90). Wir verzeichnen hier einen relativ hohen Anteil an Frauen; vermutlich waren das die Frauen, die ihren Männern in die Bundesrepublik nachreisten, nachdem diese bereits Arbeit oder Wohnung gefunden hatten. Auch waren die Befragten dieser Phase älter als die Restgruppe.

47

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

2. In diese Phase fällt auch ein sehr hoher Anteil an Personen, die sich weder durch eine hohe politische, noch durch eine hohe wirtschaftliche Unzufriedenheit auszeichnen. Wir vermuten, daß die oben erwähnten nachreisenden Ehefrauen sich mehr oder weniger mit dem System arrangiert hatten und deshalb keine eindeutige Zuordnung in eines der Raster zuließen. 3. Eine Beziehung zwischen den sozio-demographischen Variablen und der Rechtsunzufriedenheit besteht nicht. Auch die Aufteilung in Gruppen (Bauarbeiter; Baukader; andere Arbeiter; andere Kader), die wir früher durchgeführt hatten, brachte keine signifikanten Differenzen zwischen den einzelnen Gruppen.

10

5

0

ohne Ausbildung

Lehre

Fachschule

Hochschule

Berufsausbildung über ..• Diagramm 7: Mittlerer rechtlicher UnzufriedenheilSindex in Abhängigkeit von der Berufsausbildung (N 1.024)

4. Dagegen deckten wir eine hohe Korrelation zwischen Einstellungsausprägungen und Rechtsunzufriedenheit auf. Es besteht eine fast lineare Korrelation zwischen politischem und rechtlichem FUX. Die Korrelation zwischen wirtschaftlichem und rechtlichem FUX ist gering. 5. Gehen wir davon aus, daß die politische Unzufriedenheit in diesem Untersuchungszeitraum verglichen mit den anderen Phasen schon abgenommen hatte, dann können wir folgerichtig daraus schließen, daß die Rechtsunzufriedenheit in den anderen Gruppen noch größer gewesen sein muß.

48

Sabine Gries/Sabine Meck

25

20

15

10

5

0

A

8

Cluster

c

D

Diagramm 8: Mittlerer rechtlicher UnzufriedenheilSindex in Abhängigkeit von der ClusterVariablen (A-D)

Unsere Ergebnisse bestätigen zunächst: Eine Identifikation unserer Befragten mit Recht und Gesetz in der DDR fand nicht statt. Diejenigen, die wir als Wirtschaftsübersiedler bezeichnet haben, zeigten auch gegenüber dem Rechtssystem in der DDR eine eher indifferenzierte Haltung, die sich sogar in einem noch geringerem Mittelwert ausdrückt, als er in der Gruppe C, der Gruppe der "Weder-noch-Unzufriedenen" auftritt.

III. Die offizielle Kriminologie der DDR 3.1 Kriminalität und Kriminalitätsursachen Für den Durchschnittsbürger in der DDR mag das tägliche Leben einfach und schlicht gewesen sein (wie es heute gern in nostalgischer Sehnsucht betont wird) - leicht war es nie. Da es aber nun einmal in der Natur es Menschen liegt, sich nicht auf Dauer mit dem Allereinfachsten und Schlichtesten zufrieden zu geben (sonst würde so etwas wie eine gesellschaftliche Entwicklung gar nicht erst stattfinden), versuchten auch die Menschen in der DDR, für sich ein kleines Sonderglück zu erlangen - eine West-Jeans, ein Wochenendhaus, einen Beruf,

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

49

der Freude machte. Da diese Art von persönlicher Strebsamkeit aber bei den offiziellen Planvorgaben nicht vorgesehen war, mußte man zwangsläufig häufig auf nicht ganz legale Praktiken ausweichen - die Jeans kam gar nicht erst über die Ladentheke, den Zement für das Fundament "besorgte" der Schwager als Polier auf einer staatlichen Baustelle, den möglichen Konkurrenten um den angestrebten Posten denunzierte man als "Abweichler" gleich welcher Richtung. Ein weiteres kam hinzu. Da der Sozialismus allen Menschen eine gleichartige Versorgung versprach, mußten die zu verteilenden Güter notwendigerweise normiert werden. Das bezog sich nicht nur auf die Versorgung mit Lebensmitteln oder anderen lebensnotwendigen Dingen, sondern auch auf Mode, Wohnungen, Bildungsmöglichkeiten. Die Problematik einer solchen "Gleichmacherei" war den Initiatoren möglicherweise nicht klar- je gleicher und fixierter die Möglichkeiten sind, die dem Einzelnen gewährt werden, desto ungleicher wird er sie nutzen, um so wenigstens einen Hauch von Persönlichkeit und eigenem Lebensglück zu bewahren. Ungleichheit verschwindet auf diese Art nicht etwa, sie wird im Gegenteil besonders grell sichtbar. Und damit wächst auch der Neid (Schoeck 1987, S. 236 ff). Denn bohrende Fragen stellen sich ein: Wir haben beiden dieselbe Wohnung, weshalb ist seine so viel schöner eingerichtet? Woher hat die Kollegin den besonderen Pullover? Sicher nicht auf ganz legalem Wege erworben... Und wenn alle es tun, sich alle irgendwie auf unredlichen Wegen (die von "Beziehungen" über "Bückware" bis zu Betrug, Unterschlagung und Diebstahl reichten) kleine Freuden verschaffen, was soll daran unrecht sein? Schrittweise wird mit solchen Überlegungen ein moralischen Rechtsbewußtsein abgebaut oder gar nicht erst entwickelt. So bestand der Alltag in der DDR für viele Menschen aus einer Kette von kleineren und größeren Rechtsbrüchen, die einerseits das Gewissen und das Rechtsbewußtsein abstumpften, andererseits den Einzelnen nicht erkennen ließen, daß sein eigenes Verhalten und Handeln durchaus kriminell waren. Denn unter Kriminalität verstand man in der DDR offiziell etwas ganz anderes. Daß nach dem Selbstverständnis überzeugter "Real"-Sozialisten Kriminalität der sozialistischen Gesellschaft und ihren Bürgern wesensfremd ist, braucht an dieser Stelle nicht noch einmal besonders betont zu werden. Dennoch konnten auch DDR-Kriminologen nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß in ihrem sozialistischen Musterstaat, dem "am weitesten nach Westen vorgeschobenen Posten des Sozialismus" (Lekschas et al. 1983, S. 13; man beachte die militärische Terminologie) weiterhin kriminelle Taten begangen wurden und es nicht danach aussah, als ob die Kriminalität wirklich, wie prophezeiht, in absehbarer Zeit zum Verschwinden gebracht würde. "Die Kriminalität ist in der sozialistischen Gesellschaft eine zwiespältige Erscheinung. Sie ist einerseits tweh vorhanden wenngleich es schon zu einer solchen beträchtlichen Senkung der Kriminalitätsraten gekommen ist, die die übrige Welt in Staunen versetZJ -, andererseits ist sie mit dem sozialen Wesen des Sozialismus unvereinbar" (ebd., S. 17). 4 Voigt/Menens

50

Sabine Gries/Sabine Meck

Wer oder was trug nach offizieller DDR-Lesart die Schuld daran, daß die Kriminalität sich als so zählebig erwies und trotz aller Bemühungen und Appelle nicht aus dem Alltag des "sazialistischen Staates DDR" verschwinden wollte? Originalton DDR: "Die Wirkungen des Imperialismus sind komplexer Natur und tangieren in besonderem Maße auch die Kriminalität in den sozialistischen Ländern sowie die Möglichkeiten mr Aufhebung innerer Kriminalitätsursachen und stellen selbst einen nicht unbedeutenden Komplex von Kriminalitätsursachen dar" (ebd., S. 13). Im Klartext heißt das nichts anderes, als daß kriminelle Taten eines sozialistischen Bürgers durchaus nicht Ausfluß seiner Persönlichkeit, seiner Sozialisation, seiner Umwelt oder der Gesellschaft, in der er lebt, sind, sondern mehr oder weniger bewußte Attacken eines feindlichen, "imperialistischen" Nachbarstaates, der die sozialistische Moral des DDR-Bürgers auf hunderterlei Arten zu untergraben sucht. So gesehen ist dann der Einzelne an seinen Taten unschuldig; sein einziges Vergehen ist letztlich die Tatsache, daß er in seiner sazialistischen Überzeugung noch nicht gefestigt genug war, der Versuchung standzuhalten. Unter diesem Aspekt verschiebt sich dann natürlich die Gewichtung der einzelnen Delikte. Während in westlichen Staaten - quer durch alle Gesellschaftsschichten - als schwerstes Delikt heimtückischer Massenmord angesehen wird (z.B. eine Bombenexplosion zur Hauptreisezeit in einem Bahnhof; Hinrichs 1987, S.5), muß der Sozialismus solche Taten als besonders gravierend ansehen, die sich gegen den Bestand des sazialistischen Staates selbst richten. Das führt zu zweierlei Paradoxien, die beide dem Rechtsbewußtsein als solchem abträglich sind: 1. Jede Art von Staatsverdrossenheit läßt sich am besten durch Schädigung eben dieses Staates ausdrücken. Dem Staat etwas wegzunehmen - etwa Material von einer Baustelle - bringt nicht nur persönlichen Gewinn, sondern auch eine Steigerung des Selbstbewußtseins (statt Gewissensbisse) und das Gefühl, eine heldenhafte Tat vollbracht zu haben.

2. Straftaten gegen Privatpersonen werden als weniger gravierend angesehen, da der Staat sie auch nicht besonders wichtig nimmt. Das klingt harmloser als es ist; der Eindruck, als eventuelles Opfer einer Straftat nicht ernstgenommen zu werden, ist für das Rechtsbewußtsein ebenso destruktiv wie die Überzeugung, als eventueller Täter kaum mit Sanktionen rechnen zu müssen. Die gleichzeitige schwere Ahndung von angeblich gesellschaftsschädigendem Verhalten (dazu konnte schon ein kritisches Gespräch mit einem westdeutschen Verwandten zählen) führt leicht zu einer Haltung, die eine Mischung darstellt aus heuchlerischer Anpassung an staatlich verlangte Verhaltensweisen und der Ausnutzung jedes nur mögJichen privaten Vorteils, auch wenn er auf offensichtlich illegalem Wege erworben werden muß.

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

51

3.2 Einzelne Deliktgruppen aus der Sicht sozialistischer Kriminologie Bevor näher auf einzelne Delikte eingegangen wird, soll kurz vorgestellt werden, was die sozialistische Kriminologie eigentlich unter Kriminalität versteht. Es handelt sich hierbei (und die Berufung auf sowjetische Definitionen wird ausdrücklich betont) um eine "in den antagonistischen Gesellschaftsformationen entstandene, klassenmäßig bedingte, historisch vergängliche soziale Erscheinung, deren Ursachen, Dynamik und GesetzmäßigkeiLen in der Entwicklung liegen und die in der Gesamtheit der Straftaten zum Ausdruck kommt, die in der jeweiligen Gesellschaft in einem bestimmten Zeitabschnitt begangen werden" (Lekschas et al. 1983, S. 39). Um es noch einmal besonders zu betonen: "vergänglich" bedeutet hier nicht, daß eine Straftat zu einem Zeitpunkt A anders gewertet wird als zu einem Zeitpunkt B (so wurde etwa im Laufe der historischen Entwicklung der Totschlag an einem in flagranti ertappten Ehebrecher je nach Zeit und Ort mit dem Tode bestraft oder als rechtens anerkannt), sondern daß dieses Delikt völlig verschwindet und niemals wiederkehrt, sobald sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben. Das mag auf den ersten Blick für Eigentumsdelikte eine gewisse Berechtigung haben (auf den zweiten auch da nicht mehr), aber wie soll eine geänderte Wirtschaftsordnung Einfluß auf einen Eifersuchtsmord oder einen Totschlag im Affekt nehmen, den das Opfer vielleicht durch Beleidigungen provozierte? Leider gibt auch die "marxistisch-leninistische Kriminologie" keine überzeugenden Antworten auf diese Fragen. Sie begnügt sich damit zu erklären, daß manches, was die "heutige imperialistische Bourgoisie" (ebd., S. 43) als kriminell erklärt, dieses mitnichten ist, sondern vielmehr der "Freiheitskampf der Völker" gegen "reaktionäre faschistische Regimes" (etxl.). Nach Lekschas et al. gehört es "zu den vornehmsten Aufgaben der marxistischleninistischen Kriminologie, den Unrechtscharakter" von "kriminellen Aktionen der herrschenden reaktionärsten Kräfte des Monopolkapitals in aller Deutlichkeit zu entlarven" (etxl.). Übrigens beziehen sich diese markigen Aussagen auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bekämpfung und Verhinderung krimineller Delikte im eigenen Staat nimmt demgegenüber erst den zweiten Rang ein. Das erscheint im Gesamtzusammenhang auch nicht unlogisch, da die gesamte Kriminalitätsforschung einschließlich des Strafrechts und seiner Anwendung- starr aus dem Blickwinkel der permanenten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus gesehen wird, letzterer vertreten durch "die herrschende Klasse einer verfaulenden und untergehenden Gesellschaftsordnung" (ebd., S. 48). Eine wirkliche Bewertung einzelner Deliktgruppen und Delikte im Staat

DDR ist den Original-Quellen erstaunlich schwer zu entnehmen. Wie schon

früher festgestellt (GriesNoigt 1989), neigten DDR-Kriminologen dazu, sich

4*

52

Sabine Gries/Sabine Meck

bei konkreten Zahlen auf westliche Untersuchungen zu verlassen und zudem bei gleicher Deliktlage dem DDR-Bürger einen "sozialistischen Bonus" zuzugestehen. So behauptete der Magdeburger Jurist Otto Mayer in seiner Dissertation (1969) allen Ernstes, Kindesmörderinnen in der DDR (in allen Industrienationen ein eher seltenes Delikt) griffen auf Grund ihres sozialistischen Umfeldes zu besonders schonenden Tötungsmethoden, obwohl das aus seinen Fallbeispielen durchaus nicht hervorging; seine Vergleichszahlen stammten übrigens aus der Donaumonarchie vor dem ersten Weltkrieg. Auch Lekschas et al. (1983, S. 137 ff.) sehen in Straftätern - ohne sie oder ihre Taten allerdings zu entschuldigen - eher irregeleitete Kinder als Menschen, die bewußt kriminelle Delikte begehen. Schuld ist jeweils die Verführung von außerhalb - entweder als Relikt überkommener Verhaltensweisen aus alten, reaktionären Tagen oder aber die bewußte Anstiftung von Seiten benachbarter Imperialisten. Diese gehen dabei nach Lekschas et al. (ebd.) vierfach kombiniert vor: Erstens animieren sie direkte staatsfeindliche Aktivitäten: Widerstand, Unruhen, Terrorismus, Sabotage, Spionage. Zweitens betreiben sie "systematische ideologische Diversion": sie schüren die Unzufriedenheit der Bürger mit den sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen und mit ihrem Staat. Drittens begehen "Kriminelle aus kapitalistischen Staaten" Delikte innerhalb sozialistischer Staaten; die Art und die Häufigkeit dieser Delikte werden dabei nicht näher aufgeschlüsselt. Möglicherweise handelt es sich um Fluchthilfe und um Wirtschaftsvergehen, an denen Täter aus beiden Staaten beteiligt sind (Kunstdiebstahl, Leistungserschleichungen, Devisenhandel, Schmuggel von Edelmetall, Pelzen, Delikatessen etc.). Viertens gibt es spontane "kriminogene Einflüsse" der "imperialistischen Mrusenmedien" und von "Bürgern imperialistischer Staaten, die sich zeitweilig in sozialistischen Ländern aufhalten und dabei natürlich ihre in der kapitalistischen Gesellschaft gewachsenen Denkweisen und Gewohnheiten 'mitbringenm (ebd., S. 138). Leider wird dieser Personenkreis nicht näher aufgeschlüsselt. Sollte es sich um Diplomaten und Journalisten handeln? Oder ist die westliche Kriminalität dermaßen ansteckend, daß schon der Kontakt mit einem sonst harmlosen Westbesucher den Bürger des Sozialismus dazu brachte, vom Pfade sozialistischer Moral abzuweichen? Zweierlei ist an diesem Bild bemerkenswert -zum einen die Darstellung der Kriminalität als einer Art Infektionskrankheit, der man mit Schutzimpfung (sozialistische Gesellschaft), Isolierung (Ausschluß von kapitalistischen Kontakten) und Quarantäne (für die bereits Angesteckten) beikommen will, zum anderen die Auflistung der initiierten gefährlichen Straftaten. Sie sind - erstaunlicherweise - durchweg nicht gegen den einzelnen Bürger eines sozialistischen Staates gerichtet, sondern immer nur gegen den Staat selbst (die spontane Kriminalität des vierten Punktes wird ja nicht näher erläutert). Hier wird die Gewichtung der Deliktsschwere ganz offensichtlich; vage, in ihrer tatsächlichen

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

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Ausführung und Gefährlichkeit nicht näher beschriebene Straftaten (Sabotage kann alles sein - vom "Dienst nach Vorschrift" bis zur Sprengung eines Chemiewerks) werden weitaus drohender und bedrohlicher vorgestellt als die alltägliche Körperverletzung, der alltägliche Diebstahl, der alltägliche Beziehungsmord. Es wird stets nur nach dem Schaden für die Gesellschaft gefragt, nie nach dem Schaden für den Einzelnen (was nicht heißen soll, daß solche Delikte nicht verfolgt wurden; das verlangte allein schon die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung). Eine solche Haltung kann letzten Endes für das Selbstbewußtsein des Bürgers und flir sein Rechtsempfinden nicht ohne Bedeutung geblieben sein. 3.3 Das Täterbild der DDR-Kriminologie Wie sah nun der typische Straftäter in der DDR aus? Seine Darstellung aus offiziellen Quellen erwies sich als erstaunlich schwierig. Nach Lekschas et al. (1983, S. 183 ff.) scheint es sich hier um eine Gruppe von Menschen zu handeln, die mit dem Rest der DDR-Gesellschaft nichts gemein hatte. Falls die Rechtsbrecher nicht sowieso aus dem "kapitalistischen Ausland" stammten und all die Reise- und Transiterleichterungen, die die DDR-Regierung Ausländern so überaus großzügig zugestand (zumindest aus der Sicht der hier zitierten Autoren), für ihre kriminellen Pläne und Taten ausnutzte, handelte es sich zumeist um ältere Schwerkriminelle (keine DDR-Sozialisation!), die sehr gut geschult und ausgestattet waren, meist für westliche Drahtzieher arbeiteten, gefährlich waren und dem Staat DDR bewußt (!) großen Schaden zufügten. Eigentumsdelikte gegenüber Privatpersonen werden übrigens in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, auch nicht der beiläufige Diebstahl und Unterschleif durch sonst brave Bürger, die zufällig an der richtigen Quelle saßen. Bei der Darstellung von Körperverletzung scheinen allerdings einige für unser Thema interessante Zusammenhänge auf: nicht nur sind hier die meisten Täter Jugendliche (also mit DDR-Sozialisation), auch die angegeben Motive sind recht bemerkenswert. "Unter den festgestellten Motivationen war vorherrschend, daß die Täter sich selbst 'Recht verschaffen' wollten (zirka 45 Prozent). Die Geschädigten sollten wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Ungerechtigkeiten zur Rechenschaft gezogen werden (zirka 25 Prozent)" (etxl., S. 196). Mag die Angabe dieses Grundes auch häufig eine wohlfeile Entschuldigung sein, so fällt doch auf, wie häufig die hier untersuchten jungen Menschen auf das uralte Faustrecht zurückgreifen und ihr Rechtsbegehren eben nicht staatlichen Instanzen anvertrauen (Lekschas et al. geben flir die Jahre 1975 - 1979 durchschnittlich 11.329 vorsätzliche Körperverletzungen pro Jahr an; etxl, S. 195). 70 % der Delinquenten dieser Gruppe wollten sich auf diese Weise ihr wirkliches oder vermeintliches Recht selbst verschaffen. Damit fä11t ihre

54

Sabine Gries/Sabine Meck

Rechtsauffassung praktisch ins Mittelalter zurück, als bestechliche Richter und adelige Protektoren bekannter Rechtsbrecher den Durchschnittsbürger häufig zwangen, sich sein Recht selbst zu verschaffen (Schneider 1987, S. 232 ff.). Sein Glaube an die Rechtlichkeit der ihn umgebenden Gesellschaft muß sehr niedrig gewesen sein. Diese Feststellung ist nicht unwichtig für die Betrachtung des Rechtsbewußtseins der DDR-Jugendlichen. Es zeigt sich hier neben einem Gefühl der Rechtsunsicherheit durchaus die Haltung: "Gut ist, was mir angenehm ist, und wenn ich es nicht bekomme, dann nehme ich es mir eben." Das ist nach Kohlberg erst die zweite Stufe der Moralität und fur einen Jugendlichen ein Zeichen erschreckender Unreife. Das soll nun nicht etwa heißen, daß in der Bundesrepublik Deutschland das Phänomen der sich von der Gesellschaft, Vorgesetzten, Nachbarn etc. ungerecht behandelt Fühlenden nicht existierte. Doch pflegte und pflegt man hier solche Probleme eher auf dem Rechtswege (durch Schiedsmänner und Gerichte) lösen zu lassen (Bergmann 1992 passim). Das Vertrauen gegenüber den rechtlichen Möglichkeiten ist grundsätzlich erst einmal vorhanden. Genau dieses Vertrauen aber fehlte dem DDR-Bürger im allgemeinen. Ein besonderes Problem jeder kriminologischen Untersuchung sind die Rückfalltäter, der harte Kern der Gruppe aller Kriminellen (Rückfalltäter stellen 18% aller Straffälligen, sind aber verantwortlich für 52% aller Delikte und 65% aller Gewaltverbrechen; Schneider 1987, S. 316). Diese Rückfalltäter fanden sich auch in der DDR, ungeachtet sozialistischer Gesellschaft, sozialistischer Sozialisation und sozialistischer Erziehung im Strafvollzug (siehe dazu Finn/Fricke 1981 passim). Wer nun trägt die Schuld daran, daß es auch im sozialistischen Staat DDR eine resistente Gruppe von Rückfalltätern gab? Die bei Lekschas et al. gefundene Antwort (1983, S. 201) erstaunt: die Schuldigen sind einmal die Eltern der späteren Delinquenten, die ihre Kinder falsch erzogen haben (eine weitere Differenzierung oder Erklärung fehlt); zum anderen trägt aber auch die Persönlichkeit des Täters dazu bei, daß dieser von der Kriminalität nicht loskommt - für überzeugte Sozialisten, die an die Machbarkeil des menschlichen Wesens glauben, eine höchst erstaunliche Aussage. Die sozialistische Gesellschaft, der Staat DDR tragen demnach jedenfalls keine Mitschuld, und allein darauf kommt es an. Überhaupt konnte dem Durchschnittsbürger der DDR gar nicht oft genug klargemacht werden, daß Kriminelle unheimliche Fremdlinge sind, mit denen der nichtdelinquente Normalmensch nichts gemein hat und die ihren Mitbürgern daher als Menschen erscheinen mußten, die unverständliche, aber durchweg höchst bösartige kriminelle Dinge jenseits des normalen Alltags taten und dafür zu Recht schwer zu bestrafen waren (GriesNoigt 1989, S. 66). Schon im Jahre 1957 konnte man lesen: "Noch immer gibt es in der Deutschen Demokratischen Republik eine ... Zahl von Menschen, welche die kapitalistische und insbesondere faschistische Vergangenheit, nicht zuletzt aber auch die 'abendländische' Missionartätigkeit

Rechtsbewußtsein in der ehemaligen DDR

55

westdeutscher, westberliner und ausländischer Geheimdienste, Hetz- und Propagandm:entralen zu arbeitsscheuen und asozilllen Elementen geformt hat. Diese Menschen ... stellen einen Rekrutierungsplatz des Klassenfeindes for seine verbrecherische Wühltätigkeit, für Agenten, Provokateure, Terroristen und Spione dar" (Lehrbuch Strafrecht 1957, S. 669). Es reicht hier, die beiden Begriffe "faschistisch" und "Klassenfeind" durch "jüdisch" und "Weltjudentum" zu ersetzen, um sich gedanklich in den finstersten Bereichen des Nationalsozialismus wiederzufinden. Aus dieser Quelle stammt auch die häufig verwendete Bezeichnung Asoziale für irgendwie mißliebige Bürger; auf dieses Phänomen weist auch Schroeder hin. Er beschreibt die Darstellung der Asozialen in der entsprechenden DDR-Literatur: "Asozillle seien häufig mißtrauisch, leicht zu kränken und launenhaft. Sie fühlten sich ständig ungerecht behandelt und schikaniert. Dieser Argwohn fohre zu einer sozialen Isolierung und zur Entwicklung einer Außenseiterideologie. Das eigene Versagen stehe den Gefdhrdeten deutlich vor Augen, jedoch suchten sie die Gründe dafür bei anderen" (Schroeder 1987, S. 1006). Das heißt, jeder kritische DDR-Bürger, der sich nicht mit den einmal vorgegeben Tatsachen abfinden wollte, schwebte ständig in der Gefahr, zum Asozialen abgestempelt zu werden, mit der Prognose des Abgleitens in berufsmäßige Kriminalität. Die objektive Feststellung ungerechter Behandlung galt als Nörgelei und weiteres Indiz drohender Asozialität, ebenso ein Auflehnen gegen die Verweigerung von Lebenschancen aus politischen oder ideologischen Gründen. Ob sich unter diesen Umständen ein selbstbewußtes Rechtsempfinden entwickeln oder gar entfalten konnte, bleibt mehr als fraglich.

3.4 Rechtsbewußtsein und der neue Staat Ganz gleich, welches Rechtsbewußtsein ein ehemaliger DDR-Bürger bereits entwickelt (oder auch nicht entwickelt) hatte, mit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland sah er sich plötzlich einem für ihn neuen Bild von Kriminalität und Rechtlichkeit gegenübergestellt. Traditionsgemäß sahen Kriminologie und Gesetzgeber ihre Hauptaufgaben eben nicht im Schutz einer vagen Ideologie auch gegen die Interessen des einzelnen Bürgers - vielmehr sollten die Gesetze zuerst dessen Wohlergehen dienen, und zwar nicht in einer subjektiv egoistischen Art und Weise, sondern so, daß die Rechte des Einzelnen und die Rechte der Gemeinschaft gewahrt wurden. Für den ehemaligen DDR-Bürger war es eben keine Selbstverständlichkeit gewesen, im Kontakt mit Polizei, Gericht und anderen Justizbehörden Dinge wie die folgenden voraussetzen zu dürfen: -keine Willkürmaßnahmen der Polizei (damit ist nicht der mögliche unerlaubte Übergriff eines einzelnen Beamten gemeint, sondern permanente, dem System

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zugehörige Willkür, die gezielt der Verunsicherung des Bürgers dient); -zügige Abwicklung des Verfahrens (es kam durchaus vor, daß Menschen nach vagen Beschuldigungen und jahrelanger Untersuchungshaft ohne Prozeß irgendwann entlassen wurden, ohne auch nur die Gelegenheit zu einer Rechtfertigung zu erhalten); - Gewährung ausreichender Zeit für die Verteidigung (Verteidiger waren in der DDR als Juristen durchweg staatskonform, und ihre Beratung erschöpfte sich oft in einem einzigen Besuch, während dem sie dem Angeklagten nahelegten, alles zuzugeben, was von ihm verlangt wurde, da dann die gute Aussicht bestehe, bald von der Bundesrepublik freigekauft zu werden; Schacht 1989, S. 227 f. Auch engagiertere Anwälte hatten gegen im Vorhinein festgesetzte Strafmaße keine Chance; ebd., S. 239.); - Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung (wenn überhaupt gegeben bestand das Prozeßpublikum häufig aus wenigen handverlesenen Personen, die entweder selbst eingeschüchtert werden sollten oder aber mit Prozeßführung und Urteilsspruch völlig einverstanden waren; eine Information der Öffentlichkeit im gemeinten Sinne war so nicht gegeben; Henrich 1989, S. 185 f., Röntgen 1988, s. 72 ff.); - Unschuldsvermutung zugunsten des nicht überführten Tatverdächtigen (statt dessen gab es eher eine Vorverurteilung im Sinne schwerwiegender Strafbestandskonstruktionen entweder auf Grund von aufgebauschten Lappalien oder durch künstliche Konstruktion von Straftaten; Friedeich 1989, S. 115 ff.); - Abschaffung des Strafzwecks der Vergeltung zugunsten der Abschreckung; - Abschaffung grausamer Strafen; - Abschaffung der Todesstrafe (im Wortlaut mag die DDR-Justiz diesen Vorgaben gefolgt sein, aber die Todesstrafe wurde erst sehr spät abgeschafft und in den Anfangsjahren geradezu leichtfertig verhängt; Fricke 1991 passim. Grausame Strafen kann man leicht durch einen grausamen Strafvollzug ersetzen, und die Prävention verliert ihren Wert, wenn mit Abschreckung nicht das Fernhalten des potentiellen Straftäters von der Tat gemeint ist, sondern die Einschüchterung aller Bürger); -Primat vorbeugender Kriminalpolitik (das bestimmt nicht durch inflationäres Anschwellen dubioser Tatbestände ohne klare Definiton des Tatmerkmals erfüllt wird). Der italienische Jurist Cesare di Beccaria stellte diesen Katalog von Forderungen im Jahre 1764 zusammen (zitiert nach Schwind 1990, S. 62), und die nach sozialistischer Auffassung dekadenten Potentaten spätfeudalistischer Zwangsregime reagierten mit ehrlicher Begeisterung und bemühten sich, Beccarias Vorschläge rasch in den juristischen Alltag umzusetzen. In der Praxis erwies sich die Einführung dieser Reformen dann oft doch als recht schwierig (vor allem auf die Todesstrafe glaubte man nicht generell verzichten zu können), aber der gute Wille war gegeben, und das ist weitaus mehr, als man

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heute von der DDR-Justiz sagen kann. Lekschas et al. erwähnen Beccaria in ihren Buch zwar zweimal in einem Nebensatz als Vordenker der "bürgerlichen Autklärung" (1983, S. 218 und S. 308), hüten sich aber, inhaltlich auch nur mit einem Wort auf Beccarias Werk einzugehen. Er gehört einfach mit zu den bürgerlichen Kriminologen, und von denen ist wenig Gutes zu erwarten (ebd., S. 24 ff.). "Für die Bürger der imperialistischen Gesellschaft ... hat die demagogische These, tklß man es lernen müsse, mit der Kriminalität zu leben, einen deprimierend mokabren Beigeschmack. ... Bürgerlich-imperialistische Kriminologen, wie Hans Joachim Schneider, die sich nicht einmal scheuen, dies ... als wissenschaftliche Erkenntnis und Schlußfolgerung zu verkünden, scheinen sich der Inhumanität und moralischen Perversion dieser These nicht mehr bewußt zu sein" (ebd. S. 24). Was Schneider nun wirklich gesagt hat, geht aus dem Text (ohne Quellenangabe!) leider nicht hervor; was er schreibt, erscheint den Autorinnen eher liberal (Schneider 1987, besonders S. 253-268). So wie Lekschas et al. sich mit der Kriminalität im "kapitalistisch-imperialistischen" Staat beschäftigen, interessiert Schneider sich für die Kriminalität in sozialistischen Staaten (ebd., S. 268 ff.). Abgesehen von der Tatsache, daß die Zahl der Delikte prozentual und auf die Bevölkerung umgerechnet tatsächlich niedriger zu sein scheint, sind die Unterschiede nicht groß. Allerdings gab es keine Dunkelfeldforschung und die Anzeigebereitschaft war extrem niedrig (was beispielsweise von in den sozialistischen Staaten Polen und Ungarn Befragten mit zu geringen Erfolgsaussichten begründet wird; ebd., S. 269. In der Bundesrepublik Deutschland werden dagegen viele Delikte nicht angezeigt, weil dem Opfer der Schaden zu gering erscheint; Schwind 1990, s. 278). Welches Bild von Kriminalität konnte nun der DDR-Bürger entwickeln? Zumindest offiziell wurden Rechtsbrüche ihm als Dinge vorgestellt, die außerhalb seines normalen Alltags Jagen: Straftäter waren immer "anders": sie waren Fremde aus dem kapitalistischen Ausland; sie waren Nicht-Sozialisten, was nur auf Ba.haftigkeit oder grenzenlose Dummheit zurückzuführen war; sie waren Schädlinge, die der sozialistischen Gesellschaft und ihren Bürgern bewußt deshalb Schaden zufügten, weil sie den Sozialismus haßten, was praktisch einer mittelalterlichen Gotteslästerung gleichkam; sie waren Parasiten und Asoziale, die zu faul zum Arbeiten waren - in Deutschland seit jeher verdächtig. Unterstützt wurde so eine Spießermoral, die den Feind jenseits des Gartenzaunes wußte und den Bösewicht an schmutzigen Fingernägeln erkannte. Dazu muß man bedenken, daß in der DDR die klassischen alten Eliten (Großbürgertum, Adel, Akademiker, aber auch die akademisch-künstlerische Subkultur der Bohemiens und Paradiesvögel), die sich bei allem Nationalismus oder aller Gesellschaftsverachtung doch stets durch eine gewisse Weltläufigkeit ausgezeichnet hatten, systematisch ausgeschaltet und vertrieben wurden. Die neuen Machthaber waren im Durchschnitt provinzielle Kleinbürger, die zudem seit

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ihrer Kindheit kein normales Leben mehr geführt hatten (Verfolgung, Untergrundtätigkeit, Haft, Emigration, Isolierung als Herrschende; Ash 1980, S. 169). Zudem wurde eine Festungsmentalität gefördert: die Schlechten kommen immer von außen. Die eigene (Klein)-Kriminalität wird so verdeckt; denn als überzeugter Sozialist kann ich gar keine Delikte begehen, und als nicht so ganz überzeugter glaube ich an diese offizielle Pauschal-Entsühnung trotzdem ganz gern. Als System-Gegner aber fühle ich mich bei jedem Delikt gerechtfertigt- es ist ja eine Handlung, die sich gegen ein Unrechtssystem wendet. Diese Haltung mag verständlich sein und durch die Rechtsauffassung der DDR erst begründet und provoziert, für das Rechtsbewußtsein als solches kann sie sich als verhängnisvoll erweisen.

Literatur Ash, Timothy Ganon: "Und willst du nicht mein Bruder sein ..." Die DDR heute. Reinbek bei Hamburg 1981. Bergmann, Thomas: Giftzwerge. Wenn der Nachbar zum Feind wird. München 1992. Brenske, Peter: Bauarbeiter aus der DDR. Eine empirische Untersuchung über gruppenspezifische Merkmale bei Flüchtlingen und Übersiedlern der Jahre 1989 und 1990, Berlin 1992. Deja-Lölhöffel, Brigitte: Erziehung nach Plan. Schule und Ausbildung in der DDR. Berlin 1988. Deutsches Institut für Rechtswissenschaft (Hg.): Lehrbuch des Strafrechts der Deutschen Demokratischen Republik. Allgemeiner Teil. Berlin (Ost) 1957. Finn, Gerhard/Fricke, Karl Wilhelm: Politischer Strafvollzug in der DDR. Köln 1981. Fricke, Karl Wilhelm: Ein Federzug von Ulbrichts Hand: Todesstrafe. In: Deutschland Archiv, 24. Jg., H. 8, Köln 1991, S. 840-845. Friedrich, Wolfgang-Uwe: DDR. Deutschland zwischen Oder und Eibe. Stuttgan-Berlin-KölnMainz 1989. Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Strafgesetzbuch und Strafprorzeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik. Bonn 1989. Gries, Sabine/Voigt, Dieter: Kindesmißhandlung in Deutschland. Geht die DDR einen Sonderweg? In: Dieter Voigt (Hg.): Qualifikationsprozesse und Arbeitssituation von Frauen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Berlin 1989, S. 41-76. Heinemann, Franz: Der Richter und die Rechtsgelehnen. Justiz in früheren Zeiten. DüsseldorfKöln 1976 [Leipzig 1900], 2. Aufl. Henrich, Rolf: Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialis-

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mus. Reinbek bei Harnburg 1989. Hinrichs, Reimer: Chronische Verbrechensopfer. Eine deutsch-amerikanische Vergleichsuntersuchung zur Theorie und Praxis psychoanalytischer Viktimologie. Stuttgart-New York 1987. Kohlberg, Lawrence: Development of moral character and moral ideology. Review of Child Development Research, Bd. 1. New York 1964. Leggewie, Claus/Meier, Horst : Zum Auftakt ein Schlußstrich? Das Bewältigungswerk "Vergangenheit Ost" und der Rechtsstaat. In: Cora Stephan (Hg.): Wir Kollaborateure. Der Westen und die deutschen Vergangenheiten. Reinbek bei Harnburg 1992, S. 51-89. Lekschas, John et al.: Kriminologie. Theoretische Grundlagen und Analysen. Berlin (Ost) 1983. Matussek, Matthias: Das Selbstmord-Tabu. Von der Seelenlosigkeit des SED-Staates. Reinbek bei Harnburg 1992. Mayer, Otto: Erscheinungsbild, Täterperson und einige Ursachenaspekte sowie die Bekämpfung vorsätzlicher Tötungen von Neugeborenen und Säuglingen. Diss. Magdeburg 1969. Röntgen, Anita: Was soll mir eure Freiheit? Unbefugte Reportagen aus der DDR. Bühl-Moos 1988, 2 Aufl. Rogge, Jan-Uwe: Das vergebliche Schielen nach Einschaltquoten und Massenwirksamkeit -Fernsehprogrammfür Kinder. In: Jan-Uwe Rogge/Klaus Jensen (Hg.): Lernen, Helfen, Fleißigsein. Kindermedien und Kinderkultur in der DDR. Köln 1987, S. 35-70. Schacht, Ulrich (Hg.): Hohenecker Protokolle. Aussagen zur Geschichte der politischen Verfolgung von Frauen in der DDR. Frankfun/M.-Berlin 1989. Schlüter, Kurt: Paneipräferenz von Übersiedlern. Eine empirische Untersuchung intendienen Wahlverhaltens von Übersiedlern beim Übertritt in die Bundesrepublik Deutschland in der Zeit vom 20. Februarbis 30. Juni 1990. Bochum 1992. Schmidtchen, G.: Moralische Erziehung und Kriminalität. In: Wolfgang Schäuble (Hg.): Kriminalitätsbekämpfung - eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft. Bonn 1984, s. 18-23. Schneider, Hans Joachim: Kriminologie. Berlin-New York 1987. Schoeck, Helmut: Der Neid und die Gesellschaft. Frankfun/M.-Berlin 1987, 5. Aufl. Schroeder, Friedrich-Christian: Zweifel an der Asozialenkriminalisierung in der DDR. In: Juristen-Zeitung, 42. Jg., H. 21, Tübingen 1987, S. 1004-1008. Schubanh, Wilfried/Pschierer, Ronald/Schmidt, Thomas: Verordneter Antifaschismus und die Folgen. Das Dilemma antifaschistischer Erziehung am Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9,-91. Bonn, S. 3-16. Schwind, Hans-Dieter: Kriminologie. Eine praxisorientiene Einführung mit Beipielen. Heidelberg

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1990, 3. neube.a!b. u. erw. Aufl. Statistisches Jah!buch der DDR 34. Jg. (1989). Hrsg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin (Ost) 1989. Zimmer, Dieter E.: Tiefenschwindel. Die endlose und die beendbare Psychoanalyse. Reinbek bei Harnburg 1986. Zitzlaff, Dietrich/Lessing, Clemens/Fischer, Kurt Gerhard (Hg.): Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland in der DDR. Stuugart 1982

Hansjörg Geiger DIE AKTEN DES MINISTERIUMS FÜR STAATSSICHERHEITl

I. Einleitung Häufig wird die Frage gestellt, was soll die Aufarbeitung der Stasiakten für die Zukunft bringen, wie so11 Wichtiges für die Zukunft aus einer vergangeneo Epoche kommen? Dennoch kann man nur vernünftig in die Zukunft blicken, wenn man weiß, was in der Vergangenheit geschehen ist, wenn man auf einer sicheren Basis von Kenntnissen steht. Wenn man weiß, wie der Grund unter den Füßen beschaffen ist, kann man auch nach vorne gehen und etwas aufbauen. Das Thema Stasiakten ist nach wie vor aktuell. Zur Illustration seien ein paar Überschriften aus den Zeitungen der letzten Zeit genannt: "Stasi verschob 800 Grundstücke" oder: "Zurückgetretener Stasimann ist der neue Kandidat der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus" oder "Stasiarzt wieder auf Kranke losgelassen" oder, auch ein wichtiges Thema: "Mehrheit der Deutschen für Stasiakteneinsicht". Ein unerfreuliches Thema: "Genera/bundesanwalt vermutet Stasiakten beim KGB" - da hat er wahrscheinlich gar nicht so unrecht - oder "Rote Socken unter schwarzen Roben". Das MfS hat unserer Behörde gut 200 km Akten hinterlassen. Diese Akten sind etwa zur Hälfte in einem zentralen Archiv in Berlin, dem Gebäude des ehemaligen Ministeriums selber, gelagert; daneben gibt es noch 14 weitere Archive.2 Dort liegen die übrigen Akten, die in den ehemaligen Bezirkshauptstädten der DDR aufbewahrt werden. Diese 200 km Akten enthalten Informationen über offizielle Mitarbeiter, über Inoffizielle Mitarbeiter (IM) und über Opfer, darüber hinaus aber auch sogenannte Personendossiers, Sicherungsvorgänge und sonstige geheimdienstliche Unterlagen, die man von einem Geheimdienst erwartet. Da finden sich dann Bezeichnungen wie "Sachakten", was noch relativ neutral klingt, aber auch Begriffe wie "Feindobjektakten". Diese Feindobjektakten wurden etwa angelegt, wenn man sich mit Institutionen Um die Lebendigkeit des Vortrages zu erhalten, handelt es sich um eine nur geringfügig redigierte Fassung des Tonbandmitschnitts während der Tagung im April1992

2 & sind nur 14 und nicht 15, wie der Zahl der Bezirkshauptstädte entsprechen würde, da auf Grund der miserablen räumlichen Unterbringung in Cottbus kein Archiv belassen werden konnte.

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in der Bundesrepublik Deutschland befaßte, die sich kritisch mit der DDR auseinandersetzten. Zur Beantwortung der Frage, was die Stasiakten hergeben, was ihnen zu entnehmen ist, ist es wichtig zu wissen, daß der Bundesbeauftragte das Material in einem erschreckend ungeordneten Zustand übernommen haben, für den er nicht verantwortlich ist. Nur etwa 20-40 % der Unterlagen waren geordnet; inzwischen hat sich dieser Zustand deutlich verbessert. Der Anteil der geordneten Akten schwankt jetzt in den einzelnen Archiven zwischen 30-70 %. Allein im Zentralarchiv in Berlin fanden wir über 18.000 Säcke vor, in denen sich teilvernichtetes Material befand. Wir haben mühsam Sack für Sack ausgeleert, um zu sehen, wie weit noch verwertbares Material vorhanden ist. Die Materialien, die vollständig waren, wurden der Nutzung zugeführt. Weitreichender vernichtete Akten, deren Provenienz festgestellt werden konnte, haben wir dann besonders gekennzeichnet und erfaßt. Der Inhalt einiger tausend Säcke war auf Briefmarkengröße zerrissen worden; auch diese Reste sind aufgehoben worden. Wir warten noch, ob vielleicht junge Leute, die ein interessantes Dissertationsthema suchen, über einen Stasisack vielleicht ihre Promotion schreiben wollen und uns bei der Rekonstruktion helfen. Was hat das MfS sich bei dieser Vernichtungsaktion eigentlich gedacht? Es wurde natürlich versucht, so viele Unterlagen wie möglich zu vernichten, z.T. um verdiente Mitarbeiter zu schützen. In der Zeit nach der Wende oder möglicherweise schon, als die Wende sich abzeichnete, gab es die ersten Befehle, bestimmte Materialien zu vernichten. Wir haben in Berlin beim Ministerium flir Staatssicherheit eine Menge von durchgebrannten Aktenvernichtern vorgefunden, die so lange bedient wurden, bis sie durchbrannten; deswegen mußte man zum Schluß wieder auf die alte Handmethode des Zerreißens übergehen, was uns eine ganze Reihe interessanter Dokumente bewahrt hat. Dazu eine kleine Geschichte: wieder wird ein Sack geöffnet, ein Müllsack, leicht transparent und es sah von außen so aus, als wenn dieser Sack nichts anderes als durch einen Papierreißwolf vernichtetes Material enthielte. Die Bundesgrenzschützer, die unter Anleitung von Archivaren des Bundesarchivs und der Landesarchivverwaltungen diese Arbeit durchführten, haben gleichwohl auch diesen Sack ausgeleert. Zu ihrer großen Überraschung fanden sie zwei komplette Akten von zwei Mitarbeitern einer westdeutschen Verfassungsschutzbehörde, die sich in die DDR abgesetzt und dort eine neue Identität bekommen hatten, mit allen wichtigen Daten in diesem Sack - vollständige Akten. Ich kann mir das nur so erklären, daß die MfS-Leute sich gedacht haben, wenn westdeutsche Behörden sich der Mühe unterziehen und prüfen das nach, dann sollen sie auch Erfolgserlebnisse haben. Das ist die eine Möglichkeit. Vielleicht steckt auch noch etwas anderes dahinter, denn üblicherweise wird der Verrat geliebt, nicht der Verräter. Denn es wäre schließlich leicht möglich gewesen, diese Akten durch den Reißwolf zu geben.

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Die auf uns überkommenen Unterlagen geben ein gutes Beispiel für die Aktivitäten des MfS. Wie sah die Arbeit des MfS in den letzten 40 Jahren aus? Was bedeuten beispielsweise Begriffe wie "operative Personenkontrollen" oder "operative Vorgänge"? Was sollten diese Maßnahmen bewirken? Eine operative Personenkontrolle, abgekürzt OPK, oder ein operativer Vorgang wurden eingesetzt, um bestimmten Bürgern nachzuweisen, daß sie der politischen Untergrundtätigkeit oder der politischen ideologischen Diversion verdächtig seien, und dann in einem weiteren Schritt den Bespitzelten klarzumachen, daß sie sich strafbar gemacht hatten. Es handelte sich meist um einen Straftatbestand aus dem Bereich der Staatsschutzdelikte. Bei diesen Vorgängen finden sich meistens zu Beginn der "Aktion" ziemlich exakte Maßnahmepläne, die aufzeigen, was im einzelnen Fall erreicht werden sollte, also beispielsweise den Nachweis zu erbringen, daß jemand tatsächlich ein Staatsfeind war, daß er sich gesellschaftskritisch äußerte, daß er damit die DDR verunglimpft und so einen entsprechenden Straftatbestand verwirklicht hatte. Das war das eine Ziel der operativen Personenkontrolle (im Anfangsstadium der Beobachtung) oder des operativen Vorgangs (bei schon bestätigtem Verdacht). Mit einer operativen Personenkontrolle hat man häufig bereits weiteres zu erreichen versucht, beispielsweise ganz bewußte, berufliche Benachteiligungen. Bereits zu Beginn einer solchen Maßnahme kann im Plan zu lesen sein, daß das Ziel der Verlust einer bestimmten beruflichen Position des Beobachteten ist. Auch der Weg dahin ist bereits genannt: etwa durch berufliche Diskreditierung, durch Rufschädigung, die übrigens unter der reizvollen Bezeichnung "objektive Kompromittierung" geführt wurde, wobei ja Kompromittierung gar nichts Objektives ist. Dazu ein ganz konkreter Fall, der den Schriftsteller Jürgen Fuchs betrifft:3 Um seinen Ruf zu ruinieren, wurde die Ärztin seiner Frau beauftragt, Frau Fuchs, schonend - schonend wohlgemerkt - beizubringen, daß ihr Mann sich leider homosexuell betätige. Man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkungen solche "objektiven Kompromittierungen" auslösen können. In einem anderen Fall war ein mecklenburgischer Pfarrer dafür bekannt, daß er dem Staat etwas kritisch gegenüberstand, und zudem kein Verfechter der Theorie und der These von der "Kirche im Sozialismus" war. Er wurde auch ausgeforscht, beobachtet, und man stellte fest, daß er es liebte, an milden Sommerabenden im Adamskostüm an einigen der völlig unberührten mecklenburgischen Seen ins Wasser zu springen. Also postierte man eines Abends rechtzeitig an der Stelle, von der man wußte, daß er hier ins Wasser springen würde, einen Fotografen, hinter einem Busch versteckt, und als der Pfarrer das Wasser verließ, wurde er heimlich fotografiert. Diese Fotos hat man dann am Sonntagvormittag in entsprechender Vergrößerung an die Kircheneingangstüren geheftet, damit die Gläubigen ihren Pfarrer beim abendlichen Sport sehen konnten. Das Peinliche an der Situation war, daß der Pfarrer durch eine ganz andere Tür die Kirche be3 Herr Fuchs hat den Vorgang nach Einsicht in seine Akten selbst publik gemacht.

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trat, so daß er die Fotos nicht mehr abnehmen konnte. Neben derartiger Rufschädigung gab es auch andere Maßnahmen, wie etwa ganz gezielt Menschen in ihrem Nervenkostüm zu zerrütten. Bei dem Regimekritiker Wolfgang Templin hat man fiktive Bestellungen aufgegeben, Bestellungen von Waren, die Kleinunternehmer irgendwo in der Provinz hergestellt haben, die dann von weither nach Berlin kamen und Waren bei Tempiins ablieferten, die weder Geld dafür hatten noch überhaupt diese Mengen von Waren brauchten. Das führte dann häufig zu Streitereien mit den Lieferanten.4 Oder es wurden Annoncen aufgegeben, daß jemand einen Trabbi zu besonders günstigem Preis verkauft. Wer weiß, um welch ein rares Gut es sich beim Trabant handelte, der kann sich vorstellen, welches Echo eine solche Anzeige auslöste. Die Annoncen wurden obendrein noch in Zeitungen aufgegeben, die weit weg von dem Ort erschienen, wo der angebliche Käufer wohnte, so daß die Interessenten weite Anmarschwege hatten. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Zorn es hervorrufen mußte, wenn jene das Gefühl haben mußten, der angeblich Annoncierende habe sich einen Spaß daraus gemacht, andere Leute zu narren.

II. Das MfS und die Justiz Zu den besonders unrühmlichen Aktivitäten des MfS gehört sein Zusammenspiel mit der Justiz. Ein wichtiger Zeitzeuge ist hierfür A1fred Kraus; er war Bezirkschef des MfS in Rostock und hat uns seine Lebenserinnerungen "hinterlassen". In diesen Memoiren setzt er sich - natürlich aus seiner Sicht auch mit der Justiz auseinander. Und er schreibt lobend: "Und eine wichtige Frage in dieser Zeit war aber auch, und die fiihre ich oft an, wenn ich dort bin bei Versammlungen bei der Staatssicherheit, ist die Zusammenarbeit mit dem Bezirksgericht und dem Bezirksstaatsanwalt. Also ich kann m meiner Tätigkeit sagen, wo ich 21 Jahre Leiter der Bezirksverwaltung war, daß unsere Arbeit Erfolg hatte durch die Unterstützung des Bezirksstaatsanwaltes und des Bezirksgerichtes. Ich kann heute ehrlich erklären [viele werden wissen, was ehrlich beim MfS bedeutet; H.G.1 das bestätigen mir die Genossen der Abteilung 9 [Untersuchungsorgan der Landes-MfS; H.G.] wir haben in alldiesen langen Jahren nicht einen emzr.gen Vorgang vom Bezirksgericht mrückbe-kommen. Daß vielleicht ein Vorgang aufgeflogen wäre, dann bei der Hauptverhandlung, denn die hatten Verteidiger [ist ja skandalös- der Häftling hatte einen Verteidiger; H.G.1 und wenn der sieht, da gibt es also große Wider4 Siehe ausführlich dazu: "Auch du, Bruder, ein Verfolgter!". Wie die Stasi den Bürgerrechtler Templin durch Zeitungsanzeigen terrorisierte. In: Spiegel-Spezial, Nr. 1/1993 »STASI-Akte "Verräter". BürgerrechtlerTemplin: Dokumente einer Verfolgung«, Hamburg, S. 12-13.

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sprüche, da treten Zeugen auf, die sind gar nicht so fest, und richtiges Beweismaterial liegt zuwenig auf dem Tisch, dann könnte es passieren, daß ein Vorgang zurückfdllt. Aber bei uns ist kein Vorgang zurückgefallen. Wir hatten eine ehrliche Zusammenarbeit mit dem Staatsanwalt und dem Bezirksgericht. "5 Diese Aussage ist für die Frage nach der Einstellung der Juristen und der Richter durchaus nicht uninteressant. Zu diesem Komplex ein weiteres Dokument: im Jahre 1959 wollte ein Offizier der Volkspolizei aus der DDR nach Westdeutschland flüchten, er wurde aber festgenommen. Mit der Vorbereitung des Verfahrens gegen ihn war die Abteilung 9 des MfS beauftragt, und ihr Untersuchungsbericht endete mit einem Vorschlag für die Durchführung des Verfahrens; es war minutiös festgelegt, wer Zuhörer sein würde, wo das Verfahren stattfand, wer Richter und wer Staatsanwalt war, welche Anklagepunkte vertreten wurden. Dieser Vorschlag endet mit dem Satz: "Das Verfahren ist geeignet, aus erzieherischen Gründen gegen S. die Todesstrafe zu verhängen. Leiter der Hauptabteilung 9!6, Neumann, Oberstleutnant." Und oben drüber steht: "Einverstanden Mielke". Die Zusammenarbeit der Justiz mit dem MfS war ein besonderes düsteres Kapitel.

III. Vorgehensweise des MfS Wie sahen eigentlich die Methoden des MfS im einzelnen aus, was finden wir heute in den Unterlagen, in den Akten, was machen sie uns deutlich? Eine sehr häufig angewandte Methode des MfS bei den operativen Personenkontrollen war ein Bündel von sogenannten ABM-Maßnahmen. Die ABM-Maßnahme beim MfS bedeuteten (völlig abweichend von der westdeutschen Bezeichnung) folgendes: Die A-Maßnahme war das Telefonabhören, die B-Maßnahme war der Einsatz von Abhöreinrichtungen in der Wohnung, also Wanzen, und MMaßnahme war die Post- und Paketkontrolle. Diese Maßnahmen sind erschrekkend oft eingesetzt worden, und diese Tatsache macht deutlich, daß immer wieder die Frage beantwortet werden muß: Ist ein solches Vorgehen überhaupt strafrechtlich von Belang? Hier gibt es nur eine bejahende Antwort, ein Ausweichen ist nicht möglich; denn das Abhören des Telefons war selbstverständlich auch in der DDR nach dem geltenden Recht nicht erlaubt und nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulässig, in der Regel durch richterlichen Beschluß. Das MfS hat sich natürlich nie einen richterlichen Beschluß geben lassen, sondern diese Maßnahmen einfach angeordnet. Wenn man Wanzen einsetzt, wird nicht nur die Privatsphäre, also ein Grundrecht, Artikel 1 Absatz 2 5 Auszug aus einem bisher unveröffentlichten Erlebnisbericht, den er "zu Zwecken der Traditionsptlege" auf Band diktiert hatte.

5 Voigt/Mertens

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des Grundgesetzes, massiv verletzt, sondern dazu muß auch die Wohnung heimlich betreten werden, denn wir können davon ausgehen, daß der Wohnungsinhaber natürlich nicht vorher gefragt worden ist, ob jetzt Abhöreinrichtungen eingebaut werden dürfen. Die Brief- und Paketkontrolle war natürlich eine Verletzung des Briefgeheimnisses. Hier darf man unumwunden sagen, daß die Leute, die diese Maßnahmen verantworteten oder durchführten, genau wußten, was da geschah. Wer solche Vorgänge hundertfach oder tausendfach durchgeführt hat, sollte auch zur Verantwortung gezogen werden. Die Paketund Briefkontrolle war eigentlich besonders schlimm. Ich erinnere mich, als wir diese 18.000 Säcke geöffnet haben, da habe ich mich gelegentlich auch ein bißeben umgesehen; da war plötzlich ein Riesenpaket von Fotos, von ganz einfachen Familienfotos. "Oma sitzt mit Tante Emma im Garten" steht hinten drauf, oder "Fritz feiert seinen 10. Geburtstag". Man sieht Fritz sitzen, vor ihm einen kleinen Kuchen mit ein paar Kerzen, und die Familie sitzt darum. Schlichte Familienfotos, die die Familienbande ein bißeben aufrechterhalten sollten, ganz privat. Und wenn solche Fotos, die absolut keinen Bezug zu irgendeiner Geheimdiensttätigkeit hatten, den Leuten weggenommen wurden, das fand ich persönlich besonders infam, weil man hier in das Innere von Familienbeziehungen eingegriffen hat. Einfach so en passant. Zu den wesentlichen Methoden des MfS, das ist jetzt wieder die große Diskussion, zählte der Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Wenn eine operative Maßnahme gegen eine Person durchgeführt wurde, war im Maßnahmeplan häufig bereits am Anfang festgelegt worden, wie viele IMs in welcher Weise und mit welcher Zielstellung bei dieser operativen Personenkontrolle oder bei diesem operativen Vorgang gegen das Opfer eingesetzt werden sollten. So sind beispielsweise auf Herrn Gauck innerhalb von vier Jahren 15 Inoffizielle Mitarbeiter angesetzt worden, um ihn zu beobachten. Beim Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern hatte der Führun~offizier in der Regel auf folgendes zu achten: Das MfS war daran interessiert, möglichst viele und dabei möglichst objektive Informationen zu sammmeln. Und woher bekommt man am besten Informationen? Erstens natürlich aus dem Familienkreis. Aus dieser Quelle erfährt man nämlich das, was der Beobachtete privat denkt. Dann interessiert der Freundeskreis, dann der Kreis der Arbeitskollegen, zuletzt die Nachbarschaft, die sieht ja auch die Menschen in einer bestimmten Weise. Also hatte der Führungsoffizier zunächst einmal zu überprüfen, ob es möglicherweise in diesem Umfeld bereits Inoffizielle Mitarbeiter gab. Er ging zur Kartei um nachzusehen, ob in dem Haus, der Wohnung jemand ist. Fanden sich keine, dann mußte er zu diesem Ziel welche anwerben. Wenn jemand vielleicht im universitären Bereich tätig war, dann hat man darauf hingearbeitet, daß man aus dem universitären Umfeld einen neuen IM gewinnt, oder der Nachbarschaft. Neben diesen Inoffiziellen Mitarbeitern gab es auch die "Gesellschaftlichen Mitarbeiter" der Staatssicherheit; das waren Leute, die schon eine herausgeho-

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bene berufliche Position hatten, die aus dieser Position heraus zu wirken hatten. Eine weitere wichtige Arbeitsmethode des MfS wird heute häufig noch nicht deutlich dargestellt und diskutiert; es gab nämlich auch eine Zusammenarbeit mit Inhabern bestimmter politischer Leitungsfunktionen: beispielsweise hat das MfS mit Schulleitern, mit Bürgermeistern, mit Staatsanwälten zusammengearbeitet. Wenn ein "gesellschaftlicher Höhepunkt" zu feiern war, dann war es selbstverständlich, daß das MfS zu den Schulleitern gegangen ist, die diese Feiern auszurichten hatten, um die Sicherheitslage zu diskutieren. So weit, so gut, das war die Sicherungskomponente des MfS. Doch an diesem Punkt unterscheiden sich die Schulleiter; es gab Schulleiter, die das Verfahren korrekt abwickelten, das sieht man in der Akte. Die sprechen darüber, wann, wo, was passieren kann, wo Sicherheitskräfte stehen und in welchen Größenordnungen eingesetzt werden mußten, damit nichts passierte. Aber es gab auch Schulleiter, die diese Gelegenheit - ich habe fast das Gefühl begierig - wahrnahmen, um zu erzählen: "Ach, übrigens, weil Sie sclwn da sind, also über die Lehrerin X muß ich Ihnen was sagen: also, was die für Auffassungen hat, die muß ständig WestFernsehen sehen. Und was die unter den Kollegen für eine Unruhe aufbringt, und schauen Sie nur die Kleidung an: also typisch westliches Aussehen". Solche Dinge wurden bei jeder sich bietenden Gelegenheit berichtet. Auch das ist eine interessante Sache - Bürgermeister, Staatsanwälte, hier hatte der MfS eine weitere Quelle für seine Informationsabschöpfung. Eine andere Form der Zusammenarbeit - auch wieder ein schöner MielkeBegriff- war die mit "guten Freunden". Ein guter Freund in diesem Sinne war jemand, auf den man zurückgreifen konnte, wenn man etwa ein Auto brauchte, von dem man ganz sicher sein wollte, daß es nicht mit dem MfS in Verbindung gebracht wurde. Oder den man anrufen konnte: "Kann ich nicht schnell ein Auto bei Ihnen in der Garage unterstellen? Kann ich bei Ihnen jemand über Nacht mal vorbeibringen ?". Das waren "gute Freunde", und das war keine feste Stasi-Mitarbeit mit Briefund Siegel, Handschlag oder Ähnlichem. Wichtig war auch die Zusammenarbeit mit der K1 (Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei). Die K1 hatte die schweren Delikte aufzuklären. Das Arbeitsgebiet der Kriminalpolizei 1 wurde in aller Regel von einem OibE (Offizier im besonderen Einsatz) "begleitet". Das Raffinierte war, daß die Arbeitsgebiete im K1 meistens auch einen offiziellen MfS-Ansprechpartner hatten. Die Kollegen der Kriminalpolizei wußten: "Der X ist unser MfS-Kontak:tmann." So kamen sie nicht auf den Gedanken, daß der Chef der Abteilung auch vom MfS sein konnte; denn man hatte das Gefühl, das MfS ist durch die Person X vertreten. Die Kl hatten auch - in aller Regel - Inoffizielle Mitarbeiter, IKM: Inoffizielle kriminalpolizeiliche Mitarbeiter. Das MfS mußte einem Einsatz zustimmen, und die Berichte, die diese Personen geliefert hatten, standen ebenfalls dem MtS zur Verfügung. Schließlich arbeitete das MfS mit dem jeweiligen Rat des Kreises zusam-

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men. In den Betrieben und in den Leitungsgremien der Bezirksverwaltungen und der Kreisdienststellen saß das MfS selbstverständlich auch. Das MfS hatte ebenfalls Verbindungen in den Westen; ein Berliner Professor wird in Kürze einen Bericht über die Zusammenarbeit der Stasi mit einer westdeutschen Gewerkschaft veröffentlichen; dort wurde in Gesprächen beispielsweise erörtert, wer demnächst in den Vorstand der West-Gewerkschaft gewählt werden sollte. Das sind schon überraschende Dinge, die für die eine oder andere Wendung sorgen werden und die vieHeicht auch verständlich machen, warum es manchen Leuten nicht recht ist, daß wir jetzt in den Akten lesen und nicht den Mantel des Schweigens über alles decken.

IV. Die Offiziellen Mitarbeiter Die genaue Zahl der offiziellen Mitarbeiter kennen wir heute noch nicht; sie schwankt zwischen 86.000 und knapp 100.000. Hier hat das MfS Informationsmaterial ganz gezielt vernichtet; wir haben aber inzwischen soviele Unterlagen gefunden, daß wir gefundene Daten miteinander abgleichen können und uns zunehmend wohl der richtigen Zahl nähern. Offizielle Mitarbeiter waren operativ tätig, aber es gab auch offizielle Mitarbeiter, die in Randbereichen gearbeitet haben. Das ist für die politische Diskussion nicht unerheblich, weil nämlich letztere sagen: "Es ist doch ungerecht, daß wir auch nur 808 Mark Rente bekommen sollen oder jetzt ausgegrenzt werden sollen". Ein Randbereich war beispielsweise das Reisebüro des MfS; man wollte es den Leuten ersparen, in irgendein anderes Reisebüro gehen zu müssen. Das hatte natürlich auch den Nebeneffekt, daß man auf diese Art und Weise wußte, wohin die Kollegen vom MfS in Urlaub fuhren. Das MfS hatte eine eigene Sparkasse, auch wieder in der Doppelfunktion als Serviceleistung und als Überwachungsinstanz; die Leute brauchten nicht irgendwo anstehen, aber man wußte auch: "Wie schaut's denn mit den Finanzen aus?". Man hatte einen eigenen Gesundheitsdienst und eine eigene Apotheke. Eine Apothekerin, die sich auch an uns gewandt hat, meinte: "Das ist doch ein Skandal. Ich habe nur Pillen verschrieben und Pillen gedreht, habe nichts mit Ideologie zu tun. Warum soll ichjetzt nicht in ein Gesundheitsamt übernommen werden dürfen?" Dazu kann man nur Folgendes sagen: wer zum MfS gegangen ist, wußte schon, daß es etwas Besonderes ist, er hat es spätestens dann gemerkt, wenn er seinen Gehaltszettel angeschaut hat, denn die Leute vom MfS hatten ein weit überdurchschnittliches Gehalt. Ein Kraftfahrer hatte in etwa das Einkommen eines Universitäts-Professors außerhalb des MfS. Es war, euphemistisch gesagt so eine Art Gefahrenzulage. Man wußte also, daß man hier in einer Organisation war, die einen gewissen Ruf hatte in der Bevölkerung der DDR.

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Bei den offiziellen Mitarbeitern gab es auch Grenzbereiche: Da waren die Offiziere im besonderen Einsatz (OibE). Offiziere im besonderen Einsatz waren eindeutig hauptamtliche Mts-Mitarbeiter, die in anderen Positionen, in Staat, Verwaltung und Wirtschaft untergebracht waren und nach außen ausschließlich die Positionen wahrnahmen, die ihnen offiziell zugeordnet waren, etwa als Leiter eines Kombinats, aber auch als Hausmeister. Man konnte durchaus ein hoher Offizier sein und in der Wirtschaft und Verwaltung eine unbedeutende Stelle einnehmen, wenn es nur für das Mts wichtig schien, an diesem Ort Einfluß zu nehmen oder besonders viele Informationen zu erhalten. Ein weiterer Grenzbereich sind die unbekannten Mitarbeiter. Das Mts hatte wiederum eine Untergruppe von Personen, die den normalen Mts-Mitarbeitern nicht bekannt waren, die besonders getarnt waren; sie wurden dann eingesetzt, wenn es ganz besonders heikle Dinge aufzuklären gab. Ein Geheimdienst rechnet auch damit, daß die anderen Geheimdienste ähnlich gut sind und eine Gegenobservation machen. Wenn nun Leute überhaupt keinen Bezug zum Mts hatten, merkten sie auch bei einer Gegenobservation nicht, daß der Mts-Bezug vorhanden war. Die unbekannten Mitarbeiter wurden aber auch eingesetzt, wenn es darum ging, eigene Mitarbeiter zu überwachen, zu überprüfen, deren man sich nicht ganz sicher war. Und schließlich gab es noch eine dritte Gruppe dieses Grenzbereichs: das waren die Hauptamtlichen inoffiZiellen Mitarbeiter - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst, denn entweder man ist inoffizieller oder hauptamtlicher Mitarbeiter, aber so wie die konstruktive, objektive Kompomittierung waren hier Widersprüche durchaus systemimmanent Auch der hauptamtliche inoffizielle Mitarbeiter lebte unter einer Legende, hatte ganz bestimmte Aufgaben, war aber - und das ist der Unterschied zum OibE - noch stärker beim Mts eingebunden und hat häufig nur legendiert eine Tätigkeit wahrgenommen, dort also nicht wirklich gearbeitet. Man konnte beispielsweise NVA-Offizier sein als hauptamtlich inoffizieller Mitarbeiter und brauchte für die NVA tatsächlich gar nichts zu tun. Es war mit der NVA abgesprochen: "Der sitzt nur da für uns, erledigt unsere Aufgaben", während der OibE nach außen hin auch tatsächlich die Stelle wahrgenommen hat. Daß all das so geschehen konnte, erweckt durchaus den Eindruck, daß die kleineren Mts-Mitarbeiter möglicherweise überhaupt kein Unrechtsbewußtsein mehr hatten. Wer in das Mts als 1820-jähriger eintrat, entsprechend juristisch geschult wurde und dort dann als Feldwebel oder auch Oberleutnant tätig war und sah: "Aha, das MfS darf selbstverständlich, wenn es nur will, Telefone abhören, das darf Pakete öffnen und Briefe lesen, darf in Wohnungen gehen, um da Wanzen unterzubringen", der hat tatsächlich auch kein Unrechtsbewußtsein mehr und das ist bei der Bewertung entscheidend. Deswegen sage ich nicht, die unteren sind für diese Handlungen verantwortlich zu machen, sondern die, die hoch genug oben waren, um das noch zu erkennen, aber wieder nicht so weit weg waren, daß

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man sagen konnte: "Naja, wie können die sich damit einlassen. Daß die solche Sachen machen würden, konnte ich nicht ahnen. Ich habe nur ganz generell gesagt 'Klären Sie die Universität auf!'".

V. Die IMs Ein besonders heikles Thema sind die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Inoffizielle Mitarbeiter sind für eine Gesellschaft deswegen besonders belastend, weil die Tatsache, daß Inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt werden, das nicht Berechenbare eines Sicherheitsapparates besonders dokumentiert. Daß jemand in Uniform als Polizist an der Straßenkreuzung steht oder auch, daß jemand sogar in Zivil ein MfS-Mitarbeiter war, das war vielen Leuten bekannt, man wußte: "Der X ist beim MfS". Aber das eigentlich Angstmachende war, daß möglicherweise im engsten Lebenskreis Mitarbeiter des MfS lebten, die nicht zu erkennen waren. Daß der einzelne nie wußte, kann ich mich denen anvertrauen oder nicht und damit ein Klima der Angst entstand. Verunsicherung und Mißtrauen in der Gesellschaft konnten durch den starken Einfluß von Inoffiziellen Mitarbeitern ganz besonders gefördert werden. Der Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter war keineswegs in das Belieben der Mitarbeiter des MfS gestellt. Es gab hierzu ausführliche, sehr detaillierte Regelungen. Der Bundesbeauftragte hat vor kurzem hierzu eine Dokumentationsreihe aufgelegt. Wenn uns heute manche Leute glauben wollen, na ja, da war ein Verkehrsunfall, da kam einer vom MfS und man stand zufällig am Gartenzaun, erzählte, das rote Auto fuhr zu schnell, und dann muß man damit rechnen, man sei nun als Inoffizieller Mitarbeiter registriert - dann ist das natürlich schlichter Humbug. Solche Darstellungen werden aber bewußt oder auch unbewußt verbreitet, um die Bevölkerung zu verunsichern, damit der Eindruck entsteht, wenn das so ist, daß jeder ohne eigenes Zutun Inoffizieller Mitarbeiter sein konnte, dann ist der Tatsache doch wohl nicht besonders viel Wert zuzumessen. Das Anwerben eines IMs war aber exakt geregelt, insbesondere gibt es Hauptrichtlinien, eine der wesentlichen ist die Richtlinie 1 aus dem Jahre 1958, dann gab es die Richtlinie 1/69 und die letzte war die Richtlinie 1(19 (ca. 80 Schreibmaschinenseiten) mit weiteren Durchführungsbestimmungen. Alles war präzise geregelt; es gab dabei natürlich auch eine bestimmte Bandbreite von Möglichkeiten, einen IM zu gewinnen. Wie wurde man denn nun eigentlich Inoffizieller Mitarbeiter? Konnte man überhaupt "Nein" sagen? Beispielhaft lief das etwa folgendermaßen: Für eine operative Personenkontrolle suchte das MfS in einem bestimmten Bereich einen Mitarbeiter. Dann prüfte der Führungsoffizier, wer in Frage kommen könnte, wer vom gesellschaftlichen Standpunkt wohl geeignet sein mochte. Denn Oppositionelle sollten es nicht sein. Wenn das MfS dann jemanden

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ausgeguckt hatte, dann prüften sie vorab, ob irgendetwas gegen ihn selbst vorlag, und dann sprach man ihn an. In aller Regel wurde beim allerersten Gespräch bereits offen erklärt: "Wir sind Genossen vom MtS", um dann in diesem oder auch in weiteren Gesprächen nachzuprüfen, ob nicht eine Zusammenarbeit möglich war. Ich will hier ein Beispiel nennen, wie geschickt das MfS vorgegangen ist: Ein wissenschaftlicher Assistent einer Universität, der gleichzeitig gute Beziehungen zu einem Kirchenkreis hatte, wurde angesprochen und im allerersten Gespräch- man unterhielt sich wirklich über Gott und die Welt - stellte der MfS-Offizier dann ganz beiläufig die Frage "Und wie geht es Ihnen eigentlich so beruflich?" der Assistent gab zu: "Na ja, beruflich geht es mir eigentlich nicht so gut, ich hab keine guten Aussichten, Professor zu werden."- "Ja, wieso denn?" Das Protokoll ist so geschrieben, daß der Leser das Gefühl hat, er sitzt bei dem Gespräch daneben. "Wieso denn?"- "Ja, also es ist nur eine Professorenstelle in der nächsten Zeit frei, und ich habe zwei Konkurrenten, die sind- ich muß es zugestehn - besser."- "Na ja, das ist ja ungünstig. Ja, was wollen Sie denn machen? Sehen Sie da eine Chance, das zu durchbrechen?" - "Eine Chance hätte ich schon, könnte ich mir schon vorstellen, ich brauchte aber erstens eine Genehmigung zu Westreisen, damit ich auf Kongresse gehen kann, dann hätte ich einen Informationsvorsprung. Und ich brauchte ein ganz bestimmtes Gerät, mit dem ich Analysen machen könnte, ein westliches Gerät, das es hier nicht gibt. Dann könnte ich meine Kollegen überflügeln." Und dann sagte der MfS-Offizier: "Das ist alles sehr schwierig, meine Güte, keine schöne Situation." Und das Gespräch ging wieder auf andere Themen über und sie vereinbarten, sich in ein paar Wochen wiederzutreffen. Man sprach dann wieder über Gott und die Welt, und was der Pfarrer in der Kirche gesagt hatte und wie es sonst ging, und dann sagte der MfS-Offizier, so, als ob er zerstreut wäre: "Ach übrigens ja, wie geht es eigentlich beruflich?" Antwort: "Das habe ich Ihnen doch das letzte Mal erzählt"- "Ach ja, stimmt, erinnere ich mich, keine schöne Situation, na ja, und was sagten Sie, was Sie brauchten?"- "Das und das."- "Na ja, da kann man wohl nicht helfen." Man trifft sich wieder, und wieder sagt irgendwann der MfS-Mitarbeiter- psychologisch sehr geschickt - : "Also mit den Westreisen, ob wir da was machen könnten?" Dann fragt der Assistent "Ja, wenn nicht Sie, wer könnte mich dann unterstützen?" Und die Antwort: "Na, wollen wir mal sehen." Der Wissenschaftler bekam die Westreisengenehmigung, und er hat sich verpflichtet. Aber eine Ablehnung war auch möglich. Es sind Leute angesprochen worden, die haben schlicht "Nein" gesagt. Auch das ist in den Akten dokumentiert, sonst wüßte ich es ja nicht. Auch das hat das MfS protokolliert. Da haben die Angesprochenen gesagt: "Nein, ich kann das nicht machen, mit dem MfS arbeite ich nicht zusammen." Ein SED-Mitglied, ein wirklich 100%iges, erklärte: "Ich bin bei der SED, und ich bin ganz fiir diesen Staat, ich mache alles für diesen Staat,· aber mit dem Organ des MfS arbeite ich nicht zusamme1L"

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Auch das wurde in die Akte geschrieben, die ging ins Archiv, nichts passierte. Manche haben das auch ganz geschickt gemacht, weil sie vielleicht nicht den Mut und die Kraft hatten, dem MfS-Offizier direkt "Nein" zu sagen. Eine Sekretärin ist angesprochen worden, auch eine sehr systemtreue Person; und sie hat am nächsten Tag in der Kaffeepause ihre Kolleginnen um sich geschart und erzählte dann: "Stellt Euch doch vor, welches Vertrauen die Genossen des MfS in mich haben, ich soll Inoffizielle Mitarbeiterin werden." Eine ihrer Kolleginnen, die mit dabei herumgestanden ist, muß bereits Inoffizieller Mitarbeiter gewesen sein, denn die ganze Geschichte findet sich nun in der MfS-Ak:te, und dazu heißt es dann: "Hat sich dekonspiriert, und eine Zusammenarbeit scheint nicht sinnvoll. Ins Archiv." Passiert ist nichts. Die Frage bleibt, passierte den Leuten bei einer Ablehnung überhaupt etwas? Man kann kein abschließenden Urteil fällen, bevor wir nicht alle Akten gesichtet haben, aber aus einer Akte ist beispielsweise folgendes zu entnehmen: Da war jemand Reisekader, NSW-Reisekader (nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet), und wurde angesprochen, über die Besuchten etwas zu berichten. Und er lehnte ab, nein, das macht er nicht. Der Nachteil für ihn bestand nun darin, daß er aus dem NSW-Reisekader ausgeschlossen worden ist. Wenn man weiß, welche Vorteile es mit sich brachte, Reisekader zu sein, dann kann man nicht ableugnen, hier sollte jemand genötigt werden und hat Nachteile erlitten, weil er diese Tätigkeit ausgeschlagen hat.

VI. Verpflichtung und Tätigkeit von IMs Wie wurde man nun faktisch IM? Erstens durch eine schriftliche Verpflichtung. Diese Tatsache ist für die jetzigen Diskussionen hochwichtig. Einfachen Leuten hat man in aller Regeln eine schriftliche Verpflichtungserklärung abverlangt: ein bis vier Schreibmaschinenseiten, der Text war variabel und lag im Ermessen des Führungsoffiziers, handschriftlich und dann unterschreiben. Die ganze Sache geschah wohl deshalb handschriftlich, damit der Betroffene nicht später sagen konnte: "Ach, ich hatte meine Brille nicht auf; es war dunkel; ich war betrunken, als ich unterschrieben habe." Wer diesen ganzen Text schreibt, bei dem kann das wohl so nicht gewesen sein. Wenn jemand aber zur Intelligenz gehörte, Akademiker war oder sonst schon in seiner Position bereits herausgehoben war, dem hat man es selbstverständlich nicht zugemutet, ein bis vier Seiten auf Diktat handschriftlich zu schreiben. Das hätte möglicherweise dazu geführt, daß er die Zusammenarbeit ablehnte. Das MfS wünschte aber die Mitarbeit. Deswegen ist die Tatsache, daß keine Verpflichtung geschrieben wurde, was manche Leute zu ihrer Entlastung angeben, überhaupt kein Krite-

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rium.6 Es kommt darauf an, in welcher Position der IM zur Zeit der Verpflichtung war. Diese Leute, die etwas herausgehobene Positionen hatten oder die der Intelligenzschicht angehörten, wurden per Handschlag verpflichtet, was übrigens nach den Richtlinien "im würdigen Rahmen" erfolgen sollte. Die Führungsoffiziere haben es verstanden auch im Protokoll diese Feierlichkeit darzustellen. Wichtig war in beiden Fällen, daß die Leute sich verpflichteten zur Zusammenarbeit und zur Geheimhaltung, zur Wahrung der Konspiration. Letzteres war das ganz Entscheidende. Deshalb gibt es noch eine dritte Variante, welche die Richtlinien vorsehen. Bereits in der Richt1inie 1/58 war eine dritte Komponente angelegt; die "Werbung durch allmähliches Heranziehen zur Mitarbeit". Das Wesen dieser Werbung bestand darin, daß dem IMKandidaten die Frage zur Zusammenarbeit nicht gleich zu Beginn gestellt und sein Vertrauen nach und nach gewonnen wurde. So konnte sich ein "IM-Vorlauf' in derartigen Fällen über mehrere Jahre hinziehen. Aber auch das langsame Heranziehen mußte "unbedingt konspirativ erfolgen, dß sonst der geworbene inoffizielle Mitarbeiter von vornherein wertlos" war. Dieses Verfahren kam "bei Angehörigen der Intelligenz und besonders bei kirchlichen Würdenträgern" zur Anwendung.? 6 In der Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der DDR vom 1. Oktober 1958, Seite 15 hieß es über "Die Verpflichtung des Kandidaten": "In der Regel ist der Kandidat schriftlich zur Zusammenarbeit zu verpflichten. Entscheidend ist in jedem Falle die Erlangung der Bereitwilligkeit des Kandidaten zur Zusammenarbeit. Das trifft besonders für Angehörige der Intelligenz zu, wo nicht in jedem Falle eine schriftliche Verpflichtung abgenommen werden muß. •

7 In der Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der DDR vom 1. Oktober 1958 hieß es auf Seite 17 zur "Werbung durch allmähliches Heranziehen zur Mitarbeit": "Diese Art der Werbung ist im Prinzip ebenfalls eine Werbung durch Überzeugung. Das Wesen dieser Art besteht darin, daß dem Kandidaten die Frage zur Zusammenarbeit nicht gleich zu Beginn gestellt wird und sein Vertrauen nach und nach gewonnen wird. Die Werbung durch allmähliches Heranziehen zur Mitarbeit wird dann angewandt, wenn von vornherein feststeht, daß die zu werbende Person einer direkten Verpflichtung zur Zusammenarbeit zunächst ablehnend gegenübersteht. Sie erstreckt sich gegenüber den anderen Arten der Werbung über eine längere Zeitdauer, wobei der operative Mitarbeiter entweder gleich als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit oder erst bei der direkten Anwerbung als solcher in Erscheinung tritt. Das langsame Heranziehen muß unbedingt konspirativ erfolgen, da sonst der geworbene inof fizielle Mitarbeiter von vornherein wertlos ist. Diese Art der Werbung wird besonders dann gewählt, wenn es sich um für das Ministerium für Staatssicherheit in der Zusammenarbeit und auch für die Gesellschaft wertvolle Personen handelt, wie zum Beispiel Wissenschaftler, Techniker und andere. Bei Angehörigen der Intelligenz und besonders bei kirchlichen Würdenträgern u.a ist durch eine systemalische und zielstrebige Zusammenarbeit zu erreichen, daß das Vertrauen dieser Personen zu den Organen für Staatssicherheit wächst und das Ministerium für Staatssicherheit wichtige und wertvolle Informationen erhält. Durch ständige ideologische Beeinflussung muß im Endergebnis eine enge Zusammenarbeit

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Die Zusammenarbeit mit dem MfS bestand dabei vor allem in zweierlei Dingen. Einmal in der Informationslieferung, dann aber auch in der Einflußnahme, die der IM in seinem Bereich hatte. Beides ist möglich, nicht zwingend, es kann auch nur die Informationslieferung verlangt sein. Wenn man beim MfS den Eindruck hatte, diese beiden "Dinge" lieferte der IM, dann genügte es, daß beide Seiten sich klar waren, daß man die Konspiration wahren mußte. Wichtig war für das MfS, jeweils zu vermerken, auf welcher Basis die Zusammenarbeit erfolgte. In aller Regel war das die Basis der Überzeugung. Die Nötigung war eher die Ausnahme. Es gibt diese Fälle zwar auch: um ein Beispiel zu nennen, jemand hat sich am "sozialistischen Eigentum" vergriffen. Dann konnte es sehr wohl sein, daß das MfS auf ihn zukam und sagte: "Sie haben etwas wiedergutzumachen. Wir schlagen dafür das Verfahren nieder, aber sie müssen mit uns jetzt zusammenarbeiten". Das ergibt sich sehr klar aus den Akten, denn es machte einen Unterschied im Wert der Information, die jemand lieferte, in welcher Weise er mit dem MfS zusammenarbeitete. Wenn ich weiß, daß ich jemanden unter Druck gesetzt habe, dann muß ich eher damit rechnen, daß er sich diesem Druck in irgendeiner Weise entziehen will und deshalb einfach irgendetwas erzählt. Der Wahrheitsgehalt ist also geringer von solchen Informationen als von Informationen, die ich von jemanden bekomme, der aus Überzeugung arbeitet. Bei der "feierlichen Aufnahme" - sei es per Handschlag oder schriftlich - ist übrigens in aller Regel der Deckname vereinbart worden. Das heißt, es findet sich dann häufig in der schriftlichen Erklärung "Ich wähle den Decknamen Fritz Müller". Die uute, die das so unterschrieben haben und es heute leugnen, leiden wohl unter Gedächtnisschwund. Es ist ja Mode zu sagen, ich habe den Decknamen nie gehört. Wer ihn in seiner handschriftlichen Erklärung geschrieben hat und wer ihn selbst genannt, gewählt hat, der kann das kaum vergessen haben. Dieser Deckname wurde übrigens von beiden Seiten verwendet. Der Inoffizielle Mitarbeiter hatte diesen Namen zu verwenden, wenn er sich an das MfS wandte, damit dort gleich klar war, es meldet sich ein Inoffizieller Mitarbeiter; als auch derjenige MfS-Mitarbeiter, der Kontakt mit dem IM aufnahm, meldete sich mit dem gewählten Decknamen. Beispielsweise, wenn für einen Rechtsanwalt der Deckname "Schuber!" vereinbart war, dann meldete sich auch der MfS-Mitarbeiter in der Anwaltskanzlei mit "Schuber!". Dann wußte der Rechtsanwalt, wenn die Sekretärin jemanden am Telefon mit Schubert meldete, das ist jemand vom MfS. Entweder mein Führungsoffizier oder jemand anderes, wenn es um eine Terminverschiebung geht oder ähnliches. Und umgekehrt hatte er den Decknamen zu verwenden.

geschaffen werden, so daß in besonderen Fällen selbst von einer schriftlichen Verpflichtung abgesehen werden kann, wenn ohne eine schriftliche Verpflichtung das Ziel besser erreicht wird bzw. durch die Ergebnisse der Mitarbeit eine unzertreiUibare Bindung erfolgt. •

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Gibt es nun die IM-Tätigkeit ohne Wissen des Betroffenen? Das ist ja ein sehr wichtiges Thema. Da ist natürlich wichtig zu sagen, daß insbesondere bei dieser dritten Gruppe, also bei den Leuten ohne ausdrückliche Verpflichtungen, wo man nur gesagt hatte, wir unterhalten uns, wir treffen uns, es gibt einen Informationsaustausch über den wir Stillschweigen bewahren, das Gefühl "IM" zu sein, vielfach nicht vorhanden war; auch der Terminus "Inoffizieller Mitarbeiter" war vielen nicht bekannt. Denn ich weiß heute, daß selbst innerhalb des Mts das Vorhandensein einer Richtlinie 1n9 nicht Allgemeinwissen war, sondern nur den Führungsoffizieren bekannt war. So können viele zu Recht sagen, ich habe mich nicht als Inoffizieller Mitarbeiter im Sinne der Richtlinie 1/79 gefühlt, weil ich die gar nicht gekannt habe. Es gab natürlich auch beim MfS Leute, die gegen Vorschriften verstoßen haben, und deswegen, das ist auch wichtig, gab es Kontrollmechanismen. Ich kenne eine Akte über einen FührungsoffiZier, der offensichtlich an Geld kommen oder sich wichtig machen wollte, und jemanden rein fiktiv als IM geführt hatte. Und die Mts-interne Kontrolle hat dann nach etwa einem Jahr herausgefunden, daß das ganze getürkt war. Der Führungsoffizier wurde unehrenhaft entlassen; es ergibt sich auch aus der Akte ganz eindeutig, wann und woran gemerkt wurde, das alles fehlerhaft ist. So etwas kann vorkommen, das muß man einfach wahrnehmen. Deswegen braucht das die prinzipielle Aussage nicht zu entkräften. Wenn lediglich eine einzige Karteikarte gefunden wird und sonst gar nichts, keinerlei Indizien da sind, dann weiß man natürlich nicht, ob es sich um einen fiktiven IM handelt. Bei den Hundertausenden sind das etwa eine Handvoll, aber rein theoretisch ist dieser Null-Komma-Sowieso-Promillfall dann nicht auszuschließen, deswegen muß man immer prüfen, was weiter an Informationsmaterial vorliegt. Wenn die ganze Akte vorhanden ist, genügt das Informationsmaterial, um zu klären, könnte das dieser extreme Ausnahmefall sein. Inoffizielle Mitarbeiter wurden selbst unter Jugendlichen übrigens rekrutiert und eingesetzt; ich habe eine Akte gesehen, da hat die eigene Mutter, die für das MfS tätig war, ihren 16jährigen Sohn dem Mts als Inoffiziellen Mitarbeiter zugeführt. Wie sah eigentlich der Inhalt der Tätigkeit des Inoffiziellen Mitarbeiters aus? Das reichte von Informationen, die schlicht banal waren, bis zu Informationen aus der Intimsphäre. Ein Prokurist eines SED-nahen Unternehmens kam plötzlich deshalb ins Gerede, weil man sich in diesem Unternehmen fragte, wieso ist eigentlich der Genosse Sowieso bei uns Prokurist? Er war eigentlich Jurist. Das ist doch komisch, wieso kommt der eigentlich bei uns rein, ist zwar Genosse, aber besonders hervorgetreten ist der nicht. Diese Überlegung genügte, um eine operative Personenkontrolle einzuleiten beim MfS. Es wurde ein Maßnahmeplan entwickelt, es wurden Inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt, es wurde das Telefon überwacht. Und dann heißt es beispielsweise aus Berichten von Inoffiziellen Mitarbeitern: der Sowieso kam 7.30 Uhr zur Arbeit, um 7.45

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Uhr verließ er wieder das Büro und fuhr mit der S-Bahn Richtung Königswusterhausen. Er stieg in den dritten Wagen bei der zweiten Türe ein, er setzte sich in die vierte Bank, ihm gegenüber saß eine schwangere Frau. Er schlug die Berliner Zeitung auf, er las die Seite vier, dann schüttelte er den Kopf, dann schlug er die Zeitung zu und unterhielt sich mit der Frau über das Wetter. Bei der Station XY stieg er aus, am Bahnsteig drehte er sich einmal um seine eigene Achse und verließ dann den Bahnsteig am nördlichen Ausgang. Dort ging er zunächst zur Bahnhofsuhr, suchte dann den Kiosk auf, kaufte das Neue Deutschland, setzte sich auf eine Gartenbank und las 35 Minuten. Dann ging er wieder zum Bahnsteig und fuhr mit der S-Bahn nach dort hin, wo er eingestiegen ist; also absolut banale Dinge. Man findet aber auch in den Akten folgendes zu dieser gleichen Person: Genosse Sowieso ging um 7.55 Uhr noch einmal nach Hause, betrat um 7.56 Uhr die Wohnung. Er und seine Frau küßten sich. Sie liebten sich. Um 8.07 Uhr verließ er wieder die Wohnung. Also auch solche Dinge sind protokolliert, festgestellt mit Hilfe von Abhöreinrichtungen in der Wohnung. Oder man liest Dinge, die schon erschreckend sind. Dieser Mann war verheiratet, hatte aber eine Freundin, mit der er sexuelle Beziehungen aufnehmen wollte. Und offensichtlich müssen sie sich geistig schon sehr nahe gestanden sein, weil dieser Mann seiner Freundin, die er für sich gewinnen wollte, sein ganzes Gefühlsleben offenbarte. Insbesondere die Art und Weise, wie er mit ihr sexuell intim werden wollte, hat er in allen Einzelheiten geschildert. Das hat diese Frau genau so minutiös dem MfS mitgeteilt. Üblicherweise fertigte das MfS nach jedem einzelnen Bericht eine Auswertung, was zu veranlassen war. Es stand in diesem Falle zu erwarten, daß der Inoffiziellen Mitarbeiterin "llse" oder wie sie hieß, mitgeteilt wurde, daß das Sexualleben von X nicht von Interesse für das MfS sei, sondern daß es um die Frage ginge, warum er eigentlich in diesem Unternehmen diese Position einnimmt. Ist er politisch zuverlässig? Doch eine solche Zurechtweisung fehlte. Statt dessen folgte eine zweiter, dritter und vierter "lntimbericht". Die Tätigkeit eines IMs konnte auch darin bestehen, daß man als Vater über die eigene Tochter Berichte geschrieben hat, oder man hat über die eigene Frau berichtet. Ein Vater, dem die Verlobte seines Sohnes nicht paßte, er war OibE, hat seine MfS-Beziehungen spielen lassen, damit die Frau weit weg versetzt wurde von seinem Sohn, so daß sich die Sache wieder verlief. Arbeitskollegen berichteten, gute Freunde; manchmal hat man das Gefühl, es war jemand, der saß jede Woche mit auf dem Sofa und trank eine Tasse Kaffee, saß jede Woche da, lieh sich Bücher aus dem Bücherregal, um dann darüber zu berichten, solche Bücher hat der. Manche Dinge sind wegen ihrer Kleinkariertheil fast peinlich. Ein Richter am Obersten Gericht, der sich jetzt wieder beworben hat als Richter, der hatte ein Zimmer seiner Wohnung für 20 Mark als konspirative Wohnung an das MfS vermietet. Andererseits haben die IMs sich sehr unterschiedlich verhalten;

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selbst Leute, deren schriftliche Erklärung vorliegt, haben sich später häufig der Sache selbst entzogen. Sie kamen nicht zu den Treffs, haben ihre Aufgaben nicht erfüUt. Es gab aber auch manche, über die war zum Beispiel folgender Satz zu lesen: "War bereit, von sich aus über Personen zu berichten", d.h. das war jemand, der hat von sich aus mehr gemacht als andere; wenn so ein Satz in der MfS-Bewertung steht, ist das vielsagend und für den Betroffenen unangenehm. Gab es eigentlich Leistungen für die IM-Tätigkeit? In aller Regel nein. Vielleicht bekam die Frau einen Blumenstrauß, oder man bekam eine Flasche Cognac zum Geburtstag, mehr in aller Regel nicht. Wenn jemand Geld bekam, dann allenfalls kleine Beträge. Wir haben aber auch Fälle, wo jemand feste Monatsbezüge erhalten hat. Ein solcher Fall ist natürlich besonders eklatant. Auch wenn jemand "Sonderleistungen" erhalten hat von 1.000 Mark, dann war das für eine besonders herausgehobene Tätigkeit. Manchmal machte man das so wie früher in Österreich, man verlieh Orden, die kosten wenig und schmücken auch. Oder es gab für Handwerker berufliche Hilfen, der bekam beispielsweise Dachplatten oder Mörtel, also irgendetwas, das für seinen Handwerksbetrieb notwendig war. Das war natürlich dann im konkreten Fall eine ganz wichtige Gegenleistung. Welche Folgen hatte die IM-Tätigkeit, was geben da die Akten her? Für den einzelnen Inoffiziellen Mitarbeiter war das sicher häufig nicht abschätzbar; manchmal schon, denn wenn er boshaft berichtete, mußte er davon ausgehen, daß er Schaden anrichten würde. Aber in vielen Fällen kann man den Leuten unterstellen, daß sie nicht wußten, was unmittelbar passierte. Aber selbst die banale Information, die der einzelne geliefert hat, war häufig ein wesentlicher Mosaikstein. Es wird auch gefragt, wie wahr sind eigentlich diese Stasiakten, wie wahr sind diese IM-Berichte, ist das nicht alles gefälscht, ist das nicht alles aus der Sicht des MfS geschrieben? Zum Wahrheitsgehalt der Akten ist folgendes zu sagen: Wenn wir eine handschriftliche Verpflichtung finden, dann ist die Tatsache, daß diese handschriftliche Verpflichtung geschrieben worden ist, wahr. Und wenn wir Berichte finden, dann ist die Tatsache der Berichte wahr. Und ebenfalls wahr sind die Tonbandabschriften; wenn jemand ein bißeben wichtiger war, dem hat man nie zugemutet, daß der die Berichte handschriftlich abliefert. Das Dumme ist, daß den "Kleinen", die üblicherweise "gehängt werden", deren Akten auch nicht vom MfS vernichtet worden sind, ihre Tätigkeit nachgewiesen werden kann; denn, die haben auch unglücklicherweise unterschrieben. Die anderen- "Großen"- haben selbstverständlich ihre Berichte nicht per Hand geschrieben, sondern entweder haben sie Tonbandkassetten mit nach Hause bekommen und diese besprochen, oder sie trafen sich mit dem Führungsoffizier. Es gab dann nur Treffberichte, weil das MfS ja froh war, daß überhaupt Informationen kamen. Aber die Frage, wie wahr ist nun das Ganze?

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Wenn das MfS nun eine Bewertung schrieb, dann mag es schon sein, daß da in der Bewertung manches euphorisch war. Das muß man aus MfS-Sicht sehen. Man muß unterscheiden, das ist der Bericht des IM und das ist die Bewertung des Führungsoffiziers. Aber die Tatsache, daß was berichtet worden ist, ist wahr. Daß das MfS tatsächlich im Grundsatz an der objektiven Wahrheit interessiert war, wird aus folgendem deutlich. Das MfS hat natürlich auch den Inoffiziellen Mitarbeitern nicht getraut und bat immer wieder versucht festzustellen, ob sie ehrlich sind. Dazu ein Beispiel: Es ist Herbst 1968, der berühmte August 1968, Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR. Ein Inoffizieller Mitarbeiter bekommt von seinem Führungsoffizier einen Auftrag. Der Führungsoffizier sagt zu ihm: "Sie werden ja in Kürze von Professor X zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen werden; bei dieser Gelegenheit fragen sie den Professor nach seiner Meinung zum Einmarsch in die CSSR." Ein paar Wochen später ist das nächste Treffen, der Führungsoffizier fragt: "Was haben Sie da rausbekommen, was hat der Professor gesagt?" Dann erklärt der Inoffizielle Mitarbeiter: "Ach, das ist mir peinlich, ich war viel zu betrunken, ich konnte diese Frage gar nicht stellen". Schrieb der Führungsoffizier am Rand hin: "Der IM lügt, laut IM X [ein zweiter IM; H.G.], hat er am ganzen Abend nur zwei Glas Bier getrunken." Das heißt, man hat hier ganz bewußt eine Gegenkontrolle eingesetzt. Das MfS hat im übrigen auch, andere Maßnahmen eingesetzt, zum Beispiel den Einsatz der 26, das ist die Abteilung 26, deren Aufgabe das Telefonabhören war. Der Auswerter konnte dann sehen, diese Information kommt einmal durch IM plus Maßnahme 26. Also auch hier bat man überprüft, gegeneinander abgecheckt. Aber wenn eine Information durch die Abteilung 26 gewonnen worden war, dann wurde diese Information auch als solche ausgewiesen. Wenn heute jemand sagt: "Ach Gott, ich muß wieder abgehört worden sein", dann läßt sich das durchaus überprüfen. Die Information müßte dann anders aussehen als ein IM-Bericht.

VII. Der Ausstieg als IM Wie beendete man die Tätigkeit für das MfS? Man konnte aussteigen, auch das gibt es. Leute haben zunächst unterschrieben, haben mitgemacht und haben dann irgendwann gesagt, mein Gewissen erlaubt mir das nicht. So steht es zum Teil in den Akten. Es war klar, das MfS konnte Mitarbeiter mit solchen Skrupeln nicht gebrauchen. Da bestand die Gefahr, daß er sich dekonspirierte, dann war er wertlos. Und er würde ja auch nicht weiter mitarbeiten. Das heißt, der IM wurde dann entlassen. Zum Teil endete die Mitarbeit auch durch Untätigkeit. Das MfS spornte den IM immer noch einmal an; auch der Führungsoffizier hatte einen Vorgesetzten, dem er die Treffergebnisse vorlegen mußte. Der Olef

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meinte dann: "Jetzt treiben Sie ihn an, der macht ja zu wenig." Und wenn das nichts nützte, dann sagte man sich, es hat keinen Sinn mehr und vielleicht ist der IM auch unfähig. Wer aufgrund von Unfähigkeit ausgeschieden ist, der kann das natürlich nicht auf sein Panier schreiben und heute sagen, ich habe ja aufgehört. Wohnort- oder Berufswechsel konnten ein Grund zur Beendigung sein. Aber die Inoffizielle Tätigkeit beim MfS endete auch manchmal deshalb, weil - so stand es dann beim MfS in den Unterlagen - jemand aufgestiegen war in eine herausgehobene Position. Jetzt war mit ihm offizieller Kontakt möglich. Wenn vielleicht jemand Staatsanwalt geworden ist, Bezirkssekretär, Bürgermeister, da brauchte man in diesem Falle nicht mehr diesen Aufwand der Konspiration zu betreiben. Da konnte jetzt ein Mitarbeiter des MfS ganz offiziell den Kontakt fortführen. Wenn wir etwa bei Staatsanwälten sehen, die IMTätigkeit hört auf an einem bestimmten Punkt, dann ist keineswegs gesagt, daß nicht der Informationsfluß von da ab genauso weitergelaufen ist. Manche IM waren bis zum November 1989 aktiv, und obwohl viele bis zum Schluß für das MfS tätig waren, wird viel verdrängt. Wie stark das Verdrängen ist, kann man auch daran ermessen, daß wir Bewerbungen bei unserer Behörde haben von ehemals Inoffiziellen Mitarbeitern, die natürlich nicht angeben, daß Sie mal IM waren. Viele IMs fühlen sich auch aus anderen Gründen sicher. Dazu noch ein Beispiel: Es ist um den 1. November 1989, die Mauer steht noch, aber es hat die großen Demonstrationen gegeben. Ein Inoffizieller Mitarbeiter kommt zu seinem Führungsoffizier und bittet entpflichtet zu werden; es gefällt ihm so nicht mehr, wie die Situation ist, er möchte nicht mehr mit dem MfS zusammenarbeiten. Der Führungsoffizier zeigt Verständnis, man bespricht noch einmal, was man gemeinsam alles geleistet hat. Zum Schluß hat der IM dann noch eine Bitte, daß seine Unterlagen vernichtet werden. Die nächsten Zeilen: "Dies wurde zugesagt. 2. Ins Archiv." Dieser Inoffizielle Mitarbeiter ist natürlich überzeugt, daß seine Unterlagen vernichtet sind. Hier zeigt sich die "besondere Qualität" der Führungsoffiziere, die in aller Regel die Fähigkeit hatten, eine Art Vater- oder Älterer-Bruder-Figur darzustellen. Es wurde ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Übrigens auch bei den Leuten, die im Westen waren, war das in der Regel so. Es war ein ganz vertrauliches Verhältnis, auch so konnte man Leute werben, bei der Stange halten, in Krisen helfen. Der Führungsoffizier hat auch manchmal geholfen, wenn das Dach undicht war und vielleicht für Material oder Handwerker gesorgt, oder wenn der Sohn keinen guten Arbeitsplatz hatte, konnte er da etwas tun. Ein guter Führungsoffizier half auch in anderen Lebenslagen, und wenn jemand, dem man wirklich vertraut, verspricht, die Akten zu vernichten, dann glaubt man das auch. Dies soll deutlich machen, wie schwer die Aufarbeitung in Wirklichkeit ist. In vielen Fällen, in denen Leute vorwurfsvoll an die Öffentlichkeit getreten sind, Prozesse geführt haben, und natürlich mit dem treuesten Augenaufschlag sagen: "Nie.", Hand aufs Herz legen: "Ich war nie etwas. Ich

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wußte gar nicht, was das MfS ist.", sah die Wahrheit ganz anders aus. Vor allem die Leute aus dem Westen können sich das nicht vorstellen, weil sie meinen, niemand könne derart lügen. Das ist tatsächlich ein Problem, daß manche sagen, was aus dieser Behörde kommt, sind lauter unhaltbare Vorwürfe und damit den Rechtsstaat in Gefahr sehen. Dieser Umgang mit der Vergangenheit ist sicher ein Problem, er ist auch psychologisch schwer zu erklären, aber der Mensch neigt ganz generell dazu, zu verdrängen, zu vergessen. Viele wissen, daß Akten vernichtet worden sind, viele hoffen vielleicht auch darauf und denken deshalb, daß gerade ihre Unterlagen verschwunden sind.

VIII. Resümee Bei der Frage, wie diese Akten der Stasi wohl verwertet werden sollen, muß man immer bedenken, daß es Unterlagen sind, die nach unserem Rechtsverständnis in grob rechts-, wenn nicht gar verfassungswidriger Weise gewonnen worden sind. Denn sie sind unter Verletzung des Post- und Brief-Geheimnisses zustande gekommen, die Unverletzlichkeit der Wohnung wurde mißachtet, die Menschenwürde (Artikel! Grundgesetz) und die "Freie Entfaltung der Persönlichkeit" (Artikel 2 Grundgesetz) wurden verletzt. Das bedeutet, daß wir diese Unterlagen tatsächlich nur sehr behutsam verwenden dürfen, und vor allen Dingen, daß wir diese Unterlagen nicht in einer Weise benutzen dürfen, die die Opfer, die Betroffenen noch ein zweites Mal zu Opfern macht. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Es wird beispielsweise ein Strafprozeß gegen einen ehemaligen MfS-Mitarbeiter geführt. Und in diesem Strafprozeß in öffentlicher Verhandlung würden nun die Informationen über das Opfer vorgetragen, weil der Betroffene möglicherweise als Zeuge auftreten müßte, d.h. die Informationen, die auf rechtswidrige Weise gewonnen worden sind aus seinem privaten Intimleben, die zwar das MfS schon kannte, was schon ein tiefer Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht war, die würden möglicherweise jetzt noch in öffentlicher Sitzung erörtert. Der Verteidiger könnte möglicherweise im Sinne des von ihm vertretenen MfS-Mitarbeiters vortragen, X ist ein unglaubwürdiger Zeuge, schauen Sie doch nur einmal die Akten. Wer als verheirateter Mann solche Geschichten macht, der sagt doch auch hier nicht die Wahrheit - oder bei dieser Person kann der Schaden eigentlich nicht groß gewesen sein. Das ist wirklich ein ganz großes Problem. Es ist manchmal schwer klarzumachen, daß es hier Grenzen geben muß, daß Strafverfolgung kein absoluter Ma&tab ist. Das es Grenzen geben kann und muß, darauf hinzuweisen ist jetzt auch eine ganz wesentliche Aufgabe unserer Behörde. Wir haben bei der Verarbeitung der Informationen, die wir zu sichern haben, zu ordnen, auch darauf zu achten, daß überwiegende schutzwürdige Belange der Betroffenen nicht durch die Benut-

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zung der Akten beeinträchtig werden. Das ist nun ein weiterer Angriffspunkt gegen unsere Behörde. Denken Sie daran, daß etwa der Koko-Untersuchungsausschuß im Januar 1992 gerügt hatte, die Behörde zu unbotmäßig und gäbe die Akten nicht sofort heraus. Wir haben uns nie geweigert, sie herauszugeben. Sondern wir haben nur gesagt, wir müssen prüfen, ob bestimmte Informationen tatsächlich für den Ausschuß erforderlich sind, weil natürlich auch in diesen Akten höchst private Informationen über Dritte stehen. Weil man beispielsweise die Kaufleute und deren Angehörige, die mit den Koko-Unternehmen zusammengearbeitet haben, natürlich auch überwacht und privateste Dinge erforscht hat. Da muß man, bevor man die Akten herausgibt, Zeile für Zeile lesen und gegebenfalls abdecken und löschen. Auch das ist ein Problem, das für viele Leute häufig oft schwer nachvollziehbar ist. Wir haben hier noch eine ganz eigenständige besondere Aufgabe. Ziel der Arbeit unserer Behörde ist es sicher nicht, dazu beizutragen, daß Rachegelüsten aufkommen. Ziel der Nutzung der MfS-Unterlagen kann auch nicht sein, daß billige Neugier befriedigt wird. Ziel kann es letzten Endes nur sein, Rechtsfrieden in der Gesellschaft herzustellen und zwar Rechtsfrieden zwischen den Bürgern untereinander, aber auch Rechtsfrieden mit den Institutionen, mit den Verwaltungen, mit der Regierung. Rechtsfrieden kann man nur schaffen, wenn man Vertrauen hat, wenn man weiß, was geschehen ist. Rechtsfrieden unter den Bürgern, für den Abbau von Mißtrauen eine Voraussetzung ist, kann nur dann verwirklicht werden, wenn die Bürger tatsächlich die Möglichkeit haben zu wissen, was geschehen ist. War mein Freund, war mein Arbeitskollege Mitarbeiter im MfS, um dann entscheiden zu können, gut, ich will ihm vergeben, ich kann es gut verarbeiten, oder auch um entscheiden zu können, dieser Freund sitzt mir nicht mehr einmal die Woche auf dem Sofa. Das gilt auch zwischen Ehegatten, daß man sagt, gut wir vergeben, oder aufgrunddieses Wissens können wir nicht miteinander leben. Aber Wissen ist die Voraussetzung, um Vertrauen zu gewinnen und wieder Rechtsfrieden zu erreichen, denn Mißtrauen schwelt. Ich bringe gerne das Beispiel: Es ist manchmal heilsamer, einen chirurgischen Schnitt mit dem scharfen Messer vorzunehmen, der sehr schmerzhaft ist, aber zur Heilung führt, als ein Geschwür weiter vor sich hin schwären zu lassen. Ein Ziel ist letzten Endes auch, die Gesellschaft in den neuen Bundesländern von dem Mythos des MfS, von dem Organ, das überall da ist, weswegen man sich nichts trauen kann, zu befreien. Ich habe manchmal den Eindruck, wenn ich mit Bürgern im Osten Deutschlands spreche, daß da noch eine gewisse Unsicherheit ist, ob die MfS-Leute noch irgendwelche Einflußmöglichkeiten haben. Wenn man nun diesen Geheimapparat offen legt, dann kann man auch das Mythische wegreißen, um damit deutlich zu machen, was das MfS tatsächlich war und was hier geschehen ist.

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Heinz Klaus Mertes AUFfRAG UND WIRKUNG DER MEDIEN IM VEREINTEN DEUTSCHLAND Das Thema meines Referats ist abstrakt, ja sogar etwas blaß anmutend - so nach der ermüdenden Pauschalsicht-Devise- "Die Medien- gestern, heute, morgen". Jeder Zeitungsleser, jeder Fernsehzuschauer aber weiß- und der unglaubliche Informations- und Meinungskampf im Fall Stolpe belegt es -, daß es hier um eine Brisanz geht, die höchst konkret und praktisch erfahrbar ist. Es gibt derzeit im vereinten Medien-Deutschland einen "Kampf um Köpfe" (Wilke/Otto 1986), um einen Buchtitel des Berliner Sozialwissenschaftlers Manfred Wilke zu zitieren, wie ich ihn in meiner 20jährigen Berufslaufbahn noch nicht erlebt habe. Und der als geistige Auseinandersetzung nur begreiflich wird vor dem Hintergrund des machtpolitischen Ringens um die künftige Gestalt dieses vereinten Deutschlands. Dabei schienen die großen publizistischen Schlachten um die Grundpositionen dieser Bundesrepublik Deutschland spätestens Anfang der 80er Jahre alle geschlagen zu sein - beendet mit einem weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Konsens. Die Bundesrepublik (alt) wußte sozusagen, wo sie hingehörte im Äußeren und was sie zusammenhielt im Inneren. In den 50er und 60er Jahren wurde ausgefochten die Schlacht um die Westintegration, um die Einbindung in ein entstehendes gemeinsames Europa. Es gab die Auseinandersetzung um Wiederbewaffnung und Nato-Zugehörigkeit, die sich hinzog bis zur Nachrüstungsdiskussion. Und - hervorkommend aus den fundamentalistischen ordnungspolitischen Auseinandersetzungen im Gefolge der 68er Auflehnung entbrannten über mehr als ein Jahrzehnt die großen publizistischen Auseinandersetzungen um die ordnungspolitischen thematischen Bastionen, die über mehr oder weniger Marktwirtschaft entschieden und damit über mehr oder weniger Abgrenzung von sozialistischem Planwirtschaftsdenken. Diesen Sektor möchte ich, weil er mir so wichtig und beispielhaft scheint, vertiefen. Wieviel Staat, wieviel Markt, wieviel privates gewinnorientiertes Unternehmertum war eine der durchgängigen Streitfragen der 70er Jahre: mit Leidenschaft, Intellekt und nicht selten auch Demagogie ausgefochten quer über alle Themenbereiche unserer Gesellschaft, ob Bildung, Altersversorgung oder Mü11abfuhr und Schlachthof. Es gab die massenmediale Schlacht um die

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Funktion und vor allem Legitimation des Gewinns und gegen seine Diffamierung als Profit. Da war der Aufeinanderprall in einem höchst polarisierten und politisierten Klima um staatliche Investitionskontrolle, mindestens aber gesellschaftliche Langfristplanung. Allüberall auch die Dauerkontroverse zur Frage: wieviel Wirtschaftswachstum vertragen Land und Gesellschaft. Der Club of Rome und zwei Erdölkrisen schufen entsprechende NachdenklichkeiL Und schließlich gab es die Schlacht um die Grenzen des Sozialstaats, um den vorgeblichen Alleskönner Staat schlechthin, die dann allerdings - trotz ungezählter Leitartikel und Sendungen - weniger publizistisch entschieden wurde, als durch eine so offenkundig erdrückende Staatsverschuldung, daß hierdurch nicht nur eine Wende in der Regierungsmacht beflügelt wurde, sondern auch im Bewußtsein der Bürger. Neu fürs Medienklima war dabei, daß diese Auseinandersetzung um Grundorientierungen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weniger in den spezifischen Fachecken der Zeitungen, Zeitschriften, der Hörfunk- oder Fernsehprogramme stattfand, als in den publikumswirksamen, massenwirksamen Politikplätzen der Medien. So zum Beispiel haben die politischen Magazine des Fernsehens die Wirtschaft erst in diesen "fundamentalistischen" 70er Jahren entdeckt. Man kann sagen: Die 70er Jahre haben den bundesdeutschen Journalismus umfassend politisiert. Nicht zu seinem Nachteil. Er wurde spannender dadurch, weil er kritischer wurde, weil er auch Sach- und Fachfragen unter moralkritischem-systemkritischem Ansatz beleuchtete und damit aus dem schwarzen Insiderkasten der Fachleute mitten in die Öffentlichkeit bugsierte. Und das war eine neue Erfahrung nicht nur für die Verantwortlichen der Wirtschaft, sondern für das ganze Technokratenturn unserer Gesellschaft. Nicht von Journalisten mit einem systemimmanenten Fachansatz wurden sie begleitet oder kritisiert, sondern herausgefordert von publizistischen Machern neuen Typs mit einem systemkritischen, also moralkritischen Ansatz. Die Funktion des unternehmerischen Gewinns interessierte nicht länger volks- und betriebswirtschaftlich, sondern eben moralisch. Ausbeutung von Lohnabhängigen oder nicht, war da z.B. die Gretchenfrage. Fast alle, die beruflich auf Fach- und Expertenwissen setzen, setzen müssen, hatten sich auf einmal in einer öffentlichen Pranger-Situation mit einer Medienmacht herumzuschlagen, die ihre kühlen Fachargumente nicht akzeptierte, sondern jegliche Sachfrage moralisierte - ob technischer Fortschritt und Rationalisierung ("Chips statt Jobs") oder Kernenergie und Autobau, ob Krankenhausfinanzierung oder Lehrlingsausbildung. Aus dieser Systemsicht des fachlich bewußt dilettierenden Journalismus resultierten indes gehärtete ordnungspolitische Positionen und deren breite Aneignung im Bewußtseinsstand der Bevölkerung. In Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, allüberall in der Spezialistenwelt, wuchsen "Grundsatzabteilungen" heran, die solche Grundpositionen entwickelten und multiplizierten. Die Erkenntnis und Wendung von der gesell-

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schaftspolitischen Verantwortung bekam Flügel. Die soziale Dimension erfolgreichen Wirtschaftens etwa wurde besser bewiesen und besser gesehen. Die Legitimitätskrise der Wirtschaft und anderer Fachwelten ebbte ab. Die Herausforderung durch den neuen journalistischen Moralismus hatte die Gesellschaft in allen Teilen kommunikativ gestärkt, die Legitimität ihrer Ordnung massenmedial verbreitet. Seit dieser wirklichen Wende in der bundesdeutschen Mediengesellschaft herrschte - wenn auch in gewissen Abstufungen - weithin Konsens über das, was so lange und so vehement umkämpft war: Marktwirtschaftliches Denken herrschte vor, statt Glauben an die omnipotente staatliche Bürokratie. Daß der Sozialstaat nur verteilen kann, was zuvor von allen erwirtschaftet wurde, dies und anderes zählt seit der Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre zur allgemeinen politischen Lebenserfahrung, der sich weder Arbeitnehmer noch Journalisten verschlossen. So verschwanden die ordnungspolitischen publizistischen Streitthemen von der Tagesordnung und mit dem Nachrüstungsbeschluß war auch die außenpolitische Positionierung eine festgefügte, abgeschlossene Angelegenheit. Ein 40jähriger Prozess um Grundkonsens kam zu einem vorläufigen Endergebnis. Dieser Prozeß mag beleuchten, daß einer Gesellschaft nichts geschenkt wird. Und die DDR? Zwanghafter Konsens gebaut auf Propaganda und Unterdrükkung, der nichts wert war. Freilich die Einigung rührte an die soeben erreichte Konsens-Stabilität auch im Westen. Daß diese auf weitreichenden Konsens beruhende Stabilität ihr Ende gefunden hat, ist auf einen einfachen, aber säkularen Tatbestand zurückzuführen: die deutsche Einigung. Besser gesagt: Die Vereinigung von Marktwirtschaft und sozialistischer Kommandowirtschaft, deren Ausgang Millionen Menschen schicksalhaft betrifft. Diese Herausforderung stellt alles neu auf den Prüfstand der Erörterung und der medialen Auseinandersetzung, was vor zwei Jahren noch sicherer bundesdeutscher Konsens erschien. Es ist weniger der eher verständliche Trieb, jetzt beim Einrichten in das gemeinsame Deutschland über alles noch einmal neu und grundsätzlich nachzudenken; da wird ja nicht einmal das bewährte Grundgesetz ausgenommen. Paradox, aber reale Entwicklung ist leider obendrein, daß ausgerechnet in dem historischen Moment, in dem der Zusammenbruch sozialistischer, anti-marktwirtschaftlicher Heilslehren unübersehbar wie nie vor aller Augen liegt, der schwer erkämpfte ordnungspolitische Konsens wieder verloren geht. Ist es denn nicht so, daß auf einmal massenhaft in Berichten aus der leidgeprüften Ex-DDR ausgerechnet die marktwirtschaftliehen Neu-Ansätze als Ursache für soziale Schwierigkeiten dargestellt werden: effizient das neu einziehende Unternehmertum - so der Tenor, aber doch eine Art Haifischbecken, ungerecht, amoralisch. Der gute alte Sozialismus dagegen, arm zwar, aber doch

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von gleich zu gleich und deshalb humaner? Ist es etwa nicht so, daß derzeit allüberall der Staat beschworen und das Zutrauen auf marktwirtschaftliche Kräfte dem Spott feilgeboten wird? Man analysiere die Bundestagsdebatte zum gesamtdeutschen Haushalt. Zudem: muß das Jonglieren mit Hunderten von Milliarden nicht die alte Staatsgläubigkeit im Westen wiedererwecken und die vorhandene in Deutschland-Ost stärken? Ist nicht der Begriff "Marktwirtschaft" unter den Deutschen in den neuen Ländern ein bloßer Leertitel ohne jegliche individuelle und historische Erfahrung. Wer füllt dieses Vakuum auf? Wie unterschiedlich auch immer hier die Risiken gesehen werden: Die Menschen in Deutschland und deshalb auch die Medien sind auf neuer Positionssuche. Und dies ist nicht nur eine akademische Orientierungssuche. Es ist ein Meinungskampf und deshalb auch eine Machtfrage. Wie kompetent sind derzeit die Medien, hier Orientierung zu vermitteln, wie "trainiert", ja kampfbereit für die neue Auseinandersetzung um Grund~itionen, die sie bis vor kurzem zum ausgefochtenen Themenbesitzstand zählte? Wo sind die publizistischen Wortführer und Leitbilder, die hier mit hoher Autorität die Zukunft weisen? Nach meiner Beobachtung, die sich auf die tägliche Praxiserfahrung stützt, fehlt den Medien derzeit die Autorität und Glaubwürdigkeit, hier Orientierungshilfe in einer umbrechenden Welt zu leisten. Vielmehr leiden wir unter einer Entautorisierung unerhörten Ausmaßes. Der Umbruch in Deutschland und Europa, der ja im Stile einer Kettenreaktion erfolgte, ließ die Medien hinter den atemberaubenden Entwicklungen der vergangeneo zwei Jahre hinterherrennen, ohne sie jemals einholen zu können. Es zeigte sich - buchstäblich vor aller Augen - und das ist eine völlig neue Erfahrung in unserer Mediengesellschaft, daß Politik, wenn sie wirklich groß ist, wenn sie geschichtsprägend ist, eben diese früher so unschlagbar scheinende Mediengesellschaft überrollen kann. Nicht Medienmeinung gab bei diesem Prozeß den Takt vor, sondern die Politik als Gestalterin der Lebensverhältnisse. So glaube ich, daß ausgerechnet diese Jahre des Umbruchs mit einem gigantisch gesteigerten Volumen an Medienaktivitäten die soziologischen und politologischen Warnungen vor den Medien als der vierten, illegitimierten Gewalt als überholte Kassandrarufe erscheinen lassen. Journalismus war in dieser dramatischen Zeitspanne ganz wesentlich ein Hinterherrennen hinter Ereignissen und Entwicklungen, deren Tempo, deren Dynamik für jeden Medienkonsumenten deutlich erkennbar andere bestimmten -vorzugsweise Politiker. Gorbatschow steht dafür, aber auch Kohl. So hat sich auch die Frage entschieden, ob die Politik eine Gefangene der Medienmacht ist. Sie ist es nicht. Sie ist stärker. In diesem Sinne hat die Entautorisierung der Medien, von der ich sprach, durchaus begrüßenswerte Aspekte. Denn unter nichts haben wir Journalisten in den vergangeneo Jahren

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mehr gelitten als unter der üt>ennäßigen Machtzuweisung an die Medien. Dies provozierte den Ruf nach Kontrolle, dies provozierte dazu, Medienpolitik fast ausschließlich als Machtpolitik gegenüber diesem scheinbar illegitimierten Machtträger Medien zu verstehen- mit den ganzen Stigmatisierung. Dies alles hat sich relativiert über den Fusionsprozeß deutsche Einigung. Aber es gibt auch eine Entautorisierung, die nichts Begrüßenswertes enthält: Sie rührt aus der Berichterstattung vor der Einigung über und aus der DDR. Hier hat der deutsche Journalismus ein veritables Problem der Vergangenheitsbewältigung. Es soll und darf nicht vergessen werden, wie drastisch die gegen westliche Korrespondentenarbeit erlassenen Bestimmungen waren. Von einer freien Berichterstattung, wie sie im Briefwechsel vom 8. November 1972 vereinbart war, konnte zu keiner Zeit die Rede sein. Nicht nur, daß "Verleumdungen oder Diffamierungen der Deutschen Demokratischen Republik, ihrer staatlichen Organe, ihrer führenden Persönlichkeiten zu unterlassen" waren. Es mußten Reisen 24 Stunden vorher angemeldet werden- unter genauer Angabe des Reiseziels und des Reisezwecks. Allein mit dieser Bestimmung ließ sich enorm viel blockieren oder an Ort und Stelle inszenieren. Und wer nicht parierte, verlor die Akkreditierung und flog raus. Schließlich gab es immer wieder auch tätliche Behinderungen durch die STASI oder Volkspolizei, Mißhandlungen und Beschädigungen der Ausrüstung. Gleichwohl wird man den westdeutschen Korrespondenten insgesamt zugestehen müssen, daß sie durchaus informative, manchmal erregende Einblicke in die DDR-Wirklichkeit herüberbrachten und wieder in ihr Berichtsgebiet zurückstrahlten. Die andere Seite war, daß ständige Korrespondenten, und seien sie noch so mutig und individualistisch, nicht in Dauerkonfrontation mit dem über ihre Arbeitsmöglichkeiten entscheidenden System stehen können. Sie mußten fortwährend abwägen, ob das jeweilige Berichtsthema es lohnt, die Verfahrensregeln zu verletzen und sich damit künftigen Bewegungsspielraum zu verbauen. Dem Transport ungefilterter Realität kommt diese Gratwanderung sicher nicht zugute. Für das westdeutsche Medienpublikum bedeutete es jedenfalls nicht nur einen Schock, als die ungefilterte Wirklichkeit nach Öffnung der Grenzen dokumentiert wurde: Wie etwa die Wirklichkeit der kaputten Städte, der zugrundegerichteten Umwelt, der elenden Krankenhäuser, der verkommenen Universitäten, der korrupten Nomenklatura. Er führte auch zu der massenhaften Frage: Warum haben wir das nicht schon vorher erfahren? Hatte man nicht im Ohr, daß das DDR-Gesundheitssystem gar leistungsfähiger sei als das bundesdeutsche? Und das Bildungssystem effizienter? Die Luft besser, die Flüsse nicht so verschmutzt? Hier hat die Aufdeckung jeden Skandals hinterher die Glaubwürdigkeit der Medien und des Journalismus berührt. Besonders, wenn es zu politischer, manchmal sogar symbiotischer Koexistenz kam.

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Michael Schmitz, früher Fernsehkorrespondent in Ost-Berlin, der jetzt für das ZDF aus Südosteuropa berichtet und im Jugoslawienkrieg bewiesen hat, daß er ein ausgesprochen tapferer Kollege ist, ihm kommt das Verdienst zu, hier die Diskussion eröffnet zu haben. Mitte Februar 1992 veröffentlichte er unter der Überschrift "Wie die Linke sich verrannte" die "Selbstkritik eines Journalisten" über die Berichterstattung aus der DDR. Schluß und Fazit des sehr lesenswerten Selbstbekenntnisses:

"Die Linke in der SPD und die Linke am Rande der Partei entschuldigte mit den Idealen des Sozialismus allzugern die Praxis sozialistischer Politik - Parteidiktatur und Kommandowirtschaft. Die SED erhielt von linken Westdeutschen mehr Solitklrität als die Opposition in der DDR. Auch deshalb gelten die Bürgerrechtler so wenig im vereinigten Deutschland. Die deutsch-deutsche Vergangenheit betrifft auch uns im Westen. Und wir Linke bleiben mit unseren Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft so lange unglaubwürdig, wie wir nicht einsehen, tklß sie mit keiner Variante sozialistischer Politik zu verwirklichen sind" (Schmitz 1992, S. 52). Und hier liegt ein Hauptelement der Auseinandersetzung um die künftige Gestalt des vereinten Deutschland. Im publizistischen Meinungskampf um die Grundpositionen unserer künftigen Ordnung suchen die von Michael Schmitz angesprochenen Varianten sozialistischer Vorstellungen nach Überleben, ja nach Durchdringung der gesamtdeutschen Ordnung. Daß das real bestehende Alternativmodell zur kapitalistischen Ordnung in Gestalt der DDR verlorenging, macht dieses Drängen in Aderwerk und Blutkreislauf des vereinten Deutschlands nur noch konsequenter, ja entschlossener, leise, aber ohne Pardon. Diese Überlebensfrage steht meines Erachtens hinter der Diskussion um Werte, Wertbewußtsein und Erfahrungsschatz, den es aus der alten DDR in das vereinte Deutschland hinüberzuretten gilt. Die leidenschaftlichen, grimmigen Auseinandersetzungen im Fall Stolpe haben auch - vielleicht vornehmlich - diesen Hintergrund. Fällt Stolpe, fiele eine Identifikationsfigur des wieder einmal gesuchten dritten Wegs, der aus dem verrotteten, kompromittierten Sozialismus früherer DDR-Prägung zwar hinausführt, aber nicht den radikalen Sprung an das andere Ufer des Kapitalismus erzwingt. Diese Rolle macht Stolpe inmitten der Anfechtungen seiner DDR-Vergangenheit stark und ist ihm - wenn ich das richtig beobachte - auch persönliche Mission. In diesem Zusammenhang verdient Stolpes programmatische Auslassung im Festvortrag an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald am 14. November 1989- also sechs Tage nach Öffnung der Mauerneue Aufmerksamkeit und Aktualität, die einige Zitate verdeutlichen:

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"Heute ist der Sozialismus tot. So jedenfalls wird es uns täglich suggeriert, und es ist eine Realität, tklß in der Breite der Bevölkerung der Begriff Sozialismus keine Hoffnungen weckt. Es besteht Kapitalismussympathie, weil man die Schwäche des Sozialismus erlebt und die Nachteile des Kapitalismus nicht kennt. Karl Marx wollte eine Gesellschaft, in der menschenwürdig produziert sowie gerecht verteilt wird und in der freie Menschen in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft leben. Das ist ein Ziel, dtJs dem von Christen heute mit den Grundwerten Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung beschriebenen Auftrag des Evangeliums nahekommt"(Stolpe 1989).

Hier wird sie evident, die Suche nach dem dritten Weg, der neben intellektuellen Positionen auch die Biographie der Deutschen in der DDR aufnimmt und einbringt in das Deutschland nach der Einigung. Aber damit eben auch den von mir beschriebenen ordnungspolitischen Konsens in der Bundesrepublik quo ante nicht nur in Frage stellt, sondern effektiv erschüttert. Dies ist in Deutschland heute eine Machtfrage ersten Ranges und erklärt die Erbitterung der medialen Auseinandersetzung gerade auch um Identifikationsfiguren wie Stolpe. Erlauben Sie an dieser Stelle einen kurzen Saldo:

1. Der politische und publizistische Konsens, der die Bundesrepublik qua ante vor der Einigung auszeichnete, ist über die Einigung aufgebrochen worden. Entsprechend nehmen die publizistischen Streitfragen fundamentalistischen Charakters wieder zu. Die Medien geraten dabei zunehmend auch in das machtpolitische Spannungsfeld um die künftige Gestaltung Deutschlands. 2. Dies umso mehr, als der Auftrag, Orientierungshilfe bei der inneren und äußeren Neupositionierung Deutschlands zu leisten, die gesamtdeutsch dominanten westdeutschen Medien in einer Phase der Entautorisierung und des Kompetenzverlustes trifft. Aber wie verhält es sich mit den ostdeutschen Medien? Welche Wirkungen entfalten sie bei der "Erneuerung und Umgestaltung im vereinigten Deutschland"? Nach einem Befund des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung ist hier bei Tages- und Wochenzeitungen eine Zurückhaltung gegenüber westdeutschen Produkten zu konstatieren, ohne daß freilich in Ostdeutschland eine sich selbst tragende Vielfalt entstanden ist. Damit kommt dem Massenmedium Fernsehen eine besondere Bedeutung zu. Besonders auch deshalb, weil die Ostdeutschen mehr fernsehen als die Westdeutschen. Aber auch hier ist es zu früh für Befunde (Ostdeutsche sehen ... 1992, S. 10). Die neuen Landesrundfunkanstalten vor allem sollen Informationswirkung entfalten im ARD-Gemeinschaftsprogramm, zu dem sie seit dem 1. Januar

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1992 in vollem Umfange journalistischen Zugang haben. Es zeigt sich freilich, daß es noch beträchtliche Zeit dauern wird, bis hier die journalistische Professionalität erreicht ist, um in die gesamtdeutsche Information und auf das gesamtdeutsche Medienklima nachhaltig einwirken zu können. Die ARD zum Beispiel sah in ihren Nachrichtensendungen zum Fall Stolpe nicht selten ausgesprochen schlecht aus. Der zuständige Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) schaffte es nicht immer, die aktuelle Brisanz und Entwicklung in »Tagesschau« und »Tagesthemen« einzuspeisen. Es blieb überwiegend bei dem oberflächlichen Auffangen von Reaktionen, so daß die Zuschauer des Ersten Programms rätseln mußten, was nun eigentlich Stolpe sachlich in neue Bedrängnis brachte. Gleichwohl ist die Entwicklung vorprogrammiert, daß die ostdeutschen Rundfunkanstalten die journalistische Zuständigkeit für ihre Berichtsgebiete immer stärker in Anspruch nehmen und damit die vorrangige, wenn nicht ausschließliche Kompetenz über die eigenen Angelegenheiten nicht nur zu berichten, sondern auch zu kommentieren. Dies gilt insbesondere auch für die Schlüsselfrage der Vergangenheitsbewältigung des DDR-Systems. Daß dies aber eine gemeinsame Schlüsselfrage ist, die mit der "Erneuerung und Umgestaltung im vereinigten Deutschland" eng zusammenhängt, liegt auf der Hand. Bundespräsident Richard von Weizsäcker führte anläßlich der Verleihung des Heinrich Heine-Preises im Dezember 1991 aus: "Wollte der Westen versuchen, sich vom Erbe der DDR freizuzeichnen, so würde er sich dem historischen Lastenausgleich entziehen und eine wahrheitsgemäße Einsicht in den Ablauf dieser Geschichte verweigern. Für keine der beiden Seiten steht der Ausweg offen, sich vom Schicksal des anderen als 'Nicht betroffen' zu erklären. Nur dann können wir eins werden, wenn wir uns auch im Verständnis der Vergangenheit vereinigen."

Ehe von einem Verständnis der Vergangenheit gesprochen werden kann, muß aber zunächst deren Aufarbeitung erfolgen. Und dafür stehen in den Medien die Zeichen schlecht. Hier vereinigt sich alter Überdruß an der Vergangenheitsbewältigung Nr. 1 zu neuer Unlust, die Lektion aus 40 Jahren totalitärem DDR-Sozialismus herauszuarbeiten. Wie mir ein konservativer Politiker bei einer Flughafenbegegnung nach unserer »Report«-Berichterstattung spontan sagte: "Sollen wir uns nach 50 Jahren NS-Bewältigung jetzt mit weiteren Jahrzehnten Sozialismusbewältigung plagen?" Nach meiner Überzeugung aber gehört es zum Auftrag der Medien im vereinten Deutschland, diese Vergangenheitsbewältigung zu stimulieren und so zu der Totalitarismuslektion beizutragen, deren ersten Teil wir in der Rückschau auf den Nationalsozialismus zu lernen uns bemühten. Und um diesen zweiten Teil wir uns in Sachen DDR zu kümmern haben, wenn nicht die 40 Jahre mit all deren Opfern ohne Erkenntnis und damit ohne Sinn für das vereinigte

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Deutschland bleiben sollen. Die publizistische Begleitung von Politik in der alten Bundesrepublik war ganz entscheidend von der historischen Erfahrung aus dem Untergang der Weimarer Republik geprägt und der historischen Errnöglichung der NS-Herrschaft. Auf dieser Basis entwickelte sich sozusagen das publizistische Sensorium und Warnsystem für Prozesse, die weg von der Demokratie und der Freiheitlichkeil des Gerneinwesens führen könnten. Dieses Sensorium muß auch jetzt entwickelt werden. Dem freilich stehen Widerstände entgegen, die direkt auf Einengung der journalistischen Berichterstattungsfreiheit zielen. In der Kontroverse um die Verstrickung Stolpes wurde nicht nur etwa »Report« aus München, sondern auch »Der Spiegel(( als "Diffarnierungsorgan" (Frankfurter Rundschau) bekämpft. Sie hatten beide das gleiche getan: Vorhandenes veröffentlicht und kommentiert. Erschreckend genug die maßregelnden Vorhaltungen politischer und gesellschaftlicher Leitfiguren, die insgesamt auf nichts weniger hinauslaufen, als journalistischen Freiheitsraum einzuengen. Erschreckend aber auch die Bereitschaft der Medien zur Selhsteinengung. Sie zeigt sich in zahll~en Artikeln als Reaktion auf die Aufdeckung des Stolpe-Kornplexes, und dies auch noch in der Manier eines neu entdeckten medien-ethischen Bewußtseins. Nach meiner festen Überzeugung aber wird die unausweichliche, sinnvolle publizistische Debatte um die Umgestaltung des vereinigten Deutschland in ihrer Qualität aber davon abhängen, wie umfassend, wie informativ, wie frei die Aufarbeitung der DDR-Lektion für die deutsche Politik gelingt. Dazu muß die Freiheit bestehen, das zu kritisieren, was oder wer dieser Aufarbeitung im Wege steht. Nur so können die Medien in Deutschland die Autorität wiedererlangen, die sie für ihren Beitrag zur Bildung eines freiheitlichen Gemeinwesens brauchen. Nicht mehr und nicht weniger.

Literatur Ostdeulsche sehen mehr fern. Das ZDF hat größeren Marktanteil als die ARD. In; Frankfurter Rundschau, 25. März 1992, S. 10. Schmitz, Michael; Wie die Linke sich verrannte. Die Berichterstattung aus der DDR - Selbstkritik eines Journalisten. In; Die Zeit, 47. Jg., Nr. 8, 21. Feb. 1992, Hamburg, S. 52. Stolpe, Manfred; "Verantwortungsgemeinschaft Christen und Marxisten in der DDR in den Herausforderungen unserer Zeit". Festvortrag an der Emst-Moritz-Amdt-Universitiit Greifswald am 14. November 1989. Wilke, Manfred/Otto, Gundolf; Der Kampf um die Köpfe. Mediengewerkschaft im DGB. München 1986.

Wolfgang Zimmermann SCHICIIT- UND NACIITARBEIT IM SICH VERÄNDERNDEN DEUTSCHLAND I. Einleitung Aus dem umfassenden Komplex der deutschen Vereinigung soll ein Ausschnitt thematisiert werden, der erneut Brisanz haben wird: Schicht- und Nachtarbeit, ein Thema der Sozialpolitik. Vor diesem politisch-sozialen Hintergrund stellen sich die folgenden Grundfragen: - Wie "bewältigten" die beiden ursprünglich entgegengesetzten Sozialordnungen das Problem der durchlaufenden Arbeitsweise in Theorie und Praxis? -Welche praktischen Konsequenzen hat der Umbruch für die Schichtarbeiter in Ost und West? - Welche Bedeutung wird die Schicht- und Nachtarbeit im vereinten Deutschland haben? Schicht- und Nachtarbeit wirft in allen Sozialsystemen Probleme auf. Umfangreich sind die Folgen für die Betroffenen, die aus der durchlaufenden Produktionsweise entstehen können. Die Handhabung der Schicht- und Nachtarbeit, ihre Darstellung und Bewertung werden durch unterschiedliche Ziele und Interessenlagen bestimmt (vgl. Voigt 1986).

II. Handhabung und Darstellung der Schicht- und Nachtarbeit im sich verändernden Deutschland Während die Entscheidung für oder gegen Schicht- und Nachtarbeit in der ehemaligen DDR eine "zutiefst politisch-ideologische Frage" (Belwe 1985, S. 30) war, versuchten die westlichen Sozialpartner, die negativen Auswirkungen des durchlaufenden Arbeitszeitregimes zu mildem. 2.1 Begriffe und Ausmaß der Schicht- und Nachtarbeit Im Osten wie im Westen wurde bzw. wird unter Regel- oder auch Normalarbeitszeit die Arbeit zwischen 6.00 und 17.00 Uhr auf der Grundlage der

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5-Tage-Woche und der 40-Stunden-Woche in der Bundesrepublik bzw. der 43 3/4-Stunden-Woche in der früheren DDR verstanden. In der Bundesrepublik definieren Arbeitsmediziner jene Formen der Arbeitszeitorganisation "bei denen Arbeit entweder zu wechselnder Zeit, ... oder zu konstanter, aber ungewöhnlicher Zeit ... ausgeführt werden muß" (Rutenfranz/Knauth 1982, S. 8) als Schicht- und Nachtarbeit. Eine Legaldefinition zur Schicht- und Nachtarbeit existiert in der Bundesrepublik nicht. In der DDR wurde unter dem Begriff der Mehrschichtarbeit die betriebliche Arbeitszeitregelung zur Erhöhung der zeitlichen Ausnutzung der Grundfonds in bestimmten, aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten, verstanden (vgl. Winkler 1987, S. 326). Die wöchentliche Arbeitszeit für Schichtarbeiter betrug 40 Stunden. Auch die Gesetzeswerke der DDR lassen eine Definition der Mehrschichtarbeit vermissen. Doch im Gegensatz zur westdeutschen Definition ist der ostdeutschen der Anspruch maximaler Produktivität inhärent, da diese die maximale Auslastung der Grundfonds "rund um die Uhr" und die "rollende Woche" beinhaltet (vgl. u.a. Belwe 1989, S. 1264; Voigt 1986, S. 25). Die Datenlage über das Ausmaß der Schicht- und Nachtarbeit in den alten und neuen Bundesländern ist gleichermaßen unbefriedigend. Da in der Bundesrepublik statistische Daten über die Verbreitung der Schicht- und Nachtarbeit kaum erhoben werden, existieren darüber lediglich Berechnungen und Schätzungen. Nach einer amtlichen Erhebung von 1975 verrichteten damals rund 5,5 Millionen Erwerbstätige regelmäßig Schichtarbeit (Statistisches Amt der EG 1975/76); aktuellere amtliche Daten liegen nicht vor (vgl. Statistisches Bundesamt 1991). Die Angaben über das Ausmaß der Schicht- und Nachtarbeit in der ehemaligen DDR sind unterschiedlich: Die amtliche Statistik der ehemaligen DDR weist lediglich den relativen Anteil der Schicht- und Nachtarbeit an den jeweiligen Produktionssektoren aus. In nicht-amtlichen Statistiken schwanken die Angaben über den Anteil der Mehrschichtarbeiter zwischen rund 26 % bis sogar 75 % (vgl. Belwe 1989; Stark 1987; Winkler 1990; Zwingenherger 1989). Da unter dem SED-Regime die DDR-Statistik ein staatlich manipuliertes Instrument war (vgl. DDR-Statistiker arbeiten... 1990, S. 7; Maaz 1990, S. 22; Siebert 1990, S. 7; Staatliche Zentralverwaltung für Statistik 1990), das überwiegend zur Kontrolle des Planes und der Produktion eingesetzt wurde, ist fraglich, ob und welche Zahlen die tatsächliche Entwicklung der DDR widerspiegeln.

2.2 Rechtsangleichung und Eliminierung der sozialistischen Instrumentalfunktion der Schicht- und Nachtarbeit Für die Analyse der Instrumentalfunktion der Schicht- und Nachtarbeit ist wichtig, welche Rolle das Recht dabei spielte und welchen Beitrag es zur

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Durchsetzung politischer Ziele der SED-Führung geleistet hatte. Das Recht und insbesondere das Strafrecht - wurde als spezifisches Instrument des Staates wesentlich zur Unterstützung und Förderung der Umgestaltung der ökonomischen Verhältnisse angesehen. So kam das Arbeitsrecht der DDR zwanghafter Durchsetzung der Mehrschichtarbeit sehr entgegen. Denn das Arbeitsgesetzbuch (AGB) legte in§ 91 Abs. 1 die Schaffung einer Arbeitsordnung fest, nach der die durchlaufende Produktionsweise angeordnet werden durfte. Zu der Anordnung bedurfte es "keines besonderen Einverständnisses des Werktätigen mehr"; er hatte "dies generell mit dem Abschluß des Arbeitsvertrags erklärt" (Meinhard/Pätzold 1962, S. 421). Folglich bestand ein Recht- bis auf die amtlich bestimmten Ausnahmefälle gern. § 70 und § 243 AGB Mehrschichtarbeit zu verweigern, im Prinzip nicht. Mehrschichtarbeit unter sozialistischen Bedingungen, etwa durch Fluktuation, ausweichen zu wollen, war schwer zu realisieren. Ein Arbeitsplatzwechsel aus diesem Grunde wurde "gesellschaftlich abgelehnt" (Stollberg 1978, S. 184 f.), denn es galt, "gegen die Fluktuation anzukämpfen" (vgl. z.B. Schuldt 1990, S. 85). Arbeitskräftebewegungen wurden nur dann als erwünscht gefördert, wenn die Wanderung der Werktätigen den Zielen der Perspektivplaner entsprach. Da die Teilnahme an der Mehrschichtarbeit zudem als Ausdruck des erreichten Standes des "sozialistischen Bewußtseins" (Viertel1970, S. 7) gewertet wurde, war es für den Werktätigen schwer, einen Arbeitsplatz mit Mehrschichtrhythmus abzulehnen (8elwe 1985, S. 39). Ein solches Vergehen konnte als mangelnde Einstellung zur Arbeit, möglicherweise sogar als Arbeitsscheu (§ 249 StGB) angelastet werden. Hingegen besteht in der Bundesrepublik das Arbeitsrecht als Schutzrecht für die Arbeitnehmer. Schicht- und Nachtarbeit gegen den Willen des einzelnen Arbeitnehmers anzuordnen, läßt bundesdeutsches Arbeitsrecht nicht zu. Nach bundesdeutschem Arbeitsrecht ist insbesondere Nachtarbeit eine materielle Arbeitsbedingung. Materielle Arbeitsbedingungen sind individual-rechtlich oder kollektiv-rechtlich auszuhandeln. Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde vereinbart, daß generell die bundesdeutschen Vorschriften, die die Schicht- und Nachtarbeit betreffen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Kraft treten. Dies ergibt sich aus Art. 8 des Einigungsvertrages. Gesetzliche Vorschriften schränken die Schicht- und Nachtarbeit ein. Von Bedeutung sind vor allem die Arbeitszeitordnung (AZO), die Gewerbeordnung (GewO), das Mutterschaftsschutzgesetz (MuSchG), das Jugendarbeitsschutzgesetz (JASchG) und das Ladenschlußgesetz (l.adSchlG). Tarifvertragliche Vereinbarungen sind darüber hinaus zu berücksichtigen. Für die praktische Handhabung der Schicht- und Nachtarbeit sind insbesondere die Vorschriften der AZO und der GewO von Bedeutung. Wichtig ist, daß die §§ 105a-105j GewO (Nachtback- und Ausfahrverbot, Sonn- und Feiertagsarbeit) sowie die auf sie gestützten Verordnungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erst ab

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dem 1. Januar 1993 anzuwenden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt der durch Änderungsgesetz vom 22. Juni 1990 neugefaßte § 168 AGB (Sonntags- und Feiertagsarbeit). Außerdem soll das Verbot der Beschäftigung von Frauen mit der Beförderung von Roh- und Werkstoffen bei Bauten aller Art (§ 16 AZO) auf die DDR vorerst nicht übertragen werden, um den Frauen, die dort in Bauberufen ausgebildet und beschäftigt werden dürfen, eine Weiterarbeit in diesen Berufen zu ermöglichen (vgl. Bursig 1992, S. 28; Deutscher Bundestag 10.09.1990, S. 3). Das Bundesverfassungsgericht hat am 28. Januar 1992 entschieden, daß das Nachtarbeitsverbot für Arbeitnehmerinnen in den alten Bundesländern gemäß § 19 AZO gegen den Gleichheitssatz und das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 und 3 GG verstößt. In seinem Urteil hat das Gericht aber diesen Verfassungsverstoß nicht beseitigt, sondern diesen lediglich festgeste11t und in den Gründen des Urteils den Gesetzgeber aufgefordert, § 19 AZO aufzuheben und eine verfassungsmässige Regelung zu erlassen (vgl. Zmarzlik 1992, S. 680 ff.). Nach Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 7b des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 i.V. mit Art. 1 des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. August 1990 war § 19 AZO über das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen nicht anzuwenden. Das Urteil des Bundesverfassungsgericht über die Unvereinbarkeit des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen in den neuen Bundesländern hat somit keine unmittelbaren Auswirkungen (vgl. Zmarzlik 1992, S. 684). Fazit der arbeitsrechtlichen Angleichung ist, daß das bundesdeutsche Arbeitsrecht keine Bereicherung aus dem sozialistischen Recht erfahren hat, in den neuen Bundesländern jedoch zahlreiche, grundlegend neue rechtliche Vorschriften zu beachten sind, die letztlich mehr Schutzrechte zubilligen. Der überwundene sozialistische Rechtszustand nach alter DDR-Verfassung sah in Artikel 24 das Recht auf Arbeit vor. Dieses Recht auf Arbeit wurde dazu benutzt, die Ausbildung zu reglementieren und den Einsatz der Arbeitskräfte zu lenken. Dazu wurde das Einste11ungsverhalten der volkseigenen Betriebe beeinflußt. Außerdem verband die Verfassung das Recht auf Arbeit mit der Pflicht zur Arbeit. Die Arbeit, insbesondere die Schicht- und Nachtarbeit, war ein Instrument zum Erhalt des SED-Machtmonopol, und hatte folgende drei Funktionen zu erfüllen: 1. Produktionsfunktion (Sicherung und Erweiterung der Produktion); 2. Erziehungsfunktion (Erziehung sozialistischer, d.h. der SED treuergebener Staatsbürger); 3. Kontrollfunktion (Einbindung des "Staatsvolkes" in ein streng kontrolliertes und organisiertes Regime). Von diesen drei Funktionsprinzipien sozialistischer Parteiherrschaft waren die Arbeits- und Freizeitbedingungen geprägt (vgl. Voigt 1986, S. 77).

Zur Manifestierung ihres uneingeschränkten Führungsanspruches bedurfte es organisatorischer und institutioneller Absieherungen durch die Partei. Per-

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sönlich verantwortlich für die Durchführung von SED-Beschlüssen, Gesetzen und Verordnungen waren die sogenannten Kader, die Nomenklatura (vgl. Böhme et al. 1989, S. 467; Voslensky 1980). Zudem war auch die Betrieb>verfassung durch die beherrschende Stellung der staatlich gelenkten Gewerkschaften des FDGB geprägt. Dessen Sorge galt nicht den Mitgliedern,; sondern der maximalen Ausnutzung der Grundfonds (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung 1979, S. 35; Protokoll des 9. FDGB-Kongresses 1977, S. 286). Deswegen sah die FDGB-Führung eine Hauptaufgabe darin, die Werktätigen durch die zielgerichtete politisch-ideologische Beeinflussung für die Mehrschichtarbeit zu gewinnen, wie z.B. durch die Organisation des "sozialistischen Wettbewerbs". Ziel und Inhalt dieser "produktionsfördernden Veranstaltung" (Mampel 1966, S. 146 f.) gipfelten in den sogenannten "lnitiativschichten". Der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) fiel so u.a. die Funktion zu, die Werktätigen im Sinne der SED politisch-ideologisch zu erziehen, an den Planaufgaben zur Sicherung der Produktion mitzuwirken oder, beispielsweise gemeinsam mit dem Betriebsleiter, Betriebskollektivverträge über die Schichtprämien abzuschließen (vgl. u.a. Beschluß des Ministerrates der DDR ... 1975, S. 581; Eckhardt 1981, S. 100 ff.; Ellinger/Scholz 1972, S. 48 ff.; VoigtNoß/Meck 1987, S. 110; Winkler 1987, S. 99). Während nach bundesdeutschem Recht die Einführung, Änderung und Aufhebung der Schicht- und Nachtarbeit in etlichen Punkten erzwingbar mitbestimmungspflichtig ist (vgl. z.B. § 80 Abi. 1; § 111; § 87 Abs. 1 Nr. 2, § 91 BetrVG), übten die Werktätigen ihr Recht auf Mitwirkung nur indirekt aus. Denn dem sozialistischen AGB war eine Mitbestimmung, wie diese im bundesdeutschen Betrieb>verfassungsgesetz garantiert wird, fremd. Auch ein Streikrecht existierte nach der Verfassung von 1968, die nach den Prinzipien der Interessenidentität und des demokratischen Zentralismus strukturiert war, nicht mehr; Arbeitskampf war mit der sozialistischen Staatsideologie unvereinbar. Denn in einer Arbeitsverfassung, die nach den Prinzipien der Interessenidentität und des demokratischen Zentralismus strukturiert ist, ist der Arbeitskampf als periodenspezifisches Produkt nicht vorgesehen. Erst mit dem Wegfall des von der Übergangsregierung Modrow verabschiedeten Gewerkschaftsgesetzes, das die Machtposition des später aufgelösten FDGB konservieren sollte, wurde wieder ein Streikrecht eingeführt. Nicht minder wichtig ist, daß der normative Charakter ursprünglich alle Werktätigen verpflichtete, ihr Verhalten entsprechend den Bestimmungen der Arbeitsordnung einzurichten (vgl. Kaiser 1989, S. 5; Kulitzscher 1986, S. 219). Für deren nicht bzw. nichtgehörige Erfüllung durch die Werktätigen war die juristische Konsequenz die arbeitsrechtliche Verantwortlichkeit. Bei allen Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin, wie beispielsweise Fehlschichten, gab es Disziplinarmaßnahmen oder erzieherische Maßnahmen vor den erstinstanzliehen Konfliktkommissionen (vgl. Gesetz über die gesellschaftlichen Gerichte der DDR: Winkler 1990, S. 315). Das bundesdeutsche Arbeitsrecht kennt eine

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generelle arbeitsvertragliche oder betriebliche Disziplinargewalt über die Arbeitnehmer nicht. Eine "Betriebsjustiz" in der Bundesrepublik ist an enge rechtsstaatliche Voraussetzungen gebunden. Konfliktkommissionen wurden gemäß Anlage III, Ziffer III zum Staatsvertrag aufgehoben. Sozialistisches Recht wurde instrumentalisiert zur Einflußnahme auf die Intensivierungsfaktoren zur Mehrschichtarbeit (vgl. Hantsche/Wolf 1989, S. 11 f.): Denn die sozialistische Gesetzlichkeit erforderte "mehr als ausschließliche Bindung des Richters an das Gesetz" (Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen 1985, S. 1190). Verbindlich hatten die Beschlüsse und Dokumente der SED am Anfang der richterlichen Tätigkeit zu stehen. In diesem Sinne wurde das sozialistische Recht als ein "wichtiger Hebel zur Erfüllung der auf dem VIII. Parteitag gestellten Hauptaufgabe" (Heusinger 1974, S. 191) bezeichnet. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und -anwendung durch alle Gerichte oblag dem Obersten Gericht der DDR. Eine persönliche Unabhängigkeit der DDR-Richter wurde folglich nicht angestrebt. Die Anträge zu Strafe und Strafmaß der Staatsanwaltschaft wurden im Regelfall bei der Entscheidung durch die Richterbank als maßgeblich zu Grunde gelegt. Oft übernahm das Ministerium für Staatssicherheit zum Schutz des Machterhaltes die Initiative und lancierte Verdächtigungen, Verhaftungen und Anklagen (vgl. Fricke 1984). Es ist anzunehmen, daß mit einem alle Lebensbereiche umspannenden Spitzelsystem insbesondere Werktätige überwacht wurden, die als "politisch unsicher" galten. Häufiger Straftatbestand war der Verstoß gegen die Verpflichtung, sich durch hohe Arbeitsdisziplin und gute Arbeitsleistungen zu bewähren. Mit der Strafandrohung des§ 249 StGB hatten die DDR-Behörden ein Mittel zur Hand, den einzelnen ·zu jeder beliebigen Arbeit zu zwingen (vgl. Schroeder 1983, S. 991. Strafen waren in der DDR von drakonischer Härte (Freiburg 1984, S. 105). Mit dem Einigungsvertrag wurden wesentliche Veränderungen in der Arbeits- und Sozialrechtssprechung als Teil der Wandlungen in der Rechtspflege, in der Gerichtsverfassung und im Verfahrensrecht wirksam. Damit trat die grundgesetzliche Rechtsweg- bzw. Rechtsschutzgarantie vor allem der individuel1en, subjektiven Rechte der Arbeitnehmer und anderer Anspruchsberechtigter in der früheren DDR in Kraft (vgl. u.a. Mül1er 1990, S. 798; Richardi 1990, s. 218). 2.3 Entideologisierung der Schicht- und Nachtarbeit Schicht- und Nachtarbeit wurde sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR mit technologischen Erfordernissen, ökonomischen Erwägungen und Zwängen sowie gewünschten Dienstleistungen über 24 Stunden begründet. Als häufigste Ursache von Schichtarbeit - ohne Nachtarbeit - in der Bundesrepublik werden Effizienzprobleme der Unternehmen genannt (Rutenfranz/Knauth 1982,

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S. 13). Im Gegensatz dazu stand für die DDR die politisch-ideologische propagierte Notwendigkeit zum angeblichen Nutzen für die Bevölkerung im Vordergrund (vgl. z .B. Arnold 1982, S. 13; Rosenkranz 1975, S. 8 ff.; Weißbrodt 1977, S. 17; Winkler 1987, S. 326). Die Durchsetzung der Schicht- und Nachtarbeit galt im sozialistischen Deutschland als eine "zutiefst politisch-ideologische Frage" (Lenz 1982, S. 424) oder als "primär ideologisches Problem" (Hecht 1977, S. 303) und war damit in erster Linie eine Leitungsfrage: Im "Kampf um eine hohe Auslastung der Grundfonds" saUten die Werktätigen an die Mehrschichtarbeit "angepaßt" werden (Quaas 1971b, S. 56). Dazu sollte die "soziJJlistische Ideologie immer tiefer in die Köpfe der Werktätigen" eindringen und ihr Denken bestimmen (Ellinger/Scholz 1972, S. 43). Ausgangspunkt für die Arbeit der Ideologen war die These, daß die Ausnutzung des Gesetzes der Ökonomie der Zeit durch die Anwendung der Mehrschichtarbeit das Nationaleinkommen der gesamten Gesellschaft erhöhe und auf diese Weise den Reichtum aller Gesellschaftsmitglieder vergrößerte (vg1. StoBberg 1974, S. 17). Gewissenlos und se1t~tverständlich setzten die Parteiideologen die Anpassung des Menschen an die "technologischen Zwänge" (maximale Auslastung der Grundfonds) voraus. Wohlwissend, daß Marx und Engels gegen Schicht- und Nachtarbeit waren - wenn auch unter kapitalistischen Bedingungen (Marx 1972, S. 272)- scheuten sie sich nicht. selbst diese Klassiker heranzuziehen. Gleichwohl war es das Ziel von Marx und Engels, das Individuum von Zwängen zu befreien. Bei der ideologischen Durchsetzung der Mehrschichtarbeit führte die SED agitatorisch und propagandistisch ins Feld, daß der Charakter der Arbeit im Sozialismus ein ganz anderer als im Kapitalismus sei. Hieraus folge, daß die Mehrschichtarbeit im Sozialismus eine erstrebenswerte Notwendigkeit sei, im Kapitalismus dagegen eine verabscheuungswürdige Methode der Ausnutzung der Menschen darstelle (vgl. Voigt 1986, S. 131). Wie ein roter Faden durchzog das Bemühen um die Intensivierung der gesel1schaftlichen Produktion zur Durchsetzung der Steigerung der Arbeitsproduktivität (Winkler 1987, S. 213) über Jahrzehnte die Politik der SED. Mehrschichtarbeit wurde nicht als "zeitlich begrenzte Methode" (Rademacher 1970, S. 195 f.) angesehen, sondern sollte vielmehr zur "Angelegenheit jedes Werktätigen werden" (ebd.). Besonders nachhaltig forderte die SED darum die "eingestandenermaßen ungesunde Schichtarbeit genau derjenigen Menschen, die keine allgemeine und Leitungsarbeit zu verrichten" hatten (Bahro 1977, S. 196). Die Wirklichkeit stand damit konträr zu der von den ideologischen Initiatoren versicherten Zielsetzung, daß "im Mittelpunkt der Politik der Partei ... das Wohl der arbeitenden Menschen ... " stehen sollte (Hager 1971, S. 21). Ob aber die ideologische Überzeugungsarbeit für die "richtige" sozialistische Einstellung zur Mehrschichtarbeit den gewünschten Tiefenerfolg gehabt hat, sei dahingesteHt

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2.4 Ursprüngliche Divergenzen bei der Problembewältigung der Schicht- und Nachtarbeit Ideologische Inhalte, die kommunikativ zu vermitteln waren, setzte die Partei aufgrund ihres Ausschließlichkeitsanspruches fest. Kritische Schriften gegenüber der Schicht- und Nachtarbeit in der DDR-Literatur wurden unterdrückt. Weil die ideologische Ausrichtung in diesem Herrschaftssystem ebenso wichtig war, wie die Sicherung der Macht im Inneren, gehörte auch die Wissenschaft in den unmittelbaren Zuständigkeitsbereich der Partei. Dementsprechend mußte die Theorie bzw. Ideologie immer als richtig bewiesen werden - dementsprechend waren die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinnes stark eingeschränkt. Falls man dennoch bei der Suche nach kritischen Stimmen über die Schicht- und Nachtarbeit in der DDR fündig wird, so ist augenfallig, daß es sich um nahezu die gleichen Ergebnisse handelt, wie sie in der Bundesrepublik und anderen westlichen Staaten schon Jahre zuvor veröffentlicht worden sind. Die darin enthaltenen empirisch gesicherten Erkenntnisse wurden von der SED zurückgehalten, meist einseitig ausgewählt und systemkonform interpretiert (vgl. Voigt 1986). 2.5 Die ökonomischen Aspekte der Schicht- und Nachtarbeit im sich verändernden Deutschland Ziel sozialistischer Produktion war die immer bessere "Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Volkes" (Handbuch der DDR 1984, S. 302). Dieses Ziel sollte "auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der Produktion, Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität", basierend auf dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus, durch die ökonomische Strategie realisiert werden (vgl. Kinze/Knop/Seifert 1989, S. 100 ff.; Politische Ökonomie 1989, S. 424 f.; Studien und Seminarhinweise 1989, S. 50). Mit der Erfüllung der von der SED postulierten "Hauptaufgabe" saUte die "Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft umfassend bewiesen" (Protoko11 des V. Parteitages der SED 1959, S. 1357) werden. Strategischer Schwerpunkt war dazu, die Arbeitsproduktivität erheblich zu steigern und mit den Grundfonds effektiver zu arbeiten, um die intensiv erweiterte Reproduktion konsequent zu verwirklichen. Die Intensivierung der Produktion sollte entscheidende Grundlage des Leistungsanstiegs sein, um das nötige Wirtschaftswachstum dauerhaft zu gewährleisten. Erfolg sollte dieser Konzeption allerdings nur dann beschieden sein, "wenn die politische Macht fest in den Händen der von der marxistisch-leninistischen Partei geführten Arbeiterklasse" war (Studien und Seminarhinweise 1989, S. 53).

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Das Ziel, den wissenschaftlich-technischen Höchststand zu bestimmen, und den Weg, dieses Ziel zu erreichen, hatten in der DDR noch bis zu deren Ende Gültigkeit. Die immer teurer werdenden "Grundfonds" verlangten die dreischichtige Auslastung als eine "zwingende Notwendigkeit", wie die Staatspartei es noch bis zu ihrem Untergang ausdrückte (vgl. z.B. Mittag 1969, S. 46 f.; Mittag 1983, S. 105; Opel 1976, S. 22; Protokoll des IX. Parteitages der SED 1971). Propagandistisch und agitatorisch sollten dazu der sozialistischen Gesellschaft- unter Bezug auf das "Gesetz der Ökonomie der Zeit"- bessere Perspektiven suggeriert werden. Durch die Arbeit, insbesondere die Schichtund Nachtarbeit, sei ein Maximum der Befriedigung der Bedürfnisse zu erreichen. In Wirklichkeit offenbarte das System gerade an diesem Punkt seine wahren Schwächen, denn der deutsche Realsozialismus war nach wie vor außerstande, die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Das Konzept des Wohlfahrtssozialismus geriet in den achtziger Jahren zunehmend in die Krise. Nicht mehr die Verbesserung der Lebensbedingungen, sondern die Steigerung des Exports und der Exportquote wurden in Wirklichkeit zum wirtschaftspolitischen Hauptziel. Gleichzeitig verpaßte die Kommandowirtschaft den Anschluß an den rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritt des Westens. Immer sichtbarer offenbarte das stark zentralisierte Planungssystem auch hier seine größten Mängel: fehlender Wettbewerb, fehlende Nachfrageorientierung, ungenügende Motivation, eklatante Innovationsträgheit, hohe Subventionen und ein verzerrtes Preissystem. Mit dem Übergang in die Marktwirtschaft unterliegen die volkseigenen Betriebe (VEB), in denen sich hauptsächlich industrielle Schicht- und Nachtarbeit vollzieht, den Zwängen des Marktes. Sie müssen sich an ständige Veränderungen des Angebotes und der Nachfrage anpassen, wenn sie lebensfähig bleiben wollen. Von den rund 8.000 VEB, die ab dem 1. Juli 1990 nach dem Treuhandgesetz (TreuhandG) in privatwirtschaftliche und damit privatrechtliche Organisationsformen überführt werden sollen (§ 2 Abs. 6 TreuhandG), waren rund 90 % nicht auf die Anforderungen einer Marktwirtschaft eingestellt bzw. nicht konkurrenzfähig (vgl. "Nach der Währungsunion ... " 1990, S. 29). Denn viele Betriebe produzierten die falschen Produkte für die falschen Märkte zu Kosten, die nicht marktgerecht waren. Von den zwangsläufig folgenden insolvenzbedingten Arbeitsplatzverlusten besonders hart betroffen wurden neben der Landwirtschaft hauptsächlich die schichtintensiven Betriebe des Bergbaus, der Chemie, des Maschinenbaus sowie der Textil- und Nahrungsmittelindustrie (ebd.). Überraschen kann eine solche Situation freilich nicht: Der sozialistische Staat hatte 40 Jahre alles, was erwirtschaftet wurde, abgeschöpft. Nicht Kostenrechnung und moderne Managementmethoden, sondern die Erfüllung zentraler Planvorgaben wurde von den VEB und Kombinaten in der sozialistischen Ära exerziert. Dazu ist anzumerken, daß Angehörige des SED-Regimes zudem nach wie vor Schlüsselstellungen in Wirtschaft, Verwaltung und Bildung innehaben (vgl. u.a. Krause 1990, S. 17). Nahtlos und wendig haben die alten Kader den Übergang vom sozialisti7•

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sehen zum marktwirtschaftliehen System vollzogen, sich der neuen Ideenlehre geschickt bedienend. Sie bestimmen, aufgrunddes erweiterten Entscheidungsspielraums, über das Geschick von Unternehmen und Mitarbeitern stärker als zuvor. Auch die Arbeits- bzw. Schichtkollektive blieben von der Wende nicht unberührt. Im Arbeitskollektiv sah die SED den "Grundbaustein der sozialistischen Gesellschaft" (Gerth et al. 1979, S. 68). Die planmäßige Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten (Autorenkollektiv 1979, S. 90) sollte vor allem hier geschehen (vgl. u.a. Autorenkollektiv 1979; Gerth et al. 1979; Gerth/Ronneberg 1981; Hager 1971; Neuner 1975), denn die "sozialen Beziehungen und Verhaltensnormen im Arbeitskollektiv waren ein wesentliches Element sozialistischer Lebensweise" (Kahl/Wilsdorf/Wolf 1984, S. 59). Da sich diese scheinbar heile Kollektivwelt zunehmend in Auflösung befindet, befällt viele ehemalige Werktätige Angst. Sie fürchten um ihren Arbeitsplatz, aber auch um die fragwürdige soziale Geborgenheit im Arbeitskollektiv. Inzwischen ist aber belegt, daß in der DDR eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit herrschte. Unter marktwirtschaftliehen Bedingungen hätte die Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR 15-30 % der Erwerbstätigen je nach Definitionsbreite betragen (Gürtler/Ruppert/Vogler-Ludwig 1990). Für den Fall der Arbeitslosigkeit hatte der sozialistische Einheitsstaat nirgends Vorsorge getroffen. Im ideologischen Gedankengebäude des real existierenden Sozialismus war das Recht auf Arbeit gewährleistet, die Planung konnte nicht versagen oder das geplante Wachsturn ausbleiben. An der wirtschaftlichen Misere der DDR änderten auch nichts die ständigen Wettbewerbe und Appelle zu mehr und besserer Arbeit, verbunden mit materiellen und ideellen Stimuli, z.B. Schichtprärnien, die die Werktätigen zu noch höheren Leistungen anspornen sollten (vgl. u.a. Autorenkollektiv 1979, S. 520 ff.). Die Leistungskraft der VEB in der ehemaligen DDR wurde nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion deutlich: Die Masse der Betriebe hat eine veraltete und größtenteils völlig heruntergewirtschaftete Produktionsausrüstung. Nach neueren Analysen ist ein Drittel bis zwei Fünftel des Sachverrnögens stillzulegen, da diese Produktionsanlagen entweder nicht den westdeutschen Umwelt- und Sicherheitsstandards entsprechen oder keine rentable Produktion mehr ermöglichen. 55% der Ausrüstung (ohne Gebäude) in der Industrie sind älter als zehn Jahre, 21,1 % älter als zwanzig Jahre. Der Kapitalstock ist demnach im technischen Sinne obsolet (vgl. z.B. Müller 1990, S. B55; Nölling 1990, S. B22). Ein entsprechender Blick in die Wirtschaftsstatistik bestätigt dies drastisch: Die zunehmende Überalterung dieses Kapitalstocks in den ehemaligen DDR-Unternehmen wird vor allem an der Verdoppelung des Anteils vollständig abgeschriebener, aber noch mit großem Instandhaltungsaufwand arn Leben erhaltener Produktionsanlagen sichtbar. Je größer die Reparaturanfälligkeit der Betriebsanlagen wird, je häufiger Produktionsstörungen auftreten, desto größer werden Produktionsausfälle. Die Folgen dieser

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Wirkungskette waren geringe Arbeitsproduktivität, mangelnde Rentabilität der Produktion und schlechte Versorgung des Gemeinwesens mit Gütern (vgl. Gutmann 1988, S. 759). Es widerspricht also ökonomischer Vernunft, Schichtarbeit mit technisch abgenutzten und überalterten Maschinen betreiben zu wollen. Denn Schichtarbeit soll eine Senkung der fixen Stückkosten bewirken; sie wird dort attraktiv, wo eine spürbare Verschiebung der Kostenrelation - in erster Linie durch die Investitionen in teure, aber gleichzeitig hochproduktive Anlagen- stattfindet (vgl. Reiners 1981, S. 65 ff.). Darüber hinaus wirkt die intensive Kapitalnutzung und die rentable Abschreibung des Schichtbetriebs durch die raschere Amortisation der getätigten Investitionen positiv auf die Liquidität des Unternehmens. Diese Liquiditätsverbesserung ermöglicht wiederum den Betrieben, beständig Modemisierungsinvestionen durchzuführen. Und da neue Maschinen und Anlagen in der Regel rationeller und kostengünstiger produzieren, hat die Schichtarbeit damit einen weiteren, indirekten positiven Einfluß auf die Kostenstruktur der Unternehmen. Vorerst bleibt also festzuhalten, daß sich der Übergang zur Schiebtarbeit aus betriebswirtschaftlicher Sicht um so mehr lohnt, je kapitalintensiver ein Arbeitsplatz ausgestattet ist (Senkung des Fixkostenblocks bei höherer Ausbringungsmenge). Schichtbetrieb senkt die Kapitalkosten (z.B. geringere Lagerkosten bei höherer Ausbringungsmenge), ebenso die Fremdleistungskosten (z.B. Grundsteuer, Mieten, Pachten etc), erhöht aber auch die Kosten für Verschleiß und den Nutzungsgrad der Betriebsmittel beachtlich. Außerdem mindert insbesondere die Nachtarbeit die Quantität und Qualität des Arbeitsergebnisses. Schichtarbeit verringert die Leerkosten (Stillstandszeit) und erhöht die betriebswirtschaftlich immer günstigeren Nutzkosten. Insbesondere die täglichen Stillstandszeiten betrugen in der ehemaligen DDR wegen fehlenden Materials und defekter Produktionsanlagen für 53 % der Beschäftigten täglich bis zu drei Stunden nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1990 (Arbeitsgemeinschaft Markt und Sozialanalyse 1990). Nach Schätzungen lag die Arbeitsproduktivität der DDR mit rund 50 % hinter der entsprechenden Produktivitätsentwicklung in der Bundesrepublik, obwohl die Einheitssozialisten den Zwang zur ständigen Produktivitätssteigerung wie ein Naturgesetz respektierten und propagierten. Das entscheidende Rentabilitätsprinzip wurde in der ehemaligen DDR negiert (vgl. Obst 1973, S. 63 ff.). Der sozialistische Osten war ideologie-und produktionsbezogen gesteuert (ebd.). Neben den betriebswirtschaftliehen Aspekten der Schicht- und Nachtarbeit sind schließlich die volkswirtschaftlichen Effekte der durchlaufenden Arbeitsweise vor allem im Hinblick auf das sich verändernde Deutschland zu diskutieren. Grundsätzlich kann dazu festgestellt werden, daß die Beurteilung volkswirtschaftlicher Wirkungen von Arbeitszeitorganisationsformen noch weitestgehend auf Annahmen beruht (vgl. Reiners 1981, S. 134). Schicht- und Nachtarbeit übt nach Auffassung verschiedener Ökonomen und auch des Deutschen

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Gewerkschaftsbundes (1988, S. 3) keine Wachstumsimpulse auf die Wirtschaft aus, sondern ist nur Folge von vermehrter Wirtschaftstätigkeit (Reiners 1981, S. 131). Ähnlich sind auch die Ergebnisse der Analyse eventueller Zusammenhänge zwischen Schicht- und Nachtarbeit und Beschäftigungslage. Durch die Einführung von Mehrschichtsystemen können zwar unmittelbar neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Voraussetzung für die Erlangung von Beschäftigungseffekten ist indessen, daß der mit der Schicht- und Nachtarbeit verbundene erhöhte Produktionsausstoß auch abgesetzt werden kann (vgl. Reiners 1981, S. 134). Da die westdeutschen Unternehmen zwar den Markt der DDR suchen, aber nicht den Produktionsstandort, können von der Schicht- und Nachtarbeit in den neuen Bundesländern vorerst nicht die gewünschten Wachstumsimpulse ausgehen. Anders stellt sich das Problem bei der Betrachtung der Beschäftigungslage, sofern Investoren bereit sind, ständig Modernisierungsinvestionen durchzuführen oder neue Betriebe zu errichten. Negative volkswirtschaftliche Aspekte werden der Schicht- und Nachtarbeit in Form von externen, gesellschaftlichen Kosten, die sie verursacht ("Sozialkosten"), zugeschrieben (vgl. Voigt 1986, S. 26). Dazu zählen infrastrukturelle Faktoren, wie Verkehr, Wohnung, öffentliche und private Dienstleistungen. Ausgebaut werden müssen auch die Freizeit-, Kultur- und Unterhaltungsangebote, damit sie von den Schichtdienstleistenden genutzt werden können. Hier herrscht Nachholbedarf in der ehemaligen DDR. Zusammenfassend ist festzustellen, daß mit Schicht- und Nachtarbeit einerseits betriebswirtschaftliche Vorteile für das einzelne Unternehmen erwirtschaftet werden können, daß sie andererseits aber immer gesamtwirtschaftliche "soziale" Kosten verursacht, die ihre ökonomische Effizienz relativieren. Ökonomische und/oder technologische Zwänge allein konnten aus marktwirtschaftlicher Sicht nicht den hohen Schichtarbeiteranteil in der ehemaligen DDR rechtfertigen. Für die einstigen VEB und noch nicht privatisierten Unternehmen bedeutet dies, daß eine grundlegende Umstellung auf das erwerbswirtschaftliche Prinzip unter Einbezug der Autonomie unternehmerischer Entscheidungen und unter Beachtung der nunmehr geltenden gesetzlichen Regelungen erfolgen muß. 2.6 Gesundheitliche Risiken der Schicht- und Nachtarbeit Sowohl die Dauer als auch die Lage sowie die Verteilung der Arbeitszeit sind wichtige Determinanten für die Gesundheit der arbeitenden Menschen (vgl. Seiffert 1989, S. 674). Gesundheit wird als ein Zustand des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheiten und Gebrechen (WHO 1963) definiert. Eine solche weite Definition ist besonders zur Erfassung der Belastungen der Mehrschichtarbeit geeignet, da nicht nur die starre Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit aufgehoben,

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sondern auch das enge Zusammenwirken biologischer, ~ychischer und sozialer Komponenten berücksichtigt wird. Aufgrund westlicher Befunde resultieren die Belastungen durch Schicht- und Nachtarbeit daraus, daß Arbeit und Schlaf zu Zeiten stattfinden, die dem circadianeo Rhythmus entgegenlaufen. Das wiederum führt zu erhöhter Beanspruchung und zu Störungen der circadianeo Periodik wichtiger Körperfunktionen (z.B. der Arbeitsleistung, der Gesundheit, des Wohlbefindens sowie des familiären sozialen Lebens). Anzumerken ist weiter, daß das Ausmaß der Beanspruchung durch Schicht- und Nachtarbeit von intervenierenden Variablen beeinflußt wird: Die Persönlichkeit des Schichtarbeiters, die Bereitschaft seiner Familie, den Schichtarbeitsrhythmus zu akzeptieren, sind tragende Faktoren bei der "Bewältigung" dieser unnatürlichen Arbeitszeitorganisation (vgl. z.B. Rutenfranz/Knauth 1976; Voigt 1986). Trotz vielfältiger Probleme bei Erhebungen über die gesundheitlichen Auswirkungen der Schicht- und Nachtarbeit (z.B Selektionseffekte) gibt es Befunde über Befindlichkeitsstörungen, wie z.B. Schlaflosigkeit, vegetative Störungen, Störungen und Erkrankungen im Zusammenhang mit Nahrungsaufnahme, Störungen im Magen- und Darmbereich sowie die Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit (vgl. u.a. Angersbach 1980; Griefahn 1985, Knauth 1983; Moog 1988; Rutenfranz et al. 1975: Rutenfranz/Knauth 1976; Stöckmann!fienes 1974; Rutenfranz/Knauth 1982). In der Bundesrepublik besteht zwischen Wissenschaft und Praxis eine verbreitete Übereinstimmung darüber, daß regelmäßige Nachtarbeit bzw. damit verbundene Schichtarbeit ein gesundheitliches Risiko und ein soziales Problem darstellen. Untersuchungen zur Schicht- und Nachtarbeit konzentrieren sich zwar auf jene Beanspruchungen, bei denen die Phasenverschiebung der Arbeitszeit als dominante Ursache aus der Gesamtheit aller einwirkenden Belastungen herausgefiltert wird, aber es kann auch belegt werden, daß Schicht- und Nachtarbeit in der Regel mit kombinierten Belastungen (Mehrfachbelastungen durch Lärm, Temperaturschwankungen, Hitze, unangenehme Gerüche, giftige und gefährliche Stoffe) verbunden ist (vgl. z.B. Streich 1986, S. 74; Wolf 1985). Neben diesen Untersuchungsergebnissen verdeutlichen aber auch Krankenstand und Frührentnerstand, daß der Schichtdienst gesundheitliche Mehrbelastungen mit sich bringt (vgl. Mertens 1988, S. 96; Sehröder 1980, S. 2). Obwohl die physischen Belastungen durch Schicht- und Nachtarbeit in West und Ost gleich sind, so sind doch die Bewertungen dieser- vor allem in Publikationen- im Westen anders als im Osten: In bundesdeutschen Forschungsergebnissen steht das gesundheitliche Risiko, insbesondere das bei Nachtarbeit, außer Frage. Im Gegensatz dazu ist in sozialistischen Publikationen die Behauptung auffällig, daß "wenig objektive medizinische Beweise für gesundheilliehe Risiken der Schicht- und Nachtarbeit" vorliegen (Quaas 197lb, S. 56). Es wurde im ehemals real existierenden Sozialismus offiziell die Auffassung vertreten, daß die Anpassung der Werktätigen an die Schicht- und

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Nachtarbeit im Mittelpunkt zu stehen habe, was hauptsächlich eine Frage der Organisation und politisch-ideologischen Überzeugungsarbeit sei (Quaas 1971a; Quaas/Naumann 1968). Bedenklich stimmt es auch, wenn man berücksichtigt, daß Jugendliche zur Schicht- und Nachtarbeit herangezogen wurden. Dabei übergingen die VEB sehr oft den Betriemarzt, weil betriebliche Interessen vorrangiger waren. Für die sozialistischen Ideologen reduzierte sich so die Durchsetzung der Mehrschichtarbeit als Normalzustand letztlich auf ein Gewöhnungstraining (vgl. Voigt 1986, S. 178). Nach offiziöser sozialistischer Version wurden nur die zum Schichtdienst ungeeigneten Arbeiter krank (vgl. Klotzbücher 1967, S. 217). Im Gegensatz dazu wird im Westenaufgrund arbeitsmedizinischer Erkenntnisse eine Minimierung der Belastungen durch Schicht- und Nachtarbeit angestrebt (vgl. z.B. Baillod 1986; Bergmann/Bolm/Seitz 1982; Kreikebaum/Herbert 1988; Vetter 1974). Doch da man auch im Sozialismus erkannt hatte, daß "der Gesundheitszustand eine wichtige Grundlage für den planmäßigen Ablauf des Reproduktionsprozesses" (Schuldt 1990, S. 97) ist, wurden arbeitsmedizinische Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssituation der Schichtarbeiter im Rahmen des Gesundheitswesens entwickelt: Eignungsuntersuchungen, laufende Gesundheitsüberwachungen, ausreichende Arbeitsplatzbeleuchtung und arbeitswissenschaftlich fundierte Schichtplangestaltung sollte die Arbeitskraft der Schichtarbeiter sichern.

In der Vergangenheit hatte der SED-Staat die gesundheitlichen Interessen der Werktätigen und ihrer Umwelt denen des Betriebes untergeordnet. Die Folgen einer solchen nahezu schonungslosen Beanspruchung der Arbeitskraft, zusammen mit Umweltschäden und Ernährungsproblemen, treten in einer um durchschnittlich drei Jahre geringeren Lebenserwartung als in den alten Bundesländern offen zutage (vgl. Stein 1990, S. N1; Institut für medizinische Statistik und Datenverarbeitung 1990, S. 436). Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß auch das beste Schichtsystem nicht immer mit dem biologischen Rhythmus des Menschen in Einklang stehen kann. Das besondere Augenmerk ist aus arbeitsmedizinischer Sicht auf die Nachtschicht zu richten, da hier die Ursachen für wesentliche Störungen der biologischen Funktionen liegen. Die Schädlichkeit der Nachtarbeit läßt sich durch organisatorische Veränderungen nicht wesentlich verringern. Verschiedene Arbeitsmediziner suchten erfolglos eine Anpassung der biologischen Rhythmen an die nächtlichen Arbeitszeiten, wieder andere sahen es als eine wichtige Aufgabe an, die materiellen, zeitlichen und sozialen Bedingungen so zu gestalten, daß ein mögliches Gesundheitsrisiko minimiert und die Leistungsfahigkeit jedes einzelnen Werktätigen erhöht wurde. Mit der deutschen Einheit sind auch verschiedene Regelungen und Maßnahmen zur Herstellung gleicher Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen in Deutschland in Kraft getreten. Der Umweltschutz ist integraler Bestandteil bei der Gestaltung der in-

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neren Einheit. Die Einführung bundesdeutscher Arbeitsschutzgesetze in den neuen Bundesländern wird für viele Arbeitnehmer zu einer Verbesserung ihrer Arbeitsplätze führen; die ihr gesundheitliches Risiko verringern werden. 2.7 Soziale Probleme der Schicht- und Nachtarbeit Schicht- und Nachtarbeit führt für die Betroffenen zu einer Beeinträchtigung und Störung ihres Familienlebens, da Ausmaß und Intensität der innerfamiliären Kommunikation durch die durchlaufende Arbeitszeit eingeschränkt sind. Davon ausgehend, daß bei Mehrschichtarbeitern die Kernfamilie zu dem Ort der Reproduktion der Arbeitskraft wird, erfahren diese Familienmitglieder eine überdurchschnittliche psycho-soziale Belastung. Hinzu kommt, daß Schichtarbeiter nur bedingt ihrer Erziehungsaufgabe bei ihren Kindem nachkommen können. Daß darüber hinaus eine eingeschränkte elterliche Betreuung negativ auf die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder und Jugendlichen wirkt, zeigen Untersuchungen, die ein Zurückbleiben von Schichtarbeiterkindem im Hinblick auf Schulleistungen und -verhalten, verglichen mit Kindern von Arbeitern mit gleichem Ausbildungsstand, die nicht im Schichtdienst eingesetzt sind, feststellen (vgl. Helwig 1984, S. 27 ff.; Jugel/Spangenberg 1975; Rösler 1967). Daß eine allzu frühe Trennung des Kindes von der Mutter die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen konnte, härten die Parteiideologen nicht gern, denn 4/5 aller Kinder zwischen 2 Monaten und 6 Jahren wurden tagsüber in den staatlichen Krippen und Kindergärten versorgt (Stein 1990, S. 9). Die Folgen dieser "Verkrippung der DDR" (ebd.) und die dahinter verborgenen pädagogischen Inhalte dieser Verwahrhorte bemerken die Psychotherapeuten schon heute, und zwar in Form verbreiteter seelischer Störungen und Depressionen. Die inhumane Politik der DDR wurde in kaum einem anderen Bereich so sichtbar wie bei der Behandlung der Frage "Jugend und Schichtarbeit". Die Notwendigkeit, die durchgehende Schichtarbeit bereits bei Jugendlichen einzuüben, damit von diesen der Schicht- und Nachtdienst als "Normalzustand" empfunden wurde, bedeutete fl.ir die Parteiführer und Berufspädagogen der DDR ein zur Planerfüllung und Machtsicherung "unverzichtbares Erfordernis" (vgl. Perleberg/Seidel 1977: Piksa/Sasse 1977: Tietze/Hoffmann 1985; Wittich 1983) der Ausbildung. Daß die Schicht- und Nachtarbeit der Persönlichkeitsentwicklungjunger Menschen erheblich schadet (Schweres 1978, S. 45), wurde von den Parteiideologen ignoriert: Sozialistische Autoren kamen zu der Aussage, daß junge Menschen am besten in der Lage seien, sich dem veränderten Lebensrhythmus anzupassen (Kaden/Pöse 1977, S. 329; Perleberg/Seidel 1977, S. 328 ff.; Piksa/Sasse 1977, S. 265 ff.). Jugendliche waren nach sozialistischer Version besonders für Schicht- und Nachtarbeit geeignet.

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Für Schichtarbeiterinnen, die neben ihrer Erwerbstätigkeit die Haus- und Erziehungsarbeiten leisten, sind die Belastungen der Mehrschichtarbeit schwerer zu kompensieren und forcieren psycho-soziale Konflikte, z.B. Konflikte zwischen Mutter- und Berufsrolle, Rolle der Haus- und Ehefrau (Neuloh 1964, S. 69). Trotzdem wurde besonders bei Frauen im real existierenden Sozialismus mit allen agitatorischen Mitteln für die Schicht- und Nachtarbeit geworben, wobei die Hauptzielgruppe Frauen mit geringerer familiärer Belastung ohne Kinder bildeten (Führich/Johne 1971, S. 37). Mehrschichtarbeiter können nur selten gesellschaftliche Funktionen wahrnehmen, da die Ausübung gesellschaftlicher Aktivitäten auf bestimmte Tageszeiten festgelegt sind, die sich mit dem Schichtrhythmus nicht vereinbaren Jassen oder sich, die betroffenen Mehrschichtarbeiter einfach zu erschöpft fühlen. Weil Mehrschichtarbeiter ein höheres passives Erholungsbedürfnis haben, sind ihre "Freizeitaktivitäten" eher kontemplativer Natur. Dieses wiederum fördert eine soziale Isolation, - d.h. einen gewissen Ausschluß von gesellschaftlichen Aktivitäten. Somit erfährt der Schichtarbeiter eine entscheidende Prägung der Persönlichkeitsstruktur durch den "Verlust aller außerbetrieblicher Aktivität, der zu Resignation und Verhaltensunsicherheit in der außerfamiliären Sozialsphäre führt" (Neuloh 1964, S. 67). Den depersonalisierenden und desozialisierenden Wirkungen der Schicht- und Nachtarbeit kann der Mehrschichtarbeiter nur durch den Ausstieg aus der laufenden Arbeitsweise - was in der früheren DDR kaum möglich war - oder die Flucht ins Hobby entgegenwirken (Neuloh 1964, S. 68; Voigt 1986, S. 74). Da es Ziel der Partei war, die Werktätigen insgesamt zu steuern, versuchte die SED auch, das Privatleben der Staatsbürger nachhaltig zu beeinflussen. So sollte das Freizeitverhalten durch die sozialistische Lebensweise vorgegeben werder:., die auf eine planmäßige Verbesserung der Lebensbedingungen zielte. Die Werktätigen wurden in der arbeitsfreien Zeit gemäß den freizeitpädagogischen Zielvorstellungen der Partei zur Weiterbildung angehalten, zu Arbeitseinsätzen verpflichtet und auch bei der Feriengestaltung häufig von den Massenorganisationen betreut (vgl. Böhme et al. 1989, S. 272 f.). Wird noch in Publikationen und Dissertationen etwa um 1970 bis 1975 (vgl. z.B. Hölzler 1976; Jugel 1974; Jugel/Spangenberg 1974) auf die negativen Auswirkungen der Schicht- und Nachtarbeit verwiesen, wie z.B. auf die Partnerschaftsbeziehungen und Kindererziehung, so dominieren in den jüngeren soziologischen offiziellen Publikationen der DDR über die Mehrschichtarbeit die SChönfärberischen Aussagen. Erkannte negative Auswirkungen der Nachtarbeit werden meist durch "kompensierende" Aussagen verharmlost, wie beispielsweise, daß die Schicht- und Nachtarbeit sogar die Führung des Familienhaushaltes positiv beeinflusse, da bei Schichtarbeit beider Ehepartner eine gerechte Arbeitsteilung im Haushalt zwischen Mann und Frau begünstigt werde (vgl. Jugel/Spangenberg 1974; Stallberg 1978, S. 72 f.). Die DDR hielt eine der höchsten Scheidungsquoten der Welt, inwieweit die Dop-

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pelbelastung des Schichtdienstes dabei eine Schlüsselrolle spielt, bedarf weiterer Untersuchungen. Im vereinigten Deutschland werden sich die sozialen Belastungen der Schicht- und Nachtarbeit für die Bürger der neuen Bundesländer insoweit verringern, daß ein (moralischer) Zwang zur durchgehenden Arbeitsweise entfällt. Weiterhin entfällt die mehr oder weniger subtile Beeinflussung zur Schichtarbeit, so daß Frauen und Jugendliche als besondere Zielgruppen für Schichtund Nachtarbeit ihren Beruf weithin "ungelenkt" wählen können. Es entfallt auch die außerordentlich strenge Form der Disziplinierung im Freizeitbereich aufgrundder Schicht- und Nachtarbeit, die die SED-Führung offensichtlich geplant hatte, um ein ihr genehmes Freizeitverhalten zu entwickeln.

Allerdings waren Freizeit und Familie schon immer Lebensbereiche, die sich erfolgreich dem Einfluß der SED entzogen hatten (vgl. Voigt 1986, S. 131). Die Wirklichkeit im ehemals real existierenden Sozialismus zeigt, daß die Werktätigen sich von der ihnen entfremdeten Arbeit in den VEB demotiviert abgewandt hatten und ihre Leistungen und ihre Kreativität dafür ihrer Freizeit - soweit es der Schichtdienst erlaubte -motiviert zur Verfügung stellten (vgl. z.B. Bahro 1977; Mainz 1982; Voigt/Voß/Meck 1987; Voslensky 1980). Für die Nacht- und Schichtarbeiter in den neuen Bundesländern werden die Auswirkungen des sich verändernden Deutschlands stärker spürbar sein als für westdeutsche Arbeitnehmer. Im sich verändernden Deutschland werden die neuen Bundesbürger gefordert, sich innerhalb kürzester Zeit in einer für sie neuen Gesellschaft selbst zurecht zu finden, ohne auf alte Orientierungshilfen wie Verhaltensmuster, Normen und Werte zurückgreifen zu können.

III. Die Bewertung der Schicht- und Nachtarbeit im sich verändernden Deutschland Sozialer Wandel setzt veränderte Wertstrukturen voraus (Voigt 1986, S. 42). Unter diesem Blickwinkel stellt die deutsche Einheit auch die Arbeitswelt vor neue Herausforderungen. Ein Gradmesser in dem laufenden Umgestaltungsprozeß der gesamtdeutschen Arbeitswelt wird die Bewertung von Schicht- und Nachtarbeit sein. In den beiden früheren entgegengesetzten Sozialsystemen war die Handhabung und Bewertung durch unterschiedliche Ziel- und Interessenlagen und damit von unterschiedlichen Problembewältigungen bestimmt. In der Vergangenheit erfolgte im deutschen Realsozialismus eine mit allen Mitteln konsequent vollzogene Anpassung des Menschen an technologische "Zwänge" und "ökonomische Notwendigkeiten". In der Bundesrepublik unter-

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scheidet sich die Handhabung der Schicht- und Nachtarbeit von der in der DDR geübten Praxis damit grundlegend. Denn die Anpassung der Technologie und der Herrschaftsverhältnisse an die Bedürfnisse der Menschen ist nach wie vor vorrangiges Ziel in der Bundesrepublik. Spätestens mit dem Vollzug von Staatsvertrag und Einigungsvertrag wurde die Instrumentalfunktion der Schicht- und Nachtarbeit, die den Arbeits- und Privatbereich der Individuen zu einem Bereich der Unfreiheit gestaltete, eliminiert. Die im demokratischen Westen gewährten, aber im sozialistischen Osten unterdrückten Grundrechte wurden mit den Veränderungen in der Arbeits- und Sozialrechtssprechung in den neuen Bundesländern wirksam. Die Durchsetzung der Mehrschichtarbeit als politisch-ideologische Frage des ehemaligen Realsozialismus hat sich mit dessen Untergang ebenso erübrigt. Schicht- und Nachtarbeit ist ein komplexes und folgenträchtiges Phänomen. Jede Veränderung des Umfanges von Schicht- und Nachtarbeit zieht weitreichende ökonomische und soziale Konsequenzen nach sich. Wie aufgezeigt sind die ökonomischen, technischen und sozialen Gründe für Schicht- und Nachtarbeit in Wirklichkeit eng miteinander verflochten. Im vereinten Deutschland wird auch künftig ein beachtlicher Anteil von Berufstätigen von der durchgängigen Arbeit betroffen sein. Eine Prognose auf der Grundlage des unzuverlässigen 2ahlenmaterials ist nicht möglich. Hinzu kommt, daß eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren eine Zu- oder Abnahme von Schicht- und Nachtarbeit bewirken können. Es bleibt abzuwarten, ob die Schicht- und Nachtarbeit in den östlichen Bundesländern zunächst rückläufig sein wird. Denn die ehemaligen Märkte der ostdeutschen Wirtschaft sind weitgehend zusammengebrochen. In der Industrie ist der Rückgang der Produktion - und damit auch der vorübergehende Rückgang der Schicht- und Nachtarbeit noch nicht beendet. Täglich werden zur Zeit mehr Arbeitsplätze geschlossen als neue eröffnet. Die Produktivität bleibt hinter den derzeitigen Lohnzuwächsen zurück. Ehemalige VEB sind deshalb in aller Regel nicht konkurrenzfcihig. Produktionsbetriebe im deutschen Osten rechnen sich fast nur, wenn sie mit neuesten Technologien an neuen Standorten errichtet werden. Bei der Bewertung der Schichtarbeit dominieren die medizinischen Begründungen. Schicht- und Nachtarbeit wird in der Bundesrepublik auch im Hinblick auf ihre sozialen Auswirkungen eindeutig als negativ beurteilt. Eine Reihe von Wissenschaftlern untersuchte die soziologischen und psychologischen Probleme der Schicht- und Nachtarbeit Ergebnis zahlreicher Analysen ist, daß das durchgängige Arbeitszeitregime bedeutend folgenschwerer die Entwicklung der Persönlichkeit der Betroffenen und deren von Arbeit freie Zeit belastet, "als dies durch Berufstätigkeit zu normaler Tageszeit geschieht" (Voigt 1986, S. 45).

Primär sind die Familienbeziehungen, die Kindererziehung und die sozialen Außenbeziehungen bei Schichtarbeitern gestört. Schichtdienstleistende in Ost

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und West charakterisiert so eine Reduzierung und Verarmung der Freizeit, der sozialen Kontakte und der sozialen Rollen; die Persönlichkeitsentwicklung sowie ihre Fähigkeit, soziale Rollen auszufüllen, sind beeinträchtigt: ihre soziale Perspektive und ihr Verständnis für andere Menschen sind verkürzt; ihr Aktionsraum beschränkt sieb im allgemeinen auf den Beruf und das reduzierte Familienleben (Voigt 1986, S. 46). Schichtarbeiter leben merklich fern von den Normen und Bezugsgruppen des Normalarbeiters. Ihre exogene Sozialisation ist eingeschränkt (Neuloh 1964; Neuloh/Braun/Wemer 1961), und zwar sowohl im ehemaligen "sozialistischen" Osten als auch im "kapitalistischen" Westen. Mit dieser eindeutig negativen Bewertung von Schiebt- und Nachtarbeit in der Bundesrepublik durch verschiedene Wissenschaftsbereiche korrespondiert eine umfangreiche Forschung und Aufklärungsarbeit Verstärkt werden sollte die Forschung zur Schicht- und Nachtarbeit, um erkannte Problemstellungen zu lösen, wie z.B. der mögliche Zusammenbang von Jugendkriminalität und Schicht- und Nachtarbeit. Außerdem müssen im vereinten Deutschland Lücken in der Dokumentation statistischer Daten über die Verbreitung der durchlaufenden Arbeitsweise geschlossen werden.

In den alten Bundesländern hat sich, gestützt auf arbeitsmedizinische und sozialwissenschaftliche Forschung die Meinung durchgesetzt, daß Schicht- und Nachtarbeit bei den betroffenen Arbeitnehmern zu Mehrbelastungen führen, die sich nur geringfügig kompensieren lassen. Das bei andauernder Schiebtarbeit entstehende Zusammenwirken mehrerer Belastungsfaktoren führt bei den direkt oder indirekt Betroffenen zu einem erhöhtem Schadensrisiko. Diese Nachteile sind nicht monetär und kaum durch andere Maßnahmen auszugleichen. Bei der Ausdehnung bzw. Einschränkung der Schicht- und Nachtarbeit ist eine "Güterabwägung" zwischen betriebswirtschaftlicher Rentabilität und menschlicher Gesundheit resp. sozialen Problemen und volkswirtschaftlicher Effizienz und den "Sozialkosten", möglicherweise sogar zwischen Arbeitslosigkeit und Schicht- und Nachtarbeit, vorzunehmen. Die Beziehung zwischen Arbeit auf der einen und Lebensqualität auf der anderen Seite - sie schließt auch die Beteiligung arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdung mit ein - wird immer mehr Menschen stärker bewußt. Die Humanisierung der Arbeitswelt steht im Mittelpunkt vielfältiger Bemühungen. Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Staat, Politik und Arbeitgeber bemühen sich im Westen der Bundesrepublik seit langem um eine diesbezügliche Konsensfindung. Die Mehrschichtarbeiter in den neuen Bundesländern werden an den erarbeiteten Ergebnissen im Zeitablauf teilhaben. Bis allerdings die "Freizeitkultur des Westens" und die "Mentalität des Ostens" endgültig miteinander verschmelzen, wird noch einige Zeit vergeben.

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Walter Heering

OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE DIMENSIONEN DER UNTERNEHMENSRESTRUKTURIERUNG IN OSTDEUTSCHLAND I. Vorbemerkung Mit der friedlichen Revolution vom Herbst 1989, die am 9. November mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze ihren Kulminationspunkt erreichte, ist Ostdeutschland in eine Entwicklung eingetreten, die historisch bis dato nicht nur ohne Beispiel ist, sondern bedingt durch die besondere deutsche Ausgangssituation auch im Vergleich zu den anderen Reformstaaten Mittelund Osteuropas einmalig bleiben wird. Die ostdeutsche Bevölkerung hat mit ihrem politischen Votum für die deutsche Einheit die wohl radikalste Variante der Systemtranformation von einer Zentralplanwirtschaft zur Marktwirtschaft gewählt; indem sie dies tat, setzte sie auf eine von außen finanzierte Wohlfahrtssteigerung (Schmid-Schönbein/Hansel 1991, S. 1). Obwohl der unmittelbare Anstoß für den astdeutschen Umbruch eher politischer Art war (Pollack 1990), sind dessen tiefere Ursachen vor allem wirtschaftlicher Natur. Sie liegen u.a. in massiven Versorgungsverschlechterungen für die Bevölkerung im Zuge der achtziger Jahre, ihrerseits lediglich Ausdruck einer insgesamt sinkenden ökonomischen Potenz und Dynamik des SED-Staates; zum Schluß lebte man vornehmlich von der Substanz (Kuschet al. 1991).1 Gegenwärtig befindet sich der Osten Deutschlands in einer tiefen Restrukturierungskrise, in der sich objektive und subjektive Problemdimensionen wechselseitig lähmen und insbesondere auf Unternehmensebene zu einer Art "Blockadespirale" geführt haben. Einige Facetten dieses Problemgemenges werden im folgenden beleuchtet.

Die ehemalige DDR war der "Systemkonkurrenz" in besonderem Maße ausgesetzt gewesen, weil sich ihre Bevölkerung steiS am Wohlstandsniveau der alten Bundesrepublik orientiert hatte. Indem die SED-Führung die westdeuiSChen Effizienzkriterien weitgehend akzeptierte, getreu dem marxistischen Dogma von der Fesselung der materiellen Produktivkräfte im Kapitalismus und ihrer Befreiung im Sozialismus/Kommunismus, mußte sich die DDRWirtschaft auf einen Wettbewerb einlassen, den sie nicht gewinnen konnte (Riese 1991, S. 129 f.). Als die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer deutlicher wurde und sich nicht mehr verbrämen ließ, mußte das System in die Krise geraten.

Untemehmensrestrukturierung in Ostdeutschland

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II. Ausgangssituation: Euphorie und enttäuschte Etwartungen Dem Sturz Honeckers folgte zunächst eine Phase, in der die Regierenden der DDR auf Druck der Straße mehr und mehr Zugeständnisse machen mußten, im vergeblichen Bemühen, den "Schaden" insgesamt möglichst gering zu halten. Orientierungslosigkeit und Attentismus (insbesondere auf Wirtschafts- und ordnungspolitischem Gebiet) waren gepaart mit der Hoffnung (auch bei oppositionellen Intellektuellen) auf eine eigenständige Entwicklung der DDR ("Dritter Weg"). Das änderte sich jedoch schlagartig, als im März 1990 die Bevölkerung der DDR mit dem politischen Mandat an die Regierung de Maizieres die Erwartung auf eine baldige Vereinigung beider deutscher Staaten verband (Schroeder 1991, S. 2). Nunmehr wurden Richtung und Tempo der Entwicklung weitgehend durch Bann bestimmt; leitende Idee war, durch einen baldigen ökonomischen und politischen Anschluß Ostdeutschlands an das alte Bundesgebiet die Rahmenbedingungen für eine rasche Entfaltung der dynamischen Marktkräfte zu schaffen, die lediglich einer marginalen und kurzfristigen Anschubfinanzierung seitens des Westens bedürfe. Obschon diese Konzeption mehrheitlich dem wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstand in der Bundesrepublik durchaus entsprach, blieben wesentliche Vorbehalte gegenüber der Hast und dem Voluntarismus, mit dem dieser Prozeß seitens der Bundespolitik vorangetrieben wurde; viele Experten hätten einen zeitlich gestreckten Stufenplan der Annäherung und Vereinigung favorisiert (Priewe/Hickel 1991, S. 75 ff.). Für die schnelle Gangart gab es gewichtige Gründe, nicht zuletzt die äußerst günstige politische Großwetterlage; zu beanstanden ist allenfalls die sorglose Naivität und Konzeptionslosigkeit, die mikropolitischen und ökonomischen Sachverhalten entgegengebracht wurden (Felderer 1990). Zwischenzeitlich wurde viel Lehrgeld für die eher triviale Erkenntnis bezahlt, daß eben auch Marktwirtschaft nicht voraussetzungslos funktioniert, sondern eine Vielzahl institutioneller, mentaler und habitueller Vorbedingungen hat (Eger/Weise 1991, S. 76 f.; Krug 1991, S. 102 u. 106; Kubon-Gilke 1992, S. 49). Deren Entwicklung ist in einer Zentralplanwirtschaft schwerlich denkbar (Streit 1990; Starbatty 1991); möglicherweise liegen die Defizienzen sogar noch tiefer (Marz 1991). Wie dem auch sei, jedenfalls muß man den neuen Bundesbürgern im Osten eine gewisse Zeit des Erfahrens und Lernens zubilligen (Friedrich(furner 1991). Noch vor der politischen Vereinigung am 3. Oktober 1990 wurde zum 1. Juli die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vollzogen, die mit der Währungsumstellung im Osten von Mark der DDR auf DM am 2. Juli eröffnet wurde. Politisch gab es zu dem beschrittenen Weg mutmaßlich sowieso keine Alternative,2 aber auch ökonomisch bietet dieser Risiken und Chancen, die 2

Die ökonomisch-soziale Union sollte vornehmlich eine Signalwirkung für die ostdeutsche

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gegenwärtig in ihrem Gewicht noch nicht abschließend beurteilt werden können (ausführlicher Heering!Schroeder 1992, Abschn. I. 1; Hanke] 1991; Priewe(Hickel1991, Kap. III; Sinn/Sinn 1991, Kap. IV; Herr 1992; Lipp 1992). Die Konsequenzen für die ostdeutsche Wirtschaft, insbesondere für deren Industrie, sind bekannt, gleichwohl sollten auch die Vorzüge dieser Schocktherapie nicht unterschätzt werden. Aus prozeßanalytischer Sicht ist zu vermuten, daß gerade die Unumkehrbarkeit des Prozesses selbst eine endogene Beschleunigung erzeugt, die, bei aller Härte, die sozialen und wirtschaftlichen Kosten relativ zu einer langsameren und "behutsameren" Variante eher zu minimieren in der Lage ist; die schleppenden bis regressiven Transformationsprozesse in den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten liefern hierfür hinreichende Belege (Kloten 1989; Sehrnieding 1990). Schwerwiegend ist allerdings, daß die Politik (und nicht nur sie) sowohl Dauer wie auch Schärfe des Anpassungsprozesses in Ostdeutschland offensichtlich gehörig unterschätzt und erst relativ spät und eher zögerlich entsprechende, über konsumptive Hilfsprogramme hinausgehende, flankierende Maßnahmen ergriffen hat. Nicht zuletzt dadurch entstand ein Abwärtsstrudel, in dem ein Großteil der industriellen Struktur Ostdeutschlands auf Dauer verlorenzugehen droht. Nachgerade fatal ist, daß die Menschen im Osten Deutschlands auf den Vereinigungsprozeß selbst bislang kaum Einfluß nehmen kannBevölkerung haben und den um die Jahreswende 1989/9() dramatisch angestiegenen Übersiedlerstrom in den Westen stoppen bzw. zumindest nachhaltig bremsen, der für Ostund Westdeutschland ernste Probleme heraufbeschworen hätte. Gemessen an dieser Zielsetzung kann der Maßnahme eine durchaus beachtliche Wirkung nicht abgesprochen werden: So nahmen die Abwanderungen aus Ostdeutschland vom 1. Halbjahr zum 2. Halbjahr 1990 um fast die Hälfte ab, während sich gleichzeitig die Zuzüge nahezu verdoppelten (StBA 5/92, S. 100). Zu bedenken ist freilich, daß der mit -173 Tsd in 1991 immer noch sehr hohe Ost-West-Wanderungssaldo, der vornehmlich durch den Fortzug jüngerer und qualifizierter Arbeitskräfte aus Ostdeutschland verursacht wird, für den Humanvermögensbestand des Ostens negative Konsequenzen haben muß; für 1992 wird mit einem Saldo von -86 Tsd. gerechnet (Bogai et al. 1992, S. 7). Aus ökonomischer Sicht ist der astdeutsche Pendlerüberschuß von -289 Tsd. im Jahr 1991 positiver zu bewerten, der für 1992 auf -218 Tsd prognostiziert wird. Diese Arbeitskräfte entlasten den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland, während ihre Kaufkraft weitgehend dort veroleibt; und sie sind zukünftig leichter in das astdeutsche Beschäftigun~ystem reintegrieroar. Umfragen unter Belegschaften, die die Arbeitsstelle Politik und Technik an der Freien Universität Berlin im Herost/Winter 1991 in Dresdener Betrieben durchführte (Heering/Schroeder 1992), legen die Vermutung nahe, daß die Wanderungsneigung selbst unter (noch) beschäftigten ostdeutschen Arbeitnehmern nach wie vor ziemlich hoch ist: Für rd. ein Drittel der Befragten scheint dies immerhin eine bedenkenswerte Alternative zu sein; die freilich zur Zeit nur von etwa 1 % auch wirklich wahrgenommen wird. Dabei zeigen Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz für relativ sicher halten, verständlicherweise eine deutlich stärkere Bleibetendenz als solche, die mit ihrer Entlassung rechnen (68% gegenüber 47 %). Erstaunlich ist, daß für diejenigen Arbeitskräfte, die ihre Kündigung zum Zeitpunkt der Befragung bereits vorliegen hatten, eine Arbeitsplatzsuche in den alten Ländern am wenigsten häufig (nämlich nur bei 22 %) in Frage kommt. Die Befragung ist allerdings nur unter Vorbehalten als repräsentativ anzusehen, gleichwohl vermittelt sie interessante Eindrücke (ebda., Abschn. 111 3.3).

Untemehmensrestrukturierung in Ostdeutschland

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ten und können. Auch die vielbeschworene "Aufbruchstimmung" nach dem Fall der Mauer ist hauptsächlich ein westliches Phänomen geblieben, an dem die Ostdeutschen nur sehr bedingt und kurzzeitig teilhatten.3 Nachdem sie ihre Revolution und die grundsätzliche Weichenstellung für einen Beitritt zur Bundesrepublik vollzogen hatten, mußten sie sehr schnell feststellen, daß ihnen das Schicksal aus der Hand genommen wurde. Was nach dem ersten Juli 1990 zählte, war die Verfügung über Vermögen, das man dank einer technisch brillant durchgeführten Währungsunion und der Übertragung fast des gesamten ehemaligen "Volkseigentums" an die Treuhandanstalt nicht besaß. Damit war die Wahrscheinlichkeit, an der nun einsetzenden Verteilung zukünftiger Ertragschancen teilzuhaben, flir die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung auf ein Minimum reduziert (Sinn/Sinn 1991, S. 53 ff., 71 f. u. 113 ff.). Problematisch ist ebenfalls, daß die derzeitige ostdeutsche Befindlichkeit durch die (durch unkluge und kurzsichtige Politikeräußerungen noch geschürte) Erwartungshaltung geprägt ist, binnen kurzer Zeit ein dem Westen vergleichbares Wohlstandsniveau erreichen zu können. Fügt man die Arroganz hinzu, mit der "Wessis" gegenüber "Ossis" allzu häufig auftraten und noch auftreten - nicht ganz zu Unrecht wurde von einer "Kolonialisierung des Ostens durch den Westen" gesprochen (Christ/Neubauer 1991), so ergibt sich ein äußerst explosives emotionales Gemisch, das nicht nur das Gelingen der ökonomischen Umstrukturierung bedroht. Verbitterung, Resignation und das Gefühl, von den Verhältnissen erneut betrogen zu werden, sind denkbar schlechte Voraussetzungen für Leistungsmotivation und eigenverantwortliches Handeln, ohne die der Prozeß der Anpassung und Modernisierung in den neuen Bundesländern nicht gelingen kann.

III. Strukturprobleme: Anforderungen des ökonomischen Restrukturierungsprozesses Die Angleichung der Lebensverhältnisse erfordert neben einem psychologischen und kulturellen Wandel nicht zuletzt auch einen erheblichen materiellen Input; beide Momente bedingen sich zum Teil und lassen sich jedenfalls nicht von heute auf morgen erzeugen. Während aber die notwendige Entwicklungszeit für den "subjektiven Faktor" nur schwer abzuschätzen ist, und insgesamt

3

"Goldgräberstimmung• trifft den Sachverhalt weitaus besser, weil Ostdeutschland rasch zum Anziehungspunkt für mancherlei Glücksritter wurde. Entsprechend wich die erste Euphorie denn auch sehr schnell einer eher nüchternen Reserviertheit, als deutlich wurde, daß die Nuggets doch nicht so groß waren wie erwartet und jedenfalls eine längere Schürfzeit bevorstand

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Waller Heering

eine wesentliche Unbekannte in allen Modellrechnungen bleiben muß, 4 läßt sich der materielle Bedarf und die entsprechende Anpassungsdauer wenigstens überschlägig errechnen (Heering!Schroeder 1992, Abschn. I. 2): Geht man für Ostdeutschland mittel- bis langfristig von ähnlichen Relationen hinsichtlich Erwerbsbeteiligung und Kapitalausrüstung aus, wie sie zu Beginn der neunziger Jahre in Westdeutschland vorlagen, so bestünde bei einer kompletten Neuaufrüstung allein im Unternehmensbereich ein Kapitalbedarf in der Größenordnung von 1,5 Bill. DM, zuzüglich entsprechender Demontagekosten. Der erforderliche Austausch des Sachkapitals wäre in absehbarer Zeit kaum leistbar und ist wohl auch nicht notwendig, denn nennenswerter Strukturwandel vollzieht sich erfahrungsgemäß immer inkremental: Alte Arbeitsplätze werden nicht in toto stillgelegt, sondern in der Mehrzahl sukzessive modernisiert, während völlig neue Arbeitsplätze allmählich hinzukommen (H. Maier 1991).5 Man rechnet damit, daß etwa die Hälfte der rd. 10 Mio. vormals vorhandenen Arbeitsplätze in Ostdeutschland wettbewerbsfähig gemacht werden können (Stadermann 1991, S. 65); ob diese Prognose realistisch ist, wird sich zeigen. Eine einigermaßen solide Einschätzung der dafür notwendigen Modernisierungs- und Sanierungskosten erhält man aus einer Gegenüberstellung von Investitions- und Beschäftigungszusagen, die private Erwerber von Treuhandunternehmen abgegeben haben (THA 14/92, S. 11): Bis Anfang Juni wurden insgesamt 138,5 Mrd. DM für Investitionen und die Sicherung von 1,17 Mio. Arbeitsplätzen zugesagt. Das bedeutet eine Investition pro Beschäftigten von durchschnittlich etwa 120 Tsd. DM oder 60 % der Kapitalkosten für einen neuen Arbeitsplatz. Auf dieser Basis ergeben sich Gesamtkosten für Arbeitsplatzsanierung und -modemisierung in Höhe von ca. 600 Mrd. DM. Hinzu kommt der Aufwand von rd. 500 Mrd. DM für die Einrichtung von 2,5 Mio. zusätzlichen Arbeitsplätzen; summa summarum also ca. 1,1 Bill. DM. Der Investitionsbedarf für Wohnungsbau und -renovierung, Umweltsanierung und schutz sowie für weitere Infrastruktur wird mit nochmals gut 1 Bill. DM veranschlagt (Priewe/Hickel 1991, S. 123). Der materielle Aufwand für die Schaf4

In einem Interview, das wir mit dem kommissarischen Geschäftsführer eines ostdeutschen Großunternehmens im Juli 1990 durchführten, hörten wir dazu folgende prägnante Einschätzung: "In zweieinhalb Jahren wird ckr maJerielle Schaden von vierzig Jahren SED-Herrschaft behoben sein, aber ckr menschliche Schaden, die Verkrustung ckr Gesellschaft durch soziale und kulturelle Prägemuster, die Inflexibilität im Denken und Handeln und damit die cksolme Motivationslage sind eine Erblast, die über Jahrzehnte hinweg den Entwicklungsgang hemmen werckn ... "(Grühn/Heering 1991, S. 571).

5

Der Grund dafür ist, daß bereits personelle und organisatorische Anpassungen und eher geringfügige Sanierungsinvestitionen in vielen Fällen einen positiven Cash-Fiow des vorhandenen Sachkapitals erwarten lassen, zumindest mittelfristig. Gegen die häufig vorgetragene gegenteilige "Schronhypothese" spricht insbesondere, daß sich offenbar immer noch Investoren finden, die bereit sind, eine positiven Kaufpreis für den Erwerb von Treuhandunternehmen zu zahlen, auch wenn die erlösten Summen weit hinter den ursprünglichen Erwartungen der Treubandanstalt zurückbleiben werden (Sinn/Sinn 1991, S. 87 ff.).

Unternehmensrestrukturierung in Ostdeutschland

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fung von Lebens- und Arbeitsbedingungen im Osten, wie sie zu Beginn der neunziger Jahre im Westen herrschen, beträgt somit (bei konstanten Preisen) über 2 Bill. DM, die Größenordnung des nominellen BSP der Altbundesrepublik im Jahre 1988. Selbst wenn man einen Anpassungszeitraum von zehn Jahren annimmt,6 müßten pro Jahr annähernd 200 Mrd. DM im Osten investiert werden, also ungefähr die Summe, die Unternehmen und öffentliche Hand in Westdeutschland derzeit jährlich für Nettoinvestitionen aufbringen (SVR 1991/92, S. 318). Es ist völlig klar, daß die neuen Länder derart hohe Eigenleistungen auf absehbare Zeit nicht werden aufbringen können; derzeit würden sie sogar ihr gesamtes Bruttosozialprodukt übersteigen. Damit ist die objektive Dimension des Anpassungsproblems global beschrieben, wobei natürlich je nach Branche, Region etc. zum Teil erhebliche Differenzierungen an diesem Bild vorgenommen werden müssen. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Der Modernisierungssprung in den neuen Bundesländern - verstanden als Allgleichung der Lebensverhältnisse an die der Altbundesrepublik - wird in den Unternehmen gelingen, oder überhaupt nicht. Bei a11er Beklemmung, die einen beim Anblick der existierenden Industriebetriebe Ostdeutschlands beschleicht, sollte man allerdings ebensowenig die vielfältigen Initiativen in anderen Bereichen übersehen. Vor allem im Baugewerbe, im Handwerk und in bestimmten Teilen des Dienstleistungssektors gibt es bereits kräftige Belebungstendenzen und eine massive Gründungswelle (SVR 1991/92, S. 62). Nur muß vor der Illusion gewarnt werden, das massive Beschäftigungs- und Wohlstandsproblem allein auf diese Weise lösen zu können; damit würden allein schon die quantitativen Dimensionen überschätzt (Klodt 1990, S. 84). Entgegen der populären These vom Trend zur "Dienstleistungsgesellschaft" ist zudem der Industriesektor nach wie vor Kernbereich jeder entwicklungsfähigen Ökonomie. Ohne industrielle Zentren, in denen Masseneinkommen und daher letztlich auch die Nachfrage für Dienstleistungen erzeugt werden, würden die meisten Dienstleistungssparten sehr rasch austrocknen, egal ob es sich dabei um "produktionsorientierte" oder "konsumorientierte" Dienste handelt (Kalmbach 1988; Becker 1989, S. 25; DIW 42-43/91, S. 611; Priewe/Hickel 1991, S. 205 f.; SVR 1991/92, S. 65 f.). Die ostdeutsche Wirtschaft wird somit noch für längere Zeit durch die vorhandenen Industrieunternehmen geprägt sein müssen, will man diese nicht einfach komplett liquidieren. Letzteres wäre kurzfristig nicht nur keine Lösung, sondern vermutlich auch mittel- und langfrisiig eine Vergeudung volkswirtschaftlicher Ressourcen: Nach Informationen der Treuhandanstalt vom Oktober 1991 waren zu diesem Zeitpunkt mindestens 70 % der noch in ihrer Verantwortung be6

Bei dieser Rechnung ist noch nicht berücksichtigt, daß sich während dieser Zeit auch die Verhältnisse in Westdeutschland ändern werden; für eine einigermaßen realistische Entwicklungsvariante ergibt sich eine Anpassungsdauer von ca. zwanzig Jahren (DIW 7!9'lb; Biedenkopf 1992).

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findliehen Unternehmen im Prinzip sanierungsfähig (fHA 6/91, S. 1). Damit die Ostunternehmen unter Marktbedingungen überleben können, bedarf es freilich fundamentaler Veränderungen in allen Dimensionen: Unternehmensgröße und -struktur (-Organisation); Angebotspalette; Ausrüstungen und Bauten; fachliche und soziale Kompetenz des Managements; Qualifikation und Motivation des Personals. In der Verflechtung dieser Momente liegt die große Schwierigkeit des derzeitigen betrieblichen Wandels, zugleich aber auch eine Chance. Aus Äußerungen westlicher Beobachter und Berater, die von östlichen Akteuren begierig aufgenommen wurden, gewinnt man leider mitunter den Eindruck, es handele sich im wesentlichen um ein Problem der Technologie sowie des dafür notwendigen Knowhow, und beides wiederum sei lediglich ein Finanzierungsproblem. Daß es so einfach nicht sein kann, darauf deuten die bislang eher bescheidenen Erfolge der enormen Transferleistungen von Westnach Ostdeutschland hin, von denen andere Reformstaaten mit schlechteren Ausgangsbedingungen noch nicht einmal zu träumen wagen. Modeme Technologie und unternehmerisches Knowhow sind natürlich notwendig und können im Prinzip eingekauft werden, sofern man über die entsprechenden Mittel verfügen kann. Auch im Westen funktioniert ja der öffentlich organisierte und geförderte Technologie- und Wissenstransfer alles andere als effektiv (Schroeder/Fuhrmann/Heering 1991). Geschäftsführer Jassen sich austauschen, obwohl es bereits hier Schwierigkeiten geben dürfte, denn westliche Manager werden sich gegenwärtig zu diesem Schritt nur ausnahmsweise entschließen, und es ist fraglich, ob diejenigen, die dazu tatsächlich bereit sind, per saldo bessere Voraussetzungen mitbringen, als ihre ostdeutschen Kollegen, die die Bedingungen vor Ort und die Belegschaften genauer kennen (Schwenn 1991). Dies allein würde jedoch nicht genügen: Erfolg oder Mißerfolg einer Untemehmensrestrukturierung hängt in erheblichem Maße auch von der Leistungsfahigkeit und Leistungsbereitschaft der vorhandenen Belegschaften ab, die nicht einfach in toto ersetzt werden können. Gerade wenn die Unternehmen in moderne Technologie investieren wollen bzw. müssen, brauchen sie leistungsfahige und leistungswillige Beschäftigte, die mit dem ihnen anvertrauten Gerät effektiv und verantwortungsbewußt umgehen können und dies auch tun. Leistungsfahigkeit läßt sich durch fachliche Qualifizierung erhöhen, zur Steigerung der Leistungswilligkeit, die den Grad der Ausschöpfung der Leistungsfahigkeit bestimmt, bedarf es anderer Instrumente. Im Prinzip bleiben dafür nur Anreiz- und/oder Sanktionsmechanismen, oder - wenn man so will "Zuckerbrot und/oder Peitsche"; beides verursacht erhebliche Kosten. Diese Problemformulierung verdeutlicht, daß Unternehmen qua Organisationsform zur spezialisierten Produktion von Gütern und Diensten stets auch gesellschaftliche Institutionen sind, daß Produktion eben nicht nur eine technische Veranstaltung ist. Ronald Coase, letztjähriger Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, hat mit seinem transaktionskostentheoretischen Ansatz zur Erklärung der Firmenratio bereits in den dreißiger Jahren das analy-

Untemehmensrestrukturierung in Ostdeutschland

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tische Konzept entworfen, mittels dessen die gesellschaftliche Dimension der Unternehmung erfaßt werden kann (Coase 1937; G. Maier 1991); Produktionsund Transaktionskosten lassen sich in diesem Kontext grob dergestalt voneinander unterscheiden, daß erstere eher die technische, letztere eher die gesellschaftliche Seite des Produktionsprozesses reflektiert (Heering/Grühn 1989, S. 8 ff.).7 Angelpunkt der Konzeption ist der Beschäftigungsvertrag. Durch ihn wird die Nutzung des Arbeitsvermögens geregelt, dessen Dualität in der Existenz der beiden Dimensionen "Leistungsfähigkeit" und "Leistungsbereitschaft" zum Ausdruck kommt. Sie ist letztlich der Tatsache geschuldet, daß das Arbeitsvermögen von seinem Träger, dem lebendigen Arbeitnehmer, untrennbar ist (Dragendorf/Heering 1987, S. 134 ff.; Heering 1989, S. 144 f.). Für den Beschäftiger besteht ein sog. "Principal-Agent-Problem", das die formellen und informellen Regeln betrifft, durch die eine optimale Ausschöpfung des Leistungsvermögens gewährleistet wird (Arrow 1986). Unternehmen in westlichen Industrieländern haben sukzessive gelernt, daß ein derartiges Optimum langfristig nicht erzwungen werden kann, sondern daß vielmehr die Arbeits-, Verdienst- und Aufstiegsbedingungen so gestaltet werden müssen, daß der Beschäftigte ein Eigeninteresse an der Erreichung dieses Zustandes hat (Staehle 1989, S. 389 f.). Aus dieser Perspektive besteht das subjektive Problem in Ostunternehmen vornehmlich darin, daß die dortigen Manager und Belegschaften die dafür notwendigen Spielregeln (noch) nicht gelernt haben; derzeit scheinen eher rigide arbeitspolitische Konzepte zu dominieren (Mangold 1991, S.50). 8 Das deutet auf einen gravierenden Mangel an Fach- und insbesondere Sozialkompetenz im ostdeutschen Management hin (BrandhermBöhmker/König 1991, S.79), der zu einem entscheidenden Hemmnis der Unternehmensmodernisierung werden könnte. Die effiziente Technologie eines Unternehmens ist eben nicht nur produktionstechnisch determiniert, sondern hängt auch entscheidend von der Art der Arbeitsbeziehungen ab (Pagano 1991).

IV. Radikalkur: Ostdeutschland in der Anpassungskrise Eine enonne Erschwernis für den langfristigen Aufholprozeß besteht darin, daß er nicht aus dem Stand heraus beginnen konnte. Denn zunächst mußte und muß die ostdeutsche Wirtschaft den Schock verarbeiten, den die auf Binnenwie Außenmärkten plötzlich gewaltig veränderten Preisrelationen und Quali7

Erst in jüngerer Zeit wurde dieser Ansatz von der ökonomischen Theorie wiederentdeckt und weiterentwickelt (Arrow 1974; Williamson/Wachter/Harris 1975; Nutzinger 1978; Williamson 1986; Duda 1987; Fels 1991).

8

Vergleichende Untersuchungen belegen, daß Ostmanager im Durchschnitt wesentlich häufiger auf extrem autoritäre Problemlösungsmuster und Führungsstile vertrauen als Westmanager (Schnitzler 1992).

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tätsanforderungen ausgeläit haben. Selbst wenn das planwirtschaftliche System der ehemaligen DDR gemäß seinen eigenen Regeln und Kriterien optimal funktioniert hätte (was jedoch offenbar nicht der Fall war), wäre Ostdeutschland dieser schmerzliche Anpassungsprozeß nicht erspart geblieben, weil die Betriebe ihre Überlebensstrategie im alten System an anderen Rahmendaten ausrichten mußten, ihre Anforderungen und Funktionen völlig andere waren als die jetzt gültigen (H. Maier 1991, S. 4; Sinn/Sinn 1991, S. 131 f. u. 207 ff.; Beyer/Nutzinger 1991, S. 248). Dies wird in der einschlägigen Diskussion um die "marode" Ostwirtschaft leider häufig übersehen, wenn man die ostdeutsche Ökonomie kurzerhand an Effizienzkriterien und Strukturen der westdeutschen Wirtschaft mißt (Riese 1991, S. 126). Diese Sichtweise ist nicht nur methodisch-analytisch äußerst problematisch,9 sondern hat auch enorme politische Folgen, weil sie das Bild mitprägt, das "Wessis" sich von den "Ossis" machen, die zunehmend als "faul", "unfähig" etc. eingestuft werden (Friedrich(furner 1991; Jaufmann/Kistler 1992). Gegenwärtig besteht die Gefahr, daß der längst noch nicht abgeschlossene Anpassungsprozeß im Osten in ein psychologisches Desaster mündet, das den politisch-kulturellen Vereinigungsvorgang, aber auch die ökonomische Umstrukturierung und Sanierung auf Jahre hinaus behindern könnte. Einige Dimensionen des Anpassungsdrucks lassen sich durch Zahlen verdeutlichen (Heering/Schroeder 1992, Abschn. I. 3). Während Produktion und Beschäftigung in Ostdeutschland bereits im ersten Halbjahr 1990 gegenüber dem Vorjahreszeitraum deutlich zurückgegangen waren, begann der eigentliche Crash erst mit dem zweiten Halbjahr 1990, nach Einführung der Währungsunion; die Wucht der einbrechenden Depression überstieg sogar die der vierjährigen Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren erheblich (Sinn/Sinn 1991, S. 124 f.). Das reale Bruttoinlandsprodukt fiel im Verhältnis zum ersten Halbjahr 1990 um 28 %, die reale Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes um 38 %, die industrielle Warenproduktion (in der alten DDR-Systematik) gar um 48 %. Entsprechend sanken die Beschäftigtenzahlen, und spiegelbildlich erhöhte sich die Zahl der Arbeitslosen und der Kurzarbeiter; die Arbeitslosenquote lag im zweiten Halbjahr 1990 im 9

Als Beispiel diene der Produktivitätsvergleich zwischen beiden Teilen Deutschlan~: Frühere Schätzungen der industriellen Produktivität der DDR ermittelten für das Ende der achtziger Jahre einen Wert, der ungefähr der Hälfte des bundesrepublikanischen Niveaus entsprach (BT-Drucksache 11/11, S. 392; Priewe/Hickel 1991, S. 62). Rückrechnungen aus heutiger Sicht ergeben für 1989 im Verarbeitenden Gewerbe einen Rückstand der Ex-DDR gegenüber Westdeutschland von ca. 60% (Heering!Schroeder 1992, Abschn. 1.3). Daß der Rückstand im Gefolge der Währungsunion zunächst größer werden mußte, ist angesichts des massiven Produktionsrückgangs ohne weiteres begreiflich, aber die Schätzdifferenz von 10 Prozentpunkten für 1989 muß offenbar andere Ursachen haben. Meist wird hier auf "Datenfehler" verwiesen; vermutlich folgt die Differenz jedoch einfach daraus, daß die DDR ein völlig anderes Preis- und Mengensystem als die Bundesrepublik aufwies. Legt man bundesrepublikanische Maßstäbe an, so muß das DDR-Ergebnis schon allein deshalb schlechter ausfallen, ein Effekt, der auch bei Kaufkraftvergleichen auftritt (Sinn/Sinn 1991, S. 36 ff.).

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Durchschnitt bereits bei 7,4 %. Doch dies war erst der Anfang: Im zweiten Halbjahr 1991 lag das reale Bruttoinlandsprodukt bei 56 %, die reale Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes bei 44% und die industrielle Nettoproduktion sogar bei nur 35% des Niveaus im ersten Halbjahr 1991. Die Binnennachfrage wurde fast hälftig aus dem hohen Defizit zwischen Aus- und Einfuhr befriedigt, deutliches Anzeichen für die zunehmende Kluft zwischen Produktivkraft und (über West-Ost-Transfers gestützte) Kaufkraft Ostdeutschlands. Dramatisch, aber relativ zur Produktion noch eher gebremst, 10 entwikkelte sich die Beschäftigung: Im Vergleich zum ersten Halbjahr 1990 waren im zweiten Halbjahr 1991 insgesamt noch 74 % erwerbstätig, im Verarbeitenden Gewerbe allerdings nur noch 59%. Doch während sich seit Sommer 1991 die Hinweise mehren, daß die Produktionstätigkeit der neuen Länder ihre Talsohle erreicht haben dürfte - obwohl von einem beginnenden, sich selbst tragenden Aufschwung noch nicht die Rede sein kann -, ist der Schrumpfungsprozeß der Beschäftigung noch nicht beendet (DIW 42-43/91; SVR 1991/92, S. 60 ff.). Im April 1992 waren 1,2 Mio. Ostdeutsche ohne Arbeit, wobei sich das Auslaufen von Kurzarbeiter-und Kündigungsschutzregelungen deutlich auswirkte; die Arbeitslosenquote stieg auf 15,8 %. Gleichzeitig erhöhte sich auch die verdeckte Arbeitslosigkeit in Form der Inanspruchnahme arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen: Nach der Definition des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) läßt sich diese für April 1992 mit nochmals rd. 1,5 Mio. Personen beziffern (SVR 1991/92, S. 109); damit waren ca. 30 % der potentiellen Erwerbspersonen ohne reguläre Beschäftigung. Einer Umfrage bei ostdeutschen Industrieunternehmen zufolge, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin im Sommer 1991 durchführte, rechnen die Unternehmen mittelfristig im Durchschnitt mit einer weiteren Personalreduktion gegenüber Ende 1991 um 27 %; (DIW 39-40/91, S. 563). Laut neuesten Umfragen des Ifo-lnstituts für Wirtschaftsforschung in München und des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) erwartet die ostdeutsche Industrie noch im laufenden Jahr einen Rückgang ihrer Beschäftigtenzahl um knapp 25 %; in Industriebetrieben mit 20 und mehr Beschäftigten verbliebe dann ein Personalstand von nurmehr knapp 940 Tsd. Personen (Handelsblatt 10./11.7.1992). Anhand eines Simulationsmodells kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (lAB) in Nürnberg zu dem Schluß, daß der tiefste Wert der jahresdurchschnittliehen Erwerbstätigenzahl aller Wirtschaftsbereiche mit ca. 5,5 Mio. erst im Jahr 1993 erreicht werden dürfte (Bogai et al. 1992, S. 12 f.). Alle Angaben beziehen sich auf Aggregate, hinter denen sich äußerst differenzierte Strukturentwicklungen verbergen. Den neuralgischen Punkt bilden gegenwärtig vor allem die Investitionen, 10

Hierin drücken sich vor allem die Wirkungen massiver arbeitsmarktpolitischer Programme aus: Umgerechnet auf Vollzeitbeschäftigung war Ende 1991 rd 15% der Erwerbstätigkeit durch entsprechende Maßnahmen (Kurzarbeit; ABM; Qualifizierung) subventioniert.

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Motor jeder marktwirtschaftliehen Dynamik. Zwar hat sich die Investitionstätigkeit in Ostdeutschland gegenüber 1990 deutlich belebt - die Bruttaanlageinvestitionen stiegen 1991 real um 18 %, und für 1992 wird ein weiterer Zuwachs um 26% erwartet (DIW 16-17/92, S. 229); aber das Niveau ist bis jetzt viel zu niedrig, sowohl im Vergleich zu Westdeutschland wie auch angesichtsder realen Erfordernisse (Priewe/Hickel1991, S. 30-32). 1991 wurden in den neuen Ländern brutto rd. 75 Mrd. DM in Ausrüstungen und Bauten investiert; das sind zwar fast 39 % des Bruttosozialproduktes, aber nur 21 % der gesamten Binnennachfrage. In den alten Ländern liegen die entsprechenden Quoten bei 22% bzw. 24% (StBA 5/92, S. 96). Die Investitionsnachfrage kommt zu etwa 70 % aus den Unternehmen, zu fast 20 % von öffentlichen Haushalten und zu knapp 10% vom Wohnungsbau (DIW 41/91b, S. 583). Es ist davon auszugehen, daß Ostunternehmen daran nur einen sehr geringen Anteil haben. Nach Angaben des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in Ostberlin wurde im 1. Vierteljahr 1991 geschätzt, daß von den Gesamtinvestitionen in 1991 ungefähr 44 % von westdeutschen und weitere 2,5% von ausländischen Unternehmen vorgenommen, während 21% auf Länder, Kommunen und Deutsche Reichsbahn entfallen würden. Lediglich 32,5% der Ausgaben würden von Ostunternehmen ohne Westbeteiligung kommen (lAW 1991, S. 32), und auch diese sind zu einem erheblichen Teil durch Subventionen der öffentlichen Haushalte finanziert (SVR 1991/92, S. 72 ff.). Als Gründe für den Investitionsmangel werden Hemmnisse in Form von Infrastruktur- und Verwaltungsdefiziten, Eigentumsfragen, schleppender Privatisierung vor allem in industriellen Kernbereichen, rasante Lohnentwicklung und dgl. genannt (ebd., S. 63 ff.; Bogai et al. 1992, S. 17 ff.). In besonderem Maße gilt das für das Verarbeitende Gewerbe, in dem die Privatisierung am schleppensten vorankommt. Das DIW schätzt, daß im Jahr 1991 hier insgesamt nur etwa 10 Mrd. DM investiert wurden (DIW 16-17/92, S. 212); das entspräche einem Anteil von 14% an allen ostdeutschen Investitionen bei einem Anteil der Erwerbstätigen von 32 %. Zwar kommt der Kapazitätseffekt dieser Investitionen quantitativ wie qualitativ den neuen Bundesländern in voller Höhe zugute und bewirkt insoweit eine Verbesserung ihrer Produktionsstruktur; für den entsprechenden Einkommenseffekt gilt dies jedoch gegenwärtig nur in geringem Maße, da ostdeutsche Investitionsgüter im allgemeinen nicht mit westlichen Produkten konkurrieren können. Maßgebliche Einnahmen aus laufenden Investitionsaktivitäten haben derzeit im Osten lediglich Anbieter auf lokal begrenzten Märkten, wie etwa Baugewerbe und Handwerk (SVR 1991/92, S. 63 ff.; DIW 12-13/92, S. 133). Das Auseinanderfallen von Multiplikator- und Akzeleratoreffekten ist wohl der Hauptgrund dafür, daß ein sich selbst tragender Aufschwung in Ostdeutschland bislang nicht in Gang gekommen ist und mutmaßlich in absehbarer Zeit auch gar nicht in Gang kommen kann.

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V. Privatisierung: Aspekte einer problematischen Verkaufsstrategie Die im vorigen Abschnitt dokumentierten Zahlen beschreiben das Szenario, in dem sich die Umstrukturierung der Unternehmen in Ostdeutschland vollzieht. Die Institution, die in diesem Vorhaben eine maßgebliche Rolle spielt, ist die Treuhandanstalt (fHA) in Ostberlin. Noch unter der Regierung Modrow auf Initiative oppositioneller Kreise des "Runden Tischs" gegründet und durch den Einigungsvertrag mit stark veränderter Aufgabenstellung bestätigt, ist sie heute die zentrale Instanz des ökonomischen Transformationsprozesses in den neuen Bundesländern. Ihr Gesetzesauftrag wird durch die Triade "rasche Privatisierung - entschlossene Sanierung - behutsame Stillegung" der a.tdeutschen Unternehmen umschrieben; er beläßt ihr einen erheblichen Auslegungsspielraum (Maurer/Sander/Schmidt 1991, S. 46 ff.). Nicht zuletzt deshalb steht die THA im Brennpunkt der politischen und gesellschaftlichen Kritik aus den verschiedensten Richtungen; sie ist zum "Prügelknaben" für alle vermeintlichen oder tatsächlichen Fehler bei der Restrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft geworden. Die Liste der Vorwürfe gegenüber der THA ist lang, und vieles davon scheint mir ungerechtfertigt oder zumindest überzogen zu sein; eine eingehende und detaillierte Bewertung liegt jedoch außerhalb der hier verfolgten Intention.11 Das Grunddilemma der Anstalt sehe ich darin, daß sie die Idee einer Entstaatlichung der Wirtschaft als Staatsaufgabe institutionalisiert; ihr Paradoxon liegt in der Erwartung, sich mit ihrem Erfolg selbst überflüssig zu machen (Siebert 1~a. S. 54). Die THA hat spätestens seit der Amtsübernahme durch ihre jetzige Präsidentin Breuel nach der Ermordung ihres Vorgänger Rohwedders im April 1991 dezidiert auf rasche Privatisierung der ihr anvertrauten Unternehmen gesetzt; angesichts eher mäßiger Erfolge und massiver öffentlicher wie politischer Kritik zeichnet sich jedoch in den letzten Monaten eine Schwerpunktverlagerung ab (Heckel1992; Neubauer 1992). Grundsätzlich halte ich den "Primat der Privatisierungspolitik" (Watrin 1991) nach wie vor für überzeugender, weil nur so jene Eigeninteressen hinreichend mobilisiert werden, die im Durchschnitt eine marktgerechte Sanierung und Modernisierung der Unternehmen gewährleisten können; eine staatliche Behörde ist dafür denkbar schlecht geeignet (Sinn/Sinn 1991, S. 86; Beyer/Nutzinger 1991, S. 254 ff.; Heise 1992). Realistischerweise wird man jedoch davon ausgehen müssen, daß jedenfalls ein Rest von Unternehmen übrigbleiben wird, der nicht zu privatisieren ist (Maurer/Sander/ Schmidt 1991, S. 55). Ob man diese Unternehmen stillegt oder sie in staatlicher Regie weiterführt, ist eine politische Entscheidung, welche die THA nicht treffen kann und nicht treffen sollte. In jedem Falle wäre es verfehlt, zum 11

Siehe dazu u.a. Maurer/Sander/Schmidt 1991; Christ/Neubauer 1991, S. 113 ff.; Neugebauer 1991; Wieczorek 1991; OECD 1991; Priewe 1991 und 1992; Priewe/Hickel 1991, Kap. VI; Gemähtich 1992; DIW 41/91a und 7/92a.

9 Voigt I Mertens

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gegenwärtigen Zeitpunkt bereits Bestandsgarantien abzugeben, weil damit nur falsche Anreize und Ansprüche seitens der Unternehmen erzeugt würden ("Moral Hazard"). Aus den nämlichen Gründen scheint es auch unangebracht, der THA ein Mandat für Struktur- und Industriepolitik zu verleihen, obwohl man natürlich nicht darüber hinwegsehen kann, daß sie mit vielen Entscheidungen eine solche Politik de facto betreibt (H. Maier 1991, S. 7; Priewe 1991, s. 65). Das eigentliche Problem der Treuhandpolitik ist die von ihr verfolgte spezielle Variante der Privatisierung; bislang hat sie vornehmlich Barverkäufe an westdeutsche Investoren getätigt und sich darum bemüht, komplette Unternehmen zu einem möglichst hohen Preis loszuschlagen. Erst in jüngerer Zeit ist in ihre Verkaufsstrategie mehr Beweglichkeit gekommen (Breuel1992; Hülsmann 1992; Granzow 1992). Wäre ihre Verkaufspolitik insgesamt erfolgreich gewesen, so hätten die Ostdeutschen letztlich mit deren Konsequenzen vermutlich leben können, auch bei erheblichen Vorbehalten.12 Die Crux besteht jedoch darin, daß die THA-Strategie nicht den erhofften Erfolg haben konnte. Unter kapazitären und logistischen Gesichtspunkten war es allemal illusorisch, eine (nahezu) vollständige Volkswirtschaft mit über 8.000 Unternehmenseinheiten, denen Mitte 1990 über 40.000 Betriebe und 4 bis 5 Mio. Beschäftigte (je nach Abgrenzung 45 % bis 60 % der Gesamtbeschäftigung Ostdeutschlands) zugeordnet waren, in kürzester Zeit an neue oder alte Eigentümer übergeben zu wollen (H. Maier 1991). Etwa 6.100 der Unternehmen waren zur Privatisierung vorgesehen; durch Abspaltung und Ausgliederung ist der Bestand inzwischen auf gut 11.700 angewachsen (THA 14/92, S. 11). Es fällt schwer, den Privatisierungserfolg anband der vorliegenden, zum Teil widersprüchlichen Zahlen verläßlich zu quantifizieren. Festzustehen scheint, daß sich das Privatisierungstempo nach anfänglichen Schwierigkeiten ab Mitte 1991 deutlich beschleunigt hat. Für Ende April 1991 wird der Privatisierungsgrad (gemessen als Anteil der Privatisierungsfälle in vH des Gesamtbestandes der privatisierten und noch zu privatisierenden Unternehmen) mit 57 % angegeben; darin enthalten sind allerdings auch der Handel, das Gastgewerbe und das sonstige Dienstleistungsgewerbe, in denen die Privatisierung (bei erheblicher Ostbeteiligung) sehr zügig voranschritt und inzwischen weitgehend abgeschlossen sein dürfte. Der Privatisierungsgrad im Produzierenden Gewerbe betrug demgegenüber 16 % (Maurer/Sander/Schmidt 1991, S. 54). Zur gleichen Zeit schätzt das lAW den Privatisierungsgrad in der Industrie auf lediglich 10% (IAW 1991, S. 46). Für Ende September 1991 wird der durchschnittliche 12

Anzusprechen ist insbesondere die Gefahr, daß westdeutsche Unternehmen uniiebsame Konkurrenten im Osten ausschalten wollen und einseitig entweder in reine Vertriebsnetze oder umgekehrt in reine Produktionsstätten ("verlängerte Werkbänke") investieren; dadurch würde eine strukturelle Abhängigkeit des Ostens vom Westen etabliert, die Ostdeutschland langfristig in einer wirtschaftlich ungünstigeren Position beließe.

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Privatisierungsgrad mit 36 % beziffert (SVR 1991!92, S. 70); Anfang Juni 1992 war er auf über 62% angestiegen (fHA 14!92, S. 11). Der Erfolg wirkt beachtlich, auch wenn man berücksichtigen muß, daß hier Privatisierungsfalle gezählt werden, deren Größendimension außer acht gelassen wird. Der Privatisierungsgrad ist allerdings nach Regionen und Branchen sehr unterschiedlich. Besonderes Sorgenkind ist offenbar nach wie vor die Industrie, für die speziell kaum Daten zur Verfügung stehen, und innerhalb der Industrie dürfte nochmals eine starke Ausdifferenzierung vorliegen. Verknüpft man Angaben aus verschiedenen Quellen, so läßt sich abschätzen, daß der Beschäftigtenanteil der Treuhandunternehmen zwischen März 1991 und Jahresende von ca. 36 % auf etwa 25 % in allen Wirtschaftsbereichen und von ca. 85 % auf etwa 55 % im Verarbeitenden Gewerbe gesunken ist (Hübner/Marschall 1991; DIW 12/91, S. 139; THA 11/92, S. 2). Für den betrachteten Zeitraum würde dies ein überdurchschnittliches Privatisierungstempo im Verarbeitenden Gewerbe indizieren. Dabei ist freilich zu bedenken, daß der verbleibende Beschäftigtenanteil von Treuhandunternehmen nicht nur durch Privatisierung bestimmt wird (die per se lediglich eine Verschiebung innerhalb des Arbeitnehmerbestandes bewirkt), sondern ebenfalls durch Arbeitskräftefreisetzungen vor, während und nach der Privatisierung (Heering/Schroeder 1992, Anhang V. 1.3). Die "Erfolgsbilanz" hinsichtlich der Beschäftigung kontrastiert denn auch auffällig mit dem Privatisierungsgrad der Unternehmen; diesen schätzte das DIW im Dezember 1991 für die Industrie auf rd. 25 %, nach Angaben der THA lag er im Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche bei etwa 46% (DIW 51-52/91, S. 716; THA 11/92, S. 12). Aufschlußreich ist ein Blick auf die Privatisierungserlöse der Anstalt: Bis Anfang Juni 1992 wird der gesamte Bruttoerlös auf 29,3 Mrd. DM beziffert; die Beschäftigungszusagen der Investoren belaufen sich auf insgesamt 1,17 Mio. Arbeitsplätze (THA 14/92, S.ll). Zieht man davon Beschäftigungszusagen von 77 Tsd. im Energiesektor wegen seiner Sonderstellung ab, so erhält man einen Bruttoverkaufserlös je Arbeitsplatz von rd. 27 Tsd. DM. Nimmt man dies als Richtgröße für den Marktwert der bestehenden Unternehmensanlagen (einschl. Immobilien), und unterstellt, daß von den 5 Mio. ehemals in Treuhandunternehmen vorhandenen Arbeitsplätzen ebenfalls etwa die Hälfte modernisierbar wäre, so ergibt sich hochgerechnet ein Gesamtwert des durch die THA ursprünglich verwalteten Sachvermögens in Höhe von ca. 68 Mrd. DM, das sind rd. 11 % der ursprünglich veranschlagten Summe von 600 Mrd. DM (Sinn/Sinn 1991, S. 70). Dabei ist die Schätzung mutmaßlich noch zu optimistisch, da die attraktivsten Objekte bereits vergeben sein dürften! Warum der Privatisierungsprozeß insgesamt doch eher schleppend vorangekommen ist und insbesondere von nachhaltigen Revisionen der Erlöserwartungen seitens der THA begleitet sein mußte, wurde von Gerlinde und HansWerner Sinn im Detail analytisch brillant dargelegt (Sinn/Sinn 1991, Kap. IV;

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Sinn 1991).13 Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, daß der THA neben verzeihlichen Fehleinschätzungen auch ernsthafte volkswirtschaftliche Kunstfehler unterlaufen sind, die ihre Verkaufsstrategie ad absurdum führen (H. Maier 1991, S. 6; Beyer/Nutzinger 1991, S. 253). Inzwischen hat sie begonnen, einige ihrer Fehler zu korrigieren, aber es ist auch viel wertvolle Zeit verstrichen, in der die Lösung der Probleme eher erschwert wurde. Wie immer man aber die zukünftigen Erfolgschancen der Treuhandpolitik beurteilt, sie weist jedenfalls zwei Strukturfehler auf, die auch im Hinblick auf das Motivationsproblem von Bedeutung sind. Zunächst einmal implizierte die von der THA praktizierte Form der Privatisierung, daß ostdeutsche Bürger nahezu keine reguläre Chance hatten, sich am Erwerb ihres "Volksvermögens" zu beteiligen (Sinn/Sinn 1991, S. 71 f.). Da die ursprüngliche Idee bei Gründung der Treuhandanstalt gerade eine Bestandssicherung zugunsten der ostdeutschen Bevölkerung war, mußte dies zu Brüskierung und Demütigung führen; zeitweise war die Rede vom "Ausverkauf des Ostens". Gleichzeitig mußten die Ostdeutschen erleben, wie Kader des alten Systems die ihnen verbliebenen informellen Kanäle einmal mehr zur individuellen Bereicherung ausbeuten konnten (Starbatty 1991). Auch dies ist eine (nicht-intentionale) Folge desBestehenseines Käufermarktes für Unternehmen, auf dem Angebot und Nachfrage oftmals nur über persönliche Beziehungen zusammenkommen können (Schmid-Schönbein/Hansel 1991, S. 9). Auf individueller Ebene verstärkt diese Stimmung den jahrzehntelang einstudierten Attentismus einer nach militärischem Vorbild konzipierten Kommandowirtschaft durch resignative Elemente. Angesichts der tiefgreifenden Entwurzelung fällt es den Menschen ohnehin schon schwer genug, im neuen Umfeld ihre Chancen zu erkennen und entsprechend eigenverantwortlich zu handeln (Boschek 1990; Plöntzke 1991). Zweitens wurden durch Propagierung einer nicht-realisierbaren Strategie und die Ankünding, was sich nicht privatisieren lasse, werde stillgelegt (Jocham/Ziener 1991), für die Akteure der Treuhandunternehmen falsche Signale und Anreize gesetzt. Kurz gesagt bestand das Dilemma der THA bislang darin, daß sie in das operative Geschäft ihrer Unternehmen eingreifen 13

Insbesondere wird argumentim, daß die Treuhandanstalt die mikro- und makroökonomischen Budgetwirkungen auf westdeutsche Anleger nicht bedacht hat, die ihre eigene Politik haben mußte. Da die Treuhandobjekte makroökonomisch gesehen nur gegen laufende Ersparnis oder vorhandenes Vermögen "ausgetauscht" werden können, hätte sie sich entweder auf einen längeren Zeitraum einrichten oder aber mit den Erlösen ihrerseits Finanztitel auf westdeutschen Kapitalmärkten aufkaufen müssen, wozu sie per Gesetz jedoch nicht befugt ist. Die erforderlichen Umschichtungen im Portfolio der Kapitalanleger mußten insoweit eine Zinserhöhung auslösen, die nicht nur den Nachfragepreis der Treuhandunternehmen senkt, sondern ganz allgemein die Investitionsbereitschaft mindert; und dies in einer Phase, in der der Kapitalmarkt durch öffentliche Schuldenaufnahme sowieso schon stark beanSJIUCbl ist.

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mußte; gemäß ihrem Konzept durfte sie lediglich "investorneutrale" Investitionen genehmigen, die etwaigen Erwerbern möglichst viele Optionen offen ließen (Schmid-Schönbein/Hansel1991, S. 8 u. 12 f.; Granzow 1992; DIW 1617/92, S. 224). Damit übernahm sie zumindest eine Teilverantwortung für die Unternehmenspolitik und mußte diese nolens volens in Form von Überbrückungskrediten bzw. entsprechender Bürgschaften einlösen. Diese Liquiditätsspritzen sichern den Unternehmen zwar das nackte Überleben, erlauben ihnen aber keine eigenen Gehversuche. Analytisch ausgedrückt agieren die Unternehmen unter einer "weichen Budgetrestriktion", aber mit nur minimalem operativem Handlungsspielraum. Das erinnert fatal an die betriebliche Situation in der Zentralplanwirtschaft und kann hier wie dort nur demotivierende Folgen haben.l4 Für die selbst an der "kurzen Leine" geführten und auf Basis extrem "prekärer" Arbeitsverträge beschäftigten "Geschäftsführer" bestanden weder Möglichkeit noch Anreiz zu einer langfristigen Sanierung der Unternehmen; statt dessen versuchten sie sich dadurch zu profilieren, daß sie eine kurzfristige, passive Überlebensstrategie für das Unternehmen verfolgten:15 Produktionsmethoden und Produktspektren wurden "traditionalisiert", die Fertigung bei gegebener Technologie rigidisiert und auf Produkte gerichtet, für die bei weiter steigenden Löhnen mittelfristig keine rentablen Absatzchancen mehr existieren können; Verbesserungen der alten oder Entwicklung neuer Produkte wurden kaum ins Auge gefaßt. Dies legte auch die Versuchung nahe, überkommene A~atzmärkte und Marktbeziehungen aufrechterhalten. Darüber hinaus wurden nicht-operative Unternehmensteile abgestoßen, neben Sozialeinrichtungen insbesondere auch Forschungs- und Ausbildungsabteilungen, die mittel- und langfristig für die Innovationsfähigkeit und damit für das Überleben der Unternehmen entscheidend sein werden (Becheret al. 1990; Schroeder et al. 1991). Möglicherweise noch schwerer wiegen die drastischen Verschlechterungen in den Arbeitsbeziehungen. Mancher Geschäftsführer nutzte Informationsvorteil und Machtposition, um seine persönlichen "Schäfchen ins Trockene" zu bringen; vielfach wurden durch bewußte Intransparenz der Geschäftspolitik Angst und Unsicherheit unter der Belegschaft verbreitet. Der neu gewonnene arbeitsrechtlichen Spielraum wurde im Zuge massiver Personalreduktionen für 14

Es steht zu befürchten, daß diese Tendenz durch die neuesten Akzentuierungen der Treuhandpolitik noch verschärft wird: In Zukunft will die Anstalt ihre Unternehmen noch stärker an die "kurze Leine" nehmen und aktiv in ihre Sanierung eingreifen. Das ist vermutlich immerhin besser als der bisherige unerträgliche Schwebezustand, unter motivationalen Gesichtspunkten erschiene allerdings eine völlige Umkehrung der Schwerpunktsetzung sinnvoller, wie sie u.a. vom BOI vorgeschlagen wird (Peter 1992): Festlegung einer angemessenen, aber "harten Budgetschranke", in deren Rahmen die Unternehmen jedoch selbständig und eigenverantwortlich entscheiden können (Schmid-Schönbein 1991, S. 246; DIW 16-17/92, S. 225).

15

SÖSTRA 1991; DIW 39-40/91, S. 559 ff., 51-52/91, S. 719 und 16-17,92, S. 208; SchmidSchönbein 1991, S. 241; Voskamp/Wittke 1990, S. 19 f.; Hirsch-Kreinsen 1992, S. 295 ff.; Schoof 1992.

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eine vordergründig auf Disziplinierung und Einschüchterung der Arbeitnehmer gerichteten Personalpolitik ausgeschöpft (SÖSTRA 1991; Voskamp/Wittke 1990, S. 27 ff.; Helfeet 1990; Mangold 1991, S. 41; Hirsch-Kreinsen 1992). Damit wurde ein Entsolidarisierungsprozeß innerhalb der Belegschaften eingeleitet, der unter Effizienzgesichtspunkten durchaus ambivalent zu beurteilen ist. Einleuchtend ist allemal, daß Lohnforderungen, die jeglichen Bezug zur Arbeitsproduktivität vermissen lassen, bei den betroffenen Arbeitnehmern unter solchen Bedingungen auf offene Ohren stoßen müssen, da ohnehin mit dem Schlimmsten gerechnet wird; man sichert sich damit überdies den Anspruch auf eine höhere Arbeitslosenunterstützung.16 Die Tatsache, daß rüde agierende Geschäftsführer in vielen Fällen mit alten Führungskadern identisch waren und noch sind, hat Wut und Ohnmacht der Arbeitnehmer erheblich potenziert (Kirbach 1990; Hoß 1991, S. 65; Mangold 1991, S. 40; Friedrich!furner 1991; Spiegel 27/91, S. 93 f.; Heckel 1992). Die durch die Medien publik gewordenen Fälle von Korruption und Besitzanmaßung bringen nicht nur ganz allgemein die Treuhandanstalt in Verruf,17 sie führen speziell zu Mißtrauen und Verbitterung in der ostdeutschen Bevölkerung, aus denen schwerlich eine produktive Atmosphäre erwachsen kann. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre hier gewesen, die ehemaligen Betriebs-

16

Allein in den ersten fünfzehn Monaten nach der Währungsunion stiegen die Bruttoverdienste in der ostdeutschen Industrie um fast 50 %, ihre Erzeugerpreise (nicht die Lebenshaltungskosten, die im gleichen Zeitraum um 29 % stiegen) fielen dagegen um rd. 1,5 %; berücksichtigt man noch den Produktivitätsrückgang um ca. 25 %, so errechnet sich ein Lohnkostenanstieg (Lohnkosten je DM Umsatz) bis Oktober 1991 um insgesamt ca. 75% (SVR 1991/92, S. 63; StBA 5/92, S. 76 u. 83; EG-Kom. 1/92, S. 2). Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß dadurch viele Arbeitsplätze in Ostdeutschland unrentabel geworden sind. Allerdings darf man die Lohnentwicklung im Osten nicht allein unter diesem Gesichtspunkt betrachten (Götz 1991; Sinn/Sinn 1991, S. 140 ff.; Priewe/Hickel 1991, S. 106 ff.; Stadermann 1991; Donges 1991; BMWi 1991; DIW 42-43/91, S. 612 und 1617/92, S. 220 ff.; SVR 1991/92, S. 196 ff.).

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Entsprechend schlecht ist das Image der THA bei den ostdeutschen Arbeitnehmern: Über zwei Drittel der Grundgesamtheit unserer Belegschaftsbefragung (Anmerk.2) bescheinigen der THA eine schlechte bzw. verfehlte Politik; ein weiteres Viertel wollte oder konnte sich zu der Frage nicht äußern. Wir stießen dabei jedoch auf ein interessantes Phänomen: Gefragt nach der Bewertung der jeweils unternehmensbezogenen Treuhandaktivitäten fiel das Urteil weitaus günstiger aus; immerhin 30% bezeichnen diese Politik als angemessen bzw. gut, "nur" 32 % als schlecht oder verfehlt. Dabei fanden wir auch einen statistisch signifikanten Zusammenhang zur Einschätzung der individuellen Arbeitsplatzsicherheit, der für die allgemeine Bewertung der THA nicht existierte (Heering!Schroeder 1992, Abschn.2.3). Offensichtbar ist die Reputation der Treuhandanstalt stärker durch die Berichterstattung und Diskussion in den Medien u.ä. geprägt als durch persönliche Erfahrung. Eine ähnliche Meinungsambivalenz ermittelte jüngst das FORSA-Institut hinsichtlich der Einschätzung allgemeiner Lebensbedingungen durch ostdeutsche Mitbürger: Während 57 % der Befragten für sich persönlich eine deutliche Besserung der wirtschartliehen Situation seit Mitte 1990 konstatierten, glaubten nur 23%, daß es auch anderen Ostdeutschen besser gehe (WiWo 28/92, s. 9).

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direktoren im Regelfall durch Führungskräfte der zweiten oder dritten Reihe abzulösen, und ihren Verbleib im Ausnahmefall an ein positives Votum der Belegschaft zu binden; das letzte Gesetz einer alten DDR-Regierung wies in diese Richtung (Mangold 1991, S. 52). Die THA hat die Akzente eher umgekehrt gesetzt. Sie ging wohl einerseits von der (irrigen) Prognose aus, daß sich das Problem mit der Privatisierung sowieso von selbst erledige, und wollte sich daher nicht unnötig in die internen Angelegenheiten der Unternehmen einmischen; andererseits dürfte sie aber auch der (im Prinzip richtigen) Meinung gewesen sein, daß man zunächst nicht umhin komme, mit den alten Eliten zu kooperieren.18 Eine Schlußfolgerung aus den vorstehenden Bemerkungen lautet, daß die vielbeklagte Motivations- und Antriebsschwäche der Ostdeutschen nicht nur eine zwangsläufige Erblast des SED-Regimes darstellt, sondern zu einem guten Teil auch Folge einer konzeptionslosen bis falschen "Mikropolitik" seitens des Westens ist, die pa;itive Ansätze auf "makropolitischer Ebene" konterkariert hat (Stimpel 1991). Motivation ist eben keine Konstante, sondern stets auf entsprechende Stimuli angewiesen; indem nahezu überall eine Bevormundung bis hin zur Entmündigung betrieben wurde, konnte bislang im Prozeß der Vereinigung negativen Verhaltensmomenten nur Vorschub geleistet werden, während positiven Ansätzen eine eher geringe Entwicklungschance blieb. Die Überheblichkeit folgt einem ersichtlichen Muster: Aus der Überlegenheit des westlichen Systems hat man sozusagen auf die Überlegenheit der "Westler" geschlossen, zumindest aber hat man sich in diesem Sinne verhalten (Friedrich{fumer 1991). Damit wurde nicht nur die menschliche Anpassungsfähigkeit unterschätzt, sondern zudem eine Art "Besiegten-Identität" erzeugt (Schroeder 1991, S.5). Diese nährt sich aus dem Ohnmachtsgefühl, einer "Verschwörung" ausgeliefert zu sein und muß verheerende Konsequenzen 18

Ein Charakteristikum der ostdeutschen Revolution, die insoweit eine echte "Volkserhebung" war, besteht darin, keine neue Elite, insbesondere keine Wirtschafts- und Verwaltungselite helVorgebracht zu haben. Die Wortführer der ersten Stunde gehörten der intellektuellen oder künstlerischen Subkultur und nicht zuletzt kirchlichen Kreisen an. Sie waren nicht in der Lage, den Prozeß konzeptionell zu kanalisieren und wurden daher sehr schnell von "der Straße" überrollt (Schroeder 1991, S. 1 f. u. 7 f.). Das daraus resultierende Dilemma ist kunfristig nicht lösbar (Koch 1991; Friedrich!furner 1991), aber gerade deshalb hätte man damit sehr viel sensibler und offener umgehen müssen. Insbesondere wäre alles zu vermeiden gewesen, was nach "Kungelei neuer und/oder alter Seilschaften" riecht. Nach unseren Untersuchungen sind "Alte Seilschaften" noch immer eine nicht zu unterschätzende Belastung des Betriebsklimas in ostdeutschen Unternehmen, und zwar durchaus auch in (re)privatisierten: Ein erhebliches Maß an Mißtrauen kommt zunächst darin zum Ausdruck, daß über 18 % der Befragten (Anmerk.2) die entsprechende Frage nicht beantwortet haben gemessen an der sonstigen "Antwortdisziplin" ein sehr hoher Anteil. Darüber hinaus sind über ein Drittel der Belegschaften der Meinung, diese Gruppierungen blockierten den Umstellungsprozeß auf allen Ebenen; ca. 21% halten sie für deneil unersetzbar (Heering!Schroeder 1992, Abschn. 111.4.2).

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haben. Die Verhärtung in den Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschen wird noch auf Jahre hinaus im Prozeß des Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands als retardierendes Moment wirksam werden. Sie hat insoweit auch unmittelbar ökonomische Konsequenzen, als sie die ostdeutsche Anspruchs- und Versorgungsmentalität gegenüber dem Westen verstärkt, die nicht nur auf Unternehmensebene produktivitätshemmend wirkt.

VI. Umorientierung: Für partizipative Unternehmensstrukturen Der Ausweg aus der beschriebenen "Restrukturierungsblockade" der ostdeutschen Unternehmen kann insoweit nur darin bestehen, endlich mit der Entmündigung der Deutschen in den neuen Ländern Schluß zu machen und stärker auf ihre eigene Initiative und ihr eigenverantwortliches Handeln zu vertrauen. Dabei wären Fehler natürlich unvermeidlich, und bestimmt würde so mancher der neuen Bundesbürger eine solche Option gar nicht wahrnehmen wollen. Gleichwohl sollte man sie ihnen anbieten; bei aller Hilfestellung im Detail, die nach wie vor erforderlich sein würde, muß man die ostdeutsche Bevölkerung soweit wie möglich in die Pflicht nehmen und ihr die Chance geben, Erfolge und Fehlschläge selbst zu machen. Letztlich wird man nur so der mittlerweile grassierenden und lähmenden Larmoyanz entgegenwirken können. Das Recht zum Scheitern gehört ebenso zur freiheitlichen Gesellschaft wie es nachgerade eines der Strukturprinzipien der Marktwirtschaft ist. Freilich stellt sich die Frage, ob der Westen nicht bereits zu tief in seine Fürsorgerolle gegenüber dem Osten verstrickt ist, als daß er sich auf absehbare Zeit daraus lösen könnte. Wenn dem so wäre, dann müßte man allerdings eher schwarz sehen. Angesichts dieser Problemperzeption finde ich die Idee des Ehepaares Sinn zu einem "Beteiligungsmodell" auf Unternehmensebene nachgerade bestechend. Es sieht vor, daß die bestehenden Treuhandunternehmen nicht weiter verkauft, sondern zu einem Teil an die Belegschaften übereignet und zum anderen Teil vorzugsweise an westliche Investoren entsprechend dem Wert des von ihnen eingebrachten Knowhow und der zu veranschlagenden Modernisierungsinvestitionen verschenkt werden. Ergänzt werden soll das Modell durch einen "Sozialpakt" innerhalb der Unternehmen, um existenzgefahrdende Lohnerhöhungen auszuschließen (Sinn/Sinn 1991, S. 110 ff. u. 185 ff.). Das Konzept hätte den Vorzug, eine ganze Reihe brennender Probleme auf einen Schlag zu lösen, nur fürchte ich, daß es für eine derartig radikale Wende schon zu spät sein dürfte. Man sollte jedoch die Grundphilosophie übernehmen und im Rahmen vielfaltiger, derzeit bereits praktizierter oder zumindest breiter diskutierter Privatisierungsvarianten einbringen können. Management- oder Belegschaftsbuyouts (MBO/EBO) und lnvestiv- bzw. Beteiligungslöhne sind nur

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etmge Stichworte, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind (Beyer/Nutzinger 1991; Maurer/Sander/Schmidt 1991, S. 52; Sievert 1992; Fink 1992). Die Grundphilosophie des Ansatzes besteht darin, durch Beteiligung ostdeutscher Arbeitnehmer und Geschäftsführer am Produktivkapital ihrer Unternehmen Anreize für unternehmerisches Handeln und Barrieren gegen überzogene kurzfristige Ansprüche zu erzeugen; dies wird allerdings nur gelingen, wenn die Unternehmen in der einen oder anderen Form eine hinreichend weite, aber exogen prinzipiell nicht verschiebbare Budgetrestriktion erhalten. Die regional-, struktur- und unternehmenspolitischen Vorteile einer derartigen Lösung liegen auf der Hand. Denn nicht nur würde ein "endogenes Entwicklungspotential" mobilisiert, das für den eigenständigen Wohlfahrtsprozeß in Ostdeutschland unalxlingbar ist, es würden auch viele kleinere und mittlere Unternehmenseinheiten entstehen können, die die ostdeutsche Industriestruktur so dringend nötig hat (Fehl 1990). Gleichzeitig sollten partizipative Elemente innerhalb dieser Unternehmen gestärkt werden (Burian 1991). Wir haben in unseren empirischen Untersuchungen eine vergleichsweise hohe Bereitschaft zu unternehmensinterner Kooperation in ostdeutschen Unternehmen feststellen können,l9 die auch durch andere Studien bestätigt wird (Hoß 1991, S. 63; Mahnkopf 1991, S. 279 ff.). Vermutlich würden sich unter den eben geschilderten Bedingungen vielfältige Formen partizipativer Unternehmensführung gleichsam spontan herausbilden; in einigen Fällen konnten wir dies in Ansätzen auch schon beobachten. Derartige Strukturen weisen in der gegenwärtigen Situation für die Unternehmen zumindest drei handfeste Vorteile auf: Sie sind in der Lage, die Identifikation der Belegschaft mit "ihrem" Unternehmen zu stärken und so Motivation und Bereitschaft zum Verzicht auf kurzfristige Vorteile zugunsten einer längerfristigen Beschäftigungsstabilität zu erhöhen.20 Sie steigern das Maß der durch das Unter19

In einer Umfrage im Winter 1990/91 bei Geschäftsleitungen und Betriebsräten ostdeutscher Chemieunternehmen haben wir eine sehr hohe beidseitige Kooperationsbereitschaft in Fragen der betrieblichen Weiterbildung ermittelt (Schroeder et al. 1991, S. 53 ff.). Die Ergebnisse der bereits mehrfach zitierten Belegschaftsbefragung in Dresdener Unternehmen (Anmerk. 2) deuten darauf hin, daß auch ostdeutsche Belegschaften eher an Kooperation als an Konflikt interessiert sind: Über 60 % der Belegschaftsmitglieder stehen ihrer jeweiligen Geschäftsleitung wohlwollend gegenüber, wobei allerdings nur 43 % sie auch für hinreichend kompetent halten; die Akzeptanz der Geschäftsleitungen korreliert dabei deutlich positiv mit der subjektiven AJbeitsplatzsicherheit. Auffallend ist insbesondere, daß die Akzeptanz der Geschäftsleitungen nicht mit einer negativen Bewertung der Betriebsratsarbeit einhergeht, wie man aus westlicher Sicht erwarten würde. In den meisten Beschäftigtengruppen, die von uns nach verschiedenen Kriterien gebildet wurden, ist eher das Gegenteil der Fall (Heering!Schroeder 1992, Abschn. IIJ.4.6).

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Empirische Belege zugunsten dieser These ergeben sich wiederum aus unserer Belegschaftsbefragung (Anmerk. 2): Fast 90 % der Beschäftigten aller untersuchten Unternehmen sind oder wären bereit, im Interesse der Überlebenssicherung des Unternehmens grundsäiZiich oder in bestimmtem Umfang unbezahlte Mehrarbeit zu leisten. Auch spielt ein höherer Verdienst für die Leistungsmotivation in den Unternehmen nicht die einzige und vor

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nehmen tragbaren Risiken, indem wichtige Entscheidungen auf mehrere Schultern und Köpfe verteilt werden, auch wenn die formale Entscheidungskompetenz der Geschäftsführung nicht angetastet wird. Und sie können an gewachsene informelle Beziehungen anknüpfen. Denn auch eine strikte Zentralplanwirtschaft wie die der ehemaligen DDR weist einen besonderen "Dualismus" in den Arbeitsbeziehungen auf: Sie kennt eben nicht nur die offizielle Kommandostruktur, sondern gleichzeitig eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Betriebsleitungen, Meistern, technischer Intelligenz und Arbeitern, die aus dem Planzwang einerseits und der chronischen Unfähigkeit andererseits, den Plan auf "regulärem" Weg zu erfüllen, mithin aus einer Konstellation des "Aufeinander-Angewiesenseins" entspringt; man spricht diesbezüglich vom "Planerfüllungspakt" (Voskamp/Wittke 1990; Deppe/Haß 1989; Rottenburg 1991). Man muß solche aus der Not geborenen Ansätze gar nicht zum Phönix einer "neuen Wirtschaftsethik" hochstilisieren, um zu erkennen, daß hier ein wertvolles Potential schlummern könnte. Die Krisensituation in Ostdeutschland und die dort anstehenden tiefgreifenden Entscheidungen erfordern einen möglichst breiten Konsens, und Partizipation in Unternehmen kann hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Unter Partizipation verstehe ich alle formellen und informellen Arrangements, durch die Mitarbeiter am Entscheidungsprozeß und/oder am (Miß-)Erfolg ihres Unternehmens beteiligt werden. Keinesfalls möchte ich für ein bestimmtes Modell plädieren, da ein optimales Arrangement von Unternehmen zu Unternehmen variieren dürfte (Beyer/Nutzinger 1991, S. 260); (gesetzliche) Mitbestimmung ist nur eine voq vielen möglichen organisatorischen Varianten.21 In diesem allgemeinen Sinn halte ich Partizipation für ein Gebot der Stunde. Man erinnere sich nur daran, daß der ökonomische Wiederaufbau in der alten Bundesrepublik nach dem Krieg nicht zuletzt wegen der stark partnerschaftlieh geprägten Atmosphäre so rasch vorangegangen ist (Lutz 1989, S.192f.). Gewiß müssen Partizipationsarrangements "anreizkompatibel" sein, und dies mag den praktizierbaren Formen im konkreten Fall Grenzen setzen; die grundsätzliche Kritik von Marktpuristen, derzufolge Partizipation die Entscheidungsfreiheit des Managements einschränke und daher nur zu suboptimalen Resultaten führen könne, scheint mir allerdings schon methodisch verfehlt, da sie auf einem Ceteris-Paribus-Experiment basiert. Theorie und Praxis belegen indes schlüssig, daß von Partizipation sowohl effizienzsteigernde als auch effizienzmindernde Effekte ausgehen können (Ribhegge 1990; Sesselmeier 1991, S. 91 f.). Infolgedessen spricht vieles für die Existenz optimaler und anallem längst nicht die ausschlaggebende Rolle; bei einer entsprechenden Frage mit Mehrfachantwortmöglichkeit nannten 60% der Grundgesamtheit als Leistungsstimulanz die Sinnbaftigkeit der Arbeit, 44% einen höheren Verdienst und 41% das Vorbandensein optimaler Arbeitsbedingungen (Heering!Schroeder 1992, Abschn. III. 3.2).

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Grundsätzlich wären ·betriebliche gegenüber überbetrieblichen und vertragliche gegenüber gesetzlichen Regelungen zu präferieren.

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reizkompatibler Partizipationsarrangements; in Ostdeutschland könnten sie einen wertvollen Beitrag zur Überwindung ökonomischer Lethargie leisten.

VII. Fazit: Vertrauen ist besser als Kontrolle Meine Überlegungen intendieren nicht, die Diskussion über einen "dritten Weg" erneut aufzuwärmen. Grundsätzlich sehe ich zur Marktwirtschaft keine Alternative. Sie ist gewiß nicht die beste aller denkbaren, aber wahrscheinlich auf absehbare Zeit doch immerhin die beste aller realisierbaren Welten. Ihre Grundphilosophie, wonach wohlverstandener Eigennutz der Individuen den angemeinen Wohlstand (wenn auch nicht den Wohlstand aner) mehrt, erscheint mir nicht zuletzt aus anthropologischen Gründen überzeugender als die Gegenkonzeption einer sozialistischen Planwirtschaft, in der die soziale und moralische Norm als individuelle Handlungsmaxime postuliert und damit die menschliche Motivationsstruktur überfordert wird (Weizsäcker 1990, S. 9). Vorausetzung für funktionierende Märkte sind klar definierte Eigentumsrechte, die im Prinzip nur im Rahmen des Privateigentums gewährleistet sind (Siebert 1989 und 1990b; Fels 1991). Wie die Eigentumsrechte definiert und verteilt werden, ist demgegenüber eher nachrangig; ökonomisch gesehen ist Eigentum eine funktioneHe und keine moralisch-ethische Kategorie.22 Darüber hinaus ist Marktwirtschaft keine statische Konzeption, und auf keinen Fan ist sie sakrosankt. Historisch schon sehr früh wurde deutlich, daß der Marktmechanismus durchaus nicht immer das effiziente Koordinationsinstrument ist, und daß die Entfaltung des individuellen Eigennutzes in vielen Fällen im Interesse der Reproduktion des Gesamtsystems eingeschränkt werden muß. Das Credo der Sozialen Marktwirtschaft, für die sich die Bürger der Ex-DDR in ihrer Mehrheit entschieden haben (Felderer 1990) und der sie ein hohes Maß an Akzeptanz entgegenbringen,23 besteht gerade darin, daß soziale Stabilität bis zu einem gewissen Grad auch einen effizienzsteigernden Stimulus liefert, und daß die resultierenden Effizienzgewinne zur Finanzierung sozial-stabilisierender

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Die Restitutionsklausel, die auf Drängen der FDP im Einigungsvertrag verankert wurde, ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Eigentumsbegriff zum Fetisch werden kann, der nicht nur funktionlos, sondern sogar dysfunktional wird Glücklicherweise ist inzwischen durch das "Hemmnisbeseitigungsgesetz" ein Teil der damit verbundenen Probeme beseitigt worden (Schmid·Scbönbein/Hansell991, S. 5).

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In den von uns untersuchten Unternehmen etwa haben über 80 % der Belegschaftsmitglieder eine überwiegend positive, fast 25 % gar eine uneingeschränkt positive Grundeinstellung zur Sozialen Marktwirtschaft. Überraschenderweise scheint kein Zusammenhang zur individuellen Einschätzung der eigenen Arbeitsplatzsicherheit zu bestehen (Heering!Schroeder 1992, Abschn. III.2.4).

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Maßnahmen dienen können.24 Der Sozialstaat geriet während der siebziger Jahren in die Krise, als diese Balance zwischen Effizienz und sozialpolitischen Ansprüchen nicht mehr gewährleistet war (Frankfurter Institut 1990). Erst verhältnismäßig spät hat man erkannt, daß ein analoges Paradigma auch für die Unternehmung anwendbar ist, die ja intern durch eine weitgehende Substitution des Preismechanismus zugunsten hierarchischer Regelungsstrukturen (Weisungen) charakterisiert ist. Vertrauen und Kontrolle sind die beiden Modi, die eingesetzt werden können, um das dabei notwendig auftretende Principal-Agent-Problem zu l~en (Wintrobe/Breton 1986); die Industriesoziologie spricht in diesem Kontext vom "Vertrauenskonzept" im Gegensatz zum "Mißtrauenskonzept" (Fürstenberg 1991, S. 51). Wurde während der Ära des Taylorismus im wesentlichen auf Kontrolle gesetzt, so haben Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, Wertewandel in Einstellungen und Erwartungen gegenüber der Arbeit sowie sich ändernde Marktbedingungen hier einen Umdenkungsprozeß hin zu einer stärkeren Betonung der Vertrauenskomponente initiiert (Deh/Hurrle 1991; Krieger 1991, S. 21). Partizipation ist ein Medium, das dem Aufbau und der Stabilisierung von Vertrauen zwischen wie innerhalb verschiedener Hierarchieebenen dienen kann. Zwischenzeitlich gibt es dazu sowohl eine breite wissenschaftliche Diskussion auch innerhalb der mikroökonomischen Theorie wie auch praktische Experimente mit vielf