Umfang und Bedeutung der germanischen Siedlung in Nordgallien im 5. u. 6. Jahrhundert im Spiegel der Sprache und der Ortsnamen [Reprint 2021 ed.] 9783112558485, 9783112558478


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German Pages 36 [37] Year 1951

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Umfang und Bedeutung der germanischen Siedlung in Nordgallien im 5. u. 6. Jahrhundert im Spiegel der Sprache und der Ortsnamen [Reprint 2021 ed.]
 9783112558485, 9783112558478

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DEUTSCHE AKADEMIE DER MmSENSCHAFTEN ZU BERLIN VORTRÄGE UND SCHRIFTEN H E F T 36

UMFANG UND BEDEUTUNG DER GERMANISCHEN SIEDLUNG IN NORDGALLIEN im 5. und 6. Jahrhundert im Spiegel der Sprache und der Ortsnamen von Walther

von

Wartburg

1950 AKADEMIE-VERLAG BERLIN

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH., Berlin NW 7, Schiffbaucrdamm 19 Lizenz-Nr. 156 • 5104/49 - 5491/49 Gedruckt in der Buchdruckerei Oswald Schmidt GmbH., Leipzig M 118 Bestell- und Verlagsnummer 2003/36 Preis DM 1.8s

U M F A N G U N D B E D E U T U N G DER SIEDLUNG IN

GERMANISCHEN

NORDGALLIEN

An der Schwelle zwischen Altertum und Mittelalter steht die fränkische Staaten- und Reichsgründung in West- und Mitteleuropa, gleichgültig ob man das Mittelalter am Ausgang des 5. Jahrhunderts oder, mit Pirenne, erst etwa zwei Jahrhunderte später beginnen läßt. Nach dem Untergang des Römischen Reiches erwiesen sich die Franken als das einzige Volk, das fähig war, dem Abendland wieder eine Form zu geben; und gleicherweise war das Frankenreich die einzige Macht, die in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts das Abendland vor dem Einbruch des Islam zu retten vermochte. Nordgallien war zum Schicksalsland geworden, in dem, was von der Antike weiterwirkte, sich am innigsten verbinden und durchdringen lassen konnte mit der neuen germanischen Kraft. Nach der Schlacht von Vouille führten die Westgoten in ihrem hispanischen Staat ein etwas abgesondertes Dasein; auf die weitere Entwicklung des Abendlandes übten sie kaum mehr einen Einfluß aus. Und ebenso kamen die Langobarden nicht einmal mit dem von ihnen besetzten Italien ganz zurecht. So hat sich denn in jenen wirren Jahrhunderten der Schwerpunkt des Weltgeschehens nach den Ländern der Franken verlegt. Der Franken Werk ist es auch vor allem, daß die im heutigen Deutschland verbliebenen Germanen in den Bannkreis römischen Wesens gerieten, sich unter Beibehaltung ihrer Sprache mit römischer Kultur verbanden. Das Reich der Franken vereinigt für Jahrhunderte die Länder, die das heutige Frankreich und das heutige Deutschland (dieses wenigstens zum Teil) ausmachen; für beide Länder ist es Ausgangs- und Durchgangspunkt ihres Werdens. Beide sind fränkische Nachfolge1*

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Walther von Wartburg

Staaten, als die sie sodann ihre weitere Geschichte durchlaufen. Erst im Rahmen des Frankenreiches wuchsen jene germanischen Stämme, die auf dem Kontinent geblieben waren, zum Deutschtum zusammen. Die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Geschehnisse stellt den Historiker immer wieder vor die Frage, wie es möglich war, daß gerade dieser eine germanische Stamm in verhältnismäßig kurzer Zeit zum fuhrenden Volk werden konnte, unter welchen Umständen sich dieser erstaunliche Aufstieg vollzog. Klarheit zu bekommen über diese Vorgänge, zu zeigen, woher die Kräfte stammen, die das Frankenreich zu dieser gewaltigen Leistung befähigten, ist sicher eine der wichtigsten Aufgaben der frühmittelalterlichen Geschichtsforschung. Es besteht nirgends Zweifel, daß zwischen Loire und Scheide politisch und kulturell die Hauptkraft des Merowingerstaates liegt. Dafür ist symbolisch auch die Tatsache, daß bei den häufigen vorübergehenden Reichsteilungen zwischen den Söhnen eines verstorbenen Königs jeder Teilkönig Anteil an diesem Zentralgebiet haben will: Theodorich, dessen Gewalt bis an den Thüringer Wald reicht, nimmt Reims zur Hauptstadt; Chlotar, dessen Reich bis nach Friesland hinaufgeht, residiert in einem schmalen, nach Süden sich dehnenden Zipfel, in Soissons ; Childebert sitzt in Paris, Chlodomir in Orléans. Alle vier Hauptstädte liegen auf engem Raum beisammen. Möglichst klar zu erkennen, welchen Wesens dieses Kerngebiet und seine Bevölkerung damals war, ist also die Aufgabe. Das nächstliegende ist natürlich, die Historiker jener Zeit darüber zu befragen, allen voran etwa Gregor von Tours. Doch, wie unschätzbar auch der Wert von Gregors großem Geschichtswerk ist, hier versagt er. Er erschöpft sich damit, die Kriegstaten und Staatsaktionen der Könige und ihrer Gefolgschaften zu erzählen. Über die Art, wie die Franken jene Gebiete organisierten, ist aus Gregor kaum etwas zu entnehmen. Vor allem läßt sich in seinem Text gar nichts finden, auch keine indirekten Nachrichten, über die Frage, die sich — heute wenigstens — einem jeden zuallererst

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aufdrängt: in welchem Umfang hat das fränkische Volk die Politik seiner Führer getragen; in welcher Zahl, relativ und absolut, sind die Franken aus ihren alten Stammesgebieten aufgebrochen, um sich zwischen Scheide und Loire niederzulassen? Haben wir mit einer energisch durchgeführten, einigermaßen dichten Besiedlung durch Franken zu rechnen? Die Historiker haben sich, begreiflicherweise, bis in die jüngste Zeit, im wesentlichen an die unmittelbar greifbaren Dokumente gehalten: Gregor und seine Nachfolger. Man hat ferner den Verlauf der deutsch-französischen Sprachgrenze genau studiert, in der Gegenwart und in der Vergangenheit, soweit vulgärsprachliche Dokumente uns Aufschluß darüber geben. So konnte man feststellen, daß mit Ausnahme eines schmalen Streifens in der Gegend von St. Omer und Boulogne-sur-Mer, die Grenze seit etwa 1200, d. h. seit dem Auftauchen direkter Zeugnisse, stabil geblieben ist. Da Gregor nichts erzählt von einer fränkischen Siedlung und da Nordgallien bis ungefähr an die frühern Sitze der Franken romanischer Sprache ist, hat man angenommen, eine intensive Siedlung habe gar nicht stattgefunden. So steht in dem von Lavisse herausgegebenen Geschichtswerke zu lesen: „la masse du peuple franc n'émigra guère vers le sud, dans les régions de la Seine et de la Loire ... Si faible fut en Gaule le nombre des Barbares comparé à celui des anciens habitants que la langue qui s'y élabora, et qui devint commune aux uns comme aux autres, fut toute romane." Auch Godefroy Kurth meint, die fränkische Volkssiedlung habe dort, wo heute die Sprachgrenze verläuft, fast ganz aufgehört, weiter südlich sei nur eine dünne Schicht von Adligen, Großgrundbesitzern, königlichen Beamten vorgedrungen. Und der deutsche Rechtshistoriker R. Sohm sagte: „Die sämtlichen übrigen germanischen Reiche sind durch ein eroberndes Volk, das Frankenreich ist durch einen erobernden König gegründet worden. Der salische Frankenstamm hatte seine Sitze bereits gefunden, als sein König auszog, um die Waffen gegen die römisch-germanische Welt zu kehren." Aus der gleichen Auffassung heraus hat Ferdinand Lot das Wort von

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dem „miracle historique" geprägt, das die welthistorischen Energien bedeuten, die Chlodwigs Staat entfaltete. Noch 1936 schreibt der niederländische Medievist Gosses: „Jedermann weiß, daß weder die Vereinigung der fränkischen Stämme unter einem Haupt noch die Aufrichtung der fränkischen Königsherrschaft über ein ausgebreitetes Gebiet von Umsiedlungen größern Umfangs begleitet gewesen sind." Ganz einstimmig waren immerhin auch die Historiker nicht. Einer der wenigen, welche die Dinge anders sahen, ist der Rechtshistoriker der Sorbonne, E. Chénon. Die Tatsache, daß das germanische Recht in der Nordhälfte des Landes (pays de coutumes) die Oberhand gewonnen hat, im Gegensatz zum Süden, der beim römischen Recht stehen geblieben war (pays de droit écrit), würdigt er (1926) folgendermaßen: „La diversité fut surtout marquée entre le Nord et le Midi. Dans le Nord, la population de race franke était en majorité; le droit romain, rarement appliqué, se modifia et disparut en grande partie." Einen ähnlichen fundamentalen Gegensatz zwischen Nord und Süd treffen wir ja auch in der Städteverfassung (Kommunen, resp. Konsulatsverfassung), im Verhältnis des Adels zur Stadt usw. Aber auch Henri Pirenne, der diese Dinge intensiv studiert hat, zieht daraus keinerlei Schlüsse im Hinblick auf das vorliegende Problem. Da die zeitgenössischen Chronisten sich über diese Fragen ausschweigen, bleiben uns allein die indirekten Quellen. Es sind deren vor allem drei: die Richtung, welche die Entwicklung der Sprache eingeschlagen hat, die Ortsnamen, die Ausgrabungen. Sprachliches Ganz augenfällig ist innerhalb des Sprachlichen die Tatsache, daß das Französische zahlreiche Wörter aus dem Fränkischen übernommen hat. Da die Franken das politische Leben neu ordneten, ihr Recht einführten, wohl auch das Hauptkontingent des Heeres stellten, ist es ohne weiteres verständlich, daß im

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Vokabular dieser Gebiete viel Fränkisches ins Romanische übergegangen ist. Wenn also baron, sénéchal, maréchal, ¿chanson, sodann ban, épieu, fanon (fanion), blesser „eine Quetschwunde beibringen^ navrer „eine Schnittwunde beibringen", garer „aufpassen", guetter „auf der Wacht stehen", étrier „Steigbügel", garçon (zu deutsch recke), endlich bannir „öffentlich ausrufen", pleige „Pfand", gage u. a. aus dem Fränkischen erhalten sind, so können diese Wörter auch durch eine dünne Schicht fränkischer Herren und Krieger gebracht worden sein. Doch, darüber hinaus, behielten die Franken offenbar auch ihre Bauweise bei, daher faîte „First", halle, salle „der große zentrale Wohnraum im Hause der Vornehmen", bord „Brett", baue „Balken", hourd „Hürde", clanche „Klinke", loge, altfranz. esparon „Sparren". Ein guter Teil des Vokabulars des Ackerbaus und der Landwirtschaft überhaupt wurde fränkisch: blé, gerbe, tas (ursprünglich tas de blé), haie, houe, crèche, jardin, altfranz. herde, fouc (aus fulk „Volk"), gagner (das ursprünglich bedeutet , ; Land ausbeuten, bebauen", zu deutsch weiden) usw. Sogar in die Bienenzucht griffen die Franken ein, wie das Wort rayon „Wabe" (im altfranz. ree) zeigt, und diese sprachliche Feststellung wird gestützt durch den sachlichen Befund: man hat nachgewiesen, daß der aus Stroh geflochtene Bienenkorb in romanischen Ländern völlig unbekannt ist, ausgenommen in Nordfrankreich, das auf der Karte, in welche man die Formen der Bienenwohnungen eingetragen hat, wie der westliche Ausläufer eines großen mitteleuropäischen Gebietes erscheint. In Südfrankreich stellt man den Bienen meist ein Stück Rinde zur Verfugung, das man vom Stamm gelöst und dann wieder zum Zylinder zusammengefugt hat. Daß dies vor dem Einbruch der Franken auch in Nordgallien Brauch war, beweist der franz. Ausdruck für „Bienenwohnung", ruche, das aus gall. rusca „Rinde" stammt. Hier hat die von den Franken hereingebrachte Sache die ältere Form verdrängt, deren Name aber für den neuen Gegenstand geblieben ist. Sogar die häuslichen Arbeiten und die Küche blieben nicht unberührt, wie buer „mit Asche wa-

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sehen" (vgl. Schweizerdeutsch bucheti), gâcher (ursprünglich „Wäsche spülen"', zu deutsch waschen),flan„Fladen", gâteau, bacon „Speckseite", gruau „Grütze" usw. zeigen. Von den Körperteilen sindu. a. échine,flanc,gifle(ursprünglich „Wange"), moue, fronce „Runzel" (heute froncer les sourcils) fränkischen Ursprungs. In Tier- und Pflanzenwelt sind die fränkischen Elemente besonders zahlreich, und es ist bei manchen möglich, den speziellen Grund der Aufnahme ins spätere Französisch nachzuweisen: scion, drageon, brout, ¿cot „Schoß" cresson, saule und osier (wohl weil die Zweige dieser beiden Bäume beim Bau der geflochtenen Wände und Hürden eine große Wichtigkeit hatten), hallier (zu hasla „Haselbusch": für die Germanen war der Hasel mit einer besonderen Zauberkraft begabt; so steckte man z. B. den Thingplatz mit Haselzweigen ab), homlon „Hopfen" (die Form houblon ist viel jünger; die Franken brachten die durch den Hopfen ermöglichte Verbesserung des Bieres, das an sich schon den Galliern bekannt gewesen war, mit sich), hêtre (hängt mit einer besonderen Art der Waldwirtschaft zusammen; vgl. Frings und Wartburg, Zeitschrift für Romanische Philol. 57,193 ; 58, 542), troène (vielleicht weil der Hartriegel in der Hecke eine große Bedeutung hat), houx (im fränkischen Recht spielen die Stockschläge eine große Rolle, und diese wurden mit Stöcken aus Stechpalme verabfolgt), garance (die Pflanzen, die zum Färben gebraucht werden, tragen überhaupt vielfach german. Namen), sodann die Namen des Waldes: altfranz. gaut (aus zvald), aber auch bois und forêt. Von den Vogelnamen stammen épervier, gerfaut und héron „Reiher" aus der Jagdsprache; freux „Krähe" und choue sind vielleicht übernommen worden, weil aus dem Flug dieser Vögel die Zukunft vorausgeschaut wurde; das germanische Recht stellte die Meise unter ganz besondern Schutz, daher trägt sie einen fränkischen Namen, mésange. Aber auch Tiere von geringerer Bedeutung, oder solche, die sich durch ihre Schädlichkeit in der Landwirtschaft unangenehm bemerkbar machen, werden mit ihrem fränkischen Namen benannt, so etwa mulot „Wühlmaus", frelon „Hornisse", normann. man „Enger-

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ling" (aus mado „Made"), hanneton. Auch die Ausdrücke fur ganz allgemeine, alltägliche Handlungen sind zum Teil fränkisch, wie bouter „mettre" glisser, déchirer, ferner Adjektive wie frais und sur „sauer". Die Franken hatten ein sehr reiches Vokabular zur Wiedergabe von Gefühlen, Empfindungen, Charaktereigenschaften. In dieser Bedeutungssphäre ist die genaue semantische Übereinstimmung der Wörter von Sprache zu Sprache selten. Daher nahmen die Franken, als sie allmählich ins Romanische hinüberglitten, ihre Ausdrücke mit. Daher: honte, honnir, hardi, baut „kühn", grain „ergrimmt", laid, riche, isnel „behende". Dies nur einige Beispiele, die dartun, daß das fränkische Element fast in alle Gebiete des Lebens eingedrungen ist. Wäre der König allein ausgezogen und hätte er nur eine dünne Schicht von Adligen und königlichen Beamten mitgebracht, so wären die fränkischen Wörter im Französischen auf Staat, Heer und Recht beschränkt. Aber nur Menschen, die mit Ackerbau, Hausbau, den häuslichen Arbeiten usw. täglich zu tun haben, können Wörter auf diesem Gebiet ins Französische hereingebracht haben. Aus diesem Grund waren die Romanisten — im Gegensatz zu den Historikern — immer der Auffassung, die Franken hätten in nicht unbeträchtlicher Zahl sich angesiedelt. Es ist auch ganz selbstverständlich, daß die Franken nicht im Verlauf von einer oder wenigen Generationen ihre Sprache aufgegeben haben. Die Menge der fränkischen Elemente im französischen Wortschatz läßt keine andere Möglichkeit zu, als daß die beiden Sprachen längere Zeit nebeneinander gesprochenwurden. Nordgallien war einige Jahrhunderte zweisprachig. Hinweise auf diese jahrhundertelange Zweisprachigkeit Nordfrankreichs bieten sich auch sonst. So hat Wilhelm Bruckner in einem viel zu wenig beachteten Aufsatz 1 nachgewiesen, daß die althochdeutsche Isidorübersetzung das Fränkische Neustriens repräsentiert, daß also zu Anfang des 9. Jahrhunderts das Fränkische in Neustrien noch nicht ausgestorben, sondern recht kräftig war, da es ja literarische Verwendung fand. Es ist nun 1

Festschiift Gustav Binz; Basel 1935.

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bedeutsam daß die Sprache dieser Übersetzung bereits die verschobenen Konsonanten aufweist. Das Französische besitzt in der Tat eine ziemliche Anzahl von germariischen Wörtern, die in zwei Formen erscheinen, von denen die eine auf einer germanischen Form mit unverschobenem, die andere auf eine solche mit verschobenem Konsonanten zurückweist. So erscheint z. B. fränkisch slitan „spalten" im Altfranzösischen als esclier; aber daneben tritt auch schon esclicier auf (so im Roland), also altfränkisch slizan. Die beiden Verben griper und griffer sind gleich früh belegt. Mackel und Meyer-Lübke haben in solchen Fällen einfach für die zweite Form das Althochdeutsche als Quelle angesetzt, doch ohne zu sagen, wie sie sich die Möglichkeit einer solchen Entlehnung vorstellten. Das Fortdauern eines neustrischen Fränkisch, mit einem dem Althochdeutschen entsprechenden Konsonantismus, löst diese Rätsel. Dabei darf man sich aber nicht der Hoffnung hingeben, daß diese zwei Formenreihen landschaftlich auseinandertreten, was ja den Schluß nahelegen würde, die eine Landschaft habe früher, die andere später das germanische Idiom ganz aufgegeben. Vielmehr finden wir in der gleichen Landschaft Wörter beider Reihen. So braucht etwa Chrestien de Troyes esclicier, aber esclater, nicht esclacier. Das zeigt, daß in der Champagne das eine Verbum in der ältern Form, mit —t—, ins Romanische übergegangen ist, das andere mit —zz—, also in der bereits verschobenen Form. Auch solche Feststellungen sind ein Hinweis auf das viele Jahrhunderte dauernde Nebeneinanderleben beider Sprachen. Es wäre äußerst interessant, wenn auch über die regionale Verteilung dieser fränkischen Elemente etwas näheres gesagt werden könnte. Leider ist in diesem Funkte die Forschung noch im Rückstand. Immerhin läßt sich feststellen, daß die fränkischen Wörter, die nicht ihrer Bedeutung wegen leicht wandern (wie z. B. die Namen neuer Kleidungsstücke oder die Terminologie der Feudalverfassung, die auch nach Südfrankreich weitergegeben werden, so cotte, fief, u. a.), die Loiregrenze nicht oder nur unwesentlich überschreiten. Den nördlich der Loire gelege-

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nen Raum füllen sie nicht immer ganz aus; aber darüber hinaus stoßen sie nicht nach Süden vor. Manche bedecken ganz Nordfrankreich, halten sich aber genau an diese Grenze, so honx, osier, autte, houe, clanche. Wenn wir den Geltungsbereich dieser Wörter auf die Karte eintragen, so stellen wir eine überraschend genaue Übereinstimmung mit der Südgrenze des Frankenreiches

Galloromanischen

zwischen 486 und 507 fest (s. Karte i) 1 . Diese Feststellungen schon legen den Schluß nahe, daß die Franken in großer Zahl ihren König begleitet und daß sie sich in den durch den Sieg über Syagrius erworbenen Gebieten häuslich niedergelassen haben. Damit haben sie sich aber als Siedler im wesentlichen zufrieden gegeben und haben sich nach der Schlacht von Vouille weiter 1

Zuerst von Jud im Archiv für das Studium der neuern Sprachen 1 2 1 , 7 8

nachgewiesen.

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südlich mit der Sicherung der politischen Herrschaft begnügt. Das sind die Schlüsse, die wir rein aus der Lagerung der fränkischen Wörter ziehen würden. Doch, der fränkische Einfluß hat noch sehr viel tiefer eingegriffen. Einige Wortgrenzen machen natürlich noch lange nicht eine Sprachgrenze aus. Aber wenn wir die genannten Wortgrenzen mit der Linie vergleichen, an der sich in der ältesten erreichbaren Zeit, etwa im Ii. Jahrhundert, das Provenzalische und das Französische voneinander scheiden, so zeigt sich vom Meer bis etwa zum Bourbonnais eine fast vollständige Übereinstimmung. Nur im Osten weicht die Linienführung ab: die Bourgogne und die Franche-Comté liegen südlich der Wortgrenze, aber ihre Mundarten sind zweifellos französischen Gepräges. Diese auffallende Übereinstimmung hat mich um 1930 veranlaßt, den Gründen nachzugehen, welche die Spaltung des Galloromanischen in zwei Sprachen, das Französische und das Provenzalische, oder wie man im Mittelalter sagte, die langue d'oïl und die langue d'oc, verursacht haben. Es ist unmöglich, und wohl auch unnötig, hier den Nachweis nochmals zu führen. Es sei nur an eine der wichtigsten Differenzierungserscheinungen zwischen den beiden Sprachen erinnert: im Norden werden die Tonvokale verschieden behandelt, je nachdem sie in offener oder aber in geschlossener Silbe stehen:

cantar cor mei flor mes

provenz.

franz.

part cors pert jorn mette

chanter euer, cœur miel flour, fleur meis, mois

Die mittlere Kolonne enthält für jeden affizierten Vokal je ein Wort mit geschlossener Silbe; in diesem Falle lautet die Form in beiden Sprachen gleich. Demgegenüber enthalten die beiden äußern Kolonnen je ein Beispiel für die offene Silbe; das Resultat

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ist verschieden: das Provenzalische hat den Vokal in seiner lateinischen Lautung bewahrt, das Französische hat ihn gebrochen. Ich glaube, in meinem Aufsatz „Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume" (Zeitschrift für Roman. Phil. 56) nachgewiesen zu haben, daß diese Brechung auf einer überstarken Längung der betreffenden Vokale beruht und meine in dem genannten Aufsatz vorgetragene Erklärung, daß die Abstufung der Intensität mit der Intensität der germanischen Siedlung im Zusammenhang steht, ist bisher durch die Diskussion nicht ernstlich erschüttert worden. Diese Längung tritt überall dort ein, wo die Germanen sich zahlreich niedergelassen haben; sie zeigt aber sehr verschiedene Intensität: in Oberitalien z. B. sind je nach der Gegend zwischen drei und fünf Vokale davon ergriffen worden. Die germanische Sprechweise hat also tief in das Romanische Nordfrankreichs hineingewirkt, hat dessen Lautsystem fundamental umgeformt. Eine derartige „Germanisierung" der romanischen Laute ist nur denkbar, wenn eben eine numerisch starke fränkische Bevölkerungsschicht bei ihrem allmählichen Übergang zum Romanischen die Artikulationsweise ihrer bisherigen, germanischen Sprache beibehalten hat. Die hier geschilderte Gemeinsamkeit der Entwicklung des Vokalismus, die in einem ersten Stadium die germanische Längen auf das Romanische übertragen hat, ist nun nicht die einzige Auswirkung der Symbiose der beiden Sprachen im 5.-9. Jahrhundert. Die oben zusammengestellten Beispiele zeigen, daß für mehrere Vokale aus dieser Längimg schließlich eine Diphthongierung hervorging (g $ g p). Diese Diphthongierung finden wir auch im Althochdeutschen wieder, und zwar für £ und gl sie ist dort sogar eines der wichtigsten Merkmale, die diese Sprache vom Niederdeutschen scheiden. In zwei Aufsätzen hat nur Frings nachgewiesen, daß diese charakteristische Diphthongierung des Althochdeutschen aus dem zweisprachigen Nordfrankreich nach Deutschland gelangt ist. Sie ist also innerhalb des Galloromanischen Nordfrankreichs als Folge der Längung entstanden und hat sodann auf das Fränkische übergegriffen (Bei-

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träge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 63, und Zeitschrift fur romanische Philologie 59). „Das Germanische griff mit seinen Längen in das Romanische ein, das Romanische griff mit Diphthongen in das Germanische zurück." So ist für beide Sprachen das Zusammenleben in Nordfrankreich bedeutsam geworden. Das Gebiet von Genf—Waadt—Savoien—Lyon—St. EtienneGrenoble verlangt eine kurze Sonderbetrachtung. Es ist das Gebiet, das die Dialektologen Frankoprovenzalisch nennen, weil seine Mundarten zwar meist sich dem Französischen anschließen, gewisse Eigenheiten aber doch mit dem Provenzalischen teilen (z. B. bleibt das betonte a erhalten : es heißt dort pra wie im Provenzalischen, nicht pré wie im Französischen). S. die Ausdehnung des Frankoprovenzalischen auf Karte 2. Die Erfahrungen, die wir mit den Franken gemacht haben, veranlassen uns, dieses Mundartgebiet mit ausgeprägtem Sondercharakter ähnlich zu beleuchten wie das Französische. Das Gebiet stimmt genau überein mit dem Territorium, das die Burgunder bei ihrer Ankunft, 443, und sodann bei ihrem ersten Vorstoß westwärts, 457, besetzt haben. Und wie bei den Franken stimmt auch hier der lexikalische Befund mit dem lautlichen überein. Zwar sind nicht so viele Wörter burgundischen Ursprungs in jenen Mundarten nachgewiesen, wie in dem von den Franken besetzten Gebiet1, aber sie sind geographisch beschränkt auf jene ersten Eroberungen der Burgunder; s. Karte 2. Wie die Franken im alten Westgotenreich nach dessen Eroberung nicht mehr gesiedelt haben, so die Burgunder nicht nördlich und südlich der 457 erreichten Grenzen, trotzdem sie ihre politische Herrschaft noch sehr erweiterten. Innerhalb dieses von den Burgundern kräftig durchsetzten Gebietes aber lassen sich nochNuancen erkennen. In der Gegend, die zuerst besetzt wurde, dem Gebiet zwischen Genfer und 1

Zu den in der Zeitschrift für Roman. Phil. 59, 306 als gesichert zusammengestellten burgundischen Wortrelikten kommen noch einige dazu, die sich mir seither als bürg, ergeben haben. Die Begründung muß ich anderswo geben.

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Neuenburger See, inbegriffen den Kanton Freiburg und das Unterwallis, haben sich die Vokale e und ö anders entwickelt als überall sonst in den romanischen Ländern. Sie haben sich näm-

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lieh, ausgenommen wenn sie vor r standen, so entwickelt, wie wenn im 5./6. Jahrhundert ï resp. « gesprochen worden wäre: es wurde also ausgesprochen ërat fërit, aber mil (statt mël) und lïpore (statt lëporé), und ebenso zwar wie anderswo söror, aber büve (statt böve) und nüvem (statt növem)1. Nun entspricht dies genau den gotisch-burgundischen Lautgesetzen, nach denen e und 0, außer vor r, zu i und u werden. Die Burgunder sprachen also die romanischen Wörter ebenfalls nach ihren Lautgewohnheiten und übertrugen dieselben dort, wo sie zahlreich genug waren, sogar auf die Romanen selber2. Dieser gewaltige Einfluß der Franken, die lange Zeit beide Sprachen verwendeten, auf die Entwicklung des Romanischen in Nordgallien, zeigt sich in allen Teilen der Sprache. Ich hoffe nächstens zeigen zu können, daß auch grundlegende Charakteristika der französischen Syntax darauf beruhen, daß das Romanische durch das Sprachempfinden der Franken weitgehend umgeformt worden ist. Ortsnamen Bei den Ortsnamen müssen wir verschiedene Gruppen unterscheiden, die für das uns beschäftigende Problem von sehr ungleichem Wert sind. I. Es gibt, durch ganz Frankreich verbreitet, Ortsnamen, die mit den Namen germanischer Volksstämme oder auch anderer durch die Völkerwanderung auf die Oberfläche geworfener Horden gebildet sind, so Allemagne, Alleman, Marmagne, Gueux, Sarmaise, Alagne, Bourgogne, Francs. Diese kommen, so verlockend sie sich ausnehmen, für unsere Frage nicht in Betracht. Wohl verraten sie die Anwesenheit von Alemannen, Markomannen, Goten, Sarmaten, Alanen, Burgundern, Franken. Aber in Daher bao (aus böve) wie kaodo (aus cübitu), gegen mœr (aus mörit) und ebenso laevra (aus Uporem) wie nae (aus nlveni), gegen yè (aus hin). 1

2 Die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen dem ostgermanischen und dem westschweizerischen Lautwandel verdanken wir J. U . Hubschmied, s. Premier Congrès International de Toponymie et d'Anthroponymie, Paris 1938, S. 154.

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der Regel sind es Namen von Laetensiedlungen, d. h. von Siedlungen, die, lange vor dem Einbruch der Franken usw., germanischen Kolonnen angewiesen wurden. So ist es charakteristisch, daß der Name Francs nur außerhalb der Grenzen des fränkischen Gebietes von 500 vorkommt. Diese Namen besagen also nichts für die Siedlung, die sich an den Einbruch der germanischen Völker als Eroberer anschließt. 2. Andere Ortsnamen sind mit Substantiven fränkischen Ursprungs gebildet. Diese beweisen aber für die Zeit der Landnahme wiederum nichts, wenn sie im Französischen auch als Substantive weiterleben. Ein Name wie Heirate kann auch heute noch gebildet werden, weil das Substantiv heirate „Buchenwald" und auch sein Simplex hêtre noch leben. Hingegen ist etwa -bais in Gldbais ein wertvoller Hinweis auf frühe Anwesenheit der Franken, da ein Substantiv bais weder im Alt- noch im Neufranzösischen je bestanden hat. Sie sind auch ursprünglich Gewässer- und Flurnamen, und sind erst nach einer gewissen Zeit auf Siedlungen übertragen worden. Glabais, Marbay, Roubaix usw. entsprechen den deutschen Gladbach, Marbach, Roßbach. Sie sind gebildet mit baki, der Entsprechung des deutschen Bach. Ihre Verbreitung kann man aus der Karte in Zeitschrift für Roman. Phil. 59, 291 ersehen. Sie sind aber sehr wenig zahlreich; man hat deren 33 gezählt. Jedenfalls belegen sie keineswegs eine Siedlung größern Stils. 3. Bei den eigentlichen Siedlungsnamen haben wir verschiedene Kategorien zu unterscheiden: a) Die Namen, die mit dem gallorömischen Suffix -iacum, angehängt an einen germanischen Personennamen, gebildet sind: Charly, aus Carolus + -iacum. Diese über ganz Nordfrankreich verbreitete Bildung ist dem Typus Sabimacum (woraus Savigny) nachgebildet. b) Die Ortsnamen, die dem deutschen -ingen entsprechen, Typus Beringen, woraus Bérens. Für dieses Suffix haben sich im Galloromanischen zwei lautliche Varianten herausgebildet, -ens und -anges. v. Wartburg, Bedeutung d. germ. Siedlung

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c) Sehr viele Ortsnamen sind mit einem germanischen Personennamen und nachgestelltem court, ville oder villier gebildet: Vendlincourt, Ermenotiville, Glovelier. d) Die gleichen Elemente wie bei c kommen auch in der umgekehrten Reihenfolge vor: Courrendlin. Dieser letzte Typus schaltet für die Frage der germanischen Ortsnamen von vornherein aus. Cour Rendlitt ist vom syntaktischen Standpunkt aus romanisch gebaut, ähnlich wie altfranzösisch la maison le rot, neufranzösich la maison du roi. Die germanische Syntax würde Rendlincourt verlangen, ähnlich wie das Dorf auch wirklich auf Deutsch Rennendorf heißt. Schon vom 6. Jahrhundert an benennen sich bekanntlich auch die Romanen mit germanischen Personennamen, so daß diese kein Zeugnis mehr für die völkische Zugehörigkeit des Mannes bedeuten. Der Typus c ist oft Gegenstand von Interpretationsversuchen gewesen. Das Problem ist deswegen so komplex, weil diese Ortsnamen nicht an der heutigen Sprachgrenze aufhören, sondern auf deutschem Boden ihre Fortsetzung finden: Rupperswil, Rapoltsweiler, Badenweiler usw. Sie finden sich hier besonders im Elsaß, in Baden, Württemberg und der Schweiz. Bis vor einigen Jahren pflegte man für diese Namen auf deutschem Boden die von Behaghel herausgearbeitete Entstehungstheorie zu vertreten, während man auf französischem Boden der Ansicht von Schiber beipflichtete. Behaghel behauptete, die Weilernamen fanden sich im wesentlichen längs der römischen Heerstraßen. Sie seien Veteranensiedlungen, die z. B. Claudii villare geheißen hätten. Beim Einrücken der Franken und Alemannen hätte die verbleibende keltoromanische Bevölkerung den Ortsnamentypus beibehalten, aber den Namen des bisherigen Besitzers durch den des neuen Herrn ersetzt, also aus Claudii villare ein Ruprechtsweiler gemacht. In Frankreich wollte Schiber in den Namen vom Typus Avricourt germanische Herrensiedlungen sehen, mit mehrheitlich romanischer Bevölkerung. Gegen diese genetische Verschiedenheit der gleichen Namen auf den beiden Sprachgebieten zeugt vorerst der geographische Zusammenhang derselben über

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die Sprachgrenze hinweg. Auf deutschem Gebiet hat man auch die Beobachtung gemacht, daß die wil- und zo«7er-Namen besonders dort sich finden, wo zur Völkerwanderungszeit keine

oder wenig Ortschaften bestanden: im Elsaß liegen sie nicht in der Fruchtebene draußen, sondern am Rand der Vogesen; und die analoge Beobachtung kann man z. B. im solothurnischen 2*

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Bucheggberg und im Wasseramt machen: während in der Fruchtebene Ortsnamen auf -ingen vorherrschen (Leitzingen, Lüßlingen, Derendingen, Deitingen, Subingen usw.), herrschen im mehr bewaldeten Hügelgelände Namen auf -wil vor (Schnottwil Biezwil, Lüterswil, Horriwil usw.) Auch in der Champagne hat man beobachtet, daß die Namen auf -ville und -court besonders in Gebieten vorkommen, die erst spät der Kultur erschlossen worden sind. Gegen Behaghels Ansicht spricht auch die Tatsache, daß die Weilernamen bis weit östlich Würzburg vorkommen, also weit über den Limes hinausgreifen. Wenn nun das Auge sich nicht durch die Sprachgrenze aufhalten läßt, sondern das deutsche und das französische weiler- und cowri-Gebiet in einem Blick zusammenfaßt, so erkennt man eine weitgehende Übereinstimmung mit dem Gebiet des Frankenreiches im 6. bis 7. Jahrhundert, soweit es von Alemannen und Franken durchsetzt oder besiedelt war. Keine finden sich hingegen z. B. bei den Bayern. S. Karte 3. Diese Ortsnamen sind also nicht in der Zeit der Landnahme entstanden, sondern in der Zeit, da die schon seßhaft gewordene Bevölkerung aus den Wäldern und Wüstungen neues Land für Siedlungen zu gewinnen suchte, in der Zeit des Ausbaus, also etwa vom Ende des 6. Jahrhunderts bis gegen 700. Für das uns jetzt beschäftigende Problem der fränkischen Landnahme fallen also auch diese Namen außer Betracht. So bleibt als einziges sicheres Zeugnis der Ortsnamentypus -ingen: Das -»g-Suffix bezeichnet ursprünglich Zuordnung von Lebendigem, z. B. viktng zu vik „Bucht", gotisch gardingus „Palastbeamter" zu gards „Haus", sodann besonders die Zugehörigkeit, sei es Sippe oder Dorfgemeinschaft, die sich nach einem Führer benennt. Z. B. Beringen-Leute des Bero. Auf jeden Fall ist dieser Typus in beiden Elementen germanisch, gibt uns also einen sicheren Hinweis auf germanische Siedlung. Auf der Karte 4 sind die beiden Namensformen -anges und -ens durch verschiedene Schrafiur auseinandergehalten. Die erstere Form geht auf ein germanisches -ingas zurück, es ist die fränkische Form; die zweite repräsentiert ein germanisches -ingos.

Umfang und Bedeutung der germanischen Siedlung in Nordgallien 2 1



vereinzelte Ortsnamen auf-ans.-ens

— S ü d g r e m e der court-Namen

w \ v Ortsnamen auf -ange -enge

4. Die germanischen Ortsnamen auf

-ttigas, -ingos und auf -curtts (-villa,

-villare) in Nordgallien

Die Namen vom Typus -anges sind ganz eigentümlich gelagert. Sie sind in Randlage: ein schmaler Streifen im nördlichen Grenzgebiet, versprengte Reste im Westen und Südwesten, sowie im nordwestlichen Teil des alten Burgunderreiches. Diese sind besonders auffallend, weil sie in größerer Zahl nur in dem Gebiet vorkommen, von dem wir erkannt haben, daß es zwar

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politisch zum Burgunderreich geschlagen worden war, aber nicht wesentlich von der burgundischen Siedlung erreicht wurde. Die Karte zwingt zum Schluß, daß hier die Franken nach der Einverleibung des Burgunderreiches noch in ziemlicher Zahl in das von den Germanen noch wenig berührte Gebiet eingedrungen sind. So haben sie offenbar auch noch den Nordrand des Westgotenreiches mit einigen Siedlungen besetzt. Es bleibt aber diese seltsame Lagerung der -anges-Orte: ein Süd- und Westrand mit spärlichen Formen, ein Nordrand mit recht vielen Namen, so z. B. um Metz die zahlreichen Tressange, Nilvanges, Lommeranges, Habudanges, Guermanges usw., dazwischen gähnende Leere. Diese Leere wirkt wie ein Fragezeichen. Die Antwort liegt in den Namen auf -court, -ville, -villiers. Diese Namen füllen nämlich im wesentlichen den Zwischenraum zwischen den beiden Rändern. S. die Karte 4, auf der die Südgrenze der Namen auf -court eingezeichnet ist. Diese Namen sind meist recht dicht: im Norden werden sie weniger zahlreich, sobald wir in das Gebiet der Namen auf -ange kommen. Nun erinnern wir uns, daß -ange die ältern, -court die jüngern Namen sind. Namen auf -ange konnten nur von einer fränkischen Bevölkerung gebildet werden. Die -court und -villeNamen können aber auch durch Umschmelzung eines ältern -ange-Namens entstanden sein. Umbenennung kann nur dort eintreten, wo vorübergehend oder auch längere Zeit zwei Namen bestanden haben. Sie setzt eine Bevölkerung voraus, die aus Angehörigen zweier Sprachen gemischt ist. So haben wir heute noch längs der Sprachgrenze, von Lothringen bis zur Schweiz, für viele Orte zwei Namen, vgl. etwa Rechicourt-Rixingen, EvilardLeubringen. Die starke lautliche und zum Teil auch morphologische Differenzierung der Formen zeigt, daß die Doppelbenennung sehr alt ist. In der Tat ist Richicourt 770 als Rehensaldocurtis, Rixingen 991 als Ruodgisingen belegt. Oder vgl. für die gleiche Ortschaft 777 Vecturningas, 787 Vecturneiacurte, heute Vertignecourt. Dabei ist bemerkenswert, daß nicht nur -court und -dorf als gleichwertig erkannt oder empfunden und gegen-

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einander ausgetauscht werden, sondern auch das germanische Suffix gegen das galloromanische (-ingen gegen -iacum, Füllingen—Fouligny), oder das Suffix der einen Sprache gegen das Substantiv der andern (Evilard—Leubringen; Gelucourt—Giselfingeri). Wenn wir uns nun an das erinnern, was wir oben über das Weiterleben der fränkischen Sprache in Nordgallien aussagen konnten, so werden uns im Lichte der Doppelnamen an der Sprachgrenze auch die Verhältnisse in Nordfrankreich klar. Es müssen in der ersten Zeit der Landnahme fränkische Namen auf -ingas über das ganze Land bis in die Loiregegend entstanden sein, so daß das heutige nördliche -m^e«-Gebiet mit dem südlichen trümmerhaften Streifen zusammenhing. In einer zweiten Phase setzte der romanische Teil der Bevölkerung diese Namen ins Romanische um. Sie setzte an Stelle von -ingas das Suffix -iacum oder die Substantive court, ville, villier. Nun lebten eine Zeitlang beide Namensformen nebeneinander, solange wie eben das Land oder die Gegend zweisprachig war. Als aber allmählich die Franken der Romanisierung anheimfielen, gerieten auch ihre Ortsnamenformen in Vergessenheit. Dieser Prozeß der Romanisierung hat natürlich viele Ansatzpunkte gehabt; am stärksten mag Paris, das Zentrum des Merowingerreiches, gewirkt haben. Im Norden, wo die germanische Bevölkerung besonders kräftig vertreten war, haben sich ihre Ortsnamenformen zum großen Teil gehalten und sind so mit dem germanischen Suffix in seiner nach romanischen Lautgesetzen entwickelten Form auf uns gekommen. Zwischen dieser Erklärung der Zone mit den Namen auf -court und auf -ville und dem, was oben über die gleichen Namen gesagt worden ist, daß sie nämlich Neugründungen der Ausbauzeit (etwa 550—750) bezeichnen, scheint vielleicht ein Widerspruch zu bestehen. Doch die beiden Vorgänge gehören in die gleiche Periode hinein, in die Zeit des konsolidierten Merowingerreiches. In dieser Zeit sind die Ortsnamenbildungen mit einem Personennamen + ville oder court die große Mode, ob nun der Hof oder der Weiler neugegründet wird oder ob in einem schon bestehenden germanischen Namen das Suffix -ingen im

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• o

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Ortsnamen auf-ans,-ens '//// Ortsnamen auf -ingenfnadt Heiboit Ortsnamen auf -ange(s)-enge® Grundlagen usw., Käme « ) deutecti-französiscfte Soracligrenze 5. Die Kamen auf -ingos im Burgunderreich

Munde der romanischen Bewohner gegen ein ville oder court vertauscht wird. Was im vorstehenden über die -w#ew-Namen gesagt worden ist, betrifft nur den romanischen Typus -atiges. Es bleiben die

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Namen auf -ans, -ens, wie Attalem. Sie dehnen sich, wie die Karte 5 erkennen läßt, in großer Dichte vor allem über zwei Gebiete: die heutige Westschweiz zwischen den beiden großen Seen, inklusive das freiburgische Mittelland (Orsonnens, Massonnens, usw.), sowie, jenseits des Jura, fast in der ganzen Franche-Comté (ausgenommen den nördlichsten Teil des heutigen Dep. Haute-Saône, also die Gegend von Luxeuil, sowie den Nordzipfel des Dep. Jura, nördlich von Dôle, wo sich eine kompakte Gruppe von Namen auf -anges, wie Auxange, Offlanges, Audelange, einschiebt1. Zur selben Zone gehört auch noch die unmittelbar anschließende Gruppe von Namen auf -ens in der Gegend zwischen Louhans, Verdun und Chalon (Mervcms, Fretterans, Epervans usw.). Sodann klafft eine breite Lücke, und die -ews-Namen setzen erst wieder im südwestlichen Teil der Bresse Bressane ein: Farleins, Flamarens, Baneins, Barsenens usw. östlich und südlich von dieser letzten dicht geschlossenen Gruppe finden sich dann noch eine ziemliche Anzahl zerstreuter -ews-Namen : Airans und Boens (in der Nähe von Bellegarde), Agnens (bei Belley), etwa zehn Namen im heutigen Dep. HauteSavoie (z. B. Assereins und Blecheins bei St. Julien, Gemoëns bei Sallanches), ein halbes Dutzend im Dep. Savoie (z. B. Tessens, Randens), etwa acht im Dep. Isère (Feyzin, Brezins), und endlich ganz abgesprengt, Bérerts und Les Amanins südöstlich von Valence. Diese Namen werden von gewissen Forschern, wie Perrenot und Dauzat, in ihrer Gesamtheit den Burgundern zugeschrieben. Die Unmöglichkeit dieser Auffassung hat Ferdinand'Lot (Bibliothèque de l'Ecole des Chartes 1931, S. 414) nachgewiesen. In der Tat wird sie auch durch die sprachlichen Tatsachen höchst unwahrscheinlich gemacht (s. oben). Seiner1 Der Gau, der diese Gruppe umschließt, wird im Mittelalter Amous genannt. Dieser Name repräsentiert den Namen des fränkischen Stammes der Chamavi, die zu einer nicht näher bestimmbaren Zeit, wahrscheinlich lange vor Chlodwig, dort angesiedelt wurden. Muret, Revue de Linguistique romane 4, 217 führt sicher diese -an^es-Namen mit Recht auf diesen Stamm zurück.

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seits faßt Ferd. Lot diese Namen als Auswirkung und Zeugnis einer ausgedehnten alemannischen Siedlungstätigkeit auf. Bekanntlich sind die Alemannen in die beiden Hauptgebiete der -ews-Namen vorgeprellt, in die heutige Franche-Comté und in die Westschweiz. Aber man kann die Vorstöße in diese beiden Länder nicht ohne weiteres einander gleichsetzen. Sie haben zu sehr verschiedenen Zeiten stattgefunden, und nichts beweist, daß sie den gleichen Charakter gehabt haben. Der Vorstoß in die Gaue östlich der Saône und beiderseits des Doubs erfolgte im Anschluß an die Besetzung des Elsaß, etwa um 460, in der Zeit, da die Alemannen in Massen nach neuen Siedlungsplätzen suchten. Um etwa 480 wurden sie hier von den Burgundern geschlagen; aber nichts sagt uns, daß die Alemannen auch als Siedler das Land räumen mußten, so wenig wie etwa der Sieg der Franken über sie bedeutet hätte., daß sie ihre Sitze im Elsaß und im alten Helvetien hätten vor fränkischen Siedlern räumen müssen. Der alemannische Siedlungsraum war nun einfach aufgeteilt zwischen das Franken- und das Burgunderreich. Der Vorstoß in das Burgunderreich östlich des Jura aber erfolgte erst im folgenden Jahrhundert. Er wird vor allem erschlossen aus dem allmählichen Zurückweichen des burgundischen Bischofs von Windisch über Avenches nach Lausanne (S. P. E. Martin, Etudes critiques sur la Suisse à l'époque mérovingienne, 1910; M. Beck, Die Schweiz im politischen Kräftespiel des merowingischen, karolingischen und ottonischen Reiches, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Bd. 50, 249—300). Daß die Alemannen damals ihren Siedlungsraum nach Westen gedehnt haben, ist sicher. Aber nichts erlaubt anzunehmen, daß sie als Siedler bis in die Waadt vorgedrungen wären. Ein anderes sind natürlich Raubzüge, wie sie sie gerade in der Mitte des 6. Jahrhunderts bekanntlich nach Italien unternommen haben. Vor allem übersieht Ferd. Lot, daß die -ews-Namen sich bis nach Savoyen und in die Dauphiné erstrecken, wo kaum jemand eine entsprechende alemannische Siedlung wird annehmen wollen. Bei unsern Betrachtungen über die -wil- und -wiler-Namen haben wir gesehen,

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wie notwendig es war, daß wir uns von der heutigen Sprachgrenze emanzipiert haben. Das trifft ebenso, wenn nicht noch mehr zu für die Namen auf -ingen. Es sind ja rein germanische Namen, und wir werden sie nie richtig interpretieren können, wenn wir sie aus dem innergermanischen Zusammenhang herausreißen. Diese -/«gew-Namen nun erstrecken sich auf heute deutschem Boden von der Sprachgrenze an (Grellingen, Binningen, Pasing) in ununterbrochener Fülle durch ganz Süddeutschland (Breisgau, Württemberg, Donauländer) bis nach Wien. Wenn wir sie in der Zeit um 500 bis etwa 600 zurückprojizieren, so lassen sie eine germanische Bevölkerung erkennen, die auf zusammenhängendem Gebiet von den östlichsten Bajuvaren bis an den Westrand der Franche-Comté und in die Gegend von Grenoble sitzt. Im Osten und bis ans Rheinknie ist diese germanische Bevölkerung allein oder wenigstens in unbestrittener Überzahl. Im westlichen Abschnitt hingegen hat sie sich auf eine romanische Bevölkerung gesetzt, mit der sie zusammenleben muß. Wenn wir von den Bajuvaren absehen, so gehören diese Namen dem Raum der Burgunder und dem der Alemannen an. Daß sie nicht alle burgundisch sein können, versteht sich von selbst; sie können aber auch nicht alle alemannisch sein, da sie sich bis nach Lyon und Grenoble dehnen. Bei den Bemühungen, eine Demarkationslinie zwischen den beiden germanischen Völkern zu ziehen, hat man sich bisher immer durch die heutige Sprachgrenze faszinieren lassen. Macht man sich davon frei, so ergibt sich ganz natürlich die Lösung, daß die -aws-Namen in der Franche-Comté alemannischen, in den übrigen Gebieten aber burgundischen Ursprungs sind. Nur diese Interpretation der Ortsnamenkarte steht im Einklang mit den andern Gegebenheiten, so mit der so scharf umrissenen Begrenzung des sprachlichen Einflusses der Burgunder, dann aber auch mit der Tatsache, daß in der Franche-Comté die auf die Burgunder weisenden Bodenfunde im Norden, gerade dort, wo die -aras-Namen am meisten massiert auftreten, fast fehlen. In der Schweiz aber gehen die burgundischen Bodenfunde weit über

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das Gebiet der -em-Namen hinaus, was für Kulturdokumente' die von einem verhältnismäßig so hochstehendem Volk kommen, nur natürlich ist. So sind die Burgunderfunde der FrancheComté, wenn man sie neben die alemannischen -aw-Namen hält, ein getreues Abbild der Verhältnisse des 6. Jahrhunderts in diesem Lande: die Burgunder erscheinen als das politisch herrschende und kulturell überlegene Volk, die Alemannen als die eigentlichen Siedler unter dem germanischen Bevölkerungsanteil. Zu dieser Interpretation paßt auch vorzüglich, daß die Namen um so dichter werden, je mehr man nach Nordosten kommt. Wir kennen übrigens sogar die Namen zweier kleiner Stämme, die sich in der Franche-Comté niedergelassen hatten und die sicher nicht zu den Burgundern gehörten, sondern wahrscheinlich zu den Alemannen, der zweite vielleicht eher ein versprengter Trupp Bajuvaren war. Es waren die Warasci in der Gegend von Besançon und die Scotingi um Lons-le-Saulnier (s. auch Ferd. Lot, Les Invasions germaniques S. 175). Eine willkommene Bestätigung wäre es gewssen, wenn man in den heutigen Mundarten der Franche-Comté auch altalemannische Wörter hätte nachweisen können, ähnlich den burgundischen im altburgundischen Raum. Das scheint nun allerdings recht schwierig zu sein, wohl auch weil das Gebiet sowieso klein ist. Ein einziges Wort glaube ich bisher als altalemannisch nachgewiesen zu haben: maon „gésier des oiseaux", aus mago „Magen" (s. Festschrift J. Jud, 335). Eine Frage für sich ist das Verhältnis der salischen und der ripuarischen Franken zueinander. Die sprachliche Scheidung dieser beiden Stämme ist von germanischer Seite um 1900 versucht worden, doch mit negativem Ergebnis. Nim hat Gamillscheg in seinen Büchern versucht, auf französischem Boden zu erreichen, was auf deutschem nicht gelungen war. Er glaubt, mit Hilfe der Ortsnamen innerhalb des fränkischen Siedlungsgebietes in Nordgallien Salier und Ripuarier deutlich unterscheiden und ihre Räume gegeneinander abgrenzen zu können, ja, er glaubt sogar nachweisen zu können, daß die Ripuarier

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allein einen spätem Siedlungsvorstoß in die Gebiete südlich der Seinelinie unternommen hätten, während die Salier damals stillegesessen hätten. Daß die von Gamillscheg für diese Auffassung vorgebrachten Argumente unhaltbar sind, habe ich in der Zeitschrift für romanische Philologie 59, 288—295 nachgewiesen. Diese Widerlegung hier zu wiederholen, ist wohl nicht nötig. Eine Ausscheidung der Salier und Ripuarier auf französischem Boden ist also, wenigstens nach dem heutigen Stand der Forschung, nicht nachweisbar. Eine weitere These, die Gamillscheg aus dem Studium der Ortsnamen zieht, betrifft die spätere Nachwanderung von germanischen Elementen nach Nordfrankreich. Er meint auch, daß nur dort, wo diese Wanderung sich stark ausgewirkt habe, germanisches Volkstum vorübergehend ganz über das romanische habe siegen können. Auch diese These hält nicht Stich, vgl. 1. c. S. 295—298. Wenigstens nicht in dieser überspitzten Form, wenn auch die spätere Zuwanderung von germanischen Elementen sicher ist. Ausgrabungen Franz Petri (Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich, Bonn 1937) hat in einer Gesamtschau die fränkischen Bodenfunde der Landnahmezeit (5. bis 6. Jahrh.) zusammengestellt, die man bisher ergraben hat. Er kann zeigen, daß diese ihre größte Dichtigkeit nicht im germanisch gebliebenen Gebiet haben, noch in der Nähe der heutigen Sprachgrenze, sondern weiter südlich, etwa in den Gegenden, die heute die Departements Aisne, Oise, Meuse ausmachen. Aus dieser merkwürdigen Verteilung möchte er den Schluß ziehen, daß die Franken zu Chlodwigs Zeit mit ihrer Hauptkraft nach Gallien eingerückt sind und ihre alten Sitze fast menschenleer zurückgelassen haben. Steinbach und er1 haben die Auffassung entwickelt, daß nicht S. zu den Forschungen von Steinbach und Petri zuletzt die Schrift „Zur Grundlegung der europäischen Einheit durch die Franken", in der man alle wesentlichen Gesichtspunkte der beiden rheinischen Forscher finden wird, 1

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nur das heutige französische Sprachgebiet zweisprachig gewesen sein müsse, sondern die ganzen Länder zwischen Rhein und Loire, also auch die Rheinlande. Die heutige Sprachgrenze wäre also überhaupt erst ein Produkt der sekundären Auseinandersetzung; sie hätte sich um 500 noch in keiner Weise abgezeichnet. Das äußerst schwierige Problem, von dessen Beurteilung zum großen Teil auch die Frage der Entstehung der deutsch-französischen Sprachgrenze abhängt, kann man, wenn man es sehr vereinfacht, folgendermaßen umschreiben: Die meisten Historiker haben bisher angenommen, eine Linie, die, wenn auch nicht ganz genau, so doch im ungefähren Verlauf der heutigen Sprachgrenze entspricht, habe schon seit Chlodwig bestanden und habe schon damals zwei Sprachgebiete geschieden, wenn auch im Westen ein paar isolierte Adlige und Krieger noch germanisch sprachen. Auf Grund unserer sprachlichen und toponomastischen Analyse haben wir festgestellt, daß diese Ansicht für das Land westlich dieser Linie falsch war. Wir sind zu der Vorstellung gelangt, daß diese Linie, längs der heute die Sprachgrenze verläuft, damals nicht zwei Sprachgebiete trennte, sondern höchstens einen germanisch sprechenden Osten (resp. Norden) von einem gemischt-sprachigen Westen (resp. Süden), der bis zur zugleich mit der Diskussion der Einwände, die gegen sie vorgebracht worden sind. — Ein seltsamer Parallelismus hat es gefügt, daß ich mich in den gleichen Jahren, wie Steinbach, diesem Problem von der sprachlichen Seite her genähert habe. Das hat dazu geführt, daß manche gemeint haben, ich sei von den Forschungen Steinbachs angeregt worden, so noch zuletzt Ganshof in der Revue beige de Philologie et d'Histoire 1943, 285. Wenn ich auf die Feststellung Wert lege, daß ich ganz unabhängig von Steinbach an das Problem herangetreten bin und von seinen Forschungen erst Kenntnis erhielt, als meine Anschauung schon völlig geklärt war — ich habe im April 1932 schon zum erstenmal, am Romanistenkongreß zu Rom, darüber gesprochen — so ist es nicht wegen uninteressanter Prioritätsfragen, sondern weil es den Forschungen zweier Gelehrter ein anderes Gewicht verleiht, wenn sie sich erst am Ziele getroffen haben, als wenn der eine den Spuren des andern gefolgt wäre.

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Loire reichte, und daß dieser Zustand mehrere Jahrhunderte lang gedauert hat. Steinbach und Petri aber dehnen diese Ansicht von der Gemischtsprachigkeit auch auf das Gebiet östlich und nördlich dieser Linie aus. Die Grenzlinie habe damals weder im Sinne der früheren Historiker bestanden^ noch in dem Sinne, der sich aus den Forschungen des Romanisten ergeben hat. Sie sei vielmehr erst das Produkt eines Ausscheidungsprozesses, der bis in die Zeit Karls des Großen gedauert haben soll. Von den Ergebnissen der romanischen Sprachwissenschaft aus läßt sich kaum zwischen der Auffassung des Romanisten und derjenigen von Steinbach—Petri entscheiden. Hier müssen noch weitere Abklärungen, vor allem durch weitere Grabungen, erfolgen. Wenn wir versuchen, aus dem sprachlichen Befund und den daran anknüpfenden Überlegungen, in Verbindung mit den übrigen Dokumenten historischer Natur, zusammenzustellen, was wir über die Besiedlung Nordgalliens durch die germanischen Völker zu sagen vermögen, so ergibt sich etwa folgendes Bild: 1. Es ist endgültig vorbei mit der alten Meinung von der fränkischen Reichsgründung durch die einzige Kraft der Persönlichkeit Chlodwigs. Die Erkenntnis, daß große fränkische Volksmassen sich über Nordgallien ergossen haben, läßt sich nicht mehr in Frage stellen. Die Franken haben Chlodwig von Anfang an begleitet, und zwar nicht nur als Krieger, sondern auch als Siedler. Mit dem jugendlichen König hat auch sein ganzes Volk Anteil gehabt an der Weitung des fränkischen Reiches; es hat Nordgallien neu und intensiv besiedelt. Die romanische Bevölkerung wie auch der galloromanische Adel wurden aber von Anbeginn zum Aufbau des neuen Staates mit herangezogen, an dem auch die Kirche den größten Anteil nahm. So standen einer Verschmelzung der Völker geringere Hindernisse entgegen, als in andern Nachfolgeländern des Imperiums. 2. Die Burgunder, die 443 das Land südlich und nördlich des Genfer Sees besetzten, ihr Reich 457 bis Lyon und in den an-

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schließenden Jahrzehnten bis an den Nordrand des SaôneDoubs-Beckens und südlich bis an die Durance dehnten, siedelten mit großer Intensität in ihren ersten Sitzen, etwas weniger dicht, aber immerhin noch mit bedeutender Kraft in den Ländern des zweiten Eroberungszuges. Weiter aber reichte ihre Volkskraft nicht mehr; nur noch die politische Herrschaft vermochten sie sich in den Neuerwerbungen nach Süden, Nordwesten und Norden für etwa ein halbes Jahrhundert zu sichern. Ihre südlichen Eroberungen blieben ziemlich unberührt und haben ihr fast rein romanisches Gepräge erhalten. 3. Die Alemannen, die etwa um 460 die Franche-Comté besetzt hatten, wurden von den Burgundern nicht hinausgeworfen. Sie blieben als Siedler und hatten sich bloß politisch dem burgundischen Reichsverband einzuordnen, ähnlich vielleicht wie ihre Stammesgenossen im Elsaß den fränkischen Herrschern untergeordnet waren. Später vertauschten sie die burgundische mit der fränkischen Herrschaft und verschmolzen, wohl etwa gleichzeitig wie die Franken, mit den Romanen, d. h. sie wurden romanisiert. 4. Der Raum, der ungefähr der heutigen Bourgogne entspricht, zwischen dem alemannischen Siedllingsraum im Osten, dem burgundischen im Südosten, dem fränkischen im Norden, war bei den ersten Vorstößen (457 Burgunder, 460 Alemannen, 486 Franken) noch verhältnismäßig unberührt geblieben. In dieses Vakuum ergoß sich nach der Einverleibung des Burgunderreiches (nach 534) eine ziemliche Zahl von fränkischen Neusiedlern. Das Gebiet der heutigen Franche-Comté erreichte diese allerdings nicht mehr, weil sich dort eben bereits Teile der Alemannen niedergelassen hatten. 5. Während drei bis vier Jahrhunderten leben nun Franken (und auch die andern Germanen) und Romanen nebeneinander. Das Land ist lange Zeit zweisprachig. Ich habe schon früher mich dahin geäußert, daß ich den fränkischen Anteil an der Bevölkerung auf etwa 15 bis 25 Prozent schätzen würde. Aber die

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Franken, von Anfang an in der Minderzahl, werden schließlich von den Romanen aufgesogen und gehen im Laufe vieler Generationen in unmerklichen Etappen zum Romanischen über. Diese Romanisierung vollzieht sich in den verschiedenen Teilen Nordgalliens mit unterschiedlichem Tempo, was sicher bei den später sich zeigenden Gegensätzen zwischen Austrasien und Neustrien mitgespielt hat. Auch die romanisierten Franken behalten sehr vieles von ihrer Sprechweise und ihrem sprachlichen Empfinden in der neuen Sprache bei, besonders da sie sicher einige Generationen lang beide Sprachen nebeneinander redeten, etwa so wie heute fast in allen Tälern RomanischBündens Romanisch und Deutsch nebeneinander gesprochen werden, und zwar seit Jahrhunderten. Die Franken geben dem von ihnen übernommenen Romanisch ein wesentlich anderes Gepräge, als es das Latein in den andern romanischen Ländern, auch in dem benachbarten Südgallien, erhalten hat. Sie schaffen damit die geistig-seelischen Grundlagen zu einer Sonderform romanischen Geistes, einer Sonderform, die sich mit der Zeit völlig selbständig machen und weithin die neue Form Europas bestimmen wird. Diese innige Verschmelzung von romanischer Tradition und neuer germanischer Kraft ist es, die den Norden Galliens zum Zentrum des welthistorischen Geschehens der nächsten, für die Gestaltung des Abendlandes entscheidenden Jahrhunderte gemacht hat. Die Romanisierung der Franken vollzieht sich in den verschiedenen Gegenden des Landes in sehr verschiedenem Tempo. Am raschesten findet sie ihren Abschluß in der Isle-de-France; spät erst werden die nördlichen und nordöstlichen Ränder erreicht. Das Zurückweichen der Hauptstadt nach Osten (Aachen) unter den Karolingern, die selber aus dem Osten stammen, hängt zum Teil zusammen mit einer Reaktion gegen das Romanentum: die allmähliche geographische Ausscheidung der beiden hier zusammenlebenden Völker läßt bei ihnen allmählich auch ein Bewußtsein von ihrer Sonderart entstehen; die Gegensätze zwischen Romanen und Germanen werden nun zu Gegensätzen zwischen den verschiedenen Teilen

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des Reiches. In der Stunde, da die Romanisierung abschließt, ist auch der Moment gekommen für die Spaltung des Reiches in einen deutschen und einen französischen Teil. Die historische Aufgabe des Frankentums ist erfüllt; an seiner Stelle steht endgültig eine Zweiheit da: das Franzosentumund das Deutschtum1.

Eine Bibliographie des Gegenstandes zu geben, würde viel zu weit führen. Außer den im Text erwähnten Studien sehe man die Angaben in meinem Buch „Die Entstehung der romanischen Völker", Halle 1939, und in dem Aufsatz „Die fränkische Siedlung in Nordfrankreich im Spiegel der Ortsnamen", Zeitschrift für romanische Philologie 59, 284—301. 1

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