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German Pages XIII, 356 [356] Year 2020
Penda Maria Bönighausen
Typologie und Analyse von Werbefiguren Die Figur Herr Kaiser als Fallbeispiel
Typologie und Analyse von Werbefiguren
Penda Maria Bönighausen
Typologie und Analyse von Werbefiguren Die Figur Herr Kaiser als Fallbeispiel
Penda Maria Bönighausen Köln, Deutschland Von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommene Dissertation, 2019
ISBN 978-3-658-32331-8 ISBN 978-3-658-32332-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2019 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich all jenen meinen Dank ausdrücken, die mich während des Promotionsprojektes begleitet und unterstützt haben. Allen voran gilt mein besonderer Dank meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Brigitte Weingart, insbesondere für ihre vertrauensvolle Bereitschaft, die interdisziplinär angelegte Arbeit einer externen Doktorandin anzunehmen und eng zu begleiten. Ihre wertvollen Anregungen haben mir stets dabei geholfen, zielgerichtet zu arbeiten und haben mich gleichzeitig ermutigt, neue Perspektiven mit einzubeziehen. Vielen Dank für die produktiven sowie inspirierenden Impulse und die persönlichen Ermutigungen. Mein herzlicher Dank geht auch an Herrn Prof. Dr. Stephan Packard, der diese Arbeit als Zweitbetreuer begleitet hat. Sein konstruktives und präzises Feedback hat erheblich dazu beigetragen, der Arbeit Kontur zu verleihen. Ich möchte mich insbesondere für die methodischen Hilfestellungen und die stets spannenden und lehrreichen Gespräche bedanken. Ihrer beider Betreuung war stets wertschätzend und mit großem wissenschaftlichen Interesse gegenüber meinen Überlegungen und Ausarbeitungen verbunden, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Weiterhin möchte ich mich bei den Teilnehmer_innen der Kolloquien von Frau Prof. Dr. Brigitte Weingart und Herrn Prof. Dr. Stephan Packard für die anregenden Diskussionen bedanken. Ich möchte an dieser Stelle auch den Unternehmen danken, die mir Material zu meinen Untersuchungsgegenständen, den Werbefiguren, zur Verfügung gestellt haben. Ein besonderer Dank muss dabei an die ERGO Group AG und dabei insbesondere an Herrn Markus Holmer, Archivar der ERGO Group AG, gerichtet werden. Die umfangreiche Bereitstellung des Archivmaterials zur Werbefigur Herr Kaiser ist keine Selbstverständlichkeit und war ein großer Gewinn für die Forschungsarbeit. Herrn Holmer gilt mein
VI
Vorwort
aufrichtiger Dank für seine Hilfsbereitschaft, sein Engagement und vor allem für seine große Freundlichkeit, die die Zeit im Archiv stets zu einer sehr erfreulichen gemacht hat. Das Gelingen einer berufsbegleitenden Promotion hängt auch ganz maßgeblich von der Unterstützung des Arbeitgebers ab. Daher gilt mein besonderer Dank Hans Meier-Kortwig und Dr. Saskia Diehl von der GMK Markenberatung GmbH sowie Prof. Dr. Christian Glasmacher, Dr. Stefan Eckert und David Oldfield von der Koelnmesse GmbH für die Flexibilität und das entgegengebrachte Vertrauen. Für die Ermutigungen und die Geduld in den Phasen, in denen ich in die Arbeit versunken war, möchte ich meinen wunderbaren Freunden danken. Die Gespräche mit Dr. Lena Hübner während der parallelen Promotion waren Ventil und Stärkung zugleich – die zeitgleiche Verteidigung unterstreicht auf wundersame Weise unsere Verbundenheit über all die Jahre. Mein Dank gilt zudem meiner Familie für die liebevolle Begleitung auf meinem Lebensweg: Meiner Tante Silvia Ragge für ihre unermüdliche Unterstützung (die Zeugnisessen bleiben unvergessen), meinem Onkel Frank Ragge für seine liebevolle und aufmerksame Art, Gerhard (Tinni) Tinnappel für unzählige gefahrene Kilometer und Stunden auf der Tribüne, meiner Oma Christa Reinhardt für das stete Umsorgen und vor allem meiner Mutter Ilona Bönighausen. Seit meiner Kindheit hat sie ihre Liebe zum geschriebenen Wort mit mir geteilt und mir gezeigt, welch großes Vertrauen sie in mich hat. Schließlich möchte ich meinen innigsten Dank Dir aussprechen, Alex. Dein ehrliches Interesse und Dein unglaublicher Einsatz für mich haben mich befähigt, auch den letzten steinigen Weg der Abgabe und der Promotionsprüfung zu gehen. Dein Glaube an mich und die stete Zuversicht, die Du mir vermittelst, bedeuten mir so viel. Die Promotionszeit war anstrengend und intensiv und doch war sie mit Dir und durch Dich vor allem eine schöne Zeit. Du bist mein Fels in der Brandung. Daher von ganzem Herzen und in Liebe: Danke. Penda Maria Bönighausen
Inhalt
Vorwort ...........................................................................................................................V Abbildungsverzeichnis ................................................................................................. XI A
Einleitung ................................................................................................................. 1
1
Die Werbefigur zwischen ökonomischer Zweckmäßigkeit und medienkultureller Aushandlung .............................................................................................. 3 1.1 Werbende Figuren und Personen – Abgrenzung des Forschungsgegenstands .. 6 1.2 Werbefiguren: Zum interdisziplinären Forschungsstand ................................. 13 1.3 Forschungsvorhaben und Aufbau der Arbeit ................................................... 21 1.4 Anmerkungen zur Archivarbeit ....................................................................... 24 1.4.1 Reflexion der Archivmaterialien .......................................................... 26 1.4.2 Informationen zur Archivquellenangabe .............................................. 27
B
Marken- und werbestrategische Verortung ........................................................ 29
2
Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation .. 31 2.1 Marke und Werbung – Begriffliche Einordnung und Interdependenzen ........ 31 2.2 Semiotische Betrachtung von Marke und Werbung ........................................ 36
3
Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie ... 43 3.1 Die Werbefunktion der Werbefigur ................................................................. 50 3.2 Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung ............................. 57 3.2.1 Anthropomorphisierung der Marke durch die Werbefigur .................. 61 3.2.2 Art der Anthropomorphisierung ........................................................... 66 Fallbeispiel: Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser ............................................................................................................. 71
4
Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser – Spuren der konzeptionellen Arbeit und der diskursiven Verhandlung im Archiv ..................................................................................................................... 73 4.1 Markenstrategische Ausgangsüberlegungen zur Konzeption der Werbefigur Herr Kaiser ...................................................................................................... 76
VIII
Inhalt
4.2 Herr Kaiser als Befürworter und inhaltliches Ebenbild .................................. 87 4.3 Herr Kaiser als emanzipierter Star ................................................................ 104 4.4 Herr Kaiser als formales Ebenbild ................................................................ 113 4.5 Reflexion des Analyseinstrumentariums ....................................................... 123 5
Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien zur Vermenschlichung der Werbefigur Herr Kaiser ............................................... 127
C
Bedeutungsgenerierung und Zirkulation .......................................................... 137
6
Werbefiguren als Symbole .................................................................................. 139
7
Bedeutungsgenerierung als sekundäres semiologisches System ..................... 143
8
Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger: Begünstigungen der medialen und diskursiven Zirkulation der Werbefigur ........................................... 149 8.1 Mediale und textuelle Beweglichkeit ............................................................ 149 8.2 Variationsfähigkeit und diskursive Beweglichkeit ........................................ 153 8.3 Werbefiguren als Bestandteile integrierter Kommunikation ......................... 160 Fallbeispiel: Bedeutungsgenerierung und Zirkulation von Herrn Kaiser ...... 165
9
Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger ................ 167 9.1 Das Zeichenkonstrukt Herr Kaiser – Bedeutungsgenerierung ...................... 168 9.2 Zirkulation im Markenkontext: Herr Kaiser als integrierender Bestandteil der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation ....................................... 176 9.3 Exkurs: Emergenz neuer Medien – „G. Kaiser dabei“ .................................. 180 9.4 Zirkulation außerhalb des Markenkontextes: Herr Kaiser in Werbung und Berichterstattung ............................................................................................ 188 9.4.1 Herr Kaiser als kognitive Irritation .................................................... 190 9.4.2 Herr Kaiser als Möglichkeit zur Verkürzung von Aussagen ............. 192 9.4.3 Herr Kaiser als Symbol für die Old Economy ................................... 195 9.4.4 Herr Kaiser als Medium zur Äußerung von Kritik ............................ 204 9.5 Reflexion der theoretischen Annahmen ......................................................... 208
D
Adressierung und Beziehungsaufbau ............................................................... 211
10 Die Werbefigur als Beziehungsangebot ............................................................. 213 10.1 Exkurs: Anmerkungen zur Rezeption von Werbung ..................................... 217 10.2 Die Adressierungsleistung der Werbefigur im Kontext parasozialer Prozesse ......................................................................................................... 220
Inhalt
IX
10.2.1 Weitere Einflussfaktoren auf die Herausbildung parasozialer Prozesse .............................................................................................. 226 10.2.2 Mögliche sozialpsychologische Effekte parasozialer Prozesse .......... 230 10.3 Direkte und indirekte Adressierung durch die Werbefigur ........................... 234 10.4 Persönliche Bezugnahme durch die Werbefigur ........................................... 239 11 Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur ........................................................................................................... 247 11.1 Adressierungsstrategien der Werbefigur ....................................................... 251 11.1.1 Engaging Story ................................................................................... 253 11.1.2 Engaging Talk .................................................................................... 256 11.1.3 Sales Talk............................................................................................ 258 11.1.4 Hidden Sales Talk ............................................................................... 260 11.2 Anmerkungen zu den identifizierten Adressierungsstrategien ...................... 261 Fallbeispiel: Adressierung und Beziehungsaufbau am Beispiel Herr Kaiser . 265 12 Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser ......................................................................................................... 267 12.1 Verkaufsgespräch und Stellvertretungsszene in der ‚Mehr vom Leben‘Anzeigenserie................................................................................................. 269 12.2 Zwischenbemerkung: Gedanken zur Konkretisierung der (para)sozialen Werbeinteraktion ........................................................................................... 283 12.3 Stellvertretungsdialoge in den Werbespots mit Herrn Kaiser ....................... 289 12.4 Verkaufsgespräche in den Werbespots mit Herrn Kaiser ............................. 296 12.5 Verkaufsgespräche in den redaktionellen Anzeigen mit Herrn Kaiser ......... 303 12.6 Adressierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser – Reflexion des Analyseinstrumentariums ....................................................... 313 13 Anthropomorphisierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser .................................................................................................................... 317 E
Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren .................................................................................................................. 321
F
Fazit und Ausblick.............................................................................................. 333
Quellenverzeichnis ...................................................................................................... 337
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7:
Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15:
Abb. 16:
Abb. 17:
Abb. 18:
Abb. 19:
Abb. 20:
Persil Werbeplakat von 1922 mit der Weißen Dame (Berg 2012; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved) .......................................... 4 Schwäbisch Hall Facebook-Post vom 21. Juli 2019 (Bausparkasse Schwäbisch Hall 2019; mit freundlicher Genehmigung von © Bausparkasse Schwäbisch Hall AG [2020]. All Rights Reserved) ......................................................................................................................... 4 Figuren und Personen in der Werbung (adaptiert nach Anja Spilski (2011, 24); mit freundlicher Genehmigung von © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (2011). All Rights Reserved; mit Einflüssen von Guido Zurstiege (2007, 113), Eder (2014, 244) und Karsten Kilian (2011, 136)) .................................................................................................................... 10 Die Marken-Zeichentriade (adaptiert nach Fritz (1994, 17, 62); mit freundlicher Genehmigung von © Stauffenburg Verlag GmbH (1994). All Rights Reserved) ..................... 40 Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke (eigene Darstellung) ............................................... 49 Das Markenverhältnis und die Werbefunktion von Werbefiguren (eigene Darstellung) .......... 56 Die direkte Anthropomorphisierung bei der Generalflasche (Produkttester Lounge Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved) ....................................................................................................................... 67 Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur (eigene Darstellung) ............................................................................................................................... 68 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1970 (EA HM-Forum 1970 (4), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................... 80 Das semiotische Dreieck der Marke Hamburg-Mannheimer (eigene Darstellung) ................... 86 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1972 (EA HM-Forum 1972 (4), 7; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) .............................. 89 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1985 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................. 102 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1991 (EA forum 1991 (1), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................ 104 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1991-1992 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ........... 105 Bild des ‚neuen‘ Herrn Kaiser in der Mitarbeiterzeitschrift forum von 1997 (EA forum 1997 (2), 20; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) 115 Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1997 (EA Werbespot 1997a, 00:00:04, 00:00:18, 00:00:34; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................................... 116 Die Kommunikation mit Herrn Kaiser im Markenmigrationsprozess 2010 (Sticker-Beilage in der Mitarbeiterzeitschrift (EA forum 2010 (1); mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)). ........................................................... 121 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1991 mit ‚persönlichem Tip‘ und Unterschrift (EA forum 1991 (1), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved), rechts: Anzeigenausschnitt ................................................................... 129 Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1996 mit ‚handschriftlichem‘ Slogan (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................................................................................................... 130 Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1976 (EA Werbespot 1976, 00:00:02; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................ 131
XII
Abbildungsverzeichnis
Abb. 21: Anthropomorphisierungsstrategien zur Vermenschlichung von Herrn Kaiser und der Hamburg-Mannheimer (eigene Darstellung; Bildquellen: EA forum 1991 (1), o. S.; EA Werbeanzeigen 1972-1996; EA forum 2004 (5), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) .................................................................... 135 Abb. 22: Darmol-Männchen (Darmol Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Dr. A. & L. Schmidgall GmbH & Co KG [2020]. All Rights Reserved) ................................................... 141 Abb. 23: Weißer Riese (Henkel Lifetimes Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved) ...................................................................... 143 Abb. 24: Werbemotiv mit Meister Proper (for me Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Procter & Gamble Service GmbH [2020]. All Rights Reserved) ........................................ 155 Abb. 25: Meister Proper (Mr. Clean) Analyse in der Adweek (Klara 2016; mit freundlicher Genehmigung von © Procter & Gamble Service GmbH [2020]. All Rights Reserved) .................... 158 Abb. 26: Die Multimodalität von Werbefiguren (eigene Darstellung; Bildquellen: Herr Kaiser in einer Sticker-Beilage in der Mitarbeiterzeitschrift (EA forum 2010 (1); mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved); Weißer Riese (Henkel Lifetimes Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved); Bausparfuchs (Schwäbisch Hall Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Bausparkasse Schwäbisch Hall AG [2020]. All Rights Reserved)) ...... 163 Abb. 27: Die typische ‚Kaiserpose‘, Ausschnitt aus einer Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1986 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................................................................................ 169 Abb. 28: Mitarbeiterabstimmung in der Mitarbeiterzeitschrift forum über das ‚Kaiser-Outfit‘ (EA forum 1994 (1), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ..................................................................................................................... 175 Abb. 29: Titelseite der Mitarbeiterzeitschrift forum von 1980 mit Herrn Kaiser (EA forum 1980 (3); mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ........... 181 Abb. 30: Bilder der Hamburg-Mannheimer Btx-Informationsseiten (EA forum 1984 (4), 21–22; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ........... 182 Abb. 31: Die erste Hamburg-Mannheimer Webseite mit Herrn Kaiser ‚im ersten Stockwerk‘ (EA forum 1996 (5), 4–5; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ..................................................................................................................... 185 Abb. 32: Hamburg-Mannheimer Webseite von 1998 (EA forum 1998 (1), 31; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ...................................... 186 Abb. 33: Hamburg-Mannheimer Webseite von 2000 (EA forum 2000 (Okt/Nov), 40–41; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................. 187 Abb. 34: Stills aus einem Check24 Werbespot mit Herrn Kaiser, o. J. (gesas management 2017, 00:00:12, 00:00:45; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved) ..................................................................................................................... 199 Abb. 35: Stills aus einem Check24 Werbespot mit Herrn Kaiser, o. J. (CHECK24 2018, 00:00:06, 00:00:23; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................................................................. 201 Abb. 36: Still aus einem Check24 Werbespot mit Herrn Kaiser, o. J. (CHECK24 2018, 00:00:21; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved) ....... 202 Abb. 37: Stills aus dem ZDF-Beitrag Herr Kaiser nackt. - Der satirische Adventskalender von 2011 (ZDFlachbar 2013, 00:00:15, 00:00:22, 00:00:25) .................................................................. 206 Abb. 38: Still aus dem ZDF-Beitrag Herr Kaiser nackt. - Der satirische Adventskalender von 2011 (ZDFlachbar 2013, 00:00:35) .................................................................................................. 206 Abb. 39: Communication Model for Advertising (Stern 1994, 9)........................................................... 215 Abb. 40: Still aus einem Check24 Werbespot, o. J. (gesas management 2017, 00:00:51; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved) ........................ 234 Abb. 41: Still aus einem Persil Werbespot, o. J. (WerbAll 2014, 00:00:08; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved) ....................... 241 Abb. 42: Adressierungsstrategien der Werbefigur (eigene Darstellung) ................................................ 252
Abbildungsverzeichnis
XIII
Abb. 43: Einordnung der betrachteten Werbekommunikate in die Adressierungsstrategien der Werbefigur (eigene Darstellung) ............................................................................................. 263 Abb. 44: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1988 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................. 270 Abb. 45: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1996 (links) und Werbeanzeige von 1988 (rechts) (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................. 279 Abb. 46: Schaubild ‚Ablauf einer Interaktion‘ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 7; mit freundlicher Genehmigung von © Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt 2004b. All Rights Reserved) ...................................................................................... 284 Abb. 47: Schaubild ‚Ablauf einer parasozialen Interaktion‘ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 10; mit freundlicher Genehmigung von © Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt 2004b. All Rights Reserved) ..................................................................... 284 Abb. 48: (Para)soziale Werbeinteraktion (eigene Darstellung adaptiert nach Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 7, 10); mit freundlicher Genehmigung von © Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt 2004b. All Rights Reserved) .............................................. 287 Abb. 49: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1987 (EA Werbespot 1987, 00:00:08, 00:00:11, 00:00:13, 00:00:18, 00:00:19; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) .................................................................... 289 Abb. 50: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1991 (EA Werbespot 1991, 00:00:21, 00:00:27; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ..................................................................................................................... 294 Abb. 51: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 2001 (EA Werbespot 2001, 00:00:01, 00:00:04, 00:00:14; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................................... 297 Abb. 52: Still aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 2007 (EA Werbespot 2007, 00:00:12; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................................................................. 300 Abb. 53: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 2007 (EA Werbespot 2007, 00:00:19, 00:00:21; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ..................................................................................................................... 301 Abb. 54: Redaktionelle Werbeanzeige der Hamburg-Mannheimer zwischen 1979-1986 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................................................................................................... 304 Abb. 55: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige im Interviewformat zwischen 1994-1996 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................................................................................................... 311 Abb. 56: Zuschrift an die Hamburg-Mannheimer vom 07. Januar 1992 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................................... 323 Abb. 57: Hamburg-Mannheimer Korrespondenz vom 26. bis 29. Juli 1995 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................. 325 Abb. 58: Zuschrift an die Hamburg-Mannheimer vom 01. August 1995 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ................................................................................. 329 Abb. 59: Beleidigende Zuschriften an die Hamburg-Mannheimer vom 05. August 1992 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved) ............................................................. 330
A
Einleitung
1
Die Werbefigur zwischen ökonomischer Zweckmäßigkeit und medienkultureller Aushandlung
Klementine demonstrierte als beherzte Klempnerin, dass Ariel ‚nicht nur sauber, sondern rein‘ wäscht. Das HB-Männchen verzweifelte an den Tücken des Alltags bis mit einer HB-Zigarette wieder ‚alles, wie von selbst ging‘. ‚Da weiß man, was man hat‘, versprach der Persil-Mann und Karin Sommer rettete regelmäßig den Hausfrieden mit dem ‚Verwöhnaroma‘ von Jacobs Krönung. Die aufgeführten Figuren prägten die Werbepausen des deutschen Fernsehens von den Fünfziger- bis in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts und noch immer hallen ihre Tipps und Aussprüche nach. Doch auch wer heutzutage eine Werbepause rezipiert, wird mit den medialen Phänomenen konfrontiert, die in dieser Arbeit als Werbefiguren bezeichnet werden. So fordert der 1&1-Mann in einem Werbespot von 2018 auf: „Jetzt zu 1&1 wechseln, Rufnummer mitnehmen und 100 Euro sichern!“ (1&1 2018, 00:00:19-00:00:23). Ob als Verkäufer, Reifenmann oder Fuchs – Werbefiguren sind damals wie heute in den verschiedensten Formen ein steter Bestandteil der Werbelandschaft. Das Beispiel des 1&1-Mannes weist dabei auf den persuasiven Kommunikationskontext hin, in dem Werbefiguren stehen: Sie werden zur Bewerbung von Produkten und Dienstleistungen eingesetzt und sollen die Einstellung von Rezipient_innen so beeinflussen,1 dass sich ihr Konsumverhalten zugunsten der beworbenen Marke auswirkt (siehe zu Werbezielen Kroeber-Riel und Esch 2015, 52–55). Dieser Persuasionsversuch wird allerdings nicht immer so unmittelbar kommuniziert wie bei der Werbefigur von 1&1. Familie Heins beispielsweise integriert die Telekom-Produkte ganz selbstverständlich in ihren Familienalltag und führt dem Publikum so deren Vorteile vor.
1
In dieser Arbeit wird eine Form des generischen Femininums verwendet, die gleichermaßen Personen jeden Geschlechts umfasst.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_1
4
Die Werbefigur
Abb. 1: Persil Werbeplakat von 1922 mit der Weißen Dame (Berg 2012; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved)
Rezipient_innen können Werbefiguren nicht nur, wie in den einführenden Beispielen suggeriert, in der Fernsehwerbung begegnen. So lächelt die Weiße Dame 1922 mit einer Persil-Packung in der Hand von einem Werbeplakat (Abb. 1) und der Bausparfuchs verkündet 2019 seine ‚Wohnweisheit des Monats‘ auf Facebook (Abb. 2).
Abb. 2: Schwäbisch Hall Facebook-Post vom 21. Juli 2019 (Bausparkasse Schwäbisch Hall 2019; mit freundlicher Genehmigung von © Bausparkasse Schwäbisch Hall AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Werbefigur
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Überall dort, wo die Aufmerksamkeit der Zielgruppe potenziell zu erlangen ist, nutzen Unternehmen Medien als Werbeträger. Werbefiguren sind damit innerhalb der Werbung fester Bestandteil der massenmedial zirkulierenden Texte und treten in den wechselseitigen Aushandlungsprozess von Medien und Gesellschaft ein. Sowohl die zu bewerbende Marke als Ausgangspunkt auf Produktionsseite als auch die Annahmen über die Zielgruppe selbst haben Einfluss auf die Konzeption und Ausgestaltung der Werbefigur. Damit Werbekommunikation Relevanz erzeugen kann, muss sie sich eng an den soziokulturellen Kontexten orientieren, in die sie eingebettet ist: Um anzukommen, muss sich Werbung den kulturellen Mustern, Werten und Ideen ihres Publikums anpassen, weil dieses sich sonst nicht angesprochen fühlt und sich nicht mit den Situationen und Personen der Werbung identifizieren kann; das aber ist notwendig, damit die Werbung ihre Wirkung entfalten kann. (Holtz-Bacha 2011a, 16)
Werbefiguren werden eingesetzt, um als Vorbilder, Ratgeber oder zugängliche anthropomorphisierte Produkte Sympathie zu generieren und als Orientierungsgrößen für das Publikum zu fungieren (siehe zur Werbung als Einflussfaktor Holtz-Bacha 2011a, 16–17). Werbung per se und Werbefiguren im Speziellen – seien sie noch so verniedlicht oder überzeichnet – müssen daher auch als medial vermittelter ‚Kulturfaktor‘ (Zurstiege 2002, 122) betrachtet werden. Sie sind Zeichen, die für den Werbezweck kreiert worden sind. Gleichzeitig finden sich diese Zeichen auch im Alltagsdiskurs wieder, etwa wenn gesagt wird, dass jemand ‚hochgeht wie ein HB-Männchen‘ oder dass jemand ‚aussieht wie ein Michelin-Mann‘. Werbefiguren sind Werkzeuge der Werbung, die für das Produkt kommunizieren. Als solche versuchen sie wirkungsvoll mit uns, den Rezipient_innen, zu kommunizieren. Es wird deutlich: Werbefiguren sind mediale Phänomene, die nicht nur marketingtheoretische, sondern auch medien- und kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen aufwerfen. Aus diesem Grund fordert Medienwissenschaftler Jens Eder eine eingehendere Beschäftigung mit ihnen ein: Während sich Ware und Figur einander annähern, findet in der Figurenrezeption eine Spaltung statt. Einerseits werden die Gestalten der Werbung beiläufig und misstrauisch wahrgenommen, andererseits wird ihre Wirkung perfektioniert und sie werden als Identifikationsangebote genutzt. Es ist höchste Zeit für die Wissenschaft, Werbefiguren nicht als etwas Selbstverständliches oder Degoutantes hinzunehmen, sondern sich mit ihnen intensiver auseinander zu setzen. (Eder 2010, 320)
Die vorliegende Arbeit strebt eine solch intensive Auseinandersetzung mit diesen ‚Gestalten der Werbung‘ an. Sie möchte zum medientheoretischen Verständnis der Werbefigur beitragen und Ansatzpunkte für ihre Untersuchung entwickeln. Werbefiguren werden dabei als Werkzeuge der Werbekommunikation betrachtet, die vor dem Hintergrund der
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medialen Konstruiertheit und Zirkulation an der Schnittstelle zwischen ökonomischer Zweckmäßigkeit und medienkultureller Aushandlung zu verorten und zu untersuchen sind. Aus dieser Position interessieren mit Blick auf die eingangs aufgeführten Figuren beispielsweise folgende Fragestellungen: Wie will Familie Heins wirkungsvoll kommunizieren? In welchem Verhältnis steht Karin Sommer semiotisch betrachtet zur beworbenen Marke? Auf welche Art und Weise generiert der Persil-Mann Bedeutung? Was begünstigt die Zirkulation des HB-Männchens durch Texte und Medien? In diesem einleitenden Kapitel soll die Werbefigur zunächst von anderen Figuren und Personen in der Werbung abgegrenzt werden (Abschnitt 1.1). Anschließend daran wird der interdisziplinäre Forschungsstand zum Phänomen der Werbefigur aufgezeigt (Abschnitt 1.2). Abschnitt 1.3 soll über das konkrete Forschungsvorhaben und den Aufbau der Arbeit Aufschluss geben. Schließlich wird vor dem Hintergrund des Fallbeispiels über die Figur Herr Kaiser (Hamburg-Mannheimer) auch die Archivarbeit im Ergo-Archiv skizziert (Abschnitt 1.4).
1.1
Werbende Figuren und Personen – Abgrenzung des Forschungsgegenstands
Bevor das Phänomen der Werbefigur untersucht werden kann, muss definiert werden, was im Rahmen dieser Arbeit unter einer Werbefigur verstanden wird. Diese Abgrenzung des Forschungsgegenstandes gegenüber anderen Figuren und Personen in der Werbung soll im vorliegenden Abschnitt erfolgen. Insbesondere im angloamerikanischen Raum hat es seit den 1990er Jahren eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand der Werbefigur – vor allem aus Marketingsicht – gegeben. Die ab dieser Zeit entstandenen Aufsätze beschäftigen sich unter anderem damit, der Werbefigur einen definitorischen Rahmen zu geben, also den Untersuchungsgegenstand selbst zu fassen. Nach einer ersten Unterscheidung zwischen Celebrity Characters und Non-Celebrity Characters von Margaret F. Callcott und Patricia A. Alvey im Jahr 1991, wurde 1995 das AMOP Framework von Callcott und Wei-Na Lee zur Einordnung von Werbefiguren vorgestellt. In diesem Schema dienen die Appearance, das Medium, die Origin sowie die Promotion als Kategorisierungsparameter (Callcott und Lee 1995, 146–49). Die Appearance unterscheidet zwischen menschlichen Figuren wie
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beispielsweise Klementine (Ariel) und nicht-menschlichen Figuren wie dem Kleinen Hunger (Müller Milchreis). Der Parameter Medium beschreibt das Medium, in dem die Werbefigur auftritt. Hier differenzieren Callcott und Lee zwischen den Medien Print, Film, Radio und Merchandising.2 Die Origin definiert die werbliche oder nicht-werbliche Herkunft der Werbefigur und fragt, ob sie für die Bewerbung des Produkts kreiert worden ist (Non-Celebrity) oder ob die Figur bereits aus anderen fiktionalen Medienprodukten bekannt war wie z.B. Mickey Mouse (Celebrity). Die letzte Kategorisierungsdimension Promotion beschreibt die Art und Weise, wie das Produkt oder die Dienstleistung durch die Werbefigur beworben wird. Dabei wird auf oberster Ebene zwischen passiver und aktiver Bewerbung unterschieden. Die passive Bewerbung bezieht sich auf eine symbolische Funktion der Figur. Die aktive Bewerbung wird durch Präsentation oder Fürsprechen charakterisiert. Barbara J. Phillips und Barbara Gyoerick erweitern das Modell von Callcott und Lee 1999 um die Parameter Product Type, Gender und Ethnicity. Der Product Type führt auf, mit welchen Produkten oder Services die Werbefigur verbunden ist, wobei zum Beispiel zwischen Low-Involvement-Produkten wie Reinigungsutensilien und High-Involvement-Produkten wie Versicherungen unterschieden werden kann. Der Parameter Gender beschreibt, sofern beobachtbar, das Geschlecht der Werbefigur und die Ethnicity, ob eine ethnische Zuordnung möglich ist. Anhand dieser Parameter kann in einer quantitativen Untersuchung wie der von Phillips und Gyoerick beispielsweise analysiert werden, ob sich der Anteil von Frauen und ethnischen Minderheiten in der Werbung mit Werbefiguren über die Zeit verändert hat. Es ist auffällig, dass die eigentliche Definition – also die Antwort auf die Frage: Was ist eine Werbefigur? – in den Forschungsarbeiten keinen Konsens hervorgebracht hat bzw. den jeweiligen Studien angepasst worden ist. Einige Arbeiten definieren dabei nur Animationsfiguren als Werbefiguren (Garretson und Niedrich 2004, 25; Peirce 2001, 845; Royne Stafford, Stafford und Day 2002, 19). Auch das Einbeziehen von Celebrity Characters variiert. So exkludieren Jennifer Mize und Lance Kinney (2008, 182) diese, um
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Da das AMOP Framework vor über 20 Jahren entwickelt worden ist, kann eine solche Medienliste nicht als abschließend betrachtet werden. Kartik Pashupati (2009) untersucht Werbefiguren unter anderem nach dem AMOP Framework, wobei die Integration der Werbefiguren in das Medium Internet explizit mit abgefragt wird.
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ausschließlich Figuren zu berücksichtigen, die für die spezifischen Werbeabsichten geschaffen worden sind. Phillips (1996, 145) schließt Celebrity Characters ebenfalls in ihrer Definition von Werbefiguren aus. Im AMOP Framework von Callcott und Lee wird der Celebrity-Status dagegen explizit im Parameter Origin abgefragt. Auch in der Untersuchung A Content Analysis of Animation and Animated Spokes-Characters in Television Commercials werden Celebrity-Animationsfiguren von Callcott und Lee (1994, 8–10) miteinbezogen. Es wird außerdem der Parameter Zeit berücksichtigt: So legen Callcott und Lee (1995, 147) fest, dass nur solche Phänomene als Werbefiguren bezeichnet werden, die durchgängig mit dem beworbenen Produkt in Verbindung gebracht werden. Des Weiteren wird eine wahrnehmbare, distinkte Persönlichkeit in einigen Studien vorausgesetzt (Phillips 1996, 147–48; Mize und Kinney 2008, 182). Weiterhin muss angemerkt werden, dass weder zur Definition der Werbefigur noch zum Terminus selbst Konsens herrscht. Stephen Brown bemerkt dazu für den englischsprachigen Raum: In terminological terms, consider the following question: is Paul the Gorilla a ‚brand mascot‘ or an ‚advertising character‘ or a ‚brand icon‘ or a ‚trade character‘ or an ‚advertising spokes-creature‘ or, come to think of it, a ‚character trademark‘? Or none of the foregoing? Or something else entirely? […] These questions are easier to ask than to answer, because there is no agreement on what a brand mascot is exactly. (2014a, 80)
Im Englischen muss hier noch der geläufige Begriff des Spokes-Character (vgl. Callcott und Lee 1995; Pashupati 2009; Phillips und Gyoerick 1999) ergänzt werden. Im Deutschen werden neben Werbefigur (Huber et al. 2007; Paul 2007) z.B. Begriffe wie (Marken-)Testimonial, Avatar oder Charakter (Kilian 2011, 135–36; Spilski 2011, 24–26) verwendet. Was wird also im Rahmen dieser Arbeit unter einer Werbefigur verstanden? Die von Eder (2010, 303) vorgeschlagenen Figurenmerkmale – ein Innenleben, Wiedererkennbarkeit und fiktionale Eigenständigkeit – dienen gemeinsam mit der im Folgenden aufgeführten Definition von Phillips als Ausgangspunkt für die Abgrenzung der Werbefigur von anderen Figuren und Personen in der massenmedialen Wirtschaftswerbung: „A trade character is a fictional, animate being or animated object that has been created for the promotion of a product, service, or idea“ (1996, 146; Hervorhebung im Original). Die ‚fiktionale Eigenständigkeit‘ (Eder 2010, 303) von Werbefiguren bezieht sich darauf, dass es sich um erfundene Figuren handelt. In dieser Arbeit interessieren solche Wesen,
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die für die persuasive Kommunikation geschaffen worden sind. Mit dieser Einordnung kann eine Abgrenzung zu nicht erfundenen Personen in der Werbung vorgenommen werden, seien sie prominent (z.B. Dirk Nowitzki für ING) oder nicht (z.B. Carglass-Mitarbeiter_innen). Prominente, nicht erfundene Fürsprecher_innen für Produkte oder Dienstleistungen werden im deutschsprachigen Raum auch als Testimonial und im englischsprachigen Raum als Celebrity Endorser bezeichnet (Kilian 2011, 135).3 In der Testimonial-Forschung interessiert zum Beispiel, welche Eigenschaften die Überzeugungskraft einer Absender_in stärken (sogenannte Source-Ansätze) oder auf welchen Ebenen (z.B. Attraktivität) Fürsprecher_in und Marke für einen Werbeerfolg zusammenpassen sollten (sogenannte Match-Up-Hypothese) (siehe für einen Überblick Kilian 2011, 138–44; Fanderl 2005, 106–25).4 Grant McCracken schließlich sieht im Bedeutungstransfer einen zentralen Ansatzpunkt zur Untersuchung von Testimonials. Er geht dabei von Folgendem aus: „The effectiveness of the endorser depends, in part, upon the meanings he or she brings to the endorsement process” (McCracken 1989, 312). (Bestimmte) Bedeutungen, die mit der prominenten Person assoziiert werden, werden nach McCrackens Meaning Transfer Model durch Werbung auf das Produkt übertragen (McCracken 1989, 312–16). Dies beschreibt bereits einen zentralen Unterschied zwischen Werbefiguren und Testimonials: Rezipient_innen haben von Prominenten beispielsweise durch Filmrollen, Klatsch oder Interviews ein Vorstellungsbild. Werbetreibende suchen ihre Markenfürsprecher_innen gezielt nach diesem bereits mehr oder weniger konturierten Image aus. Werbefiguren dagegen sind Figuren, die erst für den Werbezweck geschaffen werden. Ihre Konzeption hängt maßgeblich davon ab, wie sie eine Marke bewerben sollen. Ein
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Harald Sebastian Fanderl (2005, 96) unterscheidet zwischen Testimonials in einem weiteren und in einem engeren Sinne. Erstere sind nach Fanderl ganz generell menschliche oder künstliche Fürsprecher_innen einer Marke. Zweitere sind prominente Personen. Nach dieser Unterscheidung finden sich auch Werbefiguren unter dem generellen Dach von Testimonials im weiteren Sinne wieder. Die Bezeichnung Testimonial bezieht sich zumeist jedoch auf die Bedeutung im engeren Sinne. Auch an dieser Stelle wird die Bezeichnung Testimonial in diesem engeren Sinne genutzt. Es muss dabei ergänzt werden, dass Fanderl (2005, 93–94) Prominenz insbesondere an der asymmetrischen Bekanntheit von Personen zur Bezugsgruppe festmacht. Danach wäre die Figur Dr. Best zunächst keine asymmetrisch bekannte Figur gewesen, dies aber mit der Zeit geworden, womit sie als prominente Kunstfigur betrachtet werden könnte. Im Rahmen dieser Arbeit ist zur Unterscheidung zwischen Werbefiguren und Testimonials im engeren Sinne relevant, ob die Figur ihre Bekanntheit durch die Werbung (Werbefigur) oder durch andere Medienprodukte (prominenter Testimonial) erlangt hat. 4 Huber et al. (2007) ziehen die genannten Ansätze auch heran, um Werbefiguren zu untersuchen.
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Image im Sinne und in Interdependenz zur Marke muss also erst aufgebaut werden. Ähnlich lassen sich Werbefiguren von den erfundenen Figuren aus anderen Medienkontexten abgrenzen. Auch diese Figuren (z.B. James Bond) haben bereits ein Image, mit dem Marken verknüpft werden können. Nicht erfundene Personen wie beispielsweise FielmannKund_innen, die vor der Kamera Zeugnis über die Marke ablegen, haben abgesehen von ersichtlichen soziodemografischen Merkmalen kein solches Image. Allerdings werden sie auch nicht für den Werbezweck kreiert. Bei diesen realen Personen geht es eher darum, durch eine möglichst authentische Darstellung Vertrauen zu ihrem positiven Urteil zu schaffen. Werbefiguren werden also für den Werbezweck erfunden. Dabei können Figuren nach Eder (2014, 244) die unterschiedlichste Gestalt annehmen: von natürlichen Lebewesen wie Menschen oder Tieren bis hin zu übernatürlichen (Götter, Monster) und künstlichen Wesen (Roboter, Maschinen, Gegenstände). Diese unterschiedlichen Formen werden im Hinblick auf einen definitorischen Rahmen für Werbefiguren als ‚Wesen‘ zusammengefasst. Die Einteilung und Abgrenzung von Werbefiguren zu anderen Personen und Figuren in der Werbung wird auch noch einmal in Abb. 3 (gestrichelter Kasten) deutlich: Zu Werbefiguren werden damit sowohl durch Darsteller_innen verkörperte Figuren wie Herr Kaiser (Hamburg-Mannheimer) als auch Animationsfiguren wie der SpeeFuchs (Spee) gezählt.
Abb. 3: Figuren und Personen in der Werbung (adaptiert nach Anja Spilski (2011, 24); mit freundlicher Genehmigung von © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (2011). All Rights Reserved; mit Einflüssen von Guido Zurstiege (2007, 113), Eder (2014, 244) und Karsten Kilian (2011, 136))
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Mit der Beschränkung auf den Werbezweck werden nur solche Figuren berücksichtigt, die mit ihrer Gestaltung ganz im Hinblick auf Marke und Zielgruppe gestaltet worden sind: „One trait unique to non-celebrity spokes-characters is that brand managers get to create the unique personality and image of the character to fit their brand“ (Mize und Kinney 2008, 179; Hervorhebung im Original). Damit können sie mit den Worten von Joachim Kellner als „[…] im wahrsten Sinne des Wortes ‚lebendig‘ gewordene (abstrakte) Werbeideen“ (1991, 11) bezeichnet werden. Das Wort ‚lebendig‘ schließt sogleich an Phillips Forderung des ‚animate being‘ oder ‚animated object‘ an. Damit meint sie nicht (nur) Animation im technischen Sinne, sondern ‚zum Leben erweckte‘ Wesen generell (also auch Figuren wie Dr. Best (Dr. Best)). Phillips (1996, 144) betrachtet dieses Merkmal als wesentlich, um Werbefiguren von anderen visuellen Symbolen (z.B. Logos oder Requisiten) in der Werbung abzugrenzen. Im Zusammenhang mit dieser geforderten ‚Belebtheit‘ lässt sich auch Eders vorausgesetztes Figurenmerkmal eines Innenlebens lesen: Wir unterstellen Figuren – im Gegensatz zu unbelebten Objekten – die Fähigkeit zu Gedanken, Gefühlen und Motiven. Dieses Innenleben kann mehr oder weniger ausführlich dargestellt sein […]. (2010, 303)
Eder (2010, 303) sieht ein solches Innenleben auch bei einem Logo wie dem PlayboyBunny schematisch assoziiert. Er weist darauf hin, dass eine Definition, die sich auf handelnde Wesen beschränken würde, zu eng gefasst sei, da auch bewegungsunfähige Figuren mit ausschließlich mentalen Vorgängen denkbar wären (Eder 2014, 63). Dabei räumt er allerdings in Bezug auf Werbefiguren ein: Zur Etablierung markanter Figuren sind Medien wie Comic, Film, Fernsehen oder Internet am besten geeignet, da sie ausführlichere narrative Darstellungen von Handlungen und inneren Vorgängen ermöglichen. (Eder 2010, 303)
Die Charakterisierung einer Figur wie Lurchi (Salamander) sei so deutlicher möglich als die des Hirschkopfes im Jägermeister-Logo (Eder 2010, 303). Im Rahmen dieser Arbeit soll, wie bei Phillips auch, zwischen Werbefiguren und unbelebten Logos unterschieden werden. Das Merkmal eines schematisch assoziierbaren Innenlebens ist dafür zu weit, der definitorische Rahmen muss notwendigerweise enger gefasst werden. Eine Engführung auf das Agieren der Figur scheint dazu nützlich. Im Gegensatz zu erstarrten Wesen in einem Logo wie beispielsweise dem Lacoste Krokodil agieren Werbefiguren. Das betrifft bereits die weidende Milka Kuh. Das Weiden der Milka Kuh zeigt aber auch, dass das
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Agieren von Werbefiguren nicht auch zwangsläufig dahinterstehende Intentionen offenbart. Dies bedeutet aber nicht, dass ihnen eine solche intentionale Handlungsfähigkeit nicht zugeschrieben werden könnte. Insbesondere die Milka Kuh deutet durch ihr außergewöhnliches Aussehen an, dass sie ‚einen eigenen Kopf‘ haben und zu zielgerichtetem Handeln fähig sein könnte. Und tatsächlich: In anderen Inszenierungen bringen ihre ‚Stupser‘ Menschen zielgerichtet zusammen (Battant 2011)5. Eine Werbefigur ist also insofern belebt, als dass sie agiert und ihr intentionale Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden kann. Die bloße Zuschreibung von Handlungsfähigkeit zur Abgrenzung von Logos reicht nicht aus. So ist Uncle Ben’s Kopf im gleichnamigen Logo noch keine Werbefigur, auch wenn ihm als Mensch Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden könnte. Erst wenn dieser Kopf anfängt, die Besonderheiten des Produkts zu erklären und somit in Aktion tritt (deutsche Werbespots 2012)6, wird er zu einer Werbefigur. Der Hirsch der Marke Jägermeister interessiert im Rahmen dieser Arbeit ebenfalls erst ab dem Moment, in dem die beiden animierten Hirsche Rudi und Ralph tanzend in einer Bar gezeigt werden (Fabo Slashdotdash 2006)7. Das bedeutet, dass Werbefiguren, die auch in Logos abgebildet werden (z.B. Meister Proper), zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit gehören Wie soll vor diesem Hintergrund mit einer Figur wie der Weißen Dame umgegangen werden? Das Agieren von Werbefiguren resultiert beispielsweise in veränderter Mimik oder veränderten Körperhaltungen und Kontexten. Mit dieser Überlegung kann auch angenommen werden, dass das Agieren selbst in der Veränderung nachvollziehbar ist. Die Weiße Dame ist im Gegensatz zum Puma-Logo kein unveränderbares Symbol, sondern wurde ganz unterschiedlich inszeniert: Mal hält sie demonstrativ eine Persil-Packung in die Höhe, mal herzt sie diese und dann wieder hält sie zwei kleine Kinder an den Händen (Berg 2012). In der bereits aufgeführten Plakatkonzeption (Abb. 1) wird zudem suggeriert, dass die Weiße Dame in Aktion festgehalten wurde (angedeuteter Schritt, Gegenwind, das aktive Präsentieren der Persil-Packung). Außerdem wird ihr ganzer Körper gezeigt und nicht nur Fragmente davon. Es fällt somit leichter sich die Weiße Dame als handelndes Subjekt vorzustellen. Nicht nur das: Die Darstellung trägt auch zu ihrer Wiedererkennbarkeit bei. Die individuelle Wiedererkennbarkeit einer Figur ist nach Eder im 5 6 7
Der betreffende Milka Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. Der betreffende Uncle Ben’s Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. Der betreffende Jägermeister Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Gegensatz zu Körperfragmenten, körperlosen Stimmen und „[…] zu den austauschbaren Statisten einer Masse“ (2010, 303) zu sehen. Der Aspekt der Wiedererkennbarkeit wird im Rahmen dieser Arbeit auch als relevanter bewertet als ein eigener Name. So wird auch der Marlboro-Mann, eine hochgradig wiedererkennbare Figur, als Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit betrachtet. Ein weiteres Kennzeichen von Werbefiguren ist ihre Langlebigkeit. Werbefiguren sind über einen Zeitraum, der über eine einzelne Werbeaktion oder Kampagne hinausgeht, Bezugspunkt für das Publikum (Callcott und Lee 1995, 147). Dieser langfristige Ansatz ist z.B. im Hinblick auf eine gewisse Vertrautheit mit der Figur und einen möglichen Beziehungsaufbau mit dem Publikum relevant. Es lässt sich zudem annehmen, dass langfristig eingesetzte Werbefiguren auch einen gewissen werblichen Erfolg aufweisen, indem sie den richtigen Zugang zum Publikum gefunden haben: Ihr langfristiger Erfolg entsteht erst durch die langfristige Akzeptanz des Publikums (die identisch mit einem langfristigen Konsum ist). Eine unendliche, sich selbst bestätigende und perpetuierende Symbiose. (Kellner 1991, 11)
Dies weist auch nochmals auf den absatzorientierten Rahmen der Wirtschaftswerbung hin, in dem Werbefiguren in dieser Arbeit betrachtet werden (siehe detaillierter zum Werbebegriff in dieser Arbeit Kapitel B, Abschnitt 2.1). Aus diesem Grund wird Phillips Definitionsvorschlag an dieser Stelle um den Aspekt der ‚Ideen‘ gekürzt. Im Rahmen dieser Arbeit wird unter einer Werbefigur im Hinblick auf die zuvor diskutierten Merkmale folgendes verstanden: Eine Werbefigur ist ein für die Bewerbung von Produkten oder Dienstleistungen erfundenes und langfristig dafür eingesetztes, wiedererkennbares und belebtes Wesen.
1.2
Werbefiguren: Zum interdisziplinären Forschungsstand
Das Phänomen der Werbefigur soll in dieser Arbeit vor dem Hintergrund ihrer Werbefunktion aus medienwissenschaftlicher Perspektive untersucht werden. Da Werbefiguren aus marken- und werbestrategischen Gründen konzipiert und erschaffen werden, soll in diesem Forschungsstand auch ein Überblick über Erkenntnisinteressen aus Marketingsi-
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cht gegeben werden. Der hier vorliegende Überblick über den Forschungsstand ist deshalb interdisziplinär ausgerichtet und soll sowohl medien(kultur)wissenschaftliche Perspektiven auf die Figur beschreiben als auch marketingspezifische. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive lässt sich in Bezug auf die Werbefigur noch immer die 2010 von Eder getroffene Feststellung untermauern, dass „[…] es bisher kaum systematische Auseinandersetzungen mit ihren Strukturen und Wirkungsweisen [gibt]“ (2010, 296). Eders (2010) Aufsatz über Werbefiguren gibt genau hier einen Impuls für eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Gegenstand und möchte einige dieser Strukturen aufdecken und typologische Vorschläge zu ihrer Beschreibung machen. Dabei orientiert er sich an seinem transmedialen Figurenanalysemodell der ‚Uhr der Figur‘ (Eder 2014). Das Modell sieht vor, die Figur innerhalb von vier Analysekategorien zu betrachten: als Symptom, Symbol, fiktives Wesen und als Artefakt. Die Analyseperspektive der Figur als Symptom trägt dem Umstand Rechnung, dass Figuren aus der Realität entstehen und in sie zurückwirken (Eder 2014, 541). Die Symptom-Ebene fragt nach den Produktionsursachen und stellt Hypothesen über Rezeptionswirkungen an (Eder 2014, 541). In Bezug auf Werbefiguren weist Eder (2010, 304) dabei produktionsseitig auf die Grundfunktion der Figur hin, für Produkte und Dienstleistungen zu werben. Von dieser persuasiven Aufgabe sei die Gestaltung der Figur abhängig. Rezeptionsseitig wird die soziokulturelle Verflechtung von Werbefiguren problematisiert: Werbefiguren beeinflussen Welt- und Menschenbilder, Werte und Normen, Lebensstile und Emotionsstrukturen. Sie tragen dazu bei, dass die Identitätsbildung in unserer Konsumgesellschaft aufs Engste mit der Entscheidung für Waren verknüpft ist: Ich bin, was ich kaufe. (Eder 2010, 305)
Dem symptomatischen Aspekt der Figurenanalyse wird in dieser Arbeit über alle Kapitel hinweg Rechnung getragen: Von den marken- und werbestrategischen Konzeptionsabsichten (Kapitel B) über die kampagnenbezogen notwendige Zirkulationsfähigkeit und die diskursive Verhandlung der Figuren (Kapitel C) bis hin zur angestrebten absatzbezogenen Wirkung auf die Rezipient_innen (Kapitel D). In der Betrachtung der Figur als Symbol wird diese als Zeichen untersucht, das indirekte Bedeutungen vermittelt (Eder 2014, 124). Eder (2010, 305–9) verweist auf unterschiedlichste Formen der Symbolisierung durch Werbefiguren und sieht darin selbst eine Werbestrategie. Seine Überlegungen zur Symbolfunktion werden in Kapitel B im Hinblick auf die Werbefunktion von Werbefiguren und in Kapitel C in Bezug auf die semantische Beschaffenheit von Werbefiguren aufgegriffen.
Werbefiguren: Zum interdisziplinären Forschungsstand
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Als fiktives Wesen wird die Figur unter anderem bezüglich ihres Verhaltens, ihrer Eigenschaften und Beziehungen untersucht (Eder 2014, 123–24). Im Hinblick auf Werbefiguren konzeptioniert Eder (2010, 309–11) diesen Aspekt hinsichtlich der Handlungsrollen, die von Werbefiguren eingenommen werden können. Die Untersuchungsperspektive des Artefakts fragt nach ästhetischen Aspekten, nimmt also das ‚Gemachtsein‘ der Figur in den Blick (Eder 2014, 125). Hier konstatiert Eder für die Werbefigur vor dem Hintergrund des Kampfes um Aufmerksamkeit und der Kürze von Werbung eine „Ästhetik der Prägnanz“ (2010, 315, siehe weiter 316-18). Mit dem vorgestellten Analyseansatz bietet Eder spannende und facettenreiche medienwissenschaftliche Perspektiven auf den Gegenstand der Werbefigur. Dabei wird dieser immer im Hinblick auf seine Werbefunktion untersucht. Eine solche Herangehensweise, die nicht auf die Optimierung des Werbens ausgerichtet ist, aber den persuasiven Zweck stets mitbedenkt, wird auch in dieser Arbeit angestrebt. Eine weitere übergeordnete Beschäftigung mit dem Gegenstand der Werbefigur stellt der von Kellner und Werner Lippert herausgegebene (populär)wissenschaftliche Ausstellungskatalog Werbefiguren: Geschöpfe der Warenwelt von 1991 dar. Dieser nimmt die Werbefigur an der Schnittstelle von ökonomischer Zweckmäßigkeit und medienkultureller Aushandlung in den Blick und stellt trotz seines Alters noch immer einen nennenswerten Beitrag zur theoretischen Beschäftigung mit dem Gegenstand der Werbefigur dar. In kurzen Impulsbeiträgen aus Wissenschaft und Praxis wird die Werbefigur interdisziplinär konturiert. Walter Grasskamp (1991) skizziert darin unter anderem am Beispiel der Salamander-Werbefigur Lurchi die medienhistorische Entwicklung von Werbefiguren. Klaus Brandmeyer (1991) betont in seinem Aufsatz die persuasive Intention hinter der Werbefigur und macht einen Vorschlag für übergeordnete Werbefiguren-Typen: darunter die Lehrer, die Vor-Bilder oder auch die Kobolde – dies allerdings ohne fundierte Herleitung. In einem anderen Beitrag wird die Werbefigur gänzlich aus der Marketing-Brille betrachtet: Werner Kroeber-Riel verortet die Werbefigur in der Imagery-Forschung, in der es um „[…] die Entstehung, Verarbeitung und Wirkung von inneren Bildern“ (1991, 33) geht. Dabei werden innere Bilder als visuelle Vorstellungen im Gedächtnis eingeordnet. Er argumentiert, dass Werbefiguren besonders für den Aufbau innerer Bilder geeig-
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net seien und so die Werbewirksamkeit erhöhen könnten. Die medientheoretischen, kulturwissenschaftlichen und marketingspezifischen Aspekte der Katalogbeiträge zeigen abermals die interdisziplinäre Verortung der Werbefigur auf. Wenn es um die übergeordnete, systematische Beschäftigung mit Figurenphänomenen im Marketing geht, dann muss auch auf die Verwendung von Figuren im japanischen Media Mix verwiesen werden. Wie Marc Steinbergs (2012) Buchtitel Anime’s Media Mix: Franchising Toys and Characters in Japan bereits suggeriert, ist die Frage nach der transmedialen Verwertung und Lizensierung (Franchising) von Figuren in diesem Kontext zentral. Dabei zeigt Steinberg, wie die Figur Tetsuwan Atomu ausgehend von einer Fernsehserie für Werbung und Merchandising eingesetzt wurde. Diese Art von Character Licensing ist, wie in der vorangegangenen Abgrenzung von Werbefiguren betrachtet, nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. In ästhetischer Anlehnung an die Mangaund Anime-Helden werden in Japan Figuren allerdings auch losgelöst von einer Storyworld zur Bewerbung von Produkten oder zur Kommunikation im Alltag auf Plakaten eingesetzt (Wilde 2018a). Im japanischen Forschungsdiskurs werden solche Figuren ohne feste diegetische Einbettung als kyara bezeichnet (Wilde 2018b, 110, 122). Berühmtestes Beispiel ist dafür wohl Sanrios Hello Kitty – fiktiver Star und Mittelpunkt einer gewaltigen Merchandising-Maschinerie (siehe für einen Überblick Wilde 2018a, 277-283, 329334; Minowa 2014; Hosany et al. 2013). Auch wenn der Forschungskorpus rund um den japanischen Media Mix in dieser Arbeit nicht weiter behandelt wird, soll folgend auf einige interessante Aspekte des kyara-Konzepts verwiesen werden, die Lukas R. A. Wilde (2018b) für die Medienwissenschaft produktiv macht: Wilde weist darauf hin, dass der dekontextualisierte kyara sich einer partizipatorischen Mediennutzung öffnet, in der die Grenzen zwischen Rezeption und Produktion verschwimmen. Die Figuren ohne festen Kontext laden Nutzer_innen zur eigenen Kontextualisierung bzw. zu eigenen Imaginationsspielen ein. Der produktive Umgang mit diesen Figuren wird dabei durch ihre visuelle Manga- und Anime-Ästhetik begünstigt, die von Rezipient_innen mit Stift und Papier selbst reproduziert werden kann. Nicht nur das: Der Fokus auf wenige typische, visuelle Merkmale ermöglicht sogar das Nachbacken der Figuren (Wilde 2018b, 135). Wilde bemerkt dazu:
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Ermöglicht wird diese ‚Transferierbarkeit‘ und ‚Identitätspräsenz‘ somit durch die besondere Bildlichkeit des ikonographischen Linienbilds, das (anders als fotografische, malerische oder computergerenderte Bildlichkeit) tatsächlich auch physisch leicht reproduziert – und vermittels aller nur denkbaren Materialitäten imitiert – werden kann […]. (2018b, 135; vgl. dazu auch Wilde 2016)
Die genannte Transferierbarkeit ist im japanischen Media Mix ein wichtiges Moment der partizipatorischen Medienkultur. Im Hinblick auf Werbefiguren kann eine solche Transferierbarkeit als Notwendigkeit für die transmediale ‚Kampagnenfähigkeit‘ betrachtet werden. Thematisiert Wilde die Transferierbarkeit von kyara auf einer bildlichen Ebene, so soll innerhalb dieser Arbeit die Transferierbarkeit der Werbefigur insbesondere auf einer semantischen Ebene diskutiert werden (Kapitel C). Auch hinsichtlich des Aspekts der fehlenden diegetischen Einbettung lassen sich Parallelen zu den hier betrachteten Werbefiguren erahnen, sodass dieser Aspekt und seine Implikationen mit dem Konzept der seriellen Figur (Denson und Mayer 2012) in Kapitel C aufgegriffen werden. Neben der Untersuchung des Gegenstands an sich lassen sich auch Analysen spezifischer Werbefiguren finden. Der Historiker Gerhard Paul (2007) etwa zeichnet die Entstehungs- und Werbegeschichte des HB-Männchens vor dem Hintergrund der Wirtschaftswunderzeit nach. Dabei geht Paul davon aus, dass Werbung mentalitätsgeschichtliche Einblicke liefern kann. Sophie Elpers betrachtet in ihrer publizierten Magisterarbeit Frau Antje bringt Holland von 2005 die holländische Werbefigur im Zeitverlauf in einer kulturwissenschaftlichen Text- und Kontextanalyse. Beide exemplarisch aufgeführten Einzelanalysen betonen anhand der spezifischen Figurenbetrachtungen eine seismographische Funktion der Werbung bzw. der Werbefigur für gesellschaftliche Entwicklungen. Eine Problematisierung der Werbung als idealisierendem und verzerrendem „Abbild und Vorbild“ (Schmidt und Zurstiege 2007, 174) einer Gesellschaft findet sich in der medienkulturwissenschaftlichen Werbeforschung zu genderspezifischen Rollenbildern – ein Themenfeld, das die Werbefigur zwar nicht explizit fokussiert, sie aber trotzdem maßgeblich betrifft. In ihrer Analyse Körpercodes von 2002 zeigt Nicole M. Wilk den weiblichen Körper in der Werbung als Projektionsfläche unterschiedlichster Bedeutungszuschreibungen auf. Guido Zurstiege liefert mit seiner Dissertation von 1998 empirische Erkenntnisse über die Konstruktion von Männlichkeit in der Anzeigenwerbung. Eine repräsentationskritische Betrachtung der Geschlechterbilder in der Werbung spiegelt sich im Sammelband Stereotype? Frauen und Männer in der Werbung (Holtz-Bacha 2011b) wider. Herbert Willems und York Kautt (2003) untersuchen darüber hinaus sowohl die
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geschlechter- als auch die altersabhängige Konstruktion von Identitäten in der Werbung. Doris Mosbach (1999) schließlich beleuchtet vor einem semiotischen Hintergrund die Darstellung ‚exotischer‘ Menschen in der Werbung. Bevor die Marketingforschung zur Werbefigur in den Blick genommen wird, sei noch der Überblick über die Werbefiguren der deutschen Werbelandschaft genannt, den Wolfgang Hars (2001) in seiner Steckbrief-Sammlung bietet. Der Überblick zeigt, dass in der bisherigen medienwissenschaftlichen Forschung nur einzelne übergeordnete Impulse zur Definition, zu Typen und Funktionen von Werbefiguren als strategischen Kommunikationswerkzeugen auszumachen sind. Daneben kann eine Beschäftigung mit dem Gegenstand im Hinblick auf spezifische medienkulturelle Aspekte festgestellt werden (Gender, Race, medien- und kulturhistorische Analyse). Insbesondere müssen Analyseinstrumente für die systematische Untersuchung von Werbefiguren und ihrer persuasiven Kommunikation als Forschungsdesiderat betrachtet werden. Wie eingangs bemerkt, sollen neben medien(kultur)wissenschaftlichen Perspektiven auf die Werbefigur in diesem Forschungsüberblick auch Marketingperspektiven berücksichtigt werden. Der Einblick in die Erkenntnisinteressen des Marketings soll dabei unterstützen, den Forschungsgegenstand als Schnittstellenphänomen greifbar zu machen. Zentral in der Marketingforschung zur Werbefigur sind, so viel lässt sich vorab resümieren, wirkungsbezogene Arbeiten und Untersuchungen zu den Funktionen von Werbefiguren innerhalb des Marken- und Werbekontextes. In ihrem Aufsatz von 1996 ordnet Philipps der Werbefigur folgende Funktionen innerhalb der Werbekommunikation zu: die Produktidentifikation, die Schärfung der Markenpersönlichkeit und Kontinuität in der Werbekommunikation. Mit der Produktidentifikation ist zum einen gemeint, dass Werbefiguren, sofern sie auf Produktverpackungen abgebildet werden, hilfreich sein können, Marken in der Kaufsituation wiederzuerkennen (Phillips 1996, 146–47). Zum anderen können Werbefiguren eine Verbindung zwischen Produkt, Verpackung und Werbebotschaft schaffen und so dazu beitragen, dass die Werbebotschaft dem Produkt respektive der Verpackung zugeordnet wird (Phillips 1996, 147). Durch ihre Persönlichkeit, so Phillips (1996, 147–51) weiter, symbolisieren und schärfen Werbefiguren die Markenpersönlichkeit und können die Marke darüber hinaus
Werbefiguren: Zum interdisziplinären Forschungsstand
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emotionalisieren.8 Werbefiguren können dem Aufsatz zufolge zudem als verbindendes Element Kontinuität herstellen, sowohl über verschiedene Werbemittel innerhalb einer Kampagne als auch langfristig über verschiedene Kampagnen hinweg (Phillips 1996, 152–53).9 Auch Andreas Müller (2012) fasst die Funktionen von Werbefiguren sowohl für die interne als auch für die externe Markenführung zusammen. Dabei lässt sich für die externe Markenführung, ergänzend zu Phillips Aufzählung, die nach Müller gute Eignung der Werbefigur zur „Erzeugung von Markenbekanntheit“ (2012, 153) aufführen. Die Verortung von Werbefiguren in der internen Markenführung, die innerhalb dieser Arbeit nicht behandelt wird, wird z.B. bei Julien Cayla (2013) und Celia V. Harquail (2006) weiter thematisiert. Neben den Funktionen der Werbefigur im Marken- und Werbekontext beziehen sich marketingspezifische Arbeiten auf die potenzielle Wirkung von Werbefiguren. Sie weisen demnach einen hohen Praxisbezug auf, da Werbetreibende den Einsatz von Werbefiguren auf Basis der Forschungsergebnisse zu optimieren suchen können. Einige Arbeiten sollen im Folgenden exemplarisch im Hinblick auf das jeweilige Erkenntnisinteresse aufgeführt werden. Aus qualitativen Interviews schließen Callcott und Phillips (1996, 74–76), dass Eigenschaften wie Humor und eine distinkte Persönlichkeit zur Likability von Werbefiguren beitragen können. Die Ausgangsannahme ist hier, dass die Likability einer Werbefigur sowohl die Aufmerksamkeit von Rezipient_innen generieren kann als auch positive Emotionen auf die Marke transferieren kann (Callcott und Phillips 1996, 73, 76-77). Judith A. Garretson und Ronald W. Niedrich untersuchen 2004 in einer empirischen Studie, welche Einflussfaktoren das Vertrauen in eine Werbefigur beeinflussen und inwiefern dieses Vertrauen wiederum Einfluss auf die Bildung von positiven Markeneinstellungen nimmt. Die empirische Untersuchung von Jennifer Mize und Lance Kinney (2008) fragt danach, inwiefern die Beziehung zwischen Konsument_innen und Marken von dem Einsatz und der Wahrnehmung von Werbefiguren beeinflusst wird. Frank Huber et al. (2007) wollen in ihrer empirischen Studie herausfinden, inwiefern Werbefiguren die Einstellung zur 8
Siehe zu Markenpersönlichkeit Abschnitt 3.2. Phillips führt als weiteren Aspekt die Kontinuität über verschiedene Produkt(marken) unterhalb einer Dachmarke auf, die durch Werbefiguren hergestellt werden kann. 9
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Die Werbefigur
Marke und schließlich das Kaufverhalten von Konsument_innen beeinflussen können. Dabei stehen auch etwaige Wirkungsunterschiede zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Figuren zur Debatte. Medienspezifisch fragen andere Beiträge in der Marketingforschung danach, wie Werbefiguren auf Twitter (Kinney und Ireland 2015) oder auf Webseiten eingesetzt werden (siehe branchenspezifisch Pashupati 2009) und wie sie dort am werbewirksamsten eingesetzt werden sollten (Phillips und Lee 2005). Nicht unerwähnt bleiben soll die (kritische) Beschäftigung mit der Wirkung von Animationsfiguren in der Werbung auf Kinder (Neeley und Schumann 2004). Viele Beiträge der Werbefigurenforschung im Marketing sind empirischer und quantitativer Natur, wie der Marketingwissenschaftler S. Brown herausstellt: Laboratory experiments on student samples are the norm. Hypothesis testing of hypothetical product properties tend to prevail. Atomistic attribute-by-attribute analyses of the resultant data sets are de rigueur. Facts and figures rather than feelings and fervour are the favoured focus thus far. There’s nothing wrong with such studies of course. However, they lack the spark of life that this topic, of all topics, surely requires. They don’t provide a complete picture, let alone an animated picture. (2014b, 9)
Er resümiert daher für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Werbefiguren: „Qualitative interpretations of mascot matters are sorely needed, if only to balance the books“ (Endnotenvermerk S. Brown 2014b, 14). Diese Forderung leitet das Buch Brand Mascots ein – ein Sammelband, der von Brown (S. Brown und Ponsonby-McCabe 2014) mitherausgegeben wird. In diesem nähern sich verschiedene Beiträge von Marketingwissenschaftler_innen, darunter einige Fallstudien, theoriegeleitet dem Thema Werbefiguren. Obwohl nicht darauf limitiert, liegt dabei ein Fokus auf tierischen Figuren und Anthropomorphismus. Thematisch ähnlich möchte Yusra Khalid Khogeer (2013) mit ihrer Dissertation zu einem verbesserten Verständnis für Anthropomorphismus in der Markenführung beitragen und untersucht diesen anhand von Werbefigur-Fallbeispielen. Qualitative Forschungsbemühungen im Hinblick auf Werbefiguren lassen sich im Marketing auch bei Ronald Jay Cohen (2014) sowie Phillips und Edward F. McQuarrie (2016) finden. Cohen (2014) macht dabei nicht nur Vorschläge zu typologischen Ausprägungen von Werbefiguren (siehe dazu Kapitel B, Abschnitt 3), sondern gibt auch Anregungen für die qualitative empirische Erforschung des Themas in Konsumenteninterviews. Phillips und McQuarrie (2016) widmen der Werbefigur in ihrem Buch Visual Branding ein ganzes Kapitel, in dem sie untersuchen, wie Marken mithilfe visueller Gestaltungsmittel aufgebaut werden. Auch sie geben typologische Anregungen sowohl im
Forschungsvorhaben und Aufbau der Arbeit
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Hinblick auf den Einsatz von Werbefiguren im Speziellen als auch im Hinblick auf unterschiedliche Formen der Personifizierung von Marken im Allgemeinen. Daneben behandeln sie insbesondere das Thema des Bedeutungstransfers. Es ist bemerkenswert, dass letztgenannte Forschungsbemühungen im Marketing eine eingehende qualitative Beschäftigung mit dem Gegenstand der Werbefigur anstreben – um, S. Brown folgend, ein vollständigeres und lebendigeres Bild des Werbephänomens zu erhalten. Diese originär eher geisteswissenschaftliche Herangehensweise korrespondiert mit der bislang noch überschaubaren medienwissenschaftlichen Beschäftigung mit Werbefiguren als Werkzeugen der Werbung. Daher möchte die vorliegende Arbeit einen geisteswissenschaftlichen Beitrag dazu leisten, ein vollständigeres Bild des Phänomens der Werbefigur zu zeichnen. Dazu sollen Funktionsweisen und kommunikativer Einsatz von Werbefiguren medienwissenschaftlich untersucht und Analyseinstrumente zu ihrer Beschreibung und Einordnung entwickelt werden.
1.3
Forschungsvorhaben und Aufbau der Arbeit
Das Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zum medientheoretischen Verständnis der Werbefigur zu leisten, indem Werkzeuge zur präzisen Beschreibbarkeit und Einordnung von Werbefiguren entwickelt werden. Darauf aufbauend soll das erarbeitete Analyseinstrumentarium an der Figur Herr Kaiser (Hamburg-Mannheimer) im Fallbeispiel erprobt werden. Die Werbefigur wird dabei vor dem Hintergrund ihrer Aufgabe, Produkte und Dienstleistungen zu bewerben, betrachtet. Demzufolge ist auch die Arbeit interdisziplinär geprägt und versucht unter anderem marketingtheoretische Konzepte semiotisch zu greifen. Die folgenden Kapitel sollen einen facettenreichen Blick auf den Gegenstand der Werbefigur bieten, indem ein breiter Bogen von Aspekten der Produktion (Kapitel B) über das Zeichenkonstrukt und die transmediale Verbreitung der Figur (Kapitel C) bis hin zu Fragen der Rezeption (Kapitel D) gespannt wird. Auf der theoretischen Basis der Semiotik, der Markenführung und des kommunikationswissenschaftlichen Konzepts der parasozialen Interaktion sollen bestehende Konzepte zur Werbefigur weitergedacht und um neue Bestandteile ergänzt werden. Die Arbeit fokussiert dabei massenmediale Werbe-
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Die Werbefigur
kommunikation (siehe dazu auch Abschnitt 2.1) und schließt Fragen der internen Markenführung aus. Es wird also nicht danach gefragt, wie Werbefiguren innerhalb von Organisationen mit den eigenen Mitarbeiter_innen als Zielgruppe eingesetzt werden. Die Besonderheit von Werbefiguren liegt darin, dass ihre Konzeption auf einer persuasiven Absicht gründet. Ihr Einsatz soll innerhalb der Werbekommunikation dazu beitragen, Rezipient_innen von einer Marke zu überzeugen. Vor diesem Hintergrund besteht eine enge Verbindung zwischen Figur und Marke. Eder stellt in seinem Aufsatz zur Werbefigur in Aussicht: „Der Schlüssel zum Verständnis von Werbefiguren liegt in ihrem Verhältnis zum Beworbenen: den Waren und Marken“ (2010, 319). Dieser Annahme folgend wird in Kapitel B eben jenes Verhältnis untersucht. Basierend auf einer semiotischen Betrachtung der Marke soll die Werbefigur marken- und werbestrategisch verortet und typologische Ausprägungen ausgemacht werden. Dafür werden zudem die Begriffe der Marke, der Werbung und der Anthropomorphisierung vor dem Hintergrund des Konzepts der identitätsorientierten Markenführung erläutert. Die analyseleitenden Fragestellungen in diesem Kapitel sind: In welchem Verhältnis steht die Werbefigur zur Marke und wie erfüllt sie ihre Werbefunktion? In Kapitel C wird die Bedeutungsgenerierung und die Zirkulation von Werbefiguren durch Texte und Medien untersucht. Dabei wird über Roland Barthes’ (2013) Theorie des sekundären semiologischen Systems und über das Konzept der seriellen Figur (Denson und Mayer 2012) versucht, eine Verknüpfung beider Aspekte zu erarbeiten: Es soll argumentiert werden, dass die Art und Weise der Bedeutungsgenerierung der Figur und ihre multimodale Anlage zu ihrer Zirkulationsfähigkeit beitragen. Kapitel C fragt demnach insbesondere: Über welche Verfahren generiert die Werbefigur Bedeutung? Wodurch wird die Zirkulation der Werbefigur durch Texte und Medien begünstigt? Im Hinblick auf ihre persuasive Aufgabe sollen Werbefiguren möglichst wirkungsvoll kommunizieren. In Kapitel D wird über die Analyse der Adressierung von Werbefiguren untersucht, wie Werbefiguren wirken wollen – Aussagen über die tatsächliche Wirkung der Werbeansprache können und sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht getroffen werden. Stattdessen sollen unterschiedliche Strategien der Adressierung ausgemacht und untersucht werden, welche Rolle Rezipient_innen innerhalb dieser einnehmen sollen. Die
Forschungsvorhaben und Aufbau der Arbeit
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Analyse der Ansprache durch die Werbefigur wird dabei mit dem Konzept der parasozialen Interaktion und Beziehung verbunden. In Kapitel D liegt also der analytische Fokus darauf, wie und zu welchem Zweck Werbefiguren ihr Publikum adressieren. In dem Bemühen einen Beitrag zur Theoriebildung rund um den Gegenstand der Werbefigur zu leisten, entwickelt diese Arbeit mithilfe illustrativer Beispiele theoretische Annahmen und erprobt diese im Anschluss detailliert am Fallbeispiel Herr Kaiser. Im Hinblick auf die illustrativen Beispiele kann die Herausforderung des Zugangs zu den Werbeartefakten mit Zurstiege wie folgt beschrieben werden: Wer indessen die Werbespots eines durchschnittlichen Fernsehabends – sagen wir: der vergangenen Woche – nachträglich sichten möchte, muss bereits viel Zeit und Mühe aufwenden, um überhaupt an sein Untersuchungsmaterial zu gelangen, weil dieses Material dezentral, also nicht bei den Rundfunkveranstaltern, sondern (wenn überhaupt) bei den Werbetreibenden archiviert wird. (2007, 19; Hervorhebung im Original)
In Zeitungen und Zeitschriften werden Werbekommunikate zwar ‚mit-archiviert‘ (Zurstiege 2007, 20), doch auch hier ist es problematisch, nach bestimmten Kommunikaten (z.B. denen mit Werbefiguren) zu suchen. Dagegen bieten diverse digitale Portale und Suchmaschinen (z.B. Google, vimeo, YouTube) der Werbeforschung einen breiten und gleichzeitig gezielteren Zugang zu Werbeartefakten: So laden Werbeinteressierte Spots hoch oder es wird in nostalgischen Rückblicken auf Plakate verwiesen. Um den Gegenstand der Werbefigur möglichst facettenreich innerhalb dieser Arbeit abzubilden – sowohl in Bezug auf verschiedene Figurenformen als auch in Bezug auf das Alter der Artefakte –, wird auf eben jene digitalen Portale und Suchmaschinen zurückgegriffen. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass viele der aufgeführten Werbekommunikate nicht von den Urhebern, das heißt den werbetreibenden Unternehmen, eingestellt werden und dass oftmals auch Jahresangaben fehlen. Die aufgeführten Quellen z.B. bei YouTube oder vimeo-Videos, aber auch bei Online-Artikeln beschreiben damit oftmals nur die Auffindbarkeit, nicht aber die Urheber der Artefakte. Dort, wo Jahreszahlen vermerkt worden sind, die nicht von den Urhebern oder journalistischen Quellen stammen, habe ich die Jahreszahl als ‚angegebenes Jahr‘ bezeichnet. Für das detailliert analysierte Fallbeispiel der Figur Herr Kaiser wurden die untersuchten Materialien dagegen aus dem Unternehmensarchiv zusammengetragen. Die Figur Herr Kaiser bietet sich für die Untersuchung innerhalb dieser Arbeit dadurch an, weil sie 38 Jahre lang (1972-2010) im Werbedienst der Marke Hamburg-
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Die Werbefigur
Mannheimer stand und somit produktions- und rezeptionsseitige Aushandlungsprozesse über einen langen Zeitraum beobachtbar macht. Mit der Analyse von Herrn Kaiser soll also auch ein Stück deutsche Werbegeschichte medienwissenschaftlich aufgearbeitet werden. Die erfolgte Integration des Fallbeispiels Herr Kaiser wurde durch umfangreiche Archivarbeiten ermöglicht, die im nachfolgenden Kapitel näher erläutert werden. Kapitel E hat allein die Figur Herr Kaiser zum Thema und ist als Exkurs angelegt, da keine zwingende Anbindung zu einem der theoretischen Kapitel besteht. Hier werden archivierte Zuschriften an die Figur analysiert und damit die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser reflektiert. Insgesamt werden in dieser Arbeit nur Werbefiguren berücksichtigt, mit denen in Deutschland geworben wurde bzw. wird. In Anbetracht der wenigen deutschen Forschungsbeiträge zur Werbefigur verspricht dieser Ansatz – wenn Werbebetrachtung als Kulturbetrachtung verstanden wird – auch medienkulturspezifische Einblicke in die deutsche Werbelandschaft.
1.4
Anmerkungen zur Archivarbeit
Werbung ist ein kurzlebiges Phänomen. Um den Puls der Zeit zu treffen, werden immer wieder neue Kommunikate produziert. Für die Werbeforscher_in lassen sich historische Werbekommunikate etwa über die Internetrecherche, über Zeitungs- oder Universitätsarchive ermitteln. Eine andere mögliche Recherchequelle sind die Unternehmen, die diese Kommunikation hervorgebracht haben. Diese Informationsquelle scheint besonders reizvoll, wenn Einblicke in die Werbemaßnahmen einer bestimmten Marke – oder eben Werbefigur – gewünscht sind. Das Ergo-Archiv stellt für das Fallbeispiel Herr Kaiser eine solche Quelle dar. Die Hamburg-Mannheimer war eine der Endkundenmarken der ErgoVersicherungsgruppe und wurde durch Herrn Kaiser beworben. Der dort verantwortliche Archivar, Markus Holmer, ermöglichte die Einsicht in das Ergo-Archivmaterial für die Recherche zu dieser Arbeit. Nach einer konkreten Rechercheanfrage zur Werbefigur Herr Kaiser wurden unterschiedlichste Bestände zur Sichtung bereitgestellt. Zu den bereitgestellten Archivmaterialien gehören: Werbespots, Werbeanzeigen, Zeitungsartikel, Stellenanzeigen mit dem
Anmerkungen zur Archivarbeit
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Kaiser-Konterfei, Werbeforschungsstudien, Publikumszuschriften, Korrespondenzen sowie die Hamburg-Mannheimer Mitarbeiterzeitschrift forum.10 Dass rund um die Figur so vielfältiges Material überliefert worden ist, ist auch auf Helmut B. Fiebig, den Erfinder der Figur, zurückzuführen. So ist zu einigen der bereitgestellten Bände im Archivverzeichnis vermerkt, dass Fiebig diese ‚Kaiser-Sammlung‘ zusammenstellte, um eine Biographie über die Figur zu schreiben.11 Die zur Recherche bereitgestellten Bände konnte ich in der Ergo-Zentrale in Düsseldorf einsehen. Bei Sichtung der zur Verfügung gestellten Materialien, dokumentierte ich alle ‚kaisernahen‘-Materialien fotografisch.12 Bei zehn ganztägigen Archivbesuchen sind ca. 4.000 Fotodateien entstanden.13 Diese wurden im Nachhinein nochmals gesichtet und kategorisiert (z.B. in die Themen ‚interne Markenführung‘, ‚Werbematerialien‘ oder ‚diskursive Verhandlung‘). Für das eigene Verständnis wurde daraufhin die Evolution der Figur Herr Kaiser nachgezeichnet. Auf Basis dieser Vorarbeit konnten die Archivunterlagen schließlich für die Aufbereitung des Fallbeispiels genutzt werden. Dabei muss angemerkt werden, dass es nicht das Ziel dieser Arbeit ist, das Ergo-Archiv im Hinblick auf den Hamburg-Mannheimer Bestand oder die Figur Herr Kaiser vollständig zu erschließen. Diese Arbeit stellt demnach keinesfalls den Anspruch, dass die Leser_in einen umfassenden Einblick in die Ergo-Archivbestände zur Hamburg-Mannheimer erhalten würde. Stattdessen wurden die Archivquellen genutzt, um die Anwendbarkeit der erarbeiteten Analyseinstrumente zu erproben. Im Folgenden soll das mir zur Verfügung gestellte Material zudem kritisch reflektiert werden.
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Die Mitarbeiterzeitschrift hieß zunächst HM-Forum und wurde 1978 in forum umbenannt. Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden nur von der forum gesprochen. 11 Dieser Hinweis ist im Ergo-Archivverzeichnis zu den Signaturen A0101-00051 sowie A0101-00050 vermerkt. Alle aufgeführten Signaturen gehören zum Bestand Hamburg-Mannheimer. Details zur Auffindbarkeit der Archivquellen sowie eine Leseanleitung für die Kurznachweise und die Quellenangaben folgen in Abschnitt 1.4.2. 12 Es wurden beispielsweise keine Inhalte der Mitarbeiterzeitschrift dokumentiert, die keine Anbindung an die Werbefigur oder die Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation hatten. 13 Die Archivbesuche haben an folgenden Tagen stattgefunden: 09.12.2016, 16.12.2016, 19.12.2016, 26.01.2017, 31.01.2017, 16.02.2017, 23.03.2017, 30.03.2017, 21.06.2019, 24.06.2019. Dabei fand die eigentliche Sichtung der bereitgestellten Materialien in 2016 und 2017 statt. Die Archivbesuche in 2019 dienten der spezifischen Informationsaufnahme, so wurden beispielsweise bestimmte Studien umfassend dokumentiert oder Fotos für den Abdruck in der Arbeit neu aufgenommen. Sowohl in 2016 und 2017 als auch in 2019 sind jeweils ca. 2.000 Fotodateien entstanden. Die Sichtung und Dokumentation im Archiv wurde jeweils zwischen 09:00-10:00 Uhr begonnen und zwischen 16:00-17:00 Uhr beendet.
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Die Werbefigur
1.4.1 Reflexion der Archivmaterialien Die über einen so langen Zeitraum gesammelten,14 vielfältigen Unterlagen zur Werbefigur Herr Kaiser stellen einen fruchtbaren Untersuchungsgegenstand für diese Arbeit dar. Nichtsdestotrotz müssen die Materialien kritisch reflektiert und eingeordnet werden. So entstand die ‚Kaiser-Sammlung‘ für den spezifischen Zweck, eine (unterhaltsame) Biographie über die Figur zu schreiben – sie wurde nicht aufgesetzt, um alles Vorhandene zur Figur zu dokumentieren. Das Aufbewahren der Materialien war demnach selektiv. Dies wird auch durch die geringe Anzahl der gesammelten Publikumszuschriften und deren besondere Ausprägungen – beispielsweise im Vergleich zu einem einfachen Autogrammwunsch – widergespiegelt (siehe dazu Kapitel E). Es kann also nicht von einem ungefilterten Zugang zu den kaiserspezifischen Dokumenten ausgegangen werden. Darüber hinaus muss insbesondere im Hinblick auf die Mitarbeiterzeitschrift forum von einer gewissen Parteilichkeit der Quellen ausgegangen werden. Mit Parteilichkeit meine ich, dass die Kommunikation über Herrn Kaiser in der Mitarbeiterzeitschrift letztlich interne Werbung für die Hamburg-Mannheimer Werbung war. Die Zeitschrift wurde dazu verwendet, die eigenen Werbeaktivitäten intern zu verargumentieren. Diese Beobachtung wird dadurch untermauert, dass Werbeleiter Fiebig, Erfinder der Figur, selbst bis 1997 verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift war. Des Weiteren wurden wiederholt Inhalte integriert, die zur Identifikation der Mitarbeiter_innen mit der Figur beitragen sollten: darunter beispielsweise humorvolle, comicähnliche Darstellungen von Gerda Kaiser, Herrn Kaisers ‚Ehefrau‘ (EA forum 1980 (6), 2), Berichte über die Kaiser-Darsteller (EA forum 2001 (Jun), 4–7) oder die ‚Ahnengalerie‘ der Figur, die humorvolle Annahmen über die Arbeit eines Versicherungsvertreters z.B. in der Steinzeit anstellte (EA forum 1994 (3), 21). Im Leserforum der Zeitschrift wurden darüber hinaus auch immer wieder Fundstücke der Mitarbeiter_innen zu Herrn Kaiser (z.B. aus der Presse) abgedruckt (EA forum 1989 (2), 26). Nichtsdestotrotz stellt die Mitarbeiterzeitschrift eine wertvolle Quelle für die Darstellung des internen Marketingdiskurses dar, da hier eine kontinuierliche Reflexion über die Werbemaßnahmen, die dahinterliegende Werbestrategie sowie über auftretende Herausforderungen stattfand. 14
Herr Kaiser trat erstmals 1972 in der Hamburg-Mannheimer Werbung auf (siehe dazu das Fallbeispiel in Kapitel B).
Anmerkungen zur Archivarbeit
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Im Rahmen dieser Arbeit werden außerdem Ergebnisse aus Marktforschungsstudien vorgestellt. Dabei ist es nicht das Anliegen, die Güte der Studien zu bewerten. Stattdessen werden diese und die Kommunikation darüber als Bestandteile des internen Marketingdiskurses verstanden, der mithilfe der erarbeiteten theoretischen Annahmen nachgezeichnet werden soll. Studienergebnisse werden demnach als vorliegende Informationsquellen der Werbeverantwortlichen oder im Rahmen der forum-Berichterstattung als interne Plausibilisierungshilfe für die werbestrategischen Entscheidungen betrachtet. Im Fallbeispiel von Kapitel D werden Anzeigen und Werbespots medienimmanent analysiert. Aber auch hier gilt es die zugrundeliegenden Archivmaterialien zu reflektieren: Die jeweils angenommenen Jahreszahlen der Werbeanzeigen sind zumeist handschriftlich vermerkte Notizen, sodass diese nicht abschließend verifiziert sind. Ebenfalls können über die überlieferten Anzeigenblätter, die zum Teil mehrfach in ähnlicher Ausführung vorliegen, keine Aussagen über die tatsächliche Schaltung und die jeweilige Laufzeit getroffen werden. Bei einigen Anzeigen handelt es sich zudem um Musteranzeigen, in denen noch die Unternehmensadressen ergänzt werden mussten. Es handelt sich dabei vermutlich um Werbematerial, das den Mitarbeiter_innen für regionale Werbung zur Verfügung gestellt wurde. Die Reflexion und Einordnung der Archivmaterialien soll auch im Rahmen des Fallbeispiels kontinuierlich erfolgen.
1.4.2
Informationen zur Archivquellenangabe
Das Ergo-Archiv ist dezentral nach den Standorten der ehemaligen Markengesellschaften aufgestellt. Der Hamburg-Mannheimer Bestand steht ursprünglich in Hamburg, wurde mir aber in Düsseldorf zugänglich gemacht. Der Ergo-Archivbestand ist – unabhängig vom Standort – mit einzigartigen Signaturen gekennzeichnet, unter denen die Quellen zusammen mit der Bandnummer auffindbar sind. Für jede genutzte Quelle wird diese Signatur im Quellenverzeichnis aufgeführt. Im Text werden die verwendeten Archivquellen mit einem Kurznachweis gekennzeichnet, dem jeweils ein ‚EA‘ für Ergo-Archiv vorangestellt ist. Dieses ‚EA‘ gibt der Leser_in den Hinweis, dass die dazugehörigen Angaben im Quellenverzeichnis unter den Archivquellen aufzufinden sind. Die jeweilige
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Die Werbefigur
Quelle ist dann unter der im Kurznachweis vermerkten Bezeichnung und dem angegebenen Jahr zu finden. Der Kurznachweis ‚EA Werbespot 2001‘ würde demnach dazu anleiten, in den Archivquellen nach ‚Werbespot 2001‘ zu suchen. Bei der Mitarbeiterzeitschrift ist im Kurznachweis außerdem die jeweilige Heftnummer angegeben. Die Quellenangaben sind nach folgendem Muster aufgebaut: ‚Quellenbezeichnung. Jahr und gegebenenfalls die forum-Heftnummer. Quellenbeschreibung und gegebenenfalls Aktentitel oder Dateibezeichnung. Signatur. Gegebenenfalls Bandnummer. Archiv. Bestand‘ (z.B.: ‚forum. 1982 (5). Zeitschrift für die Mitarbeiter der Hamburg-Mannheimer. Signatur N0201-00020. Ergo-Archiv. Bestand Hamburg-Mannheimer‘).
B Marken- und werbestrategische Verortung
2
Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
In der Marketing-Literatur wird vielfach davon ausgegangen, dass die Marke – genauer die sogenannte Markenidentität – der ‚Ausgangspunkt‘ (Kroeber-Riel und Esch 2015, 77) oder der ‚inhaltlich-strategische Bezugspunkt‘ (Müller 2012, 26)15 für die Entwicklung von Werbekommunikation ist und dass Werbung Marken aufbaut und pflegt (Rossiter und Percy 2005). Ausgehend von der Annahme, dass Werbefiguren als Teil dieser Werbung ebenfalls einen grundsätzlichen Bezug zur Marke haben, sollen im Folgenden zunächst aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive die Begriffe Marke und Werbung eingeordnet und Interdependenzen zwischen beiden Konzepten aufgezeigt werden. Die Betrachtung des markenstrategischen Kontextes wird als grundlegend erachtet, um die originären Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge von Werbefiguren nachvollziehen und damit beispielsweise Konzeptionsabsichten fundierter reflektieren zu können. Für einen medienwissenschaftlichen bzw. interdisziplinären Zugang erfolgt in einem zweiten Schritt die semiotische Betrachtung der Konzepte Marke und Werbung. Auf Basis dieser semiotischen Einordnung wird die Werbefigur im weiteren Verlauf des Kapitels marken- und werbestrategisch verortet.
2.1
Marke und Werbung – Begriffliche Einordnung und Interdependenzen
Franz-Rudolf Esch und Tobias Langner (2005, 575) weisen darauf hin, dass das Kennzeichnen von Produkten eine Jahrhunderte alte Praxis ist. So hätten bereits mittelalterliche Gilden von ihren Mitgliedern gefordert, ihre Produkte zu markieren, um die Qualität der 15
Müller spricht hier vom Bezugspunkt der Markenkommunikation. In dieser Arbeit werden die Termini Marketing-, Marken- und Werbekommunikation sowie Werbung synonym verwendet – jeweils verkürzt im Sinne von klassischer Absatzwerbung. Die genannten Termini umfassen Kommunikationsformen, die über die hier im Fokus stehende klassische Werbung (d.h. „[…] alle klassischen Werbemittel wie z.B. der TV-Spot, das Plakat oder die Zeitungsanzeige, die ihre Botschaft einem Massen- oder nach Zielgruppen segmentierten Publikum via öffentlich zugänglicher Werbeträger vermitteln“ (Siegert und Brecheis 2017, 39)), auch als Mediawerbung bezeichnet, hinausgehen und z.B. Werbung am Verkaufsort oder auf Messen umfassen. Siehe zur Abgrenzung unterschiedlicher Werbe- und Kommunikationsformen sowie zur Mediawerbung: Siegert und Brecheis (2017, 12–39), Bruhn (2009a) und Bruhn (2009c).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_2
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Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
Waren hervorzuheben und von anderen Herstellern abzugrenzen (Esch und Langner 2005, 575). Auf Märkten, auf denen ähnliche Produkte miteinander konkurrieren, identifiziert die Kennzeichnung sie und differenziert sie voneinander (Murphy 1990, 3, 17). Noch heute wird die Marke im gewerblichen Schutzrecht vor allem über die Identifikations- und Differenzierungsfunktion definiert: Als Marke können alle Zeichen, insbesondere Wörter einschließlich Personennamen, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen, Klänge, dreidimensionale Gestaltungen einschließlich der Form einer Ware oder ihrer Verpackung sowie sonstige Aufmachungen einschließlich Farben und Farbzusammenstellungen geschützt werden, die geeignet sind, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden. (§ 3 Abs. 1. MarkenG)16
Zur Steuerung von Marken hat sich in der Marketingtheorie der identitätsorientierte Markenführungsansatz etabliert (Meffert und Burmann 2013; Csaba und Bengtsson 2006, 118).17 Innerhalb dieses Ansatzes wird eine Marke von den Marketingwissenschaftlern Christoph Burmann, Lars Blinda und Axel Nitschke definiert als […] ein Nutzenbündel mit spezifischen Merkmalen, die dafür sorgen, dass sich dieses Nutzenbündel gegenüber anderen Nutzenbündeln, welche dieselben Basisbedürfnisse erfüllen, aus Sicht relevanter Zielgruppen nachhaltig differenziert. (2003, 6; Hervorhebung im Original; vgl. Keller 1993, 2; vgl. Kotler 1991, 442)
Diese Einordnung greift weiter als die reine Differenzierungs- und Identifikationsfunktion, die den verschiedenen Formen der Markenzeichen im Markengesetz zugeschrieben wird. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass sich das sogenannte ‚Nutzenbündel‘ Marke sowohl aus materiellen als auch immateriellen Komponenten zusammensetzt (Burmann, Blinda und Nitschke 2003, 3–4). Mit materiellen Komponenten sind dabei z.B. technische Eigenschaften gemeint. Immaterielle Komponenten umfassen neben den schutzfähigen Zeichen auch andere Zeichen, die den Markenauftritt prägen, sowie beispielsweise den Preis einer Marke. Die materiellen und immateriellen Merkmale einer Marke können dann für Kund_innen funktionale und symbolische Nutzen stiften (Burmann, Blinda und Nitschke 2003, 7). Darüber hinaus betonen Burmann und Blinda (2010,
16
Markengesetz vom 25. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3082; 1995 I S. 156; 1996 I S. 682), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2357) geändert worden ist (Gesetze im Internet Webseite). 17 Im Folgenden wird vom identitätsorientierten Markenführungsansatz ausgegangen, der in diesem Kapitel weiter erläutert wird. Die sogenannte identitätsbasierte Markenführung, für die maßgeblich Christoph Burmann steht, versteht sich als Weiterentwicklung des identitätsorientierten Ansatzes mit einer spezifischen Modellierung der Markenidentität (Burmann, Blinda und Nitschke 2003). Da an dieser Stelle kein spezifisches Markenidentitätsmodell herangezogen werden soll, wird übergeordnet von identitätsorientierter Markenführung gesprochen. Siehe zu den verschiedenen Modellen der Markenidentität Bernd Radtke 2013, 70–93.
Marke und Werbung – Begriffliche Einordnung und Interdependenzen
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363), dass die Aufgabe für Unternehmen darin besteht, ein solches Nutzenbündel nicht nur differenzierend, sondern ‚wettbewerbsüberlegen‘ zu gestalten. Dabei sind Burmann, Heribert Meffert und Martin Koers (2013, 12) zufolge symbolische Markennutzen wie die Vermittlung von Prestige, Gruppenzugehörigkeit oder die Kommunikation individuell relevanter Werte und Lebensstile oftmals erfolgskritisch. Diese Annahme kann in einen Zusammenhang mit der Feststellung von Fabian Faurholt Csaba und Anders Bengtsson (2006, 118) gebracht werden, dass sich die Markenführung von der Produktidentifikation zum ‚Bedeutungsmanagement‘ gewandelt hat. Beim identitätsorientierten Markenführungsansatz geht es aus Unternehmenssicht darum, der Marke wesensprägende und charakteristische Merkmale zuzuschreiben (Burmann und Blinda 2010, 364–65). In Anlehnung an ein bestimmtes Verständnis menschlicher Identität wird die Markenidentität als stabiles, widerspruchsloses und einzigartiges Merkmalsset konzeptualisiert (Meffert und Burmann 1996, 28–31). Zur Markenidentität können z.B. gewisse Werte, Leistungen, eine Herkunft und eine Persönlichkeit gehören (Radtke 2013, 70–93). Dabei muss angemerkt werden, dass es (kulturelle) Identitätskonzepte gibt, so z.B. bei Stuart Hall (1996), die gerade nicht von einer Essentialität von Identität ausgehen. An dieser Stelle interessieren allerdings vor allem die Prämissen, mit denen der Ansatz der identitätsorientierten Markenführung nachvollzogen werden kann: Dafür ist es zum einen wichtig, dass von einer gewissen Analogie zur menschlichen Identität ausgegangen wird und dass einer Markenidentität Kontinuität und Konsistenz zugeschrieben werden. Nach Burmann und Blinda ist „[d]ie Identität […] die eigentliche Substanz einer Marke, auf der ihre Differenzierungskraft beruht“ (Burmann und Blinda 2010, 364; Hervorhebung im Original). Die Markenidentität ist das vom Unternehmen steuerbare Selbstbild und steht dem Markenimage als Fremdbild gegenüber (Esch, Langner und Rempel 2005, 106).18 Das Image beschreibt die Wahrnehmung der Marke durch externe Zielgruppen und kann im Gegensatz zur Identität nicht direkt gesteuert werden. Es kann daher von einem Aussagekonzept (Markenidentität) auf der einen und von einem Akzeptanzkonzept (Markenimage) auf der anderen Seite gesprochen werden (Esch, Langner und Rempel
18
Für eine Übersicht der Merkmale des Markenimages, darunter zum Beispiel die Art der Assoziationen (emotional oder kognitiv) und die Anzahl der Assoziationen, siehe (Esch 2018, 64–65).
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Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
2005, 106; Kapferer 1992, 44–45). Ziel aus Unternehmenssicht ist eine hohe Übereinstimmung zwischen Markenidentität und -image (Esch, Langner und Rempel 2005, 109). Da eine möglichst hohe Relevanz der Marke für die Zielgruppe im Markt angestrebt wird, wird auf Basis der Markenidentität die Markenpositionierung formuliert. Die Markenpositionierung stellt gewissermaßen „[…] ein Extrakt der Markenidentität“ (Esch, Langner und Rempel 2005, 108) dar. Dabei stehen solche Merkmale im Fokus, von denen Unternehmen ausgehen, dass sie differenzierend zum Wettbewerb sind und sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Zielgruppe orientieren (Esch 2018, 92).19 Bei der von Esch (2018, 91–92) als ‚Transfer‘ bezeichneten Umsetzung der Identität über die Positionierung im Markt wird die Werbekommunikation relevant. Die Markenpositionierung, die zunächst nur als Konzept vorliegt, soll für Anspruchsgruppen erfahrbar gemacht werden. Kroeber-Riel und Esch schreiben zur Interdependenz von Positionierung und Kommunikation: Die Markenpositionierung wird anschließend in sichtbare Maßnahmen zur Kommunikation des angestrebten Soll-Images zur Marke umgesetzt. Konkret sind damit Umsetzungen im Produkt-Design, der Massenkommunikation, der Below-the-line-Kommunikation und in andere Instrumente des Marketing-Mix gemeint, die für den Kunden sichtbar werden. Je besser die Umsetzung in kommunikative Maßnahmen erfolgt, umso klarer ist im Ergebnis das Markenimage […] Was letztlich von den verschiedenen Anspruchsgruppen über die Marke gelernt wird, hängt von der Umsetzung der Identität und der Positionierung in sichtbare Maßnahmen durch Kommunikation ab. (2015, 79–80)20
Das Zusammenspiel zwischen Marke und Werbung kann demnach wie folgt zusammengefasst werden: Die Markenidentität als Selbstbild der Marke fungiert als strategischer Ausgangspunkt für die Ausgestaltung kommunikativer Maßnahmen wie z.B. Werbung. Umgekehrt soll das Markenimage als Fremdbild bei den Anspruchsgruppen im Markt durch eben jene kommunikativen Maßnahmen beeinflusst werden.21 Wie eingangs erwähnt, fungiert die Markenidentität somit als Fundament für die Entwicklung der Kommunikation – Werbung kann dagegen als Transfer- und Realisationsinstrument betrachtet werden. Marke und Werbung stehen damit in einem engen kausalen Wechselverhältnis. Wie kann Werbung von anderen Kommunikationsformen abgegrenzt werden und somit der Rahmen gesteckt werden, in dem das Phänomen der Werbefigur in dieser Arbeit
19
Als Beispiele für eine solche Fokussierung führt Esch (2018, 92) BMW und Apple an. Erstere Marke stehe für Sportlichkeit, Dynamik und Freude und letztere für Designorientierung und Modernität. 20 Esch beschreibt hier im Hinblick auf das Markenimage einen deutlich idealisierten Input-Output-Mechanismus. 21 Esch, Tobias Langner und Jan Eric Rempel deuten das Markenimage daher auch als „[…] Gradmesser für den Erfolg der Umsetzung einer Positionierung durch die kommunikativen Maßnahmen“ (2005, 109).
Marke und Werbung – Begriffliche Einordnung und Interdependenzen
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betrachtet wird? Nils Borchers schlägt aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive vor, Werbung wie folgt zu definieren: „Werbung ist der Versuch, die Selektion eines aus Eigeninteresse vorgeschlagenen Anschlusses ohne die Androhung negativer Sanktionen zu motivieren“ (Borchers 2014a, 270; Hervorhebung im Original). Werbung will zwar ‚folgenreiche Aufmerksamkeit‘ (Zurstiege 2002, 122) reklamieren, hält allerdings keine Sanktionen bereit, falls der intendierte Anschluss an die werbliche Kommunikation nicht erfolgt (was wiederum die Handlungsmacht der Verbraucher_innen betont). Diese Definition kann als Basis für das Verständnis der Kommunikationsform dienen. Allerdings muss der Begriff in Bezug auf den hier betrachteten Gegenstand der Werbung (die soeben erläuterte Marke) noch zugespitzt werden. Denn auch eine Glaubensgemeinschaft, eine Liebende oder eine Partei kann werben (Borchers 2014b, 242–43). In dieser Arbeit wird von Wirtschaftswerbung, genauer von Absatzwerbung, gesprochen (siehe zu unterschiedlichen Formen der Werbung Janich 2013, 20 in Anlehnung an Schweiger und Schrattenecker 1995, 11). Kroeber-Riel und Esch definieren Werbung im wirtschaftlichen Kontext wie folgt: Werbung lässt sich als versuchte Verhaltensbeeinflussung mittels besonderer Kommunikationsmittel auffassen. Die Kommunikationsmittel reichen von Plakaten, Zeitungs- und Zeitschriftenanzeigen, Fernseh- und Radio-Werbung, Guerilla-Werbung bis hin zur Internet- oder Handywerbung. Diese Definition grenzt Werbung von anderen Formen der Meinungsbeeinflussung ab, bei denen keine besonderen Kommunikationsmittel (Werbemittel) eingesetzt werden, wie dies bei der Verhaltensbeeinflussung durch persönlichen Verkauf oder durch Verkaufsförderung der Fall ist. Wenn man ohne weiteren Zusatz von Werbung spricht, so meint man üblicherweise die Absatzwerbung für Konsum-, Dienstleistungs- oder Investitionsgüter: Die Abnehmer sollen durch die Werbung dazu gebracht werden, die angebotenen Güter zu kaufen. (2015, 52)
In Bezug auf die Absatzwerbung wird deutlich gemacht, dass es sich bei der betrachteten Werbeform um eine medial vermittelte Kommunikation handelt. Im Rahmen dieser Arbeit kann diese Spezifizierung noch insofern präzisiert werden, als dass nur Werbekommunikation im Rahmen massenmedialer Werbeträger betrachtet wird (siehe zu Abovethe-Line-Werbung Siegert und Brecheis 2017, 16–18; siehe zu Mediawerbung Bruhn 2009c). Kroeber-Riel und Esch schärfen in der gegebenen Definition außerdem den Blick für den gewünschten Anschluss an die Kommunikation, nämlich den Konsum bzw. Kauf von Produkten oder Dienstleistungen. Marke und Werbung werden im Folgenden als interdependente Konzepte verstanden. Dabei kann das verbale Positionierungskonzept als Konzeptebene der Markenpositionie-
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Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
rung betrachtet und Werbung als (eine) Realisationsebene der Markenpositionierung verstanden werden (Esch, Langner und Rempel 2005, 108; Esch 2011, 61–63). Marken stellen damit unabhängig von einzelnen Kampagnen den langfristigen Bezugspunkt der Werbefigur dar und sind auch letztendliche Zielgröße der Werbemaßnahmen. Nach der begrifflichen Einordnung und dem Aufzeigen von Interdependenzen aus Marketing-Perspektive, sollen beide Konzepte im Folgenden aus semiotischer Sicht betrachtet werden.
2.2
Semiotische Betrachtung von Marke und Werbung
Der Begriff ‚Marke‘ lässt sich etymologisch zurückführen auf die Bedeutung der ‚Abgrenzung‘ („[d]ie Mark […] bezeichnet ein Grenzzeichen eines Landstückes und die so hergestellte Grenze selbst […]“ (Schütz 2002, 20)) und auf die Bedeutung des ‚Zeichens‘ selbst (die Mark lässt sich in dieser Bedeutung z.B. im Begriff der Brandmarkung wiederfinden (Schütz 2002, 19–22)). Damit verweist der Wortursprung sowohl direkt auf das Zeichen als auch indirekt über die Zeicheneigenschaft der Abgrenzung zu anderen Zeichen. Die sprachhistorischen Beispiele zeigen, dass sich die Marke nicht nur rechtlich, sondern auch etymologisch im Zeichen konstituiert. Damit erscheint der gängige Begriff ‚Markenzeichen‘ zunächst redundant (Gallert 1998, 26), dabei drückt dieser das Programm einer Marke treffend aus: Die Marke führt die Zeichenfunktion in einen Superlativ.22 Die Aufgabe einer Marke ist es, der Konsument_in durch Unterscheidung, von dem, was die Marke nicht ist (andere Angebote auf dem Markt), und dem, was sie ist (die spezifische Marke), einen Kaufanreiz zu geben. Marken werden also explizit im Hinblick auf ihre Identifikations- und Differenzierungsfunktion konzipiert. Es ist demnach nur konsequent, sich der Marke zeichentheoretisch zu nähern. Dabei wird der Betrachtung ein triadisches Zeichenmodell zugrundgelegt, bestehend aus Signifikant (Zeichenträger), Signifikat (Bedeutung) und Referent (Referenzobjekt) (siehe für eine begriffliche Übersicht Nöth 2000, 136–41). Andreas Müller (2012, 26 in Anlehnung an Gallert 1998, 24) weist darauf hin, dass ein ‚Nutzenbündel‘ zunächst einmal bezeichnet werden müsse, um ‚Gegenstand von 22
Martin Andree (2010, 31–32) spricht von einer ‚Radikalisierung der Zeichenfunktion‘: Bei Marken wird demnach die Unterscheidung vom marked space zum unmarked space übersteigert.
Semiotische Betrachtung von Marke und Werbung
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Kommunikation‘ sein zu können. Dies erfolgt durch Markennamen und -logos (Müller 2012, 26–27). Produkte werden durch diese Bezeichnung nicht nur kommunizierbar, sie werden auch individualisiert und erhalten erkennbare Eigenständigkeit (Schütz 2002, 26). So argumentiert Petra Schütz, dass ein Produkt ohne eigenständige Markierung „[…] als Produkt-Urmuster lediglich Mitglied einer Gattung ohne Unterscheidungsmöglichkeit“ (2002, 27) sei. Noch einen Schritt weiter führt der Vergleich, den Marcel Danesi zwischen der Namensgebung bei Menschen und der bei Marken anführt: Branding products is, ultimately, a social act. […] It is equivalent to the process of bringing human beings into the social order by giving them a name. That act reifies human beings as individuals, transforming them into ‚persons.‘ (2006, 33)
Ebenso wie ein Name einen Menschen zu einer identifizierbaren Person innerhalb einer Gesellschaft macht,23 so geben Namen Produkten oder Dienstleistungen trotz Massenproduktion den Schein des Individuellen. Martin Andree (2010, 34) konstatiert, dass der Markenname ‚das Phantasma des Einzigartigen‘ erzeuge. Müller (2012, 27) ordnet Markennamen und -logos als Primärsymbole ein, die innerhalb der Markenführung bekannt gemacht und mit den Identitäts- bzw. Positionierungsinhalten verknüpft werden sollen. Diese Inhalte sind zunächst nur verbale Konzepte und müssen daher für die Zielgruppen konkretisiert werden (Müller 2012, 27). Die Primärsymbole sind allerdings nur bedingt imstande, eine solche Kommunikationsleistung zu erzielen. Daher erfolgt die Konkretisierung nach Müller (2012, 27) durch weitere Symbole, die mit den Positionierungsmerkmalen assoziiert werden. So geschieht dies beispielsweise bei der Marke Marlboro und der Marlboro-Westernwelt mit dem Marlboro-Mann (Freiheit, Männlichkeit und Abenteuer) (Müller 2012, 27–28). Die Zeichen für diese weiterführende Kommunikation der Marke bezeichnet Müller (2012, 27) als Sekundärsymbole. Dazu können z.B. Verpackung und Design, Slogans oder eben Werbefiguren gehören (Müller 2012, 129–39). Da die Symbolhaftigkeit der Werbefigur im weiteren Verlauf der Arbeit noch in einem anderen Kontext thematisiert wird (siehe Kapitel C), soll in Anlehnung an das Markenzeichen hier übergeordnet von Primär- und Sekundärzeichen und nicht von Symbolen gesprochen werden.24 23
Danesi weist darauf hin, dass ein verweigerter Name einem Menschen die Menschlichkeit abspricht: „The use of numerical identification of prisoners and slaves is, in effect, a negation of their humanity and, ultimately, their existence“ (2006, 21). 24 Mit diesen Bezeichnungen wird keine Verbindung zu primären und sekundären Zeichensystemen angestrebt. Siehe zum sekundären semiologischen System Kapitel C.
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Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
Primär- und Sekundärzeichen können dem ‚Signifikantenbündel‘ (Mosbach 1999, 48) von Marken zugeordnet werden. Als Zeichenträger der Marke werden sie in Texte (Werbekommunikate) eingebunden, worin sie ausformuliert und erweitert werden. Durch die Kommunikation mit den Sekundärzeichen sollen die Primärzeichen „[…] letztendlich eigenständig mit den intendierten Identitätsmerkmalen der Marke verknüpft werden“ (Müller 2012, 27). Das Signifikantenbündel bezeichnet demnach das ‚Nutzenbündel‘ Marke und kann es auch beschreiben.25 Als Signifikat des bzw. der Markenzeichen werden in der Literatur weitgehend synonym die Marke und das Markenimage betrachtet (Mosbach 1999, 42, 46; Fritz 1994, 16– 17). Nach Thomas Fritz stellt das semiotische Dreieck in Bezug auf Marken […] das konventionelle Verhältnis zwischen Markenzeichen im allgemeinen [sic!] (Markenname, Logo, Merkmale der Corporate Identity) und dem Produkt als tangibler, wirtschaftlicher Einheit dar, das über die Marke oder das Image als Signifikat vermittelt ist. (Fritz 1994, 61)
Die Nutzung beider Begriffe (Marke und Markenimage) kann damit erklärt werden, dass die Marketing-Disziplin mit dem Markenimage einen eigenen Begriff für das Vorstellungsbild der Marke aus Sicht der interpretierenden Konsument_innen bereithält. Wie im vorigen Kapitel erläutert, ist das Markenimage aber nur eine Seite der ‚Marken-Medaille‘, die andere stellt die aus Unternehmenssicht formulierte Markenidentität dar. Müller bemerkt: Markensymbole sollen daher im Folgenden als jene sinnlich wahrnehmbaren Zeichen verstanden werden, die auf eine Marke verweisen und diese somit identifizierbar und kommunizierbar machen und dabei die Identität bzw. das aus der Identität verdichtet [sic!] Nutzenversprechen der Marke repräsentieren. (2012, 26; Hervorhebung im Original)
Das Signifikat kann entweder aus Konsumentenperspektive, das heißt aus Perspektive der externen Interpret_innen (Image = Vorstellungsbild der Kund_innen), aus Konzeptionsperspektive (Identität = Management-Verbalkonzept) oder aus übergreifender Perspektive (Marke = Nutzenbündel) in Position gebracht werden. Durch Markierung und Kommunikation wird das Signifikat kommunizierbar gemacht und inhaltlich aufgebaut.26 Es handelt sich beim Signifikat um das konzeptionelle bzw. mentale Nutzenbündel (das aus materiellen und immateriellen Zuschreibungen besteht). Da der Begriff Marke in dieser
25
Mosbach (1999, 47–48) spricht in Anlehnung an Nelson Goodman (1995) von der ‚doppelten Verweisfunktion‘ des Signifikantenbündels, das heißt, dass dieses sowohl denotativ auf die Marke verweist als auch einige der Markenmerkmale exemplifiziert. 26 Esch und Langner stellen aus Management-Perspektive fest: „Der Markenaufbau vollzieht sich zum einen über die Markierung, zum anderen über die Kommunikation zur Marke“ (2005, 586).
Semiotische Betrachtung von Marke und Werbung
39
Arbeit für die Marken-Zeichentriade als Ganzes genutzt wird, sollen im spezifischen Bezug auf das Signifikat die Begriffe Markenimage oder Markenidentität verwendet werden. Für Müller (2012, 45–46) stellt die Marke selbst das Referenzobjekt innerhalb der Marken-Zeichentriade dar. Die Marke wird in dieser Modellierung als das positioniert, worauf sich das Markenzeichen vermittelt über das Signifikat bezieht. Da die SignifikantSignifikat-Kombination prinzipiell auf unterschiedliche Produkte und Dienstleistungen transferiert werden kann,27 erscheint dieser grundsätzliche Bezug auf die Marke als Referenzobjekt nachvollziehbar.28 Gegen diese Einordnung des ‚Nutzenbündels‘ Marke als Referenzobjekt spricht, dass vor allem im Rahmen der Werbekommunikation meist auf ein bestimmtes käufliches Produkt referiert wird.29 Marken können ohne Anbindung an ein Produkt nicht konsumiert werden (selbst im Merchandising werden Produkte mit den begehrten Zeichen markiert). Aus Müllers Einordnung kann jedoch gezogen werden, dass die Marke immer auch auf sich selbst verweist und nicht nur auf ein (physisches) Produkt, wie dies in anderen Arbeiten suggeriert wird (Fritz 1994, 61–62; Gallert 1998, 33). Das bloße physische Produkt als Referenzobjekt ist unter anderem deshalb nicht haltbar, weil dieses, wie Mosbach festhält, gegebenenfalls in keiner Phase des Produktionsvorganges existiert. In Bezug auf ein Marken-Waschmittel bemerkt sie: Das physische Produkt mit seinem bloßen Gebrauchswert (empfindliche Textilien zu reinigen), also ohne seine Farbe, seine Parfümierung und Konsistenz, läßt sich nur theoretisch rekonstruieren, es existiert unter Umständen zu keinem Zeitpunkt des Herstellungsprozesses und ist käuflich nicht zu erwerben. (Mosbach 1999, 48)
Es ist daher sinnvoll, das Markenprodukt (markiertes Produkt) als Referenten zu positionieren, weil das Produkt selbst (Design, Form, Geruch, Farbe, Konsistenz etc.) nicht le-
27
Im Folgenden wird der Einfachheit halber nur von Produkt gesprochen, wobei die Dienstleistung implizit mitgedacht wird. 28 Beim Markentransfer „[wird] ein etabliertes Markenzeichen (z. B. Nivea) auf ein neues Produkt (z. B. Haarshampoo) übertragen […]. Hierdurch wird es möglich, Wissensstrukturen in Form von Markenbekanntheit und -image, die Nachfrager hinsichtlich einer etablierten Marke in der Vergangenheit aufgebaut haben, auf das Neuprodukt zu transferieren“ (Sattler und Völckner 2013, 83). 29 Dies ist z.B. bei der reinen Imagewerbung nicht notwendigerweise der Fall. Hier wird der Imageaufbau forciert, ohne dass ein bestimmtes Produkt im Fokus stehen muss. Siehe dazu z.B. die Nivea Jubiläumskampagne ‚100 Jahre Hautpflege fürs Leben‘ (siehe für Informationen zur Kampagne Schobelt 2011).
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Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
diglich in Bezug auf seinen Gebrauchswert, sondern vielfach im Hinblick auf die Markenpositionierung gestaltet ist.30 Des Weiteren zielt die Bewerbung z.B. von Leibniz Butterkeksen nicht auf die Produktgattung ‚Butterkeks‘ ab – die Werbung referiert auf eben jenen bestimmten ‚Leibniz Butterkeks‘. Der Referent muss eine ‚wirtschaftliche Einheit‘ (Fritz 1994, 61) darstellen, die auch gekauft werden kann. Die Marke an sich stellt eine solche massenhaft käuflich zu erwerbende ‚wirtschaftliche Einheit‘ nicht dar. Aus diesen Gründen wird insbesondere im Hinblick auf die Absatzwerbung das markierte Produkt, dem über das mentale Konzept der Marke bestimmte materielle und immaterielle Attribute zugeschrieben werden (und das diese Attribute im Konsum bewahrheiten kann), als Referent in der Marken-Zeichentriade bestimmt.
Abb. 4: Die Marken-Zeichentriade (adaptiert nach Fritz (1994, 17, 62); mit freundlicher Genehmigung von © Stauffenburg Verlag GmbH (1994). All Rights Reserved)
Es lässt sich festhalten, dass im Rahmen eines triadischen Zeichenmodells die Marke wie folgt analysiert werden kann (Abb. 4): Das Signifikantenbündel setzt sich aus primären (Name, Logo) und sekundären Zeichen (z.B. Verpackung, Design, Slogan), die als relativ beständige Zeichenkomponenten betrachtet werden können, zusammen. Als Signifikat kann das vermittelnde verbale oder mentale Markenkonzept (Identität bzw. Image)
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Im Hinblick auf die Verpackungs- und Produktgestaltung bieten sich vielfältige Beispiele an: Der typische Nivea-Geruch, die Form des WC-Ente Reinigungsmittels, der ‚Zimtwirbel‘ auf den Cini-Mini Zerealien oder die Leibniz Butterkekse, die nur mit ‚52 Zähnen‘ echt sind.
Semiotische Betrachtung von Marke und Werbung
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bezeichnet werden. Das Referenzobjekt stellt in der Absatzwerbung schließlich das käuflich zu erwerbende Markenprodukt dar. Die primären und sekundären Markenzeichen können bereits am Markenaufbau beteiligt sein. Dabei gehen die künstlich geschaffenen Markenzeichen oft eine intensive Verbindung zum intendierten Signifikat und zum Referenten ein. Durch die engen Beziehungen zwischen den Zeichenelementen wird eine hohe semantische Dichte kreiert – eine ‚Zeichenpolitik‘, die in der Werbekommunikation fortgesetzt wird. Mit der Kommunikation wird versucht, die gegebenenfalls bereits in den Primär- und Sekundärzeichen assoziierten Bedeutungen weiter auszubauen und die Zeichen mit den in der Identität formulierten Eigenschaften zu verbinden. Diese semiotische Betrachtung der einzelnen Zeichenkomponenten ist eine theoretische Übung und wird von Konsumenten (im Idealfall für den Werbetreibenden) als Einheit betrachtet: „Signifikant, Signifikat und Referent sind dabei als kompakte, vom Verbraucher ganzheitlich erlebte Entitäten gedacht […]“ (Fritz 1994, 61). Das Markieren von Produkten kann aufgrund der beschriebenen Bedeutungszuschreibungen zu einem performativen Akt werden. Dasselbe weiße Shirt wird durch den Aufdruck einer bekannten Marke zu einer Aussage und gegebenenfalls einem Statusobjekt (was eine erhebliche Preisdifferenz nach sich ziehen kann). Diese Stellung der Marke zieht auch Kritik nach sich. So kritisiert beispielsweise Jean Baudrillard, dass Objekte in der Konsumgesellschaft vorrangig als Zeichen und Bedeutungsträger konsumiert werden: Das Verlangen nach Objekten ist objektlos (von Riesman als ‚objectless craving‘ bezeichnet). Das Konsumverhalten, das scheinbar auf das Objekt und seinen Genuss gelenkt und ausgerichtet ist, folgt in Wirklichkeit ganz anderen Zweckbestimmungen: der des metaphorischen oder umgeleiteten Ausdrucks des Begehrens und dem Ziel der Produktion eines gesellschaftlichen Wertekodex mittels differenzieller Zeichen. Nicht die individuelle Funktion des Interesses gegenüber einem Korpus von Objekten ist entscheidend, sondern die unmittelbar soziale Funktion des Tausches, der Kommunikation und der Verteilung der Werte über ein Korpus von Zeichen. (2015, 114)
Konsum wird damit für Baudrillard (2015, 114–16) über die differenzierten Zeichen zum Kommunikationssystem, zu einer Ordnung von Bedeutungen. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Baudrillard (2015, 170) die Marke als die ‚Wahrheit‘ der Produkte bezeichnet. Marken sind daher insbesondere aufgrund ihres Zeichencharakters nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle Phänomene. Als Zeichen dienen sie einerseits Unternehmen zur Abgrenzung und andererseits Konsumenten als Identifikationsstifter, Statussymbole und Kommunikationsmittel. Diese kommunikative Stellung können sie deshalb
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Die Marke als strategischer Ausgangspunkt für die Werbekommunikation
einnehmen, weil sie mit kulturellen Bedeutungen angereichert sind, die über den Nutzwert des markierten Produktes hinausgehen. Ausgehend vom strategischen Konzept der Marke stellt Werbekommunikation einen entscheidenden Pfeiler für den Aufbau und die Pflege solcher Bedeutungskonstrukte dar – und Werbefiguren wiederum sind Bestandteile dieser Kommunikation.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
In den vorangegangenen Abschnitten wurde die konzeptionelle Interdependenz zwischen Marke und Werbung aus Marketingperspektive aufgezeigt. Eine Marke wurde dabei als inhaltlich-strategischer Bezugspunkt der Werbekommunikation und als Zielgröße der kommunikativen Bemühungen verortet. Werbefiguren stehen als Bestandteile der Werbekommunikation in eben dieser interdependenten Beziehung. Es kann angenommen werden, dass die Analyse der Ausprägungen, die diese Beziehung annehmen kann, helfen kann, die spezifischen Strukturen und Funktionen der Figur nachzuvollziehen. So stellt Eder in seinem Aufsatz zur Werbefigur in Aussicht: „Der Schlüssel zum Verständnis von Werbefiguren liegt in ihrem Verhältnis zum Beworbenen: den Waren und Marken“ (2010, 319). Daher soll nun über die Betrachtung des Verhältnisses der Werbefigur zur Marke gefragt werden: Welche Werbefigurtypen gibt es und was sollen sie für die beworbene Marke erreichen? Bereits ein erster übergeordneter Blick auf dieses Verhältnis zeigt die Vielfalt des Werbefigurenphänomens auf: Im Anschluss an die semiotische Betrachtung der Marke können Werbefiguren zum Signifikantenbündel der Marke gezählt werden. Hier können sie entweder als Primär- oder als Sekundärzeichen fungieren.31 Als Primärzeichen sind sie identisch mit oder stark an das Markenlogo und/oder den Markennamen angelehnt (z.B. Meister Proper, Bärenmarke Bär). Das bedeutet, dass Marke und Werbefigur auf Ausdrucksebene gleich sind. Als Sekundärzeichen reichern sie das primäre Markenbild an: Das heißt, sie sind unterschiedlich zu Markenlogo und Markennamen, aber dienen nichtsdestotrotz dazu, die Marke zu markieren und damit zu differenzieren und zu identifizieren (z.B. Klementine). Sowohl als Primär- als auch als Sekundärzeichen sind Werbefiguren Teil der Kommunikation, wobei sie als Primärzeichen noch breitere bzw. durchgängigere kommunikative Verwendung finden (z.B. auf der Verpackung). Die Unterteilung in Primär- und Sekundärzeichen spiegelt das Verhältnis zu Marken allerdings noch nicht ausreichend wider. Sie kann nur als erster ‚Gradmesser‘ für die 31
Diese Feststellung geht entgegen Müllers Annahme, der Markenlogos und -namen als Primärzeichen und Werbefiguren als Repertoire der Sekundärzeichen bestimmt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Werbefigur selbst als Markenlogo und/oder Markenname eingesetzt wird.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_3
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
Verknüpfungsstärke zwischen Werbefigur und Marke dienen. Ein Blick auf die Sekundärzeichen Red & Yellow (M&M’s), den Marlboro-Mann (Marlboro) und Karin Sommer (Jacobs) zeigt die Vielfalt der Beziehungsformen. Wo Red & Yellow der Produktform (den Schokodrops) nachempfunden sind, steht der Marlboro-Mann vor allem für die (immateriellen) Positionierungsinhalte der Marke und Karin Sommer wiederum präsentiert und empfiehlt das Markenprodukt. Obwohl alle Figuren Signifikanten der jeweiligen Marke darstellen, betonen sie doch unterschiedliche Bestandteile des Zeichens ‚Marke‘. Ausgehend von dieser ersten Beobachtung wird im Folgenden der Versuch unternommen, das Verhältnis zwischen einer Werbefigur und der beworbenen Marke typologisch zu greifen. Verschiedene Arbeiten, z.B. die von S. Brown (2014a)32, Eder (2010), Cohen (2014) oder McQuarrie und Phillips (2016, 168–82), begegnen der Vielfalt des Werbefigurenphänomens mit Typologien. Die Ansätze ähneln einander und auch ich beabsichtige keinen Gegenentwurf, sondern vielmehr eine Präzisierung der typologischen Überlegungen. Bestehende Typologien sind meist intuitiv zugänglich, werden allerdings nicht theoretisch hergeleitet bzw. basieren auf keinen festgelegten Kriterien.33 An dieser Stelle wird dagegen eine Systematisierung angestrebt, die auf einer semiotischen Betrachtung der Figur-Marke-Beziehung basiert. Mit dieser Vorgehensweise sollen die identifizierten Typen von Werbefiguren einerseits theoretisch nachvollziehbar gemacht werden. Andererseits soll damit auch eine Typologie geboten werden, die mit der theoretischen Fundierung als analytische Hilfestellung für die Untersuchung von Werbefiguren dient. In der Erarbeitung einer solchen Typologie sollen bestehende Ansätze, wo hilfreich, zur Erläuterung hinzugezogen werden.
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S. Browns Terminologie suggeriert oftmals, dass er sich nur auf Tierfiguren beziehen würde (sein Aufsatz beispielsweise heißt Animal House) und kann daher missverständlich sein. Er bezieht allerdings auch explizit menschliche Figuren mit in seine Betrachtung ein: „the brand animal inventory includes humans, super-humans, extra-terrestrials, deities, demons, dinosaurs, monsters, spectres, cyborgs, androids and all sorts of ordinarily inanimate objects such as rocks, ropes, rolling pins and root vegetables“ (2014a, 82). In einem anderen Aufsatz zählt Brown (2010, 215) namentlich den Marlboro-Mann und Uncle Ben zu den Brand Animals. 33 Es ist zu vermuten, dass S. Browns (2014a) Typologie von der Analyse einer über 1000 Figuren umfassenden Datenbank inspiriert ist (S. Brown 2010). Diese Datenbasis wurde einem Aufsatz über Werbefiguren von 2010 zugrunde gelegt, in der bereits ein abgewandelter Typologisierungsvorschlag zum Verhältnis von Marke und Figur gemacht wurde (S. Brown 2010, 218–19). Der Bezug zu dieser Datenbank wird in Browns Aufsatz von 2014 im Hinblick auf die vorgeschlagene Typologie allerdings nicht hergestellt.
Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
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Die semiotische Betrachtung der Beziehung soll erfolgen, indem untersucht wird, wie sich die Werbefigur zu (den Bestandteilen) der Marken-Zeichentriade verhält. Im vorliegenden Abschnitt soll damit das theoretische Markenkonstrukt (Konzeptebene aus Produktionssicht) für eine theoretische Beschreibung der Beziehungsausprägungen in den Blick genommen werden. Auf dieser Basis sollen im nächsten Abschnitt (3.1) die identifizierten Typen um die spezifischen Funktionen in der Werbekommunikation ergänzt werden (Realisationsebene aus Produktionssicht). Fragt die erste grundsätzliche Positionsbestimmung danach, in welcher Beziehung die Werbefigur zur beworbenen Marke steht, wird in einem nächsten Schritt beleuchtet, welche konkreten Aufgaben diese spezifischen Werbefigurtypen in der Werbung für die Marke erfüllen sollen. Im Anschluss an die semiotischen Ausführungen zu Marke und Werbung kann die Werbefigur in das Zeichengeflecht eingeordnet werden. Dabei können sich Werbefiguren (in Bezug auf unterschiedliche Zeichen-Bestandteile) kongruent zur Marke verhalten. Diese Position der Werbefigur soll im Folgenden als Ebenbild bezeichnet werden. Ebenbilder können mit (Teilen der) Primärzeichen übereinstimmen bzw. davon abgeleitet sein (z.B. Meister Proper (Meister Proper), Bärenmarke Bär (Bärenmarke)) oder visuell an das beworbene Produkt angelehnt sein (z.B. Red & Yellow (M&Ms), Milky & Schoki (kinder Riegel)). Wenn Werbefiguren zum Repertoire der Primärzeichen gehören, sind sie eng an die Marke gebunden, da sie zum ‚Bezeichnungs-Grundstock‘ gehören. Das bedeutet auch, dass Unternehmen sich langfristig an die Figuren binden. Es ist zum Beispiel nur schwer (oder gar nicht vorstellbar), dass die Marke Meister Proper einen neuen Markennamen und ein neues Bildlogo erhält – nach Verbraucherverständnis wäre die Marke dann schlicht nicht mehr existent (auch wenn die eigentliche Produktrezeptur identisch bliebe). In einem solchen Fall würde das zu den Primärzeichen aufgebaute Signifikat, oder Image aus Kundensicht, ebenfalls wegfallen oder müsste mit großem Aufwand neuen Primärzeichen zugeordnet werden. Wenn die Werbefigur dagegen visuell an das Referenzobjekt der Marke angelehnt ist, besteht eine geringere Abhängigkeit der Marke von der Figur, allerdings gestaltet sich die Verwendung der Figur bei Markentransfers problematisch. So wirbt Meister Proper problemlos für Allzweckreiniger und Schmutzradierer, Milky & Schoki dagegen können
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
schwerlich für andere kinder-Produkte eingesetzt werden als für den kinder Riegel (folgerichtig hat das Unternehmen Ferrero z.B. auch eine separate Werbefigur für die kinder Schoko-Bons). Eine dritte Möglichkeit dieser kongruenten Position stellt der Bezug der Werbefigur auf (Teile der) Markeneigenschaften und -bedeutungen und somit auf das Signifikat der Marke dar. Dieser Typus beschreibt, was McQuarrie und Phillips (2016, 173) mit ‚Verkörperung‘ (embody) bezeichnen, wobei sie beispielhaft den Marlboro-Mann aufführen. Der Marlboro-Mann soll insbesondere das immaterielle Konsumerlebnis selbst darstellen. Auch Camels Pendant, der Camel-Mann, kann als Beispiel dienen: Dieser ist kein Teil des Logos und wird nicht auf der Verpackung abgebildet, verkörpert aber die Bedeutung ‚Abenteuer‘ (Andree 2010, 85–86) und profiliert somit als Ebenbild das Markensignifikat. Das heißt, dass Camel als Marke auf die Bedeutung ‚Abenteuer‘ positioniert ist (Andree 2010, 86). Falls sich das so avisierte Image bei den Zielgruppen aufgebaut hat, kann zwar die Figur ausgetauscht werden, allerdings bleibt die Assoziation der Marke Camel zu ‚Abenteuer‘ bestehen. Andree beschreibt Camels Wechsel vom Camel-Mann auf das Kamel Joe Camel wie folgt: Im Fall von Camel wurde dieser Bruch vollzogen durch den Wechsel auf das Plüschtier ‚Joe Camel‘, in diesem Fall mit katastrophalen Folgen für die Marke und vermutlich sprichwörtlicher Berühmtheit für schlechte Markenführung. Der Fehler lag in diesem Fall darin, dass nicht nur das Vehikel (CamelMann), sondern gleichzeitig auch der Tenor (Abenteuer) der metaphorischen Aussage ausgetauscht wurde und die Kommunikation der Marke somit gleichsam per Reset auf Null zurückgesetzt wurde. (2010, 86–87; Hervorhebung im Original)
Die Markenführung bindet sich also bei Ebenbildern, die sich auf das Signifikat der Marke beziehen, vor allem an die über die Figur kommunizierten Inhalte. In der Marketingliteratur wird davon gesprochen, dass Werbemaßnahmen sowohl inhaltlich als auch formal integriert werden können, damit Rezipient_innen den Eindruck einer konsistenten Kommunikation erhalten (Kroeber-Riel und Esch 2015, 159–72). Formale Integrationsmittel wie z.B. ein stringentes Corporate Design beziehen sich dabei auf die Ausdrucksebene der eingesetzten Zeichen. Inhaltliche Integrationsmittel dagegen beziehen sich auf die vermittelten Bedeutungen – wie z.B. ‚Abenteuer‘ bei Camel über den Camel-Mann. Angelehnt an diese gängigen Bezeichnungen im Marketing, wird auch beim Typus des Ebenbildes an dieser Stelle zwischen formalem und das inhaltlichem Ebenbild unterschieden. Ersteres bezieht sich auf die (teilweise) Übereinstimmung der
Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
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Figur mit dem Signifikanten oder Referenzobjekt, zweiteres auf die (teilweise) Übereinstimmung mit dem Signifikat der Marke. Eine besondere Stellung nehmen Werbefiguren ein, die einen Mangel oder ein Bedürfnis personifizieren oder als Antagonisten agieren (Eder 2010, 308). Durch die Darstellung dessen, was zufriedengestellt oder bekämpft werden muss, weisen sie auf funktionale oder auf symbolische Nutzen des Markenprodukts hin. So verursacht der Gilb einen unansehnlichen Grauschleier bei Gardinen und muss durch das Waschmittel Dato besiegt werden. Der Kleine Hunger steht symbolisch für das Bedürfnis ‚Hunger‘ (Eder 2010, 308), das der Müller Milchreis befriedigen kann. Diese Figuren sind also keine inhaltlichen Ebenbilder der Marke, sondern inhaltliche Gegenbilder und werden diesem Typus deshalb als solche zugeordnet. Werbefiguren können im Gegensatz zu Ebenbildern auch eine vor allem pragmatische Beziehung zur Marke innehaben. In dieser Position sollen sie an dieser Stelle als Unterstützer bezeichnet werden. Die Werbefigur kann als Zeichenverwender beispielsweise im Sinne einer Expert_in, Verbraucher_in oder Mitarbeiter_in das Markenprodukt empfehlen (z.B. 1&1 Mann (1&1), Tech-Nick (Saturn), Frau Renate (Dr. Oetker), Persil-Mann (Persil)). Cohen geht auf den Umgang solcher Werbefiguren mit der Marke wie folgt ein: […] the character must be an agent of the brand who in some way verbally advocates for it, explains it, brings credibility to it, or otherwise delivers brand messaging that may persuade the receiver of the information to view the brand favourably. (2014, 4)
Die Werbefigur schärft das Vorstellungsbild der Marke durch das Agieren mit dem Referenzobjekt und dem Herausstellen von materiellen und immateriellen Nutzen und will darüber Begehren für eben jenes evozieren. Auch McQuarrie und Phillips (2016, 173) identifizieren einen solchen unterstützenden Typus, wobei sie zwischen dem aktiven Befürworten und Präsentieren (endorse) der Marke und einem schlichten Begleiten (accompany) unterschieden.34 Als Begleiter sind Werbefiguren eher passiv und stehen als sympathische, ansprechende oder unterhaltsame ‚Anhängsel‘ für die Marke ein (z.B. die Weiße Dame, Bernhardiner Bruno (Ajax), Alpro Eichhörnchen (Alpro)). Wenn die Werbefigur als einfache Begleitung auftritt, ist die reine Assoziation mit der Figur das Ziel der Verbindung (McQuarrie und Phillips 2016,
34
Auch das AMOP Framework zur Beschreibung von Werbefiguren von Callcott und Lee (1995) fragt danach, ob ein Produkt aktiv oder passiv beworben wird.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
173). Die Marke ‚schmückt‘ sich mit der Figur, ohne eng an sie gebunden zu sein. In dieser eher passiven Rolle können durch die Gestaltung der Figur zwar Hinweise auf Markeneigenschaften erfolgen, allerdings geschieht dies weniger explizit als bei aktiven Fürsprecher_innen. Die lose Verknüpfung kann im Vergleich zu anderen Beziehungspositionen einen geringeren Beitrag zum Markenaufbau zur Folge haben, wobei auch eine geringere Abhängigkeit zwischen Figur und Marke besteht und die Figur somit leichter austauschbar ist. Die von McQuarrie und Phillips getroffene Unterscheidung soll an dieser Stelle übernommen werden, um den Typus des Unterstützers weiter in Befürworter und Begleiter zu differenzieren. In einer letzten typologischen Ausprägung kann sich die Werbefigur auch emanzipieren und ohne Marke ‚funktionieren‘. Wenn die Figur sich zu einem solchen emanzipierten Star, wie der Typus bezeichnet werden soll, entwickelt hat, wird die Marke eher dem Vorstellungsbild der Figur zugeordnet als andersherum. Der emanzipierte Star beschreibt eine Position, die S. Brown mit Mascot Brand betitelt. Mascot Brands sind ihm zufolge der dominante Part in der Figur-Marke-Beziehung und überschatten das Markenprodukt (S. Brown 2014a, 84). S. Brown stellt fest: „[…] critters can take on a life of their own, transcend the brand that bore them, and become part and parcel of popular culture“ (2014b, 4). Dies kann so weit führen, dass Unternehmen ihren eigenen Markennamen an die Figur anpassen (S. Brown 2014a, 84). Lurchi, Werbefigur der Schuhmarke Salamander, kann als Beispiel dafür fungieren. Ein Lurchi-Comic könnte trotz der steten visuellen Einbindung des Salamander Schuhwerks auch ohne Verbindung zur Marke in einer Buchhandlung stehen. Die Comics dürften vielen bekannter sein, als die Verbindung der Figur zur Marke Salamander. Salamander hat die Bekanntheit und Eigenständigkeit des ComicStars wiederum für sich genutzt, indem Lurchi selbst als Kinderschuhmarke etabliert wurde (siehe ‚Lurchis Welt Webseite‘ und ‚Lurchi Online Shop‘). So entsteht eine enge Markenverbindung im Sinne eines formalen Ebenbildes. Das formale Ebenbild kann aufgrund der engen Verknüpfung mit den Primärzeichen gegebenenfalls einer Verselbstständigung zum emanzipierten Star entgegenwirken. Brown vergleicht diese verselbstständigte Figurenposition schließlich mit Testimonials: „[…] a celebrity endorser who doesn’t just burnish the brand, he outshines it” (2014a, 84; vgl. 2014b, 2). Der emanzipierte Star beschreibt in Anlehnung an Browns Analogie zum Celebrity Endorser eine Werbefigur, die ein Image hat, das weitgehend von dem der Marke abgekoppelt ist. Auch
Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
49
wenn dieser Typus semiotisch beschrieben werden kann, ist er stärker als die anderen Typen der subjektiven Interpretation unterworfen: Für die einen stellt Lurchi einen kultigen Comic-Helden dar, dessen Abenteuer stärker in Erinnerung geblieben sind als die Schuhe, für die er wirbt. Für die anderen ist Lurchi vor allem ein Kinderschuh. Ein Anzeichen für eine Verselbstständigung kann beispielsweise die von der Marke losgelöste Zirkulation von Figuren im journalistischen Diskurs sein. Der Typus des emanzipierten Stars ist keine geplante Position, sondern Ergebnis einer Verselbstständigung. Das heißt, dass andere Typen potenziell zum emanzipierten Star werden können.
Abb. 5: Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke (eigene Darstellung)
Mit der vorgestellten Typologie (Abb. 5) sollen Begriffe vorschlagen werden, mit denen unterschiedliche Ausprägungen von Werbefiguren bezeichnet werden können – gleichzeitig sollen diese durch die zeichentheoretische Herleitung als analytischer Ausgangspunkt fungieren. Es können resümierend drei Haupttypen ausgemacht werden: (1) Die Werbefigur ist selbstständig und ihr Vorstellungsbild funktioniert auch ohne Marke (emanzipierter Star). (2) Die Werbefigur ist (in Teilen) kongruent mit den Zeichen-Bestandteilen der Marke (Ebenbild). (3) Die Werbefigur ist Zeichenverwender und weist auf Bestandteile der Marken-Zeichentriade hin (Unterstützer). Die Typologie lässt sich auch unter dem Aspekt der Markenbotschaft betrachten: Wo Unterstützer vor allem als Botschafter agieren, sind Ebenbilder nicht nur Botschafter, sondern zu großen Teilen
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
selbst die Botschaft. Emanzipierte Stars schließlich stellen eigenständige Botschaften dar, ohne zusätzlich als Botschafter für die Marke zu fungieren. Die entwickelte Typologie möchte das Verhältnis der Werbefigur zur Marke auf Basis einer semiotischen Markenbetrachtung beschreiben, ohne dass die Typen absolut trennscharf wären. So kann sich eine Werbefigur durch zunehmende Aktivität vom Begleiter zum Befürworter entwickeln und vice versa. Es ist ebenfalls möglich, dass sich Werbefiguren mehreren Typen zuordnen lassen. Dr. Best stellt als Befürworter eine pragmatische Beziehung zur Marke dar, ist aber auch an ein Primärzeichen gebunden (Markenname). Diese ‚Doppelfunktion‘ verdeutlicht allerdings nur einmal mehr, welch eng verwobenen und selbstreferentiellen Zeichenkomplex Marken und Werbefiguren innerhalb der Markenkommunikation etablieren.
3.1
Die Werbefunktion der Werbefigur
Nachdem die Figur-Marke-Beziehung untersucht worden ist, sollen die identifizierten Werbefigurtypen nun um die spezifischen Funktionen in der Werbekommunikation ergänzt werden. Mit Werbefunktion wird an dieser Stelle gefragt, welche Aufgaben eine Werbefigur in der persuasiven Markenkommunikation erfüllen soll. Soll sie beispielsweise insbesondere die Wiedererkennbarkeit der Marke stützen, Sympathien für die Marke generieren oder zur Imitation anregen? Nach Eder erfüllen Werbefiguren ihre ‚Grundfunktion zu werben‘ folgendermaßen: durch Aufmerksamkeitssteigerung und Emotionalisierung; durch die Symbolisierung von Marken oder Produkteigenschaften; und durch ihre Rollen in produktbezogenen Szenarien. (2010, 319)35
Welche dieser spezifischen Aufgaben welchem Typus zugeschrieben werden kann, soll also im vorliegenden Abschnitt erläutert werden. Im Hinblick auf die Befürworter gibt allein das mit dem Typus verbundene Verb ‚befürworten‘ einen Hinweis darauf, wie für die Marke geworben wird. Das ist vor allem dem geschuldet, dass mit dem Typus der
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Eder resümiert aus den aufgeführten Funktionen folgende Typen von Werbefiguren: Marken-Icons, produktbezogene Akteure und Branded Entertainers. Wo letztere nicht Bestandteil der hier vorausgesetzten Werbefiguren-Eingrenzung sind, weil sie auch prominente Figuren miteinbeziehen, werden die anderen beiden Typen in diesem Abschnitt zur Erläuterung der Werbefunktion hinzugezogen.
Die Werbefunktion der Werbefigur
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pragmatische Umgang mit der Marke beschrieben wird. Das Markenverhältnis des Ebenbildes dagegen gibt noch keinerlei Hinweis darauf, welche Aufgaben die Figur in der Kommunikation erfüllen soll. Mit den im vorangegangenen Abschnitt vorgeschlagenen Typen wurde zunächst das theoretische Markenkonstrukt (Konzeptebene aus Produktionssicht) für eine Beschreibung der Beziehungsausprägungen fokussiert. Nun sollen die identifizierten Typen um ihre spezifischen Funktionen in der Werbekommunikation ergänzt werden (Realisationsebene aus Produktionssicht). Fragte die grundsätzliche Positionsbestimmung danach, in welcher Beziehung die Werbefigur zur beworbenen Marke steht, wird nun beleuchtet, welche konkreten Aufgaben diese Werbefigurtypen in der Werbung für die Marke erfüllen sollen. Bei der Bestimmung des Verhältnisses der Werbefigur zur beworbenen Marke wurden übergeordnet folgende Typen festgehalten: Die Werbefigur kann als Ebenbild, als Unterstützer oder als emanzipierter Star zur Marke positioniert sein. Die Position des emanzipierten Stars beschreibt eine Verselbstständigung der Figur, die sich (nicht unbedingt im Sinne der Werbetreibenden) über die Zeit vollziehen kann. Dieser Typus kann insofern als Sonderfall betrachtet werden, als dass die Figuren aufgrund ihrer schwachen Markenanbindung nur schwerlich eine Werbefunktion für diese erfüllen können. Weiterhin ist der emanzipierte Star produktionsseitig nicht intendiert: Sowohl Ebenbilder als auch Unterstützer können zu diesem Typus werden. Aus diesen Gründen gibt es an dieser Stelle keine weitere Betrachtung dieser Sonderposition. Welche Werbefunktionen lassen sich aber formalen und inhaltlichen Ebenbildern und Unterstützern (Befürworter und Begleiter) zuordnen? Idealtypisch erfüllen Werbefiguren, die als formales Ebenbild in Beziehung zur Marke stehen, ihre Werbefunktion als das, was Kroeber-Riel (1991) als ‚Präsenzsignal‘ und Eder (2010) als ‚Marken-Icon‘ bezeichnet. Diese Figuren werden in ihrer werblichen Funktion in erster Linie über ihre formale Signalwirkung und ihren engen Bezug zur Marke definiert. Als ‚Hinweisreize‘ sollen sie „[…] die gedankliche Präsenz und damit die Aktualität einer Marke oder Firma verbessern“ (Kroeber-Riel 1991, 33).36 In Ent-
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Zu den Präsenzsignalen werden von Kroeber-Riel und Esch (2015, 398) an anderer Stelle auch Logos wie das Lacoste-Krokodil gezählt. Logos werden in dieser Arbeit allerdings nicht betrachtet, außer sie werden ‚lebendig‘ wie Uncle Ben.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
scheidungssituationen sollen sie als Gedächtnisanker den Zugriff auf die Marke sicherstellen, vermitteln jedoch wenige bis gar keine Positionierungsinhalte. Die visuelle Anlehnung an die Primärzeichen oder an die Produkte führt oftmals zu visuell prägnanten, wenig komplexen Figuren (z.B. PAULA, der Weiße Riese, Red & Yellow). Auffälligkeit, schnelle Erfassbarkeit und Erinnerbarkeit sind hier die Maxime. Die Aufgabe der Aufmerksamkeitsgenerierung kann Werbung und Werbefiguren generell zugeschrieben werden. Eder (2010, 297-299, 312, 319) sieht diese Funktion jedoch insbesondere bei den von ihm als Marken-Icons bezeichneten Figuren wie der Milka Kuh oder dem Jägermeister-Hirschen im Vordergrund, die einen hohen Signalcharakter und engen Markenbezug aufweisen und leicht wiedererkennbar sind. Durch die Nähe zu den Primärzeichen der Marke soll die Figur zur Identifikation des Markenprodukts am Verkaufsort und zur Verknüpfung des Markenprodukts mit der Werbebotschaft führen (Phillips 1996, 146–47). Die menschlichen Züge und Verhaltensweisen (z.B. Humor) sowie die Verniedlichung der Figuren sollen zudem dazu beitragen, dass die sprechenden und mit Gliedmaßen ausgestatteten Produkte oder Markenzeichen Distanz abbauen. So z.B. bei den M&M’s Werbefiguren Red & Yellow, die durch ihre humorvolle Art unterhalten und mit großen Kulleraugen sowie schlaksigen Armen und Beinen ausgestattet sind. Aufgrund der Anlehnung an die Marke (Primärzeichen, Produkt) sind in dieser Ausprägung viele PhantasieGestalten und Tiere zu finden (z.B. Bärenmarke Bär, Schoko-Bon). Ohne zwangsläufig dezidierte Inhalte zu kommunizieren, sollen Präsenzsignale durch ihre Form Sympathie generieren und positive Assoziationen auf die Marke transferieren. Warren Dotz und Masud Husain bemerken dazu: Give a product a face, arms, and legs, and suddenly it becomes more appealing and emotionally accessible – more human. In becoming animate, product images can take on different poses, acquire personality, and be used in a wide variety of advertising media, from point-of-purchase displays to magazine ads to television commercials. (2003, 14–15)
Im Gegensatz zu Kroeber-Riels Einordnung werden Werbefiguren als Präsenzsignale hier allerdings nicht an ihrer Unveränderbarkeit festgemacht. Präsenzsignale wie der Michelin-Mann zeigen, dass diese Figuren äußerst unterschiedlich und lebendig inszeniert werden können. An dieser Stelle soll die Werbefunktion des formalen Ebenbildes als Präsenzsignal und Sympathieträger bezeichnet werden.
Die Werbefunktion der Werbefigur
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Neben dem formalen Ebenbild wurde vorab noch das inhaltliche Ebenbild definiert. Das inhaltliche Ebenbild erfüllt seine Werbefunktion durch das Symbolisieren von symbolischen und funktionalen Nutzen. Der Begriff des Symbols soll im Anschluss an Eder so verstanden werden, „[…] dass eine Figur als Zeichen, Sinnbild oder Ausdruck für etwas Anderes, meist Abstraktes steht, für eine indirekte Bedeutung“ (2014, 529). Eine Werbefigur steht als Symbol für etwas (z.B. Spaß, Abenteuer, Reinheit), das die Marke für sich beanspruchen möchte. Durch die Gestaltung der Werbefigur werden also Werbebotschaften und Produkteigenschaften kommuniziert (Eder 2010, 307–9). Die Werbefunktion des Symbolisierens überschneidet sich mit Kroeber-Riels (1991) Einordnung der Werbefigur als Schlüsselbild. Schlüsselbilder werden von Kroeber-Riel und Esch (2015, 398–99) als strategische Bilder beschrieben, die Positionierungsinhalte der Marke repräsentieren. Der Bausparfuchs (Schwäbisch Hall) oder der Marlboro-Mann beispielsweise sind insbesondere an der inhaltlichen Positionierung der Marke beteiligt (der Bausparfuchs für schlaues Sparen, der Marlboro-Mann für Freiheit, Abenteuer und Männlichkeit). An dieser Stelle soll im Anschluss an Eder vom Symbol gesprochen werden, weil dieses deutlicher ausdrückt, was bei inhaltlichen Ebenbildern funktional geschieht (nämlich das Symbolisieren von Markennutzen und Produkteigenschaften). Werbefiguren wie die Familie Heins (Telekom) sollen (zum Teil abstrakte) Bedeutungen wie ‚Verbundenheit‘ auf die beworbene Marke transferieren. Insbesondere die Merkmale der Markenpersönlichkeit (d.h. der Marke zugeschriebene menschliche Eigenschaften) und Emotionen können Phillips (1996, 147–51) zufolge durch die Werbefigur als anthropomorphisiertem Wesen verdeutlicht werden. Zudem können Werbefiguren die Markenidentität (oder Teile davon) ‚ausführen‘ bzw. ihr durch Handlungen Konsequenzen folgen lassen (siehe in Bezug auf interne Markenführung Müller 2012, 101–4). Werbefiguren, die in einem unterstützenden Verhältnis zur Marke stehen, diese also befürworten oder begleiten, erfüllen ihre Werbefunktion zumeist dadurch, dass sie einen bestimmten Typus darstellen. Es wird versucht, durch idealisierte Verwender_innen, Experten_innen oder Hersteller_innen Einfluss auf potenzielle Kunden_innen zu nehmen. Auf diese Art werden Vorbilder und Authentizitätsmarker bereitgestellt, denen es nachzueifern oder auf die es zu hören gilt. So wird beispielsweise Dr. Oetkers Frau Renate als
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
Vertrauensinstanz und Orientierungsfigur positioniert, deren Handlungen zur Nachahmung anregen sollen: „Drum macht’s wie Renate!“ (Dr. Oetker Deutschland 2016, 00:01:52-00:01:55). Die Figur führt in ihrem Umgang mit den Dr. Oetker Produkten deren leichte Handhabung und das stete Gelingen vor. Werbefiguren wie Karin Sommer weisen als Typus auf Eigenschaften des Markenprodukts hin (so heißt es in einer JacobsWerbeanzeige: „Da hat jede Tasse das große Aroma“ (Kloth 2008)), z.B. dadurch, dass diese mit der Nutzung ein Problem lösen (Demonstration des Markennutzens) oder die Vorzüge der Produkteffekte genießen (Eder 2010, 310–11). Dr. Best kann als Experte über die ihm zugeschriebene Expertise auf den funktionalen Produktnutzen verweisen und so das Produkt vertrauensvoll empfehlen. Karin Sommer und Frau Renate teilen als engagierte Hausfrauen Erfahrungsberichte und binden das Produkt damit in einen menschlichen Kontext ein. Die hier skizzierte Werbefunktion des Typus findet sich auch in Eders Ansatz der produktbezogenen Akteure und Brandmeyers typusorientiertem Ansatz wieder. Brandmeyer (1991) schlägt in einem kurzen Ausstellungskatalogbeitrag eine intuitive und nicht weiter hergeleitete Typologie vor, die einen interessanten, weil typusorientierten Blick auf Werbefiguren bietet. Er identifiziert dabei unter anderem den Deus ex Machina. Dieser tauche ‚wie aus dem Nichts‘ in Konfliktsituationen auf, um die Situation zu retten (Brandmeyer 1991, 25–27). Werbefiguren wie Karin Sommer oder Klementine treten demnach als Problemlöser auf. Die Lehrer belehren „[…] auch in weniger dramatischen Situationen […]“ (Brandmeyer 1991, 27) als der Deus ex Machina. Sie (z.B. Tilly (Palmolive) oder der Persil-Mann) fungieren als Orientierung und unterweisen das scheinbar unwissende Gegenüber (Brandmeyer 1991, 27). Diese Figuren basieren nach Brandmeyer (1991, 25) auf dem Überzeugungsschema des Lernens und Nachahmens. Weiterhin lassen sich nach Brandmeyer die Vor-Bilder aufführen, die (potenziellen) Konsument_innen „[…] in idealtypischer Weise zeigen, was sie von dieser Marke haben, besser noch, was sie mit ihr sein könnten“ (1991, 27). Als Vor-Bilder lassen sich Brandmeyer zufolge Werbefiguren wie die Weiße Dame oder der Camel-Mann einordnen. Wo Brandmeyer einen typusorientierten Zugang zur Werbefigur sucht (z.B. Vor-Bild, Lehrer), fokussiert Eder das Handeln der Figuren. Er schlägt übergeordneter als Werbefigurtypus die ‚produktbezogenen Akteure‘ vor. Diese „[…] treten […] innerhalb eines begrenzten Spektrums von Szenarien auf, die sich in eine Abfolge von der Entstehung bis
Die Werbefunktion der Werbefigur
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zur Erfüllung eines Bedürfnisses bringen lassen“ (Eder 2010, 309–10). Wie sich aber an einzelnen Szenarien, in denen diese produktbezogenen Akteure auftreten können, aufzeigen lässt, können für beide Perspektiven leicht Schnittstellen gefunden werden. Eder beschreibt z.B. die Verwendungssituation oder auch die Darstellung positiver Folgen: Beides sind Szenarien, in denen die Figur klassischerweise als Vor-Bild fungiert. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Beratungssituation, in der typischerweise Lehrer und der Deus ex Machina zu finden sind. Im Hinblick auf die Werbefunktion der Unterstützer halte ich die Perspektive auf die (menschlichen) Typen, die potenziell Umgang mit dem Produkt haben, und die damit potenziell einhergehenden Mediensozialisationsprozesse (z.B. Identifikation oder sozialer Vergleich, siehe Abschnitt 10.2.2) für produktiv. So handelt die Weiße Dame (als Begleitung) beispielsweise nur sehr begrenzt und könnte nur behelfsmäßig als produktbezogene Akteurin verstanden werden – sie ist aber sehr wohl ein Typus, nämlich eine idealtypische Verwenderin des Waschmittels und vermittelt als solche auch eine bestimmte Vorstellung über die ideale Konsumentin. Dabei soll jedoch Abstand genommen werden von Brandmeyers Einzelauflistung, da Werbefiguren potenziell eine Vielzahl an Typen abbilden können. So kann beispielsweise ein Szenario wie die Herstellungssituation (Eder 2010, 310) mit Brandmeyers Übersicht noch nicht abgedeckt werden (Uncle Ben ist viel eher der alte Weise, der mit Erfahrung für seine Produkte bürgt, als ein Lehrer). Der Typus kann sich z.B. auf einen Sozialtyp (z.B. der ‚verführerische‘ Italiener Nescafé Angelo (Nescafé)), auf einen strukturellen Typ (z.B. die Mentorin Tilly) oder auf einen Medientyp (z.B. die Comedy-Familie 2 unvergleichliche Familien (Check 24)) beziehen (siehe zu Typisierung und dramaturgischen Funktionen von Figuren Eder 2014, 375-381, 484-495). Diese Werbefunktion weist eine aus soziokultureller Sicht problematische Begleiterscheinung auf: Der zeitlichen Knappheit geschuldet und der daraus resultierenden Flachheit der Figuren werden oftmals Stereotype bemüht und somit gleichzeitig verfestigt. Der Arzt oder Experte ist typischerweise weiß und männlich (z.B. Dr. Best, Persil-Mann), Frauen stellen dagegen häufig einen auf Äußerlichkeiten beschränkten, häuslichen oder opferbereiten Typus dar (z.B. Tilly, Karin Sommer), alleinstehende und/oder dickliche Männer sind dagegen sozial inkompetent und komisch (z.B. HBMännchen, Tech-Nick). Eder bemerkt zu dieser Problematik:
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie Die Zuordnung von Eigenschaften und Werten ist in ideologiekritischer Hinsicht von besonderem Interesse, weil sie typische Muster hinsichtlich sozialer Gruppen, Milieus, Geschlechter- und Berufsrollen bildet. Allgemein lässt sich festhalten, dass ein Großteil der Werbefiguren dem sozialen Alltag eine Idealwelt gegenüberstellt, in der viele Aspekte ausgeblendet bleiben. Darüber hinaus orientiert sich die Merkmalsstruktur der Figuren an den zeit- und kulturspezifischen Vorstellungen, Werten und Normen kaufkräftiger Zielgruppen. Daher weicht sie systematisch von der realen Gesellschaft ab und beeinflusst sie zugleich. (2010, 313)
Die Werbefunktion des Typus wird vor allem durch menschliche Figuren ausgefüllt, die sich an den Zielgruppen oder an Personen orientieren, die diese beraten. Seltener sind unterstützende Werbefiguren lediglich Sympathie heischende Phantasiewesen oder Tiere wie Bernhardiner Bruno (Ajax). Diese Sympathieträger sollen ähnlich wie Präsenzsignale positive Assoziationen generieren und mit der Marke verbinden. Neben den Präsenzsignalen und Sympathieträgern sowie den Symbolen soll hier also noch die Werbefunktion des Typus & Sympathieträgers definiert werden, die sich auf unterstützende Werbefiguren bezieht (Abb. 6).
Abb. 6: Das Markenverhältnis und die Werbefunktion von Werbefiguren (eigene Darstellung)
Die hier vorgestellten Werbefunktionen sind nicht zwingend trennscharf. So ist der Bärenmarke Bär in erster Linie ein Präsenzsignal, stellt jedoch auch symbolisch Bezüge zur Natur und (für Interessierte) zum Wappentier von Bern her und weist somit auf die Herkunft der Marke hin (Kellner und Lippert 1991, 58).37 Ähnlich verhält es sich mit dem formalen Ebenbild Meister Proper, das als Präsenzsignal und als Symbol für eine starke
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Kroeber-Riel und Esch (2015, 169–70) ordnen den Bärenmarke Bär beispielsweise direkt als Schlüsselbild ein.
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
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und glänzende Reinigungsleistung fungiert.38 Die Weiße Dame ist vor allem ein Typus, gleichzeitig jedoch in ihrem blütenweißen Kleid auch ein Symbol für Reinheit. Auch bei Familie Heins findet sich das Zusammenspiel zwischen Typus und Symbol: Sie sind sowohl unterhaltsam dargestellte Nutzer_innen des Angebots und gleichzeitig selbst das Symbol für eine gute Verbindung (‚Erleben, was verbindet‘). Insbesondere die Symbolisierung ist (auch im Hinblick auf das ‚Bedeutungsmanagement‘ der Marke) eine zentrale Funktion von Werbefiguren. Diese Beobachtung wird in Abb. 6 durch die grauen Pfeile verdeutlicht, die auf die oftmals in Kombination auftretenden Werbefunktionen hinweisen sollen. In Kapitel C wird die Werbefigur als Symbol zudem noch einmal detaillierter betrachtet.
3.2
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
Eine übergeordnete Besonderheit der Figur-Marke-Beziehung stellt die Anthropomorphisierung, also die Vermenschlichung, der Marke durch die Werbefigur dar. Im Folgenden soll daher in einem ersten Schritt ein Überblick über die anthropomorphen Charakteristika der Markenführung sowie ein Einblick in das Konzept der Anthropomorphisierung gegeben werden. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt die Anthropomorphisierung der Marke durch die Werbefigur reflektiert. Die Theorie der identitätsorientierten Markenführung selbst ist bereits sowohl begrifflich als auch konzeptionell anthropomorph geprägt. So wurde in den vorangegangenen Abschnitten die Markenidentität als Ausgangspunkt für kommunikative Maßnahmen hervorgehoben. Die marketingwissenschaftliche Konzeptualisierung von Identität basiert dabei auf einem bestimmten Verständnis menschlicher Identität. Esch, Langner und Rempel weisen darauf hin, dass „[d]ie wissenschaftlichen Wurzeln des heutigen Markenidentitäts-Verständnisses […] in der Forschung zur menschlichen Identität begründet [lie-
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So bemerkt Eder (2010, 298, 312), dass eine Eigenschaft von Marken-Icons ihre ‚plakative Markensymbolik‘ ist.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
gen]“ (2005, 105). Das marketingwissenschaftlich adaptierte Identitätskonzept „[…] umfasst die essenziellen, wesensprägenden und zeitlich stabilen Eigenschaften einer Marke“ (Esch, Langner und Rempel 2005, 106).39 Als ein Bestandteil der Markenidentität wird die Markenpersönlichkeit konzeptualisiert, die als „ […] ‚Gesamtheit menschlicher Eigenschaften […], die mit einer Marke verbunden sind‘“ (J. L. Aaker 2005, 168), beschrieben werden kann. Wo die Marke Landliebe beispielsweise Assoziationen wie naturverbunden und bodenständig aufruft, sind kinder Schoko-Bons eher fröhlich und gesellig. Apple wird mit Begriffen wie jung und rebellisch verknüpft, die Marke Mercedes dagegen mit Begriffen wie erfolgreich und kultiviert. Aus Markensteuerungssicht werden menschliche Wesenszüge festgelegt, die mit der Marke assoziiert werden sollen (Burmann et al. 2018, 43). Die Persönlichkeit soll sich dabei „[…] im verbalen und non-verbalen Kommunikationsstil einer Marke“ (Burmann et al. 2018, 43) ausdrücken und bestimmte Werthaltungen vermitteln (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 186). In der Marketing-Literatur wird davon ausgegangen, dass das Konstrukt der Markenpersönlichkeit unter anderem deswegen relevant ist, weil es Konsument_innen dazu dienen kann, das eigene Selbstkonzept auszudrücken (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 187; D. A. Aaker 2002, 151–59): So findet der Verbraucher die ‚Markenpersönlichkeiten‘, die ihm helfen, sich vor anderen so zu präsentieren, wie er sich selbst gerne sehen möchte. Kauf und Zurschaustellung von Marken sollen Selbstkonzepte der Individuen definieren und untermauern sowie Werthaltungen als zentrale Persönlichkeitsdimension signalisieren. (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 187)
Dabei dient nicht nur das Selbstkonzept der Konsument_innen als Bezugspunkt, sondern auch (und vor allem) deren Idealkonzept (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 187). Die angestrebte Verknüpfung zwischen Markenprodukt und Konsument_in, zwischen Markenpersönlichkeit und Konsumentenpersönlichkeit, wird in folgendem ‚Marken-Manifest‘ auf der Webseite einer Marke für Haarstyling-Produkte deutlich: Du hast deine eigene Persönlichkeit, Individualität, Attitude. Lebe sie aus. Mach, was immer du willst. Zeig, wer du bist. Lass deinen Style für dich sprechen! Sei, wer du sein willst. Sei anders. 39
Siehe für eine detaillierte Beschreibung des angenommenen Zusammenhangs zwischen sozialwissenschaftlich konzipierter Identität und Markenidentität Radtke (2013, 62–70).
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
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Sei einzigartig. You got2b you. Mit got2b. Weil got2b inspiriert. Weil got2b deine Individualität hervorhebt. Mit authentischen Produkten für authentische Menschen. Mit Qualitätsprodukten, die hohe Erwartungen erfüllen: deine Erwartungen. Mit Stylingprodukten, die über Haarstyle hinausgehen: Sie lassen dich erfahren, wer du bist. You got2b you. Mit got2b. (Schwarzkopf got2b Webseite)
In diesem ‚Manifest‘ drückt sich die selbst zugeschriebene Markenrolle als Individualisierungs-Ermöglicher aus. Die Marke positioniert sich nicht nur als unverzichtbarer Baustein für die Ausdrucksfähigkeit der Persönlichkeit („Lass deinen Style für dich sprechen!“), sondern auch als Grundvoraussetzung, das eigene Selbst zu definieren („Sie lassen dich erfahren, wer du bist“). Es geht also, angelehnt an Baudrillard (2015, 125), um nichts Geringeres als ‚To be or not to be yourself’. Wobei eines klar ist: ‚You can’t be you, without got2be’. Marken wie got2be arbeiten dem Differenzierungszwang zu und bieten gleichzeitig die Differenz. Ein weiteres Konzept, das an die Markenpersönlichkeit anschließt, ist das der Konsument-Marke-Beziehung (D. A. Aaker 2002, 159–67), welches aufbauend auf der Persönlichkeit „[…] die Interaktionen zwischen Marken und Konsument berücksichtigt“ (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 188). Susan Fournier (1998) erkennt Parallelen zwischen Beziehungen zu Marken und zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie schlägt ein Set von Beziehungsausprägungen zu Marken vor, darunter z.B. die ‚Childhood Friendships‘ und ‚Marriages of Convenience‘, die an zwischenmenschliche Beziehungen angelehnt sind (Fournier 1998, 362).40 Eine Prämisse einer Konsument-Marke-Beziehung stellt die Reziprozität dar: Beide Beziehungspartner müssen die Beziehung formen, also Einfluss ausüben können (Fournier 2005, 212–15). Diese Annahme erscheint vor dem Hintergrund der leblosen Markenobjekte als besonders relevant. Fournier schlägt diesbezüglich vor: „Um die Marke als Partner zu legitimieren, kann man die Aufmerksamkeit zum Beispiel darauf lenken, wie Marken belebt, vermenschlicht oder geradezu personifiziert werden“ (2005, 213; Hervorhebung im Original). Und weiter:
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Interessant ist in Bezug auf Konsument-Marke-Beziehungen auch das Konzept der Markenliebe: „Markenliebe ist die intensivste Form einer Konsumenten-Marken-Beziehung, (1) die mit einer dauerhaften Verbundenheit, (2) mit starken, positiven Emotionen und Kognitionen für die Marke sowie (3) mit einer ausgeprägten Angst hinsichtlich eines potenziellen Verlusts der Marke einhergeht“ (Fröhling 2017, 28; Hervorhebung im Original). Das Konzept der Markenliebe hebt den potenziellen symbolischen Nutzen von Marken im Leben von Konsument_innen hervor.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie Wenn die Marke als legitimer Beziehungspartner dienen soll, muss sie über die Personifizierung hinausgehen und sich tatsächlich wie ein aktiver und tatkräftiger Teil einer Beziehung verhalten. Interaktiv und wahrnehmbar durchgeführte Marketingkommunikation qualifiziert die Marke als reziproken Partner. Belebte Markencharaktere befriedigen durch ihre Leistungen auch das Kriterium der Aktivität. (2005, 214)
Mit Bezug auf Überlegungen zum Animismus weist Fournier (2005, 213–14) darauf hin, dass Menschen auch leblosen Markenobjekten Persönlichkeitseigenschaften zuschreiben können.41 Auf einer abstrakteren Ebene als die der Werbefiguren (Markencharaktere bei Fournier) können ebenfalls Marketingaktivitäten als Markenverhalten betrachtet werden, die die Markenpersönlichkeit formen und als Umsetzung eines aktiven Beziehungsparts verstanden werden können (Fournier 2005, 214).42 Fournier schlussfolgert aus den Überlegungen zur Konsument-Marke-Beziehung für das Verständnis der Markenpersönlichkeit: Ein Konstrukt, das den gegenseitigen Austausch zwischen aktiven und interdependenten Beziehungspartnern berücksichtigt, beinhaltet eine [sic!] neues Verständnis der Markenpersönlichkeit. Konkret kann man sich die Markenpersönlichkeit als eine Reihe von Schlussfolgerungen vorstellen, die der Konsument aus der wiederholten Beobachtung von inszenierten Verhaltensweisen der Marke zieht und die mit der Rollenwahrnehmung der Marke als Partner in der Beziehung übereinstimmen. (2005, 236)
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der identitätsorientierte Markenführungsansatz bereits anthropomorph geprägt ist. Markenverantwortliche versprechen sich von einer Marke, der menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden (eine Marke mit Persönlichkeit), die Bildung von Präferenzen bei Konsument_innen. Dies wird unter anderem durch die Befähigung zum Ausdruck des Selbstkonzepts und durch die Herausbildung von Konsument-Marke-Beziehungen erklärt (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 187-188). Die Belebung bzw. Vermenschlichung (Anthropomorphisierung) der
41
Spezifischer müsste hier von Theorien des Anthropomorphismus ausgegangen werden, wie Stewart Elliott Guthries Unterscheidung deutlich macht: „Animism as a term has several current uses. In studies of religion, it means belief in spirit beings while in psychology it means attributing life to the lifeless. The latter meaning is broader and encompasses the first. Although animism is not the same as anthropomorphism (the attribution of human characteristics to things or events that are not human), we often animate and anthropomorphize at the same time. We animate but do not anthropomorphize, for example, if we say an automobile purrs like a kitten, and anthropomorphize but do not animate if we speak to our pet turtle. If we speak to the automobile, however, we both animate and anthropomorphize“ (1995, 39–40). 42 Die Anlehnung an zwischenmenschliche Beziehungen stößt an dieser Stelle nichtsdestotrotz an eine Grenze, wie Fournier feststellt: „Bei Anwendung des Reziprozitätskriteriums auf ein lebloses Markenobjekt besteht zweifellos ein Mangel an Parallelität. Eine Marke kann ausgewählte animistische Eigenschaften haben, ohne ein lebendiges Wesen zu sein. Tatsächlich verfügt eine Marke über keine objektive Existenz. Sie ist nur eine Ansammlung von Wahrnehmungen, die im Gedächtnis des Konsumenten gespeichert sind. Die Marke kann weder handeln, noch denken, noch fühlen, außer durch die Aktivitäten des Managers, der sie führt. Mit der Hinnahme der Verhaltensbedeutung von Marketingmaßnahmen akzeptiert man die Marke als aktiven Beziehungspartner“ (2005, 214–15).
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
61
Marke kann damit zum einen als Versuch der Zuschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen betrachtet werden. Zum anderen soll die Marke als aktiver Beziehungspartner positioniert werden. Im Folgenden wird daher das Konzept der Anthropomorphisierung im Allgemeinen skizziert und im Anschluss die Anthropomorphisierung der Marke durch die Werbefigur betrachtet.
3.2.1 Anthropomorphisierung der Marke durch die Werbefigur Dem Anthropologen Stewart Elliott Guthrie (1995, 62) folgend, wird Anthropomorphismus an dieser Stelle als die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften auf nicht-menschliche Dinge definiert. Anthropomorphismus ist nach Guthrie (1997, 57–58) ein unvermeidbarer Effekt einer notwendigen Wahrnehmungsstrategie von Menschen, die eine komplexe Umgebung nach dem absuchen, das für sie von größter Bedeutung ist: den Menschen: Although we frequently are mistaken in seeing phenomena as humanlike or as caused by humans, these mistakes – collectively and retrospectively known as anthropomorphism – are relatively cheap. Conversely, when we identify something as having human characteristics or causes and it proves to have them, the reward is significant: we can take appropriate measures for fight, flight, or social relationship. (Guthrie 1997, 56)
Guthrie (1997, 56) nennt diese Abwägung ‚better safe than sorry‘. Neben dieser Erklärung werden nach Guthrie in der Literatur vor allem die Erklärungsansätze der Familiarity und des Comfort angeführt.43 Einen Erklärungsansatz auf kognitiver Ebene bietet die Familiarity-These. Diese geht von einem Zugriff auf die Welt durch die Form des Menschen aus, da uns diese am nächsten steht (Guthrie 1997, 54). Durch diese auf den Menschen fokussierte ‚Brille‘ können wir uns die Welt erklären und sie für uns sinnhaft machen: „We wish to understand the world, and the first criterion for an understanding is that the model be one on which we already can rely“ (Guthrie 1997, 54).
43
Guthrie (1995, 62–90; 1997, 54–55) gibt eine detaillierte Übersicht über die diskutierten Erklärungsansätze mit Bezug auf unterschiedlichste Autoren. Er selbst hält die Familiarity-These und die Comfort-These jedoch für nicht ausreichend und plädiert für den beschriebenen notwendigen Wahrnehmungseffekt: „Anthropomorphism may best be explained as the result of an attempt to see not what we want to see or what is easy to see, but what is important to see: what may affect us for better or worse“ (Guthrie 1995, 82–83; Hervorhebung im Original).
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
Eine Erklärung, die sich auf vorwiegend emotionale Motive bezieht, ist die ComfortThese (Guthrie 1997, 54). Diese besagt, dass wir uns besser fühlen, wenn wir das NichtMenschliche als menschlich betrachten (Guthrie 1997, 55). Sind wir dem Nicht-Menschlichen gegenüber misstrauisch, so beruhigt uns das Menschliche (Guthrie 1997, 54). Insbesondere die Möglichkeit, Beziehungen mit Menschen eingehen zu können und die darüber suggerierte Kontrollierbarkeit der Umwelt, sind Bestandteil dieses Erklärungsansatzes: The comfort account draws its main appeal from evident human sociability. We are gregarious and mutually dependent throughout our lives. Our relationships with other people are by far our most meaningful ones, to the point that ‚relationship‘ in most contexts connotes society. Moreover, having a social relationship with some object, human or not, means being able to influence it. (Guthrie 1995, 73)
Nicholas Epley, Adam Waytz und John T. Cacioppo (2007, 866) weisen darauf hin, dass Anthropomorphismus aus dem Bedürfnis heraus entstehen kann, effizient mit nichtmenschlichen Agenten zu interagieren. Mit der Zuschreibung menschlicher Eigenschaften und Motive werden die Handlungen dieser Agenten, so die Autoren, sinnvoller und vorhersagbarer (Epley, Waytz und Cacioppo 2007, 866). Diesen Erklärungsansätzen wird unter anderem entgegengehalten, dass das Wissen über uns selbst gar nicht so tiefgehend ist: „Physiologically as well as psychologically, the proportion of what we know of ourselves to what we do not is no greater than what we know of dogs and cats or stones and streams“ (Guthrie 1997, 55). Ein Erklärungsansatz für die Anthropomorphisierung nicht-menschlicher Dinge, der vor diesem Hintergrund angeführt werden kann, ist das angestrebte bessere Verständnis von uns als Menschen. Russell Belk (2014, 23) bemerkt, dass Menschen anthropomorphisierte Tiere und Objekte nutzen, um etwas über sich selbst zu lernen. Nach ihm werden sie ähnlich genutzt wie Figuren und Stars in anderen Medienprodukten (z.B. Film, Fernsehen, Romane), die als ‚alter ego‘ ausgetestet werden können. Werbefiguren – als vermenschlichte Marken betrachtet – machen in diesem Zusammenhang einerseits ersatzweise Erfahrungen für die Rezipient_in und zeigen Handlungsalternativen auf. Durch die simplifizierte Darstellung von Welt und Rolle in dieser Welt, von Herausforderung und Lösung, würden Werbefiguren demnach Komplexität für die Rezipient_in reduzieren. Andererseits stellen Marken, die durch Werbefiguren ‚Persönlichkeit‘ erhalten, Werthaltungen zum ‚Ausprobieren‘ zur Verfügung. Durch Markenkonsum könnten Rezipient_innen demnach auch ihr (ideales) Selbstkonzept erproben und reflektieren.
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
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Anthropomorphismus basiert auf einer dem Menschen eigenen Tendenz, seine Umwelt wahrzunehmen – sei es aus Gründen der Risikoreduktion, der Sinnfindung, der Kontrolle oder der Identitätsbildung. Im Marketing wird diese menschliche Eigenschaft als Möglichkeit gesehen, die Aufmerksamkeit der Konsument_innen zu erlangen und Präferenzen zu formen. Personification, in branding, is one of many ways of capitalizing on heuristics widespread among human beings, mental shortcuts and extrapolations which can be exploited for commercial advantage. Or more neutrally, which the rhetorically knowledgeable can deploy in order to promote a brand. […] We do strive to take advantage of human frailty. Personification is one among the means of persuasion available for visual branding. (McQuarrie und Phillips 2016, 169)44
Anthropomorphisierung als Strategie der Markenführung zeigt dabei viele Ausprägungsformen – von subtilen Andeutungen bis hin zu expliziten Vermenschlichungen. Yusra Khalid Khogeer (2013, 42–45) zeigt in ihrer Arbeit unterschiedliche Anthropomorphisierungsmöglichkeiten auf: z.B. Markennamen (Uncle Ben’s), Markenlogos (Gesicht im Starbucks-Logo) oder Unternehmensgründer (Steve Jobs bei Apple). Auch Charakteristika des Produktdesigns wie ein ‚lächelnder‘ Kühlergrill deuten eine Vermenschlichung an (McQuarrie und Phillips 2016, 170–71). Der Einsatz von Werbefiguren wird, wie bei den Ausführungen von Fournier bereits angedeutet, oftmals als ‚offensichtlicher‘ (Reavey et al. 2018, 458) und ‚explizitester‘ (Delbaere, McQuarrie und Phillips 2011, 122) Ausdruck dieser Anthropomorphisierungsbemühungen gesehen. Auch Werbefiguren, die Tiere oder andere nicht-menschliche Wesen darstellen, werden zumeist vermenschlicht. Dies geschieht z.B. durch den Einsatz von Sprache oder menschlicher Mimik und Gestik. S. Brown stellt fest, dass die Nähe der Figur zur ‚Menschlichkeit‘ den Erfolg bei Markenverantwortlichen stark beeinflusst: „Broadly speaking, my database reveals that brand animal popularity is directly related to the species’ physiological and psychological distance from humankind“ (2010, 215). Er resümiert: „The closer the creature is to humankind, the more likely it is to be adopted as a brand mascot“ (S. Brown 2010, 217). Khogeer (2013, 59) schlägt in ihrer Arbeit ein Kontinuum für den Grad der Vermenschlichung von Werbefiguren vor. Dieses beginnt bei begrenztem Vokabular und geht über das Hinzukommen von Gesichtsmerkmalen, Gliedmaßen, einer aufrechten Haltung und Kleidung bis hin zum verstärkten Ausdruck
44
McQuarrie und Philips (2016, 170–71) bezeichnen als direkte Personifizierung wiederkehrende und wiedererkennbare Personen und Figuren in der Werbung.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
von Emotionen und endet bei der tatsächlichen Repräsentation eines Menschen. Das Kontinuum mit illustrierenden Figuren wie dem Michelin-Mann, Tony der Tiger und Meister Proper suggeriert, dass auch die Persönlichkeit der Figur zum ‚menschlichen Ende‘ des Kontinuums hin stärker ausgearbeitet ist. Die Bewertung eines niedrigen oder hohen Anthropomorphisierungsgrads kann vor dem Hintergrund der hoch stilisierten Werbefiguren infrage gestellt werden (ist Meister Proper wirklich menschlicher als Tony der Tiger?). Jedoch gibt das Kontinuum einen interessanten Einblick in unterschiedlichste Anthropomorphisierungsverfahren. McQuarrie und Phillips schlagen vor, die über Werbefiguren vermittelten Bedeutungen in einem räumlichen Modell zu betrachten: „Under this model, meaning refers to position in semantic space, and specific meanings can be captured as a set of distances from other meanings“ (2016, 177). Sie gehen davon aus, dass Werbefiguren Marken unterstützen, indem sie sie in einem bestimmten Bedeutungsraum positionieren (McQuarrie und Phillips 2016, 178). Dabei dringt die anthropomorphisierte Marke in den Bedeutungsraum des ‚Lebendigen‘ ein, der eigentlich Menschen bzw. Lebewesen zugeschrieben wird (McQuarrie und Phillips 2016, 177–78). Under this simple Euclidean model of meaning, the purpose of any attempt to animate or personify a brand is to move the brand toward the ‚alive‘ region, and toward meanings that cluster in that region (for example, young, vivid, active), which is also to move the brand away from the ‚dead‘ cluster, which simultaneously moves it away from other negative meanings in that region (for example, dull, old, thing). […] Consumers, like other humans, often prefer live to dead, vivid to dull, and youthful to decrepit. (McQuarrie und Phillips 2016, 177)
Die Zuschreibung einer distinkten Persönlichkeit führt zu einer noch spezifischeren Positionierung, wie McQuarrie und Phillips betonen: On this model, ‚live‘ is a cluster, when semantic space is viewed at the lowest level of resolution. Viewed up close, it is a region that contains yet more clusters located close or distant; in this case, all the subdescriptors that apply to persons, and that distinguish one personality from another. In personifying a brand, rather than merely suggesting its animation, one has to give it a personality: the personality of the Green Giant, rather than that of Betty Crocker, the personality exhibited by Tony the Tiger, rather than that of Charlie the Tuna. You cannot personify a brand by showing a generic person or creature […]. (2016, 177)
Clinton D. Lanier Jr., C. Scott Rader und Aubrey R. Fowler (2014, 35-36) weisen außerdem daraufhin, dass die Anthropomorphisierung von Marken das Beziehungsgeflecht zwischen verschiedenen Marken verdeutlicht. Marken (als Zeichen) erhalten ihre Bedeutung in Bezug zu anderen Marken (Lanier Jr., Rader und Fowler III 2014, 36). Figuren demonstrieren Persönlichkeitsmerkmale und grenzen sich so (wie menschliche Individuen) von anderen Marken und Figuren ab. Sie verteilen sich, mit McQuarrie und Phillips
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
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gesprochen, in bestimmten Bereichen im Bedeutungsraum. Somit unterstützt die Vermenschlichung auch die Differenzierung von Marken untereinander. Werbefiguren wird also zugeschrieben, menschliche Eigenschaften darstellen zu können. Daraus können sich wiederum verschiedene Anschlussmöglichkeiten für Konsument_innen ergeben. So können (emotionale) Reaktionen die Folge sein. Khogeer bemerkt: „Mascots – as a form of anthropomorphism – give brands a form through which they can act, think and feel. Consequently, consumers can feel something towards the brand“ (2013, 2). Über das Zuschreiben menschlicher Eigenschaften hinaus, geht Fournier (1998, 344–45), wie bereits skizziert, davon aus, dass eine Marke als aktives Gegenüber agieren müsse, um als Beziehungspartner fungieren zu können. Werbefiguren stellen lebendige und vermenschlichte Markenkonzepte dar. Sie können ihre Geschmäcker, Bedenken und Werthaltungen ausdrücken. Sie können handeln, wobei ihre Handlungen durch die Integration in zeitliche und kausale Zusammenhänge (oder kürzer: in Geschichten) Sinn erhalten. Werbefiguren äußern z.B. Vorschläge und Empfehlungen– und können so als aktives Gegenüber in einer Beziehung agieren. Als vermenschlichte Wesen bieten Werbefiguren einen Anschluss an das, was vertraut ist: den Menschen und menschliche Beziehungen. Über die ersten Werbefiguren in der amerikanischen Werbelandschaft sagen Dotz und Husain: Advertising spokes-character […] had the effect of bringing larger companies down to human scale. In a time of public uprootedness and migration, these early smiling and gesturing ‚Mr. Products‘ served as a reassuring presence, a comforting substitute for the familiar face of a local merchant. Far from being complex, early advertising spokes-characters simply and literally embodied the chief characteristic of their products – whether it was purity, strength, gentleness, naturalness, or low cost. (2003, 13)
Daran anschließend dienen Werbefiguren den Markenverantwortlichen als Schnittstelle, die es ermöglicht, Eigenschaften der Marke in einer für die Rezipient_in verständlichen und vor allem vertrauten (weil menschennahen) Art und Weise zu kommunizieren. Es lässt sich festhalten, dass markenstrategische Begriffe und Konzepte durch menschliche Analogien geprägt sind. Werbefiguren können als Konsequenz aus den Bemühungen, die Marke als Persönlichkeit mit Werten und als Beziehungsangebot zu positionieren, betrachtet werden. Bereits im Jahr 1939 schreibt Hans Domizlaff (2005) in seinem Lehrbuch der Markentechnik, die Marke habe ein Gesicht wie ein Mensch. Mit der Werbefigur gilt dieser Ausspruch nicht nur metaphorisch.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
3.2.2 Art der Anthropomorphisierung Nicht nur die in Abschnitt 3 entwickelte Typologie, sondern auch ein Werbeblock mit Tech-Nick (Saturn) und PAULA der Kuh (Dr. Oetker Paula Pudding) verdeutlichen, dass Anthropomorphisierung nicht gleich Anthropomorphisierung bedeutet. Im Folgenden sollen deshalb Unterschiede in der Art der Anthropomorphisierung ausgemacht und deren Charakteristika umrissen werden. Cohen (2014, 2) weist darauf hin, dass unterschieden werden muss, ob eine Marke eine Figur lediglich zur Kommunikation einsetzt oder ob eine Figur die Marke selbst personifiziert. Die von Cohen vorgenommene Unterscheidung lässt sich auch semiotisch reformulieren mit der Fragestellung: Erfolgt die Anthropomorphisierung ‚direkt‘ auf Zeichenebene der Marke oder erfolgt die Anthropomorphisierung ‚indirekt‘ durch eine pragmatische Beziehung zur Marke? Die direkte Anthropomorphisierung der Marke bedeutet demnach entweder die Vermenschlichung der Primärzeichen der Marke, des Referenzobjekts oder von Teilen der Markenidentität (= Signifikat).45 Bei der Anthropomorphisierung der Primärzeichen und des Markenprodukts wird durch die Anthropomorphisierung in gewisser Weise die Stummheit der Objekte (bzw. Bezeichnungen) überwunden. Uncle Bens großväterliche Fürsorglichkeit wird beispielsweise nicht mehr nur durch sein lächelndes Konterfei angedeutet, sondern durch seine Aussagen bekräftigt. So versichert er, dass er persönlich sehr anspruchsvoll bei seinem Reis sei (deutsche Werbespots 2012)46. Anthropomorphisierte Markenprodukte können auch Antwort darauf geben, was sie eigentlich ‚tun‘. Durch die Vermenschlichung erhalten sie Handlungsfähigkeit. So demonstrieren die vermenschlichten Generalflaschen auf der einen Seite (Abb. 7), dass sie eine aktive Unterstützung für die Konsument_in darstellen (die Marke als Verbündeter und Partner in der Bewältigung der Aufgabe) und auf der anderen Seite führen sie ihre spezifischen funktionalen Nutzen vor: Sie wischen, sie föhnen den Boden und schließlich streuen sie für den guten Duft Blumen (Friseurmeister Roman Bartl 2013)47.
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Auch Cohen (2014, 3) weist auf eine solche Kongruenz zwischen Figur und Markenname sowie Markenpersönlichkeit bei der Personifizierung der Marke hin. 46 Der betreffende Uncle Ben’s Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. 47 Der betreffende Der General Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
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Abb. 7: Die direkte Anthropomorphisierung bei der Generalflasche (Produkttester Lounge Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved)
Die Zeigbarkeit hat für Werbetreibende insbesondere bei der Personifizierung symbolischer Markennutzen Relevanz. Hier werden abstrakte Begriffe ‚vor Augen geführt‘. Der Marlboro-Mann beispielsweise konkretisiert, wo eine rein verbale Kommunikation wie ‚Marlboro macht besonders männlich – eine Marlboro-Zigarette gibt Ihnen ein Stück Freiheit und Abenteuer‘ abstrakt geblieben wäre. Durch die direkte Anthropomorphisierung können Marken(produkte) als Protagonist_innen in (Erlebnis-)Kontexte gestellt werden. So dreht der Schoko-Bon die Musik auf und tanzt zusammen mit einer Konsumenten-Familie (7Corbi 2011)48. Der Schoko-Bon ‚zeigt‘, dass man mit ihm und damit mit dem Produkt Spaß haben kann. Innerhalb der direkten Anthropomorphisierung stellen Werbefiguren ein Darstellungs- und Narrativierungspotenzial für die Marke dar, wobei die Marke zur handelnden Protagonist_in werden kann. Dabei stehen sie in diesen Momenten unmittelbar für die Marke – ihre Darstellung und ihre Handlungen entsprechen der Positionierung der Marke im Bedeutungsraum. Bei der indirekten Anthropomorphisierung der Marke wird kein Bestandteil des Zeichens selbst vermenschlicht, sondern die Marke wird in einem menschlichen Beziehungsverhältnis positioniert. Die indirekte Anthropomorphisierung zeigt nicht auf, wie die Marke selbst agiert, sondern wer mit der Marke agiert. Das bedeutet, dass insbesondere der Umgang mit der Marke im Fokus steht. Auf diese Weise kann beispielsweise der Konsum des beworbenen Markenprodukts dargestellt werden (was bei direkt anthropomorphisierten Lebensmitteln wie Milky & Schoki oder dem Schoko-Bon problematisch 48
Der betreffende Schoko-Bon Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Das Verhältnis der Werbefigur zur Marke – Entwicklung einer Typologie
sein kann). Die Vermenschlichung erfolgt, wie bei der Werbefunktion des Typus skizziert, indirekt durch die Einbindung des Markenprodukts in menschliche Kontexte. Damit nimmt sie Bezug auf menschliche Bedürfnisse, Erfahrungswerte und Herausforderungen, womit die Existenz des Markenprodukts Sinn erhalten soll. Werbefiguren haben auch hier das Potenzial die Marke zu narrativieren. Allerdings wird die Marke eher als Objekt, denn als Subjekt positioniert. Dadurch besteht auch eine Distanz zur Marke. Das heißt, die Bedeutung der Figur ist nicht zwangsläufig gleich der Bedeutung der Marke (Karin Sommer verdeutlicht Jacobs ‚Verwöhnaroma‘, sie ist es aber nicht). Diese Distanz zur Marke ermöglicht beispielsweise selbstironische Darstellungen. So bemerkt Cohen in Bezug auf Versicherungswerbung: One reason many characters in commercials for insurance companies […] are not depicted as personifying the brand may have to do with the inherent risk in using humor in advertising for insurance products. Insurance can be very serious – as in life or death serious – business. […] For example, while somewhat humorous, the GEICO campaign featuring Neanderthal-like cave people launched in 2004 was designed to illustrate how easy it was for people living in modern society – even cave people – to access and use the tools on the GEICO Web site. The campaign was not designed to personify GEICO as Neanderthal-like. (2014, 2–3)
Durch die indirekte Anthropomorphisierung kann also der Hinweis auf funktionale und symbolische Nutzen der Marke erfolgen, ohne dass die Figur denselben Bedeutungsraum teilen muss. So können die Check24 Werbefiguren (2 unvergleichliche Familien), die an die Sitcom Eine schrecklich nette Familie (Leavitt und Moye 1987-1997) angelehnt sind, auf die Vorteile des Vergleichsportals hinweisen, ohne dass die Marke Check24 gleichzeitig als dümmlich oder albern positioniert werden würde.
Abb. 8: Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur (eigene Darstellung)
Anthropomorphisierungstendenzen in der Markenführung
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Es lässt sich resümieren, dass Marken durch Werbefiguren direkt und indirekt vermenschlicht werden können. Dabei unterscheiden sich die beiden Arten der Anthropomorphisierung insbesondere durch den Bedeutungstransfer auf die Marke und die Handlungsfähigkeit der Markenprodukte innerhalb der Geschichten und Inszenierungen. Die Art der Anthropomorphisierung ergänzt als finaler Baustein die Typologie der markenund werbestrategischen Verortung der Werbefigur (Abb. 8), die über die vorangegangenen Abschnitte erarbeitet worden ist. Neben der Beschreibung und Einordnung von Werbefiguren mit den identifizierten Typen des emanzipierten Stars, des Ebenbilds und des Unterstützers kann die Typologie in der Analyse dazu verwendet werden, spezifischere Fragen nach der Werbefunktion und der Anthropomorphisierung zu stellen. Die vorgestellte Typologie versteht sich somit als analytische Hilfestellung.
Fallbeispiel: Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
4
Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser – Spuren der konzeptionellen Arbeit und der diskursiven Verhandlung im Archiv
Im Anschluss an die theoretische Vorarbeit soll nun die erarbeitete Typologie der markenund werbestrategischen Verortung der Werbefigur am Fallbeispiel Herr Kaiser erprobt werden. Anhand von Archivmaterial soll insbesondere der interne Marketingdiskurs im Hinblick auf die Figur-Marke-Beziehung nachgezeichnet werden. Dabei sollen die Steuerungsversuche der Figurenrezeption durch die Werbetreibenden der werbeexternen Emanzipation von Herrn Kaiser gegenübergestellt werden. Die theoretisch erarbeitete Typologie wird zur Benennung und zur semiotisch fundierten Beschreibung des Verhältnisses der Werbefigur Herr Kaiser zur Marke Hamburg-Mannheimer herangezogen. In den vorangegangenen Abschnitten wurde auf einer semiotischen Grundlage ein Analyseinstrument vorgeschlagen, das das Phänomen der Werbefigur in Bezug zur beworbenen Marke vergleichbar und einordenbar macht. Dabei wurde in einem ersten Schritt die Marke mithilfe eines triadischen Zeichenmodells analysiert. Auf dieser Basis erfolgte die marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur in Form einer Typologie. In dieser wurden drei Typen zur Beschreibung des Verhältnisses der Werbefigur zur Marke festgelegt (emanzipierter Star, Ebenbild, Unterstützung), indem untersucht wurde, wie die Werbefigur zu den Zeichen-Bestandteilen der Marke Bezug nimmt. Aufbauend auf dieser initialen Einordnung wurde das Werben der Werbefigur näher beleuchtet und die Typologie um die Werbefunktion (Präsenzsignal, Symbol, Typus) und die Art der Anthropomorphisierung (direkt, indirekt) ergänzt. Die entstandene Typologie soll vor allem als methodisches Hilfsmittel dienen, um verschiedene Ausprägungen des Werbefiguren-Phänomens aus markenstrategischer Perspektive einordnen und beschreiben zu können. Die Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur kann rein medienimmanent angewendet werden. So wurden die erarbeiteten Typen jeweils beispielhaft mit Werbefiguren illustriert (Abb. 8), ohne dass ein Wissen über die Produktionsabsichten der Werbetreibenden zugrunde gelegen hätte. In diesem Fallbeispiel erlaubt
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_4
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
der Archiveinblick allerdings eine sowohl medienimmanente Analyse einzelner Kommunikate als auch eine Reflexion der internen und externen Figurenrezeption. Die aufgeführten Kommunikate stellen jeweils Anfangs- oder Änderungspunkte in der Werbekommunikation dar, an denen das (veränderte) Werben der Werbefigur anschaulich aufgezeigt werden kann. Sie erheben dagegen keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit hinsichtlich der Werbegeschichte von Herrn Kaiser, sondern sollen pointiert das Verhältnis der Figur zur Marke illustrieren. Über die Analyse der Werbekommunikate hinaus sollen die intern kommunizierten werbestrategischen Absichten untersucht werden. Die Archivspuren sollen zudem Einblicke in die produktionsseitigen Herausforderungen mit dem werbeexternen ‚Erfolg‘ der Werbefigur bieten. Wie in der Einleitung bereits beschrieben wurde, bietet das Archivmaterial unter anderem Zugang zu Werbeartefakten, Korrespondenzen, Studien und Agentur-Briefings. In diesem Fallbeispiel wird zudem die Mitarbeiterzeitschrift der Hamburg-Mannheimer als Quelle herangezogen. In der sogenannten forum erfolgte eine kontinuierliche Reflexion über die Werbemaßnahmen, die dahinterliegende Werbestrategie sowie über auftretende Problemstellungen. Es muss allerdings betont werden, dass die Kommunikation über Herrn Kaiser in der Mitarbeiterzeitschrift letztlich interne Werbung für die Hamburg-Mannheimer Werbung war. Wie in den kommenden Abschnitten deutlich werden wird, kommt hierin unter anderem das Bemühen zum Ausdruck, die eigenen Werbeaktivitäten intern positiv zu verargumentieren. Das verwundert wenig vor dem Hintergrund, dass die Redaktion der Mitarbeiterzeitschrift vom Werbeleiter selbst geleitet wurde. Die Verantwortlichen waren demnach bemüht, rund um die Werbefigur Herr Kaiser eine kohärente und affirmative Geschichte zu kreieren. Wie bei Absatzwerbung auch kommt in der Mitarbeiterzeitschrift daher die von Siegfried J. Schmidt und Zurstiege beschriebene Ausblendungsregel von Werbung zum Tragen: Was immer die Überzeugungskraft einer Information oder eines Arguments bzw. die (Oberflächen-)Attraktivität eines Produkts oder einer Person beeinträchtigen könnte, wird ausgeblendet. (2007, 171–72)
Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
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Die werbliche Kommunikation in der Mitarbeiterzeitschrift stellt in dieser Hinsicht gewissermaßen das ‚Familienalbum‘ der Hamburg-Mannheimer-Werbung dar.49 Es muss also im Hinblick auf die Berichterstattung in der Mitarbeiterzeitschrift stets eine affirmative und parteiische Haltung zur eigenen Werbekommunikation mitgedacht werden.50 Es ist in diesem Fallbeispiel allerdings ohnehin nicht das Anliegen die ‚wahren‘ Absichten in der Werbekonzeption der Hamburg-Mannheimer aufzudecken. Stattdessen soll der interne Marketingdiskurs mithilfe der entwickelten Typologie nachgezeichnet und die darin kommunizierten Intentionen eingeordnet werden. Dabei soll kritisch reflektiert werden, inwiefern die Typologie ein hilfreiches Instrument für eine solch vielschichtige Analyse darstellt, die damit sowohl die Werbekommunikate als auch die unternehmensinterne Kommunikation über die Werbestrategie umfasst. Herr Kaiser war von 1972 bis 2010, also 38 Jahre lang, die Werbefigur der HamburgMannheimer. Während dieser Zeit wurde immer wieder versucht, den Mitarbeiter_innen die Figur näherzubringen und intern dafür zu werben, was Günter Kaiser für die Marke Hamburg-Mannheimer bedeutete. So hieß es 1997 in der Mitarbeiterzeitschrift: „Herr Kaiser überreicht nicht nur die Visitenkarte, er ist gewissermaßen die Visitenkarte der Hamburg-Mannheimer“ (EA forum 1997 (Mär), 7); Hervorhebung im Original). Die Figur wurde in der forum unter anderem noch beschrieben als menschliches Gesicht der Hamburg-Mannheimer (EA forum 2009 (1), 6), als Symbolfigur des Außendienstes (EA forum 1982 (5), 6) oder als Repräsentant der Hamburg-Mannheimer (EA forum 2004 (1), 42). Die metaphorische Einordnungsleistung in den internen und auch externen Markendiskursen, auf die später noch zu kommen sein wird, offenbart die Multifunktionalität der Figur zwischen Botschafter (derjenige, der die Visitenkarte überreicht) und Botschaft (die Visitenkarte selbst). Die vorab theoretisch entwickelte Typologie, die die Werbefigur im marken- und werbestrategischen Kontext verortet (Abschnitt 3), soll genau hier ihren Mehrwert zeigen und eine differenzierte sowie semiotisch fundierte Beschreibung des Facettenreichtums der Werbefigur Günter Kaiser ermöglichen. Dabei implizieren die
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Nach Russell W. Belk und Richard W. Pollay (1985, 888) kann die Wirklichkeitskonstruktion innerhalb von Print-Werbung auch als ‚family album of society‘ betrachtet werden. Wie ein Familien-Fotoalbum seien die Darstellungen selektiv und würden ein Bild präsentieren, das dem entspricht, wie die Familie sich gern sehen würden. 50 Siehe zur Parteilichkeit der Werbekommunikation Schmidt und Zurstiege (2007, 172).
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
markenstrategische Verortung der Werbefigur sowie die Reflexion des Marketingdiskurses nicht, dass die jeweiligen Werbeziele auch der Werberezeptionswirklichkeit entsprechen. In der Untersuchung der Archivmaterialien wird stattdessen immer wieder deutlich, wie die Werbeverantwortlichen der Hamburg-Mannheimer um die Deutungshoheit der Figur ringen. So werden sie z.B. mit negativen Studienergebnissen aus Kundenbefragungen und der ‚missbräuchlichen‘ Verwendung der Figur im journalistischen Diskurs konfrontiert. In Analogie zu den theoretischen Vorüberlegungen wird im Folgenden zunächst die Marke Hamburg-Mannheimer beleuchtet und die generelle Interdependenz zwischen Marke und Werbekommunikation im konkreten Fallbeispiel vor Einführung der Werbefigur 1972 untersucht (Abschnitt 4.1). Darauf aufbauend dienen die unterschiedlichen Beziehungsformen, die Herr Kaiser zur Marke Hamburg-Mannheimer einnimmt, als Strukturierung für die Abschnitte 4.2-4.4. Dabei werden auch die Werbefunktion der Figur und die Art der Markenanthropomorphisierung betrachtet. Abschließend erfolgt in diesem Abschnitt eine Reflexion über die Anwendbarkeit und den analytischen Wert der entwickelten Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur (Abschnitt 4.5).
4.1
Markenstrategische Ausgangsüberlegungen zur Konzeption der Werbefigur Herr Kaiser
Wie in der theoretischen Vorarbeit herausgestellt wurde, sind Marken der ‚inhaltlich-strategische Bezugspunkt‘ der Werbekommunikation und die Zielgröße der kommunikativen Bemühungen. Bevor daher die Position der Werbefigur Herr Kaiser innerhalb der Werbekommunikation analysiert wird, sollen in einem ersten Schritt die strategischen Ausgangsüberlegungen zur Bewerbung der Marke Hamburg-Mannheimer reflektiert werden. Dabei geht es im Hinblick auf das untersuchte Archivmaterial insbesondere darum, die intern wahrgenommene und angestrebte Position der Marke sowie die kommunizierten Schlussfolgerungen für die Werbung nachzuzeichnen. Die in Abschnitt 2.2 erfolgte semiotische Betrachtung einer Marke fungiert dabei als Grundlage für die Untersuchung.
Markenstrategische Ausgangsüberlegungen zur Konzeption der Werbefigur Herr Kaiser
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1899 wurde in Mannheim die Versicherungsgesellschaft Hamburg-Mannheimer gegründet.51 Obwohl die Hamburg-Mannheimer 1969 nach eigenen Angaben der zweitgrößte Lebensversicherer Deutschlands war (EA HM-Forum 1970 (6), o. S.), postulierte die Gesellschaft in der Mitarbeiterzeitschrift forum 1970 die Unbekanntheit ihrer Marke: [S]o gut wir auch im Mittelstand und in den anderen mit uns zusammenarbeitenden Organisationen eingeführt sind, so unbekannt sind wir in breiten Bevölkerungsschichten. […] Wesentlich kleinere Unternehmen sind populärer als die HM – das heißt, in Anbetracht ihrer Größenordnung erscheint die HM in den Köpfen der Versicherungsnehmer ‚unterbelichtet‘. (EA HM-Forum 1970 (4), 3)
Die Einschätzung der Unbekanntheit der Marke wurde auf eine Umfrage rückgeführt, die in einer früheren forum-Ausgabe vorgestellt und in der die Marke Hamburg-Mannheimer bei der Frage nach bekannten Lebensversicherungsgesellschaften ‚nur selten genannt‘ worden sei (EA HM-Forum 1970 (4), 3). In Abschnitt 2.2 wurde die Marke mithilfe eines triadischen Zeichenmodells betrachtet. Dabei wurde der Signifikant der Marke als Signifikantenbündel präzisiert, das sich aus primären (Name, Logo) und sekundären Zeichen (z.B. Verpackung, Design, Slogan) zusammensetzt. Das Signifikat wurde ebenfalls differenziert betrachtet: So wurde hier zwischen dem verbalen Markenkonzept im Selbstbild des Unternehmens (Markenidentität) und dem mentalen Markenkonzept im Fremdbild (Markenimage) unterschieden. Als Referenzobjekt wurde im Rahmen der Absatzwerbung das käuflich zu erwerbende Markenprodukt bestimmt. Weiter wurde ausgeführt, dass innerhalb der Werbekommunikation versucht wird, die gegebenenfalls bereits mit den Primär- und Sekundärzeichen assoziierten Bedeutungen weiter auszubauen und die Zeichen mit den in der Markenidentität formulierten Eigenschaften zu verbinden. Die in der Mitarbeiterzeitschrift kommunizierte Ausgangssituation der Marke Hamburg-Mannheimer kann vor diesem Hintergrund wie folgt reformuliert werden: Das durch eine Umfrage eingeholte Markt-Feedback gab der Hamburg-Mannheimer Auskunft über das Fremdbild der Marke. Demnach war die Markenbekanntheit, genauer die Bekanntheit des Signifikanten ‚Hamburg-Mannheimer‘ in Verbindung mit dem Signifikat ‚Lebensversicherung‘, nur gering. Darauf basierend wurde an gleicher Stelle in der forum aus
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Die Versicherungsgesellschaft wurde 1899 als Vita Versicherungs-Actien-Gesellschaft gegründet und erst 1912 in die Hamburg-Mannheimer Versicherungs-Aktien-Gesellschaft umbenannt (EA Jubiläumsbuch 1999, 4-7, 12, 117).
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Unternehmenssicht die Dringlichkeit kommuniziert, im Sinne der Zukunftsfähigkeit in Werbemaßnahmen zu investieren: Das darf nicht so bleiben! Wenn wir auch in Zukunft am Mann bleiben wollen, […] dann müssen wir auch in der Werbung aktiv werden. Werbung ist aus dem Wirtschaftsleben einfach nicht mehr wegzudenken. Firmen, von denen man spricht, sind werbeaktiv. Auch die HM, die bisher mit der Werbung etwas zurückhaltend war, will jetzt aus dieser Reserve heraustreten. […] Die Aussage unserer Werbung, daß die große und bedeutende HM auch ein vertrauenswürdiger Partner ist, wird die Arbeit unserer Mitarbeiter im Außendienst ein gutes Stückchen leichter machen. (EA HM-Forum 1970 (4), 3)
Die gesamte Ausgabe der zitierten forum ist der internen Vorstellung der HamburgMannheimer Werbung gewidmet. Die im Vorwort kommunizierte Notwendigkeit in der Werbung aktiv zu sein, kann daher als Argumentationsgrundlage für die interne Akzeptanz der Werbeaktivitäten gelesen werden. Der eindringliche Überzeugungsversuch wird im Zitat z.B. an der Nutzung des Ausrufezeichens, an der teils drastischen Sprache (‚unterbelichtet‘) und an der sowohl verheißungsvollen als auch bedrohlich wirkenden Ansprache der internen Anspruchsgruppen deutlich. So wird für die Außendienstmitarbeiter in Aussicht gestellt,52 dass deren Vertriebsarbeit durch die Werbemaßnahmen erleichtert wird. Für das ganze Unternehmen und das heißt für alle Mitarbeiter_innen wird Werbung überdies als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg der Hamburg-Mannheimer positioniert. Verantwortlich für dieses Werbeplädoyer zeichnete sich der Leiter der Werbeabteilung Helmut B. Fiebig selbst. Das bedeutete: Interne Werbung für die HamburgMannheimer Werbung bedeutete Werbung für dessen eigene Arbeit. In einem Unternehmen, das bislang nach eigener Darstellung in diesem Fachbereich noch nicht ‚aus der Reserve‘ herausgetreten war, konnte der Ausbau der Werbekommunikation für den Werbeleiter auch ein Zuwachs an interner Bedeutung heißen. Die Beiträge sind in diesem Sinne doppelt parteiisch, indem sie sowohl die Werbemaßnahmen an sich bewerben als auch die Arbeit des Redakteurs. Sie geben nichtdestotrotz Einblicke in die produktionsseitig kommunizierten Absichten in der Werbekommunikation. So drücken die Worte des
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Im Folgenden wird von dem ‚Außendienstmitarbeiter‘, ‚Vertreter‘ oder ‚Versicherungsfachmann‘ stets in der männlichen Form gesprochen, weil im historischen Rückblick insbesondere der männliche Mitarbeiter gemeint war. Auch ein forum-Artikel aus dem Jahr 1982 thematisiert den geringen Frauenanteil im Außendienst: „Die Symbolfigur des HM-Außendienstes ist Herr Kaiser, der Mann von der Hamburg-Mannheimer. Und das mit gutem Grund. Denn unter den rund 5000 hauptberuflichen Außendienstmitarbeitern sind nicht viele Frauen. Selbst der HM-Computer konnte ihre genaue Zahl auf die Schnelle nicht ausspucken. Frauen im Außendienst: Kaum beachtet, nicht einmal eine kleine statistische Zahl? Wie sich diese Minderheit in der ‚Außendienst-Männerwelt‘ fühlt, wollte die Forum-Redaktion wissen, um das Geheimnis des unbekannten Wesens ‚Mitarbeiterin im Außendienst‘ zu lüften“ (EA forum 1982 (5), 6).
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Werbeleiters auch den Wunsch aus, dass die Marke Hamburg-Mannheimer als groß, bedeutend und als vertrauenswürdiger Partner wahrgenommen wird. Der Signifikant Hamburg-Mannheimer soll nach dieser Darstellung also über die Bedeutung einer Lebensversicherung hinaus bestimmte Assoziationen hervorrufen. Diese Ausrichtung wurde intern als verbales Markenkonzept (Markenidentität) präsentiert, das über Werbemaßnahmen auch zum mentalen Markenkonzept (Markenimage) bei der Zielgruppe werden sollte. Weiterhin wurde in der internen Präsentation der Werbemaßnahmen das Ziel kommuniziert, aufgrund der festgestellten Unbekanntheit des Unternehmens auch den Markennamen selbst „[…] intensiv herauszustellen, so daß sich die HM dem Publikum einprägt“ (EA HM-Forum 1970 (4), 4). Ausgehend von der Ausgestaltung der Werbung wurde den Mitarbeiter_innen damit sogleich der Kommunikationserfolg in Aussicht gestellt. Das Ergebnis der Werbekonzeption 1970 waren ein Werbespot sowie Anzeigen, die unter anderem verkündeten: „Wir verkaufen keine Katze im Sack – wir nennen die Dinge beim Namen“ (EA HM-Forum 1970 (4), 6–7), wobei eine Katze im Sack als Motiv diente. Oder es wurde eine lange Bank als Motiv abgebildet begleitet von dem Text: „Wir schieben nichts auf die lange Bank – wir reagieren schnell und unbürokratisch“ (EA HM-Forum 1970 (4), o. S.) (Abb. 9). Die Anzeigen sollten, so lässt sich im Hinblick auf die kommunizierten Ziele in der forum interpretieren, zum einen über metaphorische TextBild-Kombinationen die Vertrauenswürdigkeit der Hamburg-Mannheimer kommunizieren. Zum anderen fokussiert der Abbinder darauf, den Markennamen herauszustellen und mit den im Verbalkonzept angestrebten Themen der ‚Größe‘ und ‚Bedeutung‘ zu verknüpfen: „Hamburg-Mannheimer …die große Lebensversicherung mit 5 Millionen Verträgen, über 14 000 Mitarbeitern und 250 Niederlassungen“ (EA HM-Forum 1970 (4), o. S.). Dieser Fokus kann auch im Werbespot von 1970 nachvollzogen werden, in dem von der „Hamburg-Mannheimer – die große Lebensversicherung“ und der „Hamburg-Mannheimer – Sicherheit für 5 Millionen Menschen“ (EA Werbespot 1970) die Rede ist.
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Abb. 9: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1970 (EA HM-Forum 1970 (4), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
In der Mitarbeiterzeitschrift wurde für die Mitarbeiter_innen also eine kohärente Erzählung zur Werbekampagne geschaffen: Von der Werbeursache (‚unterbelichtet‘) über das daraufhin formulierte Ziel (als großes, bedeutendes Unternehmen und als vertrauenswürdiger Partner wahrgenommen zu werden) bis hin zur Präsentation der Werbemaßnahmen, die eben jenes kommunizieren sollten. Dabei wurden die Bekanntmachung des Primärzeichens (Markenname) und die Herausstellung von Größe und Bedeutung (Markenidentität) als vornehmliche Ziele der Werbeaktivitäten dargestellt. Die HamburgMannheimer sollte sich als Lebensversicherung bei den Rezipient_innen einprägen. Die
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erhoffte Steigerung der Markenbekanntheit sollte dabei insbesondere über die Thematisierung der Marke erreicht werden. Angestrebte Kommunikationsinhalte wie die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens können in der Umsetzung nur indirekt nachvollzogen werden (metaphorische Anzeigen). Auch wenn die Hamburg-Mannheimer ihre Bekanntheit nach eigenen Angaben von 1969 bis 1971 steigern konnte (EA HM-Forum 1971 (5-6), 8),53 sollte dieser neue Werbekurs angepasst werden. Einfluss auf diese Kurskorrektur hatten der forum zufolge zwei Studien (EA HM-Forum 1971 (5-6), 9),54 aus denen nachfolgend einige Ergebnisse herausgegriffen werden. Die 1971 durchgeführte Untersuchung über die interne Bewertung des Unternehmens trug den Titel: Die HAMBURG-MANNHEIMER im Urteil firmeneigener Außendienstmitarbeiter im mittleren Führungsbereich (EA Studie Außendienst 1971).55 Die Studie besagte unter anderem, dass sich die Außendienstmitarbeiter selbst für […] die Motoren der Produktion und des Umsatzes halten und überwiegend sogar dazu neigen, daß sie persönlich sich verkaufen und daß es nicht so sehr die Versicherungist [sic!], die an dem Erfolg beteiligt wird. ‚Der Vermittler ist der starke Mann. Wir verkaufen etwas, und wenn jemand eine Versicherung kauft, dann kauft er sie bei mir.‘ (EA Studie Außendienst 1971, 83)
Die in der Studie präsentierte Selbsteinschätzung der Außendienstmitarbeiter weist auf den großen Anteil am Vertriebserfolg hin, den diese sich als ‚starke Männer‘ selbst beimaßen. Die Selbsteinschätzung gibt zudem nach der kommunizierten Maßgabe, auch in Zukunft ‚am Mann‘ bleiben zu wollen, einen Hinweis auf die patriarchalen Strukturen, die die Werbeproduktion prägten: Sowohl der Kunde als auch der Verkäufer (Markenrepräsentant) wurden männlich konnotiert. Dieses vergeschlechtlichte Rollenverständnis in
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Diese Angaben wurden in der internen Mitarbeiterzeitschrift forum kommuniziert. Dementsprechend können an dieser Stelle keine Aussagen über den Studienaufbau oder die Repräsentativität der Studie getroffen werden. Stattdessen wird lediglich davon ausgegangen, dass die Angaben dem entsprechen, was die Werbeverantwortlichen angenommen haben bzw. was ihnen in der internen Argumentation nützte. Zu den in der Mitarbeiterzeitschrift kommunizierten Marktforschungsergebnissen: 8 % der Befragten kennen die Marke 1971 ungestützt – im Jahr 1969 waren es nur 2 %. 54 Die Studien entstanden aus der Beratung von ‚Karl Suthoff, Berater für Absatz- und Kommunikationstechnik, Hamburg‘ (EA Studie Außendienst 1971; EA Studie Publikum 1971). 55 Zur Methode der Studie heißt es in den Studienunterlagen unter anderem: „Zur Klärung dieser Fragen führten wir in Hamburg insgesamt vier Gruppendiskussionen mit Mitarbeitern der HAMBURG-MANNHEIMER durch, die als mittlere Führungskräfte im Außendienst bezeichnet werden können. Verbunden waren diese Gruppendiskussionen mit Einzelinterviews. Gruppendiskussionen und Einzelinterviews lag ein Leitfaden zugrunde, der von dem Berater der Hamburg-Mannheimer, Herrn Suthoff, gemeinsam mit leitenden Herren der Hamburg-Mannheimer erarbeitet worden war“ (EA Studie Außendienst 1971, 19; Hervorhebung im Original). Weitere Angaben zur Gruppenstärke oder zur Anzahl der Einzelinterviews konnten in der Studienunterlage nicht ausgemacht werden.
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
der Produktion zeigt sich beispielsweise auch in geschlechterspezifischen Stellenanzeigen von 1970 (EA HM-Forum 1970 (6), 18–19), die explizit je nach Berufsprofil an Männer (‚männliche Lehrlinge‘) oder Frauen (‚Locherinnen‘, ‚Vorzimmer eines unserer leitenden Herren‘) gerichtet waren und die dieses Verständnis letztendlich in die berufliche Realität übersetzten und perpetuierten. Die zweite Studie, ebenfalls aus dem Jahr 1971, untersuchte die Einstellungen der Zielgruppe gegenüber der Hamburg-Mannheimer: Die HAMBURG MANNHEIMER [sic!] im Urteil ihres Publikums (EA Studie Publikum 1971).56 Dabei resümierten die Marktforscher_innen aus der Publikumsperspektive, „[…] daß es einen ‚typischen‘ Vertreter gibt, der in der Regel nicht sehr freundlich und anziehend charakterisiert wird […]“ (EA Studie Publikum 1971, 70). Gleichzeitig hätten die Befragten allerdings die Tendenz, die Vertreter, die sie persönlich kennen und bei denen sie gegebenenfalls auch einen Vertragsabschluss gemacht haben, von diesem typischen, negativ konnotierten Vertreterbild auszuschließen (EA Studie Publikum 1971, 71). Die Marktforscher_innen bekräftigten in dieser Studie deshalb die Ergebnisse der Außendienstmitarbeiter-Studie insofern, als dass sie die Persönlichkeit der Außendienstmitarbeiter als ausschlaggebend für den Vertragsabschluss einstuften (EA Studie Publikum 1971, 79). Beide Studien stellten damit die hohe Bedeutung der Außendienstmitarbeiter für den Vertriebserfolg heraus, die insbesondere im persönlichen Kontakt begründet lag.57 Wie den Mitarbeiter_innen in der forum dargelegt wurde, beschäftigte sich die Publikumsstudie auch mit dem Ist- und dem Soll-Image der Marke (EA HM-Forum 1972 (4),
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In den Studienunterlagen heißt es unter anderem zur Aufgabenstellung: „Die anfallenden Ergebnisse sollten Basisinformationen vermitteln, die einer noch zu entwickelnden Marketing- und Werbekonzeption für die Hamburg Mannheimer [sic!] dienen können“ (EA Studie Publikum 1971, 21; Hervorhebung im Original). Es wurden 210 Interviews mithilfe halbstandardisierter Fragebögen in der BRD geführt. Die Stichprobe wurde in drei Testgruppen aufgeteilt: Testgruppe A umfasste 60 Versicherte der HamburgMannheimer, Testgruppe B umfasste 60 Versicherte anderer Lebensversicherungen und Testgruppe C umfasste 90 Interessenten von Lebensversicherungen (EA Studie Publikum 1971, 25–26). 57 Die den Studienunterlagen beigelegten Anmerkungen zeigen einen durchaus kritischen Umgang mit den Studienergebnissen (EA Studie Publikum 1971). Neben der Hervorhebung nützlicher Studienergebnisse schreiben namentlich nicht Erwähnte in diesen Anmerkungen beispielsweise: „Die Altersstrukturierung der Testgruppen entspricht m.A. nicht unbedingt dem für das Versicherungsgeschäft relevanten Zielpublikum, da die jüngeren Jahrgänge übermäßig stark vertreten sind (vgl. Anhang 1 der Untersuchung)“ (EA Studie Publikum 1971, 16)oder auch: „M.A. enthält die Untersuchung zu viel Zitate und zu wenig Zahlenangaben“ (EA Studie Publikum 1971, 19). Es steht aufgrund der kritischen Haltung zu vermuten, dass die Anmerkungen von Mitarbeiter_innen der Hamburg-Mannheimer verfasst worden sind. Diese kritische Haltung wurde allerdings in der Mitarbeiterzeitschrift nicht mehr mit kommuniziert, was auf die werbende ‚Familienalbum‘-Kommunikation gegenüber den eigenen Kolleg_innen verweist.
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5). Sowohl die Hamburg-Mannheimer und die Wettbewerbsmarken als auch eine imaginative ‚Ideal-Versicherung‘ wurden im Hinblick auf die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen untersucht, um ihre ‚Image-Standorte‘ bestimmen zu können. Dafür wurden semantische Felder beschrieben, in denen die Marken verortet wurden. Diese Bedeutungsräume spiegeln eine stark heteronormative Ordnung wider. So wird die ‚Idealversicherung‘ im sogenannten ‚Raum für Freundschaft und Familie‘ mit den Begriffen der ‚Männlichkeit‘, ‚Intelligenz‘, ‚Social Desirability‘, ‚Vater‘ und ‚Persönlichkeit‘ konnotiert – im Gegensatz z.B. zum semantischen Feld für ‚Gemüt und Bequemlichkeit‘, das mit ‚Weiblichkeit‘, ‚Geborgenheit‘ und ‚Gemüt‘ beschrieben wird, und im Gegensatz zu den Assoziationen, die den untersuchten Versicherungsmarken im ‚elitären Raum‘ zugeordnet werden: ‚Kampf‘, ‚Reichtum‘, ‚Ordnung‘, ‚Lärm‘ und ‚Produzent‘. Die innerhalb der Studie besprochenen Bedeutungsräume markieren damit bestimmte Attribute als männlich oder weiblich, sodass die untersuchten Marken entlang von geschlechtsgebundenen Differenzen positioniert werden. Die beschriebenen Differenzen finden sich ganz ähnlich auch bei der von Sozialpsychologe Peter R. Hofstätter (1966, 258–64) untersuchten Charakterisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit wieder.58 Zu den eigenen Studienergebnissen bemerkt Hofstätter: Die Worte ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ sind Klischees, denen kaum sehr viel an sachlicher Richtigkeit zukommen dürfte. Man könnte sie daher als Wahngebilde bezeichnen. Der Umstand jedoch, daß sie kollektive Anerkennung finden, sichert ihnen einen recht unheimlichen Einfluß auf die Daseinsgestaltung. In ihnen liegen nun einmal die Wertmaßstäbe, an Hand derer wir Menschen beurteilen und die diese auch als soziale Wertungen […] in ihre Lebenserfahrung aufnehmen. Die Differenzierung beginnt hier schon am ersten Lebenstag mit einem blauen oder rosa Bändchen. Von da ab ‚gehört‘ es sich für eine Person männlichen Geschlechts, eine ‚Persönlichkeit‘ zu sein – das verlangen später auch die Stellenanzeigen in den Tageszeitungen –, ‚Intelligenz‘ und ein gewisses Maß von Aggressivität zu besitzen, ebenso wie weibliche Wesen als um so weiblicher gelten, je mehr sie an ‚Zärtlichkeit‘ und ‚Gemüt‘ zum Ausdruck bringen. (1966, 261–62)
Eben jene ‚Wahngebilde‘ fungieren durch die Publikumsstudie als Orientierung für die avisierte Markenpositionierung. Die in der forum kommunizierten Studienergebnisse geben damit auch einen Einblick in die geschlechtlich geprägten Strukturen, die die Werbetexte hervorbringen. Den Studienergebnissen zufolge hatten die drei großen Versicherungsunternehmen Allianz, Volksfürsorge und Hamburg-Mannheimer mit den aufgeführten Assoziationen
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Das Studiendesign wird auch explizit mit der Arbeit von Hofstätter, der Verfahren zur Untersuchung begrifflicher Konnotationen vorschlägt, in Verbindung gebracht (EA Studie Publikum 1971, 124, 136).
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alle ein ähnliches Image. Diese Wahrnehmung der Marken durch die Zielgruppen bedeutete den Werbeverantwortlichen eine nur geringe Differenzierungsfähigkeit der Hamburg-Mannheimer. Zudem deckte sich das Image der Hamburg-Mannheimer nicht mit dem Image der ‚Idealversicherung‘. Die mit der ‚Idealversicherung‘ konnotierten Bedeutungen spiegelten den Werbeverantwortlichen und Mitarbeiter_innen der HamburgMannheimer eine anthropomorph und männlich konnotierte Positionierung der Marke als erstrebenswert. Mit der Imagediskussion wird die Untersuchung von Markenbedeutungen (auch im Markenvergleich) in der Mitarbeiterzeitschrift als analytische Grundlage für die Werbestrategie dargestellt. Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Bedeutungsräume sucht die Frage nach dem Markenimage operationalisierbar zu machen: Das Signifikat der Marke im Fremdbild soll vergleichbar und steuerbar gemacht werden. Die neue Zielsetzung der Werbung wurde in der Mitarbeiterzeitschrift wie folgt kommuniziert:59 Kernpunkt der neuen Werbeplanung ist die genaue Festlegung des Vorstellungsbildes, daß die HM in der Öffentlichkeit erreichen will. Neben die bisher vorrangige absolute Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit, die das HM-Image ausstrahlen soll, müssen in Zukunft auch menschliche und sympathische Züge treten. Das Bild der anonymen Aktiengesellschaft muß abgebaut werden. Die HM soll als Partner verstanden werden. Es soll erreicht werden, daß bei der Bevölkerung die Bereitschaft entsteht, sich der HM und dem Außendienst-Mitarbeiter der HM bedenkenlos anzuvertrauen. (EA HM-Forum 1971 (56), 9)
Das verbale Markenkonzept (Markenidentität) wurde damit als Ausgangspunkt der Werbeplanung präsentiert. Auffällig sind die im Gegensatz zur vorangegangenen Werbekonzeption stärker kommunizierten Anthropomorphisierungsbestrebungen für die Marke. So soll die Hamburg-Mannheimer menschlich und sympathisch und als Partner, dem man sich anvertrauen kann, wahrgenommen werden. Die Werbekommunikation wurde in der forum nun als geeigneter Hebel vorgestellt, um die avisierte Position zu erreichen: Mit Hilfe unserer Werbung sind wir langfristig in der Lage, dieses für uns so vorteilhafte Feld anzusteuern und der HM ein heiteres, freundliches und zugleich unverwechselbares Profil zu geben […]. (EA HM-Forum 1972 (4), 5)
59
Dieser forum-Auszug liegt zeitlich vor der Präsentation der ‚Image-Standorte‘ in der Mitarbeiterzeitschrift, bezieht sich allerdings schon auf die Studien. Die Studienergebnisse haben der Werbeabteilung zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits vorgelegen. Die Studien wurden im März (Außendienstmitarbeiter) und im Oktober (Publikum) 1971 vorgelegt.
Markenstrategische Ausgangsüberlegungen zur Konzeption der Werbefigur Herr Kaiser
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Wiederum kommt hier die interne Werbung für Werbung zum Vorschein, die die Kommunikationsform als Mittel zur Zielerreichung präsentiert. Dabei wurde die Hoffnung (oder Erwartung) mitkommuniziert, dass eine formulierte Markenidentität über die Werbekommunikation als Realisationsebene (Esch, Langner und Rempel 2005, 108; Esch 2011, 61–63) auch zu einem gleichartigen mentalen Konzept in der Fremdwahrnehmung (Markenimage) führen würde. Die internen Darstellungen rund um die Werbe- und Markenstrategie weisen insgesamt auf ein detailliertes, theoretisches Werbewissen hin. Inwiefern dieses Wissen Ausdruck der tatsächlichen Handlungsmaxime oder lediglich Ausdruck einer fundierten Werbeargumentation nach innen ist, kann an dieser Stelle nicht ‚aufgedeckt‘ werden. Im Hinblick auf den Werbecharakter der internen Kommunikation scheint es jedoch angebracht, von einer ‚Familienalbum‘-Darstellung auszugehen: das heißt von einer stark idealisierten Darstellung einer mehr oder weniger so stattgefundenen werbestrategischen Vorgehensweise. So ist die Durchführung der Studien nur zu Scheinzwecken oder ein gänzliches Verwerfen der Studienergebnisse insbesondere vor einem ökonomischen Hintergrund unwahrscheinlich. Was aber nachgezeichnet werden kann, sind die nach innen kommunizierten, avisierten Werbeziele. Der internen Darstellung folgend, sollte mit der neu konzeptionierten Werbekommunikation nun also mehr als Öffentlichkeit für die Marke hergestellt werden. Das Markenimage sollte aktiv gesteuert werden. Auf Basis der bisherigen Betrachtungen kann der Versuch unternommen werden, das von den Werbeverantwortlichen (kommunizierte) angestrebte semiotische Dreieck der Marke Hamburg-Mannheimer als Grundlage der neuen Werbekonzeption 1972 zu rekonstruieren (Abb. 10).
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Abb. 10: Das semiotische Dreieck der Marke Hamburg-Mannheimer (eigene Darstellung)
Die Primärzeichen (Signifikanten) der Marke Hamburg-Mannheimer waren der Markenname Hamburg-Mannheimer und die blau-weiße Wort-Bildmarke als Logo. Die Bekanntmachung der Primärzeichen und die angestrebte Assoziation von Größe und Bedeutung wurden intern als Schwerpunkte der ersten größer angelegten Werbekampagne kommuniziert. Nun wurde in der internen Kommunikation eine differenziertere Markenidentität (Signifikat) formuliert, die neben Größe, Bedeutung, Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit auch die Wahrnehmung als menschlicher und sympathischer Partner umfassen sollte. Letzteres konnte mit den Schlagworten der ‚Persönlichkeit‘, ‚Vater‘, ‚Männlichkeit‘ und ‚Intelligenz‘ ausformuliert werden. Damit umfasste die Markenidentität sowohl funktionale (Sicherheit, Größe = Kapital) als auch nicht-funktionale Mehrwerte (Menschlichkeit, Männlichkeit, Sympathie). Über das Signifikat sollte in letzter Konsequenz das Markenprodukt (Referent), also die Versicherungsdienstleistung, vermittelt werden. Der vorliegende Abschnitt hat den internen Diskurs über die Marken- und Werbestrategie, die der Konzeption von Herrn Kaiser vorausging, nachgezeichnet. Die semiotische Betrachtung der Marke diente dabei als theoretische Hilfestellung zur Rekonstruktion und Untersuchung des Archivmaterials. Vor dem Hintergrund dieser strategischen Überlegungen soll im folgenden Abschnitt die Emergenz und Evolution der Werbefigur Herr Kaiser analysiert werden. Die entwickelte Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur dient dabei als analytischer Leitfaden.
Herr Kaiser als Befürworter und inhaltliches Ebenbild
4.2
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Herr Kaiser als Befürworter und inhaltliches Ebenbild
Die verschiedenen Typen der Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur sollen die Figur-Marke-Beziehung auf semiotischer Grundlage in eine Logik bringen. Werbefiguren werden innerhalb der Typologie je nach ihrer Bezugnahme zu einzelnen Zeichen-Bestandteilen der Marke eingeordnet. Das Ziel des auf diese Weise entwickelten analytischen Hilfsmittels ist (1) das Benennen und (2) das Beschreiben des Verhältnisses der Werbefigur zur Marke. Die Operationen von Werbefiguren sollen vor dem Hintergrund ihrer ökonomischen Zweckmäßigkeit vergleichbar eingeordnet und untersucht werden können. Durch die zeichentheoretische Grundlage soll zudem (3) ein Ansatzpunkt für weiterführende semiotische Text- und Diskursanalysen gegeben werden. Die Typologie beschreibt das Verhältnis der Werbefigur zur Marke auf Basis einer semiotischen Markenbetrachtung, wobei es drei Hauptbeziehungstypen gibt: (1) Die Werbefigur ist selbstständig und ihr Vorstellungsbild funktioniert auch ohne Marke (emanzipierter Star). (2) Die Werbefigur ist (in Teilen) kongruent mit den Primärzeichen der Marke und/oder dem Marken-Vorstellungsbild (Ebenbild). (3) Die Werbefigur ist Zeichenverwender und weist auf Bestandteile der Marken-Zeichentriade hin (Unterstützung). Der Typus des Ebenbildes kann noch unterteilt werden in das formale und das inhaltliche Ebenbild. Als formales Ebenbild verhält sich die Werbefigur kongruent zu Teilen des Primärzeichens der Marke (Markenname, Markenlogo) oder zum beworbenen Produkt. Als inhaltliches Ebenbild symbolisiert die Werbefigur das Signifikat der Marke bzw. Teile davon. Innerhalb des Haupttypus des Unterstützers kann noch einmal zwischen dem Befürworter und dem Begleiter unterschieden werden. Wo der Befürworter die Marke aktiv bewirbt, ‚schmückt‘ der Begleiter diese eher. Die Werbefigur Herr Kaiser stellt einen fruchtbaren Analysegegenstand dar, weil sie im Hinblick auf die Position zur Marke von Beginn an hybrid angelegt war: Zum einen stellt die Figur als Außendienstmitarbeiter qua Rolle einen Befürworter der Marke dar. Das heißt, dass die Figur als Zeichenverwender fungiert und durch Befürworten und Empfehlen auf Eigenschaften und Nutzen der Marke hinweist. Dabei wirbt sie insbesondere über ihren Typus, einen idealisierten Versicherungsvertreter, für die Marke. Zum anderen war Herr Kaiser in einer Werbelinie, die die Menschlichkeit des Unternehmens
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
herausstellen wollte, auch ein inhaltliches Ebenbild der Marke. Das heißt, dass die Figur sich als Sekundärzeichen auf das Signifikat der Marke (Markenidentität) bezieht und dieses durch Symbolisierung profiliert. Somit verweist die Figur nicht nur pragmatisch auf Markeneigenschaften, sondern personifiziert Teile des Signifikats. Im Folgenden soll in einem ersten Schritt die Emergenz der Figur im Jahr 1972 betrachtet werden. Davon ausgehend wird analysiert, wie Herr Kaiser die beschriebene hybride Position in der ersten Kaiser-Ära (1972-1990) einnahm. Die neue Werbekampagne von 1972, die sich intern an den kommunizierten strategischen Maßgaben messen lassen musste, fokussierte große Bildmotive, die das Menschliche und Individuelle betonen sollten (EA HM-Forum 1972 (4), 8). Kombiniert wurden diese mit prägnanten Überschriften (‚Schlagzeilen‘), die auf die Größe und die Stellung der Versicherung im Leben der Versicherten hinweisen sollten (EA HM-Forum 1972 (4), 8–9).60 Das Motiv mit der Schlagzeile ‚Man kennt uns‘ legte den Fokus auf einen fiktiven Außendienstmitarbeiter der Hamburg-Mannheimer (Abb. 11): den in dieser Anzeige noch namenlosen Herrn Kaiser.
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Die ‚Schlagzeilen‘ lauteten: ‚Man braucht uns‘, ‚Man lernt mit uns‘, ‚Man wählt uns‘ und ‚Man gewinnt mit uns‘, ‚Man zählt auf uns‘, ‚Man reist mit uns‘, ‚Man traut uns‘, ‚Man baut auf uns‘ (EA HM-Forum 1972 (4), 8).
Herr Kaiser als Befürworter und inhaltliches Ebenbild
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Abb. 11: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1972 (EA HM-Forum 1972 (4), 7; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
In der forum wurde 1972 kommentiert, dass die neue Werbekonzeption den Menschen in den Mittelpunkt rücke (EA HM-Forum 1972 (4), 7). Der bisherige Fokus auf die Größe und Qualität der Hamburg-Mannheimer sollte erweitert werden, denn, so wurde intern weiter ausgeführt: „Wird man nicht vielleicht den menschlichen Kontakt vermissen, wird man Angst vor der Anonymität der Masse bekommen?“ (EA HM-Forum 1972 (4), 7). An den Begriff der Masse, der hier als drohende Gefahr positioniert wird, lässt sich sowohl
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
aus einer soziologischen als auch aus einer marketingtheoretischen Perspektive anschließen. Wenn die Masse als „das Andere sozialer Ordnung“ sowie als „Phänomen sozialer Destrukturierung und Entdifferenzierung“ (Lüdemann 2014, 114) verstanden wird, so läuft diese (dem Marketing) einer Versicherungsmarke zuwider, die Sicherheit, Ordnung und Stabilität suggerieren möchte. Werden mit dem Begriff der Masse demnach gesellschaftliche Ordnungen und Strukturen infrage gestellt, so ist doch die Versicherung Ausdruck einer Gesellschaft, die Risiken ‚managt‘ und ‚mit Sicherheit lebt‘, wie es der Titel eines Aufsatzes von Peter Borscheid (2010) nahelegt. Nach ihm „[ist] [d]ie moderne Versicherung […] das Geschöpf einer rationalen Lebensordnung, die Natur und Kultur für kontrollierbar und existenzielle Risiken für kalkulierbar hält“ (Borscheid 2010, 190). Weiter müsste sich die mit einer Masse implizierte Quantität, die nach Susanne Lüdemann (2014, 105) im Massendiskurs des 19. Jahrhunderts als gar ‚erdrückende Quantität‘ charakterisiert wird, einem im Versicherungskontext als verunsichert begriffenen Individuum gegenüberstellen. Die in der Mitarbeiterzeitschrift aufgeworfene Frage nach der Angst vor der ‚anonymen Masse‘ kommuniziert daher vor allem eine (avisierte) Selbstreflexivität, denn: Eine so wahrgenommene Marke könnte das Selbstverständnis einer Versicherung kaum vermitteln. Aus einer marketingtheoretischen Perspektive lässt sich an den Begriff der Masse insofern anschließen, als dass er den Zweck einer Marke selbst unterwandert. Eine als undifferenziert und strukturlos charakterisierte Masse steht im Widerspruch zur Identifikations- und Differenzierungsfunktion einer Marke. Eine Marke soll über die Abgrenzung zu anderen Markenzeichen auf dem Markt und die klare Kommunikation dessen, wofür sie steht, für einen Wettbewerbsvorteil sorgen. Im Markenkontext „[scheint] [d]er Masse […] eine bedeutsame Bedeutungslosigkeit zuzukommen“ (Le Maitre 2016, 149).61 Ohne zugeschriebene Bedeutung ist eine Marke ein beliebiger Signifikant, der seine bedeutende Rolle in einer gleichartigen Produktwelt nur bedingt erfüllen kann. In der internen Darstellung der Hamburg-Mannheimer wird der anonymen Masse gewissermaßen die menschliche Nähe entgegengesetzt. Diese spiegelt das kompensatori-
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Francis Le Maitre (2016) bezieht sich in seinem Aufsatz Das Gespenst der Masse nicht auf den Markenkontext, sondern sucht das Phänomen der Masse im soziologischen Diskurs nachzuzeichnen.
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sche Motiv der Markenführung selbst wider. Zu einer Ausweitung und Ausdifferenzierung des Markierens kam es mit zunehmender Industrialisierung (Leitherer 1988, 86–88). Immer mehr Produkte wurden massenhaft – und nicht mehr handwerklich – hergestellt, was zu einem „[…] Nichtkennen der Marktpartner untereinander“ (Leitherer 1988, 86) führte. Marken sollten den verlorenen Kontakt zur Kund_in wiederherstellen und die Waren aus der Anonymität der gleichartigen Massenprodukte herausheben (Schütz 2002, 96). Über das Gegensatzpaar anonyme Masse und menschliche Nähe wird im Anschluss an diese Diskurse bei der Hamburg-Mannheimer eine Notwendigkeit für die Suggestion von Nähe, Individualität und persönlicher Beziehung impliziert – und mit der Figur Herr Kaiser wird in demselben Zuge die mediale Übersetzung dieser Suggestion präsentiert. Die Darstellung eines individuell wiedererkennbaren Außendienstmitarbeiters in der Werbung kann auch im Kontext der durchgeführten Studien betrachtet werden. Diese hatten sowohl aus der Perspektive der Außendienstmitarbeiter als auch aus der der Kund_innen die Wichtigkeit der einzelnen Vertreter für den Vertriebserfolg hervorgehoben. Insbesondere die Vertreter, mit denen die Kund_innen persönlich bekannt waren, würden positiver wahrgenommen werden als der Berufsstand an sich. Der nun in der Werbung präsentierte Außendienstmitarbeiter bot einen Ansatzpunkt für ein solches Bekanntwerden. Wenn auch nicht als Zentrum der Kampagne geplant, so stach die Figur in der Werbekampagne dadurch heraus, dass sie für die produzierten Werbespots einen Namen bekam: Herr Kaiser. Über den Namen der Figur kann die (angestrebte) Verzahnung zwischen Primär- und Sekundärzeichen beobachtet werden. Werbefiguren können als Teil des Signifikantenbündels einer Marke sowohl als Primär- und als Sekundärzeichen fungieren. Als Primärzeichen sind sie auf Ausdrucksebene (nahezu) gleich mit Markenlogo und/oder Markennamen. Als Sekundärzeichen sind Werbefiguren unterschiedlich zu Markenlogo und Markennamen, dienen aber ebenfalls dazu, die Marke zu markieren und damit zu differenzieren und zu identifizieren. Dafür muss die eingesetzte Werbefigur als Sekundärzeichen jedoch mit den Primärzeichen (Markenlogo, Markenname) assoziiert werden – anderenfalls kann sie in der Kommunikation nicht als Wiedererkennungsanker fungieren oder Bedeutungen transferieren. Der Name Herr Kaiser stellt nun eine enge Zeichenbeziehung zur Marke Hamburg-Mannheimer her.
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Der Außendienst der Hamburg-Mannheimer wurde zu dieser Zeit mit folgendem Leitspruch geschult: „Der Kunde ist König – Sie sind Kaiser“ (EA Jubiläumsbuch 1999, 90– 91). Eine Aussage, die nach eigenen Angaben die Verantwortung des Außendienstmitarbeiters für seine Kund_innen hervorheben sollte – sie kann aber ebenfalls als Ausdruck eines überlegenen Selbstverständnisses gelesen werden.62 In der Namensgebung zeigt sich damit bereits insofern eine nach innen angestrebte semantische Dichte, als dass der Name Herr Kaiser die Kristallisation des eigenen Selbstverständnisses in einem Signifikanten darstellt. Aber der Name der Werbefigur entfaltet nicht nur intern semantische Relevanz: Er fügt sich ganz generell in das Konnotationssystem, das der Markenname Hamburg-Mannheimer aufmacht. Mit Konnotationen wie traditionsreich, elitär, deutsch und männlich bedienen die Namen Hamburg-Mannheimer und Herr Kaiser denselben semantischen Code. Die Hamburg-Mannheimer könnte zudem in der Tradition deutscher Adelsgeschlechter gelesen werden (vgl. z.B. das Haus Sachsen-Coburg und Gotha). Als solches würde das Herrscherhaus Hamburg-Mannheimer mit Herrn Kaiser seinen Herrscher positionieren. Die Konnotation des Herrschens (und Beherrschens) schließt wiederum an das im Schulungsleitspruch implizierte überlegene Selbstverständnis an. Die Werbefigur Herr Kaiser ist zwar kein Primärzeichen, da sie keine Kongruenz zum Markennamen oder Markenlogo aufweist. Sie stellt als Sekundärzeichen allerdings eine enge Bindung zum primären Markenzeichen her. Das erste bereits angesprochene Anzeigenmotiv mit Herrn Kaiser zeigt die Figur draußen umgeben von einigen Passantinnen (Abb. 11). Die Anzeige ist in warmes, helles Licht getaucht, das Sonnenschein suggeriert und damit bereits in einem ersten Schritt eine freundliche und heitere Atmosphäre kreiert. Herr Kaiser lächelt in halbnaher Distanz in 62
Dieser Leitspruch wird im internen Rückblick nobilitiert: „Während sich die verantwortlichen Werbeexperten der Hamburg-Mannheimer Gedanken über Profilierungsmerkmale machten, wurde der Außendienst – rund 16.000 Personen – 1972 so geschult: ‚Der Kunde ist König – Sie sind Kaiser.‘ Ein Gedanke, der keineswegs Überheblichkeit ausdrückte, sondern vielmehr die Verantwortung hervorhob, die jeder Vermittler für seine Kunden trägt. Eine Aussage, die zugleich das Berufsbild des Hamburg-Mannheimer-Vermittlers veränderte: Nicht Verkäufer, sondern Berater waren gefragt, nicht Schwätzer, sondern kompetente Fachleute“ (EA Jubiläumsbuch 1999, 90–91). Es gibt allerdings auch andere Interpretationen dieses Leitspruchs. So schreibt der Spiegel 1996 in Bezug auf Herrn Kaiser über einen Herrn Kurt Meißner, der den Spruch in Schulungen bei der Hamburg-Mannheimer eingeführt haben soll: „Anfang der siebziger Jahre hat Meißner für die Hamburg-Mannheimer Versicherungsvertreter geschult - und dafür Herrn Kaiser benutzt. ‚Ich habe denen gesagt: ‚Okay, der Kunde ist König, aber ihr seid die Kaiser. Ihr habt die Macht, ihr wißt Bescheid, ihr manipuliert.‘‘ Unglaublich gut sei seine Methode damals angekommen, besonders die Rollenspiele mit Herrn Kaiser und Frau König. So fühlte er sich fast geschmeichelt, als seine Auftraggeber 1972 die Schulungsfigur zur Werbefigur beförderten“ (Anonymus 1996).
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die Kamera und wird durch die Weichzeichnung seiner Umgebung in den Fokus gerückt. Auch die beiden am deutlichsten zu erkennenden Passantinnen rücken die Figur in den Fokus, indem ihr Blick auf Herrn Kaiser gerichtet ist. Er dagegen schenkt den Frauen keine Aufmerksamkeit, sondern schaut in die Kamera. Bereits die Blickkonstellation deutet die Exponiertheit der männlichen Figur an. Statt einer kommunikativen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Blickkonstellation (Herr Kaiser blickt die Frauen ebenfalls an oder die Frauen einander), erfolgt eine implizite Machtdemonstration: Herr Kaiser muss gar nicht aktiv werden und seinerseits Aufmerksamkeit schenken, um selbst welche zu erhalten. Dabei fungieren die Frauen als rhetorisches Mittel, sozusagen als weibliches Argument, für die Vorzüge der Figur (und damit der Hamburg-Mannheimer). So wird der Blick der Frauen von einem Lächeln begleitet, wobei die Köpfe zur Seite oder leicht nach unten geneigt sind. Im Duktus sanftmütiger und gefälliger Frauen himmeln die Passantinnen die männliche Figur geradezu an und kommunizieren über das Machtgefüge hinaus auch eine gewisse Sympathie und Beliebtheit von Herrn Kaiser. Überdies sind die beiden Frauen in der Anzeige weichgezeichnet: Zu den Gesten der Unterordnung (Kopfhaltung, Blickrichtung) kommt damit über Bildeffekte noch eine technische Festigung der ‚weichen‘ weiblichen Position hinzu. Die Weichzeichnung kann nicht nur als mediale Inszenierung von ‚sanfter‘ Weiblichkeit gelesen werden, die weiblichen Subjekte können sich über die dargestellten Körper auch nur schwerlich konstituieren, da diesen Kontur fehlt. Diese Kontur bleibt Herrn Kaiser vorbehalten, der sich damit als erkennbares Subjekt von den Frauen abhebt. Die durch den Blick der Frauen potenziell ausgehende Gefahr, im Sinne einer Objektivierung, wird damit sogleich gebannt. Es wird deutlich, wie in der Anzeige Männlichkeit relational zu Weiblichkeit in Szene gesetzt und interpretiert wird. Dazu bemerkt Schmidt pointiert für die Werbung im Generellen: Ein thematischer Zusammenhang, auf den sich die Werbung in besonderer Weise bezieht, ist der Bereich der Bedeutung soziokultureller Geschlechtsunterschiede. […] Werbliche Darstellungen von Männern und Frauen setzen das intersubjektiv geteilte Wissen voraus, was als männlich und was als weiblich gilt. Mit diesem Bezug auf etwas, dessen wir uns vorgeblich wirklich gewiss sein können (Redundanz), sichert sich Werbung a priori gegen Wahrnehmungsstörungen ab. […] Sie begründet mit jeder Darstellung eines Mannes oder einer Frau von neuem den Geschlechterdualismus und fügt dabei der allgemeinen Geschlechtsdifferenzierung immer wieder neue Unterscheidungen hinzu (Varietät). Denn vor allem Neues kann die Aufmerksamkeit des Rezipienten wecken. Der neue Mann, die neue Frau der Werbung, sie sind dabei vor allem dies: besser als ihre Vorgänger. (Schmidt 2002, 106; Hervorhebung im Original)
Dieses Verfahren der Bedeutungsproduktion in der Hamburg-Mannheimer Anzeige kann auch im Kontext der im vorigen Abschnitt betrachteten Diskussion von Ist- und Soll-
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Image betrachtet werden: Darin wurde die Idealversicherung zwar männlich konnotiert, allerdings sollte sie sich auch von den (potenziell ebenfalls männlich konnotierten) Begriffen wie ‚Lärm‘ und ‚Kampf‘ distanzieren. Dieser versuchte Spagat kann in der Inszenierung eines ver-herr-lichten Herrn Kaiser, der doch sanfte Zustimmung genießt, gelesen werden. Die ausgestellte ‚weiche Weiblichkeit‘ dient dazu, die dominante ‚starke Männlichkeit‘ zu stabilisieren und ihr gleichzeitig Freundlichkeit und Heiterkeit zuzusprechen. Ein medialer Baustein zum Aufbau des Markensignifikats der Hamburg-Mannheimer über Herrn Kaiser als inhaltlichem Ebenbild stellt damit die Darstellung hegemonialer Männlichkeit dar. Die Anzeige führt vor, wie Werbung soziale Wertmuster aufnimmt und reproduziert und gleichzeitig ihren Spielraum in der ‚kulturell innovativen‘ Bedeutungsvermittlung auslotet. Am 05. September 1972 wurde der erste Kaiser-Werbespot im WDR ausgestrahlt (EA forum 2002 (Okt), 26). Hier erläuterte Herr Kaiser erstmals als Unternehmensvertreter, warum man die Hamburg-Mannheimer als Versicherung wählen sollte (‚Man wählt uns‘) (EA Werbespot 1972b). In diesem Werbespot ist Herr Kaiser noch ein namenloser Vertreter, der sich nur durch einen größeren Redeanteil von den übrigen Statist_innen unterscheidet. In dem einige Monate später geschalteten zweiten Werbespot ist die Figur dagegen der Hauptprotagonist mit dem Namen Herr Kaiser. Mit der Hauptaussage des Werbespots ‚Man kennt uns‘, die noch bis 1978 Bestand haben sollte, sollte sowohl die Größe und damit die Qualität als auch die Menschlichkeit des Unternehmens hervorgehoben werden (EA HM-Forum 1974 (2), 32). Herr Kaiser wird in diesem Werbespot auf der Straße von mehreren Menschen erkannt und angesprochen. Eingangs bemerkt er in die Kamera: „Wir von der Hamburg-Mannheimer sind bei über 5 Millionen Versicherten zu Hause“ (EA Werbespot 1972a, 00:00:04-00:00:09). Heute sei er schon auf dem Weg zu seinem zwölften Kunden in ein und demselben Häuserblock. Die Szene zeigt die Figur auf eben jenen Häuserblock zugehen. Damit wird auch bildlich das Eindringen in das Heim und somit in die Privatsphäre demonstriert: Herr Kaiser ist hier ‚zu Hause‘ und damit bekannt und vertraut. Gleichzeitig bezeugen die vorbeigehenden Personen durch ihre freundliche Ansprache, dass sie ‚mit dem Mann von der Hamburg-Mannheimer‘ zufrieden sind und ihm vertrauen. Indem Herr Kaiser von einem ‚Wir‘ spricht, impliziert er außerdem, dass die Hamburg-Mannheimer aus Menschen wie ihm besteht. Sowohl die Kommunikation als auch die Vorsorge geschieht von Mensch zu Mensch. Gleichzeitig
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weist er mit der Anzahl der Versicherten pragmatisch auf die Größe des Unternehmens und auf das Vertrauen, das diesem entgegengebracht wird, hin und fungiert damit als Befürworter. Als ihn die dritte Kundin auf seinem Weg erkennt, bemerkt Herr Kaiser: „Sehen Sie, man kennt uns …“ (EA Werbespot 1972a, 00:00:16-00:00:17). Das Erkennen und Begrüßen durch die Kund_innen dient als Scheinevidenz für die vorherigen implizit und explizit gemachten Aussagen in Bezug auf Größe, Partnerschaftlichkeit sowie Zufriedenheit und Vertrautheit. Die Mechanik des Wiedererkennens („Mutti, guck’ mal, der Mann von der Hamburg-Mannheimer“, „Die Hamburg-Mannheimer kennt aber auch jeder“ (EA Werbespot 1974)) zieht sich als Zeichen der guten Kundenbeziehung und der Umtriebigkeit der Hamburg-Mannheimer durch die gesamte Werbekommunikation mit Herrn Kaiser. In Bezug auf die primären Markenzeichen (Markenname, Markenlogo) wurde die Werbefigur Herr Kaiser bereits als Sekundärzeichen eingeordnet. Vor dem Hintergrund der betrachteten Kommunikate soll diese Einordnung nun anhand der erarbeiteten Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur präzisiert werden. In dieser Typologie wird davon ausgegangen, dass Werbefiguren zwar stets Signifikanten der beworbenen Marke darstellen (im Falle von Herrn Kaiser ein Sekundärzeichen), sie sich aber auf unterschiedliche Bestandteile des Zeichens ‚Marke‘ beziehen und damit auch unterschiedlich für die Marke werben können. Die Werbefigur Herr Kaiser bezieht sich als Sekundärzeichen auf das Signifikat der Marke Hamburg-Mannheimer und kann damit als inhaltliches Ebenbild der Marke eingeordnet werden. Dabei lassen sich insbesondere angestrebte Bedeutungen wie Menschlichkeit, Sympathie, Nahbarkeit (menschliche Figur, Inszenierung des Umgangs mit anderen Menschen) sowie Männlichkeit (männliche Figur, Inszenierung männlich konnotierter Überlegenheit) ausmachen. Herr Kaiser erfüllt als inhaltliches Ebenbild seine Werbefunktion also durch das Symbolisieren von Markeneigenschaften und -bedeutungen. Durch das Symbolisieren und den Transfer solch abstrakter Bedeutungen, die nur schwerlich verbalisiert werden können, soll das Signifikat der Marke Hamburg-Mannheimer profiliert werden. Neben dem grundsätzlichen Markenverhältnis (inhaltliches Ebenbild) und der damit verbundenen Werbefunktion der Werbefigur (Symbol) kann die Frage nach der Art der Anthropomorphisierung gestellt werden. Diese wurde in der Typologie in die direkte und
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
die indirekte Anthropomorphisierung unterschieden. In ersterem Fall erfolgt die Vermenschlichung ‚direkt‘ auf der Zeichenebene der Marke, das heißt in Bezug auf die Primärzeichen der Marke, das Markenprodukt (Referenzobjekt) oder auf die Markenidentität (Signifikat). In zweiterem Fall erfolgt die Anthropomorphisierung ‚indirekt‘ durch eine pragmatische Beziehung zur Marke. Bei Herrn Kaiser als inhaltlichem Ebenbild erfolgt die Anthropomorphisierung direkt auf der Zeichenebene, nämlich im Hinblick auf das Signifikat: Das heißt, dass Teile der Markenidentität (Menschlichkeit, Männlichkeit, Sympathie, Nahbarkeit) direkt vermenschlicht werden. Dabei besitzt die Marke verkörpert durch Herrn Kaiser Handlungsfähigkeit. Die Figur kann die Eigenschaften der Marke zeigen und nicht nur darüber sprechen. So hebt er in den Werbespots der 1970er Jahre einen kleinen Jungen vom Spielgerüst, ‚wuschelt‘ einem anderen durch das Haar und ist stets im persönlichen Kontakt mit seinen Kund_innen (EA Werbespot 1974; EA Werbespot 1976; EA Werbespot 1972a). Die Figur wird als sympathischer Kümmerer, der seinen Kund_innen nah ist, inszeniert. Das anthropomorphe Wesen Herr Kaiser vermag dabei Freundlichkeit z.B. mit einem Lächeln zwischenmenschlich und mimisch zu bedeuten. Die Handlungen und Persönlichkeitseigenschaften der Figur sind dabei unmittelbar mit der inhaltlichen Markenpositionierung verbunden. Herr Kaiser ist ein Mensch und agiert menschlich und sympathisch. Die Figur konkretisiert das Abstrakte, indem es die Markenidentität ‚ausführt‘. Die Marke wird so in gewisser Weise selbst zum Akteur in den Werbekommunikaten. Während also die Markenpositionierung der Menschlichkeit, Männlichkeit, Nahbarkeit und Sympathie vor allem über die Figur als inhaltlichem Ebenbild vermittelt wird, wird die der Größe und Bedeutung über die Figur als Befürworter der Marke kommuniziert. Der Befürworter Herr Kaiser bewirbt die Marke Hamburg-Mannheimer aktiv und steht damit in einem pragmatischen Zeichenverhältnis. Herr Kaiser profiliert die Marke Hamburg-Mannheimer in dieser Rolle nicht mehr durch das Symbolisieren bestimmter Markenbedeutungen, sondern durch das Agieren mit dem Markenprodukt und dem Verweis auf Markeneigenschaften. Herr Kaiser ist als Versicherungsexperte ein eben solcher Zeichenverwender, der die Vorzüge der Marke präsentieren kann. Dem grundlegenden Markenverhältnis des Befürworters folgend kann auch die korrespondierende Werbefunktion bestimmt werden: Herr Kaiser stellt den Typus eines idealisierten Vertreters (‚starker Mann‘) dar, der die Marke über die eigene Rolle als Fachmann in Szene setzt.
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Herr Kaiser wird dieser Typus allerdings lediglich zugeschrieben. Er beweist seine Expertise nicht, diese wird durch die zufriedenen Kund_innen auf ihn projiziert. Durch die Darstellung als Mitarbeiter wird zusätzlich eine solche Nähe zum Unternehmen impliziert, dass die Figur Herr Kaiser sich scheinbar authentisch darauf beziehen kann. Dabei wird die Marke indirekt anthropomorphisiert, indem sie über die Figur in ein menschliches Beziehungsverhältnis integriert wird. In diesem Zusammenhang ist die Marke das Objekt, mit dem Herr Kaiser agiert. Als Befürworter profiliert Herr Kaiser die Hamburg-Mannheimer durch das, was er über die Marke sagt („Sehen Sie, man kennt uns …“ (EA Werbespot 1972a, 00:00:1600:00:17), „Na kein Wunder, bei 6 Millionen Versicherten“ (EA Werbespot 1974, 00:00:15-00:00:18)) und wie er in seiner Rolle als Außendienst wahrgenommen wird: Er wird erkannt. Somit weist Herr Kaiser als Befürworter vor allem auf die verbalisierbaren Eigenschaften der Marke hin und symbolisiert als inhaltliches Ebenbild der Marke das ‚Unaussprechliche‘. Die Figur ist damit sowohl Botschafter (Befürworter) als auch Botschaft (inhaltliches Ebenbild) für die Hamburg-Mannheimer. Nach der initialen typologischen Einordnung der Werbefigur Herr Kaiser sollen nachfolgend noch Anpassungen an der Figur und ihrer Werbefunktion im Rahmen neuer Werbelinien betrachtet werden. Daran anschließend wird in diesem Abschnitt noch das Marktfeedback zur wahrgenommenen Verbundenheit von Figur und Marke in den Blick genommen, bevor die Entwicklung von Herrn Kaiser zum emanzipierten Star analysiert wird (Abschnitt 4.3). Zwischen 1979-1981 trat Herr Kaiser in den Hintergrund der Werbeaktivitäten der Hamburg-Mannheimer. In diesen drei Jahren des Kampagnenwechsels war die Figur hauptsächlich in Anzeigen präsent.63 Für diese ‚redaktionellen Anzeigen‘ erhielt die Figur sieben Jahre nach ihrer Einführung den Vornamen Günter (EA forum 1992 (4), 11). Die Ergänzung um den Vornamen kann im Kontext der textlastigen Anzeigen mit Porträtfoto als Versuch interpretiert werden, die Ästhetik redaktioneller Ratgeberartikel nachzuempfinden und Herrn Kaiser als Experten zu inszenieren. Die Ursprünge der Namenswahl wurden im internen Rückblick zum einen bei Kaiser-Darsteller Günter Geiermann und
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In den beiden Werbespots von 1979 spricht Herr Kaiser lediglich den Abbinder.
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zum anderen beim damaligen Vorstandsvorsitzenden Günter Kalbaum vermutet (EA forum 1992 (4), 11); (EA forum 1997 (Mär), 8). Die Anlehnung an diese Personen birgt das Potenzial, die Figur für interne Bezugsgruppen noch stärker im Zeichengeflecht aus Marke, Werbefigur und Unternehmensakteuren zu verankern. Nach außen spannt der Name der Figur nun einen Bedeutungsraum zwischen Alltäglichkeit und Nahbarkeit (Günter) und Überlegenheit (Kaiser) auf. Neben der stärkeren Individualisierung erhält die Figur mit dem Vornamen eine private Dimension – potenziell kann Herr Kaiser nun auch einfach Günter sein. Im Rahmen einer neuen Werbelinie sollte die Werbefigur Günter Kaiser, so lautete die Aufgabenstellung von 1981,64 aus drei Gründen wieder prominenter eingesetzt werden: Die Figur des Herrn Kaiser soll – sowohl vom Namen als auch von der Person her – aus drei Gründen wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden: Der Bekanntheitsgrad ist außerordentlich hoch. Die mit dieser Person verbundenen Assoziationen sind überwiegend positiv. Die Außendienstmitarbeiter der HM, die nach dem Motto ‚Der Kunde ist König, aber der Außendienstmitarbeiter ist Kaiser‘ ausgebildet werden, können sich mit ihm identifizieren. (EA Briefing 1985, o. S.)
Der Ausschnitt aus dem Briefing weist auf einen angenommenen Beitrag der Werbefigur zum Markenaufbau auf unterschiedlichen Ebenen hin: Herr Kaiser könne demnach zur Markenbekanntheit beitragen – vorausgesetzt das Sekundärzeichen (Werbefigur) wird mit dem Primärzeichen (Markenname, Markenlogo) in Verbindung gebracht. Zweitens könne die Figur durch positive Assoziationen das Signifikat der Marke positiv profilieren. Drittens wird eine interne Identifikation (und ggf. Vorbildfunktion) angenommen. Strategischer Ausgangspunkt der neuen Werbelinie war eine angepasste Unternehmensphilosophie (Markenidentität). Das Briefing der Hamburg-Mannheimer lautete weiter: Das Image der HM, das bisher auf absolute Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit abgestellt war und das darüber hinaus die HM als kundenorientierte, sympathische Gesellschaft darstellen sollte, wird im Sinne der Unternehmensphilosophie lebensbejahend (nicht mit erhobenem Zeigefinger!) erweitert. (EA Briefing 1985, o. S.)
Die Werbeaktivitäten sollten ein Baustein dafür sein, (potenziellen) Kund_innen zu „[…] helfen, mit Spaß gesund zu bleiben, damit sie mehr vom Leben und mehr von ihrer Lebensversicherung haben“ (EA forum 1982 (3), 8). Die Hamburg-Mannheimer wollte, dass neben die rein ‚materielle Vorsorge‘ auch ‚ideelle Maßnahmen‘ treten, damit „HM 64
Diese Rückschau auf die ‚Aufgabenstellung‘ von 1981 liegt der Untersuchung der Werbekampagne 1984 bei.
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Versicherte […] vom Abschluß bis weit nach der Auszahlung Freude an ihrer Versicherung [haben]“ (EA Briefing 1985, o. S.). Der Ausschnitt aus dem Agenturbriefing beschreibt die angepasste Markenpositionierung: Das Signifikat der Marke HamburgMannheimer sollte um die Themen Gesundheit und Lebensfreude ergänzt werden. Die Werbestrategie kondensierte sich im Slogan ‚Damit Sie mehr vom Leben haben‘, der im Laufe des Jahres 1984 zu ‚Mehr vom Leben‘ werden sollte (EA forum 1982 (3), o. S.; EA Werbeanzeigen 1972-1996). Im Rahmen dieser neuen strategischen Ausrichtung lässt sich auch ein angepasstes Verhältnis der Werbefigur Herr Kaiser zur Marke Hamburg-Mannheimer beobachten. Die Figur wird nun stärker als Befürworter der Marke eingesetzt, da sie vor allem auf die angestrebten Markenbedeutungen (Gesundheit, Fitness, Lebensfreude) hinweist und diese nicht selbst verkörpert. Die Werbemotive der Anzeigen zeigen Versicherte, die sich sportlich betätigen, die Fitness-Tipps der Hamburg-Mannheimer loben und somit als gutes Beispiel für die Rezipient_innen vorangehen. Bis auf wenige Ausnahmen („Hallo Herr Kaiser toll Ihre Fitness-Tips! Genauso wie Ihre Versicherungs-Tips“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; Hervorhebung im Original)) wird Herr Kaiser dabei nicht ins Hauptmotiv integriert. Er bleibt als Versicherungsexperte und ‚Tipp-Geber‘ außen vor. So ist er kein direktes Vorbild, sondern verweist mit seiner beruflichen Expertise auf ein nachahmenswertes Verhalten. Mit der neuen Positionierung tritt Herr Kaiser also insbesondere als Ratgeber und Befürworter auf. Er anthropomorphisiert die Marke verstärkt indirekt, indem er sie in ein menschliches Beziehungsverhältnis zu seinen Kund_innen setzt. Die von der Hamburg-Mannheimer in Auftrag gegebenen Marktstudien versicherten den Werbeverantwortlichen, dass in dieser ersten Kaiser-Ära eine starke Verbindung zwischen der Marke Hamburg-Mannheimer und der Figur Günter Kaiser bestand. So ergaben nach eigenen Angaben mit identischen Fragen aufgebaute und repräsentative Befragungen zum Image der Hamburg-Mannheimer aus dem Jahr 1977 und 1984,65 dass sich die
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In der Studie von 1977 wurden nach Angaben der Marktforscher_innen 1204 Personen befragt (EA Imagestudie 1977). In der Studie von 1984 wurden 2000 Personen ab 14 Jahren befragt, wobei zusätzlich 200 Hamburg-Mannheimer Kund_innen in die Studie integriert wurden (EA Imagestudie 1984). Die Ausgangsfrage lautete, ob in der Versicherungswerbung ein bestimmter Vertreter aufgefallen sei (spontan) bzw. ob ein Versicherungsvertreter mit Namen Herr Kaiser aus der Werbung bekannt sei (gestützt). Darauf aufbauend wurden die Personen, denen ein Versicherungsvertreter / Herr Kaiser aus der Werbung bekannt war,
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spontane und gestützte Bekanntheit von Herrn Kaiser von 36 % (1977) auf 46 % (1984) steigerte (EA Imagestudie 1994). Die hohe Bekanntheit der Figur zeigte sich auch in diesem Studienteilergebnis von 1977: Der von der Allianz zu dieser Zeit genutzte Slogan ‚Der Mann von nebenan‘ wurde von den Befragten zu 52 % der Allianz zugeordnet und zu 30 % der Hamburg-Mannheimer (EA Imagestudie 1977). Die Hamburg-Mannheimer griff also mit ihrer Figur, die den Befragten offensichtlich ‚wie der Mann von nebenan‘ erschien, die Werbebotschaft eines Wettbewerbers ab. Von den Befragten, die Herrn Kaiser kannten, wussten zudem laut Studienergebnissen 71 % (1977) bzw. 64 % (1984), dass die Figur für die Hamburg-Mannheimer warb (EA Imagestudie 1994). Das Sekundärzeichen Herr Kaiser wird demnach weitgehend mit dem Primärzeichen in Verbindung gebracht, was eine Voraussetzung dafür ist, dass die mit und durch Herrn Kaiser kommunizierten Inhalte potenziell auf die Marke transferiert wurden. Herr Kaiser wurde in den ersten Anzeigenserien der neuen Werbelinie noch mit einem kleinen Porträt als ‚Versicherungsexperte der Hamburg-Mannheimer‘ integriert (EA forum 1982 (3), o. S.; EA forum 1983 (4), 17). 1984 begründeten die Werbeverantwortlichen in der Mitarbeiterzeitschrift die prominentere Platzierung der Figur mit deren wahrgenommener Verschmelzung mit der Marke Hamburg-Mannheimer, die Anzeigentests verdeutlicht hätten: Vor allem der Versicherungsexperte Günter Kaiser rückt noch stärker in den Vordergrund. Der Test mit verschiedenen Anzeigenserien […] hat deutlich gemacht, daß die HM und Herr Kaiser sehr stark miteinander verschmolzen sind. Rund achtzig Prozent der Befragten wissen über Herrn Kaiser zu sagen, daß es sich um einen netten und freundlichen Versicherungsvertreter beziehungsweise Berater der Hamburg-Mannheimer handelt, der vielen durch Fernsehwerbung schon lange bekannt ist. (EA forum 1984 (4), 6)66
Herr Kaiser rückte vor diesem Hintergrund ab 1984 insofern stärker in den Vordergrund, als dass er in Körpergröße auf den Anzeigen abgebildet wurde (Abb. 12). Diese zeigten weiterhin Motive von Versicherten, die ‚mit Spaß aktiv waren‘. Das Bild sollte typisch befragt, wie der Versicherungsvertreter heißt (bei spontanem Kennen eines Versicherungsvertreters) und für welches Versicherungsunternehmen der Versicherungsvertreter wirbt (EA Imagestudie 1994). 66 An diesen Angaben wird auch die Unterschiedlichkeit der Signale deutlich, die die Werbeverantwortlichen in den Studien vom Markt gespiegelt bekam. Wo in der vorab beschriebenen Imagestudie 64 % der Befragten Herrn Kaiser zur Hamburg-Mannheimer zuordneten, waren es – zumindest der internen Berichterstattung zufolge – bei den Anzeigentests ‚rund 80 %‘ der Befragten. In dieser Arbeit ist es nicht die Zielsetzung, die Güte der jeweiligen Studien zu ergründen. Stattdessen werden die beschriebenen und vorliegenden Studienergebnisse als Informationsgrundlage der Hamburg-Mannheimer Werbeverantwortlichen verstanden, auf der diese die Werbestrategie gestaltet und angepasst haben. Die Unterschiedlichkeit der Studienergebnisse deutet dabei auf die (potenzielle) Herausforderung in der Interpretation und der Ableitung von Maßnahmen hin.
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für Herrn Kaiser werden und bis Mitte der 1990er Jahre Bestand haben: Herr Kaiser war lächelnd und mit beschwingtem Schritt, ausgestattet mit Anzug, Schlips, Brille und Aktentasche auf dem Weg zu seinen Kund_innen. Die Figur überlagert in einigen Anzeigenvarianten den Rand des Logos, womit die Zusammengehörigkeit von Figur und Marke auch im Kommunikat verstärkt demonstriert wird, da das ‚Verschmelzen‘ auch bildlich suggeriert wird.
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Abb. 12: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1985 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Betrachtung dieser ersten Kaiser-Ära hat aufgezeigt, dass die Emergenz der Werbefigur vor dem Hintergrund markenstrategischer Überlegungen geschah, in die sich unterschiedliche Diskurse und bestimmte Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung
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eingeschrieben haben. Dies kann von der Analyse über die Konzeption bis hin zur Umsetzung über alle Stufen der Hamburg-Mannheimer Werbeproduktion nachvollzogen werden. So hat der Blick in den internen Marketingdiskurs dafür sensibilisiert, dass bereits die Marktforschung Vorstellungen essenzialistischer Zweigeschlechtlichkeit zum Ausdruck brachte, in der Frauen mit ‚Gemüt‘ und Männer mit ‚Intelligenz‘ konnotiert wurden. In der Werbekonzeption wurde zudem die befürchtete Wahrnehmung der Marke als undifferenzierte Masse, was an sich bereits als Oxymoron verstanden werden muss, einer positiv gedeuteten menschlichen Nähe gegenübergestellt. Die Emergenz einer individuellen, wiedererkennbaren und menschlichen Werbefigur bei der Hamburg-Mannheimer kann damit zum einen mit einem markenstrategischen Anthropomorphisierungs-, Identifikations- und Differenzierungsbestreben kontextualisiert werden. Zum anderen kann die Figur aber auch im Hinblick auf ein ordnendes Potenzial im Versicherungskontext betrachtet werden. In der Umsetzung der Werbekampagne kann schließlich nachvollzogen werden, wie die bereits in der Marktforschung angenommenen geschlechterspezifischen Differenzen reproduziert und instrumentalisiert wurden, um die angestrebte (männlich konnotierte) Markenpositionierung zu kommunizieren. Dieser Überblick zeigt, dass die angestrebte Bedeutungsproduktion im Hinblick auf die zu erfüllende Werbefunktion durch und über die Werbefigur mit soziokulturell vorherrschenden Wertmustern verschränkt ist und verweist damit auf die gesellschaftliche Schnittstelle von Werbung. Sowohl der interne Marketingdiskurs als auch die Werbekommunikate konnten im Hinblick auf das Verhältnis von Marke und Werbefigur über die analytische Hilfestellung der erarbeiteten Typologie untersucht werden. Diese hat vor allem dabei unterstützt, den potenziellen Beitrag der Werbefigur Herr Kaiser zum Markenaufbau auf semiotischer Grundlage zu analysieren. Herr Kaiser fungierte in dieser ersten Kaiser-Ära (1972-1990) als inhaltliches Ebenbild und Befürworter der Marke mit einer starken semantischen Verzahnung zu den primären Markenzeichen. Im folgenden Abschnitt soll nun mithilfe des entwickelten Analysewerkzeugs die Entwicklung der Werbefigur zum emanzipierten Star nachgezeichnet werden.
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Herr Kaiser als emanzipierter Star
Im Jahr 1990 erfolgte eine Neubesetzung der Figur Günter Kaiser mit einem jüngeren Darsteller – Günter Geiermann spielte die Figur zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre lang. Der neue Schauspieler sollte allerdings Ähnlichkeit zum bisherigen Kaiser-Darsteller aufweisen.67 Bereits 1988 startete die Hamburg-Mannheimer deshalb den Versuch, einen möglichst ähnlichen Herrn Kaiser zu finden: In der Zeitschrift Glücksrevue wurde ein Kaiser-Doppelgänger gesucht (EA forum 1992 (4), 12) – allerdings erfolglos. Schließlich wurde 1990 der Schauspieler Franz Michael Schwarzmann für die Rolle eingestellt. Die angestrebte Ähnlichkeit zwischen den Darstellern deutet darauf hin, dass die Wiedererkennbarkeit des Signifikanten sichergestellt werden sollte – auch um das mit der Figur assoziierte Signifikat nicht mit neu wahrgenommenen Zeichen verknüpfen zu müssen.
Abb. 13: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1991 (EA forum 1991 (1), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
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Der angestrebte unauffällige Wechsel zu Darsteller Franz Michael Schwarzmann wurde in einer Marktforschung untersucht (EA Studie Darstellerwechsel 1990). Ein Anzeigenmotiv sollte, einmal besetzt mit Schwarzmann und einmal mit Geiermann, von den 64 Studienteilnehmer_innen beurteilt werden. Dabei ging es um das Wiedererkennen und den Eindruck der jeweiligen Kaiser-Darsteller.
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In dieser zweiten Kaiser-Ära erfolgte eine Fortführung der ‚Mehr vom Leben‘-Anzeigenserie. Im Gegensatz zum Anzeigenaufbau mit Günter Geiermann wird die Werbefigur Herr Kaiser jetzt zusätzlich in das Hauptmotiv integriert und interagiert dort mit Kund_innen (Abb. 13). In dieser Anzeigenüberarbeitung wurde auch der berühmt gewordene Ausspruch „Hallo, Herr Kaiser, gut, daß ich Sie treffe!“ geprägt. Dieser Ausspruch sollte, so wurde intern kommuniziert, den Vertreter kompetent erscheinen lassen (EA forum 1990 (5), 6). Die Zuschreibung von Kompetenz würde aus Markenperspektive sowohl die Marke mit diesem Attribut verbinden (durch die Figur als inhaltlichem Ebenbild) als auch die Berechtigung der Figur zum Verweis auf Markeneigenschaften stärken (die Figur als Befürworter). Im Folgenden werden zwei Anzeigenvarianten vor dem Hintergrund dieser angestrebten Bedeutungsgenerierung analysiert.
Abb. 14: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1991-1992 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
In Abb. 14 wird im Gegensatz zur ersten Anzeige mit Herrn Kaiser die Frau als Kundin und nicht mehr nur als Bezugsgröße dargestellt. Doch auch in den beiden beispielhaften Anzeigenmotiven (Abb. 13 und 14) wird deutlich, dass Bedeutung (u.a. Kompetenz) im Geschlechtervergleich unterschiedlich generiert wird und Herr Kaiser nach wie vor stark über seine dominante Männlichkeit definiert wird. Wo Herr Kaiser mit seinem männlichen Kunden angeregt diskutiert, wird er von seiner weiblichen Kundin lediglich
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
strahlend angelächelt. Wo sich der männliche Kunde als ‚Selbstständiger‘ präsentiert, wird die weibliche Kundin als ‚junge Wilde‘ charakterisiert. Und der augenscheinlichste Unterschied: Wo der männliche Kunde eine Porzellan-Figur in der Hand hält, wird der Körper der weiblichen Kundin durch ein abstraktes Aktbild verdeckt. Ganz im Sinne Laura Mulveys (2016) wird die Frau hier zum flächigen, passiven Bild für den machtvollen, männlichen Blick. Allein durch die mit dem Bild implizierte Starrheit und Objekthaftigkeit der Frau wird Herr Kaiser als aktiver Träger des Blicks in eine dominante und überlegene Position gerückt. Das Bild zeigt eine abstrakte Aktzeichnung eines weiblichen Körpers, womit die ‚junge Wilde‘ vor allem mit ihrer Körperlichkeit (im Gegensatz zu ihrem Geist) verbunden wird und so unweigerlich in die Tradition der sexuell triebhaften, affektiven und irrationalen Frau gerückt wird. Die Gegensätzlichkeit zu Herrn Kaiser wird auch verbal angedeutet, indem die Frau Herrn Kaiser fragt, ob dieser auch ‚junge Wilde‘ versichert. Herr Kaiser steht adrett gekleidet, mit väterlich gönnerhaftem Blick für die Versicherungsmarke als beherrschtes und rationales Gegenbild. In der Auseinandersetzung mit dem männlichen Kunden beweist Herr Kaiser dagegen in der angedeuteten Diskussion seine Kompetenz. Seine überlegene Position wird daher durch die Bezeichnung als ‚Experte‘ und die ratsuchende Position des Kunden nochmals verbal sichergestellt: „Ich mach’ mich selbstständig. Da brauch’ ich dringend Ihren Rat. Sie sind doch Experte“ (EA forum 1991 (1), o. S.). Der Blick auf die Anzeigen von 1991 zeigt, dass sich die Werbefigur Herr Kaiser zur Marke Hamburg-Mannheimer immer noch als inhaltliches Ebenbild und Befürworter verhält – einerseits ist sie Symbol für Markenbedeutungen und -leistungen (z.B. Expertise, Dominanz/Männlichkeit, Nahbarkeit, Menschlichkeit) und andererseits weist sie durch ihren Typus (idealisierter Vertreter) auf diese hin (z.B. Fitnesstipps, ‚günstige Finanzierungspläne‘). Abseits der thematisierten Inhalte hebt die Kundeninteraktion von Herrn Kaiser im Hauptmotiv der Anzeigen ein neues Narrativierungspotenzial für die Marke Hamburg-Mannheimer, denn diese wird durch Herrn Kaiser stärker zum Akteur: Als inhaltliches Ebenbild anthropomorphisiert Herr Kaiser die Marke direkt, wodurch dessen Handlungen die Marke gewissermaßen ausführen und in Aktion zeigen. Die Positionierung der Figur im Austausch mit den Kund_innen positioniert damit auch die Marke. Die Werbefigur war allerdings nicht nur isoliert in die vom Unternehmen gesteuerten und konzipierten Werbemaßnahmen integriert. Sie war auch in einen breiteren medialen
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Diskurs eingebunden. Anhand von Schlaglichtern aus diesem markenexternen Diskurs soll nun die Entwicklung der Figur zum emanzipierten Star nachgezeichnet werden. Dieser Typus beschreibt, dass die Marke eher dem Vorstellungsbild der Figur zugeordnet wird als andersherum. Die Figur hat sich verselbstständigt und ‚funktioniert‘ auch ohne Marke. Herr Kaiser fungierte in der Berichterstattung oftmals als Synonym für die HamburgMannheimer. Eine Überschrift der Frankfurter Rundschau lautete 1995 beispielsweise: „Mehr Service von Herrn Kaiser“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997) und eine andere derselben Zeitung im Jahr 1994: „Herr Kaiser kassiert viele Kündigungen“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Die Personifizierung der Marke Hamburg-Mannheimer hatte zur Folge, dass handlungsorientierter über diese gesprochen werden konnte. Dies wird in einem Artikel einer Hamburger Zeitung von 1992 zur Sponsorensuche eines Kindergartens deutlich.68 Der Artikel plädiert dafür, dass Unternehmen die Kinderbetreuung ihrer Mitarbeiter_innen durch die gemeinsame Finanzierung eines betriebsnahen Kindergartens unterstützen könnten – als Gegenleistung […] würden die Kinder im Winter auch ein Mützchen mit den Shell-Insignien tragen und sich im Sommer im HEW-T-Shirt auf dem Rasen tollen. Herr Kaiser von der Hamburg Mannheimer [sic!] darf auch vorbeikommen und den Kindern Geschichten erzählen, aber bitte nur die wahren, Herr Kaiser! (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)
Die Marken Shell und HEW sind im beschriebenen Szenario nur durch schmückende Accessoires vertreten, die lediglich für die Präsenz und Sichtbarmachung der Markierung sorgen. Herr Kaiser wird dagegen als agierender Unternehmensvertreter beschrieben (auch wenn dies eher negativ konnotiert wird). Er verkörpert das Unternehmen und suggeriert im Gegensatz zu rein applikativen Markierungen als Figur Interaktionsmöglichkeit. Diese Verwendung von Herrn Kaiser im journalistischen Kontext hätte aus Unternehmenssicht positiv gesehen werden können. Herr Kaiser wurde jedoch sukzessive immer mehr zum Synonym für den Versicherungsvertreter per se. So titelte die Computerzeitschrift Highscreen Highlights 1994: „Hallo, Herr Kaiser…“ und fährt in der darauf-
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Der Name der Zeitung ist aus dem archivierten Zeitungsausschnitt nicht mehr nachvollziehbar.
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
folgenden Bildbeschreibung fort: „Gib den Abzockern keine Chance! Der WISO-Versicherungsberater gibt Verbrauchern wichtige Infos zum Thema Versicherungen“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Der Artikel bezieht sich zwar auf Herrn Kaiser, aber nicht auf die Hamburg-Mannheimer. Stattdessen wird die Figur losgelöst von der Marke als Prototyp-Vertreter eingesetzt, der überdies negativ mit ‚Abzocke‘ kontextualisiert wird. Ähnlich verhält es sich mit einem Donau-Post Artikel von 1996 über einen zwielichtigen Versicherungsvertreter. Dieser war zwar nicht bei der Hamburg-Mannheimer beschäftigt, die Donau-Post titelte dennoch: „Das alter ego des ‚freundlichen Herrn Kaiser‘“. Einleitend heißt es weiter: Daß Versicherungsvertreter nicht unbedingt dem in Fernsehspots seit vielen Jahren gehegten und gepflegten Bild des ‚freundlichen Herrn Kaiser‘ entsprechen, mag der ein oder andere Kunde der Assekuranzen schon am eigenen Leibe erfahren haben. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)
Die Hamburg-Mannheimer wandte sich in einem Schreiben an die Redaktion, um sich gegen diese ‚missbräuchliche Verwendung‘ der eigenen Werbefigur zu wehren: [S]o sehr uns ja einerseits der Bekanntheitsgrad und die Popularität unserer Werbefigur ‚Herr Kaiser‘ freuen könnten, so sehr verwahren wir uns gegen deren mißbräuchliche Verwendung. Es war und ist nicht unsere Absicht, mit dem ‚freundlichen Herrn Kaiser‘ gleichsam ein Synonym oder einen Stellvertreter für diesen Berufsstand schlechthin zu schaffen. Herr Kaiser steht vielmehr ausschließlich für unsere Firmengruppe, sie wurde von uns ‚ins Leben gerufen‘, dient allein unserer Werbebotschaft […]. Sie werden daher sicherlich verstehen, daß wir es nicht hinnehmen können, daß dieser Name – wie in Ihrem Artikel – auch noch in ausgesprochen negativem Zusammenhang verwendet wird, weil dies einen Rückschluß bzw. eine Gleichsetzung mit unserer Gesellschaft bewirkt. Wir haben diese Werbefigur, diesen Namen im Sinne unserer Firmen-Philosophie ‚aufgebaut‘ und bitten, dies auch im journalistischen Bereich zu respektieren. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; Hervorhebung im Original)
Die Antwort der Hamburg-Mannheimer weist ausdrücklich darauf hin, dass die Markenidentität (Philosophie) als Ausgangspunkt für die Werbefigur Günter Kaiser in Position gebracht wird, womit sich der Beliebigkeit der Figur entgegengestellt wird. Außerdem wird deutlich gemacht, dass die Interdependenz zwischen Marke und Figur zu Rückschlüssen bzw. Gleichsetzungen mit dem Unternehmen führen kann. Die öffentliche Reaktion – ebenfalls 1996 in der Donau-Post – auf das Statement der Hamburg-Mannheimer säte jedoch Zweifel an der angenommenen Interdependenz: Der Redakteur versicherte darin, dass sich die Versicherungsgesellschaft keine Sorgen über negative Rückschlüsse auf die Hamburg-Mannheimer machen müsse. Es würde ohnehin niemand Herrn Kaiser mit der Hamburg-Mannheimer in Verbindung bringen: Zur Erinnerung: Der Titel der Geschichte war: ‚Das alter ego des freundlichen Herrn Kaiser‘. Eben jener, dem Fernsehpublikum seit Jahrzehnten durch sein Blendax-Lächeln und seine allzeit gute Laune
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sicherlich zum Synonym für den Versicherungsvertreter schlechthin gewordene ‚Herr Kaiser‘ […]. Es sei ganz und gar nicht Absicht ihrer Gesellschaft gewesen […] einen Stellvertreter für diesen Berufsstand […] zu schaffen. Daß der Hamburg-Mannheimer mit ihrer Werbe-Kreation aber genau dies gelungen ist – so, wie etwa Tempo mittlerweile zum allgemein gebräuchlichen Synonym für Papiertaschentücher (schlechthin) geworden ist – ist der eigentliche Erfolg der Reklame. Eine spontane Umfrage in der Redaktion ergab, daß zwar jeder den ‚freundlichen Herrn Kaiser‘ kannte, aber niemand damit die Hamburg-Mannheimer assoziierte. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 19721997)
Die Auseinandersetzung gibt Auskunft über Diskrepanzen in der internen und externen Rezeption der Werbefigur. Wo die Reaktion der Hamburg-Mannheimer die starke interne Identifikation mit der Figur verdeutlicht, weist der Antwort-Artikel darauf hin, dass Herr Kaiser in der externen Rezeption zwar wohlbekannt, jedoch ohne Marken-Zuordnung ist. Herr Kaiser hatte sich einen festen Platz in den Köpfen erworben, sich dabei allerdings aus externer Sicht von der beworbenen Marke Hamburg-Mannheimer emanzipiert – sie wurde im Sinne der Typologie zum emanzipierten Star. Dies wurde auch von den Werbeverantwortlichen reflektiert. So wurde Werbeleiter Fiebig bereits vor Erscheinen des Donau-Post-Artikels im Jahr 1994 folgendermaßen in der forum zitiert: ‚Die absolute Dominanz des Versicherungs-Experten im Verbraucherbewußtsein birgt immense Glaubwürdigkeits-Vorteile. Aber auch die Gefahr von Verselbständigung der Kaiser-Figur, zumal die Medien ihn verstärkt ganz allgemein mit Versicherung gleichsetzen und nicht mehr ausschließlich der Hamburg-Mannheimer zuordnen.‘ (EA forum 1994 (4), 22)
Die beschriebene Verselbstständigung der Figur kann semiotisch wie folgt kommentiert werden: Die Verbindung zwischen den primären (Markenname, Markenlogo) und dem sekundärem Markenzeichen (Werbefigur) ist nicht mehr ausgeprägt – die Signifikanten sind in der Wahrnehmung nicht mehr ‚verschmolzen‘. Das bedeutet für die Markenführung, dass das mit dem Zeichenkonstrukt Herr Kaiser assoziierte Signifikat das Image der Marke schwerlich profilieren kann. Die Werbefunktion der Symbolisierung wird durch den Typus des emanzipierten Stars untergraben, da kein Bedeutungstransfer stattfinden kann. Es wird deutlich, dass der emanzipierte Star keine geplante Position ist, sondern Ergebnis einer Verselbstständigung in der externen Wahrnehmung. Das Markenverhältnis, das der Figur aus der Betrachtung der Werbeinszenierungen zugeschrieben werden kann, wird in der externen Rezeption – wie hier im Donau-Post Artikel – nicht zwangsläufig gespiegelt. Wie bereits im vorigen Abschnitt bemerkt, haben die Werbeverantwortlichen die externe Zuordnung der Werbefigur Herr Kaiser zur Marke Hamburg-Mannheimer auch mit
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Marktforschungen überprüft. Die aufgeführte, identisch aufgebaute Befragung aus den Jahren 1977 und 1984 zur Bekanntheit der Figur und zur Verbindung mit der Marke Hamburg-Mannheimer wurde 1994 erneut durchgeführt (EA Imagestudie 1994).69 Das Ergebnis der Marktstudie 1994 lautete, dass 71 % der Bevölkerung Herrn Kaiser spontan und gestützt kennen. Die Bekanntheit war demzufolge seit 1977 stetig angestiegen (1977: 36 %; 1984: 46 %). Doch diese steigende Bekanntheit ging auch mit einer geringeren Zuordnung von Herrn Kaiser zur Hamburg-Mannheimer einher. Wo 1977 noch 71 % der Personen, die Herrn Kaiser spontan und gestützt kannten, ihn auch zur Hamburg-Mannheimer zuordneten, taten dies 1984 nur noch 64 % und 1994 nur noch 61 % der Befragten. Auch die quantitative Befragung zeigte den Werbeverantwortlichen also eine Loslösung Herrn Kaisers von der Marke Hamburg-Mannheimer. Die Befragung wies überdies auf ein negativ konnotiertes Signifikat der Werbefigur hin: Zwar unterschied sich insgesamt der Anteil positiver Nennungen zu Herrn Kaiser im Vergleich zu 1977 kaum (63 % der freien Äußerungen 1994 sind positiv, 1977 sind es 64 %), doch hat die Antwort ‚nichts‘ auf die Frage, was an Herrn Kaiser gefällt, 1994 den höchsten Wert mit 26 %. Im Jahr 1984 lag dieser Wert noch bei 18 %. Auch die Nennungen für die Attribute sympathisch, freundlich und nett/natürlich hatten seit der Untersuchung 1984 abgenommen: Wo 1984 noch 26 % der Befragten, die Herrn Kaiser kannten, ihn auch als sympathisch einstuften, waren es 1994 nur noch 15 %; und wo ihn 1984 noch 21 % der Befragten als freundlich empfanden, waren es 1994 nur noch 12 %. Der Wert für nett/natürlich lag bereits 1984 bei nur 9 % und sank 1994 nochmals auf 7 % (EA Imagestudie 1994). In einer Marktforschung von 1995 zu neu produzierten Werbemitteln wurde diese negative Rezeption nochmals untermauert.70 Das Fazit der Marktforschung lautete: „Das Image von Herrn Kaiser ist charakterisiert durch weitgehende Profillosigkeit, die einzelnen Kriterien diskriminieren kaum“ (EA Werbemittelstudie 1995; Hervorhebung im Original). Der getestete Werbespot wurde in der Marktforschung als nicht geeignet für die positive Imagewerbung befunden. Weiter resümierten die Marktforscher_innen, dass Herr Kaiser durch fehlende Persönlichkeit wie eine Karikatur des Versicherungsvertreters anmute. 69
In der Studie von 1994 wurden 2500 Personen ab 14 Jahren befragt (EA Imagestudie 1994). Studie mit kleiner Stichprobe: 125 Teilnehmer_innen für den Werbespot, 100 Teilnehmer_innen für den Radiospot (EA Werbemittelstudie 1995). 70
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Die durchgeführten Marktforschungen bedeuteten den Hamburg-Mannheimer Werbeverantwortlichen also, dass die Bekanntheit der Werbefigur Günter Kaiser in Deutschland zwischen 1977 und 1994 kontinuierlich gestiegen war. Gleichzeitig verwiesen die Studien jedoch auf die sinkende Beliebtheit und die nachlassende Verbindung der Figur zur Marke Hamburg-Mannheimer in der externen Rezeption. Für die Werbetreibenden gestaltete sich der Erfolg der Werbefigur also als problematisch. Dies konstatierte auch Werbeleiter Fiebig in einem Interview von 1996 in der forum und betrachtete dies als zu lösendes Problem: [W]ir haben noch ein weiteres Problem zu lösen: Wann immer unsere Marktforscher nach den Inhalten unserer Werbung fragen, hören sie nur ‚Herr Kaiser‘. Viel weniger über unsere ‚Mehr vom Leben‘Idee, kaum etwas über die in den Anzeigen angesprochenen Produkte. Der Botschafter ist zur Botschaft geworden. (EA forum 1996 (2), 10)
Fiebig bezieht sich hier weniger auf die grundsätzliche Entkopplung von Figur und Marke in der externen Wahrnehmung, als auf die Überlagerung der Marke durch Herrn Kaiser. Die Figur wurde bereits im Hinblick auf ihre hybride Anlage im Markenverhältnis sowohl als Botschafter (Befürworter) als auch als Botschaft (inhaltliches Ebenbild) für die Marke Hamburg-Mannheimer bezeichnet. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die negative Bewertung des Herrn Kaiser als Botschafter deuten? Der emanzipierte Star Günter Kaiser verwies als Botschafter nicht mehr wirksam auf die Marke Hamburg-Mannheimer. Das erscheint insofern paradox, als dass er insbesondere in der Print-Inszenierung immer stärker an das Primärzeichen (Markenlogo) gerückt wurde. In Kombination mit einer hohen Typik und einer zunehmenden Unveränderlichkeit (Pose, Aussehen) nähert sich die Figur in seiner Funktion einem Präsenzsignal an. In der theoretischen Vorarbeit wurde erläutert, dass Präsenzsignale den Zugriff auf Markeninformationen über ihre formale Signalwirkung als Gedächtnisanker sicherstellen sollen. Diese Werbefunktion korrespondiert überdies mit der Position des formalen Ebenbildes zur Marke, die als weitgehende Übereinstimmung der Figur mit Teilen der Primärzeichen beschrieben wurde. Im Theoriepart des Kapitels wurde die Überlegung angestellt, dass eine enge Verknüpfung der Werbefigur mit den Primärzeichen der Marke einer Verselbstständigung zum emanzipierten Star entgegenwirken könnte. Im Fall von Herrn Kaiser markiert dagegen die Funktion als Präsenzsignal seinen Übergang zum Synonym für den Versicherungsvertreter. Die maximale Typik der Figur dient dabei, so lässt sich die Entwicklung
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interpretieren, als Ausgangspunkt für karikative Umdeutungen. Die Problematik aus Markenführungssicht kann hier zum einen darin gelesen werden, dass die äußerliche Typik sich ausschließlich auf die Typik des Typus (eines Versicherungsvertreters) und nicht auf die Typik der Marke bezieht. Je stereotyper Herr Kaiser wurde, desto schlechter konnte er seine spezifische Hinweisfunktion wahrnehmen. Zum anderen kann die Problematik aus der Perspektive der Werbetreibenden darin gesehen werden, dass eine Figur, die eben nicht nur Botschafter, sondern durch die Symbolisierung von Positionierungsinhalten auch inhaltliche Botschaft sein soll, zu einem reinen Signal erstarrt. Gleichzeitig war die Positionierung von Herrn Kaiser als inhaltlichem Ebenbild der Hamburg-Mannheimer wenig differenzierend. So können die Eigenschaften der Menschlichkeit und Sympathie nur schwerlich per se und ohne weitere Interpretation dauerhaft als markentypisch ausgewiesen werden. Im Anschluss an Werbeleiter Fiebig kann also reformuliert werden, dass der Botschafter Herr Kaiser im Hinblick auf seinen Typus auf sich selbst verweist und damit selbst zur Botschaft, aber eben nicht zur Markenbotschaft, wird. Im Hinblick auf die angestrebte symbolische Funktion als Botschaft ist die Figur dagegen formelhaft und inhaltsleer. Diese Überlegungen finden sich auch bei McQuarrie und Phillips wieder: „You cannot personify a brand by showing a generic person or creature“ (2016, 25). Ein generischer Herr Kaiser konnte keine differenzierte Positionierung für die Marke erreichen. Herr Kaiser wurde insgesamt zum stereotypen Allgemeinplatz, der als Typus einfach aus seinem spezifischen Markenkontext herausgelöst und in markenfremde Diskurse integriert werden konnte.71 Diese Problematik für die Werbetreibenden führte auch zu Mutmaßungen über den weiteren Einsatz der Werbefigur in der externen Berichterstattung. So berichtete das Kommunikationsbranchen-Magazin textintern im Jahr 1996, dass Herr Kaiser ‚überlebt‘: „Das Wichtigste zum Schluß: Herr Kaiser, der Mann [sic!] der so populär ist, daß jeder seiner Auftritte gleich branchenübergreifend wirkt – er überlebt!“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Die TV Today vermutete ebenfalls 1996 das Gegenteil:
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Siehe Kapitel C zur Rekontextualisierung und ‚diskursiven Beweglichkeit‘ der Werbefigur.
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Herr Kaiser […] wird demnächst wohl in den Ruhestand geschickt. Verdacht des Versicherungskonzerns: Viele Verbraucher kennen zwar den netten Außendienstler, nicht aber die dazugehörige Firma. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)
Die Mutmaßungen verdeutlichen vor allem die für den Werbezweck notwendige Verbindung von Figur und Marke sowie die notwendige Markenspezifik des Werbemittels. Nach 24 Werbejahren mit nur marginalen Veränderungen an der Figur (trotz Schauspielerwechsel), maximaler äußerlicher und sprachlicher Typik und großer Bekanntheit (nur nicht für die beworbene Marke), hatte Herr Kaiser dem Marktfeedback zufolge nur noch bedingt einen positiven Einfluss auf das Image der Marke Hamburg-Mannheimer. Im nächsten Abschnitt soll nun betrachtet werden, wie die Werbeverantwortlichen versuchten, der Position der Werbefigur als emanzipiertem Star entgegenzuwirken und Herrn Kaiser wieder stärker an die Marke Hamburg-Mannheimer zu binden.
4.4
Herr Kaiser als formales Ebenbild
Im Folgenden werden zunächst der 1997 erfolgte Schauspielerwechsel und die damit einhergehenden Veränderungen in der Werbekommunikation betrachtet. Daran anschließend soll aufgezeigt werden, mit welchen Maßnahmen die Figur zu einem formalen Ebenbild der Marke entwickelt wurde. Ausgehend von den beschriebenen Herausforderungen mit der Figur (Verselbstständigung, schlechte Imagewerte), taten die Werbeverantwortlichen sich schwer auf der Suche nach einer Werbeagentur, die die Werbelinie neu ausrichten sollte. In einem Artikel der new business hieß es zum beschlossenen Agenturwechsel im November 1996 zum Beispiel: Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer Versicherungs AG schließt mit J. Walter Thompson ab. Nach einem ‚siebenmonatigen Marathon‘, schreibt Thompson-Sprecher Uli Rohrbach in seiner Pressemitteilung. Wenn man genauer hinsieht, stellt sich jedoch heraus, daß der zweitgrößte deutsche Lebensversicherer fast das ganze Jahr 96 damit verbracht hat, über eine neue Werbelinie und den dazu passenden Partner zu befinden. Muß Herr Kaiser weiterhin Klinken putzen und sein bekanntes Unwesen treiben, oder kommt er auf den Müllhaufen der Geschichte? So lautete die Gretchenfrage. Keine der am Wettbewerb beteiligten Agenturen wollte ihn wirklich weiter beschäftigen – das waren neben Altbetreuer FCB und Sieger Thompson noch Baader, Lang, Behnken sowie Wilkens. Aber der Kunde bestand nun mal drauf. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Die mediale Thematisierung der Agentursuche (siehe unterschiedliche Presseberichte von 1996 in EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997), die der Entscheidung für einen Agenturwechsel vorausging, spiegelt die Unsicherheit der Werbetreibenden über die weitere werbliche Vorgehensweise wider. Dies wird insbesondere durch Verweise auf die Dauer der Agentursuche und auf die durchgeführten Marktforschungen deutlich. Die Agentursuche wurde unter anderem als „werbliche Odyssee des Herrn Kaiser“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997) und als „Herr-Kaiser-Konflikt“ tituliert, den auch Marktforschungen nicht gelöst hätten (A0101-00051, Bd. 01, 133830). Die mediale Reflexion deutet auch auf die öffentlichkeitswirksame Stellung von Herrn Kaiser hin, der ‚Nachrichtenwert‘ besitzt. Im Jahr 1997 wurde in der forum der Wechsel auf den neuen Kaiser-Darsteller Nick Wilder kommuniziert (EA forum 1997 (Mär), 12–13). Diesbezüglich soll an dieser Stelle dem nachfolgenden Kapitel C vorgegriffen werden, indem das Erscheinungsbild der Figur in den Blick genommen wird. Ein solcher Vorgriff erscheint notwendig, um aufzuzeigen, wie Veränderungen an der Figur diese als markenspezifischen Befürworter positionieren sollten. Mit dem Darstellerwechsel können verschiedenste Neuerungen beobachtet werden: Das wenig charakteristische und über zwei Darsteller weitgehend ähnlich gebliebene Gesicht wich mit der Neubesetzung einer distinkten Physiognomie. Diese Charakteristik des neuen Schauspielers wurde gegenüber den Mitarbeiter_innen auch hervorgehoben und positiv bewertet: Das markante Gesicht mit den klaren, blauen Augen gehört Nick Wilder, dem neuen Günter-KaiserDarsteller, der künftig in den TV-Spots der Hamburg-Mannheimer über die Bildschirme flimmern wird. Seine ‚Lizenz zum Lächeln‘ erhielt der Schauspieler vor wenigen Wochen […]. (EA forum 1997 (Mär), 12)
Das interne Werben für den neuen Darsteller muss auch vor dem Hintergrund der vorab deutlich herausgestellten Problematik der Figur als emanzipiertem Star betrachtet werden. Durch das Postulieren eines ‚James Bond-Flair‘ des neuen Darstellers (EA forum 1997 (Mär), 13) – das den vorigen Herrn Kaiser Verkörperungen nicht zugeschrieben werden konnte – wurde auch gezeigt, dass sich etwas geändert hatte. Der Hinweis auf das veränderte Aussehen kann also auch als Argument für das Festhalten an der Figur verstanden werden.
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Abb. 15: Bild des ‚neuen‘ Herrn Kaiser in der Mitarbeiterzeitschrift forum von 1997 (EA forum 1997 (2), 20; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Neben der Wahl des Schauspielers selbst wurde die Neuorientierung auch auf Ebene der Ausstattung deutlich: Der neue Herr Kaiser trug keine Brille mehr, der strenge Seitenscheitel war passé und die berühmte Aktentasche wurde stehengelassen. Stattdessen hatte der neue Günter Kaiser Haargel in den Haaren und der Vertreteranzug wechselte sich mit Business Casual-Kleidung ab. Auch die berühmte und zum geflügelten Wort gewordene Floskel „Hallo, Herr Kaiser, gut, daß ich Sie treffe“ wurde nicht mehr verwendet. Kurz: Alles am Konstrukt der Figur, das schematisch und floskelhaft war und zur karikativen Umdeutung einlud, wurde vermieden. Die Neubesetzung und die damit einhergehenden Veränderungen am Kaiser-Konstrukt können daher als Versuch betrachtet werden, den etablierten Stereotypen aufzubrechen. Als Botschafter sollte Günter Kaiser durch sein spezifisches Aussehen und die wechselnden Outfits nun nicht mehr ‚jeden‘ Versicherungsvertreter repräsentieren, sondern als spezifischer Befürworter der Marke HamburgMannheimer betrachtet werden. Herr Kaiser sollte, so lässt sich die Neubesetzung interpretieren, kein Allgemeinplatz mehr sein, dem man alles zuschreiben konnte. Den Veränderungen Rechnung tragend, stellt sich die Figur in den ersten Werbekommunikaten (EA Werbespot 1997c) mit Visitenkarte als Günter Kaiser vor (Abb. 15). Da viele gelernte Signifikanten der Figur aufgegeben wurden, musste der neue Herr Kaiser zunächst mit der Bezeichnung selbst sowie mit Teilen des gelernten Signifikats in Verbindung gebracht werden.
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Die neue Werbelinie sollte, so wurde an die Mitarbeiter_innen kommuniziert, aufbauend auf der ‚Mehr vom Leben‘ Leitidee noch stärker die Beratungskompetenz fokussieren (EA forum 1997 (Mär), 6–7). Folglich lautete es nun im Slogan nicht mehr lediglich ‚Mehr vom Leben‘, sondern ‚Mehr Beratung – Mehr vom Leben‘ (EA Jubiläumsbuch 1999, 116). Das Markenversprechen wird durch diesen Zusatz begründet (Reason Why). Außerdem entsteht eine kausale Verknüpfung zwischen Werbefigur und Leistungsversprechen. Für die Beratung ist der Hamburg-Mannheimer Außendienstmitarbeiter zuständig, für den Herr Kaiser repräsentativ steht. Die implizite Bezugnahme auf Herrn Kaiser im Slogan forciert die Integration der Kommunikationsmaßnahmen. Denn, wo auch immer der Slogan eingesetzt wird, ist Herr Kaiser der Referenzpunkt. Herr Kaiser symbolisiert zudem mit der fokussierten Beratungskompetenz neben Menschlichkeit, Nahbarkeit und Sympathie ein weiteres Markenattribut und wird damit inhaltlich in seiner Funktion als Symbol profiliert. Ist er in diesem Bedeutungsraum (‚Mehr Beratung‘) selbst die Botschaft, ist er für die Aussage ‚Mehr vom Leben‘ Botschafter.
Abb. 16: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1997 (EA Werbespot 1997a, 00:00:04, 00:00:18, 00:00:34; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Beratungskompetenz wurde auch in der narrativen Einbindung des neuen Herrn Kaisers herausgestellt: Er wird nicht mehr lediglich angesprochen und eingeladen, sondern geht proaktiv auf seine Gesprächspartner zu. An konkreten Produkten zeigt Herr Kaiser sein ‚Handwerk‘. So berät er beispielsweise in einem Werbespot von 1997 freundschaftlich seinen Frisör im Haarsalon, indem er ihm faktisch und (für einen 40-Sekünder) detailliert die Vorteile eines neuen Produktes erläutert (Abb. 16): Frisör: „Wie immer Günter?“ Herr Kaiser: „Wie immer.“ Frisör: „Sag’ mal, ich würd’ mich gerne absichern für später. Aber so richtig mit Profit. Da erzählt ja jeder was anderes. Wie soll man da das Richtige finden?“ Herr Kaiser: „Na, da gibt’s jetzt was Neues, heißt Profi Life. Da haste beides: Den Schutz einer Lebensversicherung und ’ne Top-Renditechance.“ Frisör: „Beides? Das gibt’s?“ Herr Kaiser: „Hmm, Profi Life ist die neue fondsgebundene Lebensversicherung.“ Frisör: „Neu?“ Herr Kaiser: „Die investiert in Aktien. Nur Top-Unternehmen. Nur aus Europa.“
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Frisör: „Und das gibt’s bei euch?“ Herr Kaiser: „Ja, bei der Hamburg-Mannheimer.“ Frisör-Kollegin: „Toller Tipp, Herr …“ Herr Kaiser: „Kaiser. Günter Kaiser.“ (EA Werbespot 1997a, 00:00:02-00:00:36)
In diesem Spot wird zunächst die zuvor beschriebene namentliche Einführung Günter Kaisers deutlich. Die Figur fungiert als vertrauter und kompetenter Befürworter der Marke Hamburg-Mannheimer, der seine Expertise in der Produkterläuterung demonstriert. Auf Grundlage seiner pragmatischen Beziehung zur Marke weist Herr Kaiser auf Eigenschaften des Markenprodukts (Absicherung plus Rendite) hin. Gleichzeitig personifiziert er die Eigenschaften der Beratungskompetenz und der Menschlichkeit direkt. Zusätzlich wird durch die Rahmung des Gesagten mehr Menschlichkeit und Natürlichkeit in der Wahrnehmung der Figur angestrebt: Herr Kaiser wird geduzt und ist mit einem Frisörbesuch in einem privaten Kontext.72 Damit nicht genug, riskiere Herr Kaiser, so schreibt die forum, bei einer attraktiven Friseurin „[…] mehr als einen charmanten Blick“ und zeige so „[…] eine ganz neue männlich-menschliche Seite […]“ (EA forum 1998 (5), 5). Das Begehren wird, so lässt sich an den interessierten Blicken von Herrn Kaiser und der Friseurin nachvollziehen, beidseitig dargestellt: Auch Herr Kaiser wird damit in gewisser Weise erotisiert. Im Gegensatz zur Frisörin, die gänzlich über ihre ästhetisch-sinnlichen Reize (lange, glänzende Haare, figurbetontes Minikleid) profiliert wird, wird Herr Kaiser lediglich über sein Gesicht und insbesondere über sein Wissen als attraktiv dargestellt. Wo Männlichkeit in den bislang betrachteten Werbekommunikaten vor allem relational zu Weiblichkeit dargestellt wurde, um darüber die dominante Position der Figur zu festigen, wird sie jetzt als private Eigenschaft in Szene gesetzt. Durch die stärkere Betonung privater und menschlicher Facetten wird Herr Kaiser – im Gegensatz zum generischen Versicherungsvertreter – individualisiert. Dabei werden seiner Charakterisierung nach wie vor heteronormative Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zugrunde gelegt. Für den Werbezweck, den die Werbefigur erfüllen soll, und die dafür notwendige Bedeutungsgenerierung (sowohl als Befürworter als auch als inhaltliches Eben-
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In der dritten Kaiser-Ära wurde Herr Kaiser zur Hervorhebung der ‚menschlichen Seite‘ insgesamt verstärkt im privaten Kontext inszeniert. So besucht er in einem Werbespot ein Fußballspiel (EA Werbespot 1997b) und ein anderer Werbespot zeigt ihn bei einem Massagebesuch (EA Werbespot 2000).
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bild) werden in der Werbeinszenierung schnell dechiffrierbare Ausdrücke und Zuordnungen einer patriarchalen gesellschaftlichen Ordnung instrumentalisiert und dabei beständig reproduziert. Die erfolgte Werberekonzeption mit Darsteller Wilder wurde 2001 nochmals weiterentwickelt, wobei die freundschaftlich-partnerschaftlichen Facetten der Figur ausgebaut wurden (Herr Kaiser als ‚Planer des Glücks‘). Reflektiert beschreibt die Hamburg-Mannheimer 2001 in der internen Kommunikation den Zusammenhang zwischen Markenstrategie und Werbefigur und verargumentiert so die weitere werbliche Vorgehensweise (EA forum 2001 (Feb/Mär), 10–11): So seien die Produkte innerhalb der Branche immer austauschbarer und neue Wettbewerber aus anderen Branchen seien hinzugekommen. Die Bedeutung einer starken Marke wurde vor diesem Markthintergrund von den Werbeverantwortlichen als hoch eingestuft. Sie spiele bei der Kaufentscheidung eine ausschlaggebende Rolle. Das Markenimage sei zwar nur ein Bild im Kopf der Konsument_innen – allerdings eines, das insbesondere über die ‚emotionalen, nicht fassbaren Werte‘ als ‚Türöffner‘ fungieren könne. Das Ziel der Markenkommunikation sei es, ein positives Vorstellungsbild aufzubauen. Dabei solle die Marke insbesondere über den ‚Faktor Mensch‘ weiter differenziert und gestärkt werden. Über Herrn Kaiser als ‚menschliches Gesicht‘ der Hamburg-Mannheimer könne man sich schon heute vom Wettbewerb differenzieren (EA forum 2001 (Feb/Mär), 10–11) und sich glaubwürdiger als andere Gesellschaften als zuverlässiger Partner positionieren (EA forum 2001 (Jun), 6–7). Dabei wurde nach wie vor als Herausforderung formuliert, Herrn Kaiser als Figur an die Hamburg-Mannheimer zu binden und zeitgemäß zu halten (EA forum 2001 (Feb/Mär), 10–11; EA forum 2001 (Jun), 6–7). Diese detaillierte Kommunikation an die Mitarbeiter_innen in der forum verdeutlicht die kontinuierliche Reflexion über die Werbefigur und ihre Einordnung im markenstrategischen Kontext sowie die angestrebte Steuerung durch die Ausgabe strategischer Leitlinien. Mit den kommunizierten Überlegungen werden außerdem viele der im theoretischen Part aufgeführten Ansätze der Markentheorie widergespiegelt: Die Markenkommunikation wird als Mittel betrachtet, langfristig ein vorteilhaftes und differenzierendes Image bei der Zielgruppe aufzubauen. Dabei werden sowohl funktionale als auch nichtfunktionale Markenattribute als Bestandteile des Bildes bzw. Signifikats betrachtet. Das
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Anthropomorphisierungsbestreben im Hinblick auf die Marke wird explizit hervorgehoben, wobei Herr Kaiser als Vehikel in Stellung gebracht wird. Wie eingangs angekündigt, soll nach der Analyse des Darstellerwechsels und der damit einhergehenden Änderungen in der Werbekommunikation die Rolle der Figur als formales Ebenbild betrachtet werden. Die 2000er Jahre standen nämlich ganz im Zeichen der Kaiser-Produkte: Das von den Rezipient_innen gelernte Sekundärzeichen Günter Kaiser wurde von der Hamburg-Mannheimer verstärkt als Primärzeichen verwendet.73 Das heißt, dass der Name der Figur zur Kennzeichnung von Produkten, Events und Werbeaussagen genutzt wurde. Im Gegensatz zur vorherigen Bewegung der Figur hin zum formalen Ebenbild, die auf der visuellen Erstarrung und der Funktion als Präsenzsignal hinauslief, wird Herr Kaiser damit nicht auf Bildebene, sondern namentlich, integriert. Zumindest auf Produktebene ist die Figur damit eng an die Marke Hamburg-Mannheimer gebunden. Günter Kaiser ist nun Teil des Produktportfolios – genauer: der Signifikant Günter Kaiser gehört zum ‚Bezeichnungs-Grundstock‘ der Produkte – und repräsentiert ganz spezifische Leistungen der Marke. Die Nutzung von Herrn Kaiser als sekundäres Primärzeichen kann als Versuch betrachtet werden, eine stärkere Anbindung der Werbefigur an die Marke Hamburg-Mannheimer sowie einen stärkeren Bedeutungstransfer zu erreichen. Das zum Zeichen Günter Kaiser aufgebaute Signifikat soll durch die Bezeichnung der Markenprodukte mit dem Figurennamen auf die Markenprodukte transferiert werden. Des Weiteren wird das Image der über Jahre aufgebauten Figur selbst monetarisiert. Herrn Kaisers Leistungen kann man nun auch kaufen. So brachte die Hamburg-Mannheimer im Zuge der Rentenreform (Riesterreform) 2001 ein Produkt auf den Markt, das intern als „[…] eines der größten und wichtigsten Unternehmensprojekte in der Hamburg-Mannheimer“ (EA forum 2001 (Mai), 4) präsentiert wurde: die Kaiser-Rente. Damit trug ein Produkt, das „[…] wie kein anderes Produkt
73
Genauer muss hier von einem sekundären Primärzeichen gesprochen werden. Im Falle der HamburgMannheimer fungiert die Marke Hamburg-Mannheimer als Dachmarke, der sich die einzelnen Markenprodukte unterordnen. Herr Kaiser bezeichnet nicht die Dachmarke, sondern untergeordnete Produkte. Damit verhält es sich im Falle der Hamburg-Mannheimer und der Werbefigur Herr Kaiser in Bezug auf Primärund Sekundärzeichen nicht so stringent wie zum Beispiel im Falle von Meister Proper. Hier steht das Markenprodukt im kommunikativen Vordergrund, sodass die Werbefigur klar als Primärzeichen fungiert.
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
für Neugeschäft und Marktanteile sorgen soll […]“ (EA forum 2001 (Mai), 4), den Namen einer fiktiven Werbefigur. Dieser Umstand verdeutlicht die interne und externe Exponiertheit der Figur. 2005 folgten die Kaiser-Vorsorge/Plus (EA forum 2004 (6), 10–11) und das Kaiser-Paket, in dem unter anderem der Kaiser-Unfallschutz und der KaiserNachlass gebündelt waren (EA forum 2004 (6), 22). Die Werbefigur fungiert in dieser neuen Rolle insofern als Präsenzsignal für die Marke, als dass sie als Gedächtnisanker in Entscheidungssituationen den Zugriff auf die Marke sicherstellen soll. Bei den Dienstleistungen der Hamburg-Mannheimer wäre somit aus Unternehmenssicht die Hoffnung, dass ein Interessent für Unfallschutz-Versicherungen durch die hohe Bekanntheit und Aktualität der Figur eben an den Kaiser-Unfallschutz denkt. Mit dem bereits bekannten Zeichen wird also sowohl eine schnelle Erfassbarkeit als auch Erinnerbarkeit des Markenprodukts angestrebt. Über die Produktbenennung hinaus gründete die Hamburg-Mannheimer zur Abwicklung der Kaiser-Renten-Anträge und -Verträge außerdem das Kaiser-Renten-Centrum (EA forum 2002 (Mär), 13). Damit verleibte sich die Hamburg-Mannheimer das Zeichenkonstrukt Günter Kaiser auch räumlich ein. Als Versicherer der FIFA-Weltmeisterschaft 2006 veranstaltete die Hamburg-Mannheimer zudem ab 2004 die Kaiser-Tour: An den Spielorten der FIFA-Weltmeisterschaft 2006 wurde dabei der ‚Kaiser-Cup‘ auf Straßenfußballfeldern ausgetragen. Rund um diese Spielfelder konnten sich die jeweiligen Vertriebsorganisationen in einem Zeltdorf, dem ‚Kaiser-Forum‘, präsentieren (EA forum 2004 (1), 34). Ausgewählte Geschäftspartner wurden beim ‚Kaiser-Talk‘ persönlich betreut (EA forum 2004 (1), 34; EA forum 2004 (3), 42–43). Neben Produkten und Events wurde auch der Slogan im Rahmen dieser ‚WerbefigurBrandingstrategie‘ angepasst. Der Slogan hatte stets die kommunikative Leitidee, also die inhaltlich kondensierte Hauptaussage der Marke, ausgedrückt. Abhängig von der Kommunikationsstrategie variierten auch die Slogans: Von dem Ziel als große, bekannte und damit sichere Versicherungsgesellschaft wahrgenommen zu werden (‚Man kennt uns‘) über den Ansatz, als Kümmerer und Berater ein langes Leben mit hoher Lebensqualität zu unterstützen (‚Mehr Beratung – Mehr vom Leben‘) bis hin zur partnerschaftlichen Befähigung zur Erfüllung persönlicher Wünsche (‚Glück ist planbar‘). Der neue Slogan der Hamburg-Mannheimer lautete ab 2005 ‚Kaiserlich versichert‘ (EA forum 2005 (3), 13). Dieser Slogan birgt unter anderem Assoziationen wie ‚edel‘ und ‚das Höchste‘. Das heißt,
Herr Kaiser als formales Ebenbild
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dass (potenzielle) Kund_innen implizit das Versprechen bekommen, mit der HamburgMannheimer die beste Versicherung zu erhalten. Hauptreferenzpunkt ist jedoch Herr Kaiser. Die Figur verknüpft als sekundäres Primärzeichen das Markenprodukt in der Wahrnehmung der Konsument_innen mit der Werbebotschaft. Außerdem wird Herr Kaiser durch diese kommunikative Maßnahme (mit seinem ganzen Bedeutungsraum als Symbol) zum Beschreibungsmodus der beworbenen Marke. Die Markierung Günter Kaiser bezieht sich auf eine individuelle menschliche Figur und umgibt das Bezeichnete damit sowohl mit dem ‚Phantasma des Einzigartigen‘ (Andree 2010, 34) als auch mit dem ‚Phantasma des Menschlichen‘. Was führte vor diesem Hintergrund 2010 zur Aufgabe der etablierten und monetarisierten Werbefigur? Die Ergo-Versicherungsgruppe etablierte die Holding-Marke als Endkundenmarke und löste die bis dato geführten Einzelmarken, darunter auch die Hamburg-Mannheimer, ab. Im Migrationsprozess des Markenwechsels fungierte Herr Kaiser noch als Botschaft(er): Ein Motiv zeigt, wie die Figur (als Botschafter) lächelnd ein Schild in die Kamera hält (Abb. 17). Der Referenzpunkt für die Botschaft darauf ist dabei die Figur selbst: „Hamburg-Mannheimer wird Ergo und Sie bleiben KAISERLICH VERSICHERT“ (Sticker-Beilage in der Mitarbeiterzeitschrift (EA forum 2010 (1)); Hervorhebung im Original).
Abb. 17: Die Kommunikation mit Herrn Kaiser im Markenmigrationsprozess 2010 (Sticker-Beilage in der Mitarbeiterzeitschrift (EA forum 2010 (1); mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)).
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
Damit wird kommuniziert, dass trotz der Ablösung des Hamburg-Mannheimer Markenzeichens die damit verbundene Leistung bestehen bleibt – nur eben in Verbindung mit einem neuen Signifikanten. Es ist der Versuch, Günter Kaiser als Beschreibungsmodus für die neue Marke einzusetzen und damit das vertraute Signifikat der Hamburg-Mannheimer auf die neue Marke zu transferieren. Allerdings wurde Herr Kaiser nur in diesem informativen Migrationsprozess eingesetzt. In der groß angelegten Ergo Kampagne von 2010 tauchte die Figur nicht mehr auf. Im vorliegenden Abschnitt wurde in einem ersten Schritt aufgezeigt, wie die Werbefigur Herr Kaiser neu inszeniert wurde, was das wohl bekannte, aber verselbstständigte und negativ konnotierte ‚Hallo, Herr Kaiser‘-Klischee aufbrechen sollte. In einem zweiten Schritt wurde die Nutzung der Werbefigur als formales Ebenbild der Marke(nprodukte) anhand von Beispielen aufgezeigt und die damit erfolgte Bindung des Zeichens Herr Kaiser an das Zeichengeflecht der Marke Hamburg-Mannheimer semiotisch untersucht. Der nachfolgende Abschnitt soll nun der Reflexion des erarbeiteten Analyseinstrumentariums der Typologie der werbe- und markenstrategischen Verortung der Werbefigur dienen, das in diesem Fallbeispiel erprobt wurde.
Reflexion des Analyseinstrumentariums
4.5
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Reflexion des Analyseinstrumentariums
In diesem Fallbeispiel sollte die Anwendbarkeit und Nützlichkeit der entwickelten Typologie der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur anhand der Werbefigur Herr Kaiser erprobt werden. Aufgrund der langen Einsatzzeit der Figur und der unterschiedlichen Werbefunktionen für die Marke Hamburg-Mannheimer, stellt Herr Kaiser einen fruchtbaren Gegenstand für eine differenzierte Analyse dar, die den potenziellen Mehrwert des Analyseinstrumentariums herausstellen kann. Die Typologie wurde in der theoretischen Vorarbeit ausgehend von einer zeichentheoretischen Untersuchung der Marke abgeleitet und fragt danach, in welchem Verhältnis die Werbefigur sich zu einzelnen Zeichen-Bestandteilen der Marke verhält (emanzipierter Star, Ebenbild, Unterstützung). Davon ausgehend wurden die spezifische Werbefunktion der Figur (Präsenzsignal, Symbol, Typus) sowie die Art der Anthropomorphisierung (direkt, indirekt) herausgearbeitet. Die Typologie soll damit als zeichentheoretisch fundiertes Instrument für die differenzierte Beschreibung und Einordnung von Werbefiguren dienen. In der Rückschau der Analyse kann festgehalten werden, dass die Multifunktionalität der Werbefigur Herr Kaiser durch die erarbeitete Typologie sowohl benannt als auch untersucht werden konnte. So wurde Herr Kaiser als inhaltliches Ebenbild der Marke eingeordnet, das durch Symbolisierung das Markenimage mit Bedeutungen wie Kompetenz, Menschlichkeit, Männlichkeit, Sympathie und Nahbarkeit aufbauen sollte. Hier ist die Werbefigur insbesondere in Bezug auf das Signifikat der Marke und dessen Profilierung zu betrachten. In der Funktion des Symbols ist Herr Kaiser selbst die Markenbotschaft. Gleichzeitig fungiert die Figur aber auch als Botschafter – als Überbringer der Nachricht – für die Marke (Befürworter). In dieser Position wird eine pragmatische Beziehung zur Marke inszeniert. Als idealisierter Mitarbeiter (Typus) hebt Herr Kaiser von außen Markeneigenschaften und -leistungen hervor (z.B. Unternehmensgröße, Produktvorteile wie eine hohe Rendite). Herr Kaiser vermenschlicht die Marke Hamburg-Mannheimer damit sowohl indirekt als auch direkt. In der indirekten Anthropomorphisierung setzt Herr Kaiser als Vertriebler die Hamburg-Mannheimer vor allem im Hinblick auf die potenziellen Mehrwerte in ein
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
menschliches Beziehungsverhältnis zu seinen Kunden_innen (z.B. ProfiLife Produkt für den Friseur). In der direkten Anthropomorphisierung erhält die Marke Hamburg-Mannheimer durch Herrn Kaiser Handlungsfähigkeit (z.B. Herr Kaiser als handelndes Synonym für die Marke in Zeitungsartikeln). In der zweiten Kaiser-Ära zeigte sich in der Rezeption eine Loslösung der Werbefigur von der Marke Hamburg-Mannheimer. Sowohl im journalistischen Diskurs als auch in der Marktforschung wurde den Werbeverantwortlichen gespiegelt, dass Herr Kaiser immer weniger in einen Zusammenhang mit der Marke gebracht wurde oder diese in Form einer reinen Selbstreferenzialität überlagerte. In dieser Zeit konnte die Entwicklung der Figur zum emanzipierten Star nachvollzogen werden: Hier funktionierte das Vorstellungsbild von Herrn Kaiser auch ohne die Marke Hamburg-Mannheimer – wenn überhaupt, wird eher die Marke der Werbefigur zugeordnet als anders herum. Die Werbefigur ist in diesem Verhältnis dominant. Das Sekundärzeichen Herr Kaiser markierte das Nutzenbündel Hamburg-Mannheimer nicht mehr wirksam, womit auch das mit dem Zeichen Herr Kaiser verbundene Signifikat das Markensignifikat nicht mehr profilieren konnte. In der letzten Kaiser-Ära konnten dann einige Anbindungsversuche der Werbefigur an die Marke nachvollzogen werden: Zum einen die Entstereotypisierung der Vertreterfigur und zum anderen die Verwendung der Figur als formales Ebenbild der Marke. Herr Kaiser bezeichnete in dieser Ära beispielsweise Markenprodukte, Events und Firmengebäude und entwickelte sich vom Sekundär- in Richtung Primärzeichen. Zeichentheoretisch ließe sich argumentieren, dass je enger die assoziative Verbundenheit der Signifikanten (bis hin zur Kongruenz der Zeichen), desto eher wird das Figurensignifikat auch dem Markensignifikat (Image) zugerechnet. In diesem Fall können mit der Figur aufgebaute Bedeutungen auch auf das Nutzenbündel Marke transferiert werden. Die Betrachtung der Bedeutungsgenerierung (siehe dazu detailliert Kapitel C) zum Aufbau des Signifikats hat auch auf die gesellschaftliche Schnittstelle von Werbung hingewiesen. Werbung setzt auf gesellschaftlicher Mentalität und Zeitgeist auf,74 nutzt diese
74 Mentalität und Zeitgeist werden hier im Anschluss an Schmidt verstanden: „Um Aufmerksamkeit erzeugen zu können, müssen Werbetreibende versuchen, Werbebotschaften mit solchen Ideen, Überzeugungen, Werten und kulturellen Mustern (kurz: Mentalitäten) bzw. mit solchen soziokulturellen Entwicklungstendenzen (kurz: Zeitgeist) zu koppeln, von denen sie annehmen, dass sie von Auftraggebern wie Zielpublika akzeptiert oder gar gewünscht und auf jeden Fall emotional positiv konnotiert werden“ (2002, 103–4).
Reflexion des Analyseinstrumentariums
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zur ‚neuartigen‘ Bedeutungsproduktion und will darüber wieder konsumkulturelle Anschlussmöglichkeiten schaffen. Auf diese Weise ist die medial vermittelte Werbung untrennbar mit der umworbenen Zielgruppe und ihren Themen und Wertmustern verbunden. Die Untersuchung des internen Marketingdiskurses und der Werbekommunikate hat gezeigt, dass heteronormative Geschlechtervorstellungen bereits den Produktionsstrukturen zugrunde lagen und dann auch in den Medienprodukten zum Ausdruck kamen. Diese Vorstellung sozialer Ordnung wurde sowohl dafür instrumentalisiert, die Figur als Symbol in Position zu bringen (inhaltliches Ebenbild) als auch dafür, die hierarchische Stellung und die Deutungsbefugnis der Figur als Autoritätsperson (Befürworter) zu verdeutlichen. Es kann resümiert werden, dass die eingangs aufgeführte behelfsmäßige metaphorische Einordnungsleistung der Figur in der Mitarbeiterzeitschrift (u.a. Visitenkarte, menschliches Gesicht, Symbolfigur) mit der Typologie begrifflich präzise gefasst werden konnte. Die Analyse der typologischen Ausprägungen von Herrn Kaiser ermöglichte überdies einen detaillierten Blick auf das Zusammenspiel von Ausdruck und Bedeutung bei Werbefigur und Marke. So fungierte die semiotisch basierte Typologie z.B. als analytischer Ausgangspunkt, um die Emanzipationsbewegungen der Figur zu untersuchen. Die Beschreibung des Markenverhältnisses und der damit einhergehenden Werbefunktionen der Werbefigur kann auch von konzeptionellem Interesse für Werbetreibende sein. So könnte aus Marketingperspektive zugespitzt gefragt werden: Was soll mit dem Einsatz einer Werbefigur erreicht werden (Bedeutungstransfer vs. Signalwirkung)? Ist es wichtig, die Marke als potenziell handelnden Beziehungspartner zu inszenieren (direkte Anthropomorphisierung)? Wie eng soll und darf die Marke an die Figur gebunden werden (Ebenbild vs. Unterstützung)? Des Weiteren konnten mit der entwickelten Typologie verschiedene Diskurse auch vergleichend analysiert werden. So wurden neben dem internen Marketingdiskurs, der stets die ‚Verschmolzenheit‘ von Marke und Figur betonte, auch Schlaglichter der Marktrezeption (journalistischer Diskurs, Marktforschungsergebnisse) untersucht. Die Gegenüberstellung machte die Problematik des medialen Erfolgs der Figur für die Werbetreibenden deutlich: Der Erfolg ging zwar mit einer hohen Bekanntheit, aber auch mit einer Verselbstständigung und ‚Zweckentfremdung‘ der Figur einher und lief damit dem Wer-
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Marken- und werbestrategische Verortung der Werbefigur Herr Kaiser
bezweck zuwider. Bei Herrn Kaiser zeigte sich eine Art ‚Eigenleben‘ in der medienkulturellen Zirkulation außerhalb der Hamburg-Mannheimer Werbewelt (siehe dazu detailliert Kapitel C). Die Werbetreibenden versuchten indes durch kontinuierliche Reflexion und Anpassung der Figur und ihres Narrativs die Deutungshoheit über sie zu erhalten. Die Einblicke in die externe Rezeption machten jedoch auch ganz deutlich, dass interne Strategie und mediale Werbeumsetzung sich nicht zwangsläufig in eine entsprechende Rezeptionswirkung übersetzen ließen.
5
Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien zur Vermenschlichung der Werbefigur Herr Kaiser
In der Nachzeichnung des Verhältnisses der Figur Herr Kaiser zur Marke HamburgMannheimer wurden auch die Ausprägungen der direkten und indirekten Anthropomorphisierung der Marke durch die Werbefigur untersucht. Dabei ging es darum, nachzuvollziehen, in welcher Hinsicht die Marke durch die Figur vermenschlicht wird: Wird sie durch die Einbindung in einen menschlichen Kontext oder durch die Personifizierung von Markeneigenschaften anthropomorphisiert? Nun sollen ergänzend dazu in grundsätzlicherer Weise unterschiedliche Strategien betrachtet werden, die zur Vermenschlichung der Figur selbst (und damit in letzter Konsequenz der Marke) genutzt worden sind. Bei aller Rekonzeption der Werbefigur Herr Kaiser kann die Vermenschlichung der Marke als durchgängiges Programm bezeichnet werden. Nach eigenen Angaben suchte der damalige Werbeleiter Fiebig „[…] 1972 nach Möglichkeiten […], den öffentlichen Auftritt der Hamburg-Mannheimer zu personifizieren und dadurch die Hamburg-Mannheimer den Kunden menschlich näher zu bringen“ (EA Eidesstattliche Versicherung 1989). Die erste Werbelinie mit Herrn Kaiser wurde in der Mitarbeiterzeitschrift wie folgt kommentiert: So besteht die neue Konzeption mit den Schlagzeilen ‚Man kennt uns‘, ‚Man braucht uns‘ oder ‚Man traut uns‘ im wesentlichen aus zwei Komponenten: der Größe, weil dieses Attribut von den meisten Menschen mit Qualität gleichgesetzt wird, und der Vermenschlichung der Gesellschaft. (EA HM-Forum 1974 (2), 32)
Die Anthropomorphisierung der Marke war nicht nur ein implizites, sondern ein explizites Bestreben der Hamburg-Mannheimer Werbeverantwortlichen. Herr Kaiser wurde dabei als wertvolles Mittel zum Zweck betrachtet. Im theoretischen Teil des Kapitels wurde Anthropomorphismus dem Anthropologen Guthrie (1995, 62) folgend als die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften auf nichtmenschliche Dinge definiert. Anthropomorphismus basiert, so wurde weiter aufgeführt, auf einer dem Menschen eigenen Tendenz, seine Umwelt wahrzunehmen. Die Erklärungsansätze für diese Wahrnehmungstendenz reichen von der Risikoreduktion über Sinnfindung bis hin zur Kontrolle der Umwelt. In der identitätsorientierten Markenfüh-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_5
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Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
rung sollen aus dieser Wahrnehmungstendenz Vorteile gezogen werden: Neben der Generierung von Aufmerksamkeit soll eine Marke mit ‚Persönlichkeit‘ für Konsument_innen als produktiver Ansatzpunkt für den Ausdruck des eigenen Selbstkonzepts und für das Eingehen von Konsument-Marke-Beziehungen dienen. Die Vermenschlichung einer Marke soll dieser Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben und sie als aktiven Beziehungspartner positionieren. Der Einsatz von Werbefiguren kann als ‚explizitester‘ (Delbaere, McQuarrie und Phillips 2011, 122) Ausdruck dieser Anthropomorphisierungsbemühungen betrachtet werden. Aufgrund dieser besonderen Stellung der Anthropomorphisierung im Figur-Marke-Verhältnis soll diese im Fallbeispiel Herr Kaiser nochmals näher betrachtet werden. In Khogeers (2013, 59) Kontinuum wurde ersichtlich, dass unterschiedlichste Verfahren oder Strategien zur Anthropomorphisierung von Werbefiguren ausgemacht werden können (z.B. Vokabular, aufrechte Haltung, Gliedmaßen). Nun interessiert im Hinblick auf Herrn Kaiser, mit welchen Hints er anthropomorphisiert werden sollte. Dabei geht es an dieser Stelle um die Vermenschlichung, das heißt um die Frage: Welche Inszenierungsaspekte führen zu der Suggestion, dass Herr Kaiser ein Mensch ist? Es soll nicht die ‚Menschlichkeit‘ (im Sinne von Vertrauenswürdigkeit, Empathie o.ä.) als Wert thematisiert werden. Dass Herr Kaiser eine menschliche Figur ist, wird innerhalb der Werbekommunikation immer wieder durch indexikalische Zeichen authentifiziert. Ein Ratgeber-Buch der Hamburg-Mannheimer wurde 1991 beispielsweise in Anzeigen beworben als „Ein persönlicher Tip von Herrn Kaiser“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996) (Abb. 18). Die Referenz auf das Persönliche und Individuelle wird zudem ‚verifiziert‘ durch die handschriftlich anmutende Unterschrift mit der Grußformel „Ihr Günter Kaiser“.75
75
Bereits 1983/84 wurde Herrn Kaisers Unterschrift in einer Anzeige suggeriert (EA Werbeanzeigen 19721996). Jedoch erst in der Schwarzmann-Ära wurde die Handschrift der Figur regelmäßig eingesetzt.
Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
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Abb. 18: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1991 mit ‚persönlichem Tip‘ und Unterschrift (EA forum 1991 (1), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved), rechts: Anzeigenausschnitt
Die Unterschrift fungiert als Spur des menschlichen, nun vermeintlich identifizierbaren Kommunikationsursprungs. Im Jahr 1994 wird auch der Slogan ‚Mehr vom Leben‘ als handschriftliches, kaiserliches Versprechen inszeniert (EA Jubiläumsbuch 1999, 105). Das Markenversprechen wird damit über die Figur kanalisiert und konkretisiert: Kein großes, anonymes Unternehmen, sondern der Mensch Günter Kaiser steht dafür ein (Abb. 19).
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Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
Abb. 19: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1996 mit ‚handschriftlichem‘ Slogan (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Herr Kaiser wird in Anzeigen zudem als konkreter Ansprechpartner und Empfänger von Antwortcoupons angegeben: „Fragen Sie Günter Kaiser oder einen seiner Kollegen“ (EA forum 1983 (4), 17). Wie Fournier bemerkt, muss die Marke, um als Beziehungspartner infrage zu kommen, Aktivität zeigen. Durch die implizierte Adressierungsfähigkeit wird über die Figur Herrn Kaiser Interaktionspotenzial für die Marke suggeriert. Günter Kaiser impliziert den Rezipient_innen somit eine konkrete Anschlussmöglichkeit an die Werbekommunikation. Sowohl die angestrebte Positionierung der Werbefigur als Adressat als auch die Positionierung der Figur als Beziehungsangebot soll über das Konzept der parasozialen Interaktion und parasozialen Beziehung detailliert in Kapitel D beleuchtet werden. An dieser Stelle soll es daher weniger um Adressierungsaspekte und die mit den Zuschauer_innen angestrebte Kommunikation gehen. Vielmehr wird im Folgenden die Inszenierung der Beziehungsfähigkeit der Figur Herr Kaiser in den Blick genommen. Das Bestreben die Marke als Beziehungsangebot zu positionieren wird bereits in der ersten Kaiser-Werbekampagne mit den Schlagworten ‚Man kennt uns‘ deutlich. Sowohl über das überschwängliche Grüßen der Werbefigur (‚Hallo, Herr Kaiser!‘) als auch durch das spätere proaktive Einholen von Ratschlägen durch Kund_innen wird Herr Kaiser als
Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
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Beziehungspartner inszeniert – und über ihn die Hamburg-Mannheimer. In einem Werbespot von 1974 schließt eine Kundin beispielsweise aus der wiederholten Begrüßung von Herrn Kaiser mit ‚Hallo, Herr Kaiser‘, dass die Hamburg-Mannheimer aber auch jeder kenne. Durch diese rhetorische Wendung wird die Gleichsetzung von Figur und Hamburg-Mannheimer nahegelegt, womit das ‚Kennen‘ von einer menschlichen Figur auf ein abstraktes wirtschaftliches Konstrukt transferiert wird. Wie in der Skizzierung des Werbespots von 1972 bereits deutlich wurde, impliziert die inszenierte Nähe der Figur zu seinen Kund_innen ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis und eine enge Beziehung. Die Nähe suggeriert, dass Herr Kaiser nicht nur Verträge verkauft. Er berät seine Kund_innen so gut, dass diese sich über ein Wiedersehen freuen. In diese Inszenierung des persönlichen Kennens wird in einem Werbespot von 1976 auch die mediale Dimension integriert und reflektiert (Abb. 20). Damit wird das ‚Kennen‘ kommunikativ von der persönlichen Begegnung gelöst.
Abb. 20: Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1976 (EA Werbespot 1976, 00:00:02; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Der Werbespot zeigt einen Mann, der aus dem Auto heraus auf Herrn Kaiser deutet und feststellt: „Den kenn’ ich doch vom Fernsehen“ (EA Werbespot 1976, 00:00:0100:00:02). Damit begibt er sich in zweifacher Weise in die Position der Rezipient_innen: Zum einen wird das ‚Kennen‘ dem Medium zugeschrieben, aus dem auch die Zuschauer_innen die Figur kennen (wie in der Rezeptionssituation selbst deutlich wird). Zum anderen wird der mediale Rahmen selbst inszeniert. Das heißt, dass der Mann Herrn
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Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
Kaiser aus einer ähnlich gerahmten Situation erkennt, aus der auch Rezipient_innen die Figur wahrnehmen. Das geäußerte diffuse Kennen aus dem Fernsehen wird von der Fahrerin nahezu gerügt und auf die konkrete ‚Person‘ Herr Kaiser hin spezifiziert: „Na klar, das ist doch der Mann von der Hamburg-Mannheimer, Herr Kaiser“ (EA Werbespot 1976, 00:00:02-00:00:05). Die medial inszenierte Beobachtungssituation der beiden wird mit der Rezeptionssituation gespiegelt. Damit wird die darauffolgende Szene, die Herrn Kaiser im Gespräch mit einer älteren Dame zeigt, näher gerückt. Dieses Gespräch zeigt wiederum die Gleichsetzung von Herrn Kaiser und der Hamburg-Mannheimer an und verdeutlicht das Vertrauensverhältnis zwischen der Figur und seiner Kundin: Ältere Dame: „Also wie prompt das mit der Auszahlung meiner Versicherung geklappt hat.“ Herr Kaiser: „Na sehen Sie, Frau Lorenz, das habe ich Ihnen doch gesagt.“ Enkel der älteren Dame kommt angelaufen: „Hallo, Omi, hallo, Omi! Tach, Herr Kaiser!“ Herr Kaiser fährt dem kleinen Jungen durchs Haar: „Nanu, Du kennst mich noch?“ Abbinder, Voice-Over: „Ja, man kennt uns. Hamburg-Mannheimer.“ (EA Werbespot 1976, 00:00:06-00:00:20)
Herr Kaiser kennt den Namen seiner Kundin auch noch lange Zeit nach Vertragsabschluss, was eine lückenlose Betreuung suggeriert. Selbst dem Enkel ist Herr Kaiser in so guter Erinnerung geblieben, dass er ihn auch nach langer Zeit wiedererkennt und ihm vertraut begegnet. Die Versicherungsauszahlung tritt so ein, wie Herr Kaiser es versprochen hat. Das bedeutet: Die Hamburg-Mannheimer hält ihre Versprechen. Die mediale Dimension der werbeseitig angestrebten und inszenierten Beziehung wird auch in werbeexternen Medien reflektiert. Ein WAZ Artikel von 1996 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997), der die Frage nach Herrn Kaisers Verbleib in der Hamburg-Mannheimer Werbung thematisiert, wird von einer Skizze ergänzt: Sie zeigt den stilisierten Herrn Kaiser mit Seitenscheitel, Brille, Anzug und einer Police unter dem Arm. Er begegnet einem Herrn auf der Straße, der ihn durch ein freundliches Ziehen des Huts begrüßt. Der Clou: Um Herrn Kaisers Kopf ist mit einigen Zeichenstrichen ein Fernsehbildschirm angedeutet. Die Abbildung des Mediums, das die Figur bekannt gemacht hat, deutet das Changieren zwischen dem Gefühl des persönlichen Kennens und des lediglich medial Vermittelten an. Herr Kaiser ist in diesem Sinne ein medialer Centaur: Zur Hälfte ein Medienphänomen (der vom Bildschirm gerahmte Kopf) und zur Hälfte ein ‚alter Bekannter‘, der einem potenziell auf der Straße begegnen könnte. Die bereits erwähnte Kaiser-Tour zur FIFA-Weltmeisterschaft 2006 zeigt außerdem, dass die Werbefigur Günter Kaiser nicht lediglich an die technisch-mediale Übermittlung
Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
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gebunden wurde. Hier war an einigen Aktionstagen (z.B. in Köln und Hamburg) der echte Herr Kaiser vor Ort und stand für gemeinsame Fotos und Interviews bereit (EA forum 2004 (3), 42–43; EA forum 2004 (5), o. S.). Die Menschlichkeit und Nahbarkeit der Figur wurde auch bei einem Gewinnspiel demonstriert, von dem die Hamburger Morgenpost 1993 berichtete: Aber Hallo! Herr Kaiser verschenkte fünf Räder Am Sonnabend nachmittag [sic!] lockten Radio-Spots und eine Morgenpost-Anzeige ganze Hundertschaften von Hamburgern auf den Gänsemarkt. Sie waren auf der Suche nach Herrn Kaiser, dem Versicherungs-Experten der Hamburg-Mannheimer. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)
Mit diesen unvermittelten Events wird das mediale Beziehungsangebot in die Wirklichkeit verlängert. Die mediale Weiterverarbeitung der Ereignisse in einem anderen Kontext als dem der Werbung – und damit in einem als weniger manipulativ besetzten Kontext – sichert Reichweite. So kamen bei der Kaiser-Tour laut Hamburg-Mannheimer Angaben rund 220.000 Besucher (EA forum 2006 (5), 20) – und viele von Ihnen hatten Gelegenheit, Herrn Kaiser persönlich kennenzulernen. Die bundesweite Berichterstattung, so wurde weiter in der forum berichtet, umfasste 424 Artikel in Zeitungen und Zeitschriften (EA forum 2006 (5), 20). Durch diese Berichterstattung geschieht eine mediale Multiplikation des unmittelbaren, persönlichen Eindrucks von Herrn Kaiser. Sie deutet den Rezipient_innen (wiederum medial vermittelt) an, dass das werblich kommunizierte Dialogangebot theoretisch einlösbar ist und nicht der oftmals im Werbekontext propagierten kommunikativen Einbahnstraße entspricht. Es wird suggeriert, dass Herr Kaiser ein Mensch zum Anfassen ist. Zum letzten Kaiser-Darsteller Wilder schreibt das Handelsblatt 2008: [D]er Schauspieler [ist] im Jahr 50 bis 70 Tage als Herr Kaiser unterwegs, dreht kleine Filme, fährt auf Messen und tritt als Stargast auf Betriebsversammlungen auf. Er ist zum Anfassen konzipiert worden und verhält sich auch so. (EA forum 2009 (1), 23)
Die kontinuierliche Inszenierung von Herrn Kaiser als Beziehungspartner wirkte sich auf die Kommunikation mit und über Mitarbeiter_innen der Hamburg-Mannheimer aus. So wurde ‚der Mann von der Hamburg-Mannheimer‘ auch auf seine realen Pendants projiziert. Eine Zeitung76 titelte 1992 ‚beispielsweise „‚Herr Kaiser‘ ist umgezogen“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997) und meinte damit einen lokalen
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Der Zeitungsname ist aus dem im Archiv aufbewahrten Zeitungsausschnitt nicht mehr ermittelbar.
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Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
Vertreter, der in neue Büroräumlichkeiten gezogen war. Auch der ehemalige Vorstandsvorsitzende Dieter Nonhoff wurde, so berichtete das Hamburger Abendblatt 1997, gelegentlich mit Herrn Kaiser angesprochen (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Die Superbrands Publikation attestierte Herrn Kaiser 2005 ‚jeden einzelnen Versicherungsprofi‘ zu repräsentieren (Sadler 2005, 55). Es mutet jedoch eher so an, dass umgekehrt jeder einzelne Versicherungsprofi die exponierte und dominante Figur repräsentierte. Es kann resümiert werden, dass die Figur Günter Kaiser und über sie die Marke Hamburg-Mannheimer mit den unterschiedlichsten Anthropomorphisierungsstrategien vermenschlicht werden sollte (Abb. 21): Vom Einsatz indexikalischer Zeichen der Menschlichkeit über die kontinuierliche Inszenierung der Figur als Beziehungspartner bis hin zum Einsatz von Günter Kaiser auf unvermittelten PR-Events. Die aktive Verzahnung mit der Marke Hamburg-Mannheimer geschah unter anderem durch die rhetorische Gleichsetzung von Werbefigur und Unternehmen in den Kommunikaten und durch die Nutzung des Namens der Figur für Slogans, Produkte und Events.
Betrachtung ausgewählter Anthropomorphisierungsstrategien
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Abb. 21: Anthropomorphisierungsstrategien zur Vermenschlichung von Herrn Kaiser und der HamburgMannheimer (eigene Darstellung; Bildquellen: EA forum 1991 (1), o. S.; EA Werbeanzeigen 1972-1996; EA forum 2004 (5), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die verschiedenen Strategien suggerierten eine potenzielle Reziprozität und Unvermitteltheit der Figur. Die Zielsetzung der Vermenschlichung der Dienstleistungsmarke Hamburg-Mannheimer wurde vorab durch die Werbeverantwortlichen formuliert: Die Anonymität des großen Unternehmens sollte abgewendet und die Positionierung als sympathischer Partner erreicht werden. Diese Überlegungen lassen sich auch in den theoretisch diskutierten Anthropomorphisierungsmotiven wiederfinden: Herr Kaiser sollte zum einen das Unbekannte, Unmenschliche und Abstrakte näherbringen und konkretisieren und zum anderen die Interaktion mit dem Unternehmen Hamburg-Mannheimer vereinfachen.
C
Bedeutungsgenerierung und Zirkulation
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Werbefiguren als Symbole
Werbefiguren sind im strategischen Kontext der Markenführung als ‚Bedeutungsmanagement‘ ein wichtiger Teil der Bedeutungsgenerierung. Dabei sind sie in vielen Fällen selbst Träger von Bedeutungen, die auf die Marke transferiert werden sollen. An dieser Stelle soll daher herausgestellt werden, dass Werbefiguren insbesondere in Symbolisierungsprozesse eingebunden sind. Auch die Gattungsspezifik der Werbung trägt dazu bei, dass Werbefiguren in unterschiedlichen Ausprägungen und in unterschiedlichem Ausmaß indirekte Bedeutungen transportieren. Wie Eder zum Zusammenhang von Gattungsspezifik und der Gestaltung von Werbefiguren bemerkt: Da Werbung kurz und auffällig sein soll, spielen verdichtende Verfahren der Symbolisierung, Assoziation, Metaphorik, Allegorie oder Personifikation bei der Figurengestaltung eine wichtigere Rolle als etwa im Spielfilm. Zudem ist die Symbolik von Werbefiguren durch ihren funktionalen Bezug zu Waren bestimmt: Abstrakte oder überkomplexe Bedeutungen werden zu konkreten, einprägsamen Wesen verlebendigt, häufig sind dies Phantasiekreaturen oder Tiere, die mit den Logos und Claims einer Marke verbunden sind. Symbolische Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur als erfundene Wesen mit körperlichen, mentalen und sozialen Merkmalen präsent sind, sondern darüber hinaus für verschiedene weitere Dinge stehen. (2010, 307)
Eder geht also davon aus, dass die Symbolisierung eine zentrale Aufgabe von Werbefiguren ist. Der Begriff des Symbols im Hinblick auf die Figur wird, wie im vorangegangenen Kapitel bereits eingeführt, im Anschluss an Eder so verwendet, „[…] dass eine Figur als Zeichen, Sinnbild oder Ausdruck für etwas Anderes, meist Abstraktes steht, für eine indirekte Bedeutung“ (2014, 529).77 Im Folgenden wird in Bezug auf Eder ein Überblick über unterschiedliche Arten der symbolischen Einbindung in Werbetexte gegeben. Nach dieser einleitenden Konturierung der Werbefigur als Symbol soll im anschließenden Abschnitt die Bedeutungsgenerierung der Werbefigur untersucht werden. Werbefiguren können als Symbole fungieren, indem sie die Positionierung der Marke übersetzen, also für die Aussagen und Werte stehen, die die Marke für sich reklamieren möchte: So ist der Marlboro-Mann als viriler Cowboy, der sich nach getaner Arbeit in
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Eder weist darauf hin, dass die Generierung indirekter Bedeutungen durch Figuren als Symbol mit unterschiedlichen Termini beschrieben werden kann: „Je nach Art der Bedeutungskonstruktion spricht man von Thematik, Symbolik, Metaphorik, Exemplifikation oder Personifikation“ (2014, 540). Die verschiedenen Ausprägungen werden an dieser Stelle nicht weiter ausdifferenziert und unter dem Begriff der Symbolisierung gefasst.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_6
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der rauen Natur eine Zigarette anzündet, ein Symbol für Abenteuer, Freiheit und Männlichkeit. Die Werbefigur konkretisiert in diesem Fall abstrakte Werte für die Marke. Noch deutlicher zeigt sich die ‚Konkretisierung des Abstrakten‘ (Eder 2014, 540) am Beispiel der Telekom. In der Telekommunikationsbranche sind die Services nicht vorab sinnlich erfassbar (wie zum Beispiel die Qualität eines Apfels im Einzelhandel), sondern hängen in hohem Maße vom Vertrauen ab, das dem Anbieter entgegengebracht wird. Leistungsangaben geben der potenziellen Kund_in keine Auskunft darüber, ob diese tatsächlich eingehalten werden oder ob die Leitungen stabil sind. Diesem Dilemma begegnet die Telekom bereits in ihrem Slogan ‚Erleben, was verbindet‘. Das Verbindende kann nicht vorab geprüft, sondern nur in der Nutzung indirekt erfahren werden. Es wird zudem über die Werbefiguren-Konstellation der Familie Heins demonstriert. Deren Verbindung untereinander symbolisiert einerseits die Leistung der Telekom und wird andererseits durch diese Leistung erst ermöglicht. Mit Figuren wie dem Esso-Tiger können schwer erklär- und verargumentierbare Sachverhalte metaphorisch vorgebracht werden. Würde sich die werbliche Umsetzung darauf konzentrieren, die Produkteigenschaft ‚besonders kraftvolles Benzin‘ mit faktischen Argumenten zu belegen, wäre dies für das Gros der Zuschauer_innen weder verständlich noch merkfähig. Stattdessen wird mit dem Esso Benzin der ‚Tiger in den Tank gepackt‘. Die Produkteigenschaften werden in einem Werbespot wie folgt beschrieben: „Das ist Esso Extra. Esso Extra gibt Ihrem Motor die Geschmeidigkeit des Tigers, die Energie des Tigers, das Temperament des Tigers“ (CarsablancaTV 2009, 00:00:5900:01:13)78. Auf die Frage des Autobesitzers: „Na, ist der Tiger jetzt drin?“ (CarsablancaTV 2009, 00:01:16-00:01:19) antwortet eine Mischung aus Motorengeräusch und Tigergebrüll aus der Tanköffnung. Eine weitere Funktion der Werbefigur als Symbol ist die Ermöglichung der Darstellung des Tabuisierten (Eder 2014, 540). Beispiele dafür sind der Charmin-Bär, der die Sanftheit des Toilettenpapiers hervorhebt, oder das Darmol-Männchen, das für eine ‚gute Nacht‘ steht, dadurch dass es um das richtige Mittel bei Magen-Darm-Problemen weiß (Abb. 22).
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Der betreffende Esso Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Abb. 22: Darmol-Männchen (Darmol Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Dr. A. & L. Schmidgall GmbH & Co KG [2020]. All Rights Reserved)
Werbefiguren können auch Bedürfnisse symbolisieren, „[…] die durch das Beworbene befriedigt werden“ (Eder 2010, 308) oder „[…] Negatives, von dem sich die Marke abgrenzen will“ (Eder 2010, 308; Hervorhebung im Original). In diese Kategorie fallen beispielsweise der Kleine Hunger oder der Gilb. Weiterhin sind Verweise auf Produzentenoder Adressatenmerkmale möglich (Eder 2010, 308). Dies kann wie beim Spee-Fuchs indirekt geschehen, der als Verkörperung der ‚schlauen Art zu waschen‘ auf die Cleverness der preisbewussten Konsument_innen hinweist. Solche Verweise können auch durch offensichtlichere Bezüge auf die anvisierte Zielgruppe erfolgen. Die Generalin (Der General) symbolisiert das Streben nach Sauberkeit und die ‚militärische‘ Befähigung der Hausfrau zur glänzenden Reinigung durch das Putzmittel. Diese Werbefiguren stellen in ihrer symbolischen Funktion zudem ‚lebensweltliche Bezüge‘ (Eder 2014, 540) her. So verbindet beispielsweise Frau Renate die Einfachheit und Gelinggarantie (Qualität) der Dr. Oetker-Produkte mit der vorbildlichen und stark eingespannten Hausfrau, die auf eben diese Eigenschaften angewiesen ist. In dieser Übersicht wird deutlich, dass sich Symbolisierungen durch die verschiedensten Ausgestaltungen der Werbefigur ziehen. Auch bei Werbefiguren, die einen spezifischen Typus darstellen, werden oftmals indirekte Bedeutungen wie Fürsorge, Expertise (und damit die Befähigung Qualität zuzuschreiben) oder Verlässlichkeit (Werbefigur als Beispiel dafür, wie Geschäfte gemacht werden) transportiert. Wie im nächsten Abschnitt aufgezeigt werden wird, können auch Präsenzsignale wie der Weiße Riese, die durch ihre
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Signalwirkung und Nähe zum Markenprodukt gekennzeichnet sind, eine starke Bildsymbolik aufweisen. Die Werbefiguren unterstützen den Markenaufbau also damit, entweder selbst Werte bzw. Eigenschaften zu verkörpern oder durch ihre Gestaltung und Handlung auf solche hinzuweisen, die die Marke für sich reklamieren möchte. Werbefiguren sind somit oftmals für sich genommen bereits eine Botschaft – womit sie anthropomorphe und kompakte Bedeutungseinheiten darstellen. So kommen sie den Anforderungen der Werbung nach Prägnanz, Verdichtung (Zeitökonomie) und Emotionalisierung nach.
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Wie generieren Werbefiguren als Symbole Bedeutung? Eder, auf den bislang maßgeblich Bezug genommen worden ist, leitet seine Betrachtung der Figur als Symbol in Die Figur im Film wie folgt ein: „Figuren können durch Symbole oder Metaphern charakterisiert werden, hier geht es jedoch darum, dass sie selbst als Symbole oder Metaphern fungieren“ (2014, 530). Bei der Werbefigur trifft jedoch, so möchte ich argumentieren, beides zu. Die an genannter Stelle von Eder vorgenommene Abgrenzung kann demnach in Bezug auf die Werbefigur verknüpft und wie folgt reformuliert werden: Die Werbefigur fungiert als Symbol, das selbst durch Symbole oder Metaphern charakterisiert wird. An anderer Stelle bemerkt Eder, speziell auf Werbefiguren bezogen: Darüber hinaus sind Werbefiguren häufig intermedial angelegt. Sie haben ihre eigene Mediengeschichte und treten in crossmedialen Kampagnen auf; bei ihrer Gestaltung werden Traditionen aller Künste und Medienbereiche ausgebeutet, zitiert und parodiert. Manche Figuren werden direkt aus bekannten Vorlagen importiert […]; andere werden durch vertraute Bilder, Songs, Dialoge oder Stile charakterisiert. (2010, 317; Hervorhebung im Original)
Diese Feststellung bezieht sich auf die von mir beabsichtigte Verbindung beider symbolischer Dimensionen (die Figur als Symbol und die Gestaltung durch Symbole, Metaphern, Zitate, assoziative Bereiche etc.). Auch Andree (2010, 85–86) stellt die Bedeutung von Metaphern heraus und bezeichnet Testimonials als ‚Vehikel‘, die metaphorisch den ‚Tenor‘ einer Marke transportieren.79
Abb. 23: Weißer Riese (Henkel Lifetimes Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved)
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Unter Marken-Testimonials fasst Andree (2010, 85) sowohl fiktive als auch reale Testimonials. Der ‚Tenor‘ kann als Markenpositionierung(saspekt) verstanden werden.
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Zur Verdeutlichung kann der Weiße Riese herangezogen werden (Abb. 23): Die Werbefigur eines Waschmittels symbolisiert übergeordnet ‚überlegene Riesenwaschkraft‘. Wie ist die Figur gestaltet? Der Weiße Riese symbolisiert durch seine Gestalt das, wofür er steht: Riesenwaschkraft und strahlendes Weiß. Sowohl dem Namen nach als auch in der visuellen Darstellung ist die Figur ein Riese, womit sie in seinen Dimensionen überlegen ist und mythologische Assoziationen rund um kraftprotzende, schwer überwindbare und streitbare Wesen anzapft. Durch sein magisches Wesen (in der Tradition einiger Hauskobolde) begründet der Weiße Riese die Fähigkeit weißer zu waschen als andere Reinigungsmittel und kann als übernatürlicher Haushaltshelfer agieren. Sowohl der Name als auch sein Körper referieren auf die Farbe Weiß und fungieren so als indexikalisches Zeichen für das strahlende Wäscheergebnis, das er verspricht. Schlussendlich krönt sein Phantasiehaupt eine Krone – selbst ein starkes Symbol für Königlichkeit, Macht und Überlegenheit. Er personifiziert das Markenprodukt nicht nur inhaltlich, sondern auch formal: Sein kastenförmiger Körper lässt ihn zur Personifikation der Waschmittelpackung werden. Die aufgebauten Bedeutungen sind untrennbar mit dem Markenprodukt verbunden. Die Figur ist nicht nur als Ganzes ein Symbol, sie generiert ihre Bedeutung selbst erst durch vielfache Verweise, Bezugnahmen und Entlehnungen. Mit anderen Worten: In der Kompaktheit der Figur entspinnt sich das, was Roland Barthes als sekundäres semiologisches System oder kurz Mythos bezeichnet hat. Als sekundäre semiologische Systeme bezeichnet Barthes (2013, 251–75) Zeichensysteme, die auf bereits bestehenden Zeichenketten aufsetzen und so ihre eigene Bedeutung generieren. Barthes versteht den Mythos als besondere Form des Bedeutens, als eine Rede – genauer gesagt als eine exzessiv begründete und ‚unschuldige‘ Rede. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, warum die Einordnung der Werbefigur als Mythos insbesondere vor deren persuasiven Hintergrund Relevanz hat.80
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Auch Phillips (1996, 148–49) weist darauf hin, dass Werbefiguren über das Kommunikationssystem des Mythos (im Sinne Barthes’) Bedeutung transportieren. Dabei bezeichnet Phillips Werbefiguren allerdings als Archetypen, als Akteure innerhalb des Mythos. Diese Beobachtung soll an dieser Stelle insofern zugespitzt werden, als dass nicht nur die Werbetexte, sondern die Figuren selbst als Mythos betrachtet werden. Indem Phillips (1996, 149) verdeutlicht, dass Werbefiguren aus leicht verständlichen Signifikanten konzipiert werden müssten, steuert sie ihre Argumentation in dieselbe Richtung. „As a result, advertisers frequently use animal trade characters because they are standard mythical symbols of human qualities. […] Advertisers link these animals to their products because consumers intuitively know what the animals ‚mean‘ and can therefore transfer that cultural meaning to the brand” (Phillips 1996, 149). Auch Andree (2010, 95) macht auf den unterschiedlichsten erzählstrukturellen und inhaltlichen Ebenen deutlich, wie eng
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„[…] [D]er Mythos […] ist eine Weise des Bedeutens, eine Form“ (Barthes 2013, 251) und damit unabhängig von seinem Gegenstand, sodass Barthes zufolge alles zum Mythos werden kann. Der Mythos baut seine Bedeutung auf, indem er die bereits bedeutenden Zeichen des ersten Zeichensystems zur Form, das heißt zu seinem Signifikanten, werden lässt. Das Zeichen des ersten Systems kann noch als Sinn (mit einer eigenen Bedeutung) bezeichnet werden. Dasselbe Zeichen wird als mythischer Signifikant zu einer bloßen Form, die den Sinn in seinen Dienst stellt. Der Signifikant des Mythos ist als Sinn (des ersten Systems) und Form (des zweiten Systems oder Mythos) sowohl ‚voll‘ als auch ‚leer‘ (Barthes 2013, 262): Der wichtigste Punkt bei alldem ist jedoch, daß die Form den Sinn nicht beseitigt; sie läßt ihn verarmen, drängt ihn zurück, hält ihn sich zur Verfügung. Man glaubt, der Sinn werde sterben, aber es ist ein aufgeschobener Tod; der Sinn verliert seinen Wert, bleibt jedoch am Leben, die Form des Mythos wird von ihm zehren. Der Sinn wird der Form als leicht zugänglicher Vorrat von Geschichte dienen, als ein disponibler Reichtum, der in raschem Wechsel herangezogen und wieder fallengelassen werden kann. Die Form muß unablässig im Sinn wieder Wurzeln fassen und dort finden, wovon sie sich ihrer Natur gemäß nähren kann; vor allem aber muß sie sich in ihm verbergen können. Es ist dieses erstaunliche Versteckspiel zwischen Sinn und Form, das den Mythos ausmacht. (Barthes 2013, 263)
So hat der Weiße Riese beispielsweise den eigentlichen Sinn der Krone als Zeichen für Königlichkeit, Herrschaft und Staatsmacht zwar auf der einen Seite verdrängt, hält ihn sich aber auf der anderen Seite im Sinne seiner überlegenen Waschkraft zur Verfügung. Der Signifikant des Mythos trägt die Geschichte und Bedeutung des ersten Systems, in welchem er das Zeichen ist, und ist gleichzeitig bloße Form für den Mythos. Dieses Verfahren wird in der Werbung insbesondere in „Bezug auf etwas, dessen wir uns vorgeblich wirklich gewiss sein können […]“ (Schmidt 2002, 106; Hervorhebung im Original), nämlich auf die kulturell konstruierte Geschlechterdifferenz, angewendet. Bei den Figuren Die Generalin und Klementine beispielsweise werden Zeichen kombiniert, die als männlich oder weiblich konnotiert werden, um im Sinne eines Mythos neue Bedeutung zu schaffen. Klementine soll als selbsternannte ‚Waschmaschinenexpertin‘ den Unterschied zwischen ‚sauber‘ und ‚rein‘ erklären. Ihre Inszenierung erlaubt nun die Inanspruchnahme der weiblich konnotierten Domäne des ‚Waschens und Reinigens‘ und der männlich konnotierten Domäne der ‚(Maschinen-)Expertise‘: Die Figur suggeriert
Werbung und Mythos verknüpft sind, und spricht der Werbekommunikation, wie auch Barthes, generell den Status eines sekundären semiologischen Systems zu (2010, 95). In Bezug auf Testimonials stellt Andree ebenfalls „[d]ie Funktion der Metapher in der Entstehung der mythischen Form […]“ (2010, 85) heraus. Somit können auch Andrees Aussagen im Hinblick auf Figuren in der Werbung dahingehend zugespitzt werden, dass diese selbst als sekundäre semiologische Systeme verstanden werden können.
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ihre handwerkliche Kompetenz durch ihre Arbeitskleidung als Klempnerin (Latzhose und Mütze). Gleichzeitig ist sie eine robuste Frau im mittleren Alter, der Haushaltswissen zugeschrieben werden kann. Die Generalin wird vor den Augen des Publikums mit Komponenten einer Militäruniform be-zeichnet und so zu einer Hausfrau transformiert, die dem Schmutz ‚den Kampf ansagen kann‘. Dank dem (männlichen) General-Putzmittel wird die einfache Hausfrau selbst zur Generalin. Dabei sollen jedoch ‚typisch‘ weibliche Zeichen wie ein Rock, langes Haar oder ein Lächeln sicherstellen, dass die avisierte Bedeutung der ‚Putzkampfansage‘ nicht mit Konnotationen wie Aggression oder tatsächlicher militärischer Auseinandersetzung in Verbindung gebracht werden. Die Signifikanten stereotyper Rollenvorstellungen werden also instrumentalisiert für eine schnell verständliche, neue Werbebotschaft. Das Hauptprinzip des Mythos speist sich aus der Doppelnatur des Signifikanten: Dieses ist die Naturalisierung seines Begriffs (bzw. Signifikats) durch die partielle Motivation des Signifikanten (Barthes 2013, 273, 278). Barthes bemerkt: „Alles geschieht so, als riefe das Bild ganz natürlich den Begriff hervor, als fundierte der Signifikant das Signifikat“ (2013, 278; Hervorhebung im Original). Barthes folgert, dass es sich bei dem Mythos als Weise des Bedeutens um „[…] eine exzessiv begründete Rede“ (2013, 278; Hervorhebung im Original) handelt. Die überlegene Waschkraft des Weißen Riesen wird also unter anderem durch die genannte Krone ‚ganz natürlich‘ begründet. An Barthes angelehnt, ließe sich schließen: Der Mythos existiert genau von dem Moment an, in dem die überlegene Riesenwaschkraft in den Naturzustand übergeht.81 Diese Art des Begründens lässt Barthes zudem schlussfolgern, dass es sich beim Mythos um eine unschuldige Rede handelt: Deshalb wird der Mythos als unschuldige Rede erlebt: nicht weil seine Absichten verborgen wären – wären sie es, könnten sie nicht wirksam sein –, sondern weil sie zur Natur geworden sind. (2013, 280)
Der Mythos erscheint unschuldig und nicht interessengeleitet (Barthes 2013, 278–80) – Eigenschaften, die Werbetreibende sich zunutze machen wollen. Phillips weist in Anlehnung an Barthes auf die Marketing-Vorteile dieses semiotischen Verfahrens hin:
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Barthes schlussfolgert mit dem von ihm aufgeführten Beispiel einer Fotografie von einem schwarzen Soldaten auf einem Magazin-Cover: „Der Mythos existiert genau von dem Moment an, in dem die französische Imperialität in den Naturzustand übergeht“ (2013, 278).
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The linking together of myth and emotion gives an added advantage to the trade character; it is very difficult for consumers to pronounce a trade character or the claims the character makes ‚false.‘ Barthes states that myth is a pure ideographic system, that is, it is a system that suggests an idea without specifically naming it. Because trade characters communicate through myth, they represent ideas and attributes that are never explicitly stated, and therefore are less likely to be rejected. […] By entering into the trade character’s fantasy world, the consumer gives the character permission to exaggerate. (1996, 151)
Für die Anwendung von Barthes’ Theorie des sekundären semiologischen Systems auf die künstlichen Werbefiguren ist es wichtig anzumerken, dass die Naturalisierung der Botschaft hauptsächlich in der Doppeldeutigkeit des mythischen Signifikanten begründet liegt und nicht zwangsläufig in der Natürlichkeit der Figuren. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass Werbefiguren, die weniger konstruiert scheinen, die Botschaft noch stärker naturalisieren und begründen. Das heißt, dass menschliche Werbefiguren, die eine gepflegte und gewissenhafte Hausfrau (Frau Renate, Karin Sommer), einen kompetenten und sympathischen Geschäftspartner (1&1 Mann, Herr Kaiser) oder eine glückliche und verbundene Familie (Familie Heins) darstellen sollen, den Eindruck erwecken, genau das zu sein. Es wird suggeriert, dass zwischen Signifikant und Signifikat keine ‚Transformation‘, sondern eine ‚Aufzeichnung‘ stattfindet (Barthes 1990, 29–46).82 Wie Barthes in der bekannten Panzani-Analyse demonstriert, handelt es sich auf der Denotationsebene bei solchen (fotografischen) Darstellungen um Botschaften ohne Code: Die Signifikanten des Ausgangszeichensystem (die Darstellung einer glücklichen und verbundenen Familie) haben eine tautologische Beziehung zur eigenen Bedeutung (eine glückliche und verbundene Familie) (Barthes 1990, 29–46). Damit wird die symbolische Botschaft noch stärker naturalisiert als dies bei der Figur des Weißen Riesen der Fall war: Das denotierte Bild naturalisiert die symbolische Botschaft, es läßt den (vor allem in der Werbung) sehr differenzierten semantischen Trick der Konnotation unschuldig erscheinen; obwohl das PanzaniPlakat voll von ‚Symbolen‘ ist, bleibt in der Fotografie dennoch eine Art natürliches Dasein der Objekte, insofern die buchstäbliche Botschaft hinreichend ist: Die Natur scheint spontan die dargestellte Szene hervorzubringen; an die Stelle der einfachen Gültigkeit der offen semantischen Systeme tritt verstohlen eine Pseudowahrheit; […] Je mehr die Technik die Verbreitung der Informationen (und insbesondere der Bilder) entwickelt, um so mehr Mittel steuert sie bei, den konstruierten Sinn unter der Maske eines gegebenen Sinns zu verschleiern. (Barthes 1990, 40; Hervorhebung im Original)
Nichtsdestotrotz ist die Familie Heins das Ergebnis dessen, was nach Ansicht der Werbetreibenden am besten Verbundenheit ausdrückt. Damit sind die Figuren aus konzeptioneller Sicht – aus der Sicht eines Mythenproduzenten –83 das, was Barthes (2013, 276) 82
Barthes bezieht sich hier auf Fotografien. Barthes (2013, 275–77) verweist auf drei verschiedene Lesarten des Mythos: (1) Die Lesart des Mythenproduzenten stellt die Intention des Mythos hervor und macht ihn zum einfachen Symbol. Diese Sichtweise 83
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als Symbol bezeichnet: eine bloße Form für den Ausdruck einer bestimmten Botschaft. Der persuasiven Kommunikationsabsicht der Werbetreibenden spielt es zu, dass Bedeutung und Begründung im Mythos ‚Hand in Hand‘ gehen. Die Bedeutungsgenerierung über ein sekundäres semiologisches System trägt überdies zur Verdichtung und Prägnanz der Figur bei. Durch die Nutzung kulturell bereits gelernter Zeichen und den Einsatz wiederkehrender, markanter Attribute ist die Werbefigur zudem schnell identifizierbar und dekodierbar (Andree 2010, 81).
geht vom Begriff aus, für den eine Form gesucht wird. (2) Die Lesart des Mythologen ist entmystifizierend, sie zerstört ihre Bedeutung. Der Mythologe kann Sinn und Form klar voneinander trennen. (3) Die dritte Lesart ist die des Mythenlesers. Dieser rezipiert „[…] den Signifikanten des Mythos als unzertrennliches Ganzes von Sinn und Form […]“ (Barthes 2013, 276) und damit einen „[…] doppeldeutigen Signifikanten […]“ (Barthes 2013, 276).
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Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger: Begünstigungen der medialen und diskursiven Zirkulation der Werbefigur
Es kann zusammengefasst werden, dass die Werbefigur innerhalb der Werbekommunikation insbesondere symbolische Aufgaben wahrnimmt und in vielen Fällen selbst als kompakte Bedeutungseinheit betrachtet werden kann. Die semantische Kompaktheit der Werbefigur als Symbol und die Art und Weise der Bedeutungskonstruktion als Mythos begünstigen, so soll im Folgenden aufgezeigt werden, die Zirkulationsfähigkeit der Werbefigur durch Texte und Medien.
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Mediale und textuelle Beweglichkeit
Die Charakteristika von Werbefiguren als Symbolen sind ähnlich zu denen, die Shane Denson und Ruth Mayer (2012) seriellen Figuren in Abgrenzung zu Seriencharakteren zuschreiben. Serielle Figuren sind laut Denson und Mayer (2012, 187) flache Charaktere,84 die im Gegensatz zu Seriencharakteren keine psychologische Tiefe im Laufe der Inszenierungen entwickeln und keine komplexen Biographien oder Familiengeschichten herausbilden. Serielle Figuren sind durch ihre stete Wiedererkennbarkeit gekennzeichnet (Denson und Mayer 2012, 185) und „[…] vermehren sich durch mehr oder weniger mechanische Wiederholungen von prädeterminierten Mustern“ (Denson und Mayer 2012, 189). Demgegenüber werden Seriencharaktere klassischerweise innerhalb eines recht stabilen medialen Rahmens entwickelt und bilden Charaktere heraus (Denson und Mayer 2012, 189): Klassische Seriencharaktere existieren innerhalb einer Serie – das mediale Format der Serie stellt gewissermaßen ihre Ökosphäre, den lebensbedingenden Rahmen und Horizont, dar, der selbst nicht spektakulär thematisiert werden kann –, während serielle Figuren idealtypisch gesehen in Serie existieren: als eine Reihe von variierenden Wiederholungen, die sich nicht innerhalb eines homogenen medialen
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Denson und Mayer sprechen von ‚flachen Figuren‘. Sie bemerken: „Unsere kontrastierende Rede von Charakter vs. Figur ist also nicht willkürlich angelegt. Ein Charakter suggeriert Tiefe und Komplexität, während die Figur in ihrer Flachheit im engen Bezug zu einem Hintergrund, einem narrativen oder medialen Horizont der Inszenierung betrachtet werden muss“ (Denson und Mayer 2012, 190). An dieser Stelle wird, angelehnt an den gerundeten Charakter von Seriencharakteren, vom flachen Charakter von seriellen Figuren gesprochen.
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Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger und diegetischen Raumes, sondern zwischen oder quer zu solchen Erzählräumen entfalten. (Denson und Mayer 2012, 191; Hervorhebung im Original)
Die narrative Unabgeschlossenheit („Es gibt keine letzte Erzählung, kein Finale, das die Reihe endgültig abschließen würde“ (Denson und Mayer 2012, 189)) stellt strukturell die Fortsetzbarkeit und Wiederaufnahmefähigkeit der Figurengeschichte sicher (Denson und Mayer 2012, 189). In Anlehnung an Umberto Eco (1984, 206)85 bemerken Denson und Mayer (2012, 187), dass serielle Figuren in jeder Inszenierung einen virtuellen Anfang erfahren und keinen Anschluss an vorangegangene Inszenierungen halten müssten. Diese Wiederholung der seriellen Figur steht im Gegensatz zur Herausbildung einer linearen Biographie und eines sich ausbildenden Charakters – serielle Figuren sind und bleiben im Gegensatz zu ‚gerundeten Charakteren‘ flach (Denson und Mayer 2012, 187–88). Die Wiederholbarkeit und Flachheit der seriellen Figur emanzipiert sie wiederum von spezifischen Narrativen oder Medien: Die Iterabilität von flachen, seriellen Figuren impliziert nicht nur ihre episodische Existenz (ähnlich Cartoon-Figuren), sondern auch die Fähigkeit, sich gänzlich vom diegetischen Konstrukt einer narrativen Welt, von den damit verbundenen Kontinuitätsansprüchen und sogar von den Medien, die fiktive Welten anderenfalls unsichtbar konstruieren, zu lösen. Deshalb können sich serielle Figuren auch so umstandslos in immer neuen Erzählwelten einnisten […] und von Medium zu Medium springen […], ohne dass die Figuren dabei signifikant variieren müssten […].86 (Denson und Mayer 2012, 190)
Wie einleitend bemerkt, können einige Parallelen zwischen Werbefiguren und seriellen Figuren gezogen werden: Dadurch, dass Werbefiguren auf nur wenige Botschaften fokussiert sind und sie ihre Bedeutung hauptsächlich bildsymbolisch generieren, können sie als flacher Charakter bezeichnet werden. Werbefiguren haben zumeist keine Herkunft und keine Biographie, ihr Verhältnis zu anderen Figuren interessiert nur insofern, als dass es der Werbebotschaft zuträglich ist. Ihr Motiv bzw. ihr narratives Muster steuert nicht auf eine Auflösung oder ein Finale zu. Sie treten in den verschiedensten Medien auf. Ihre
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Denson und Mayer geben nur die Seite 206 bei Eco (1984) an, die zitierte Stelle reicht allerdings bis Seite 207. 86 Wie Denson und Mayer (2012, 199–200) anmerken, muss darauf hingewiesen werden, dass die mediale Bindung, die sie einer klassischen Serienerzählung zuschreiben, in Zeiten der Medienkonvergenz an Relevanz verliert. So ist der ‚stabile mediale Rahmen‘ bei heutigen Seriencharakteren in konvergenten Umgebungen von Netflix und Co. nicht mehr unbedingt haltbar – die Trennschärfe zwischen Seriencharakteren und seriellen Figuren geht damit insbesondere in medialer Hinsicht ein Stück weit verloren. Im Hinblick auf die Werbefigur scheint es fruchtbarer, die Variabilität der Darstellung hervorzuheben.
Mediale und textuelle Beweglichkeit
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Sozialität und Psyche werden nicht detailliert dargestellt.87 Werbefiguren stehen für wenige, stark hervorgehobene Eigenschaften, Werte, Aussagen oder Problemstellungen – sie können narrativ eingebettet sein, müssen dies aber nicht. Werbefiguren weisen demnach ebenso wie die von Denson und Mayer beschriebenen seriellen Figuren die Charakteristika der episodischen Erzählung, Unabgeschlossenheit und medialen Zirkulationsfähigkeit auf. Allerdings gilt es im Hinblick auf das Konstrukt der Werbefigur noch einige Präzisierungen vorzunehmen: Denson und Mayer sprechen im Hinblick auf die serielle Figur von „[…] Wiederholungen, Revisionen und ‚reboots‘ der eigenen Geschichte […]“ (2012, 187). Bei Werbefiguren muss angemerkt werden, dass diese nicht zwangsläufig eine eigene Geschichte haben.88 Wo Superman, Batman oder Frankensteins Monster komprimierbare Ursprungsgeschichten haben, die erklären woher sie kommen und warum sie so sind, wie sie sind, ist beispielsweise der Marlboro-Mann einfach da. Sicherlich herrscht ein gesellschaftliches Wissen um die Existenz und den Beruf von Cowboys, doch es gibt keinerlei spezifische Informationen über eben diesen Cowboy. Neben diesen oftmals knappen ‚eigenen Geschichten‘ der seriellen Figur werden darauf aufbauend Geschichten über deren Taten erzählt. So rettet beispielsweise Batman die Bürger Gothams regelmäßig vor Schurken und korrupten Machenschaften. Die Werbefigur hat demgegenüber nicht zwangsläufig ein narratives Muster, das sich herausbildet und wiederholt werden würde. So weist Andree (2010, 80) darauf hin, dass beispielweise Marlboro Kampagnen keine Geschichten erzählen, sondern ‚bildliche Assoziationsräume‘ um den Marlboro-Mann inszenieren. Der Marlboro-Mann hat keine eigene Geschichte und über ihn werden auch keine Geschichten erzählt. Diese Abgrenzungen zur seriellen Figur spitzen Densons und Mayers Argumentation meiner Ansicht nach allerdings umso mehr zu: Die Tatsache, dass es keine eigene Geschichte und kein prädeterminiertes Erzählmuster geben muss, macht Werbefiguren noch unabhängiger von spezifischen Narrativen oder Kontexten. Dadurch, dass Werbefiguren
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Diese Faktoren werden höchstens sehr fokussiert und im Sinne der symbolischen Aufgabe instrumentalisiert. Wie Eder zur Werbefigur bemerkt: „Körperlichkeit, Psyche und Sozialität der Werbefiguren unterliegen also einer Polarisierung: Viele sind eindeutig positiv besetzt, einige auch eindeutig negativ. Dagegen kommt es selten vor, dass Figuren bewusst ambivalent oder vielschichtig gestaltet sind“ (2010, 313). 88 Damit ist gemeint, dass Werbefiguren nicht unbedingt eine eigene biografische Geschichte haben. Eine Werbegeschichte der Werbefigur entwickelt sich bei langfristiger Nutzung zwangsläufig. Eine solche Werbegeschichte wurde im Falle des Michelin-Mannes sogar explizit inszeniert (Michelin 2017).
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Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger
bildsymbolisch für zentrale Botschaften oder Themen stehen, müssen sie nicht notwendigerweise narrativ eingebettet werden und sind zur Bedeutungsgenerierung nicht an eine diachrone Entwicklung gebunden. Die bildliche Symbolkraft greift auch bei verkürzten Darstellungsweisen, zum Beispiel in Anzeigen oder auf Plakaten. Sie ist also sowohl textuell als auch medial äußerst flexibel durch ihre strukturellen Eigenschaften als symbolische (oder flache) Figur. Dies bedeutet nicht, dass Werbefiguren werblich völlig willkürlich rekontextualisiert werden könnten. Anschließend an Andree ließe sich sagen, dass der ‚Tenor‘ beibehalte werden müsse. Werbefiguren können somit zwischen den Polen eines ‚prädeterminierten (narrativen) Musters‘ und einer stark fokussierten Symbolik ohne erkennbares Muster gestaltet sein. So überzeugt Tilly als Handexpertin (die damit ideal auf die pflegende Eigenschaft des Produktes hinweisen kann) immer wieder aufs Neue ihre Kundinnen bei einer Maniküre von der Pflegekraft von Palmolive. Sie wird immer wieder in demselben Muster inszeniert, wobei die Geschichten der Kundinnen variieren – ähnlich wie bei Superman oder Batman. Am anderen Ende des Spektrums stehen Werbefiguren wie der Michelin-Mann, die nicht mehr zwangsläufig ein solch typisches Muster aufweisen. Als Personifikation von qualitativ hochwertigen und damit schützenden Reifen zeigt die erste Darstellung auf einem Plakat den Reifenmann, wie er demonstrativ ein Glas voller Nägel trinkt und damit seine Widerstandsfähigkeit beweist (Anonymus 2018). In späteren Inszenierungen wird der Michelin-Mann dann in Werbespots mal als ‚Bereifer in der Not‘ gegen ‚Winterdämonen‘ oder ‚tückischen Regen‘ (WerbAll 2012b; deutsche Werbespots 2012) und dann wieder als Geburtstagskind, mit der Mission, ‚die besten Reifen der Welt zu bauen‘, dargestellt (AlteTVSpots 2013).89 Die Werbefigur ist als Symbol eine kompakte und bewegliche Bedeutungseinheit, die leicht in andere Texte transferiert und flexibel dargestellt werden kann. Als flacher Charakter weist sie Parallelen zur seriellen Figur auf: Sie ist variabel wiederholbar und dabei stets wiedererkennbar. Werbefiguren nehmen in Werbekommunikaten zumeist eine zentrale Stellung ein. Sie kondensieren die Werbebotschaft und bilden damit als wiederkehrende Figuren die werbliche Folie, vor dessen Hintergrund die Botschaft immer wieder neu gewandet wiederholt werden kann. Aus werblicher Sicht kann so Wiederholung mit Variation verbunden und Kohärenz in der Kommunikation sichergestellt werden. Die
89
Die betreffenden Michelin Werbespots sind auf den angegebenen YouTube-Kanälen zugänglich.
Variationsfähigkeit und diskursive Beweglichkeit
153
Wiederholung und Rekontextualisierung der Werbefigur soll im Folgenden näher betrachtet werden.
8.2
Variationsfähigkeit und diskursive Beweglichkeit
Barthes macht in seinen Ausführungen über das sekundäre semiologische System deutlich, dass die Bedeutungen, die sich den Rezipient_innen so unschuldig und naturalisiert präsentieren, keinesfalls festgelegt sind. Er bemerkt: Allerdings ist das im mythischen Begriff enthaltene Wissen wirr, ein aus unscharfen, unbegrenzten Assoziationen bestehendes Wissen. Man muß diese Offenheit des Begriffs betonen; er ist keineswegs eine abstrakte, gereinigte Essenz, sondern ein formloser, instabiler, nebelhafter Niederschlag […]. (Barthes 2013, 264)
Als sekundäres semiologisches System verstanden, liegt die Bedeutungszuschreibung der Werbefigur auf der konnotativen Ebene. Barthes (1990, 41–42) weist auf die mögliche Vielzahl an Lektüren hin, die das Konnotationssystem mit sich bringen kann.90 Es kann also festgehalten werden, dass die Bedeutungen eines Konnotationssystems, wie es die Werbefigur ist, nicht umfänglich bestimmt sind. Dies kann eine Erklärung für die Variationsfähigkeit der Werbefigur darstellen: Dadurch, dass sie als Konnotationssystem eine Bedeutungsoffenheit mit sich bringt, bietet sie neuen Kontexten die Anpassungsfähigkeit, die diese ihr abverlangen. Somit kann in einem gewissen Rahmen der Kontext von Kampagne zu Kampagne verändert werden. Auch die Werbefigur selbst ist für Aktualisierungen und Verschiebungen in den Bedeutungsnuancen offen. Andree (2010, 86–87) weist darauf hin, dass eine fortlaufende Aktualisierung des ‚Vehikels‘ auch notwendig sei, um einen Abnutzungseffekt zu vermeiden. Dabei verweist Andree (2010, 87) jedoch nicht auf die inhaltliche Entwicklung der Figur selbst, sondern auf die ‚ikonische Aktualisierung‘, also eine zeitgemäße modische Gestaltung.91
90
Auch Hall (1999, 102–4) weist in Anlehnung an Barthes auf die Polysemie auf konnotativer Ebene hin. Allerdings betonen beide, dass dies nicht bedeuten würde, dass die Botschaft willkürlich wäre. Es gäbe, so Hall (1999, 102–4), immer ‚bevorzugte Lesarten‘, die einer dominanten kulturellen Ordnung geschuldet seien. Barthes koppelt die Interpretation an die auf das Artefakt angewendeten Wissensart wie zum Beispiel „[…] einem praktischen, nationalen, kulturellen, ästhetischen Wissen […]“ (1990, 41). 91 Eine andere Möglichkeit der Aktualisierung ist nach Andree die Variationsbildung innerhalb der Markenwelt. So würde ein Vehikel „[…] durch fortlaufend neue semantische Stützung lebendig gehalten“ (Andree 2010, 87). Im Falle des Camel-Manns wären das beispielsweise die Camel-Trophy oder die CamelBoots (Andree 2010, 87).
154
Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger
Das variable Aktivieren der verschiedenen Bedeutungsnuancen kann an der Werbefigur Meister Proper aufgezeigt werden. Meister Proper ist ein ähnlich reichhaltiges sekundäres semiologisches System wie der Weiße Riese. Er symbolisiert eine ‚starke und glänzende Reinigungsleistung‘. Der Name besteht bereits aus einer Zusammensetzung, die eine ‚bessere Reinigungsleistung‘ markiert: Proper als Adjektiv mit Bedeutungen wie „ordentlich und sauber [gehalten]; sorgfältig, solide ausgeführt, gearbeitet“ (Duden Webseite). Die Bezeichnung ‚Meister‘ weist auf eine besondere Expertise und Erfahrung im Handwerk hin (Müller 2012, 151). So wird wiederholt eine überlegene Leistung impliziert: Es wird nicht nur sauber, sondern „[…] so sauber, ‚dass man sich drin spiegeln kann‘“ (Müller 2012, 151). Der Titel ‚Meister‘ liefert auch einen Grund für einen Vertrauensvorschuss. Müller (2012, 151) merkt an, dass die suggerierte Erfahrung durch die ergrauten Augenbrauen (Hinweis auf sein Alter), die selbstbewusste Haltung mit verschränkten Armen und dem zuversichtlichen Gesichtsausdruck verstärkt wird. Die Reinigungskraft wird zudem durch die muskelbepackten Arme und das ergebnisvorwegnehmende strahlende Weiß des T-Shirts symbolisiert (Müller 2012, 151). Die übernatürliche Anmutung ist ein weiterer Beleg dafür, besser zu reinigen als gewöhnliche Reinigungsmittel. Dieser bildsymbolische Ausgangspunkt wird nun in den einzelnen Werbekommunikaten in Reinigungsdemonstrationen integriert. Dabei hat sich Meister Proper vom reinen ‚Kraftprotz‘ zu einer ‚sexy Putzunterstützung‘ entwickelt. In einem Spot von 1988 lässt Meister Proper seine Muskeln spielen als ‚Beweis‘ (Naturalisierung und Begründung der Aussage) für seine kraftvolle Reinigungsleistung. Das neue, noch bessere Produkt erscheint als quasi natürliche Konsequenz aus der Muskelkraft Meister Propers (RetroFieber 2012)92. Diese Bedeutungsfacette wird in vergleichbarer Weise auch in einem Werbemotiv von 2020 für das Meister Proper ‚Ultra Power Spray‘ aktiviert, wobei der Produktname die ‚natürliche‘ Verbindung zur Muskelkraft der Figur noch einmal betont (for me Webseite) (Abb. 24).
92
Der betreffende Meister Proper Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Variationsfähigkeit und diskursive Beweglichkeit
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Abb. 24: Werbemotiv mit Meister Proper (for me Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Procter & Gamble Service GmbH [2020]. All Rights Reserved)
Im Jahr 1993 kann er eine Hausfrau davon abhalten, in den ‚Putzstreik‘ zu treten, indem er ihr versichert: „Der neue Meister Proper Ultra greift Ihnen beim Putzen kräftig unter die Arme“ (AlteReklame 2015, 00:00:23-00:00:28)93. Nach einer demonstrativ einfachen Bodenreinigung verspricht sie am Ende des Spots mit Blick auf den zufriedenen Meister Proper: „Bei so ’nem Mann streik’ ich nie wieder“ (AlteReklame 2015, 00:00:3300:00:36). Wie auch im erwähnten Spot von 1988 werden hier Anspielungen auf die Kraft-Komponente gemacht, aber es erfolgt auch mit einem Augenzwinkern der Hinweis, dass Meister Proper ein toller Mann sei. Wiederum ein Werbespot von 1995 betont, dass Meister Proper Produkte das Putzen erleichtern, weil Meister Proper ‚der Meister unter den Reinigern‘ sei (AlexMT81 2012)94. Hier wird also der Meister-Titel als ‚Beweisführung‘ für die Leistungsfähigkeit genutzt. In einem Werbespot von 2018 (Sangi Souji 2017)95 wird der Fokus auf Konnotationen rund um die ‚Attraktivität‘ der Werbefigur gelegt:96 Meister Proper flirtet beim Putzen mit der Dame des Hauses und kokettiert so sehr mit seinem Hüftschwung, dass sie sich erregt die Haare löst. Die Entwicklungslinie wird unter anderem von einer deutschen Frauenzeitschrift auch als solche aufgefasst und reflektiert. Dabei wird Meister Proper als erneuert, jedoch nicht als jemand anderes aufgefasst: 93
Der betreffende Meister Proper Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. Der betreffende Meister Proper Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. Der betreffende Meister Proper Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. 96 Der angesprochene Werbespot wurde als Super Bowl Ad (USA) gelauncht. Allerdings fand er sofort Eingang in den Diskurs in Deutschland, wo der Auftritt von Meister Proper verhandelt wurde. Die ‚attraktive Seite‘ Meister Propers wird allerdings auch in anderen Spots, die in Deutschland geschaltet wurden, thematisiert (TaeglichWerbung 2012; Der betreffende Meister Proper Werbespot ist auf diesem YouTubeKanal zugänglich). 94 95
156
Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger Das ist tatsächlich der gute alte Meister Proper, der in diesem Werbespot eine Frau mit seinem sexy Bodenwisch-Hüftschwung fast um den Verstand bringt. […] [D]ieser neue Meister Proper kann sich auf jeden Fall gut sehen lassen. Nicht schlecht dafür, dass die Werbe Ikone inzwischen schon fast sechzig Jahre alt ist! (Anonymus 2017)
Der Artikel verhandelt die Aktualisierung und Ausnutzung neuer Bedeutungsräume, indem daran erinnert wird, dass der alte Meister Proper „[…] seinen Job als Reinigungskraft ernst genommen hat, statt lasziv um erregte Frauen herumzutänzeln“ (Anonymus 2017) – eine Feststellung, die allerdings unter der Überschrift „Früher war nicht alles besser!“ steht. Das Resümee des Artikels wird mit der Frage eingeleitet, ob Meister Proper nun ein Sexsymbol sei, und fällt diplomatisch aus: Aber egal, ob ihr lieber den gemütlichen Wisch-Onkel von früher, oder den sexy Saubermann mit weißer Knackarsch-Hose mögt, in einem Punkt sind wir uns sicher: Wir finden jetzt nicht, dass man sich wirklich zwangsläufig in jeder einzelnen Haushalts-Kachel spiegeln können muss, aber ein Mann, der einfach mal mit Saubermacht [sic!]? […] So ein Mann ist auf jeden Fall unwiderstehlich und sehr, sehr sexy! (Anonymus 2017)
Dabei fällt auf, dass nicht nur die neu entdeckte ‚Sexiness‘ von Meister Proper thematisiert wird, sondern auch seine neue Rolle: Meister Proper putzt nun selbst, anstatt wie früher das Putzen nur meisterlich zu überwachen. Das Beispiel zeigt, dass die assoziative Beschaffenheit von Meister Proper dazu beiträgt, dass unterschiedliche Schwerpunkte in den Inszenierungen gesetzt werden können und die Figur im Werbesinne kampagnenfähig bleibt.97 Die konnotative Ebene der Werbefigur macht diese jedoch auch außerhalb des Markenkontextes verhandelbar, wie an Meister Proper nachvollzogen werden kann. In einer Artikel-Überschrift in Die Welt heißt es beispielsweise: „Meister Proper am rechten Schmutzrand“ (Schmalz 1998). Meister Proper wird zur symbolischen Beschreibung eines Politikers mit Saubermann-Image eingesetzt, der sich jedoch am rechten politischen Rand befindet. Die Figur wird zur Kondensierung und Verkürzung der journalistisch intendierten Aussage genutzt. Ähnlich mutet die Vorschau auf ein Kabarettisten-Duo an, in
97
Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, werden Werbefiguren wie Tilly oder Dr. Best in determinierten Mustern wiederholt. Hier ist der Ausgangspunkt der Variation nicht die Figur selbst, sondern die abgewandelte Wiederholung der Geschichte bzw. Inszenierung, in dessen Zentrum sie steht. Andree bemerkt, dass sich Marken-Erzählungen generell durch Variationsfähigkeit bei einem (auch eben durch die Variation sich herausbildenden) stabilen narrativen Kern auszeichnen: „Werbung soll wie ein Mythos campaignable sein, sollte also als Format Anschlussfähigkeit für serielle Ausformungen bieten. Die Variation ist dem Zweck untergeordnet, den inneren semantischen Kern zu bestätigen und am Leben zu erhalten“ (2010, 99; Hervorhebung im Original). Neue Metaphern lösen alte ab (Andree 2010, 93), womit bei gleichbleibendem narrativem Kern Variationen gebildet werden. Im Falle von Dr. Best (und Meister Proper übrigens auch) lässt sich zudem die von Andree bemerkte ikonische Aktualisierung nachvollziehen.
Variationsfähigkeit und diskursive Beweglichkeit
157
der Meister Proper ein Kommentar in den Mund gelegt wird: „Saubere Pointen! (Meister Propper [sic!], freundlicher Skinhead)“ (Ruwe und Valenske o. J.; Hervorhebung im Original). Das Oxymoron ‚freundlicher Skinhead‘ verdeutlicht, dass die Pointen keineswegs ‚sauber‘ sind. Die Assoziationen rund um das rechte politische Spektrum nährt Meister Proper mit seiner glatt polierten Glatze – gleichzeitig gibt sein ‚sauberes Image‘ es her, ihn symbolisch als ‚Wolf im Schafspelz‘ einzusetzen. Einen ganz anderen Tenor stimmt eine Filmrezension an, in der Meister Proper zur deskriptiven und zur symbolischen Einordnung genutzt wird. Es wird äußerlich eine Parallele zwischen Meister Proper und dem muskelbepackten Hauptdarsteller suggeriert und inhaltlich wiederum das SaubermannImage heraufbeschworen, was an dieser Stelle jedoch mit Langeweile konnotiert wird: Deshalb kommt dieser makellose Meister Proper auch ein bisschen langweilig daher. Trotz glänzender Frauenaugen gibt's in diesem Fantasy-Spektakel kaum Sex und weder Drogen (da Alkohol auf den gedopten Steven keine Wirkung hat, kann er seinen Frust nicht wegsaufen) noch Sarkasmus […]. (Roschy und Schmeis 2011)
An diesen beiden Beispielen wird bereits deutlich, wie vielschichtig und ergiebig ein Konnotationssystem sein kann. Die Konnotation des ‚Saubermanns‘ wird wiederum selbst mit Attributen wie Langeweile, verborgener Gefahr oder eben (im Werbesinne) mit Sauberkeit und Gewissenhaftigkeit verbunden. Insbesondere im englischsprachigen Raum wird zudem die sexuelle Orientierung von Meister Proper diskutiert. Eine Marketing-Zeitschrift analysiert diesen Umstand in einem Artikel mit der Überschrift „Hot, Bald and Possibly Gay: How Mr. Clean Has Kept It Fresh for 5 Decades“: […] citizens of the Internet have demanded to know if Mr. Clean is gay. (As early as 2000, a Mr. Clean spokesperson admitted, ‘We've been receiving questions like that for at least the past 10 years.’) Clearly, the symbolic significance of a ripped dude in a tight white T-shirt is different today than it was in 1957. (Klara 2016)
Der Bedeutungsraum von Meister Proper, oder Mr. Clean im Englischen, wird hier selbst thematisiert und anhand einzelner Signifikanten, die zu unterschiedlicher Interpretation einladen, diskutiert (Abb. 25). So wird festgehalten, dass die Glatze ursprünglich als Anlehnung an einen Geist (‚Genie‘) gedacht war, ihn heutzutage jedoch mehr wie einen Matrosen erscheinen lässt (oder in Deutschland Assoziationen zum Rechtsextremismus hervorruft).
158
Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger
Abb. 25: Meister Proper (Mr. Clean) Analyse in der Adweek (Klara 2016; mit freundlicher Genehmigung von © Procter & Gamble Service GmbH [2020]. All Rights Reserved)
Die Übersicht über die diskursive Zirkulation der Werbefigur verdeutlicht, dass diese aufgrund ihrer konnotativen Struktur verhandelbare Assoziationen hat, die auch außerhalb des Markenkontextes aktiviert werden können. Als gelerntes Symbol wird die Werbefigur zum Beispiel dazu genutzt, für etwas Abstraktes in einem anderen Kontext zu stehen. Sie bietet sich dabei zur Verkürzung von Aussagen und zur parasitären Nutzung für andere Texte an, weil sie eine kompakte Bedeutungseinheit darstellt. Das zeigen auch Redewendungen wie ‚Hochgehen wie ein HB-Männchen‘ oder ‚Aussehen wie der Michelin-Mann‘. Erstere ist zum geflügelten Wort für cholerische Ausbrüche geworden –
Variationsfähigkeit und diskursive Beweglichkeit
159
auch wenn die Erinnerung an die dazugehörigen Spots bei vielen nur noch blass sein mag. Im zweiten Beispiel wurden die Reifen des Michelin-Mannes in Fettleibigkeit umgedeutet. Bestimmte Charakteristika werden Werbefiguren entlehnt und in einen Alltagskontext integriert. Die Werbefigur wird also selbst ihrer ‚Geschichte‘ beraubt und zum Signifikant einer neuen Aussage. Eine solche Aufnahme in werbefremde Diskurse hängt unter anderem von der Prominenz, symbolischen Prägnanz, Gelerntheit und Verhandelbarkeit der Werbefigur ab. Interessanterweise schlägt Barthes (2013, 285–86) als Mittel im Kampf gegen den Mythos die Mythifizierung des Mythos selbst vor: das heißt, das Aufbauen eines weiteren semiologischen Systems auf der Zeichenkette des Mythos. Auf diese Art und Weise könn(t)en sich Journalist_innen wie Verbraucher_innen ihre ‚Werbeheld_innen‘ aneignen, ihre eigenen Bedeutungen auf dem vorhandenen Zeichensystem aufbauen und den Werbemythos ‚entzaubern‘: „Die Macht des zweiten Mythos liegt darin, den ersten als betrachtete Naivität zu begründen“ (Barthes 2013, 286). Diese Umdeutungsprozesse können selbstverständlich auch wieder Einfluss auf den Werbediskurs selbst haben: So ist zu vermuten, dass die Entwicklung von Meister Proper zu einer ‚sexy Putzunterstützung‘ auch aufgrund der Umdeutungen im Rezipientenkreis geschehen ist. Auf diese Art und Weise antwortet das Werbesystem auf den eigentlich ‚erobernden‘ Diskurs und instrumentalisiert diesen wiederum. Die Ausführungen in diesem Kapitel haben bislang einen Bogen geschlagen von der Betrachtung der Werbefigur als Symbol über ihre Bedeutungskonstruktion bis hin zu ihrer Zirkulationsfähigkeit in Texten, Medien und Diskursen. Die Werbefigur ist als Symbol ein flacher Charakter – oder passender: eine fokussierte, kompakte Bedeutungseinheit. Dies macht sie unabhängig von einer spezifischen narrativen Einbindung und auch flexibel in der medialen Darstellung. Aufgrund ihrer Bildsymbolik kann sie sowohl in Bewegtbildformaten als auch in statischen Bildmedien ‚bedeuten‘. Das Zeichenkonstrukt generiert seine Bedeutung als ein sekundäres semiologisches System, was ihre Botschaft begründet und naturalisiert. Dass Werbung semantischen Mehrwert über eine solche Struktur aufbauen möchte, ist seit den Analysen von Barthes bekannt – an dieser Stelle soll jedoch betont werden, dass die Figur selbst ein solches System darstellt. Der damit einhergehende Bedeutungsaufbau auf der Konnotationsebene macht die Werbefigur fle-
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Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger
xibel für unterschiedliche Kontextualisierungen. Sowohl Werbetreibende als auch werbefremde Diskurse nutzen die Flexibilität des Zeichenkonstrukts, indem dessen Bedeutung in neuen Kontexten oder Kampagnen verhandelt wird. Die semantische Struktur stellt damit einen wesentlichen Baustein für die Langlebigkeit vieler Werbefiguren dar: Sie trägt zur Kompaktheit und Prägnanz, Variationsfähigkeit und zur medialen und diskursiven Beweglichkeit bei.
8.3
Werbefiguren als Bestandteile integrierter Kommunikation
Da die Variationsfähigkeit und die mediale Zirkulation von Werbefiguren auch produktionsseitig eine hohe Relevanz hat – Werbefiguren sollen von Kampagne zu Kampagne und von Medium zu Medium einsetzbar sein – wird die Zirkulationsfähigkeit nochmals in werbestrategische Überlegungen eingeordnet. Dabei soll aus Marketingperspektive insbesondere die Multimodalität des Zeichenträgers herausgestellt werden. Die Zirkulationsfähigkeit von Werbefiguren muss im werbestrategischen Kontext insbesondere im Zusammenhang mit dem Ziel einer integrierten Kommunikation betrachtet werden. Als integrierte Kommunikation wird im Marketing die formal und inhaltlich aufeinander abgestimmte Kommunikation der Marke über unterschiedliche Kontaktpunkte und Kanäle bezeichnet (Kroeber-Riel und Esch 2015, 151–96). Dadurch soll eine Einheit in der Kommunikation geschaffen und ein konsistentes Erscheinungsbild bei der Zielgruppe erzeugt werden (Bruhn 2009b, 22). Werbetreibende versprechen sich von einer integrierten Kommunikation wirkungsbezogen unter anderem eine stärkere kommunikative Differenzierung vom Wettbewerb und Lerneffekte bei der Zielgruppe in Bezug auf Kommunikationsbotschaften (Bruhn 2009b, 24–25). Als übergeordnetes, ergebnisbezogenes Ziel kann aus Marketing-Sicht folgendes festgehalten werden: „Ziel ist es, durch prägnante, in sich widerspruchsfreie und damit glaubwürdige Kommunikation das Entscheidungsverhalten der Zielgruppen positiv zu beeinflussen“ (Bruhn 2009b, 23). Insbesondere im Hinblick auf eine fragmentierte Medienlandschaft und eine Vielzahl an Marken- und Informationsreizen ist es aus Marketing-Sicht wichtig, dass die Kommunikation inhaltlich und formal ‚aus einem Guss ist‘ (Bruhn 2009b, 1–3; Kroeber-Riel und Esch 2015, 19–23).
Werbefiguren als Bestandteile integrierter Kommunikation
161
Integration innerhalb der Kommunikation kann über verschiedene Dimensionen und Mittel erreicht werden: Dimensionen betreffen die Integration im Zeitablauf (Kontinuität) und die Integration zwischen den eingesetzten Kommunikationsmitteln über alle kommunikativen Kontaktpunkte im Buying Cycle hinweg. Mittel sind formale und inhaltliche Mittel zur Integration. (Kroeber-Riel und Esch 2015, 159)98
Die angesprochenen Dimensionen zielen auf die Kontinuität in der Werbekommunikation und die Orchestrierung der eingesetzten Kommunikationsmittel ab (Kroeber-Riel und Esch 2015, 159–60). Bei den Integrationsmitteln geht es um formale und inhaltliche Integrationsklammern, die, handwerklich gesprochen, die Kommunikation zusammenhalten sollen.99 Formal können klassische Corporate Design Elemente, Wort-Bild-Zeichen und Präsenzsignale als Integrationsklammern dienen (Kroeber-Riel und Esch 2015, 159– 65). Beispiele dafür wären die ellipsenförmigen roten und weiß-grauen Flächen in der Werbung der Ergo Versicherung, das typische Schwäbisch Hall Markenzeichen (rote Backsteine auf gelbem Grund) oder der Michelin-Mann. Zur inhaltlichen Positionierung der Marke werden außerdem inhaltliche Integrationsklammern eingesetzt. Das kann durch Sprache (z.B. Slogans) oder durch Bilder (z.B. gleiche Bildinhalte, Schlüsselbilder) geschehen (Kroeber-Riel und Esch 2015, 159, 165-171). Werbefiguren können, wie in den Beispielen und in Kapitel B aufgezeigt (siehe inhaltliche und formale Ebenbilder), sowohl zur inhaltlichen als auch zur formalen Integration der Kommunikation beitragen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass Markenkommunikationsbeispiele mit Werbefiguren besonders häufig genannte Beispiele für integrierte Markenkommunikation sind (so z.B. bei Kroeber-Riel und Esch Klementine (2015, 158), der Camel-Mann (2015, 161), der Michelin-Mann (2015, 162), der Marlboro-Mann (2015, 168), der Bärenmarke Bär (2015, 169–70) und Meister Proper (2015, 184)). Als Präsenzsignale oder Symbole (Schlüsselbilder) tragen sie zur formalen und inhaltlichen Konsistenz bei. Aus Marketing-Sicht ist dabei die Transferierbarkeit des
98
Um Verwechselungen vorzubeugen, folgend einige Anmerkungen zur Unterscheidung von Kommunikationsmitteln und Mitteln zur Integration: Bruhn versteht unter Kommunikationsmitteln „[…] die reale, sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsform der Kommunikationsbotschaft“ (2009b, 78), also beispielsweise Anzeigen, Werbebriefe oder Banner-Werbung (2009b, 79). Die von Kroeber-Riel und Esch genannten Mittel zur formalen Integration bezeichnet Bruhn (2009b, 80–86) als Gestaltungsprinzipien und die zur inhaltlichen Integration als Verbindungslinien. Hier soll in Anschluss an Kroeber-Riel und Esch im Hinblick auf Integrationsklammern von ‚Mitteln‘ die Rede sein. 99 Ein Beispiel für eine solche Verzahnung der Maßnahmen wäre folgendes Szenario: Eine Konsument_in entdeckt beim Einkaufen einen Dr. Oetker Pudding mit einer gefleckten Kuh auf der Verpackung und denkt automatisch an die fröhliche, tanzende Kuh PAULA aus den Werbespots.
162
Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger
Integrationsmittels von einem Kommunikationsmittel in das nächste wichtig – denn nur so kann eine kommunikative Klammer gebildet werden. Kroeber-Riel und Esch weisen diesbezüglich insbesondere auf die Problemstellung „[…] des akustischen Transfers visueller und sprachlicher Integrationsklammern […]“ (2015, 181) und gleichzeitig auf die Besonderheit von Werbefiguren hin: Schon hier zeigen sich Grenzen der ‚Reichweite‘ des Transfers von Integrationsklammern: Bei klassischen formalen Integrationsmitteln (z. B. Farbe) ist ein Transfer in akustische Medien kaum gegeben. Präsenzsignale lassen sich hingegen durchaus akustisch übertragen. (2015, 182; Hervorhebung im Original)
Als Beispiel dient den Autoren ein Panther, dessen Gebrüll auch in einem Radiospot wiedergegeben werden könnte. Anschließend daran lässt sich die transmediale Nutzbarkeit von Werbefiguren innerhalb der Markenkommunikation weiter präzisieren: Werbefiguren sind multimodale Integrationsmittel.100 Als anthropomorphe Wesen können sie in unterschiedlichen Zeichenmodalitäten dargestellt werden (Abb. 26): Sie können sprachliche Nachrichten übermitteln (z.B. der Spee-Fuchs, der die preislichen Vorteile des beworbenen Waschmittels herausstellt), charakteristische Melodien etablieren (z.B. die vom Weißen Riesen gepfiffene Melodie) oder durch Gestik und Mimik auf etwas hinweisen (z.B. die Daumen-hochGeste von Tony dem Tiger). Aus Marketing-Sicht stellt Müller die daraus resultierenden Vorteile für die Werbung wie folgt fest: „Über ihre visuelle und akustische Ausdrucksseite lassen sich Werbefiguren über zentrale Medienarten wie TV, Radio, Printmedien und Internet vermitteln“ (2012, 152). Mehr noch: Werbefiguren können (interaktiv) agieren, das heißt, dass sie Handlungen, Mono- oder Dialoge (durch)führen können. Sie stellen damit potenzielle Akteure in Inszenierungen und Geschichten dar.
100
Hartmut Stöckl (2016, 6) unterteilt Zeichenmodalitäten zwischen den im Alltagsverständnis basalen Zeichenmodalitäten Sprache, Bild, Musik sowie Geräusch und den weniger autonomen Zeichenmodalitäten Gestik, Mimik, Typographie sowie Intonation. Unter weniger autonomen Zeichenmodalitäten versteht Stöckl, „[…] dass sie in andere Modalitäten integriert werden und nur bei der gleichzeitigen Realisierung von Rede, Schrift oder Bild ins Spiel kommen“ (2016, 6). Zum Konzept der Zeichenmodalität konkretisiert Stöckl: „Jede Zeichenmodalität ist an einen Kanal der Sinneswahrnehmung gebunden. Sie muss materiellmedial realisiert werden und in einer raumzeitlichen und sozialen Situation verwendet werden. Semiotische Modalitäten verfügen über eine interne Strukturierung, die Bedeutungen, Kombinationsmöglichkeiten und Gebrauchsfunktionen ihrer Zeicheninventare regelt“ (2016, 9). Von diesem Verständnis einer Zeichenmodalität ausgehend, kann ein multimodaler Text als ein Text beschrieben werden, der unterschiedliche Zeichenmodalitäten integriert (Stöckl 2016, 3). Werbefiguren werden an dieser Stelle insofern als multimodal bezeichnet, als dass sie mediale Entitäten darstellen, die in unterschiedlichen Zeichenmodalitäten kommunizierbar sind.
Werbefiguren als Bestandteile integrierter Kommunikation
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Abb. 26: Die Multimodalität von Werbefiguren (eigene Darstellung; Bildquellen: Herr Kaiser in einer Sticker-Beilage in der Mitarbeiterzeitschrift (EA forum 2010 (1); mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved); Weißer Riese (Henkel Lifetimes Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved); Bausparfuchs (Schwäbisch Hall Webseite; mit freundlicher Genehmigung von © Bausparkasse Schwäbisch Hall AG [2020]. All Rights Reserved))
Mit diesem ‚Repertoire‘ sind Werbefiguren oftmals zentral innerhalb der Werbekommunikate verortet und fungieren hier als Interpretationsschlüssel. Die beschriebene Multimodalität sticht insbesondere im Vergleich zu anderen formalen und inhaltlichen Integrationsklammern heraus: Das Segelschiff von Becks ist nur mit viel Phantasie in einen Radio-Spot übersetzbar, die Schutzengel-Flügel der Provinzial Versicherung gar nicht. Das berühmte Telekom Sound-Branding oder auch das Plop‘ eines Flensburger-Pils sind dagegen nicht rein visuell abbildbar.101 Neben der Ausdrucksvielfalt der Werbefigur fungiert diese oftmals als eine Art Bezugspunkt innerhalb der Werbekommunikation. Das heißt, dass ihr Elemente aus der Kommunikation zugeschrieben werden, auch wenn diese nicht über die Werbefigur kommuniziert werden. Wenn das Voice-Over beispielsweise rät: „Drum macht’s wie Renate!“ (Dr. Oetker Deutschland 2016, 00:01:52-00:01:55), dann ist der Bezugspunkt für die Zu-
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Die Flensburger Brauerei versucht diese Tatsache durch das Ausschreiben des Plop‘ zu umgehen und das charakteristische Geräusch so auch für andere Medien nutzbar zu machen (z.B. in der Benennung des Online-Shops als ‚Plop-Shop‘ (Flensburger Brauerei Plop-Shop Webseite)).
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Symbol, Mythos, multimodaler Zeichenträger
schauer_in sofort klar. Das Voice-Over kann durch den Hinweis auf die agierende Werbefigur zudem geschickt das Streben nach dem Vorbild mit einem Kaufappell verbinden. Der Marlboro-Mann fungiert auf andere Weise als Bezugspunkt: Der Slogan ‚Come to Marlboro Country‘ ist unweigerlich mit dem Star dieses ‚Landes‘, dem Marlboro-Mann, verknüpft. Deutlicher – nämlich durch Wortspiele – wird die Verbindung zur Werbefigur in den Saturn-Formeln ‚Bei Technikfragen, Tech-Nick fragen‘ und ‚Abgenickt von TechNick‘ gesucht. Werbefiguren können Kommunikation demnach sowohl als multimodale Integrationsklammer und als Bezugspunkt verdichten und integrieren. In den vorangegangenen Abschnitten wurde die Werbefigur als Symbol betrachtet. Die damit zusammenhängende Flachheit der Figur wurde als ein Faktor für die Zirkulationsfähigkeit identifiziert. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass die Struktur als Konnotationssystem den variablen Einsatz der Werbefigur fördert und auch zur diskursiven Zirkulation beitragen kann. In diesem Abschnitt wurde nun aus Marketing-Perspektive die Notwendigkeit der medialen Zirkulationsfähigkeit herausgestellt. Dabei zeigte sich, dass die Werbefigur durch ihre Multimodalität medial flexibel darstellbar ist. Es lässt sich resümieren, dass die Symbolhaftigkeit und Multimodalität der Werbefigur als ‚Treibstoff‘ für die intermediale Diffusionsfähigkeit betrachtet werden kann.
Fallbeispiel: Bedeutungsgenerierung und Zirkulation von Herrn Kaiser
9
Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
In der theoretischen Vorarbeit wurde Bezug nehmend auf Eder darauf hingewiesen, dass Werbefiguren insbesondere symbolische Aufgaben innerhalb der Werbekommunikation erfüllen. Darauf aufbauend wurde die Werbefigur als kompakte Bedeutungseinheit beschrieben, die selbst als sekundäres semiologisches System Bedeutung generiert. Es wurde im Anschluss an Denson und Mayer argumentiert, dass die Kompaktheit – bzw. Flachheit – der Figur als Symbol ihre Wiederholbarkeit sowie ihre Unabhängigkeit von spezifischen Narrativen und Medien stützt (Rekontextualisierbarkeit). Die Werbefigur ist somit eine kompakte und bewegliche Bedeutungseinheit, die leicht in andere Texte transferiert und flexibel dargestellt werden kann. Diese Rekontextualisierbarkeit wird, so wurde in den Abschnitten 7-8 herausgearbeitet, durch den Bedeutungsaufbau auf Konnotationsebene als sekundäres semiologisches System (Mythos) forciert. Aufgrund ihrer konnotativen Struktur hat die Werbefigur in einem gewissen Rahmen verhandelbare Assoziationen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Markenkontextes aufgerufen werden können. Schlussendlich wurde ausgeführt, dass nicht nur die Eigenschaften der Werbefigur als Symbol und Mythos (im Sinne Barthes’) ihre mediale und diskursive Zirkulationsfähigkeit begünstigen, sondern auch ihre Multimodalität. Als multimodaler Zeichenträger kann die Werbefigur medial flexibel eingesetzt werden und die Werbekommunikation über unterschiedlichste Medien und Darstellungsformen integrieren. In diesem Fallbeispiel soll nun erprobt werden, inwiefern Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger betrachtet werden kann und inwiefern diese Annahmen die Analyse der medialen und diskursiven Zirkulation der Figur unterstützen. Dafür wird zunächst die (bildsymbolische) Bedeutungsgenerierung der Werbefigur untersucht. Darauf aufbauend wird die Zirkulation von Herrn Kaiser in Texten, Medien und Diskursen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Markenkontextes analysiert. Dabei ist mit der Bezeichnung ‚innerhalb des Markenkontextes‘ die von der Hamburg-Mannheimer initiierte Kommunikation (Werbung, Events, Branding) gemeint. ‚Außerhalb des Markenkontextes‘ bezeichnet dementsprechend die Referenz auf die Figur in Texten, die nicht von den Hamburg-Mannheimer Werbetreibenden gesteuert werden.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_9
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9.1
Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Das Zeichenkonstrukt Herr Kaiser – Bedeutungsgenerierung
Die Werbefigur Herr Kaiser ist, so wurde im Fallbeispiel von Kapitel B herausgestellt, ein zentraler Bestandteil des Bedeutungsmanagements der Marke Hamburg-Mannheimer. Die Werbefigur wird als Träger von Bedeutungen eingesetzt, die auf die Marke transferiert werden sollen. Das Konstrukt Herr Kaiser ist das Ergebnis dessen, was nach Ansicht der Werbetreibenden markenspezifische Themen und Werte wie Menschlichkeit, Männlichkeit, Kompetenz, Sympathie und Vertrauenswürdigkeit ausdrückt (siehe Kapitel B). Damit ist die Figur aus konzeptioneller Sicht – aus der Sicht eines Mythenproduzenten – das, was Barthes (2013, 276) als Symbol bezeichnet: eine Form für den Ausdruck einer bestimmten Botschaft. Es lässt sich verdichtet festhalten, dass die Werbefigur Günter Kaiser für die Marke Hamburg-Mannheimer einen sympathischen und vertrauenswürdigen Geschäftspartner symbolisieren soll – eine indirekte Bedeutung, welche die Marke für sich reklamieren will.102 Im Folgenden soll detaillierter untersucht werden, wie diese Botschaft, das Signifikat des Zeichens Günter Kaiser, bildsymbolisch generiert werden soll. Dafür soll nach der medienimmanenten Betrachtung des Zeichenkonstrukts Herr Kaiser auch kurz die Kommentierung der Figurengestaltung in den internen Medien der Hamburg-Mannheimer in den Blick genommen werden. Hier kann den Werbetreibenden in ihrer Kommunikation nach innen als Mythenproduzenten nachgespürt werden. Von 1972 bis 1996 wird die Figur Herr Kaiser fast unverändert konstruiert (Abb. 27). Das Zeichensystem Herr Kaiser setzt dabei auf bedeutenden Zeichenketten auf, um die Botschaft eines sympathischen und vertrauenswürdigen Geschäftspartners zu transportieren: Das bedeutet, dass die Figur aus Zeichen konstruiert wird, die jeweils bereits eigene Bedeutungen haben. So ist der Darsteller der Figur männlich und lässt ein Alter von Ende dreißig bis Ende vierzig vermuten. Herr Kaiser stellt damit einen erwachsenen Mann dar, dem zugeschrieben werden kann, dass er aus einer gewissen Lebenserfahrung heraus reflektiert agiert.
102
Die Botschaft eines ‚sympathischen und vertrauenswürdigen Geschäftspartners‘ kann als Bedeutung des sekundären semiologischen Systems betrachtet werden – so wie die ‚überlegene Riesenwaschkraft‘ die Bedeutung in der Kommunikation mit dem Weißen Riesen darstellt.
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Abb. 27: Die typische ‚Kaiserpose‘, Ausschnitt aus einer Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1986 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Der Anzug mit Krawatte verortet die Figur darüber hinaus im Businesskontext und kommuniziert eine gewisse Seriosität und Vertrauenswürdigkeit. Die an eine Uniform erinnernde, sich nicht ändernde Kluft der Figur vermittelt Stetigkeit und zeigt Zugehörigkeit: Wenn nicht zwingend zur Hamburg-Mannheimer, dann doch zumindest zur Gruppe der ordentlichen Geschäftsmänner. Dabei weist die ordentlich präsentierte Bügelfalte auf Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit und Korrektheit hin. Der Anzug und die Krawatte werden ergänzt durch weitere Accessoires (Brille, Aktentasche) und das Styling (Seitenscheitel) der Figur. Mit einer Brille können Klugheit und Strebsamkeit, die auch im ‚Streber‘-Lichte gelesen werden kann, assoziiert werden. Der sauber gekämmte Seitenscheitel fügt sich in dieses Zeichenkonstrukt ein und bekräftig aufgerufene Assoziationen wie Ordentlichkeit, Seriosität und Zuverlässigkeit. Die Aktentasche verdeutlicht, dass Herr Kaiser als gewissenhafter Geschäftspartner stets gut darauf vorbereitet ist, Kund_innen zu beraten und Verträge abzuschließen. Dabei ist die Aktentasche – wie auch der Anzug als
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‚Uniform‘ – ein Standardmodell, das Herrn Kaiser in der Uniformität im Gegensatz zur Individualität verortet. Die Figur wird sowohl im Hinblick auf die Kleidung und die Accessoires als auch in Bezug auf die Besetzung und Inszenierung als alltäglich verortet. Diese Beobachtung wird auch 1991 im Zeit Magazin gemacht: Herr Kaiser zum Beispiel. Siebzig Prozent kennen Herrn Kaiser, den Mann von der Hamburg-Mannheimer. Den Mann ohne Gesicht. Niemand kann sich vorstellen, wie schwer es ist, so einen zu entdecken. Ein Ausbund an Mittelmaß. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)
Die Figur hat weder individuelle Kleidung, ein besonders eigentümliches Styling noch eine eindrückliche Physiognomie. Herr Kaiser bricht auf keiner Ebene aus der Norm aus: Er ist Mittelmaß. Doch auch Mittelmaß ist ‚bedeutend‘. Mosbach ordnet Menschen in der Werbung als Zeichen in den Diensten der Werbenden ein: […] wir [haben] es in der Werbung mit inszenierten und signifikativen Menschen zu tun. Anders als in der Alltagswelt tritt mit dem Werbenden (den Kreativen, den Konzeptionellen bzw. den Auftraggebern […]) ein zusätzlicher Sender in diesen Zeichenprozeß ein, der die körperlichen Eigenschaften der von ihm ausgewählten Menschen in kommunikativer Absicht in Szene setzt. (1999, 15; Hervorhebung im Original)
Die vermittelte ‚Mittelmäßigkeit‘ der Figur impliziert, dass Herr Kaiser ein durchschnittlicher Mann ist, der einem im Alltag begegnen könnte. Die normgebundene Darstellung lässt zudem vermuten, dass der Vertreter stets den sicheren und ordentlichen Weg geht. Herr Kaiser begegnet seinen Kund_innen als potenzieller Nachbar auf Augenhöhe. Dabei wird die Figur sowohl in Stand- als auch in Bewegtbild stets lächelnd und auf die (potenziellen) Kund_innen zugehend inszeniert. Es wird impliziert: Herr Kaiser ist sympathisch und nahbar. Die bildsymbolische Bedeutungsgenerierung wird zudem ergänzt durch die bereits in Kapitel B thematisierte Namensgebung. Diese bekräftigt das konstruierte Bild von Herrn Kaiser: Der Name ist alltäglich, wobei er auf einer assoziativen Ebene die Überlegenheit der ‚kaiserlichen‘ Angebote andeutet. Von der Auswahl und Inszenierung des Schauspielers – durchschnittlich und stets lächelnd – über die auf einen ordentlichen und vertrauenswürdigen Businesskontext referierende Kleidung und das Styling (Anzug, Schlips, Brille, Seitenscheitel) bis hin zum Aktenkoffer, der aufzeigt, dass Herr Kaiser stets für eine Beratung seiner Kund_innen bereitsteht: Alle genutzten Zeichen sollen sich zu der Botschaft verdichten, dass Herr Kaiser ein verlässlicher und nahbarer Geschäftsmann ist. Diese Bedeutung – die symbo-
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lische Botschaft von Herrn Kaiser – soll generiert werden, indem die Figur die Bedeutungen anderer Zeichen (z.B. Freundlichkeit, Ordentlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Geschäftskontext) parasitär entlehnt und in einem neuen, sekundären Zeichensystem kombiniert. Darin soll die Botschaft durch die Konnotationen der genutzten Signifikanten fundiert und begründet werden sollen – denn diese Signifikanten sind in einem primären Zeichensystem bereits bedeutende Zeichen. Dabei werden die generierten Bedeutungen insbesondere durch das von Herrn Kaiser dargestellte Mittelmaß naturalisiert. Der dargestellte menschliche und vertrauenswürdige Vertreter unterläuft die Konstruiertheit der Figur aufgrund der hohen Ähnlichkeitsbeziehung zum Dargestellten (einem Geschäftsmann). Die Ausstattung Herrn Kaisers mit Anzug, Schlips und Aktenkoffer impliziert zwar nicht zwangsläufig einen Vertreter, jedoch deutet er auf den Geschäftskontext hin. Andere mediale Darstellungen von Geschäftsmännern und Vertretern vor und in der ersten Kaiser-Ära weisen darauf hin, dass Herr Kaiser durchaus die damals medial vermittelten Vorstellungen eines Geschäftsmannes bediente bzw. sie selbst mit prägte (z.B. Jack Lemmon als Versicherungsangestellter in Das Appartment (Wilder 1960) oder Loriots überzeichnete Vertreter in den Sketchen Vertreterkonferenz und Vertreterbesuch von 1978 (Bülow 2007)). Die Konstruiertheit der Figur tritt umso mehr zutage, je mehr Herr Kaiser als stereotype, altmodische Vertreterkarikatur wahrgenommen wird (siehe Fallbeispiel Kapitel B). Dieses Vertreterklischee, so kann im Hinblick auf den langfristigen Einsatz, die Bekanntheit der Figur und die aufgebaute (Stereo-)Typik angenommen werden, hat die Figur selbst mitgeformt und durch unzählige Wiederholungen gefestigt Das Konnotationssystem Herr Kaiser bietet neben der Lesart eines vertrauenswürdigen Geschäftsmannes auch andere Lesarten an: So kann die Figur Herr Kaiser mit Anzug, Bügelfalte, Seitenscheitel und Aktentasche ebenso Konnotationen wie Spießigkeit, Pedanterie, Langeweile oder – im ungünstigen Falle für die Werbetreibenden – auch Verbindungen zur Gangsterwelt hervorrufen. Die Werbeinszenierungen der Figur sollen deshalb (z.B. mit Textelementen) dazu beitragen, die Interpretation des Konnotationssystems zu steuern, das heißt, „[…] die Lektüre auf ein schmeichelhafteres Signifikat […]“ (Barthes 1990, 35) zu lenken. Wie im Fallbeispiel von Kapitel B nachgezeichnet worden ist, wurde das typische Bild der Figur mit dem Wechsel auf den dritten Kaiser-Darsteller aufgebrochen. Im Gegensatz zur ‚Frischzellenkur‘, wie eine Zeitung zum Wechsel auf den zweiten Darsteller
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Schwarzmann kommentierte (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 19721997),103 wurde die Figur 1997 nun im Mediendiskurs (in der Zeitschrift Versicherungskaufmann) als ‚runderneuert‘ bezeichnet (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Der ‚Ur-Herr Kaiser‘ sei zunächst durch einen ‚jüngeren Kollegen‘ abgelöst worden, später habe dann ein ‚bubenhafter Yuppie‘ seinen Platz eingenommen, schreibt 1997 eine andere Zeitung (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997).104 Diese Um- und Beschreibungen sind Ausdruck des Einsatzes neuer Signifikanten in der dritten Kaiser-Ära: sowohl auf Ebene des Darstellers als auch auf Ebene der Ausstattung. Die paradigmatische Wahl der Zeichen (Freizeitkleidung, gegelte Haare, jugendliches und verschmitztes Gesicht) wechselt von Zeichen, die dem konservativen Business zugerechnet werden können, hin zu Zeichen, die mit Freizeit und Jugendlichkeit konnotiert werden. Der öffentliche und geschäftliche Günter Kaiser wird zu einem facettenreicheren, privateren Günter Kaiser. Wo die vorab immer gleichen Signifikanten bildsymbolisch einen verlässlichen Businesskontext konnotieren sollten, da weisen die nun verwendeten, wechselnden Outfits keine solche bildsymbolische Stetigkeit mehr auf. Sie referenzieren auch nicht immer auf einen Businesskontext. Doch gerade in diesem (menschlichen) Wechsel kann der Versuch gelesen werden, angestrebte Bedeutungen wie Menschlichkeit und Männlichkeit neu zu aktivieren. Wie einleitend bemerkt wurde, können die Hamburg-Mannheimer Werbeverantwortlichen mit der gezielten Konstruktion der Figur im Anschluss an Barthes auch als Mythenproduzenten bezeichnet werden. Der Mythos Günter Kaiser sollte auf Basis bestehender Zeichenketten aufgebaut werden, um bestimmte Botschaften zu vermitteln. Nachfolgend sollen einige Schlaglichter des internen Hamburg-Mannheimer Diskurses über diese Mythenproduktion aufgezeigt werden. Diese geben einen Einblick in das zumindest kommunizierte Austangieren von eingesetzten Zeichen und angestrebter Bedeutung und damit in die Arbeit und Reflexion der Mythenproduzenten. Rückblickend wurde in der Mitarbeiterzeitschrift 1997 die erste Darstellerwahl von Herrn Kaiser folgendermaßen reflektiert:
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Der Name der Zeitung ist aus dem im Archiv aufbewahrten Ausschnitt nicht mehr nachvollziehbar. Der Name der Zeitung ist aus dem im Archiv aufbewahrten Ausschnitt nicht mehr nachvollziehbar.
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Dann kommen die Einzelheiten: Anfang 40 soll er sein, Sympathie ausstrahlen, seriös wirken, kein markantes Gesicht haben, damit er den gesamten Außendienst repräsentieren kann. (EA forum 1997 (Mär), 8)
In der Norderstedter Zeitung wird Werbeleiter Fiebig 1997 zudem wie folgt zitiert: „Wir suchten damals einen sympathischen Mann, der sich nicht von anderen Menschen unterschied, mit dem sich jeder identifizieren konnte“ (EA Norderstedter Zeitung 1997). Die kommunizierten Überlegungen zur Konstruktion von Günter Kaiser auf der Ebene der Signifikanten (kein markantes Gesicht, ein Mann, der wie andere aussieht) werden mit konkreten Zielsetzungen im Kommunikationsprozess verbunden: Danach sollte die Figur infolge der Konstruktion eine breite Identifikationsfläche bieten. Die physiognomischen Eigenschaften des Schauspielers werden also als bedeutende Bestandteile des Zeichens Herr Kaiser positioniert und mit bestimmten Hoffnungen für die interne und externe Rezeption verbunden. Die nachträgliche Einordnung der gesuchten Charakteristika kann allerdings ebenso als Rechtfertigung der vielfach belächelten Profillosigkeit der Figur gelesen werden. Die gezielte Konstruktion von Herrn Kaiser durch die Werbeverantwortlichen kann weiterhin in einer ‚Typbeschreibung‘ der Figur nachvollzogen werden. Diese Unterlage ist im Rahmen von Casting-Dokumenten für einen neuen Kaiser-Darsteller 1990 zu finden. Hier wurden durch die Werbeagentur ‚Markenwerbung International (MWI)‘ die zu verwendenden Zeichen als auch die zu erzielenden Bedeutungen und Eindrücke aufgeführt: Günter Kaiser ist ein Mann von etwa 35 bis 40 Jahren. Sein Haar ist dunkelblond bis mittelbraun. Seine Hautfarbe gesund, sonnengebräunt. Er ist bei einer Körpergröße von ca. 1,82 m nicht schwerer als 80 kg. Herr Kaiser ist ein sportlicher Typ. Sein Gesicht ist offen, freundlich. Seine Mimik lebendig. Lachfältchen um die Augen deuten darauf hin, daß er Sinn für Humor hat. Im Gespräch mit anderen Menschen zeigt er lebhaftes Interesse. Er kann zuhören, auf seinen Gesprächspartner intensiv eingehen, ohne jemals aufdringlich zu wirken. Seine Intelligenz ist wach, wirkt aber nicht aufgesetzt oder überbetont. Günter Kaiser ist kein introvertierter Intellektueller, wirkt eher extrovertiert, aber nicht oberflächlich. Man glaubt ihm seine Lebenserfahrung und seine fachliche Kompetenz. Dabei ist er frei von Arroganz und schulmeisterlichem Gehabe. Auf junge Leute (20-/25-jährige) hat er eine positiv väterliche Ausstrahlung. Er argumentiert sachlich, kann sich jedoch auch emotional engagieren. Er tritt selbstbewußt auf, ohne sich in den Mittelpunkt zu spielen. Seine eher zurückhaltende Art wirkt sympathisch und trägt – neben vielen anderen Eigenschaften – dazu bei, daß er ein ganz besonders vertrauenerweckender Typ ist.
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Wenn seine persönlichen Lebensumstände zwar nicht unmittelbar von Bedeutung sind, so kann man sie zu [sic!] Typisierung dennoch in Betracht ziehen: Herr Kaiser ist verheiratet, hat zwei Kinder zwischen 6 und 10 Jahren. Er hat finanziell keine Sorgen, lebt aber nicht ‚auf großem Fuß‘. Er wohnt in einem Reihenhaus am Rande einer Großstadt. Neben seinem aktiven Berufsleben treibt er in Maßen Sport (Tennis, Jogging), reist gern und hält sich als Naturfreund so oft wie möglich im Freien auf. Immer strebt auch er danach, mehr vom Leben zu haben. (EA Typbeschreibung 1990)
Bedeutende Zeichen wie Lachfältchen (Sinn für Humor), sonnengebräunte Haut (gesund, viel an der frischen Luft) und ein definiertes Gewicht (Sportlichkeit) tragen zur Charakterisierung der Figur bei und sollen als Authentifizierungsmarker für Menschlichkeit dienen. Auffällig an der Figurenbeschreibung ist das Austarieren der zu vermittelnden Eindrücke und Bedeutungen. Diese werden in einer Art Relativierungsstrategie gegenübergestellt: Ein intensives Eingehen im Gegensatz zu Aufdringlichkeit; eine wache Intelligenz im Gegensatz zu einer aufgesetzten, überbetonten Intelligenz; Extrovertiertheit im Gegensatz zu Introvertiertheit und Oberflächlichkeit. Herr Kaiser hat bestimmte Eigenschaften, die durch Ausdrücke wie ‚ohne jemals‘, ‚aber nicht‘, ‚eher‘, ‚frei von‘ wieder relativiert werden. Darin lässt sich das Bestreben erkennen, die Konnotationen einzelner Begrifflichkeiten aktiv einzugrenzen. Keine Eigenschaft soll zu stark oder gar negativ interpretiert werden. Das macht das Konstrukt Herr Kaiser zum personifizierten Durchschnitt – oder eben zur Karikatur schlechthin. Auch über das Kaiser-Outfit wurde intern reflektiert und überdies demokratisch abgestimmt (Abb. 28). Mit der Feststellung ‚Kleider machen Leute‘ rief die forum 1994 dazu auf, über Postkarten zu wählen, wie sich Herr Kaiser zukünftig kleiden solle (EA forum 1994 (1), o. S.).
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Abb. 28: Mitarbeiterabstimmung in der Mitarbeiterzeitschrift forum über das ‚Kaiser-Outfit‘ (EA forum 1994 (1), o. S.; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Dabei wurden zwei Outfit-Varianten vorgestellt: Der übliche, klassische Einreiher und ein modischer Zweireiher mit bunter Krawatte. In der Mitarbeiterzeitschrift wurde argumentiert: „Da Günter Kaiser in den Augen der Öffentlichkeit den Außendienst der Hamburg-Mannheimer repräsentiert, soll der Außendienst diese Fragen auch mitentscheiden“ (EA forum 1994 (1), o. S.). Die demokratische Entscheidung über die Kleidung verdeutlicht zum einen, dass die gelernte Bildtypik nur mit Vorsicht angepasst wurde. Zum anderen weist sie darauf hin, dass Herr Kaiser eine möglichst hohe Ähnlichkeitsbeziehung zum Dargestellten aufweisen sollte und die Einschätzung darüber durch die Vorbilder selbst, den Außendienstmitarbeitern, erfolgen sollte. Diese stimmten schließlich für den Zweireiher und damit für den modischen Wandel (EA forum 1994 (2), 28). Die Rekonzeption des Zeichensystems Günter Kaiser 1997 warf noch grundlegendere Fragen im Hinblick auf die Kleidung auf. So wurde in der Mitarbeiterzeitschrift rhetorisch gefragt: Wie soll Herr Kaiser gekleidet sein, um glaubwürdig aber nicht spießig, seriös aber nicht unnahbar, dynamisch aber nicht cool, zeitgemäß aber nicht flippig, sportlich aber nicht nachlässig zu wirken? (EA forum 1997 (4), 10)
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Auch hier findet sich das in der vorangegangenen Typbeschreibung beobachtbare Austarieren und Relativieren von Bedeutungsräumen wieder. Nichtsdestotrotz sind die angestrebten Botschaften des Zeichens Günter Kaiser (Glaubwürdigkeit, Seriosität etc.) definiert, jetzt werden dafür – ganz im Sinne von Mythenproduzenten – die passenden Signifikanten gesucht. Nachdem die (bildsymbolische) Bedeutungsgenerierung der Werbefigur Herr Kaiser als sekundäres semiologisches Zeichensystem untersucht wurde und einige Schlaglichter der Mythenproduktion betrachtet wurden, wird im Folgenden der variable Einsatz der Figur in der Werbekommunikation der Hamburg-Mannheimer in den Blick genommen. Dies geschieht insbesondere vor dem Hintergrund des Gedankens einer integrierten Werbekommunikation.
9.2
Zirkulation im Markenkontext: Herr Kaiser als integrierender Bestandteil der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation
Die mediale und textuelle Zirkulationsfähigkeit der Werbefigur ist für Werbetreibende insbesondere im Hinblick auf eine integrierte Kommunikation relevant. Diese beschreibt eine formal und inhaltlich aufeinander abgestimmte Werbekommunikation über unterschiedliche Kontaktpunkte und Kanäle hinweg (Kroeber-Riel und Esch 2015, 151–96). Die Werbefigur kann hier als multimodale Integrationsklammer eingeordnet werden, die in den unterschiedlichsten Medien dargestellt werden kann und die Kommunikation somit verdichtet und integriert. In den theoretischen Vorüberlegungen wurde herausgearbeitet, wie die Zirkulationsfähigkeit der Werbefigur durch deren semantische Kompaktheit als Symbol begünstigt wird. Die Kompaktheit oder Flachheit der Figur und ihre Wiederholbarkeit, so wurde im Anschluss an Denson und Mayer (2012) argumentiert, emanzipiert sie von spezifischen Narrativen und Medien. Günter Kaiser kann mit eben diesen Charakteristika beschrieben werden: Die Figur hat keine Biographie, keine psychologische Tiefe und ist stets wiedererkennbar – in den ersten beiden Kaiser-Ären durch die Typik des Outfits, in der dritten Kaiser-Ära durch die Typik des Darstellers. Die Zuschauer_in weiß weder etwas über die Herkunft oder die Familienverhältnisse der Figur noch über ihre sozialen Verbindungen
Zirkulation im Markenkontext
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oder Hobbies. Lediglich in der letzten Kaiser-Ära wird Herr Kaiser in privaten Kontexten dargestellt. So ist die Figur in einer Anzeige auf einem Motorrad zu sehen (EA forum 2000 (3), 16), in einem Werbespot besucht er privat ein Fußballstadion (EA Werbespot 1997b), in einem anderen entspannt er im Wellnesscenter und berät ‚ganz nebenbei‘ (EA Werbespot 2000). Diese privaten Kontexte charakterisieren die Figur allerdings nicht spezifisch, sondern zeigen lediglich an: Herr Kaiser ist auch privat und damit nicht nur ein Vertreterklischee. Das einzige solide Wissen über die Figur bezieht sich auf ihren Beruf: Herr Kaiser ist Versicherungsvertreter und ‚der Mann von der Hamburg-Mannheimer‘. Herr Kaiser hat also keine eigene Geschichte. Das wird dadurch bestärkt, dass die Figur sich nicht weiterentwickelt: Herr Kaiser altert kaum, sondern wird durch Schauspielerwechsel jung gehalten und stets in der Momentaufnahme gezeigt. Falls in der Werbekommunikation mit Günter Kaiser Geschichten erzählt werden, dann drehen sich diese um die Zuschauer_innen und/oder die inszenierten Kund_innen. Für diese kann sich durch die Leistungen der Hamburg-Mannheimer etwas (zum Besseren) verändern: Die Großmutter kann ihren Ruhestand genießen, weil sie gut bei der Hamburg-Mannheimer vorgesorgt hat. Dem Zivildienstleistenden, der sich um seine Absicherung im Alter sorgt, wird mit den Leistungen der Hamburg-Mannheimer ein Problemlöser präsentiert. Bei diesen Figuren und den adressierten Rezipient_innen entwickelt und ändert sich (potenziell) etwas. Die erzählten Geschichten bedeuten jedoch keine Entwicklung oder narrative Abgeschlossenheit für Herrn Kaiser. Er ist konserviert. Die Figur kommuniziert lediglich als kompakte Bedeutungseinheit. Strukturell wird damit die Wiederholbarkeit der Figur sichergestellt. Die fast 40 Jahre andauernde Kommunikation mit der Figur verdeutlicht außerdem: Herrn Kaiser fehlt nicht nur eine eigene Geschichte, die Figur ist auch an kein festes Narrativ gebunden. Das einzige Motiv, das sich wiederholt, ist die mit dem Beruf des Vertreters verbundene Kundenkommunikation. Dieses Grundmotiv wird allerdings variabel inszeniert. So agiert Herr Kaiser je nach Kampagnenfokus mal als Vertreter, der seinen Kund_innen zufällig auf der Straße begegnet (‚Man kennt uns‘) oder als Versteher, der durch Gedankenlesen die persönlichen Wünsche der Menschen nachvollziehen kann (‚Glück ist planbar‘). Dann wiederum tritt er als Privatmann auf, der auch im WellnessCenter gern in seine Beraterrolle schlüpft (‚Mehr Beratung. Mehr vom Leben.‘). Herr
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Kaiser befindet sich einerseits in kampagnenspezifisch festgelegten Narrativen, die innerhalb eines Zeitraums wiederholt werden: In der ‚Mehr vom Leben‘ Kommunikation begegnet Herr Kaiser beispielsweise Kund_innen, die sich (mithilfe der Hamburg-Mannheimer Tipps) fit halten und somit ‚Mehr vom Leben‘ haben. Andererseits wird die Figur in rhetorisch-kommunikativen Inszenierungen eingesetzt, etwa, wenn Herr Kaiser die Rezipient_innen auf einer leeren Bühne direkt adressiert und berät (EA Werbespot 2007). Herr Kaiser kondensiert Teile der Werbebotschaft und bildet die wiedererkennbare und vertraute Folie für die Kommunikation. Dabei bietet das sekundäre semiologische Zeichensystem Herr Kaiser unterschiedliche Konnotationen, die je nach Kampagne variabel fokussiert (z.B. Beratungskompetenz, Nahbarkeit, Partnerschaftlichkeit) und kontextualisiert werden können. Die Werbefigur ist damit eine kompakte Bedeutungseinheit, durch die in der Wiederholung Variation ermöglicht wird, wobei Wiedererkennbarkeit und Vertrautheit sichergestellt werden. Die Kombination aus fehlender eigener Geschichte, fehlendem festgelegten Erzählmuster und starker Bildsymbolik bereitet den Boden für eine leichte Transferierbarkeit in unterschiedliche Texte und Medien. Dadurch, dass die Werbefigur bereits bildsymbolisch einen sympathischen und vertrauenswürdigen Geschäftspartner suggeriert, wird die Kommunikation in statischen Medien wie beispielsweise Plakaten oder Anzeigen begünstigt. Die Zirkulationsfähigkeit wird zudem gestärkt durch die Multimodalität der Figur, das heißt der Darstellbarkeit der menschlichen Werbefigur Herr Kaiser in unterschiedlichen Zeichenmodalitäten (z.B. Sprache, Bild, Geräusch). Herr Kaiser lässt sich als multimodale Integrationsklammer sowohl in audio, audiovisuellen und visuellen Medien darstellen. Verkörpert durch einen menschlichen Darsteller ist die Figur überdies nicht an die mediale Vermittlung gebunden. Die Transferierbarkeit bildet die Basis für eine umfassende Nutzung der Figur zur formalen und inhaltlichen Integration der Hamburg-Mannheimer Werbemaßnahmen. Formal bildet die typische Figur über verschiedenste Kommunikationsinstrumente einen visuellen Anker für die Wiedererkennbarkeit der Marke. Inhaltlich integriert Herr Kaiser die Kommunikation durch die Symbolisierung von Markenpositionierungsinhalten, die über die Figur mit jeder Maßnahme konsistent wiederholt werden. Zudem verdichtet und integriert Herr Kaiser die Werbekommunikation als Bezugspunkt für Aussagen und Slogans wie ‚Mehr Beratung. Mehr vom Leben‘, ‚Kaiserlich versichert‘, ‚Der Mann von der Hamburg-Mannheimer‘ oder ‚Hallo, Herr Kaiser‘. Nicht nur sein typisches Bild, sondern auch
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diese figurbezogenen Aussprüche dienen als Trigger zum Abrufen von Markeninformationen. Das Kaiser-Branding von Produkten und Veranstaltungen stellt außerdem eine Verbindung zwischen Figur, Kommunikation und Produkt her. Die inhaltliche und formale Integration der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation über die Integrationsklammer Herr Kaiser konnte nur durch die aufgeführte Transferierbarkeit von einem Medium in das nächste erfolgen. Mit Günter Kaiser wurde unter anderem in Werbespots, in Anzeigen, im Internet und in Radiospots kommuniziert.105 Auch abseits der klassischen Werbemittel wurde Günter Kaiser entlang der Kundenkontaktpunkte eingesetzt: So begrüßte er als Pappaufsteller in Lebensgröße in HamburgMannheimer-Filialen (EA forum 1996 (3), 25). Es bestand außerdem die Möglichkeit, Herrn Kaiser ebenfalls in Lebensgröße mit Klebefolie auf Messen oder auf Transportern einzusetzen (EA forum 1984 (6), 10). Dabei trägt die Darstellung in ‚Lebensgröße‘ zur weiteren Anthropomorphisierung der Figur bei, da die ‚eigentliche‘, menschliche Größe der Figur demonstriert wird. Wie in Kapitel B betrachtet, trat Herr Kaiser zudem live auf Veranstaltungen (z.B. Kaiser-Tour, Gewinnspiele) auf und verlängerte damit die Werbung mit einer erfundenen Figur bis in die unvermittelte Realität. Die Werbefigur Herr Kaiser fand in den Texten und Medien der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation breite Verwendung. Dabei kam sowohl die Flachheit der Figur und ihre Bedeutungsgenerierung auf der Konnotationsebene als auch ihre Multimodalität der medialen und textuellen Beweglichkeit zugute. Im Anschluss an die erfolgte Untersuchung der Zirkulation von Herrn Kaiser soll die Figur nun in einem Exkurs im Kontext der Medien Bildschirmtext und Internet betrachtet werden. Der Abschnitt ist deshalb als Exkurs angelegt, weil nicht nur der Einsatz der Figur in den genannten Medien analysiert wird. Stattdessen soll genereller der interne Diskurs in der Mitarbeiterzeitschrift über die Emergenz dieser damals neuen Medien nachgezeichnet werden. Mit dem Blick in die interne Berichterstattung der Mitarbeiterzeitschrift kann zum einen nachvollzogen werden, wie Herr Kaiser nach außen als anthropomorphe Figur im neuen Medium positioniert worden ist. Zum anderen lässt sich eine firmeninterne Mediengeschichtsschreibung des Bildschirmtextes und des Internets skizzieren. Diese Betrachtung steht
105
Siehe zur Radiowerbung z.B. EA forum (1982 (5), 17).
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
daher nicht im direkten Zusammenhang mit dem in diesem Kapitel verfolgten Erkenntnisinteresse, bietet jedoch für Medienwissenschaftler_innen einen interessanten Einblick in einen nicht-öffentlichen Diskurs über die Emergenz neuer Medien. Diese Kommunikation musste die Funktionen und Vorteile der neuen Medien an die Zielgruppe der Mitarbeiter_innen vermitteln und die Teilnahme in diesen Medien geschäftlich verargumentieren.
9.3
Exkurs: Emergenz neuer Medien – „G. Kaiser dabei“
Die Hamburg-Mannheimer erschloss im Jahr 1980 das Medium Bildschirmtext (Btx). Mit einigem Stolz wurde den Mitarbeiter_innen verkündet, dass man einer der ersten Informationsanbieter im neuen Medium sei: Kommen Ihnen die drei angebotenen Fernsehprogramme manchmal etwas langweilig vor? Dann schalten Sie doch um auf Bildschirmtext! Dieser Tip kann heute schon von 2000 Haushaltungen und 1000 gewerblichen Fernsehteilnehmern wahrgenommen werden. Sie nehmen als Testpersonen an einem Feldversuch der Bundespost in Berlin und im Raum Düsseldorf teil. Erforscht wird dabei das neue Medium ‚Bildschirmtext‘ (kurz Btx genannt). Als Informationsanbieter beteiligt: die Hamburg-Mannheimer. (EA forum 1981 (2), 6)
Dabei musste das neue Medium zunächst einmal vorgestellt werden: Wie funktionierte es? Welchen potenziellen Nutzen brachte es? Die forum klärte folgendermaßen auf: Bildschirmtext ist als ein Zwei-Wege-Kommunikationssystem geplant. Im Gegensatz zum Normal-TV steht dem Teilnehmer also nicht nur der Ein- und Ausschaltknopf zur Verfügung. Was etwa in Reisebüros und Banken schon lange üblich war, soll dem häuslichen Verbraucher auch zur Gewohnheit werden. Ist Btx eines Tages in allen Wohnzimmern installiert, kann er selbst in Aktion treten, per Fernbedienung Überweisungsaufträge vornehmen oder Reisen buchen. Im zentralen Postcomputer sind die Informationen mehrerer hundert Anbieter, unter ihnen die der HM, gespeichert. […] Über Fernbedienung *390# erreicht man die HM und wird von Günter Kaiser persönlich begrüßt. (EA forum 1981 (2), 6)
Eine Besonderheit des neuen Mediums sei also die potenzielle Interaktivität zwischen Sender und Empfänger. So könnten Nutzer_innen mit der Taste eins auf ihrer Fernbedienung signalisieren, dass sie von einem Hamburg-Mannheimer-Außendienstmitarbeiter kontaktiert werden wollten (EA forum 1981 (2), 6). Das wurde bis dato nur über die in den Anzeigen angegebene Hotline (‚der heiße Draht‘) oder den darin enthaltenen abtrennbaren Coupons ermöglicht (EA Werbeanzeigen 1972-1996). Nicht nur die Kommunikation mit den Konsument_innen (B2C) konnte mit dem neuen Medium interaktiv gestaltet werden, sondern (ab 1984) auch die Kommunikation unter diesen: So wurde gemäß des
Exkurs: Emergenz neuer Medien – „G. Kaiser dabei“
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damaligen Slogans ‚Mehr vom Leben‘ ein Sport-Marktplatz angeboten, auf dem Kleinanzeigen (z.B. Sportartikel oder Sportpartner) inseriert werden konnten (EA forum 1984 (4), 21). Darüber hinaus unterhielten Rätsel und ein elektronisches Lexikon (EA forum 1984 (4), 23).
Abb. 29: Titelseite der Mitarbeiterzeitschrift forum von 1980 mit Herrn Kaiser (EA forum 1980 (3); mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Das neue Medium Bildschirmtext versprach eine interaktive, always-on Kommunikation mit dem Informationsanbieter. Die Werbefigur Günter Kaiser war von Anfang an präsent, wie die forum zum Start des neuen Mediums titelte (Abb. 29): „G. Kaiser dabei: Bildschirmtext läuft an“ (EA forum 1980 (3)). In der Mitarbeiterzeitschrift hieß es 1981, dass Günter Kaiser nun jederzeit erreichbar sei (EA forum 1981 (2), 6). Gegenüber den Mitarbeiter_innen wird der Figur im interaktiven Medium Bildschirmtext damit die kommunikative Rolle eines Scheinadressaten zugeschrieben (siehe Kapitel D, Abschnitt 12.2). Für die Nutzer_innen wird mit Herrn Kaiser innerhalb der interaktiven Angebote das Ziel der Adressierung vermenschlicht und konkretisiert. Die Figur begrüßte die Nutzer_innen im Bildschirmtext ‚persönlich‘ und führte der Mitarbeiterzeitschrift zufolge ab 1984 durch das Programm (EA forum 1984 (4), 21). Damit soll die Figur Orientierung im
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
neuen Medium geben. Außerdem wird durch Herrn Kaiser ein bekannter und anthropomorpher Akteur in die neue Umgebung integriert (Abb. 30). Das Fremde, potenziell Bedrohliche wird mit etwas Menschlichem und Vertrautem kombiniert und damit leichter zugänglich gemacht. Die anthropomorphe Werbefigur soll also im neuen Medium dazu fungieren, im theoretischen Sinne Familiarity und Comfort für die Nutzer_innen herzustellen und eine effektive Kommunikation zu suggerieren. Dabei können Familiarity und Comfort auch als Ziele der internen Kommunikation mit den Mitarbeiter_innen betrachtet werden: Die Darstellung der bekannten Figur im Bildschirmtext erinnert an ihre Darstellung in anderen Medien. Somit wird das neue Medium in die Reihe der Werbeträger eingereiht, was dabei helfen kann, den Zweck des neuen Mediums (das Werben) einzuordnen.
Abb. 30: Bilder der Hamburg-Mannheimer Btx-Informationsseiten (EA forum 1984 (4), 21–22; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Herr Kaiser war also ein integraler Bestandteil des neuen Mediums. Die zuvor hervorgehobene Ausdrucksvielfalt der Figur über Rede, Mimik, Gestik oder Bild begünstigt den Medientransfer an dieser Stelle jedoch nur bedingt. Das Medium war tonlos und die bildliche Darstellung nur stark verpixelt möglich. In der forum werden die medialen Beschränkungen im Hinblick auf die Darstellbarkeit der Figur thematisiert:
Exkurs: Emergenz neuer Medien – „G. Kaiser dabei“
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Problem für den Informationsanbieter: Gestaltet werden kann nur kästchenweise, der Platz auf einer Bildschirmseite ist äußerst begrenzt. Ein stehendes Fernsehbild kann nur maximal 24 Zeilen mit jeweils 40 Zeichen aufnehmen. So erscheint denn auch Günter Kaiser bildschirmgerecht kästchenweise aufgerastert und nicht etwa mit seinem fotogenen Originalkonterfei […]. (EA forum 1981 (2), 8)
Mehr noch als die Multimodalität greift im Bildschirmtext die Typik der Werbefigur Günter Kaiser. Auch wenn die Interpretation des Porträts durch die Nennung des Namens gelenkt wird, wie Abbildungen in der forum nahelegen (EA forum 1984 (4), 21), stellen bereits die äußerlichen Charakteristika Brille, Seitenscheitel und Lächeln in der verkürzten Darstellung Wiedererkennbarkeit sicher. In der Mitarbeiterzeitschrift wurde im Hinblick auf die Funktionalitäten des neuen Mediums auch gemutmaßt, welchen Platz der Bildschirmtext in der Medienlandschaft einnehmen würde: Was die Einführung des neuen Kommunikationssystems in der Medienszene alles verändert, ist noch gar nicht abzusehen, doch werden sie tiefgreifender sein als alle bisherigen Veränderungen im Mediengefüge. […] Bevor sich das gute alte ‚Puschenkino‘ zum häuslichen Computerterminal mit Totalservice rund um die Uhr entwickelt, wird allerdings noch einige Zeit ins Land gehen. (EA forum 1981 (2), 8)
Dem Bildschirmtext wurden in den nächsten Entwicklungsstufen einmalige Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten zugeschrieben: Es wurde überlegt, dass es künftig ein Bildschirmtext-Programm für alle Bildschirmtext-Nutzer_innen geben könne, eines extra für den Außendienstmitarbeiter sowie eines, zugänglich nur für HamburgMannheimer Kund_innen (EA forum 1983 (5), 27). Außendienstmitarbeiter könnten Bildschirmtext dann beispielsweise für Bestandsinformationen, Angebotsberechnungen und Schulungen nutzen („[…] Btx als quasi elektronische[r] Verkaufsordner […]“ (EA forum 1983 (5), 27)). Kund_innen der Hamburg-Mannheimer könnten über ihren Bildschirmtext-Bereich Schadensmeldungen vornehmen oder Adressänderungen vermerken (EA forum 1983 (5), 27). Es wurde allerdings auch ein warnender Blick in die Zukunft geworfen, der als Sensibilisierung der Mitarbeiter_innen für die antizipierten Herausforderungen betrachtet werden kann: Der Wettbewerb allerdings wird sich verschärfen, denn noch etwas wird Btx produzieren: größere Markttransparenz. Denn wenn sich die Unternehmen selbst nicht zu entsprechenden Preis- und Leistungsinformationen entschließen sollten, die Verbraucherverbände, Automobilclubs, spezielle Verlage werden es mit Sicherheit tun. Gut ist dann der daran, der dem rechtzeitig Rechnung getragen hat. (EA forum 1983 (5), 27)
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Es lassen sich Parallelen zum Internet finden:106 Die Beschreibungen muten an wie eine allgemein zugängliche Webseite im World Wide Web (Btx-Angebot für alle) bzw. ein Passwort-gesicherter Kundenzugang auf einer solchen Webseite (Btx nur für Kund_innen) und wie ein Angebot von Inhalten in einem unternehmensinternen Intranet (Btx für den Außendienstmitarbeiter). Die Vorhersage über die Markttransparenz ist ebenso Realität in der heutigen Internetwirtschaft geworden: Vergleichsportale diktieren Preise und haben sich zwischen Anbieter und Verbraucher gedrängt. Es scheint eine besondere Ironie, dass einer dieser Vergleichsportale heute mit Herrn Kaiser als Symbol für eine veraltete Versicherungswirtschaft wirbt, wie in Abschnitt 9.4.3 gezeigt werden wird. Die gewerbliche Nutzung des neuen Mediums schob, so lässt sich anhand der Berichterstattung in der forum nachvollziehen, Diskussionen um die Rationalisierung von Arbeitsplätzen zugunsten der neuen Technologie an. So wurde zwar in Aussicht gestellt, dass mit dem Bildschirmtext in Kombination mit Drucker und Tastatur viele Büroarbeiten rationalisiert werden könnten. Den eigenen Mitarbeiter_innen wurde aber versichert: Und dennoch kann man Btx nicht als ‚Jobkiller‘ bezeichnen. Postminister Schwarz-Schilling: ‚Fast jeder zweite Erwerbstätige beschäftigt sich vorrangig oder ausschließlich mit Informationsbeschaffung, -vermittlung oder -verarbeitung. 1950 lag dieser Anteil noch unter 20 Prozent‘. Wenn immer mehr Menschen im Informationssektor tätig sein werden, so die Folgerung, ist die Ausbreitung der neuen Medien arbeitsplatzbeschaffend. (EA forum 1985 (3), 27)
Mit einem Verweis auf Werbefigur Günter Kaiser erhielten die Mitarbeiter_innen im Hinblick auf das neue Medium das Versprechen: Durch das Programm führt natürlich Versicherungs-Experte Günter Kaiser. Er macht allen Btx-Lesern eines ganz klar: Die HM setzt im Verkauf nach wie vor auf das persönliche Gespräch zwischen Kunden und Verkäufer. Btx wird daran überhaupt nichts ändern. (EA forum 1984 (4), 21)
Die Referenz auf Herrn Kaiser ist letztlich eine ‚beruhigende‘ Referenz auf den Außendienstmitarbeiter an sich, der damit auch im neuen Medium präsent ist und die alten Strukturen (Verkauf im persönlichen Kundengespräch) widerspiegelt. Der Bewerbung des neuen Mediums gegenüber den neuen Mitarbeiter_innen kann eine hohe Relevanz beigemessen werden: Warum sollten diese die Teilnahme im neuen Medium unterstützen,
106
Das Internet verstanden als dezentrales, globales Computernetzwerk, in dem Daten zwischen Computern ausgetauscht werden können. Dabei ermöglicht das World Wide Web (WWW) durch eine grafisch unterstützte Navigation Nutzer_innen einen breiten Zugang zu unterschiedlichen Internetdiensten (siehe zum Lexikoneintrag Gerpott und Paukert (2011)). Die Hamburg-Mannheimer wäre in diesem Vergleich zwischen Bildschirmtext und Internet als Inhalteanbieter positioniert, dessen Inhalte auf einer Webseite durch eine Internetadresse auffindbar sind. Das Intranet wird dagegen als unternehmensinternes Computernetzwerk verstanden, das den Austausch von Daten innerhalb eines Unternehmens unterstützt.
Exkurs: Emergenz neuer Medien – „G. Kaiser dabei“
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wenn sie fürchten mussten, ihre eigenen Jobs zu gefährden? Die interne Unternehmenskommunikation zeigt damit auf, wie medientechnologische Entwicklungen stets auch mediengesellschaftliche Fragestellungen implizieren. Dass der Bildschirmtext das vorausgesagte Potenzial nicht erfüllen würde, deutete sich jedoch bereits 1985 in der forum an. Es wurde berichtet, dass die Nutzerzahlen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben waren und dass die Nutzung hauptsächlich gewerblicher und nicht privater Art war. In der forum wurden die geringen Nutzerzahlen auf Berührungsängste mit dem neuen Medium und auf Informationsdefizite über Nutzungsmöglichkeiten zurückgeführt (EA forum 1985 (3), 26). Insbesondere ersteres hatte die Hamburg-Mannheimer, so lässt sich rückblickend interpretieren, versucht mit der Werbefigur Herr Kaiser abzuschwächen. Das Bewusstsein über mögliche Berührungsängste mit dem wie ein ‚komplizierter Computer‘ anmutenden Bildschirmtext war zumindest vorhanden (EA forum 1985 (3), 26).
Abb. 31: Die erste Hamburg-Mannheimer Webseite mit Herrn Kaiser ‚im ersten Stockwerk‘ (EA forum 1996 (5), 4–5; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Für das aktive Abrufen von Informationen und die Kontaktaufnahme über den Bildschirm sollte sich einige Zeit später ein anderes Medium durchsetzen: das Internet. Im Juni 1996 war die Hamburg-Mannheimer erstmals mit einer eigenen Webseite online (EA
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
forum 1996 (5), 4–5) (Abb. 31). Auch das Medium Internet musste für die eigenen Mitarbeiter_innen zunächst definiert und mediengesellschaftlich verortet werden: Das Internet – einfach gesagt: eine Vernetzung von vielen Millionen Computern – bietet heute weltweit bereits sechzig Millionen Menschen eine faszinierende Fülle von Informations- und Unterhaltungsdiensten. In Deutschland sind es etwa 6,2 Millionen Nutzer. Zwar sind es augenblicklich wohl in erster Linie Freaks und Firmen, die an diesem Netz interessiert sind, doch mittelfristig werden dort auch immer mehr Normalverbraucher stöbern (Internet-Jargon: ‚surfen‘). (EA forum 1996 (5), 5)
Das mittelfristig hohe Durchsetzungspotenzial des Internets bei den Verbraucher_innen diente in der Mitarbeiterzeitschrift als Argumentation für die frühzeitige Teilnahme (EA forum 1996 (5), 6). Das neue Medium sei zudem modern und gut für das Image der Hamburg-Mannheimer. Insbesondere bei jungen Menschen könne man sich über den InternetAuftritt als fortschrittlicher Anbieter profilieren, so die Marketingleitung der HamburgMannheimer weiter (EA forum 1996 (5), 6). Allerdings deutet die Bezeichnung der aktuellen Zielgruppe als ‚Freaks und Firmen‘ darauf hin, dass das Internet zu diesem Zeitpunkt in der breiten Verbrauchermasse noch befremdlich anmuten musste.
Abb. 32: Hamburg-Mannheimer Webseite von 1998 (EA forum 1998 (1), 31; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Werbefigur Herr Kaiser war auch in diesem neuen Kommunikationskanal von Anfang an präsent. Dabei lässt sich über die in der forum präsentierten Entwicklungsstufen in den ersten Jahren insbesondere eine Rolle der Figur nach außen gut nachvollziehen:
Exkurs: Emergenz neuer Medien – „G. Kaiser dabei“
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Günter Kaiser gestaltet den Zugang zur Webseite und ist damit der menschliche Türöffner in die digitale Hamburg-Mannheimer-Welt. Das gilt für die als Haus mit und Aufzug designte Hamburg-Mannheimer Webseite von 1996, in der Herr Kaiser in der ersten Etage zu finden war (Abb. 31). Auch auf den überarbeiteten Webseiten von 1998 (Abb. 32) und 2000 (Abb. 33) begrüßt Herr Kaiser die Nutzer_innen auf der Startseite bzw. in einem Pop-up-Fenster. Dabei weist die Figur 1998 aktiv auf die Neugestaltung hin, womit das Neue und Unbekannte wiederum durch das Vertraute eingeleitet wird.
Abb. 33: Hamburg-Mannheimer Webseite von 2000 (EA forum 2000 (Okt/Nov), 40–41; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Startseite wurde 1998 in Kontinente aufgeteilt, die unterschiedliche Themenwelten abdeckten und von den Nutzer_innen entdeckt werden konnten. Die Hamburg-Mannheimer kommentierte die Webseite in der Mitarbeiterzeitschrift wie folgt: „Aus nahezu jedem Kontinent heraus kann sich der Nutzer mit einem elektronischen Brief, dem EMail, sofort und direkt an die Gesellschaft wenden“ (EA forum 1998 (1), 30). Ähnlich zum Bildschirmtext wurde im Medium Internet der Vorteil gesehen, Nutzer_innen durch spielerisches Entdecken und Interaktivität zu binden und zur Kontaktaufnahme zu motivieren. Dabei wurde jedoch betont, dass entsprechend der hohen Geschwindigkeit im Internet im Anschluss auch umgehend eine Reaktion von der Hamburg-Mannheimer erwartet werden würde (EA forum 1998 (1), 30).
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Im Gegensatz zum Bildschirmtext ist das Internet ein Medium mit Ton, was die Verwendung der multimodalen Anlage von Herrn Kaiser – auch im Hinblick auf die interaktive Nutzung des Mediums – forcierte. So wurde der sprechende Herr Kaiser auch als Gesprächspartner der Nutzer_innen inszeniert: Selbstverständlich darf einer nicht fehlen auf der neuen Homepage: Günter Kaiser. Mit seiner aus den zahlreichen TV-Spots vertrauten Stimme beantwortet der Versicherungsexperte im Bereich ‚Fragen Sie mich‘ demnächst die häufig gestellten Fragen – die sogenannten FAQ’s – der Nutzer. (EA forum 2000 (Okt/Nov), 41)107
Nutzer_innen wird damit angedeutet, dass sie nicht etwa eine Maschine um Rat fragen, sondern den ‚Menschen‘ Herr Kaiser. Der Umgang mit der Hamburg-Mannheimer im Internet wird vermenschlicht, womit ein ‚vertrauter‘ Interaktionsmodus suggeriert wird. Neue Medien wie der Bildschirmtext oder das Internet erweiterten die Anzahl der Werbeträger für die Hamburg-Mannheimer. Die Figur Herr Kaiser wurde systematisch dazu genutzt, diese neuen Medien zu erschließen und eine integrierte Kommunikation sicherzustellen. Diese, aufgrund der Neuheit der Medien, besonders paradigmatischen und intern thematisierten Medientransfers verdeutlichen, wie die Multimodalität der Figur und ihre starke Bildsymbolik den Transfer in die neuen Medien begünstigten. Zusätzlich zeigen sie an, wie das Vertraute und Menschliche der Figur als kompensatorische Kraft in einer neuen, ungewohnten Medienumgebung fungieren sollte – nach innen wie nach außen.
9.4
Zirkulation außerhalb des Markenkontextes: Herr Kaiser in Werbung und Berichterstattung
Das Zeichensystem Herr Kaiser setzt sich aus bereits bedeutenden Zeichen zusammen. Die Figur entwickelte sich aufgrund ihrer medialen Präsenz allerdings auch selbst zu einem bekannten und mit bestimmten Bedeutungen konnotierten Zeichen. Peter Kempe 107
Dass diese FAQ-Beantwortung durch Herrn Kaiser sehr wahrscheinlich implementiert worden ist, wird in einer späteren Ausgabe der Mitarbeiterzeitschrift forum deutlich: „Für Fragen rund um das Thema Vorsorge und Vermögensbildung steht Günter Kaiser künftig im Internet allen Kunden und Interessenten Rede und Antwort. Innerhalb der Hamburg-Mannheimer-Homepage kommt man ab Januar 2001 mit dem Hamburg-Mannheimer-Repräsentanten des Außendienstes virtuell ins Gespräch. Möglich wird dieses durch eine umfangreiche Datenbank, die nicht nur aufs eingegebene Stichwort Antworten liefert, sondern auch ‚lernfähig‘ ist. Mit jeder gestellten Frage wächst das virtuelle Wissen des Chatpartners Kaiser“ (EA forum 2000-2001 (Dez/Jan), 30); Hervorhebung im Original).
Zirkulation außerhalb des Markenkontextes
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gibt in der Welt am Sonntag 2017 zumindest für sich persönlich Erklärungsansätze für die prominente Stellung von Herrn Kaiser im Alltagsdiskurs:108 Versicherungen waren mir von Kindesbeinen an sympathisch, denn ich bin mit dem damals gerade in den Kinderschuhen steckenden Werbefernsehen aufgewachsen. Im Gegensatz zu heute gab es nur zwei kurze Werbepausen am Abend in den zwei öffentlich-rechtlichen Sendern. Außerdem liefen damals die Werbespots gefühlt jahrelang und haben sich lebenslang bei mir eingeprägt. Mein absoluter Liebling war natürlich Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer. Ein Versicherungsvertreter, der in einem Stadtteil, der genauso aussah wie unserer, umherspazierte (die meisten Werbefilme wurden damals in Hamburg gedreht). Alle kannten ihn nicht nur, sondern hatten natürlich auch ihre Versicherungen bei ihm abgeschlossen. (Kempe 2017)
Die Figur Herr Kaiser wurde und wird als Zeichen auch außerhalb des Hamburg-Mannheimer Markenkontextes in medialen und werblichen Diskursen zur Aufmerksamkeitsund Bedeutungsgenerierung genutzt. Diese Verwendung der Hamburg-Mannheimer Werbefigur soll im Folgenden untersucht werden. In der theoretischen Vorarbeit wurde beispielhaft an Meister Proper aufgezeigt, dass neben der Bekanntheit einer Werbefigur insbesondere die semantische Kompaktheit als Symbol und die Bedeutungsgenerierung auf der Konnotationsebene ihre diskursive Zirkulation begünstigen. Diesen Annahmen soll nun auch in der Zirkulation von Herrn Kaiser nachgespürt werden. Herrn Kaisers Zirkulation außerhalb der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation wurde beispielsweise bereits im Donau-Post-Artikel ersichtlich (Abschnitt 4.3). Hier fungierte Herr Kaiser als Synonym für den Versicherungsvertreter per se. Gleichermaßen wurde Herr Kaiser als Synonym für die Hamburg-Mannheimer in die journalistische Berichterstattung integriert (siehe Frankfurter Rundschau Beispiele in Abschnitt 4.3). Aufbauend auf diesen bereits aufgeführten Einbindungen der Figur, soll im Folgenden eine noch breitere externe Zirkulation anhand von konkreten Beispielen beleuchtet werden. Die einzelnen Beispiele werden dabei nach der jeweiligen Ausprägung der Rekontextualisierung geordnet, unter anderem der Figur als kognitiver Irritation oder der Figur als Symbol der Old Economy. Nach der Betrachtung der einzelnen Beispiele erfolgt die Reflexion der theoretischen Annahmen für dieses Fallbeispiel.
108
Kempe thematisiert in dem kurzen Beitrag die Haltung zu Versicherungen. Dabei stellt er der Möglichkeit, sich gegen alle Eventualitäten des Lebens zu versichern, die Absicherung des Nötigsten entgegen. Der Autor hat sich, so sein Schlusswort, persönlich für letztere Variante entschieden.
190
Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
9.4.1 Herr Kaiser als kognitive Irritation Herr Kaiser wurde in einer Ausprägung der Zirkulation außerhalb des Markenkontextes als Wort- bzw. Sinnspiel in Texte integriert. Dabei bezog sich die Rekontextualisierung weniger auf bedeutende Aspekte von Herrn Kaiser, als auf die Formelhaftigkeit der Werbeaussagen im Zusammenhang mit der Figur. So warb ein Radiosender am Bodensee nach Angaben der Mitarbeiterzeitschrift 1991 beispielsweise folgendermaßen: „Neufunkland […] ist wie Herr Kaiser: man kennt uns“ (EA forum 1991 (4), 23). Der Radiosender bezieht sich damit auf den ersten Slogan der Werbekommunikation mit Herrn Kaiser ‚Man kennt uns‘ und will darüber die eigene Bekanntheit vermitteln. ‚Man kennt Neufunkland‘, so die einfache Übersetzung, bedarf als Aussage inhaltlich keines solchen Vergleiches. Die Aussage ist sofort verständlich, in der Referenz auf Herrn Kaiser werden keine weiteren Bedeutungen aufgerufen. Die Referenz erzeugt allerdings eine kognitive Irritation durch die unerwartete Einbindung der Figur in den neuen Werbekontext und durch das Spiel mit der formelhaften und gelernten Werbeaussage (Willems und Kautt 2003, 86–99). Bei einer solchen Irritation werden Rahmungen bzw. Wahrnehmungserwartungen des Publikums spielerisch gebrochen ( Willems und Kautt 2003, 86–87 im Anschluss an Kroeber-Riel 1993, 107).109 Willems und Kautt zählen auch modulierte „[z]um Alltagswissen des Publikums gehörende Redewendungen, Sprichwörter und Zitate […]“ (2003, 89) zu den Quellen solcher Sinn-Irritationen. Diese sind nach Christa Wehner „kurz, allgemein-verständlich, einprägsam, eingängig und leben durch ungezählte Wiederholungen“ (1996, 91; siehe auch Willems und Kautt 2003, 89). Kognitive Irritationen werden eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu generieren (Willems und Kautt 2003, 86). Auch Herr Kaiser und der mit ihm assoziierte Slogan sind ‚durch ungezählte Wiederholungen‘ gelernt und werden in diesem neuen Werbeumfeld nicht erwartet. So versucht die Werbemaßnahme des Radiosenders durch die Rekontextualisierung der Figur und des gelernten Slogans über eine Sinn-Irritation Aufmerksamkeit zu generieren. Eine ähnliche Vorgehensweise lässt sich in einem Radio-Werbespot der Marke Bluna nachvollziehen. Die Mitarbeiterzeitschrift forum zitierte den Spot-Dialog im Jahr 1995 wie folgt: 109
Kroeber-Riel bezieht sich vornehmlich auf Bilder. Hier sollen diese Irritationen allerdings in Anlehnung an Willems und Kautt breiter, das heißt z.B. auch sprachlich, verstanden werden.
Zirkulation außerhalb des Markenkontextes
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‚Eine hübsche Flasche ist das!‘ – ‚Was?‘ – ‚Die Bluna.‘ – ‚Wo?‘ – ‚Auf Ihrem Kopf.‘ – ‚Gut, daß Sie mich daran erinnern, Herr Kaiser. Hatt’ ich glatt vergessen.‘ – ‚Tja, so bin ich zu meinen Kunden.‘ Beide: ‚Sind wir nicht alle ein bißchen Bluna?‘ (EA forum 1995 (5), 15)
In der forum wurde darauf geschlossen, dass Bluna die Prominenz der Werbefigur für die eigene Werbung nutze (EA forum 1995 (5), 15). Diese Prominenz kann innerhalb der externen Zirkulation der Figur ganz generell als notwendige Bedingung betrachtet werden. Je weniger Rezipient_innen den intertextuellen Verweis auf die Figur erkennen, desto geringer ist das Verständnis der Integration. Neben der Prominenz wird auch in dieser Werbemaßnahme auf eine Sinn-Irritation abgezielt: Bluna entlehnt die typische Situation des Kaiser-Kundengesprächs und transformiert sie in einen markentypischen, komisch-absurden Dialog, der sich schließlich in ‚Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?‘ auflöst. Die Aussage ‚Gut, daß Sie mich daran erinnern, Herr Kaiser‘ erinnert an den Hamburg-Mannheimer Ausspruch ‚Gut, daß ich Sie treffe‘. Vielmehr noch wird hier allerdings das Kommunikationsmuster selbst verwendet: Herr Kaiser gibt nützliche Tipps und seine Kund_innen sind ihm dafür dankbar. Die Sinn-Irritation wird zudem durch „[d]ie Enttäuschung grundlegender Sinn- bzw. Konsistenzerwartungen […]“ (Willems und Kautt 2003, 88), also durch den kommunizierten Un-sinn, verstärkt. Ein letztes Beispiel für die Funktion der kognitiven Irritation kommt aus dem Sportjournalismus. 1995 lautete eine Schlagzeile:110 „Hallo, Herr Kaiser! Gut, daß Sie treffen“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Der dazugehörige Artikel thematisierte den Sieg der Fußballmannschaft Hertha BSC und den Hertha-Torschützen Sven Kaiser. Die bekannte und aus dem ursprünglichen Kontext gerissene sprachliche Formel ‚Hallo, Herr Kaiser, gut, daß ich Sie treffe‘ unterstützt moduliert die Aufgabe der Schlagzeile, Aufmerksamkeit zu generieren. In diesem Wortspiel verliert der HamburgMannheimer-Signifikant gänzlich die Anbindung an das gelernte Signifikat und fungiert lediglich als gelernte Worthülse. Die sprachlichen und kommunikationsmechanischen Forme(l)n rund um Herrn Kaiser werden zur Erzeugung von kognitiven Irritationen genutzt. Diese Integration in neue Texte weist auch auf die Bekanntheit der Figur und der mit ihr assoziierten Zeichen hin. Die unerwartete Rekontextualisierung soll Aufmerksamkeit generieren, einen schnellen
110
Der Zeitungsname ist aus dem im Archiv aufbewahrten Zeitungsausschnitt nicht mehr nachvollziehbar.
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Einstieg in den Text ermöglichen und aus Sicht der Werbenden im besten Falle unterhalten.
9.4.2 Herr Kaiser als Möglichkeit zur Verkürzung von Aussagen Die Werbefigur Herr Kaiser wird in der Zirkulation außerhalb der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation auch dazu verwendet, um Inhalte knapp und prägnant zu kommunizieren. Diese Verkürzung intendierter Aussagen geschieht sowohl in Bezug auf die äußerliche Typik als auch in Bezug auf die kompakte Bedeutungseinheit, die Herr Kaiser darstellt. Als Beispiel für erstere Ausprägung kann ein Artikel aus dem Jahr 1996 in der Zeitschrift Allegra111 dienen: Ein vorgestelltes Aktentaschenmodell wurde mit den Worten „Hallo, Herr Kaiser“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997) beschrieben. Die Verwendung des Ausspruchs kann in Analogie zu den bereits aufgeführten Beispielen als kognitive Irritation gelesen werden. Das Aussehen und die Funktionalität der Aktentasche werden zudem durch die aufgemachte Verbindung zu Herrn Kaiser und seinem Accessoire implizit beschrieben. So ruft das Vergleichsobjekt z.B. Assoziationen wie die berufliche Nutzung (praktische Aufteilung, viel Platz) und die Reisebegleitung (robust) hervor. Diese Charakteristika können nun auf das aufgeführte Modell übertragen werden. Gegebenenfalls weckt der Vergleich bei der ein oder anderen Rezipient_in auch Begehrlichkeit – schließlich ist eine berühmte Medienfigur Namenspat_in und Vorbild. Ein anderer Artikel fragte zu einer Typveränderung des Politikers Rudolf Scharping (er trennte sich von seinem Bart),112 ob dieser „[…] durch seinen ‚Hamburg MannheimerLook‘ jetzt etwas lockerer wird?“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Hier wird der Verweis zu Herrn Kaiser über die beworbene Marke hergestellt, was auf das dichte Zeichengeflecht der Hamburg-Mannheimer Werbewelt hinweist: Ohne die Assoziation zu Herrn Kaiser würde die vorgenommene Beschreibung
111
Nach Archiv-Informationen im Herbst 1996 in der Allegra Women + Work zu finden. Zeitungsname und Publikationsjahr sind aus dem im Archiv aufbewahrten Zeitungsausschnitt nicht mehr nachvollziehbar. Es ist allerdings anzunehmen, dass es sich um einen Artikel aus den 1990er Jahren handelt, da hier das vornehmliche politische Wirken von Rudolf Scharping stattfand. 112
Zirkulation außerhalb des Markenkontextes
193
keinen Sinn ergeben. Herr Kaiser dient hier als (Vorstellungs-)Bild, das die Veränderung des Politikers mit wenigen Worten beschreibbar macht und ironisiert – denn Lockerheit ist insbesondere in den ersten beiden Kaiser-Ären kein Attribut, das der Figur zugeschrieben worden wäre. Durch die Bekanntheit und äußerliche Typik der Figur kann mit einem Verweis auf diese mental schnell ein Bild aufgerufen werden. Herr Kaiser dient als prägnanter Beschreibungsmodus für Äußerlichkeiten und Accessoires und verkürzt auf diese Weise intendierte Aussagen. Die Figur wird auch im Hinblick auf die Bedeutungen, für die sie steht, zur Verkürzung von Aussagen genutzt. Diese Ausprägung der Zirkulation von Herrn Kaiser außerhalb des Markenkontextes zeigt sich beispielsweise 1994 in einer Charakterisierung des Moderators Frank Elstner in der Zeitschrift Brigitte. Darin hieß es: „Der Showmaster mit Charme und Habitus eines Buchhalters beim Betriebsausflug wird selbst vom eigenen Team ‚unser Mann von der Hamburg-Mannheimer‘ genannt“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Der Charme und Habitus des Moderators wird in eine kausale Beziehung zum Spitznamen ‚unser Mann von der Hamburg-Mannheimer‘ gesetzt. Beide Beschreibungen verstärken sich gegenseitig, wobei die Parallele zu Herrn Kaiser wie eine Beweisführung für das vorher Gesagte anmutet. Umgekehrt werden damit auch Hinweise auf die Rezeption der Figur gegeben. Das, was die Hamburg-Mannheimer in der Interpretation der Figur als korrekt und seriös intendiert hat, wird extern auch weniger schmeichelhaft als ‚Buchhalter beim Betriebsausflug‘ (steif, langweilig, vorhersehbar) gelesen. Als sekundäres semiologisches System erfolgt die Bedeutungszuschreibung der Figur Günter Kaiser auf konnotativer Ebene, was in einem gewissen Rahmen variable Lektüremöglichkeiten nach sich zieht. Diese konnotativen Assoziationen werden hier außerhalb des Markenkontextes der Hamburg-Mannheimer verhandelt. Eine ganz ähnliche Verwendung findet Herr Kaiser als Beschreibungsmodus bei folgendem Artikelauszug aus der Frankfurter Neue Presse von 1994: „Bei der Gestaltung geben sich die Spitzenkandidaten hilfsbereit wie ‚Herr Kaiser‘ von der Versicherung“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Die Aussage bezieht sich auf die Selbstinszenierung von Politiker_innen in Wahlkampfwerbespots, weshalb sich eine ironische Lesart des Vergleichs zu Herrn Kaiser anbietet: Wie die Werbefigur werden die Politiker_innen als hilfsbereit dargestellt, aber wie bei der Werbefigur handelt
194
Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
es sich in diesem Fall lediglich um eine mediale Inszenierung. Wie die tatsächliche Leistung ausfallen wird, ist sowohl bei der Versicherung als auch in der Politik nicht absehbar. In den Beispielen werden mit der Figur assoziierte Eigenschaften genutzt, um ein Vergleichssubjekt zu charakterisieren. Dabei werden diese Bedeutungen in den Rekontextualisierungen (ironisch) verhandelt. Das Werbefachmagazin W&V kommentierte 1997 in dessen Kolumne ein Werbemotiv der Marke Renault.113 Darin heißt es zum Bild eines Autos, in das eingebrochen wird: „Selbst mit Herrn Kaiser ist der Rapid noch günstiger als alle anderen Transporter“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997). Mögliche Interpretationen der Anzeige liefert der fiktive Autor der Kolumne ‚Spießer Alfons‘ gleich mit: Wenn werblich die Rede ist von Herrn Kaiser, dann denken wir geschulten Rezipienten spontan an die Werbefigur der Hamburg-Mannheimer Versicherung. Und nachdem besagter Herr Kaiser sich gerade einem trendmäßigen Lifting unterzogen hat, kommt nun unglaubliche Kunde. Von Renault und Publicis – siehe Abbildung! Was wollen die Werber uns damit andeuten? Alfons der Spießer entnimmt dem Inserat, daß die Hamburg-Mannheimer eine der teuersten Kfz-Versicherungen ist. Was den spießigen Versicherungsnehmer persönlich ärgert, ist er demzufolge als Kunde nicht König bei Kaiser. Soweit der Gedanke Nr. 1. Gedanke Nr. 2 ist noch gräßlicher: Sollte der Herr Kaiser tatsächlich jener Dunkelmann sein, der in der Nacht die Autos knackt, um dann am nächsten Tage den Betroffenen eine entsprechende Versicherung aufzuschwatzen …? (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997)114
Die Kernaussage beider Interpretationsvarianten lautet: ‚Selbst wenn Sie die teuerste (und korrupteste) Versicherung auf dem Markt wählen, ist dieses Auto immer noch günstiger als alle anderen vergleichbaren‘. Hier werden externe (latente) Annahmen über die Marke Hamburg-Mannheimer über die Figur Herr Kaiser aufgerufen, um die neue Bedeutung ‚der Renault Rapid ist günstig‘ zu generieren. Wiederum dient die Figur dazu, die intendierte Aussage verkürzt darzustellen – gleichzeitig wird eine Sinn-Irritation erzeugt. Dabei zeugt die Lesart von Herrn Kaiser als Kriminellem auch vom negativen Deutungsraum (Image), den Figur und Marke potenziell bereithalten. Die Anzeige setzt ein Narrativ von Herrn Kaiser bzw. der Hamburg-Mannheimer als teurer, manipulativer und un-
113
Die W&V beschreibt ihre Kolumne auf derselben Seite folgendermaßen: „Spießer Alfons spießt die Werbung auf: An dieser Stelle finden Sie die ziemlich überhebliche und völlig unmaßgebliche Meinung eines Spießers, von der sich nicht nur die weh&vau-Redaktion, sondern auch der Verfasser selbst in aller Form distanzieren möchten. Der Druckfehlerteufel ist sporadischer Mitarbeiter an dieser Kolumne. Alle Reklamationen sind genauso ausgeschlossen wie der Rechtsweg“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; Hervorhebung im Original). 114 Die angesprochene Publicis ist eine Werbeagentur. Das ‚Lifting‘ bezieht sich auf den 1997 durchgeführten Kaiser-Darstellerwechsel.
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lauterer Versicherung voraus. Die Renault-Werbetreibenden müssen annehmen, dass dieses Narrativ ein gesellschaftlich geteiltes Wissen darstellt und nicht weiter ausformuliert werden muss, um verstanden zu werden. Die avisierte Lesart der Figur in der Anzeige ist weit entfernt von den werblich intendierten Botschaften, die die Hamburg-Mannheimer mit Herrn Kaiser kommunizieren möchte. Dieses semantische ‚Überstrapazieren‘ der Figur weist zum einen auf die Etabliertheit der Figur als Versicherungsvertreter (der Hamburg-Mannheimer) im Alltagsdiskurs hin. Nur durch dieses Wissen kann die darauf aufbauende und lediglich implizierte Pointe der teuren und korrupten Autoversicherung greifen. Zum anderen wird damit verdeutlicht, dass die Figur in der Kontextualisierung außerhalb der Werbekommunikation der Hamburg-Mannheimer eine Umdeutung erfahren hat, die nicht nur bildsymbolisch impliziert wird (wie z.B. bei der rechtsradikalen Deutung von Meister Proper aufgrund seiner Glatze). Das Image (Signifikat) des Zeichens Herr Kaiser wurde also durch eine wiederholte Verbindung mit Bedeutungen wie teuer und unlauter angereichert.
9.4.3 Herr Kaiser als Symbol für die Old Economy Die Werbefigur Herr Kaiser zirkuliert außerhalb des Markenkontextes außerdem als Symbol für die Old Economy. Als solches wird die Figur dazu eingesetzt, um einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Versicherungswelt aufzeigen. Unterschiedliche neue Anbieter auf dem Versicherungsmarkt verwenden die Figur seit ihrem offiziellem Werbeende 2010 zur eigenen Abgrenzung vom ‚alten Geschäftsmodell‘, darunter die Direktversicherer Huk24 und CosmosDirekt sowie das Vergleichsportal Check24. Die erste Episode einer YouTube-Spotreihe der Marke Huk24 von 2013 heißt: HUK24 - Episode 1 ‚Herr Kaiser‘, Versichert wie ein König (HUK24 2013). Bereits der Titel suggeriert einen ironischen Umgang mit der Werbefigur des einstigen Wettbewerbers. Gleichzeitig erinnert er an den Schulungsleitspruch des Außendienstes zur Anfangszeit der Werbefigur, der ebenfalls extern medial thematisiert wurde. Im Spot selbst wendet sich der Komiker Johann König direkt an das Publikum. Dabei mutet die Kulisse wie eine Showbühne an, sodass die Rahmung des Spots ankündigt: Hier wird ein Witz erzählt. Der Monolog lautet wie folgt:
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger Vor’n paar Tagen hab’ ich beim Herrn Kaiser angerufen und hab’ gesagt: Hallo, Herr Kaiser, König hier. Mal unter uns Adeligen, schon mal über ’ne Versicherung nachgedacht, die gut und günstig ist? Und da hat der Herr Kaiser einfach aufgelegt. Komischer Kerl der Kaiser. (HUK24 2013, 00:00:0300:00:27)
Zeitgleich zu Königs letztem Satz wird der Text-Abbinder „Versichert wie ein König. Aber günstig“ eingeblendet (HUK24 2013, 00:00:23). Die Figur Herr Kaiser wird genutzt, um zu verdeutlichen, dass die Direktversicherung der Huk24 eine ebenso gute Versicherungsleistung darstellt wie die der ‚alten Versicherungen‘, aber günstiger ist. Das Auflegen der Figur suggeriert dabei, dass diese Kombination aus ‚gut und günstig‘ auch einen Experten wie Herrn Kaiser überfordert. Die Erinnerung an Herrn Kaiser wird vor allem durch die Verwendung seines Namens aufgerufen. Des Weiteren begrüßt König ihn mit ‚Hallo, Herr Kaiser‘ und bemüht damit das Formelhafte und ‚Abgedroschene‘ als Merkmal der alten Welt. Durch Abgrenzung und Ironisierung versucht sich der neue Anbieter dagegen zu profilieren. Auf ähnliche Weise integriert die Versicherungsmarke CosmosDirekt die Figur Günter Kaiser in ihren Werbespot (Werbefilme1 2011)115. Dabei verdeutlicht ein Split-Screen verstärkend den Unterschied zwischen der alten und der neuen Versicherungswelt. Auf der einen Seite wird eine Frau durch einen Versicherungsvertreter, der sich als der Kaiser vorstellt („Hallo, hier ist der Kaiser. Hallo, hallo“ (Werbefilme1 2011, 00:00:0100:00:05)) und aufdringlich an der Tür klopft, in ihrer Morgenroutine gestört. Die Frau möchte offensichtlich nicht mit ihm reden und empfindet die Situation als unangenehm, worauf ihre Mimik und das Wegschleichen von der Glastür hindeuten. Diese unangenehme Situation wird durch den Leistungsvorteil der CosmosDirekt aufgelöst und in die Vergangenheit verbannt: Das Voice-Over und der eingeblendete Text, der den KaiserScreen überblendet, stellen fest: „Früher hatten Sie den Vertreter an der Tür. Heute haben Sie Ihren Berater in der Tasche“ (Werbefilme1 2011, 00:00:06-00:00:12). Die Abgrenzung erfolgt hier nicht wie im vorangegangenen Beispiel auf preislicher Ebene, sondern auf der Ebene der Beratungsleistung und der Kundenindividualität. Der Berater von CosmosDirekt ruft die Frau im neuen Screen (‚Heute‘) an und begrüßt sie wie folgt: „Stefan Arnold von CosmosDirekt, hallo. Sie hatten um Rückruf gebeten“ (Werbefilme1
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Der betreffende CosmosDirekt Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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2011, 00:00:13-00:00:16). Dem Vertreter (Herrn Kaiser) wird der Berater entgegengestellt, wobei der Vertreter für das aufdringliche, vom Versicherer gesteuerte Agieren steht. Der Berater dagegen reagiert auf den Wunsch seiner Kundin und berücksichtigt mit dem Anruf ihre Privatsphäre. Dementsprechende Zufriedenheit drückt die Reaktion der Frau aus (Lächeln; „Ja, schön, dass Sie anrufen“ (Werbefilme1 2011, 00:00:1600:00:18)) – ganz im Gegensatz zur Reaktion bei Herrn Kaisers Besuch. Die Gegenüberstellung der alten und neuen Vertreterpraktiken kommuniziert auch ein verändertes Verständnis von Privatheit: Sind die Haushalte, also die physischen Räume, in dieser Inszenierung der Inbegriff des Privaten und das vor Eindringlingen zu schützende, so wird die Abgabe persönlicher Daten in einem digitalen Raum als akzeptabler und weniger aufdringlicher Kommunikationsmodus dargestellt. Der Berater der CosmosDirekt ruft im Spot zwar aus der Distanz an, stellt aber sofort eine persönliche Ebene her, indem er seinen Namen nennt und als menschlicher Gesprächspartner gezeigt wird. Die Rezipient_in soll daraus schließen, dass die Versicherung zwar über das Internet abgeschlossen wird, aber nichtsdestotrotz Menschen wie Stefan Arnold hinter dem Angebot stehen. Das Bestreben nach Vermenschlichung lässt sich demnach auch in der neuen Versicherungswelt nachvollziehen. Das Voice-Over verlautbart im Anschluss: „Rund um die Uhr für Sie da. Wie, wo und wann Sie wollen. Wenn Sie wollen“ (Werbefilme1 2011, 00:00:16-00:00:20). Das Online-Angebot von CosmosDirekt, so lässt sich zusammenfassen, grenzt sich zum alten ‚Klinkenputzer-Verfahren‘ eines Herrn Kaisers ab, indem suggeriert wird, dass die Macht bei den Kund_innen liegt und dass es keine zeitliche oder örtliche Beschränkung gibt. Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass die Kund_innen nach wie vor mit einer persönlichen Beratung rechnen können. Das Vergleichsportal (unter anderem für Versicherungen) Check24 hat Herrn Kaiser in ihr Werbefiguren-Sitcommercial 2 Unvergleichliche Familien integriert. Die Werbeserie rund um zwei Familien, die versuchen über Check24 die besten Angebote zu erhalten, ist der US-Sitcom Eine schrecklich nette Familie (Leavitt und Moye 1987-1997) nachempfunden und mittlerweile in der vierten Staffel.116 Check24 hat mit dieser Werbe-
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Stand 21.07.2019.
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
serie eigene Werbefiguren geschaffen. Diese aktuellen Werbefiguren des Online-Anbieters werden in mehreren Episoden mit der ‚ausgedienten‘ Werbefigur Herr Kaiser konfrontiert.117 Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen wird Herr Kaiser hier nicht nur namentlich, durch ein Double oder über Bezüge zu Aussprüchen und Slogans zitiert. Die Figur Günter Kaiser wird hier durch den dritten Kaiser-Darsteller Wilder selbst verkörpert, was die Referenz stärker und unmissverständlicher macht. In der ersten Episode mit Herrn Kaiser sieht man Familie Bergmann in ihrem Wohnzimmer, als es an der Tür klingelt (gesas management 2017a)118. Nina mutmaßt, dass es der Herr von der Autoversicherung sein müsse, der nach der Versicherungskündigung mit ihnen reden wolle. Sobald ihre Teenager-Tochter Mary das Wort reden hört, steht ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben und sie flüchtet aus dem Wohnzimmer. Auch Ehemann Joe verzieht das Gesicht und lässt sich resigniert auf das Sofa fallen. Die gesamte Einführung des Versicherungsvertreters deutet darauf hin, dass sein Auftreten nicht erwünscht und ‚aus der Zeit gefallen‘ ist. Die elektronischen Geräte, die Mary (Smartphone) und Joe (Tablet) in den Händen halten, zeigen die neue Kommunikationsrealität an und stehen im direkten Kontrast zum Versicherungsvertreter, der sich persönlich auf den Weg zu den Bergmanns gemacht hat. Marys und Joes Reaktionen verdeutlichen die Ablehnung dieser alten Praxis. Das Reden als Besuchsgrund wird zudem nicht mit guter Beratung, sondern eher mit ‚Schwätzen‘ konnotiert – das Angebot des Versicherungsvertreters hätte ja auch von Anfang an besser sein können. Nina begrüßt den Versicherungsvertreter mit: „Hallo, Herr Kaiser“. Dieser wird bei Eintritt sitcomtypisch durch angedeutetes Studiopublikum mit begeistertem Applaus und Pfiffen begrüßt. Den Rezipient_innen wird angedeutet: Ein besonderer Seriengast hat die Bühne betreten. Der daraufhin stattfindende Dialog zwischen Nina, Joe und Herrn Kaiser lautet wie folgt: Nina: „Herr Kaiser, am Telefon meinten Sie, wir können gern unsere Kfz-Versicherung bei Check24 vergleichen, aber sollten nicht sofort wechseln, weil Sie – ‚Zitat‘ – auch günstiger werden, wenn wir woanders was günstigeres finden – ‚Zitat Ende‘.“ Nina an das Publikum gewandt: „Versteh’ ich nicht.“ […] Herr Kaiser: „Also es ist ein bisschen komplizierter, denke ich.“ Nina an das Publikum gewandt: „Aber wir möchten es einfach einfach haben.“
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Herr Kaiser tritt in drei Episoden der Check24-Werbeserie auf (Stand 21.07.2019). Der betreffende Check24 Werbespot ist auf diesem vimeo-Kanal zugänglich.
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Joe: „Also dann gute Heimreise nach Hamburg.“ Joe an das Publikum gewandt: „Oder war er Mannheimer?“ (gesas management 2017a, 00:00:14-00:00:45)
Die Szene spielt mit der direkten Adressierung des Publikums und bezieht es immer dort mit ein, wo sich die Darsteller_innen mit dem Publikum gemein machen oder eine Pointe setzen (Abb. 34).
Abb. 34: Stills aus einem Check24 Werbespot mit Herrn Kaiser, o. J. (gesas management 2017a, 00:00:12, 00:00:45; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved)
Die Kontraste zwischen den Check24 Figuren und Herrn Kaiser werden sowohl visuell als auch im Dialog deutlich. Wo Familie Bergmann farbenfroh und leger gekleidet ist, hat Herr Kaiser einen förmlichen Vertreteranzug an. Damit fällt er zum Teil hinter die moderne Kaiser-Inszenierung in der dritten Kaiser-Ära zurück – er bestätigt sein eigenes Klischee. Herr Kaiser ist zudem ‚sprachlos‘. Im Gegensatz zu Nina und Joe hat er kaum Redeanteil – offensichtlich kann er Ninas Ausführungen nichts entgegensetzen. Das widerspricht seiner beratenden und einflussnehmenden Rolle als Vertreter. Herr Kaiser als Synonym für die alte Versicherungswelt ist kompliziert, die Bergmanns wollen es ‚einfach einfach‘. Herr Kaiser ist teuer, die Bergmanns wollen ihre Versicherungsleistung günstig. Herr Kaiser will reden, die Bergmanns wollen das beste Angebot ohne ‚Geschwätz‘. Nicht zuletzt markiert Herr Kaiser selbst, dass er nicht mehr up-to-date ist, denn er ist ‚in die Jahre gekommen‘. Er ist das, was er bei der Hamburg-Mannheimer nicht werden durfte: gealtert. Schlussfolgernd setzt Joe die Hauptpointe: Er schickt Herrn Kaiser nach Hause, wobei wenig subtil auf die Hamburg-Mannheimer referenziert wird. Herr Kaiser muss mit allem, wofür er steht, Platz machen für das Neue. Dabei zeigt der anstehende ‚Heimweg‘ im Gegensatz zum ortsunabhängigen Internetdienst einmal mehr wie anachronistisch
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Herr Kaiser ist. Das Voice-Over übersetzt Joes Verabschiedung noch einmal in die Anweisung für die Rezipient_innen: „Mach’ Schluss mit deinem Versicherungsvertreter und spar’ bis zu 850 Euro bei der Autoversicherung“ (gesas management 2017a, 00:00:4500:00:50). In einer anderen Check24-Episode mit Herrn Kaiser hat dieser die Seiten gewechselt (CHECK24 2018): Die Werbefigur der Hamburg-Mannheimer ist jetzt im Team Check24, was symbolisch durch ihr Sporttrikot mit der Aufschrift ‚CHECKers‘ verdeutlicht wird. Joe und Nina leiten Herrn Kaiser wie folgt ein: Joe: „Hey Nina, wir haben ein neues Teammitglied!“ Nina: „Herr Kaiser? Unser Ex-Versicherungsvertreter?“ Herr Kaiser: „Bitte, ich bin Günter.“ (CHECK24 2018, 00:00:05-00:00:09)
Nina greift mit dem Hinweis ‚Ex-Versicherungsvertreter‘ die Aufforderung der ersten Kaiser-Episode auf. Damit gehen die Bergmanns als gutes Vorbild für die Rezipient_innen voran. Aber nicht nur die Bergmanns scheinen ‚Schluss gemacht‘ zu haben, auch Herr Kaiser selbst hat mit Beruf und Arbeitgeber gebrochen. Für diesen Sinneswandel erhält Herr Kaiser im Gegensatz zur ersten Episode nun symbolisch einen größeren Redepart. Herr Kaiser ist nicht mehr ‚sprachlos‘ – denn zur Check24-Leistung gibt es mehr zu sagen: Herr Kaiser: „Ihr hattet Recht. Die besten Autoversicherungen gibt‘s bei Check24.“ Nina: „Ah.“ Herr Kaiser: „Jetzt kann ich’s sagen – ich bin Privatier.“ Joe lachend zum Publikum gewandt: „Er meint in Rente.“ Herr Kaiser: „Ich spar’ jetzt auch mit Check24 und ruf’ da direkt an, wenn ich fragen habe. Die sind gut.“ Herr Kaiser an das Publikum gewandt: „Sie können mir vertrauen, ich bin Herr Kaiser. Ah, Günter.“ (CHECK24 2018, 00:00:12-00:00:26)
Herr Kaiser ist auf unterschiedliche Art und Weise in der ‚neuen Versicherungswelt‘ angekommen: Er bezieht selbst Leistungen des Online-Vergleichsportals, ist per Du und trägt lockere Sportklamotten (Abb. 35).
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Abb. 35: Stills aus einem Check24 Werbespot mit Herrn Kaiser, o. J. (CHECK24 2018, 00:00:06, 00:00:23; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved)
Es wird deutlich: Wenn Herr Kaiser nicht in einem Arbeitsverhältnis mit der HamburgMannheimer gestanden hätte, hätte er seine Meinung schon früher geäußert. Check24 offenbart den wahren und privaten Günter Kaiser (den Privatier), der eine andere Meinung zu haben scheint, als sein ehemaliger Arbeitgeber. Mit dem offenen Anzweifeln der Vertrauenswürdigkeit wird eine zentrale über Herrn Kaiser vermittelte Bedeutung für die Hamburg-Mannheimer untergraben. Vor diesem Hintergrund erscheint auch Herrn Kaisers Zusicherung, dass man ihm vertrauen könne, eher zweifelhaft. Das charakterisiert jedoch weniger das Check24-Angebot als die Figur selbst, die nach wie vor für die Praktiken der Old Economy steht. Herr Kaiser bietet auch dem Publikum (als Privatier) das Du an und damit den wahren Günter Kaiser, auf dessen Aussagen man vertrauen kann – vermutlich. In einer weiteren Kaiser-Episode von Check24 trifft Nina ihren Ehemann Joe beim ‚Brainstormen‘ mit Herrn Kaiser an (CHECK24 2018). Die beiden wollen sich eine neue Werbung für das Vergleichsportal Check24 überlegen und heben dessen Vorteile hervor, wobei Herr Kaiser argumentiert: „Über 300 Versicherungsexperten, keine Versicherung kann das besser“ (CHECK24 2018, 00:00:12-00:00:15). Zum Publikum gewandt fügt er hinzu: „Jetzt kann ich’s sagen“ (CHECK24 2018, 00:00:16-00:00:17). Nach der Lobeshymne der beiden erklärt Joe, dass die Marke mehr Werbung machen sollte: „Den Slogan haben wir schon: Der Kunde ist Kaiser“ (CHECK24 2018, 00:00:19-00:00:21) (Abb. 36).
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Abb. 36: Still aus einem Check24 Werbespot mit Herrn Kaiser, o. J. (CHECK24 2018, 00:00:21; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved)
Daraufhin fordert das Voice-Over die Zuschauer_innen auf: „Spar’ auch du kaiserlich bei der Autoversicherung. Bis zu 850 Euro im Jahr“ (CHECK24 2018, 00:00:21-00:00:25). Der erdachte Slogan ‚Der Kunde ist Kaiser‘ deutet den Hamburg-Mannheimer-Schulungsleitspruch ‚Der Kunde ist König – Sie sind Kaiser‘ um: Bei Check24 steht niemand mehr über der Kund_in. Diese trägt nun die (auch auf dem Flipchart visualisierte) Krone. Das Voice-Over bedient sich derweil am Slogan der Hamburg-Mannheimer ‚Kaiserlich versichert‘. Moderne Kund_innen sind nicht nur kaiserlich versichert, sondern sparen auch kaiserlich. Das können sie, weil sie in der Kundenbeziehung selbst Kaiser sind – sie sind nicht mehr vom Wohlwollen eines Herrn Kaiser abhängig. In der Episode wird das Leistungsversprechen der Hamburg-Mannheimer neu interpretiert, auf die Kund_in umgeschrieben und aufgezeigt: Früher haben Sie, liebe Kund_in, nicht im Mittelpunkt gestanden, heute schon. Neben dieser inhaltlichen Aussage erfolgt in dieser Episode zusätzlich eine Reflexion über das Werben selbst. Werbung wird als Kommunikation der Bekanntmachung dargestellt (Joe: „Die haben so’n gutes Produkt. […] Aber sie sollten echt mehr Werbung machen“ (CHECK24 2018, 00:00:09-00:00:18)). Dass die bekannten Werbefiguren die Arbeit ihrer Erfinder übernehmen, wirft humorvoll Licht auf die Gemachtheit der Werbekommunikation. So fragt Herr Kaiser die Check24 Werbefigur Nina: „Kennen Sie
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Check24?“ (CHECK24 2018, 00:00:07-00:00:08)). Diese Gattungsreflexivität zeigt dem Publikum auf, dass sich die Marke Check24 mit ihrer Werbekommunikation nicht allzu ernst nimmt und um das Gattungswissen des Publikums weiß. Nichtsdestotrotz wird kommuniziert: Die Check24 Produkte sind toll – sie sollten bekannt gemacht werden! So wird das Werben selbst verargumentiert. Die drei Kaiser-Episoden lassen sich wie eine Geschichte lesen:119 Zunächst will Herr Kaiser noch in alter Manier seine Versicherung verkaufen, kann Ninas Ausführungen aber nichts entgegensetzen. Daraufhin wechselt er das Team: Die Check24-Leistungen überzeugen ihn und als Rentner hat er nicht mehr den Zwang, sich vor seinen Arbeitgeber zu stellen. Das Du wird eingeführt und Herr Kaiser trägt sportlich freizeitliche Kleidung. Schließlich ist er so begeistert von Check24, dass er die Marke aktiv bewerben möchte. Die Figur wird also innerhalb der Geschichte vom Fremdvertreter zum Kunden und schließlich zum Befürworter von Check24. Folgerichtig eignet sich Check24 Herrn Kaisers Namen im Hinblick auf die etablierten Aussprüche im neuen Kontext an und stellt diesen ‚richtig‘. Die Check24-Werbung erscheint besonders tragikomisch vor dem Hintergrund der einst durch die Hamburg-Mannheimer vorhergesehenen Markttransparenz im Internet. Ausgerechnet ein Vergleichsportal verwendet Günter Kaiser als Symbol für die alte Versicherungswelt, um sich von dieser abzugrenzen. Dabei wird das Angebot des Vergleichsportals als so herausragend präsentiert, dass Herr Kaiser nach 38 Werbejahren für die Hamburg-Mannheimer bereitwillig die Seiten wechselt. Auch die von der Hamburg-Mannheimer bereits damals thematisierte persönliche Betreuung in Zeiten des Internets wird sowohl in der Check24-Werbung als auch in der Huk24-Werbung aufgegriffen. Im Jahr 1998 hieß es in der Hamburg-Mannheimer Mitarbeiterzeitschrift dazu: Rasanter als jedes andere technische Medium wächst das Internet und verändert sich. […] Allerdings sind sich auch überzeugte Anhänger der virtuellen Hamburg-Mannheimer-Welt einig, daß selbst ein noch so gelungener Internet-Auftritt eines nie ersetzen kann: den persönlichen Kontakt und die persönliche Überzeugungskraft des Vermittlers. (EA forum 1998 (1), 31)
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Die Kaiser-Episoden werden bei Check24 dagegen in einer anderen Reihenfolge gelistet: Guten Tag & Tschüss (S03E03), Kunde ist Kaiser (S04E08) und Herr Kaiser ist jetzt Privatier (S04E09) (Check24 Webseite).
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Attribute wie Nähe und persönliche Betreuung, die Günter Kaiser einst für die HamburgMannheimer verkörperte, werden neu verhandelt: Das Eindringen in die heimische Sphäre wird als unerwünscht und aufdringlich gedeutet (siehe im Gegensatz dazu diesen Hamburg-Mannheimer-Spot: EA Werbespot 1972a). Nähe bedarf eines gebührenden Abstands (digital) und wird eher mit einer ständigen Erreichbarkeit und den passenden Devices verbunden.120 Der persönliche Kontakt ist noch immer relevant (‚Stefan Arnold‘ bei CosmosDirekt, ‚300 Versicherungsexperten‘ bei Check24), jedoch nur, wenn die Kund_in es möchte. Die Abgrenzung der Wettbewerber zu Herrn Kaiser als Symbol für den Versicherungsvertreter in der Old Economy verdeutlicht: Die Kund_innen haben die Kontrolle, nicht mehr Herr Kaiser. Die kontinuierliche Zirkulation von Herrn Kaiser nach dem Ende der Marke Hamburg-Mannheimer weist darauf hin, wie nachhaltig sich die Figur in den Alltagsdiskurs eingeschrieben hat. Die Abgrenzung der Wettbewerber zu Herrn Kaiser kann nur so prägnant erfolgen, weil die Figur ein gelerntes und profiliertes Symbol ist. Herr Kaiser ist ein Zeichen für verhandelbare Werte und Themen wie Nähe, Menschlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, den Vertreterberuf und das Versicherungswesen. Diese Bedeutungen werden zu großen Teilen bereits bildsymbolisch evoziert. Das Aussehen der Figur weist eine hohe Typik auf, ebenso wie die mit Herrn Kaiser verbundenen Werbeaussagen. Durch diese visuellen und sprachlichen Anker können die Assoziationen zu Herrn Kaiser und der Hamburg-Mannheimer ohne weitere Erläuterung hervorgerufen und verhandelt werden. Als menschliches Wesen kann die Figur überdies agierend in die Handlung integriert und wie im Check24-Beispiel auch von neuen Angeboten überzeugt werden.
9.4.4 Herr Kaiser als Medium zur Äußerung von Kritik Abschließend soll mit einem ZDF-Beitrag (Herr Kaiser nackt. - Der satirische Adventskalender) eine weitere Ausprägung der Zirkulation von Herrn Kaiser außerhalb des Markenkontextes aufgezeigt werden. Insbesondere die äußerliche und narrative Typik sowie
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Bezeichnend ist hierbei auch die Zahl 24, welche die beiden Marken Check24 und Huk24 im Namen tragen: Bereits hier wird die ständige Erreichbarkeit der Anbieter suggeriert.
Zirkulation außerhalb des Markenkontextes
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das augenscheinlich Mustergültige der Werbefigur bereiten in dem Videobeitrag den Boden für die komische Umdeutung des Zeichens Herr Kaiser. Die ZDF Autoren arbeiteten 2011 mit Herrn Kaiser als Hauptprotagonisten den Hamburg-Mannheimer LustreisenSkandal auf (ZDFlachbar 2013). Zum Skandal: Die Hamburg-Mannheimer hatte erfolgreiche Vertreter auf eine Incentive-Reise nach Budapest eingeladen. Auf dieser Reise waren auch Prostituierte zugegen, die über Firmenkosten abgerechnet wurden. Die Prostituierten, so berichtete das Handelsblatt, wurden „[…] mit farbigen Armbändern gekennzeichnet, und nach jedem Liebesdienst am Unterarm abgestempelt“ (Iwersen 2012). Den auf Youtube abrufbaren ZDF-Beitrag leitet Autor Andreas Wiemers wie folgt ein: Die Hamburg-Mannheimer hat ihre Vertreter zur Belohnung für tolle Arbeit gemeinsam in den Puff eingeladen und die Prostituierten haben sie mit Bändchen markiert. So kam es 2011 bei uns zum freizügigen Auftritt von Herrn Kaiser. (ZDFlachbar 2013, 00:00:00-00:00:14)
Durch diese Einleitung wird den Rezipient_innen vorab der Gegenstand der geäußerten Kritik mitgeteilt: Die Hamburg-Mannheimer und ihre unlautere Incentive-Reise. Dabei wird die Unternehmensmarke im Video nicht erwähnt. Stattdessen steht Herr Kaiser als Hauptprotagonist synonym für das Unternehmen, wie vorangehend schon öfter bei journalistischen Beiträgen beobachtet werden konnte, und fungiert so als Medium zur Äußerung der Kritik. Im Video wird Herr Kaiser von einem autoputzenden Anwohner, von Joggerinnen und einer vorbeigehenden älteren Dame mit den bekannten Worten ‚Hallo, Herr Kaiser‘ begrüßt. Damit werden mehrere typische Motive und Muster der Kaiser-Kommunikation aufgegriffen: Von der Wiederholung der bekannten Kommunikationsmechanik (Herr Kaiser wird auf seinem Weg freudig erkannt und gegrüßt) mit dem bekannten und formelhaften Ausspruch (‚Hallo, Herr Kaiser‘) bis hin zur Nachempfindung einzelner Werbespot-Szenen (joggende Menschen in der ‚Mehr vom Leben‘-Kampagne). Auch das typische Bild der Figur ist mit Anzug, Krawatte sowie sauber gekämmter und gescheitelter Frisur den ersten beiden Kaiser-Ären nachempfunden. Der in diesen ersten Einstellungen aufgerufene Herr Kaiser ist der Inbegriff eines ordentlichen und sympathisch erlebten Geschäftsmanns. Dies wird von seiner Umgebung gespiegelt (Abb. 37): Herr Kaiser bewegt sich durch eine ordentliche Vorstadtkulisse mit viel grün, dem Mercedes, der in der Auffahrt gereinigt wird, und höflich grüßenden Menschen. Die inszenierte Idylle wird durch Musik unterstrichen, die ein freundlich-friedliches Stimmungsbild zeichnet.
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Abb. 37: Stills aus dem ZDF-Beitrag Herr Kaiser nackt. - Der satirische Adventskalender von 2011 (ZDFlachbar 2013, 00:00:15, 00:00:22, 00:00:25)
Diese im Kontext von Herrn Kaiser erwartbare Idylle wird gebrochen als dieser einen Supermarkt betritt. Über dem Supermarkt-Eingang verlautbart ein Banner (Abb. 38): „Wir achten auf Qualität“. Bei Eintritt in den Supermarkt wird konterkarierend dazu ersichtlich, dass Herr Kaiser keine Hose trägt. Nur auf den ersten Blick entspricht er also dem vorab gezeichneten ordentlichen und gesellschaftlich-akzeptierten Bild. Doch Herr Kaiser passiert den Eingang und besteht damit die suggerierte Qualitätsprüfung. Dabei wird in der nächsten Einstellung sein Genital, ein im Film oftmals tabuisierter Körperbereich, gezeigt, was die vorab angekündigte institutionelle Prüfung vorführt.
Abb. 38: Still aus dem ZDF-Beitrag Herr Kaiser nackt. - Der satirische Adventskalender von 2011 (ZDFlachbar 2013, 00:00:35)
Suchend schreitet Herr Kaiser durch den Supermarkt bis ihm eine Verkäuferin, die eigentlich Qualitätsprüferin sein sollte, zur Hilfe eilt. Die bis zu diesem Zeitpunkt spielende idyllische Hintergrundmusik bricht mit dem Redebeitrag der Verkäuferin ab. Diese erkennt Herrn Kaiser ebenfalls wieder und begrüßt ihn wie folgt: „Hallo, Herr Kaiser, na geht’s wieder zum Ficken nach Budapest?“ (ZDFlachbar 2013, 00:00:54-00:00:57). Dabei zeigt das Ende der Musik auch inhaltlich eine Zäsur an: Herrn Kaisers Anliegen hat nichts mit der Idylle, die die Musik suggerierte, zu tun. Statt der erwartbaren Zurechtweisung durch die Verkäuferin, leistet sie Hilfestellung bei der Organisation der Lustreise.
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Die Verkäuferin erklärt ihm die Regeln zur Aufteilung der Armbändchen unter den Prostituierten. Es wird deutlich, dass dieses Verhalten keine Ausnahme darstellt, sondern gängige Praxis ist („Aber Herr Kaiser, dass Sie das immer vergessen“ (ZDFlachbar 2013, 00:01:04-00:01:06)). Doch auch die Verkäuferin behandelt Herrn Kaiser, ebenso wie die grüßenden Menschen zuvor, sehr freundlich – sein ungebührliches Verhalten wird offensichtlich toleriert und gar unterstützt. Nach der Erläuterung der Verkäuferin schlägt sich Herr Kaiser einsichtig vor die Stirn, wobei ein Ehering zum Vorschein kommt. Ihm (und damit der Hamburg-Mannheimer) ist nichts heilig, weder eheliche Treue noch Firmengelder. Durch Herrn Kaiser als ‚Pars pro Toto‘ wird Kritik an der scheinbar gängigen Praxis der Hamburg-Mannheimer geübt. Der kritische Kommentar ist dabei so verständlich, weil die synonyme Nutzung von Figur und Unternehmen (spätestens nach der Einleitung) deutlich ist und typische (oder gar stereotype) Bilder, Werte und Kommunikationsmuster der Figur genutzt werden. Dieses Gelernte und Erwartete wird durch tabuisierte Sprache und Bilder drastisch gebrochen und (die heile Welt) ad absurdum geführt. Der Mythos Herr Kaiser wird in dem Zeichensystem des ZDF-Beitrags entzaubert und mit Barthes’ Worten als ‚betrachtete Naivität‘ begründet. Dass das eingangs aufgerufene gutbürgerliche Gesellschaftsbild durch die hosenlose Werbefigur vorgeführt wird, kann auch als generelle Werbe- und Gesellschaftskritik gelesen werden. So können die mit der Figur Herr Kaiser assoziierten Bedeutungen im Markenkontext gelesen werden, müssen es aber nicht. Wenn Herr Kaiser genereller als Symbol für Ordentlichkeit, durchschnittliche Bürgerlichkeit und Vertrauenswürdigkeit verstanden wird, dann werden diese Werte im ZDF-Beitrag als Fassade entlarvt. Herr Kaiser wird mit seinem sexistischen Verhalten und dem Verprassen von Firmengeldern gesellschaftlich akzeptiert. Schlussendlich kann Herr Kaiser als langjährige Werbefigur auch als das Werbesymbol schlechthin gelesen werden. Vor diesem Hintergrund äußert der Beitrag grundsätzliche Werbekritik: Kritik an einer Kommunikation, die blendet, und Kritik an den Konsument_innen, die sich bereitwillig blenden lassen.
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
Reflexion der theoretischen Annahmen
Im vorliegenden Fallbeispiel sollte die Analyse der Bedeutungsgenerierung und der Zirkulation von Herrn Kaiser mithilfe der theoretischen Annahmen der Figur als Symbol, Mythos und multimodalem Zeichenträger reflektiert werden. Bezugnehmend auf Kapitel B wurde auf die symbolische Funktion der Werbefigur für die Marke Hamburg-Mannheimer hingewiesen. Darauf aufbauend wurde die bildsymbolische Bedeutungsgenerierung von Herrn Kaiser in den Blick genommen. Dabei konnte insbesondere das typische, sich nur marginal ändernde Bild der Figur zwischen 1972 und 1996 als sekundäres semiologisches System beschrieben werden. Vor dem Hintergrund der Botschaft eines vertrauenswürdigen und sympathischen Geschäftspartners wurde aufgezeigt, wie das Zeichenkonstrukt über die Verwendung bestimmter Signifikanten (Anzug mit Bügelfalte und Schlips, Aktenkoffer, Brille, Seitenscheitel) eben jene Bedeutung transportieren soll. Herr Kaiser fungiert als Symbol, das seine Bedeutung als Mythos (Barthes) generiert. Damit soll die Botschaft eines vertrauenswürdigen Geschäftspartners nicht nur besonders schnell erfassbar gemacht, sondern auch naturalisiert werden. Die analytische Perspektive des sekundären semiologischen Systems erwies sich in diesem Fallbeispiel auch als fruchtbar, um die kommunizierte Arbeit der Mythenproduzenten, also der Werbetreibenden, in der Mitarbeiterzeitschrift nachzuzeichnen. Hier stand bei der Hamburg-Mannheimer intern vielfach die Frage im Raum, wie diese oder jene Bedeutung durch die Kombination von Zeichen hervorgebracht werden könnte. Die Betrachtung der Werbefigur als Mythos schärft damit insbesondere den Blick für die absichtsvolle Konstruiertheit der Figur. Mit der bildsymbolischen Bedeutungsgenerierung auf Basis der immer gleichen Signifikanten geht auch eine hohe äußerliche Typik der Figur einher. Das in den ersten beiden Kaiser-Ären etablierte Aussehen sichert die angestrebte Wiedererkennbarkeit nicht nur in der Werbekommunikation der Hamburg-Mannheimer (z.B. stark verpixelt mit Brille und Seitenscheitel im Hamburg-Mannheimer Bildschirmtext), sondern auch außerhalb davon (z.B. im CosmosDirekt Werbespot mit Anzug und Aktentasche vor der Haustür einer Kundin). Vor allem innerhalb der Werbekommunikation der Hamburg-Mannheimer wurde deutlich, wie Herr Kaiser als multimodales, typisches Zeichen flexibel in
Reflexion der theoretischen Annahmen
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verschiedenen Medien dargestellt wurde und so die Kommunikation integrierte. Die Figur fungierte weiterhin als Bezugspunkt für typische, formelhafte Werbeaussagen (‚Hallo, Herr Kaiser‘, ‚Der Mann von der Hamburg-Mannheimer‘, ‚Kaiserlich versichert‘), womit die Figur und die mit ihr verbundenen Assoziationen auch im rein sprachlichen Werben (Text, Ton) oder in der schriftlichen Berichterstattung aufgerufen werden konnten. Ähnlich wurden Kommunikationsmuster typisch für die Kommunikation mit Herrn Kaiser und konnten als Muster zitiert und moduliert werden. So setzte die Hamburg-Mannheimer mit Herrn Kaiser jahrelang die Kommunikationsmechaniken des Wiedererkennens und Grüßens sowie des Kundengesprächs ein. Sowohl die Werbeaussprüche als auch die Kommunikationsmuster können in der Rekontextualisierung zu SinnIrritationen führen (z.B. im Zeitungsartikel über einen Hertha-Torschützen) und als Rahmen für neue Botschaften dienen (z.B. in der Kritik des ZDF-Beitrags). Die schnelle visuelle, sprachliche und musterbezogene Wiedererkennbarkeit der Figur begünstigt ihre Zirkulation. Herr Kaiser wurde und wird zur Beschreibung, zur Umdeutung und zum Infragestellen als kompakte Bedeutungseinheit in Texte außerhalb der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation integriert. Das Symbol Herr Kaiser begünstigt eine prägnante Kommunikation. Das unterstreicht insbesondere die Nutzung der Figur in der Werbung (z.B. in der Renault-Anzeige), die auf prägnante und schnell verständliche Kommunikation ausgerichtet ist. Dabei erleichtert auch die Bedeutungszuschreibung auf konnotativer Ebene die Rekontextualisierung der Figur. Die Konnotationen, die das Zeichenkonstrukt Herr Kaiser aufwirft, sind in einem gewissen Rahmen variabel und können (kritisch) verhandelt werden, was die Figur flexibel einsetzbar macht (z.B. aus Nähe wird Aufdringlichkeit, aus Ordentlichkeit wird Langeweile). Auch innerhalb der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation wurde diese konnotative Struktur mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen genutzt, indem die Figur beispielsweise mal als kompetenter Berater und mal als Kümmerer inszeniert wurde. Die getroffenen theoretischen Annahmen konnten als Hilfestellung fungieren, um zu untersuchen, mit welchen Verfahren bei der Figur Herr Kaiser Bedeutung generiert wird. In der Analyse der Zirkulation von Herrn Kaiser konnte zudem nachvollzogen werden, dass die Symbolhaftigkeit und Typik sowie die Multimodalität und die Art und Weise der Bedeutungsgenerierung die Zirkulationsfähigkeit der Figur begünstigen. Herr Kaiser ist
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Herr Kaiser als Symbol, Mythos und multimodaler Zeichenträger
(noch immer) ein prägnantes und flexibles Zeichen, das in verschiedenen Texten, Medien und Diskursen dargestellt und verhandelt wird. Die theoretischen Annahmen unterstützten in diesem Fallbeispiel eine strukturierte Analyse der Werbefigur Herr Kaiser von der Bedeutungsgenerierung über die mediale und textuelle Zirkulation innerhalb der Hamburg-Mannheimer Werbekommunikation bis hin zur diskursiven Verhandlung außerhalb des Markenkontextes.
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Adressierung und Beziehungsaufbau
10 Die Werbefigur als Beziehungsangebot Die medienwissenschaftlich interessierte Werbeforscher_in hat einen Vorteil: Sie weiß um die Intention der Gattung, die sie untersuchen möchte. Werbung will Einstellung und Verhalten seiner Rezipient_innen im Sinne des Beworbenen beeinflussen (Kroeber-Riel und Esch 2015, 52–55; Siegert und Brecheis 2017, 12–13). Für die Absatzwerbung lautet das zentrale Ziel: Verkauf (Kroeber-Riel und Esch 2015, 52; Borchers 2014b, 241–43).121 In Kapitel B wurde das Verhältnis der Werbefigur zur beworbenen Marke reflektiert. In diesem Kapitel geht es nun um die Werbefigur und ihr Publikum, genauer gesagt um die (wirkungsvolle) Verbindung, welche die Werbefigur zum Publikum anstrebt. Wie sich aber nun der Rolle der Werbefigur in dieser persuasiven Kommunikation nähern? Ich schlage vor, dafür zunächst die an der Kommunikation involvierten Entitäten zu skizzieren – denn so wird auch deutlich, wo die Werbefigur mit welchen Relationen zu verorten ist. Auf dieser Basis kann in einem nächsten Schritt der analytische Fokus im Hinblick auf die kommunikativen Operationen der Werbefigur geschärft werden. Barbara B. Stern legt 1994 ein Modell der massenmedial vermittelten Werbekommunikation vor, das sowohl die Kommunikationsinstanzen als auch deren Zusammenhänge reflektiert.122 Wie es Modellierungen eigen ist (die in dieser Arbeit vorgestellten eingeschlossen), ist Sterns Vorschlag eine verkürzte Darstellung eines komplexen kommunikations- und medientheoretischen Sachverhalts. Es ist daher nicht verwunderlich, noch kann es zum Vorwurf gemacht werden, dass z.B. die Komplexität der Bedeutungsgenerierung nur schwerlich abgebildet werden kann (obwohl genau das ein Ziel der Autorin ist (Stern 1994, 6)) oder konstituierende Bestandteile der medienvermittelten Kommunikation wie der Werbeträger (als Medium) nicht explizit mit reflektiert werden (Zurstiege 2007, 117–18). Das entwickelte Modell schafft allerdings insbesondere auf Produzentenund auf Rezipientenseite Transparenz für die besondere Konstellation der Kommunikationsteilnehmer_innen in der Werbung. Wie Abb. 39 verdeutlicht, ist es im Gegensatz zum 121
Dabei ist allerdings der Einfluss der Werbung auf den absatzwirtschaftlichen Erfolg nicht ohne Weiteres wissenschaftlich nachvollziehbar (Ayaß 2001, 201; Kroeber-Riel und Esch 2015, 53–55) – die Einflussfaktoren auf die Kaufentscheidung sind schlicht zu mannigfaltig. 122 Auf dieses Modell wird auch heute noch würdigend z.B. in den Studienbüchern von Zurstiege (2007, 110–18) oder Janich (2013, 41–44) referiert.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_10
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klassischen Kommunikationsmodell (Sender – Nachricht – Empfänger) multidimensional aufgebaut (Stern 1994, 8–11). Auf der Produzentenseite wird zwischen Werbetreibenden (sponsor), Werbeproduzenten oder Kreativen (author) und der Persona unterschieden. Dabei trägt die werbetreibende Instanz die finanzielle und rechtliche Verantwortung für das Werbeprodukt. Ihr Name (bzw. das Markenprodukt) soll beworben werden. Der Werbeproduzent, meist eine Agentur, ist kreativer Gestalter des Texts auf der Grundlage der strategischen Ziele und Vorgaben des Werbetreibenden. Für das Werbepublikum tritt dieser in der Regel völlig in den Hintergrund (Zurstiege 2007, 111; Stern 1994, 9). Die dritte Instanz auf Sender- bzw. Produzentenseite ist die Persona. Sie stellt den Kommunikator im Werbetext dar und ist im Gegensatz zu den textexternen Kommunikationsteilnehmer_innen aus der ‚realen‘ Welt eine rein textinterne Instanz (Stern 1994, 9). Auch wenn diese Persona durch die Firmeninhaber_in selbst dargestellt wird (z.B. Claus Hipp für Hipp), so sind Werbetreibender und Persona für Stern (1994, 9) nicht identisch, weil das medial Dargestellte und Geäußerte immer auf den Werbezweck ausgerichtet und dementsprechend konstruiert ist. Neben tatsächlichen Mitarbeiter_innen oder Inhaber_innen des Unternehmens können z.B. auch prominente Fürsprecher_innen als Persona eingesetzt werden. Zurstiege weist jedoch auf Folgendes hin: Weitaus wichtiger als der prominente Testimonial sind […] jene langfristig aufgebauten kommunikativen Adressen für Beziehungsangebote, die im Erfolgsfall als Produkt- oder Marken-Persönlichkeiten beschrieben werden können. (2007, 111)
Als eine solche langfristig aufgebaute kommunikative Adresse kann auch die Werbefigur eingeordnet werden. Diese Langfristigkeit beeinflusst die Beziehungsfähigkeit der Werbefigur: Dadurch, dass sie oftmals über Jahre im Einsatz für ihre Marke ist, können Rezipient_innen Wissensstrukturen aufbauen. Sie bietet unter anderem deshalb einen stärkeren Anknüpfungspunkt für parasoziale Bindungen als einfache Werbestatist_innen.
Die Werbefigur als Beziehungsangebot
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Abb. 39: Communication Model for Advertising (Stern 1994, 9)
An der Persona wird nun die Äußerung der Werbebotschaft festgemacht (‚the persona’s message‘), die als zweite Dimension im Modell mit klassischen Darstellungsformen beschrieben wird (Stern 1991, 1994, 9–10): Es wird zwischen Ich-Erzählung (autobiography), Handlungsbeschreibung (narrative) und der Handlungsinszenierung (drama) unterschieden.123 Je nach gewählter Erzählperspektive wird die Persona unterschiedlich positioniert, was auch unterschiedliche Zuschauerrollen nach sich ziehen soll (Stern 1994, 9–10). So wird durch die Ich-Erzählung nach Stern (1994, 10, 1991, 11–13) eine intime Situation konfiguriert, in der ‚lauschende‘ Rezipient_innen persönliche Erfahrungen nachvollziehen können. Die Handlungsbeschreibung dagegen positioniert die Rezipient_innen eher als Lernende, die durch den Erzähler alle notwendigen Informationen zum Verstehen des Präsentierten erhalten (Stern 1994, 10, 1991, 12–14). Die Rezipient_innen der Handlungsinszenierung schließlich werden als involviert und empathisch skizziert (Stern 1994, 10, 1991, 12–15). Auf Rezipientenseite ist die erste zu berücksichtigende Instanz die implizite Rezipient_in (implied consumer). Diese stellt die imaginierte Rezipient_in dar, welche die Persona adressiert, und ist damit ebenfalls eine textinterne Entität (Stern 1994, 10). Die implizite Rezipient_in ist nach Stern (1994, 11) die ‚ideale‘ Rezipient_in: So sei sie ideal empfänglich für die persuasive Nachricht der Persona. Ferner wird der impliziten Rezipient_in zugeschrieben, dass sie Werte, Ängste, Hoffnungen und Kommunikationscodes mit der Persona teilt. Da die implizite Rezipient_in in jeden Werbetext mit eingeschrieben ist und bereits in der Produktion als imaginierte Rezipient_in mitgedacht wird, ist sie in
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Übersetzung der englischen Begriffe nach Janich (2013, 42).
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jedem Werbetext präsent (Stern 1994, 11). Eine weitere Instanz auf Rezipientenseite stellen die Werbetreibenden selbst dar. Sie sind als Auftraggeber die ersten realen Rezipient_innen, die eine Gatekeeper-Funktion innehaben: Ohne ihre Zustimmung wird der produzierte Werbetext nicht geschaltet (Stern 1994, 11). Die dritte Einheit stellen die tatsächlichen, realen Rezipient_innen (actual consumers) aus der Zielgruppe der Werbetreibenden dar. Nach Stern (1994, 13) können sich diese tatsächlichen Rezipient_innen im Gegensatz zu den impliziten Rezipient_innen dem Text gegenüber unkooperativ verhalten und ihn z.B. zynisch lesen.124 Wie bereits erwähnt, wird in Sterns Modell zwischen textexternen und textinternen Instanzen unterschieden. Dabei ist die Persona die Instanz, der sich nicht nur der Text zuordnen lässt, sie stellt auch die textinterne kommunikative Adresse für die Produzentenseite dar. Als ‚Gesicht und Stimme‘ der Werbetreibenden (Zurstiege 2007, 111) wird an ihnen „[…] das Beziehungsangebot festgemacht, das die Werbetreibenden den Werberezipienten unterbreiten“ (Zurstiege 2007, 112). Damit stellen sie einen fruchtbaren Ausgangspunkt für die Untersuchung eben jenes Beziehungsangebots dar. Die Betrachtung der Adressierungsleistung der Werbefigur, so wird im Folgenden angenommen, lässt Rückschlüsse darüber zu, wie Werbetreibende wirken wollen und welche Rollen sie Rezipient_innen zu diesem Zweck mit der Ansprache zuweisen.125 In diesem Kapitel sollen daher nach einigen generellen Anmerkungen zur Rezeption von Werbung (Abschnitt 10.1) die Adressierungscharakteristika der Werbefigur beleuchtet werden, durch die der Beziehungsaufbau zur Rezipient_in angestrebt wird (Abschnitt 10.2-10.4). Die Adressierungsleistung soll dabei im Kontext des Konzepts der parasozialen Interaktion betrachtet werden. Auf Basis dieser Überlegungen wird in Abschnitt 11 ein Vorschlag für die Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur gemacht.
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Selbstverständlich ist die von Stern vorgestellte Idee einer impliziten Rezipient_in oder die einer aktiven, bedeutungsgenerierenden Leser_in nicht neu, sondern ‚lediglich‘ aggregiert in diesem spezifischen Modell für die Werbekommunikation zusammengetragen. Diese Konzepte wurden unter anderem in der Literaturwissenschaft (siehe beispielhaft Wolfgang Iser 1972) und in den Cultural Studies (siehe beispielhaft Hall 1999) erarbeitet. 125 Der Werbetext als Analysegegenstand sagt dagegen nur bedingt etwas über die reale Rezipient_in oder die tatsächliche Wirkung bei ihr aus. Dabei muss angemerkt werden, dass die Vorstellungen über die implizite Rezipient_in maßgeblich aus Ergebnissen der Konsumentenforschung über eben jene tatsächlichen Konsument_innen resultieren. Einen Überblick über die Gebiete der Konsumentenforschung bieten Kroeber-Riel und Gröppel-Klein (2013) in ihrem Buch Konsumentenverhalten.
Exkurs: Anmerkungen zur Rezeption von Werbung
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10.1 Exkurs: Anmerkungen zur Rezeption von Werbung Der Untersuchung der Adressierung durch die Werbefigur soll an dieser Stelle eine kurze Reflexion über die Werberezeption selbst vorangestellt werden, um die ambivalente Rezeptionshaltung gegenüber Werbung nicht auszublenden. Dabei werden auch Überlegungen dazu angestellt, welchen Einfluss die Annahmen über die Adressat_innen und ihr Rezeptionsverhalten auf die Gestaltung von Werbekommunikation hat. Ruth Ayaß resümiert aus einer qualitativen Rezeptionsanalyse das, was viele in Bezug auf Werberezeption bereits vermuten: „Werbungsrezipienten verhalten sich, euphemistisch formuliert, nicht gerade sehr kooperativ“ (2001, 210).126 Das unkooperative Rezeptionsverhalten äußere sich z.B. in kontraproduktiven Antworten, negativen Äußerungen oder in ironischen Lesarten der Werbetexte (Ayaß 2001, 210, 214-215).127 Zudem würden diverse Vermeidungsstrategien bemüht: Rezipient_innen zappen die Fernsehwerbung weg, widmen sich Nebenbeschäftigungen oder nutzen Ad Blocker (Ayaß 2001, 208–9; Krausch 2014, 174). Gleichzeitig konstatiert Ayaß (2001, 215–20) den Studienteilnehmer_innen ein großes Gattungswissen in Bezug auf Werbung, das sich zum Beispiel im wörtlichen Mitsprechen, in Werberatespielen oder im Mitsingen von Jingles äußert. Ähnlich gegensätzliche Tendenzen stellt Andreas Baetzgen (2014) in der empirischen Forschung zur Werbeakzeptanz fest. Hier steht einer in der Praxis (z.B. von Vermarktern) postulierten Werbeakzeptanz eine in der Werbeforschung beobachtete Werbereaktanz gegenüber (Baetzgen 2014, 158–62). Baetzgen (2014, 158–59) verweist darauf, dass einige Studien Misstrauen und Vermeidungstendenzen auf Seiten der Rezipient_innen im Hinblick auf Werbung aufzeigten. Gleichzeitig würde Werbung in anderen Studien von Rezipient_innen als wichtiger Wirtschaftsfaktor akzeptiert und in ihrer ‚Informations- und Orientierungsfunktion‘ geschätzt (Baetzgen 2014, 159–61). Die ablehnenden Haltungen und Lesarten von Rezipient_innen sind sicherlich auch mit der Manipulationsabsicht, die Werbung zugesprochen wird (Ayaß 2001, 201), begründbar. So schließen auch Maren Klepper und Burkard Michel aus ihrer qualitativen Untersuchung von Gruppendiskussionen, dass das explizite Wissen zur Werbung laute: 126
In dem Buch Der sprechende Zuschauer (Holly, Püschel und Bergmann 2001) werden die Ergebnisse des Forschungsprojekts ‚Über Fernsehen sprechen‘ vorgestellt, in dem fernsehbegleitendes Sprechen qualitativ in echten Rezeptionssituationen erhoben und analysiert worden ist. 127 Die Studie bezieht sich auf Fernsehwerbung.
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„Werbung will das Kaufverhalten beeinflussen“ (2014, 260). Dieses explizite Wissen und die damit zugeschriebene Manipulationsabsicht wird nach Kleppers und Michels (2014, 260–66) Studie jedoch mittels zweier Strategien für die jeweils eigene Diskussionsgruppe ausgeschlossen: Werbung wirkt im Unterbewusstsein und anfällig sind die Anderen (Dritte-Person-Effekt). Obwohl alle Gruppen darin übereinstimmen, dass Werbung auf die Manipulation und die Beeinflussung des Kaufverhaltens zielt, scheinen alle Gruppen nicht an den Erfolg dieser Absicht zu glauben. (Klepper und Michel 2014, 265)
Wenn Werbung vor allem im Unterbewusstsein wirkt, dann wäre es kein Vorgang, den die Rezipient_innen bewusst an sich selbst beobachten könnten (Klepper und Michel 2014, 261). Und es werden Gründe aufgeführt, warum insbesondere andere Zielgruppen anfälliger für Werbebotschaften sein sollen als die eigene: So weist die Gruppe der Berufstätigen darauf hin, dass Werbung auf die ‚niederen Zentren im Gehirn‘ abziele und daher leichtgläubigere Menschen anfälliger seien (Klepper und Michel 2014, 264). Die Gruppe der Rentner glaubt, dass sich insbesondere die ‚jüngeren Leute‘ nicht gegen den gesellschaftlichen Druck erwehren könnten, die beworbenen Produkte besitzen zu müssen (Klepper und Michel 2014, 265). Die Studienergebnisse zeigen, „[…] dass gruppenübergreifend eine Diskrepanz zwischen dem expliziten Wissen und dem impliziten Wissen zum Thema Werbung vorliegt“ (Klepper und Michel 2014, 272). Ähnlich beobachtet Ayaß bei Äußerungen der Versuchsteilnehmer_innen „[…] eine geradezu überheblich wirkende Distanz […]“ (2001, 211). Das Verhältnis von Rezipient_innen zu Werbung lässt sich als ‚ambivalent‘ konstatieren. So spricht Ayaß beispielsweise von einer sich offenbarenden ‚Hassliebe‘ in Bezug auf Werbespots: Doch scheint in dieser zugleich ‚arroganten‘ Haltung, dem Spot überlegen zu sein, eine gewisse trotzige Haßliebe zum Ausdruck zu kommen. Die Aneignungsweisen der Rezipienten scheinen zwar allen Lesarten, die der Spot vorzugeben sucht, zuwiderzulaufen. Doch zeigt sich deutlich eine ambivalente Haltung der Zuschauer, wenn sie sich zwar kontraproduktiv äußern und verhalten, zugleich aber in diesen Äußerungen deutlich am Fernsehtext kleben. (2001, 215)
Dass Werbung im eigenen Interesse kommuniziert und sich Rezipient_innen darüber bewusst sind, deuten Schmidt und Zurstiege gewissermaßen als Vorteil der Werbung um: Werbung ist prinzipiell und offensichtlich (sozusagen: offensiv) parteilich und kann ebendaraus Kapital schlagen, weil das Wissen um diese Parteilichkeit zum kollektiven Wissen der Mediennutzer gehört. Werbung zielt weder darauf ab, sozial verbindliche Wirklichkeitsentwürfe zu schaffen (wie der Journalismus), noch solche verbindlichen Entwürfe in ihrer Fragwürdigkeit zu entlarven und durch Alternativen herauszufordern (wie Literatur und Kunst). Werbung will Zustimmung, und zwar affektiv besetzte Zustimmung zu Versprechen, die ‚arglos‘ als schöner Schein daherkommen. (2007, 172; Hervorhebung im Original)
Exkurs: Anmerkungen zur Rezeption von Werbung
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Im Gegensatz zu anderen Kommunikationsformen wird von Werbung keine Objektivität erwartet. Die Parteilichkeit der Kommunikationsform wird von Rezipient_innen reflektiert und, so lässt sich weiter an Zurstieges und Schmidts Überlegungen anschließen, läuft als Werbewissen bei der Rezeption mit. Dieses Werbewissen kann wiederum einen gewissen Akzeptanzrahmen für die werbende Kommunikation (Aufdringlichkeit, Konsumappelle etc.) eröffnen, weil genau dieses Werben im Hinblick auf das Kommunikationsziel erwartet werden kann. Mit Werbewissen wird an dieser Stelle also ein Gattungswissen beschrieben, das nicht notwendigerweise eine abwehrende Haltung gegenüber der Kommunikation impliziert, sondern vielmehr den reflektierten Umgang mit ihr beschreibt. Überdies wird hier davon ausgegangen, dass Werbetreibende über die implizite Rezipient_in eben auch das ambivalente Verhältnis zur Werbung mitdenken. Hubert Knoblauch und Jürgen Raab formulieren präziser, dass Werbetreibende ein Bild der Adressat_innen antizipieren würden, das ihre ästhetischen Präferenzen bzw. Abneigungen, ihr mediales Wissen sowie ihre potentielle Kompetenz, Aktivität und Stellung im Kommunikationsprozess umfasst. (2002, 144)
Diese Beschreibung des sogenannten Rezipientendesigns legt nahe, dass Werbetreibende sowohl Präferenzen und Wissensstrukturen von Rezipient_innen als auch deren (kontraproduktives) Rezeptionsverhalten bei der Produktion von Werbetexten mit einkalkulieren. Diese Annahme wird auch in dieser Arbeit getroffen, sodass die implizite Rezipient_in – im Unterschied zu Sterns Entwurf – nicht zwangsläufig auch eine ideale sein muss. Den unterschiedlichen Vorstellungen über die Zielgruppe und der persuasiven Aufgabe der Werbung Rechnung tragend, gehen Knoblauch und Raab (auf Werbespots bezogen) von einem breiten Spektrum der Werbeformen aus. Sie bezweifeln, dass ‚Lifestyle-Werbung‘ die ‚verkäuferische Werbung‘ ablösen würde (2002, 150–51), und beobachten, dass sich Werbespots zwischen zwei Extremformen bewegen: Das eine Extremum bildet die argumentative und produktfokussierte Werbung und das andere „[…] die visuelle und auditive ‚Vermeidung‘ der Produktdarstellung […]“ (Knoblauch und Raab 2002, 144), bei der sich auch die verbal geäußerte Werbebotschaft auf ein Minimum beschränkt. Knoblauch und Raab finden auch eine Begründung für das Festhalten an verkäuferischer Werbung:
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot Dass es bei der Produktorientierung bleibt, liegt in der persuasiven Grundfunktion der Werbung begründet. So könnte man sagen, dass das Produkt nur aufgrund bestimmter Gattungsmerkmale und entsprechender Erwartungen der Rezipienten quasi elliptisch in den Hintergrund treten und sogar aus der werberischen Kommunikation herausgelöst werden kann. Die Ästhetisierung bleibt also immer eine sekundäre Funktion, denn auch der Erfolg ‚anspruchsvoller‘ Werbespots misst sich primär an den Verkaufszahlen der beworbenen Waren. In der persuasiven Funktion der Gattung ist weiterhin die Rezipientenorientierung angelegt, die ihren Niederschlag im Rezipientendesign findet. (2002, 151)
Im Anschluss an die Argumentation der beiden Autoren kann geschlussfolgert werden, dass Werbetreibende ihre Werbebotschaften je nach getroffenen Rezipientenannahmen unterschiedlich kommunizieren. Werbekommunikate können vor diesem Hintergrund von Unterhaltungs- und selbstironischen Kommunikationsangeboten über Verkaufs- oder Belehrungsstrategien mannigfaltige Formen annehmen und sich in Bezug auf Inhalte, Ansprache und Tonalität stark unterscheiden. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen in der Werbung sollen in diesem Kapitel mit dem spezifischen Blick auf die Adressierung durch die Werbefigur untersucht werden. Dafür werden zunächst generelle Adressierungscharakteristika von Figuren in der Werbung betrachtet, um im Anschluss eine Systematisierung dieser Adressierung vorzuschlagen. Dabei wird im Hinblick auf die nachfolgend vorgestellten Werbecharakteristika und -formen nicht davon ausgegangen, dass diese ‚automatisch‘ bei naiven Rezipient_innen wirken würden – es wird allerdings auch nicht angenommen, dass sie ‚eh keine Relevanz hätten‘. Der analytische Vorteil an dieser Stelle ist, dass nicht untersucht werden soll, wie Werbung wirkt, sondern wie sie wirken will. Damit wird auch eine Forschungsperspektive umgangen, die Werbung entweder kulturkritisch als rein manipulative Mediengattung betrachtet oder die Werbung im Stile eines wissenschaftlichen ‚Dritte-Person-Effekts‘ mit ‚überheblicher Distanz‘ begegnet.
10.2 Die Adressierungsleistung der Werbefigur im Kontext parasozialer Prozesse Für Zurstiege (2007, 112) stellt die Persona als kommunikative Adresse im werblichen Medienangebot das Beziehungsangebot der Werbetreibenden an die Werberezipient_innen dar. Daran schließt inhaltlich logisch Lothar Mikos’ Feststellung an, dass in den Adressierungsformen von Medienpersonen „[…] die Materialisierung der ‚Öffnung‘ der Situationen im Fernsehen zum Beziehungshandeln der Zuschauer“ (1996, 102) deutlich
Die Adressierungsleistung der Werbefigur im Kontext parasozialer Prozesse
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wird. Werbung zeichnet sich durch dessen hohe ‚Adressivität‘ (Ayaß 2001, 203) aus,128 worin sich in Bezug auf Zurstiege und Mikos wiederum das starke Bestreben äußert, ein Beziehungsangebot zu offerieren. Nur wenn Kontakt mit Rezipient_innen aufgenommen (und gehalten) wird, kann die Werbebotschaft platziert werden und ‚beeinflussen‘. Die Persona und die durch sie geäußerte Adressierung kann somit als medialer Knotenpunkt für den Beziehungsaufbau zur Rezipient_in betrachtet werden. Dabei bedeutet der Ausdruck ‚medialer Knotenpunkt‘, dass die Adressierungsleistung und die persuasive Funktion des medialen Werbeangebots in die Persona verwoben sind und durch sie als anthropomorphe, distinkt wahrnehmbare Entität (Artikulationsfähigkeit, Augenkontakt, Beziehungsfähigkeit) wie durch ein Brennglas besonders stark zum Ausdruck kommen.129 Die Einordnung der Adressierungsleistung als Sichtbarmachung des Interaktionsbzw. Beziehungsangebots und als Mittel zur Involvierung spiegelt sich auch in der Forschung zu parasozialer Interaktion (PSI) von Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt (2004a, 2004b) wider. Dabei […] können PSI als asymmetrische Interaktionsform beschrieben werden, denn den Rezipient/inn/en steht keine (technische) Möglichkeit zur Verfügung, innerhalb des Rezeptionsprozesses Einfluss auf die Personae zu nehmen. (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 33; Hervorhebung im Original)
Im Gegensatz zu realen, sozialen Interaktionen nehmen sich bei der parasozialen Interaktion nicht alle sozialen Entitäten gegenseitig wahr und auf Aktion und Reaktion kann keine Reaktion zweiter Ordnung folgen. Das heißt, dass die Rezipient_in die Persona wahrnimmt und gegebenenfalls (kognitiv, emotional, konativ) auf ihre Aktion reagiert (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 30–36), die Persona allerdings nicht ihrerseits auf die Aktion der Rezipient_in reagieren kann. Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 9) sehen in dieser ‚fehlenden Wechselseitigkeit‘ die Besonderheit parasozialer Interaktionen. Das Konzept der parasozialen Interaktion wurde 1956 von Donald Horton und R.
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Unter hoher ‚Adressivität‘ versteht Ayaß folgendes: „Mit diesem Begriff sind Phänomene direkter Hinwendungen an das Publikum gemeint. Diese Adressivität kann sprachlicher Art sein, in direkten verbalen Ansprachen in Anredeformen […] oder Fragen, etwa wenn ein sogenannter ‚Presenter‘ […] sich auch direkt an das Publikum wendet. Mit solchen verbalen Formen von Adressivität gehen häufig visuelle einher: Der Presenter wendet sich nicht nur verbal, sondern auch sichtbar, in meist halbnaher Einstellung, frontal an das Publikum. […] Diese hohe Adressivität macht viele Spots zu recht aufdringlichen Erscheinungen“ (Ayaß 2001, 203). Dieser Begriffsbestimmung möchte ich mich anschließen und sie in den folgenden Abschnitten an das Konzept der parasozialen Interaktion knüpfen und weiter ausarbeiten. 129 Auch Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt (2004b, 14–15) weisen auf eine ‚Verwobenheit‘ der Adressierungsfunktion des medialen Angebots in die Persona hin.
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
Richard Wohl mit dem Aufsatz Mass Communication and Para-social Interaction begründet. Sie führen darin ihre Beobachtung aus, dass Personas in Massenmedien suggerieren würden, in einem Wechselverhältnis mit den Zuschauer_innen zu stehen, um die Illusion einer reziproken Face-to-Face-Interaktion zu schaffen (Horton und Wohl 1956). Die Adressierung stellt nach Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 24–29) einen wichtigen Faktor in der Herstellung von parasozialer Interaktion dar. Dabei gehen sie davon aus, […] dass zu einer Persona immer (irgendwie geartete) PSI-Prozesse ablaufen, man also mit einer ‚anwesenden‘ Medienperson nicht nicht parasozial interagieren kann. (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 30; Hervorhebung im Original)
Allerdings, so die These, sei die parasoziale Auseinandersetzung mit der Persona ausgeprägter, je höher die Adressierungsleistung der Persona sei (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 29). Im Rahmen der Entwicklung eines Prozessmodells für parasoziale Interaktionen mit Medienpersonen,130 unterscheiden Hartmann, Schramm und Klimmt (2004a, 2004b) zwischen direkter und indirekter Adressierung. Wo die indirekte Adressierung die generelle Ausrichtung auf das Publikum und das durch die Figuren gezeigte ‚einnehmende Verhalten‘ (Mikos 1996, 102–3 in Bezug auf Goffman 1980, 143) meint, umfasst die direkte Adressierung die von Ayaß (2001, 203) beschriebene verbale (z.B. durch Ansprache) und visuelle (z.B. durch den Blick in die Kamera) direkte Hinwendung zur Rezipient_in. Bei einer direkten Adressierung könne sogar von parasozialer Kommunikation die Rede sein;131 die parasoziale Interaktion bei indirekter Adressierung demgegenüber beschreibe die Rezipient_in eher als heimliche Mithörer_in und Beobachter_in einer Situation (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 15–16). Hartmann, Schramm und Klimmt vermuten, dass Rezipient_innen „[…] einer Persona mit hoher Adressierungsleistung mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen als vergleichbaren anderen Figuren“ (2004b, 29). Vor dem Hintergrund der steten Bemühung um das knappe Gut der Aufmerksamkeit im Rahmen der persuasiven Werbekommunikation darf daher auch bei 130
Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 4) beschränken ihr Modell auf audiovisuelle Medien. Es wird jedoch in dieser Arbeit deutlich, dass die von den Autoren aufgeführten Adressierungsmerkmale im Hinblick auf angestrebte parasoziale Prozesse auch auf Werbetexte in anderen Medien beziehbar sind (z.B. die zur Rezipient_in hingewendete Körperhaltung in einer Werbeanzeige). Darüber hinaus weist William J. Brown (2015, 263) in einem Forschungsüberblick zum Konzept der parasozialen Interaktion darauf hin, dass das Konzept mittlerweile in den unterschiedlichsten Medien Anwendung findet. 131 Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 15–16) setzen die parasoziale Interaktion nichtsdestotrotz als Überbegriff sowohl für Formen der direkten als auch indirekten Adressierung. Die parasoziale Kommunikation stellt für sie eine spezifische Unterform der parasozialen Interaktion dar.
Die Adressierungsleistung der Werbefigur im Kontext parasozialer Prozesse
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der indirekten Adressierung mit einem deutlich wahrnehmbaren Versuch der Einnahme der Rezipient_in gerechnet werden. Hartmann, Schramm und Klimmt determinieren die Adressierungsleistung einer Persona mit den Parametern der dargestellten räumlichen Distanz, der non-verbalen und verbalen Bezugnahme. Letzterer ist für sie dabei entscheidend für die Form der Adressierung, also dafür, ob es sich um eine direkte oder um eine indirekte Adressierung handelt (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 38). Diese Parameter sollen im Folgenden kurz umrissen werden, um die theoretisch skizzierte Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Adressierung in den späteren Abschnitten mit Beispielen zu veranschaulichen. Die Autoren gehen davon aus, dass Personen in realen, sozialen Interaktionssituationen „[…] eher eine Adressierung bei Personen vermuten, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinden, als bei Personen, die sich räumlich in weiter Distanz zu ihnen aufhalten“ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 25–26). Sie nehmen an, dass sich am Parameter der Distanz auch im medialen Kontext das Gefühl einer Adressierung festmachen lässt. Entwickelt man diese Überlegung weiter, so wäre ein Darstellungsmittel mit Einfluss auf die dargestellte Distanz zum Beispiel die halbnahe, halbtotale und gegebenenfalls nahe Aufnahme. Auch die Positionierung von Zuschauer_innen innerhalb medial dargestellter Personenkonstellationen dürfte zu einem Zugehörigkeitsgefühl und einer Nähe zur Situation beitragen. Eine non-verbale Adressierung betrifft dagegen die Körperhaltung. Eine Adressierung ist bei hingewendeter Ober- und Unterkörperhaltung, Kopfhaltung sowie insbesondere bei entsprechender Blickrichtung wahrscheinlich (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 26). Hartmann, Schramm und Klimmt verstehen eine direkte Adressierung durchaus als Kombination aus verbaler und non-verbaler Hinwendung: Eine typische direkte Adressierung konstituiert sich nicht nur über die verbale Bezugnahme […], sondern auch über non-verbale Merkmale wie etwa ein zum Adressaten hingewandtes Gesicht. Die Persona richtet also sowohl ihr verbales als auch ihr non-verbales Verhalten ganz offensichtlich nach den Rezipient/inn/en aus […]. (2004b, 28)
Dennoch ist für sie die verbale Adressierung entscheidend für die Form der Adressierung (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 38). Dies soll an dieser Stelle insofern erweitert werden, als dass eine direkte Adressierung auch bei ausschließlicher non-verbaler Adressierung durch den Blick in die Kamera angenommen wird, denn auch hier wird gleichermaßen wahrnehmbar der mediale Rahmen durchbrochen, um Kontakt zur Rezipient_in
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
aufzunehmen. Mit Janja Polajnar (2005, 65) kann diese Aufzählung noch um Gestik (z.B. ein Fingerzeig) und Mimik (z.B. ein Zwinkern) präzisiert werden. Eine verbale Bezugnahme geschieht direkt, wenn die Werbefigur die Rezipient_in anspricht. Dabei gibt es nach Polajnar (2005, 60–63) verschiedene Anredeformen wie z.B. die Pronominalanrede (Sie, Du), Imperative und die Nominalanrede (Kinder, Leute). Weiterhin können Begrüßungen (Hi, Hallo) und Fragesätze (z.B. rhetorische Fragen) die direkte Adressierung kennzeichnen. Innerdiegetisch Geäußertes kann z.B. durch sprachlich-stilistische Besonderheiten eine indirekte Adressierung verdeutlichen (Fachsprache, Jugendsprache) (Polajnar 2005, 65–66).132 Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 27) stellen bezüglich der verbalen Bezugnahme die Frage, wie diese in einer indirekten Adressierung dazu führen könne, dass Rezipient_innen sich angesprochen fühlen. Sie vermuten, dass Rezipient_innen Aussagen der Persona mit dem eigenen Selbstkonzept abgleichen und sich bei passenden Aussagen angesprochen fühlen. Nach dem Aufführen der unterschiedlichen Adressierungsparameter, die eine parasoziale Auseinandersetzung mit der Persona begünstigen können, soll die Unterscheidung zwischen parasozialer Interaktion und parasozialer Beziehung thematisiert werden. Während die parasoziale Interaktion die Illusion der gegenseitigen Wahrnehmung während der Rezeption meint, können parasoziale Beziehungen sich zwar bereits während der Rezeption herausbilden, aber auch über die Rezeptionssituation hinausgehen (Dibble, Hartmann und Rosaen 2016, 25). Die wiederholte parasoziale Interaktion zwischen Rezipient_in und Medienfigur kann zur Herausbildung einer Interaktionsgeschichte und von stabilen Interaktionsmustern (oder kurz: einer parasozialen Beziehung) führen (Hartmann und Schramm 2010, 209–10). Die parasoziale Beziehung ist also ein Konzept, das bei langfristiger und/oder wiederholter Exposition der Persona greift. Es beschreibt nicht nur eine situative Folge der Medienrezeption.
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Der Begriff der Diegese wird in dieser Arbeit als Arbeitsbegriff für die innerhalb des Werbekommunikats konstruierte Welt verwendet. Christian Huck und Jens Kiefer verwenden den Begriff der Diegese für Dokumentationen mit folgender Differenzierung: „It is crucial for the understanding of the documentary that there is no make-believe situation; however, the documentary still forms a narrative act of diegetic world-making - even if the diegetic world is not fictional, but a ‚version‘ of the real world. The viewer is not asked to believe that the diegetic world is a possible world but that the diegetic world can be matched with the actual world the viewer is familiar with“ (2007, 108). Auch der hier verwendete Begriff der Diegese als Arbeitsbegriff wird weiter gefasst und bezieht sich nicht lediglich auf eine ‚erzählte Welt‘, da in der Werbung nicht immer erzählt wird, sondern z.B. auch kommunikative Austauschsituationen inszeniert werden.
Die Adressierungsleistung der Werbefigur im Kontext parasozialer Prozesse
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In Kapitel B wurde das Konzept der Konsument-Marke-Beziehung in Bezug auf die Werbefigur bereits aufgeführt. Inwiefern lassen sich dieses marketingtheoretische Konzept und die kommunikationswissenschaftliche parasoziale Interaktion und Beziehung zusammenbringen? Sven Henkel und Frank Huber (2005) denken die Konzepte der parasozialen Interaktion und der Konsument-Marke-Beziehung im Hinblick auf ihren Forschungsgegenstand des ‚Marke Mensch‘ (Star) integrativ. Sie modellieren einen interdisziplinären theoretischen Bezugsrahmen für ihre Studie. So betrachten sie „[p]arasoziale Interaktion und parasoziale Beziehung als Schnittstellen zwischen Kommunikationswissenschaft und Beziehungsmarketing“ (Henkel und Huber 2005, 28). Henkel und Huber verargumentieren diesen interdisziplinären Ansatz mit den Parallelen zwischen dem marketingtheoretischen Markenbeziehungskonstrukt und dem kommunikationswissenschaftlichen parasozialen Beziehungsverständnis: Vergleichbar mit dem Kreis-Prozess-Modell [der parasozialen Interaktion und Beziehung; P.B.] geht das Beziehungsmarketing bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Kunde und Unternehmen nicht von diskreten Transaktionen aus, sondern beschreibt die Beziehung zwischen beiden Markteilnehmern [sic!] als Resultat wiederholter Austauschprozesse. (2005, 33; Hervorhebung im Original)133
Aufbauend auf diesem Verständnis konzipieren Henkel und Huber (2005, 28–40) parasoziale Interaktionen und Beziehungen als Teil des Beziehungsmarketings.134 Die (parasoziale) Interaktionshäufigkeit mit der Marke könne demnach den Beziehungsaufbau stärken. Dieser Argumentation folgend, schlagen sie diverse ‚Handlungsempfehlungen für das Beziehungsmanagement‘ in Bezug auf die ‚Marke Mensch‘ vor, die zum Teil die bereits skizzierten Einflussfaktoren auf parasoziale Interaktionen widerspiegeln. Diese Empfehlungen zum Beziehungsmanagement und damit zur Kundenbindung beinhalten die Einbindung der Rezipient_innen ‚in das Geschehen auf dem Bildschirm‘ z.B. durch direkte Ansprache, Gestik, Mimik, die Ermöglichung direkter Interaktion (Chats, Meet and Greet), interaktive Kommunikationsmaßnahmen (wie Votings, Zuschauertelefon,
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Henkel und Huber verweisen hier auf Manfred Bruhn (2001, 17), allerdings konnte ich den inhaltlichen Bezug der Argumentation der beiden Autoren zu besagter Stelle bei Bruhn nicht nachzuvollziehen. 134 „[…] [D]as Beziehungskonstrukt, verstanden als das Ergebnis wiederholter sozialer (Mensch-Mensch), parasozialer (Mensch-‚Marke Mensch‘) und nicht-sozialer (Mensch-Marke) Interaktion, [stellt] eine gemeinsame Zielgröße kommunikationswissenschaftlicher und marketingtheoretischer Erklärungsansätze menschlichen Interaktionsverhaltens dar und vereinigt so die Wissenschaftsdisziplinen miteinander“ (Henkel und Huber 2005, 40).
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Gewinnspiele), die Erweiterung des Rezipientenwissens (Dokumentationen, Fan-Zeitschriften), Foren, Fan-Clubs und kontinuierliche Präsenz (Merchandising) (Henkel und Huber 2005, 169–72). Henkel und Huber (2005, 178) sehen diesen integrativen Ansatz als Möglichkeit, Stars als ‚Marke Mensch‘ zu behandeln und im Beziehungsmarketing-Kontext zu verorten. Der Ansatz kann auch nützlich sein, um die Werbefigur an der Schnittstelle von Medien- und Kommunikationswissenschaft und Markenstrategie zu analysieren. In Kapitel B wurde die Werbefigur als eine Möglichkeit zur Anthropomorphisierung der Marke und damit zur Positionierung als Beziehungspartner eingeführt. Nun wird diese marketingtheoretische Annahme um kommunikationswissenschaftliche Überlegungen erweitert.
10.2.1 Weitere Einflussfaktoren auf die Herausbildung parasozialer Prozesse Die kommunikationswissenschaftliche Präzisierung des Beziehungskonstrukts soll im Folgenden über die Betrachtung weiterer Einflussfaktoren auf die Herausbildung parasozialer Prozesse sowie potenzieller sozialpsychologischer Effekte geschehen. Neben der Adressierungsleistung gibt es noch weitere Personamerkmale und Einflussfaktoren, die die parasoziale Interaktion mit beeinflussen können. Diese sollen hier gebündelt aufgeführt werden, insbesondere um die Spezifik der Werbefigur als Persona zu verdeutlichen. Mit der Werbefigur wird ein spezifischer Kommunikator innerhalb der Werbekommunikation figuriert. Dabei unterscheiden sich Werbefiguren insofern von anderen Personas in der Werbung, als dass sie langfristiger, zentraler, wiedererkennbarer und oftmals auch Namen tragender Kristallisationspunkt der Werbeaussagen sind (anders als in einer ‚Wir‘-Kommunikation oder bei wechselnden Werbestatist_innen(-Gruppen)). Horton und Wohl (1956, 216) rechnen zur Gruppe der Personas Quizmaster, Announcer und Interviewer. Personas im Sinne von Horton und Wohl beschreiben also explizit Medienpersonen, die nicht in fiktionalen Medienangeboten auftreten und sich somit
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z.B. von Film-Stars abgrenzen.135 Nach den beiden Autoren zeichne diese Personas außerdem ihre Verlässlichkeit aus, sowohl in Bezug auf ihr regelmäßiges Auftreten als auch in Bezug auf den gleichbleibenden Charakter und die stabilen Handlungsmuster (Horton und Wohl 1956, 216–17). Dabei sollen insbesondere spezifische Verhaltensweisen wie informelle Gesten und Sprüche die Illusion von Intimität herstellen (Horton und Wohl 1956, 217). Werbefiguren stellen per se Personas dar, die auf einem breiter angelegten Begriffsverständnis aufsetzen (Persona als ‚medial dargestellte Figur‘ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 13)).136 Allerdings weisen sie bereits die von Horton und Wohl formulierten Charakteristika von begünstigten Interaktions- und Beziehungspartnern auf. Werbefiguren sind mehr oder weniger verlässliche Figuren im Hinblick auf ihr regelmäßiges Auftreten. Zusätzlich sind sie verlässliche Figuren im Hinblick auf ihren Charakter und ihre Handlungsmuster. Als langfristig angelegte Figuren bieten Werbefiguren damit den medialen Knotenpunkt, der die Herausbildung eines Interaktionsmusters erlaubt. Nur bei einer langfristig genutzten Persona in der Werbung kann von einer sich entwickelnden Beziehung gesprochen werden – anderenfalls kann die Inszenierung kaum mehr als singuläre parasoziale Interaktionen begünstigen. Stabile Einflussfaktoren auf die Herausbildung parasozialer Prozesse sind nach Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 21–23) zum einen die Attraktivität der Figur und zum anderen die Kombination von Artifizialität und wahrgenommenem Anthropomorphismus. Die Annahme der Autoren kann so reformuliert werden, dass je attraktiver, natürlicher und menschlicher eine Figur dargestellt wird, desto mehr werden parasoziale Interaktionen begünstigt. Sie argumentieren, dass künstliche Figuren von Rezipient_innen als nicht wirklich ‚lebendig‘ wahrgenommen werden würden. Diese Einschätzung kann nun so interpretiert werden, dass eine solche Figur immer weniger die ‚Illusion einer sozialen Entität‘ aufrecht erhalten kann, von der die Autoren an anderer Stelle sprechen 135
Nichtsdestotrotz deuten Studienergebnisse darauf hin, dass parasoziale Interaktion und parasoziale Beziehung mit fiktiven Figuren intensiver ausfallen als mit nicht-fiktiven (Liebers und Schramm 2016, 69– 70). 136 W. J. Brown bezeichnet Personas auch als ‚mediated personalities’ und macht eine beispielhafte Aufzählung: „Whether they are gifted athletes, popular political leaders, trusted news anchors, performing artists, seasoned actors, or even fictional characters, becoming emotionally and psychologically attached to such personalities, also referred to as personae, is common“ (2015, 259; Hervorhebung im Original). Er definiert Personas schließlich wie folgt: „A persona can be a real person or a fictional character encountered through any form of mediated interaction“ (W. J. Brown 2015, 261; Hervorhebung im Original).
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
(Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 26). Eine andere Sichtweise zu diesem Aspekt vertritt Scott McCloud (2001, 32–67), der im Hinblick auf den Comic argumentiert, dass gerade die reduzierte Darstellung von Menschen und vermenschlichten Gesichtern und Körpern die Leser_in involviert. Je realistischer die Darstellung, desto eher würde man eine Darstellung als Gegenüber wahrnehmen. Eine einfache und abstrakte Darstellung (bis hin zum Kreis mit zwei Punkten, die Augen andeuten und einem Strich für den Mund) würde die Rezipient_in dagegen einladen, sich selbst in die Darstellung zu projizieren und sich somit mit ihr zu identifizieren. Im Anschluss an McCloud würde das HB-Männchen also eher zu einer parasozialen Involvierung einladen als Nescafés Angelo. In Kapitel B wurde zwar die Vermenschlichung der Figur hervorgehoben und betont, dass auch Tiere oder Phantasiefiguren zumeist mit menschlichen Eigenschaften dargestellt werden. Nichtsdestotrotz sind Werbefiguren – ob Mensch oder vermenschlichtes Wesen – hoch stilisierte Figuren, was nach Hartmann, Schramm und Klimmts Annahme hinderlich für die Herausbildung parasozialer Interaktionen sein könnte. Im Hinblick auf die beiden aufgeführten Positionen soll an dieser Stelle keine Mutmaßung über die geringere oder stärkere Involvierung von Rezipient_innen durch menschliche oder vermenschlichte sowie natürliche oder künstliche Figuren angestellt werden – es mag genügen, dass sich nachvollziehbare Argumente für die parasoziale Involvierung durch unterschiedlichste Figurenformen finden lassen, um das Konzept der parasozialen Interaktion auf das breit gefächerte Phänomen der Werbefigur weiter anzuwenden. Es wird allerdings im Laufe des Fallbeispiels von Herrn Kaiser in diesem Kapitel gezeigt, dass sich die Mechanismen, über die eine Involvierung erreicht werden soll, bei menschlichen und nichtmenschlichen Figuren unterscheiden können. So wird bei Herrn Kaiser deutlich, dass seine Kommunikation stark auf einer suggerierten Rückkanalfähigkeit aufbaut (siehe Abschnitt 13), was beispielsweise von einem animierten Tier schwerlich signalisiert werden könnte. Als dynamische Einflussfaktoren auf die Herausbildung parasozialer Prozesse führen Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 24) neben der bereits beschriebenen Adressierung die Obtrusivität und die Persistenz einer Persona auf. Das heißt: Je ‚aufdringlicher‘ eine Persona in einer Szene und je ‚präsenter‘ eine Persona in Darstellungssequenzen
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dargestellt wird, desto eher werden parasoziale Interaktionen begünstigt.137 Werbefiguren sind in Werbeinszenierungen zumeist zentrale Protagonist_innen. Dabei kann die Persistenz als Faktor jedoch kaum Relevanz entwickeln, da Werbeeinheiten meist sehr kurz sind. Die Obtrusivität von Werbefiguren ist dagegen oftmals hoch. Hartmann, Schramm und Klimmt gehen in ihrer Konzeptionierung nicht davon aus, dass parasoziale Interaktion allein über die Ausgestaltung der Persona steuerbar wäre. Sie bemerken im Hinblick auf die Disposition der Rezipient_innen: Werden Personae in Medienangeboten hingegen obtrusiv und/oder persistent gezeigt, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Interaktionen die Stufe der High-Level-PSI erreichen, recht hoch – vorausgesetzt, das Publikum ist nicht vollkommen abgeneigt, sich mit den Medienfiguren auseinanderzusetzen. (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 38)
Die Motivation der Rezipient_innen wird also als weiterer Einflussfaktor aufgeführt, der eng mit den zuvor genannten stabilen und dynamischen Personamerkmalen verbunden ist. Auch die persönliche Relevanz der Persona für die Rezipient_in zahlt auf diese Motivation ein (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004a, 40). Im Hinblick auf diese stabilen und dynamischen Einflussfaktoren auf die Herausbildung parasozialer Prozesse zeichnet sich von der Werbefigur als Persona wiederum ein ambivalentes Bild: Sie weist zwar im Gegensatz zu anderen Personas in der Werbung stärkere Ansatzpunkte für eine Involvierung auf. Gleichzeitig kommen innerhalb des Werbekontextes auch Einflussfaktoren zum Tragen, die eine solche Involvierung nicht gerade begünstigen. So dürfte die Motivation zur Auseinandersetzung mit Werbefiguren, wie in Abschnitt 10.1 betrachtet, zumindest ambivalent sein – von der jeweiligen tatsächlichen Relevanz und Attraktivität für die Rezipient_innen ganz zu schweigen. Dabei sollte nicht unbemerkt bleiben, dass eine parasoziale Interaktion nicht nur auf beliebte Figuren limitiert ist, sondern auch mit ‚disliked characters‘ stattfinden kann (Dibble und Rosaen 2011). Die unterschiedlichen Einflussfaktoren neben der Adressierungsleistung spiegeln also ein Für und Wider in Bezug auf die (starke) Herausbildung von parasozialen Prozessen mit Werbefiguren wider. Nichtsdestotrotz wird das Konzept der parasozialen Interaktion in dieser Arbeit als brauchbares und valides Instrument zur Beschreibung des versuchten 137
Hartmann, Schramm und Klimmt (2004a, 38–39) gehen von einem schwankenden Involvement während der Rezeptionszeit aus, da auch die Art der Adressierung schwankt. In Bezug auf Werbekommunikate kann angenommen werden, dass diese Schwankungen aufgrund der Kürze der Einheiten weniger stark sein dürften und über die gesamte Werbedauer versucht wird, eine gleichbleibend starke Involvierung zu erzielen.
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Kontaktaufbaus mit Rezipient_innen betrachtet. Dies stützt sich zum einen auf die Feststellung von Hartmann, Schramm und Klimmt, dass mit ‚anwesenden‘ Medienfiguren immer parasoziale Interaktionen stattfinden würden. Die Autoren weisen auch darauf hin, dass Rezipient_innen bewusst sei, dass diese sich in einer medial vermittelten, nicht reziproken Situation befänden (2004b, 16–17).138 Ein Medienvergessen oder die Immersion in eine fiktive Welt würden demnach keine Prämisse für das Konzept darstellen. Weiterhin kann insbesondere in der Werbung eine hohe Adressivität beobachtet werden, was als zentraler Parameter zur Herstellung parasozialer Prozesse auf die Relevanz eben jenes Konzepts hinweist.
10.2.2 Mögliche sozialpsychologische Effekte parasozialer Prozesse Parasoziale Prozesse können unterschiedliche sozialpsychologische Folgen nach sich ziehen. So gehen Hartmann, Schramm und Klimmt (2004a, 33) in ihrer Konzeptualisierung davon aus, dass starke parasoziale Interaktionen zu sozialen Vergleichen führen können. Das sozialpsychologische Konzept des sozialen Vergleichs beschreibt den Vergleich mit (Medien-)Personen hinsichtlich bestimmter Merkmale wie körperlicher Attraktivität, sozialem Status oder der Leistungsfähigkeit (Döring 2013, 300). Der Vergleich mit überlegen wahrgenommenen Personen kann nach Nicola Döring (2013, 300) einerseits zu einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls führen, andererseits aber im Sinne eines Vorbildes auch Ansporn sein. Auch horizontale Vergleiche mit Medienpersonen, die man im Hinblick auf bestimmte Aspekte als einem ähnlich einschätzt, könnten bestimmte Verhaltensweisen motivieren (Döring 2013, 300, 302). Des Weiteren können Döring (2013, 299) zufolge Empathie-Effekte in der Werbung manipulativ eingesetzt werden. Kognitive Empathie, mit dem Fokus auf der Perspektivenübernahme, liegt nach Werner Früh und Carsten Wünsch (2009, 194) parasozialen Interaktionen zugrunde. Die kognitive Empathie beschreibt, dass Menschen sich in die
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Nichtsdestotrotz dürfte folgendes gelten: „Je weniger die mediale Barriere zwischen Persona und Rezipient/in im Rezeptionsprozess eine bewusste oder saliente Information darstellt, desto geringer dürfte auch das Gefühl der Nicht-Reziprozität und der Unverbindlichkeit der parasozialen Auseinandersetzung sein“ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 18–19).
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Lage einer Person hineinversetzen und diese Lage bewerten können. Auf Basis dieser Bewertung kann zusätzlich eine emotionale Reaktion erfolgen (affektive Empathie), die oftmals gleichartig zum emotionalen Zustand der beobachteten Person ist – man fühlt mit ihr (Früh und Wünsch 2009, 194).139 Emotionale Involviertheit kann so z.B. instrumentalisiert werden, um das Kaufverhalten zu beeinflussen: […] Werbung nutzt Empathie-Effekte, z. B. indem ein strahlendes Baby, dessen Wohlbehagen man mitfühlt, zum Kauf einer bestimmten Windelmarke motivieren soll. (Döring 2013, 299)
Infolge parasozialer Prozesse kann es auch zur Identifikation mit Medienfiguren kommen. Während der Identifikation mit einer Medienfigur nimmt sich die Rezipient_in als diese wahr, sie wird zeitweise im Medienerleben zu dieser Figur (Döring 2013, 305). William J. Brown definiert Identifikation wie folgt: Identification is the process of conforming to the perceived identity of a mediated persona both during and after media consumption or through participation in a mediated event, which commences when media consumers begin to assume the identity of the persona by sharing or adopting the persona’s attitudes, values, beliefs or behavior. According to this definition, imitation or role modeling are attributes of identification but they are not necessary conditions, since audiences can take on the attitudes, values and beliefs of others without experiencing behavior change. In addition, conforming to the identity of a persona includes taking on his or her perspective. (2015, 275–76)
Nach dieser Definition kann die Übernahme von Einstellungen, Werten oder Verhaltensweisen während der Rezeption potenziell auch zu Verhaltensänderungen (Imitation, Modelllernen) führen. W. J. Brown (2015, 267, 270) weist in einem kurzen Forschungsüberblick zudem darauf hin, dass parasoziale Interaktionen und Beziehungen sowie Identifikation sowohl mit gemochten als auch mit nicht gemochten (liked, disliked) Medienfiguren möglich sind. Identifikation wird von einigen Forscher_innen als Folge bzw. als besondere Form von parasozialen Interaktionen und Beziehungen betrachtet (W. J. Brown 2015; Papa et al. 2000). Da mit Hartmann, Schramm und Klimmt davon ausgegangen wird, „[…] dass zu einer Persona immer (irgendwie geartete) PSI-Prozesse ablaufen […]“ (2004a, 30), werden diese auch in diesem Rahmen als stets vorhanden betrachtet. Auch Döring (2013, 303) geht davon aus, dass parasoziale Prozesse konzeptuell auch das sozialpsychologische Konstrukt der Identifikation umfassen. Gleichwohl beschreibt sie differenzierend, dass die Medienperson innerhalb von parasozialen Beziehungen als soziales Gegenüber erlebt wird (Döring 2013, 296). Bei der Identifikation wird diese Grenze je-
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Döring (2013, 298) weist darauf hin, dass Medienempathie oftmals schwächer ist als interpersonale Empathie.
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
doch aufgelöst, sodass sich die Rezipient_in im Medienerleben in die Medienperson versetzt (Döring 2013, 296). Diese Differenzierung scheint für die weitere Betrachtung der Adressierung der Werbefigur besonders anschlussfähig: So führt die betrachtete Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Adressierung zu der Überlegung, dass erstere die Rezipient_in innerhalb der inszenierten Kommunikationskonfiguration als Gegenüber positioniert. Dagegen stellen indirekte, einbeziehende Adressierungen Identifikationsangebote dar, die übernommen werden können. Beides soll zur Herausbildung parasozialer Prozesse führen, jedoch lädt erstere Konfiguration zu einer imaginativen Interaktion bestehend aus zwei sozialen Entitäten ein und zweitere zu einem Hineinversetzen in die dargestellte Persona. Auch in der Werbung werden insbesondere vor dem Hintergrund der Zielgruppenorientierung Identifikationsprozesse angestrebt. Diese sollen sich positiv auf den Beeinflussungsversuch auswirken: Die Identifikation mit Medienpersonen steigert die Überzeugungskraft persuasiver Botschaften: Kampagnen zur Gesundheitsvorsorge (Anti-Rauchen, Safer Sex etc.) wirken besser, wenn sie mit Protagonisten arbeiten, mit denen sich die jeweilige Zielgruppe identifizieren kann. Auch die Werbung präsentiert Identifikationspersonen, so dass z. B. Kaufhandlungen im Zuge der Imititation [sic!] begünstigt werden. (Döring 2013, 307)
Werden Werbefiguren als Identifikationsflächen positioniert, so bieten sie die Imagination der Produktnutzung an. Damit soll auch dazu angeregt werden, das vorgeführte Verhalten zu imitieren. Rudi F. Wagner (2014, 34) weist darauf hin, dass Modelllernen umso stärker erfolgt, je mehr das Modell selbst positiv wahrgenommen sowie in seinem Verhalten bestärkt wird und Ähnlichkeiten zwischen Beobachter_in und Modell wahrgenommen werden. Außerdem wird das Modelllernen begünstigt, wenn das Verhalten des Modells auffällig und sichtbar ist und die Kompetenzen der Beobachter_in ausreichen, um das gezeigte Verhalten nachzuahmen (Wagner 2014, 34). Wie bereits erwähnt, sind Werbefiguren in ihren Texten zumeist zentral, womit ihre Handlungen zwangsläufig eine gewisse Sichtbarkeit und Auffälligkeit aufweisen (Persistenz, Obtrusivität). Dabei werden Ähnlichkeiten zu den Beobachter_innen (Rezipient_innen) auf unterschiedlichen Ebenen angestrebt: Werbefiguren orientieren sich nicht nur in ihrer Ästhetik an spezifischen Zielgruppen bzw. impliziten Rezipient_innen (z.B. die Generalin als reinliche Hausfrau), sie orientieren sich vor allem an realen Bedürfnissen sowie Problemstellungen. Gleichzeitig sind Werbefiguren erfolgreich in der Problemlösung, weshalb ihnen im Werbetext auch
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Zustimmung entgegenkommt. Nicht zuletzt wird die Kompetenz zur Nachahmung geradezu exponiert und denkbar einfach gemacht: Durch Kauf und Konsum wird auch die Beobachter_in befähigt. In dieser Schnittmenge von Begünstigungen für das Modelllernen erfolgt der Konsumappell der Werbefigur. Rezipient_innen können mit Medienfiguren ähnliche sozialpsychologische Prozesse durchleben wie mit realen Personen (Döring 2013, 295). Fanpost an Herrn Kaiser oder mutmaßliche Heiratsofferten an Nescafés Angelo (Hars 2001, 30) können als Indiz dafür gelten,140 dass parasoziale Beziehungen mit Werbefiguren tatsächlich von Rezipient_innen eingegangen werden. Innerhalb dieser Prozesse kann die Figur als soziales Gegenüber oder als Identifikationsfläche positioniert werden. Das aktive Involvieren der Rezipient_innen in parasoziale Prozesse hat aus Werbesicht nicht nur Relevanz für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund der möglichen sozialpsychologischen Prozesse kann dieses Bestreben selbst als Teil der Überzeugungsarbeit betrachtet werden.141 Wenn die parasoziale Involvierung Einfluss auf die Bindung und den Beeinflussungsversuch der Rezipient_innen haben kann, liegt es – wie im Hinblick auf Henkel und Hubers (2005, 169–72) Studie skizziert – aus Werbeproduktionssicht nahe, dieses Wissen taktisch einzusetzen. Die potenziellen sozialpsychologischen Effekte parasozialer Prozesse müssen im Werbekontext allerdings stets vor dem Hintergrund des Werbewissens der Rezipient_innen betrachtet werden. Werbung will diese Identifikationsflächen anbieten und zu sozialen Vergleichen und Imitationshandlungen anregen – gleichzeitig wissen die Zuschauer_innen aber, dass Werbung dieses Ziel verfolgt. Die Reflexion dieser Tatsache mag nicht gleichbedeutend damit sein, dass diese Effekte nicht greifen können. Allerdings kann auch nicht von einer naiven Medienrezeption ausgegangen werden, in der diese Angebote vorbehaltlos angenommen werden würden.
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1992 heißt es in der Hamburg-Mannheimer Mitarbeiterzeitschrift forum: „Immer wieder bekommt Herr Kaiser Post: Autogrammwünsche, Liebesbriefe, Fachfragen. Bis heute hat die Briefflut, die an ihn adressiert ist, nicht nachgelassen“ (EA forum 1992 (4), 11). – Inwiefern die Angaben im populärwissenschaftlichen Beitrag von Hars (2001, 30) zu Autogrammwünschen und Heiratsofferten an Nescafés Angelo zutreffen, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. 141 So beschäftigen sich auch empirische Studien (Schallhorn, Knoll und Schramm 2014; Schlütz, Lindner und Scheunert 2016) mit dem Einfluss parasozialer Prozesse auf werbliche Bemühungen.
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
10.3 Direkte und indirekte Adressierung durch die Werbefigur Ein zentrales Merkmal der Aufmerksamkeitsgenerierung und der versuchten Involvierung in parasoziale Prozesse von Werbefiguren ist, so soll im weiteren Verlauf gezeigt werden, ihre hohe Adressierungsleistung. Dabei kann, wie bereits aufgeführt, zwischen direkter und indirekter Adressierung unterschieden werden. Als Beispiel für eine direkte Adressierung kann eine Episode der CHECK24 Serie 2 Unvergleichliche Familien dienen (gesas management 2017b)142. Darin ruft Werbefigur Nina ihren Versicherungsdienstleister Herrn Lorenzo wegen einem (offensichtlich absichtlich herbeigeführten) Autoschaden an und flirtet während der Abwicklung am Telefon mit ihm. Beeindruckt bemerkt ihr Nachbar: „Ah, also so macht man das“ (gesas management 2017b, 00:00:4800:00:50), woraufhin Nina aus der Diegese bricht, um ans Publikum gewandt zu erwidern (Abb. 40): „So macht frau das“ (gesas management 2017b, 00:00:50-00:00:52). Die Auflösung des Spots ist gleichzeitig eine sowohl verbale als auch non-verbale Hinwendung in einer halbnahen Aufnahme, wobei Werbefigur Nina sich inhaltlich mit den Zuschauer_innen solidarisiert. Pointe, Zuschauereinbezug und Problemlösung verschmelzen hier in der direkten Hinwendung zum Publikum.
Abb. 40: Still aus einem Check24 Werbespot, o. J. (gesas management 2017b, 00:00:51; mit freundlicher Genehmigung von © CHECK24 GmbH [2020]. All Rights Reserved)
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Der betreffende Check24 Werbespot ist auf diesem vimeo-Kanal zugänglich.
Direkte und indirekte Adressierung durch die Werbefigur
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Demgegenüber kann als indirekte Adressierung ein Werbespot der Marke M&M’s aufgeführt werden, in dem die anthropomorphisierten Schokodrops Red und Yellow versuchen, ihrer ‚Verspeisung‘ zu entkommen (WerbAll 2012a)143. Zunächst verfolgt die Zuschauer_in die versuchte Flucht von Red auf dem Kassenband aus der Perspektive der Nachbarkasse (WerbAll 2012a, 00:00:02). Diese Einstellung wird gewechselt zu einer halbtotalen Aufnahme: Die Rezipient_in nähert sich räumlich der Figur und kann ‚haut-‘ (oder ‚schokoladen‘-)nah die Flucht begleiten. Nach der unvermeidlichen Endstation in der Einkaufstüte sind beide Figuren frontal zur Kamera hingewendet, ganz so als ob die Zuschauer_in die Gesprächsrunde erst komplettieren würde (WerbAll 2012a, 00:00:14). Dabei brechen sie jedoch nie aus der Diegese aus. Im Hinblick auf die hohe Adressivität kann bemerkt werden, dass die Werbefigur das Werben als ‚(h)werban‘ (althochdeutsch: „sich drehen, wenden, umkehren, einhergehen, sich bemühen“ (Janich 2013, 18)) ganz wörtlich umzusetzen scheint. Dabei zieht das ‚Hinwenden‘ und Positionieren der Werbefigur auch eine angestrebte Positionierung der Rezipient_in nach sich: Dadurch, dass die Anordnung der Adressierung die Rezipient_in immer schon als Teil des Arrangements mitdenkt, hat diese in der medialen Szenerie auch einen intendierten Platz. Bereits Horton und Wohl (1956, 218–21) betonen, dass der Rezipient_in eine spezifische Zuschauerrolle zugewiesen wird. Diese Annahme soll hier in Bezug auf die Kommunikation mit Werbefiguren untersucht werden. Die direkte Hinwendung an das Publikum, entweder durch den Blick in die Kamera und/oder die direkte Ansprache, drückt den Versuch aus, die Rezipient_in als Gegenüber in eine ‚Face-toFace‘-Kommunikationssituation zu ziehen. Die indirekte Adressierung durch Werbefiguren zeigt sich dagegen neben den beschriebenen Adressierungsparametern zum Beispiel in familialen Interaktionsmustern und szenischen Arrangements (Mikos 1996, 102). Hier wird die Rezipient_in als Mithörer_in und Beobachter_in integriert, wobei deutlich wird, wie sie durch die Positionierung der Figuren mitgedacht wird. Die jeweilige Adressierung (direkt oder indirekt) durch die Werbefigur impliziert also unterschiedliche Kommunikationskonfigurationen mit den Zuschauer_innen. Im Gegensatz zum aktiven Part, den die Rezipient_in bei der direkten Adressierung zugewiesen bekommt, nimmt sie in der indirekten Adressierung eher eine Beobachtungs-
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Der betreffende M&M’s Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
und damit auch eine simulierte Testposition ein. Beispielsweise wird im Jacobs Werbespot mit Werbefigur Karin Sommer ein Konsumappell ausgesprochen, jedoch ohne diesen an die Rezipient_in zu richten (Maier 2013)144. Stattdessen wird eine innerdiegetische Dialogpartner_in beraten. Nachdem im Spotauftakt eine Hausfrau zu sehen ist, deren Mann ihr am Frühstückstisch erklärt, dass er seinen Kaffee lieber im Büro trinkt, weil ihm ihrer nicht schmeckt, wendet sich die Frau in einem vertraulichen Küchengespräch an Karin Sommer: Freundin: „Und dabei gebe ich mir doch so viel Mühe.“ Karin Sommer: „Das allein genügt nicht.“ Freundin: „Wie?“ Karin Sommer: „Deinem Kaffee fehlt einfach das Aroma. Hier, probier’ doch mal meinen Jacobs Kaffee.“ (Maier 2013, 00:00:05-00:00:14)
Am nächsten Morgen probiert der Ehemann den ausgetauschten Kaffee, blickt seine Frau zufrieden an und sagt: „Siehste, das ist ’nen Kaffee, der schmeckt“ (Maier 2013, 00:00:25-00:00:28). Glücklich schenkt diese ihm daraufhin noch eine Tasse ein. Wie wird in diesem Beispiel versucht, die Zuschauer_in zu involvieren und zu beeinflussen? Dadurch, dass die Rezipient_in nicht direkt angesprochen und ihr damit keine feste Rolle in der Unterhaltungssituation zugewiesen wird, hat sie zwei Identifikationsflächen: Karin Sommer und ihre Freundin. Wenn sie wie Karin Sommer ihren Kaffee mit dem ‚ganzen Aroma‘ kocht, hat sie keine Sanktionen (wie die Freundin) zu befürchten und kann sich an der überlegenen Situation weiden. Gleichzeitig ist es aber auch für diese Zuschauer_in ein warnender Appell, denn sie sieht, was droht, wenn sie ihr Verhalten ändert. Der Kauf von Jacobs Kaffee kann somit zur Vermeidungsstrategie werden. Falls die Zuschauer_in sich in der Situation der Freundin wiederfindet, hat sie zwei Vorteile: Sie erhält mit einem Appell eine Empfehlung, wie sie es besser machen kann, und sie muss sich in der unangenehmen Situation nicht direkt angesprochen fühlen. Die Rezipient_in kann so zunächst Abstand zur Beratungssituation einnehmen und den Sachverhalt reflektieren. Polajnar (2005, 26) unterscheidet in ihrer Analyse von Adressierungsstrate-
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Der betreffende Jacobs Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Direkte und indirekte Adressierung durch die Werbefigur
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gien in Kinderwerbespots zwischen einem primären Kommunikationskreis, der die Persona und die Rezipient_innen einschließt,145 und einem sekundären Kommunikationskreis, der die spotimmanenten Protagonist_innen umfasst. Sie weist darauf hin, dass über die Protagonist_innen in sogenannten Stellvertretungsdialogen im sekundären Kommunikationskreis „[…] wie über einen ‚Transmissionsriemen‘ – die Adressierungen an die eigentlich gemeinten Adressatengruppen im primären Kommunikationskreis vermittelt [werden]“ (Polajnar 2005, 54 sowie weiter dazu 53, 57; vgl. Kühn 1995).146 Trotz des in der Diegese bleibenden Handlungsablaufes sind die Figuren im Jacobs Werbespot so positioniert, dass man sich aufgrund von Körperhaltung, Szenen-Anordnung und Kameraposition unweigerlich adressiert fühlen muss: Karin Sommers Rat an ihre Freundin wird so dargestellt, dass sie fast direkt in die Kamera schaut und ihr Oberkörper fast frontal zur Kamera positioniert ist (Maier 2013, 00:00:13). Wenn beide Freundinnen im Bild sind, wenden sie wiederum ihre Oberkörper der Rezipient_in zu und stecken lediglich die Köpfe zusammen (Maier 2013, 00:00:19). Die Rezipient_in wird so zur heimlichen Zuhörer_in. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass die Situation eines vertraulichen, freundschaftlichen ‚Küchengesprächs‘ den Zuschauer_innen bekannt ist und diese sich somit auch in die familiale Interaktionssituation an sich hineinversetzen können. In der Szene, die die Problemlösung durch das Produkt zeigt, wird die Zuschauer_in durch das szenische Arrangement einbezogen: Sie erhält einen Platz am Frühstückstisch (Maier 2013, 00:00:27), sodass sie wiederum ‚dabei sein‘ und an der Freude teilhaben kann. Werbefiguren (oder von ihr beratene Werbestatist_innen) stellen in diesen dramatisch-inszenierten Formen insbesondere Identifikationsangebote dar. In der direkten Adressierung wird die Rezipient_in qua Konstellation als Gegenüber und Gesprächspartner_in positioniert und unverzichtbar gemacht. Ohne sie vor der Anzeige oder dem Bildschirm ist die Ansprache und damit der Text nicht sinnvoll. So ver-
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Die Persona wird von Polajnar (2005, 29) als Sekundärsender bezeichnet. Als Primärsender werden von ihr die im Kommunikationsmodell von Stern als Werbetreibende (sponsor) und Werbeproduzenten (author) bezeichneten Kommunikationsteilnehmer eingeordnet. 146 Polajnar führt an dieser Stelle noch folgende Quelle auf, die ich nicht einsehen konnte: Tomo Korošec. 2000. „Oglaševalni ogovori (Appeals in Advertising).“ In The Public. Suplement: Vregov Zbornik (7): 183190. - Polajnar nennt die im sekundären Kommunikationskreis stellvertretend adressierte Protagonist_in ‚Scheinadressat‘. Da dieser Begriff in dieser Arbeit bereits für die Werbefigur innerhalb der (para)sozialen Werbeinteraktion (siehe Abschnitt 12.2) genutzt wird, wird Polajnars ‚Scheinadressat‘ folgend als ‚Stellvertreter‘ bezeichnet – im Anschluss an den von ihr aufgeführten Stellvertretungsdialog.
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
setzt beispielsweise ein Dr. Best Werbespot die Zuschauer_in in die Situation einer Patient_in bei einem Arztbesuch (Dr.BEST Deutschland 2017). Als Gegenüber am Schreibtisch des Arztes wird ihr die optimale Zahnpflege in einer vertrauten Situation erklärt: Sowohl die Sitzanordnung, die Rolle der Werbefigur als auch die frontale Hinwendung und der direkte Blickkontakt versetzen die Rezipient_in in eine vertraute Situation mit einer fest zugewiesenen Position. Die Kompetenzen und Rollen sind klar verteilt. Der Zuschauer_in wird deutlich signalisiert, dass sie gemeint ist, indem von einer Totalen, die einen Überblick über den Raum gibt, auf die halbnahe Gesprächsdistanz herangezoomt wird. Dabei wird ersichtlich, dass der Platz gegenüber der Werbefigur leer ist und erst durch die direkt angesprochene Rezipient_in besetzt wird. Die Zuschauer_in soll durch die Kommunikationskonfiguration einbezogen werden und sich als notwendigen Bestandteil der Konstellation betrachten. Es wird deutlich, dass die Adressierung der Werbefigur nicht nur ihr Beziehungsangebot erkennbar macht, sondern dass es gleichzeitig die Rezipient_in zum Beziehungshandeln positioniert. Die direkte Adressierung öffnet den Text auf besondere Weise für die Rezipient_in. Durch das Einreißen der ‚vierten Wand‘ des medial Vermittelten soll eine Konfiguration geschaffen werden, in der Medienperson und Rezipient_in zwischen Realität und Text oszillieren (siehe in Bezug auf das Musikvideo Schinko, Kiefer und Huck 2010). Die Zuschauer_in und ihr Rezeptionsraum werden mit dem Erzähltext (inszeniertem Raum) verwoben. Der Werbetext umfasst damit sowohl die medial vermittelte Diegese als auch die Zuschauer_in und ihre Realität. Beide Instanzen sind zur Sinnerzeugung notwendig. Rezipient_innen sollen sich innerhalb der direkten Adressierung als Teil einer ‚intimen Konfiguration‘ wahrnehmen.147 Carsten Schinko, Jens Kiefer und Christian Huck verweisen darauf, dass insbesondere die Anrede durch das Personalpronomen you im Musikvideo Persona und Adressat_in näher zusammenbringen würden: […] listener and singer, addressee and addresser, are brought closer together: either they are both characters within the diegetic world or they are both part of a ‚real‘ conversation. (2010, 300)
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Siehe zur ‚intimen Konfiguration‘ auch Schinko, Kiefer und Huck (2010, 294) in Bezug auf das Musikvideo.
Persönliche Bezugnahme durch die Werbefigur
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Die Werbefigur thematisiert mit der direkten Adressierung den eigenen medialen Rahmen, um ihn schlussendlich zu negieren. Die direkte Adressierung zielt darauf ab, die Grenzziehung zwischen Diegese und Realität zu unterlaufen.148 Das Cover von Zurstieges (2007) Buch Werbeforschung bietet das Sinnbild für dieses Programm: Eine adrette Dame überwindet die (mediale) Grenze des Fernsehbildschirms, beugt sich der Rezipient_in vertrauensvoll lächelnd entgegen, wobei sie mit beiden Armen aus dem Fernseher ragt: In einer Hand hält sie das beworbene Produkt, die andere Hand ist einladend zur Rezipient_in ausgestreckt – der Fernseher (das Medium) ist ihr Fenster zu ihren Kund_innen. Das Bild zeigt auf, wie bemüht sie ist, aus dem medialen Rahmen ‚auszubrechen‘, um ihre Wirkmächtigkeit in der realen Welt zu tun.
10.4 Persönliche Bezugnahme durch die Werbefigur Hartmann, Schramm und Klimmt bemerken einschränkend zur Adressierung der Rezipient_innen in den Massenmedien: Eine spezifische Adressierung der Rezipient/inn/en selbst (z. B. ‚Hallo Christine, hallo Paul‘), wie sie in vielen Face-to-Face-Situationen üblich ist, kann in der typischen massenmedialen direkten Adressierung nicht stattfinden. Statt dessen wird mit Allgemeinplätzen gearbeitet, die alle einzelnen Adressaten einbeziehen sollen (z. B. ‚Sehr geehrtes Publikum‘). (2004b, 28)
Im Gegensatz zu einer konkreten Gesprächssituation sind die kommunikativen Adressen zur Zuschreibung der Kommunikationshandlungen in der massenmedial vermittelten Kommunikation nicht ohne weiteres auszumachen (Zurstiege 2007, 109–10). Die Adressierung bleibt damit zwangsläufig unspezifischer als in einer Face-to-Face-Situation. In der Werbung wird im Hinblick auf die Zielgruppenorientierung dennoch versucht, diese unspezifische Adressierung so spezifisch wie (massenmedial) möglich zu gestalten. Die Rezipient_in soll den Text auf sich persönlich beziehen und die präsentierten Markenprodukte mit ihrer Lebensrealität verbinden. Als ein Parameter mit Einfluss auf die wahrge-
148
Horton und Wohl resümieren dies auch für die Inszenierung von Unterhaltungsshows: „In addition to creating an appropriate tone and patter, the persona tries as far as possible to eradicate, or at least to blur, the line which divides him and his show, as a formal performance, from the audience both in the studio and at home“ (1956, 217). Dabei identifizieren sie als Strategien z.B. den informellen Einbezug der StudioCrew in die Sendung oder die Unterhaltung mit den Zuschauer_innen im Studio (Horton und Wohl 1956, 217–18).
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
nommene Adressierung wurde die verbale Bezugnahme aufgeführt. Hier ging es zum einen um die direkte verbale Ansprache z.B. durch Personalpronomina. Zum anderen ging es um den Bezug der (auch indirekt geäußerten) Aussagen einer Persona auf das eigene Selbstkonzept, worüber sich Rezipient_innen persönlich angesprochen fühlen können. Im Folgenden soll betrachtet werden, wie eine persönliche Bezugnahme auf die Rezipient_innen und damit eine möglichst spezifische Ansprache durch die Werbefigur verfolgt wird. Die Nutzung von Appellativa kann als Mittel einer solchen zielgruppenspezifischen Ansprache betrachtet werden (siehe zu Nominalanrede auch Polajnar 2005, 61). So richtet sich beispielsweise Frau Antje in einem Werbespot direkt an ihre Rezipient_innen: „Guten Abend liebe Hausfrauen, heute zeige ich Ihnen Käsetoast Hawaii“ (MrOberschussel 2015, 00:00:14-00:00:19; Hervorhebung P.B.)149 und Frank S. Thorn sinniert in einer Werbeanzeige mit dem Puschkin Bären in einer indirekten verbalen und einer direkten non-verbalen Adressierung über Puschkin als ‚Wodka für harte Männer‘ (Ginschel o. J.)150. Durch die Nutzung von Appellativa wird der Werbetext spezifisch an eine definierte Zielgruppe (und nicht an das gesamte Publikum) gerichtet. Dabei wird immer auch implizit in Aussicht gestellt, dass sich die Zielgruppen-Spezifik (Hausfrau, harter Mann) durch den Konsum selbst bewahrheitet. Das heißt, dass sich sowohl Männer angesprochen fühlen dürften, die sich für besonders stark halten als auch die, die besonders stark sein wollen. Rezipient_innen sollen den Werbetext zudem über Lücken, die der Text bereithält, auf sich beziehen. Ein Beispiel mit dem Persil-Mann zeigt, wie auf diese Weise eine spezifischere Adressierung verfolgt wird. Bereits Körperhaltung, Blickkontakt und Gestik sollen dazu beitragen, dass sich die Rezipient_in angesprochen fühlt: Die Werbefigur sitzt (wie auch Dr. Best) der Rezipient_in frontal gegenüber, wird in halbnaher Aufnahme gezeigt, dazu der direkte Blick in die Kamera und ein Fingerzeig in Richtung der Rezipient_in (Abb. 41). In dieser stark zugewandten Körperhaltung sagt der Persil-Mann: Dass Persil besonders rein wäscht, das sieht man sofort. Was man vielleicht nicht sofort sieht, das ist, wie Persil die Wäsche pflegt – und das ist genauso wichtig. Sehen Sie, Sie würden ja zur Körperpflege auch keine Kernseife benutzen, sondern eine Seife, die Ihre Haut reinigt und zugleich pflegt. Deswegen 149 150
Der betreffende Frau Antje Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich. Die betreffende Puschkin Werbeanzeige ist auf dieser Pinterest-Pinnwand zugänglich.
Persönliche Bezugnahme durch die Werbefigur
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enthält Persil nicht nur wertvolle Reinigungssubstanzen, sondern auch ganz spezielle Pflegewirkstoffe, damit Sie lange Freude an Ihrer schönen Wäsche haben. Persil, da weiß man, was man hat. Guten Abend. (WerbAll 2014)151
Die höfliche Ansprache seines Gegenübers (‚Sie‘) wird durch die Werbefigur zunächst in eine rhetorische Annahme gebettet (‚Sehen Sie, Sie würden ja zur Körperpflege auch keine Kernseife benutzen‘). Diese antizipiert die kognitive Antwort der Rezipient_in und bezieht sie damit auch als Kommunikationsteilnehmer_in aktiv mit ein. Der Persil-Mann spricht die Rezipient_in jedoch nicht nur direkt an, sondern nutzt die Personalpronomina auch noch im Zusammenhang mit persönlichen Merkmalen und Gegenständen (‚Ihre Haut‘, ‚Ihre schöne Wäsche‘). Damit wird der Text nicht nur im Ganzen auf die Rezipient_in als Gegenüber bezogen, sondern enthält auch noch im Speziellen Lücken (Haut, Wäsche), die von jeder Zuschauer_in individuell imaginiert werden sollen. So wird versucht, einen persönlichen Bezug und eine textliche Offenheit herzustellen, die zwar keinen Interpretationsspielraum in Bezug auf die Marke Persil vorsieht, wohl aber in Bezug auf die Involvierung der Zuschauer_innen bereithält.
Abb. 41: Still aus einem Persil Werbespot, o. J. (WerbAll 2014, 00:00:08; mit freundlicher Genehmigung von © Henkel AG & Co. KGaA [2020]. All Rights Reserved)
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Der betreffende Persil Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
In der Zielgruppenorientierung wird überdies eine generelle Verschränkung von Werbetext und Rezipient_in angestrebt: Während der Werbetext sich auf die Lebensrealität (Erfahrungen, Problemstellungen) der Rezipient_in beziehen möchte, wird diese wiederum angehalten, die Lösungsstrategien des Werbetextes zu übernehmen.152 Der Literaturwissenschaftler Uri Margolin beschreibt das Moment des Wiedererkennens als starke Involvierung mit den Erlebnissen einer Figur: A fourth stage, straddling the boundary between the make believe world of the other in which we are temporarily immersed and the reader’s actual life world, consists of those occasions when events concerning a character in a story and their associated emotions act as cues to recall similar fragments of one’s own autobiographical memory of events and emotions, bringing about a reliving of these experiences and emotions. In another essay Oatley speaks of fiction’s ability to offer on occasion a ‚mimetic parallel‘ to the reader’s life, thereby evoking emotion-laden memories, and allowing the reader to relive some patterns of experience. The other’s made up experience overlaps with one’s own actual one, and therefore acquires some kind of reality in our own world. (2010, 412–13; Hervorhebung im Original; vgl. Oatley und Gholamain 1997, 270; vgl. Oatley 1994, 59, 65)
Auch wenn Margolin sich hier auf fiktionale Medienprodukte bezieht, so kann im Hinblick auf die Werbung geschlossen werden, dass ein Wiedererkennen angestrebt wird, um den Bezug der werblichen Aussagen auf den Kontext der Rezipient_innen zu sichern. So bezieht sich Dr. Best in einem weiteren Spot auf die gemachten Erfahrungen der Rezipient_in: „Kennen Sie das Gefühl nach einer professionellen Zahnreinigung?“ (Oskar 55 2016, 00:00:01-00:03)153. Die gesamte Argumentation baut im Rahmen einer direkten Adressierung nun auf dieser persönlichen Erfahrung auf: „Davon inspiriert haben wir die neue Dr. Best Professional entwickelt. […] Für signifikant bessere Putzergebnisse“ (Oskar 55 2016, 00:00:03-00:00:14). Die Forschung und das Forschungsergebnis sind sowohl mit der eigenen ‚gefühlten‘ Erfahrung als auch mit dem Prädikat der ‚professionellen Zahnreinigung‘ verbunden. Dabei sind die direkte Form der Adressierung und der Textinhalt so gestaltet, dass die Rezipient_in sie auf sich beziehen soll. Die Adressierung der Werbefigur verbindet also eine hohe Adressivität mit Momenten eines sowohl anlassbezogenen Wiedererkennens (z.B. Arztbesuch, Waschküche) als auch eines emotionalen Wiedererkennens im Hinblick auf die Problemstellung (z.B. Bedauern über die Zahn-
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Selbstverständlich gibt es auch phantastische Werbestories (z.B. kinders Milky & Schoki), die keine unmittelbare Bezüglichkeit des Dargestellten auf die reale Welt zulassen. Allerdings sind auch diese Figuren und Geschichten oftmals an reale (und universelle) Problemstellungen und Motive geknüpft (Milky & Schoki als Protagonist_innen einer Liebesgeschichte, in der es um das Verlieren und Wiederfinden dessen geht, was zusammengehört). 153 Der betreffende Dr. Best Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Persönliche Bezugnahme durch die Werbefigur
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pflege zu Hause ohne professionelle Tools, Ärgernis über unsaubere Wäsche trotz Waschens). Die Adressierungsleistung durch die Werbefigur soll die Rezipient_in durch thematische Bezugnahmen sowie durch szenische Anordnungen in bekannten sozialen Situationen oder zumindest in nachvollziehbaren interpersonellen Konstellationen verorten. Dabei ist die appellierende Position der Werbefigur oftmals logisch ableitbar von der Rolle (z.B. Arzt, Hausfrau, Verkäufer), die diese als Wesen einnimmt. So beratschlagt Dr. Best die Zuschauer_innen aus der Berechtigung seiner Rolle heraus. Es wird versucht, den Kaufappell der Werbefigur durch ihre Rolle zu legitimieren oder zumindest einen Akzeptanzrahmen dafür zu schaffen. So ist eine Kaufaufforderung im Rahmen eines deklarierten Verkaufsgesprächs erwartbar, ebenso wie ein guter Tipp unter Freundinnen oder ein Ratschlag vom Arzt. Es gibt auch Figuren, bei denen die Adressierung nicht hauptsächlich über eine solche Rollen-Logik funktioniert. So lassen sich Figuren wie der Bärenmarke Bär, der Milch in Kannen füllt, Bernhardiner Bruno, der Ajax Flaschen zum Ort des Malheurs bringt, oder ein tollpatschiges Kamel, das für Zigaretten wirbt, nicht mit den vorangegangenen Betrachtungen beschreiben. Wie in Kapitel B dargestellt, sind diese Figuren Präsenzsignale und Begleiter, die als visuelle Anker den Abruf von Markeninformationen erleichtern. Sie haben aber noch eine weitere Funktion: Diese Figuren sollen durch die Anlehnung an bekannte und positiv besetzte Cartoons und Tiere oder durch das Aufgreifen des Kindchenschemas Sympathien schaffen und Empathie anregen. Hier geht es hauptsächlich um die Likability der Figur (Callcott und Phillips 1996). Huntley Baldwin schreibt auch Animationsfiguren die Fähigkeit zu, einen Akzeptanzrahmen für Werbeaussagen zu kreieren – allerdings auf eine andere Art als vorab für ‚realere‘ Settings beschrieben: […] animation can create a world of fantasy for a product in a way that makes puffery palatable. Cartoons can get away with doing and saying things that real (live) people cannot. […] When a little old cartoon lady says the Green Giant cooks a better dish than she does, the viewer ‚accepts‘ this claim as one of ‚better than average.‘ If a real little old lady held up a package and said, ‚This is better than my own homemade,‘ her claim would very likely be rejected. (1982, 96)
Dieser von Animationsfiguren geschaffene Akzeptanzrahmen kann sich auch auf ‚heikle‘ oder negativ konnotierte Bereiche (z.B. Hygieneartikel, Reinigungsartikel) beziehen, wie Callcott und Lee herausstellen: „[…] personification can serve as a humorous means of addressing somewhat taboo product areas, such as those dealing with human digestion
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Die Werbefigur als Beziehungsangebot
and excretion“ (1995, 146). Beispielhaft können hier das Darmol-Männchen, das bei Verdauungsproblemen zur Stelle ist, aber auch BoxaGrippals Bodo, der Grippesymptome mit roter und triefender Nase vor Augen führt, genannt werden. Bei Animationsfiguren kann also gerade die Abstraktion von der Realität, die Bereitschaft der Rezipient_innen, sich mit bestimmten Werbethemen auseinanderzusetzen, fördern. Eine weitere Spezifizierung der Adressierung kann im Dr. Best Beispiel durch das in Aussicht stellen des idealen Selbst für die Rezipient_in beobachtet werden.154 Auf die Rezipient_in bezogene Aussprüche können nicht nur zu einem Wiedererkennen führen (‚das Gefühl einer professionellen Zahnreinigung kenne und schätze ich‘), sondern das Erwähnte auch zu Merkmalen des idealen Selbst machen (‚vielleicht sollte ich auch eine professionelle Zahnreinigung durchführen lassen‘). In diesem Fall wird die Zuschauer_in zunächst als Mängelwesen positioniert, das durch Konsum ihr ideales Selbst erreichen kann. Schinko, Kiefer und Huck weisen darauf hin, dass imitierendes Verhalten nicht nur im Hinblick auf den Kommunikator, sondern ebenso auf die Adressat_in forciert werden kann. In Bezug auf Pop-Songs bemerken sie: „Songs invite mimetic behaviour, imitating not (only) the star, but (also, and especially) the addressed“ (Schinko, Kiefer und Huck 2010, 308; Hervorhebung im Original). Das Skizzieren und in Aussicht stellen des idealen Selbst als Bestandteil der Adressierung will eben jenes in den Mittelpunkt der Nachahmung stellen. Die unterschiedlichen Formen der persönlichen Bezugnahme deuten insgesamt darauf hin, dass die Adressierung durch die Werbefigur nicht nur zielgruppenspezifisch sein soll, sondern die Adressat_in gar zum Fokus der Kommunikation macht. Wie der Persil-Mann mit „damit Sie lange Freude an Ihrer schönen Wäsche haben“ deutlich macht: alle Produkteigenschaften sind einzig und allein für Sie da. Es geschieht eine Akzentverschiebung, wie auch Schinko, Kiefer und Huck im Hinblick auf das Musikvideo feststellen: „The listening spectator, indeed, becomes the centre of attention, overshadowing the figures in the video in importance“ (2010, 313). Nicht mehr das Medienprodukt, dem die 154
Hans Dieter Mummendey schreibt in Bezug auf die ‚Selbst-Diskrepanz-Theorie‘, eine Person habe: „ein tatsächliches Selbst (actual self), das die Merkmale repräsentiert, die sich eine Person zuschreibt oder von der sie meint, daß andere sie ihr zuschreiben“ (1995, 99). Gleichzeitig habe eine Person aber auch „[…] ein ideales Selbst (ideal self), das diejenigen Eigenschaften umfaßt, die man selbst oder andere der Person im Idealfall zuschreiben würden, das also Hoffnungen, Wünsche und Ansprüche repräsentiert“ (Mummendey 1995, 99). Mit dem idealen Selbst wird hier also die von einer Person erhoffte oder angestrebte ‚bessere Version‘ des eigenen Selbst beschrieben.
Persönliche Bezugnahme durch die Werbefigur
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Zuschauer_in ihre Aufmerksamkeit schenkt, ist das Zentrum dieser Aufmerksamkeit, sondern die Zuschauer_in selbst.
11 Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die
Werbefigur In der bisherigen Betrachtung wurden Werbefiguren und ihre Adressierungsleistung nach ganz grundsätzlichen Charakteristika untersucht. Dabei wurde beleuchtet, wie über Werbefiguren ‚folgenreiche Aufmerksamkeit’ erlangt und erhalten werden soll. Die Werbefigur wurde im Anschluss an Stern und Zurstiege als Beziehungsangebot im Text für die Rezipient_in definiert. Auf dieser Grundlage wurde herausgearbeitet, dass eine parasoziale Interaktion mit der Werbefigur maßgeblich durch deren starke Adressivität angestrebt wird (sowohl in der direkten als auch in der indirekten Adressierung) und dass der versuchte Beziehungsaufbau selbst als Teil der Überzeugungsarbeit betrachtet werden kann. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass der Rezipient_in durch die Ausgestaltung der Adressierung eine bestimmte Position bzw. Antwortrolle zugewiesen wird. Nach der Betrachtung der übergreifenden Adressierungscharakteristika soll nun versucht werden, eine Systematik innerhalb der verschiedenen Ausprägungen der Adressierung zu erarbeiten. Im Hinblick auf das Modell der Werbekommunikation von Stern, welche die ‚Nachricht der Persona‘ nach den klassischen Erzählformen (Ich-Erzählung, Handlungsbeschreibung, Handlungsinszenierung) gliedert, möchte ich eine alternative Typologie vorschlagen. Die an dieser Stelle vorgeschlagenen Adressierungsstrategien sind nicht als Ablösungsvorschlag zu Sterns Einteilung zu verstehen, sondern als Ergänzung, die eine Zuspitzung auf die Werblichkeit der Texte erlaubt. Da Sterns Vorschlag ganz grundsätzlich auf Erzähltexte angewendet werden kann, ist eine Anwendung auf die hier im Folgenden dargestellten Strategien ebenfalls möglich. Die Adressierungsstrategien der Werbefigur sollen, wie die Bezeichnung bereits suggeriert, die Adressierungsleistung der Werbefigur einordenbar und beschreibbar machen. Der Fokus liegt also auf der Adressierung durch die Werbefigur. Dies wird nochmals betont, da Werbekommunikate das Publikum auf ganz unterschiedlichen Ebenen adressieren: Sie sind Medienprodukte, die für das Publikum geschaffen sind. Im Anschluss an Mikos (1996, 99-100, 105) besteht allein durch dieses Wissen eine implizite Adressierung durch das Medienprodukt. Schmidt (2002, 104) beschreibt Werbebilder bezugnehmend auf Villem Flusser überdies als imperative Bilder. Auch unabhängig von Figuren hat
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_11
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
Werbung demnach einen auffordernden Gestus. Schließlich kann danach gefragt werden, und an dieser Stelle setzt die vorgeschlagene Typologie an, wie die Figuren in den Werbekommunikaten adressieren. Dieser Fokus trägt auch dem personagebundenen Konzept der parasozialen Interaktion Rechnung, das die Medienfigur immer als Ausgangsakteur parasozialer Prozesse betrachtet (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 14) und das vorangehend als theoretischer Rahmen eingeführt wurde. Die Adressierungsstrategien, die im Folgenden vorgestellt werden, beschreiben jeweils unterschiedliche Kommunikationskonfigurationen. Es wird angenommen, dass dem Publikum durch die Adressierung unterschiedliche Rollen zugewiesen werden. Durch die jeweilige Position der Werbefigur und der implizierten Position der Rezipient_in entstehen verschiedene Kommunikationskonfigurationen. Innerhalb dieser wird auch die persuasive Intention der Werbekommunikate unterschiedlich verfolgt. Dabei sollen und können in dieser Arbeit keine Aussagen über die bessere oder schlechtere Wirksamkeit einzelner Strategien gemacht werden. Vielmehr geht es darum, transparent zu machen, wie die Werbefigur in den jeweiligen Konfigurationen Aufmerksamkeit erringen und überzeugen möchte und welche Rollen sie der Rezipient_in dafür zuweist. Es geht also um das Wie der persuasiven Ansprache. Die Erarbeitung der Adressierungsstrategien soll anhand zweier Parameter erfolgen: Das ist zum einen die Form der Adressierung und zum anderen die Art des Kauf- und Konsumappells. Gemeinsam betonen die Parameter das Werben der Werbefigur und grenzen die Adressierung damit von der Ansprache in anderen medial vermittelten Kommunikationsformen ab. Die Form der Adressierung zielt auf die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Adressierung ab. Die Adressierungsform wird als Ausgangspunkt für die Herstellung unterschiedlicher Kommunikationskonfigurationen betrachtet. Die direkte Adressierung meint dabei die direkte verbale Ansprache sowie den angestrebten Blickkontakt mit der Rezipient_in. Innerhalb dieser Adressierung wird die Rezipient_in als Gesprächspartner_in positioniert. Mit indirekter Adressierung sind dagegen Hinwendungen zur Rezipient_in ohne direkte Kontaktaufnahme, z.B. durch Körperhaltung oder geöffnete Gesprächsrunden gemeint, die eine Art imaginative direkte Adressierung implizieren. Hier wird die Rezipient_in eher als teilnehmende Beobach-
Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
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ter_in und Mithörer_in der Situation positioniert. Beide Adressierungsformen können daraufhin ergänzend nach der persönlichen Bezugnahme durch die Werbefigur befragt werden. Die Art des Kauf- und Konsumappells zielt auf die verbale Äußerung eines Appells ab. Ausgehend vom persuasiven Charakter der Werbung schließt Christa Wehner (1996, 21–28), dass in der Werbung zumindest implizit immer Empfehlungen (‚Kauf mich!‘) an die Rezipient_in gerichtet werden. Wehner (1996, 27–28) führt weiter aus, dass diese Empfehlung auch explizit gemacht werden kann. Eine solche explizite Empfehlung bezeichne ich an dieser Stelle als expliziten Appell. Das Ziel der Werbung als persuasiver Kommunikation besteht darin, Rezipient_innen zum Kauf zu motivieren. Mit diesem Parameter wird also auch das ‚Imperative‘ der Werbung aufgegriffen – allerdings unter konkreter Bezugnahme auf die Äußerungen der Werbefigur. Dementsprechend meint der explizite Appell einer Werbefigur die Äußerung einer Kauf- oder Konsumaufforderung. Zu den expliziten Appellen zähle ich sowohl direkt an die Rezipient_in adressierte Appelle (‚Werden Sie selbst zum Bausparfuchs‘) als auch solche, die innerdiegetisch (z.B. in dialogischer Form) geäußert werden, wie im Dialog zwischen einer Hausfrau und ihrem Lenor-Gewissen: ‚Du musst Lenor nehmen‘. Dabei muss beachtet werden, dass die Handlungen oder Gedanken von Werbefiguren auch über ein Voice-Over kommentiert bzw. vertont werden können wie z.B. bei Bernhardiner Bruno von Ajax, dem Charmin Bär (Charmin) oder Alice (Alice). Solche Voice-Overs werden ebenfalls der Werbefigur als Kommunikator zugeordnet. Angelehnt an Wehner (1996, 26–27) sollen neben explizit geäußerten positiven Appellen (Darmol-Männchen: ‚Nimm Darmol, Du fühlst Dich wohl‘) auch negative Appelle (‚Wenn Sie dieses Produkt nicht kaufen, dann droht …‘) berücksichtigt werden. Das heißt, dass auch die Darstellung von drohenden Sanktionen als impliziter Appell verstanden wird und dass eine Handlungsempfehlung auch in einem negativ konnotierten Kontext geäußert werden kann. Beispielhaft kann für einen negativen Appell wiederum die Figur des Lenor-Gewissens angeführt werden: Voice-Over: „Jetzt meldet sich ihr Gewissen.“ Lenor-Gewissen: „Die Bademäntel nicht weich genug.“ Konsumentin: „Aber ich …“ Lenor-Gewissen: „Die ganze Wäsche könnte auch weißer sein.“ Konsumentin: „Ich wasch‘ doch so sorgfältig.“ Lenor-Gewissen: „Genügt nicht. Du musst Lenor nehmen.“
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur […] Konsumentin: „Weiß wie noch nie!“ (Die glückliche Familie ist zu sehen.) Voice-Over: „Jetzt hat sie ein gutes Gewissen.“ Lenor-Gewissen: „Alle haben dich so lieb.“ (meinevideoclips 2011)155
Die vorangegangene Beschreibung des expliziten Appells ergibt eine natürliche Beschränkung auf sprachliche Äußerungen und ist z.B. durch Imperativformen oder Signalwörter wie sollen, müssen oder brauchen gekennzeichnet. Es bedarf für einen expliziten Appell, wie in den Beispielen bereits angedeutet, keiner drastischen Kaufaufforderung wie: ‚Sichern Sie sich jetzt das …‘. Der explizite Appell kann auch durch Formulierungen wie ‚Probier’ doch mal …‘ geäußert werden. Der explizite Appell kommuniziert die Persuasionsabsicht offensiv und nimmt eine Handlungsschlussfolgerung für die Rezipient_in vorweg. Wo davon ausgegangen wird, dass der implizite Appell stets in die Textstruktur der Werbung verwoben ist, erfolgt beim expliziten Appell zusätzlich eine konkrete Handlungsempfehlung. Der explizite Appell als Vorwegnahme der Schlussfolgerung innerhalb der persuasiven Kommunikation steht in einem Zwiespalt: Zum einen wird sichergestellt, dass die Rezipient_in die beabsichtigten Schlüsse zieht bzw. vor Augen geführt bekommt. Zum anderen kann eine explizite Schlussfolgerung nach den Ergebnissen der Yale-Forschung als manipulativ wahrgenommen werden und Reaktanz hervorrufen (Trommsdorff und Teichert 2011, 262). Reaktanz bedeutet, dass einem wahrgenommenen Beeinflussungsversuch Widerstand entgegengebracht wird (Trommsdorff und Teichert 2011, 263). Volker Trommsdorff und Thorsten Teichert (2011, 263–64) weisen darauf hin, dass in der Reaktanzforschung zwei Techniken aufgeführt werden, die die Zuschreibung einer Beeinflussungsabsicht und damit das Aufkommen von Reaktanz verringern könnten: Ablenkung und das Herabsetzen des Kompetenzempfindens der Zielperson. Ersteres könne beispielsweise durch bildliche Stimuli erreicht werden. Zweiteres bedeute, […] dass die Zielperson sich gegenüber der beeinflussenden Person als weniger kompetent empfindet und daher dem Beeinflusser viel mehr Expertise zuschreibt denn Beeinflussungsabsicht. (Trommsdorff und Teichert 2011, 264)
Sowohl beim expliziten als auch beim impliziten Appell steht die Persuasionsabsicht der Werbung an oberster Stelle. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die jeweils
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Der betreffende Lenor Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Adressierungsstrategien der Werbefigur
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inszenierten Kommunikationskonfigurationen dieser Absicht dienen. Im Fall eines expliziten Appells können z.B. Mechanismen vermutet werden, die einen Akzeptanzrahmen für den geäußerten Appell schaffen sollen, um das Aufkommen von Reaktanz zu verringern. Bei impliziten Appellen kann dagegen vermutet werden, dass der auffordernde Gestus der Werbung durch andere Adressierungscharakteristika wie z.B. eine starke emotionale Involvierung realisiert werden sollen. Nach der Erläuterung der Analysedimensionen soll nun vorgestellt werden, wie sich die verschiedenen Adressierungsstrategien von Werbefiguren zusammensetzen.
11.1 Adressierungsstrategien der Werbefigur Die Adressierungsstrategien ergeben sich aus der kombinierten Betrachtung der vorgestellten Analysedimensionen. Die Matrix, die aus der gemeinsamen Betrachtung der Form der Adressierung und der Art des Appells entsteht, stellt ein analytisches Werkzeug für die Einordnung und Beschreibung der Adressierungsleistung der Werbefigur mit folgenden Strategien dar (Abb. 42): Engaging Story (implizit und indirekt), Hidden Sales Talk (explizit und indirekt), Sales Talk (explizit und direkt) sowie Engaging Talk (implizit und direkt).
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
Abb. 42: Adressierungsstrategien der Werbefigur (eigene Darstellung)
Dass die Verbindung der beiden Analysedimensionen Relevanz besitzt, wird an einer Verhaltensregel des deutschen Werberates deutlich. Diese untersagt direkte Kaufaufforderungen an Kinder (Werberat Webseite).156 Die Regel weist – hier im Kontext der potenziellen „Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit“ (Heidenreich 2016, 153) von Kindern – auf den drastischen Überzeugungsversuch durch die geäußerte Handlungsschlussfolgerung in Verbindung mit der persönlichen Ansprache hin. An dieser Stelle
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Die Verhaltensregel des Werberats besagt: „Werbung soll keine direkten Kaufaufforderungen an Kinder enthalten. Gleiches gilt für die Aufforderung an Kinder zum Konsum eines Produkts oder einer Dienstleistung, soweit diese Aufforderung einer direkten Kaufaufforderung gleicht“ (Werberat Webseite). Jan Peter Heidenreich bemerkt zur Ansprache von Kindern in der Werbung: „Kinder (bis 14 Jahre) und Jugendliche (bis 18 Jahre) sind regelmäßig geschäftlich unerfahren und daher besonders schutzbedürftig. Werden Kinder und Jugendliche vom Werbetreibenden gezielt angesprochen, besteht daher ein erhöhtes Risiko, dass sie im Allgemeinen zu kritisch-rationaler Abschätzung der wirtschaftlich-finanziellen Bedeutung und Tragweite geschäftlicher Entschließungen nicht imstande sind“ (2016, 153). Wie Heidenreich weiter ausführt, handelt es sich bei der Untersagung der direkten Kaufaufforderung an Kinder um ein generelles Verbot: „Einen besonderen Fall der an Kinder gerichteten Werbung regelt Nr. 28 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG, der bestimmt, dass jede ‚in eine Werbung einbezogene unmittelbare Aufforderung an Kinder, selbst die beworbene Ware zu erwerben oder die beworbene Dienstleistung in Anspruch zu nehmen oder ihre Eltern oder andere Erwachsene dazu zu veranlassen‘ unzulässig ist. Anders als bei § 4a Nr. 3 UWG kommt es im Rahmen des Anhang Nr. 28 zu § 3 Abs. 3 UWG nicht auf eine Beeinflussung der Willensentschließung des Kindes an. Das Verbot einer unmittelbaren Kaufaufforderung gilt vielmehr absolut. […] Eine unmittelbare Aufforderung zum Kauf setzt einen Kaufappell voraus, für den eine Ansprache im Imperativ […] typisch ist“ (2016, 154).
Adressierungsstrategien der Werbefigur
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wird allerdings nicht davon ausgegangen, dass diese Adressierungsstrategie einen persuasiveren Charakter besitzt als die anderen Strategien. Bei erwachsenen Zuschauer_innen kann – im Gegensatz zu Kindern – davon ausgegangen werden, dass das eingangs beschriebene Werbewissen einen systematischen Platz in der Rezeption innehat. Rezipient_innen reflektieren demnach, dass Werbung eine persuasive Absicht hat, unabhängig davon wie offenkundig oder verschleiert dieser Werbecharakter sein mag. Nur aufgrund dieses Wissens können Werbetreibende überhaupt von einer ‚marktschreierischen‘ Ansprache Abstand nehmen und trotzdem darauf hoffen, dass das Publikum das Werben für die Produkte nachvollziehen kann. Die beiden herausgestellten Analysedimensionen, die Art des Appells und die Form der Adressierung, sind überdies insofern verwoben, als dass die Adressierungsform z.B. zur Legitimierung eines expliziten Appells oder zur Kompensation eines nicht-geäußerten Appells eingesetzt werden kann. Mit den aufgeführten Adressierungsstrategien können einzelne Werbekommunikate analysiert werden, sodass z.B. untersucht werden kann, wie die Adressierung durch eine Werbefigur medien- und kampagnenspezifisch variiert. Die Strategien fragen danach, welche Konfiguration mit den Rezipient_innen angestrebt wird, wobei insgesamt zwischen einer inszenierten dialogischen Kommunikationssituation auf der einen Seite (Sales Talk und Engaging Talk) und der Präsentation von Identifikationsflächen auf der anderen Seite (Engaging Story und Hidden Sales Talk) unterschieden werden kann. Gleichzeitig kann zwischen Verkaufsgespräch (Sales Talk und Hidden Sales Talk) und einer Involvierung, die Begehrlichkeiten wecken soll (Engaging Story und Engaging Talk), unterschieden werden. Wo im Verkaufsgespräch, das Produkt präsentiert und der Produktkauf explizit vorgeschlagen wird, wird bei der Involvierung der Rezipient_innen versucht, implizit Bedürfnisse für das Produkt zu wecken und so zu einem Kauf zu motivieren. In den folgenden Abschnitten (11.1.1-11.1.4) werden die vier Adressierungsstrategien im Detail vorgestellt und mit Beispielen illustriert.
11.1.1 Engaging Story Die Adressierungsstrategie der Engaging Story ist durch den impliziten Appell und die indirekte Adressierung der Rezipient_innen charakterisiert. Die Kommunikate sind durch
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
eine intakte Diegese gekennzeichnet, sodass die Rezipient_in die Inszenierung aus der Distanz beobachten kann. Damit sich das Publikum trotzdem angesprochen fühlt und darüber Aufmerksamkeit generiert werden kann, zeigen Werbefiguren durch eine hingewendete Körperhaltung, durch geöffnete Gesprächsrunden und persönliche Bezugnahmen eine Adressierung an. Die Werbefigur oder die mit ihr agierenden Statist_innen werden innerhalb der Diegese als Identifikationsflächen positioniert. Diese sollen durch ihr Verhalten Bedürfnisse in Bezug auf das Beworbene wecken. Die Konfiguration kommuniziert: Schauen Sie uns an. Sehen Sie, wie gut es uns geht – und wie gut es Ihnen gehen könnte. Dafür lässt sie den Rezipient_innen Zeit zur Beobachtung und zur empathischen Involvierung. Wie der deskriptive Titel der Adressierungsstrategie Engaging Story suggeriert, eignet sich die intakte Diegese insbesondere zum Geschichten erzählen und für den Aufbau einer fiktiven Welt. So wurde rund um die kinder Riegel Werbefiguren Milky & Schoki eine Storyworld aufgebaut, die zwar die Produkt- und Markeneigenschaften symbolisiert (‚Milch + Schokolade = Liebe‘), aber keinerlei Kaufappell oder direkte Ansprache der Figuren an die Rezipient_innen enthält. Von den einzelnen YouTube- und Fernsehspots über die Webseite bis hin zur Facebook-Seite wird die Liebesgeschichte von Milky & Schoki erzählt. Diese wird aus der Sicht von Schoki auf der Webseite wie folgt beschrieben: Was zusammengehört, findet auch zueinander Wir beide kennen uns schon seit Kindheitstagen – eine echte Sandkastenliebe. Doch leider ist Milky irgendwann umgezogen und wir haben uns völlig aus den Augen verloren. Und dann, ganz unerwartet, stand sie plötzlich wieder vor mir. Unsere Knie wurden weich, unsere Herzen rasten und alle Gefühle waren auf einmal wieder da. Diese Chance haben wir uns nicht noch einmal entgehen lassen und sind seit diesem wunderbaren Tag ein unzertrennliches Paar. […] (kinder Riegel Webseite; Hervorhebung im Original)
Über die Figuren, die als formale Ebenbilder des Markenprodukts fungieren (siehe Kapitel B), soll die abstrakte Bedeutung des ‚perfekten Matches‘ von Milch und Schokolade aufgebaut und auf die Marke transferiert werden. Die auf den ersten Blick weniger werblich erscheinende Adressierungsstrategie Engaging Story erlaubt es den Rezipient_innen die transmedial erzählte Geschichte (fast) wie andere fiktionale Formate zu rezipieren. Nur ein Abbinder in den Werbespots weist auf den kommerziellen Absender hin. Die angestrebte Aufmerksamkeitsgenerierung und Involvierung der Zuschauer_in spiegelt sich trotzdem deutlich in der zur Rezipient_in
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hingewendeten Haltung und in den (halb)nahen Aufnahmen der Figuren wider. So zeigen Werbemotive, wie die Figuren sich in ihrer Zweisamkeit zur Betrachter_in hinwenden und die Situation öffnen (siehe beispielsweise folgenden Facebook-Post: kinder Riegel 2017). Dadurch laden sie die Rezipient_in zur Betrachtung des ‚perfekten Matches‘ ein. Darauf aufbauend erfolgt eine persönliche Bezugnahme auf die Rezipient_innen. Das Thema der Liebe wird sowohl bildlich mit den Figuren inszeniert als auch durch diese verbalisiert. Betrachter_innen mögen sich nun dadurch angesprochen fühlen, dass sie die abstrakt dargestellte Liebe auf sich und ihre Situation beziehen. So kommunizieren die Figuren innerdiegetisch auf einem Postkarten-Download-Motiv, das auf der Webseite integriert ist: „Mit dir bis ans Ende der Welt …“ (kinder Riegel Webseite). Rezipient_innen können sich nun insofern angesprochen fühlen, als dass sie den Ausspruch auf ihre eigene Partner_in beziehen oder den Ausspruch als Ausdruck der eigenen Sehnsucht verstehen. Die Figuren werden durch die Inszenierung zu einer Möglichkeit ‚Liebe zu zeigen‘. So enthalten Facebook-Posts Liebeserklärungen der Figuren, die von Followern genutzt werden, um sie als Botschaft in ihrem eigenen Kontext zu teilen oder um andere Personen in einem Kommentar zu markieren. Einer dieser kinder Riegel-Posts lautet wie folgt: „Heute ist der Tag des Lächelns! … mit dir ist das jeder Tag“ (kinder Riegel 2017). Eine Nutzerin reagiert darauf mit einem Paar-Foto und der Aussage: „Er zaubert mir jeden Tag ein Lächeln auf mein Gesicht und das nach 34 Jahren“ (Schneider 2017). Ein anderer Nutzer markiert seine Partnerin und schreibt begleitet von Herz-Emojis: „dein lachen strahlt so viel liebe und Geborgenheit aus da könnte ich dich immer küssen […]“ (Richter 2017). Die Figuren Milky & Schoki zeigen ein überzeichnetes, aber nichtsdestotrotz nachvollziehbares, menschliches Verhalten als verliebtes Paar. Sie fungieren damit nicht in einem engeren Sinne als Identifikationsflächen, jedoch im Hinblick auf das kommunizierte Thema Liebe durchaus als anthropomorphe Anschlussflächen für die Rezipient_innen. Die dargestellten Figuren sind niedlich und sollen darüber Sympathien generieren. Sie drängen sich nicht werblich auf und ihre Geschichte (die der Liebe) behandelt ein Universalthema. Das Konsumangebot wird durch die Storyworld um die beiden Figuren emotionalisiert und trifft in seiner Ästhetik und im Ausdruck offensichtlich auf Zustimmung, sodass die Werbemotive im privaten Kontext weiter distribuiert werden. Partizipationsmöglichkeiten werden damit trotz oder insbesondere wegen der aufrechterhaltenen erzählten Welt geboten. So werden zum Beispiel postkartenähnliche Motive als Bilder zum
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Download auf der Webseite angeboten (kinder Riegel Webseite). Je nach Nutzung kann die Story der beiden Werbefiguren damit materialisiert (ausgedruckt) und in die tatsächliche Lebenswelt integriert werden (z.B. am Kühlschrank, Bildschirmhintergrund). Bei vielen Kommunikaten wird auf die Nennung der Figurennamen (Milky & Schoki) und/ oder die Nennung des kommerziellen Absenders (kinder) verzichtet, wodurch diese weniger werblich wirken und umso mehr wie Bausteine in den eigenen Kontext und die eigene Kommunikation integriert werden können. Als markentypische, formale Ebenbilder repräsentieren Milky & Schoki das Markenprodukt, sodass eine zusätzliche Kennzeichnung nicht benötigt wird. Die implizite und indirekte Adressierungsstrategie Engaging Story positioniert die Werberezipient_in als Rezipient_in eines Unterhaltungsangebots und scheinbar absichtsloser Information. Sie ist im besten Fall für die Werbetreibenden Fan und Multiplikator. So erhalten Milky & Schoki durch den Story-Charakter Eingang in die private (selektive) Mediennutzung der Rezipient_innen. Dabei wird die Persuasionsintention durch die Werbetreibenden nicht minder verfolgt: Die Figuren dienen als markentypische und emotionale Brücke zum Produkt – dieses Produkt bleibt zwar im Hintergrund, ist aber immer präsent. Das Publikum soll durch die Anordnung der Figuren, Körperhaltungen sowie der persönlichen Bezugnahmen adressiert werden, wobei über die Involvierung Bedürfnisse für das Markenprodukt geweckt und positive Einstellungen erreicht werden sollen. Durch die fehlende direkte Ansprache wird die Rezipient_in als empathische Beobachter_in positioniert, der in der Inszenierung (abstrakte) Identifikationsflächen geboten werden.
11.1.2 Engaging Talk In der Adressierungsstrategie Engaging Talk wird die direkte Ansprache der Rezipient_in durch die Werbefigur inszeniert. Hier nimmt die Rezipient_in also keine beobachtende Position ein, sondern soll in die Intimität eines Dialogs gezogen werden. Dabei wird jedoch nur implizit ein Kauf- oder Konsumappell an sie gerichtet. Die Werbefigur kann auf diese Weise über die mediale Grenze hinweg scheinbar ohne Absatzgedanken ein Ge-
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spräch mit der Zuschauer_in anstreben. So kann sich die Figur z.B. ähnlich einem Bekannten oder einer Freund_in mit der Rezipient_in solidarisieren (siehe Nina von CHECK24) oder einen Rat geben. Der Engaging Talk verzichtet auf eine intakte Diegese, um direkten Kontakt zur Rezipient_in aufzubauen und eine parasoziale Interaktion mit der Werbefigur anzuregen. Dabei wird die Rezipient_in zum unverzichtbaren Baustein für die Logik des Dargestellten (ohne Zuschauer_innen, die Nina in ihrer Äußerung zustimmen, würde die Pointe nicht greifen). Als weiteres Beispiel neben der Werbefigur Nina von Check24 kann ein Werbespot mit dem Melitta-Mann aus dem Jahr 1990 dienen. Dieser sitzt der Rezipient_in in einem Spot frontal gegenüber am Kaffeetisch und liest laut Kontaktanzeigen, was bereits ein Anzeichen dafür ist, dass er um jemand Weiteres am Tisch weiß. Scheinbar wenig überzeugt von den Anzeigen trinkt er einen Schluck von seinem Melitta-Kaffee, wobei dieser ihn spontan zu einer Kaffee- oder auch Personenbeschreibung (Stichwort Markenwerte) anregt: „Naturverbunden, anregend, unverfälschtes Aroma“ (AlteTVSpots 2012, 00:00:17-00:00:21)157. Die Perfektion des Kaffees bringt ihn auf die Idee, dass diese Eigenschaften genau diejenigen sind, die er sucht. Er schaut nun direkt in die Kamera und spricht die Rezipient_in an: „Hey, magst Du auch Melitta-Auslese? Dann schreib mir – mit Bild!“ (AlteTVSpots 2012, 00:00:21-00:27). Der Kaffee wird damit nicht nur als äußerst wohlschmeckend beschrieben, er ist darüber hinaus Ideengeber, verbindendes Element zwischen Menschen und Merkmal für Menschen mit gutem Geschmack. Wiederum soll die gesamte szenische Anordnung die Rezipient_in in das Geschehen integrieren: diese wird am Küchentisch platziert, ist zunächst Zuhörer_in und Beobachter_in, um dann angesprochen und aufgefordert zu werden. Dabei dient die Aufforderung zum Schreiben der Beziehungsbildung mit der Figur – als sympathische und menschliche Hinführung zum eigentlichen Ziel, dem Kaffee (der ja über die Beschreibung auch schon personifiziert wird). Eine direkte Kaufaufforderung ist hier nicht notwendig, da ein Beziehungsangebot nur für solche Rezipient_innen geäußert wird, die ebenfalls ‚Melitta mögen‘. Der Konsum wird also implizit vorausgesetzt. Der Engaging Talk wird in diesem Spot dadurch unterstützt, dass der Melitta-Mann sich auf Augenhöhe mit der Rezipient_in befindet. Er selbst ist ein Kaffee-Konsument und kein Hersteller
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Der betreffende Melitta Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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oder ausgewiesener Experte. Damit kann er mit der Rezipient_in – wie ein Freund – Tipps, Ratschläge und Erfahrungen teilen und werben, ohne dass der Werbegedanke allzu offensichtlich wäre. Die Rezipient_innen sollen in dieser konstruierten Kommunikationskonfiguration eine aktive Rolle einnehmen. Die Werbefigur möchte die Rezipient_in in eine dialogische Situation, in eine parasoziale Kommunikation, ziehen. Wie auch in der Engaging Story soll die Rezipient_in dabei eine positive Einstellung zum (wenig werblich erscheinenden) Dargestellten entwickeln. Dieses wird durch die Werbefigur als wünschenswert positioniert (guter Geschmack, bringt Menschen zusammen etc.). Für die Rezipient_in als Gegenüber im Gespräch stellt das gewünschte und akzeptierte Verhalten Konsum dar. Mit diesem kann sie auch die angebotene Beziehung zur Werbefigur (und Marke) festigen. Das einbeziehende Verhalten der Werbefigur formuliert also implizit den gewünschten Anschluss an die Kommunikation.
11.1.3 Sales Talk Im Sales Talk wird jegliche implizite Vorgehensweise verworfen. Stattdessen wird die Simulation einer bilateralen Gesprächssituation mit einem Kaufappell verbunden – ähnlich einem Verkaufsgespräch im Geschäft. Die Werbefigur nimmt eine klar appellierende Stellung ein. Dabei kann vielleicht gerade der offensive Umgang mit der Verkaufsabsicht in Verbindung mit einem entsprechend gestalteten anthropomorphen Wesen einen Akzeptanzrahmen für den Appell schaffen. In der Rolle eines Mitarbeiters empfängt beispielsweise die Werbefigur von 1&1 die Rezipient_in in seinem Büro (DSLWEB 2017)158, um diese von den 1&1-Produktvorteilen zu überzeugen. Ähnlich wie im Dr. Best Beispiel befindet sich die Rezipient_in zunächst ihm gegenüber am Schreibtisch (DSLWEB 2017, 00:00:04). Daraufhin nimmt der 1&1-Mann sie mit auf einen Werberundgang: Unter anderem bleibt er dabei an einer Fotowand stehen, die von den 1&1-Erfolgen zeugen (DSLWEB 2017, 00:00:08), die (auch) von der Figur verantwortet werden. Der 1&1-Mann beendet den Rundgang schließlich
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Der betreffende 1&1 Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Adressierungsstrategien der Werbefigur
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mit einer Präsentation über die finalen (Preis-)Vorteile und einem deutlichen Kaufappell: „Wechseln Sie jetzt zum Testsieger und sichern Sie sich 100 Euro Startguthaben“ (DSLWEB 2017, 00:00:17-00:00:21). Wie auch beim Engaging Talk komplettiert die Zuschauer_in in dieser Konstellation der direkten Ansprache das szenische Arrangement. Alle erwähnten Szenen benötigen ein Gegenüber, dem die 1&1-Errungenschaften vorgeführt werden können. Und da innerdiegetisch eine Gesprächspartner_in fehlt, wird der Zuschauer_in impliziert, dass sie diese Rolle einnehmen soll. Der 1&1-Mann richtet seine gesamte Körpersprache auf sein Gegenüber aus: Er präsentiert zum Publikum gewandt und mit direktem Blickkontakt, spricht die Zuschauer_innen mit Personalpronomen an und fordert diese im Imperativ auf, zu wechseln. Dabei wird der Verkaufs- und Entlohnungsgedanke nicht verschleiert, sondern nach vorn gestellt: Sowohl der Preis als auch die Spargelegenheit werden gezeigt (ähnlich der Situation in einem Telekommunikationsgeschäft). Dabei wird die Nähe des 1&1-Mannes zur Rezipient_in durch vorwiegend halbnahe Aufnahmen suggeriert. In diesem Sales Talk soll eine Umkodierung des Werbecharakters in ein ‚ehrliches Geschäft‘ erfolgen. Die Werbefigur hat durch ihre Rolle als Mitarbeiter die natürliche Aufgabe, Produkte zu verkaufen. Der Appell ist durch die Figur konkretisiert und vermenschlicht. Durch die Referenz auf die Entgegennahme von Auszeichnungen für 1&1 werden der Figur historische Erfolge des Unternehmens zugerechnet (und es wird gleichzeitig auf vergangene Werbetexte verwiesen). Es wird suggeriert, dass der 1&1-Mann für den Erfolg gearbeitet und ausgezeichnet worden ist, was ihn auch berechtigt, für seine Produkte zu werben. Dabei findet sich die Rezipient_in in der gewohnten Situation eines Verkaufsgesprächs wieder. Es wurde ein Rahmen geschaffen, in dem der Kaufappell nachvollziehbar und akzeptabel ist. Der Sales Talk benötigt aber nicht zwangsläufig einen Verkäufer. Auch ‚die schönste Verbindung‘ Alice kommuniziert mit dieser Adressierungsstrategie – und das ganz ohne Sprache. Die Werbefigur Alice sucht in einem Werbespot – ohne dabei selbst zu reden oder zu appellieren – intensiv Augenkontakt mit der Rezipient_in, während ein VoiceOver über die Vorteile der schönsten Verbindung (die Alice darstellt) spricht und die Rezipient_in ermutigt, sich Alice ebenfalls nach Hause zu holen (Gammelforce 2010)159.
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Der betreffende Alice Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
Auch hier wird ein Akzeptanzrahmen für den offen werblichen Auftritt geschaffen, indem Alice das Produkt selbst verkörpert und damit für sich selbst wirbt. Ihre Attraktivität soll dabei nicht nur Aufmerksamkeit generieren, sondern auch Begehrlichkeit wecken. Die Rezipient_in wird im Sales Talk als Dialogpartner_in behandelt, die sich in einem Verkaufsgespräch wiederfindet. Dadurch, dass die Rezipient_in als Kund_in bzw. Ratsuchende positioniert wird (und auch in eine Situation versetzt wird, in der sie sich als solche wiedererkennt), wird der Appell in einem nachvollziehbaren Rahmen geäußert. Die direkte Adressierung strebt aktiv Interaktion an und gibt einen konkreten Hinweis auf die gewünschte Rezipientenreaktion. Der explizite Appell grenzt die Handlungsmöglichkeiten im Sinne einer Komplexitätsreduktion ein und verspricht damit nicht nur Bedürfnisbefriedigung, sondern auch kognitive Entlastung durch Konsum (‚Nutze einfach dieses Markenprodukt und Dein Problem ist gelöst‘).
11.1.4 Hidden Sales Talk Die Adressierungsstrategie des Hidden Sales Talk zeichnet sich dadurch aus, dass ein expliziter Appell ausgesprochen wird, jedoch ohne diesen an die Rezipient_in zu richten. Stattdessen kommt eine innerdiegetische Dialogpartner_in (Stellvertreter) in die Empfehlungssituation. Die bereits angeführten Beispiele von Jacobs Karin Sommer und dem Lenor-Gewissen fallen in diese Adressierungsstrategie. Wie soll die Zuschauer_in im Hidden Sales Talk beeinflusst werden? Der Hidden Sales Talk bindet die Zuschauer_in (wie auch in der Engaging Story) zunächst über körperliche Hinwendungen, geöffnete Gesprächsrunden und (halb)nahe Aufnahmen ein. Weiterhin wird den Zuschauer_innen mit dem Stellvertreter eine Identifikationsfläche geboten. Dabei wird der explizite Appell durch die innerdiegetische Äußerung ‚versteckt‘. Im Gegensatz zum Sales Talk wendet sich die Werbefigur im Hidden Sales Talk nicht direkt an die Zuschauer_in im primären Kommunikationskreis. Stattdessen fungieren die Stellvertreter als ‚Transmissionsriemen‘, um sowohl den Appell als auch die Ansprache der Werbefigur auf die Rezipient_in zu beziehen.
Anmerkungen zu den identifizierten Adressierungsstrategien
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Damit wird die Rezipient_in im Hidden Sales Talk auf unterschiedlichen Ebenen involviert: Zum einen durch das einbeziehende Verhalten der Figuren (Hinwendungen, persönliche Bezugnahmen, geöffnete Gesprächsrunden), die als Identifikationsflächen dienen, und zum anderen durch die imaginative dialogische Kommunikationssituation mit der Werbefigur über den Stellvertreter. Der Hidden Sales Talk fungiert damit als eine Art Ersatz-Verkaufsgespräch. Wie im Karin Sommer Beispiel bereits erwähnt, bietet dabei die Distanz zum Geschehen in einer Beobachterposition die Möglichkeit, die genannten Problemstellungen zunächst als Zuschauer_in in der Situation nachzuvollziehen, ohne sie durch die Adressierung direkt auf sich zu übertragen. Auch der Lenor-Spot illustriert, wie unangenehme Sachverhalte wie Unwissen verhandelt werden können, ohne dass die Adressat_in sich angegriffen fühlen muss. Trotzdem erfolgt – vermittelt über den Stellvertreter – eine klare Handlungsempfehlung zur Lösung der Problemstellung.
11.2 Anmerkungen zu den identifizierten Adressierungsstrategien Die paradigmatischen Beispiele verdeutlichen die Ausprägungen und avisierten ‚Wirkmechanismen‘ der Adressierungsstrategien. Dabei bestätigen Ausnahmen die Regel: Es gibt Werbekommunikate, die sich nicht so leicht in diese theoretischen Formen ‚gießen‘ lassen. So stellen beispielsweise das Voice-Over in Fernsehspots oder Texte in Anzeigen Variablen dar, welche die Einordnung erschweren können. Diese hängen mal mehr oder weniger mit den Handlungen der Werbefigur zusammen. Hier stellt sich die Frage, ob die Adressierung der Werbefigur als direkt beschrieben werden muss, wenn das Voice-Over oder der Anzeigen-Text sich an das Publikum wenden. Ich schlage folgendes vor: Wenn die Handlungen von Werbefiguren über ein Voice-Over oder einen Anzeigentext kommentiert oder die Gedanken der Werbefigur vertont werden, dann sind diese Adressierungen der Werbefigur als Kommunikator zuzuordnen. Gänzlich von der Inszenierung der Werbefigur getrennte Abbinder (z.B. in der kinder Riegel Werbung mit Milky & Schoki) sind den Adressierungsstrategien der Werbefigur nur schwerlich zuzurechnen, weil sie dieser als Kommunikator nicht mehr zuordenbar sind (zum Beispiel durch eine andere Stimme, fehlenden visuellen Bezug). Der dadurch ausgedrückte werbliche Charakter
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
kann damit nicht mehr zwangsläufig dem Werben der Werbefigur zugeschrieben werden. Diese Trennung kann allerdings nur auf sequenzielle Werbetexte wie einen YouTube-Clip zutreffen. In einer Anzeige sollten alle Bestandteile im Zusammenspiel mit der Figur gelesen werden, wenn es nicht explizit möglich ist, einen alternativen Kommunikator auszumachen. Auch bei der Identifizierung des expliziten Appells kann es zu Unsicherheiten kommen. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Klementines Aussage: „Hier Ariel. Hier im Hauptwaschgang. […] Hauptwaschen mit Ariel, da wird selbst die Buntwäsche Ihrer pingeligsten Kundin rein“ (Medienpirat 2009, 00:00:14-00:00:27)160 als expliziter Appell zu verstehen ist. Ich würde sie aus den folgenden Gründen als solchen einordnen: Erstens ist Klementine selbsternannte Waschexpertin, das heißt, dass explizite Handlungsempfehlungen ihrer Rolle inne liegen. Zweitens kann die Aussage ‚Hauptwaschen mit Ariel‘ als Satz umformuliert bzw. ergänzt werden durch ‚Sie müssen mit Ariel hauptwaschen, da wird selbst die Wäsche Ihrer pingeligsten Kundin rein‘ oder ‚Ich empfehle Ihnen das Hauptwaschen mit Ariel, da wird selbst die Wäsche Ihrer pingeligsten Kundin rein‘. Ihre Aussage beinhaltet also mehr als implizit, genauer in ihrer elliptischen Struktur, einen Appell. Drittens und letztens macht das dezidierte Vorführen nur Sinn, wenn Klementine dies zu dem Zweck tut, dass die innerdiegetische Gesprächspartnerin ihr das Verhalten hinterher nachahmt. Die Rolle der Werbefigur, elliptische Textstrukturen und die Einbindung des Appells in die Handlung können Hinweise zur Identifizierung eines expliziten Appells geben. In diesen nicht direkt zuordenbaren Fällen gilt, dass die Definition einer analytischen Begründung bedarf. Die Typologie der Adressierungsstrategien entspinnt sich insbesondere wegen dieser ‚unklaren‘ Fälle und der unterschiedlichen Ausprägungen der Parameter entlang von zwei Achsen, auf denen die analysierten Werbekommunikate verortet werden können (Abb. 43). Diese individuelle Verortungsmöglichkeit und die visualisierte Durchlässigkeit greifen zum Beispiel auch dort, wo Werbekommunikate mit der Kombination verschiedener Strategien spielen. So gibt es z.B. auch Mischformen der direkten und indirekten Adressierung. Dabei wird die direkte Adressierung oftmals lediglich am Ende und/oder am An-
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Der betreffende Ariel Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
Anmerkungen zu den identifizierten Adressierungsstrategien
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fang eines sequenziellen Werbetextes eingesetzt, um einen Bezug zwischen dem Erzählten und der Rezipient_in herzustellen. Beispielsweise wird in einem Spee-Werbespot eine Hausfrau innerdiegetisch vom Spee-Fuchs mit Konsumappell beraten „Nimm’ Spee, das ist für schlaue Leute!“ (AlteTVSpots 2016, 00:00:09-00:00:11)161. Gegen Ende des Spots wenden sich sowohl die Beratene als auch der Spee-Fuchs den Zuschauer_innen zu, um sie direkt zu adressieren. Der Sales Talk kann über diese Wendung auf ‚natürliche‘ Weise in die private Sphäre der Wohnung verlegt werden. Die in Abschnitt 10.3 beschriebenen Kommunikationskreise fallen dabei zusammen, womit die Rezipient_in direkt dazu aufgefordert wird, das zuvor Gesagte auf sich zu beziehen. Das Kommunikat ist trotz der beobachteten Kombination zweier Adressierungsstrategien schlussendlich als Sales Talk einzuordnen.
Abb. 43: Einordnung der betrachteten Werbekommunikate in die Adressierungsstrategien der Werbefigur (eigene Darstellung)
In Bezug auf die Gliederung der ‚Nachricht der Persona‘ in die Erzählperspektiven der Ich-Erzählung, Handlungsbeschreibung und Handlungsinszenierung von Stern lässt sich festhalten, dass die hier identifizierten Adressierungsstrategien als Ergänzung zu verstehen sind. Im Gegensatz zu Sterns grundsätzlichem erzähltheoretischem Ansatz ist an
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Der betreffende Spee Werbespot ist auf diesem YouTube-Kanal zugänglich.
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Annäherung an eine Systematisierung der Adressierung durch die Werbefigur
dieser Stelle versucht worden, einen werbespezifischeren Einteilungsvorschlag zu unterbreiten. So kann die Handlungsinszenierung in der hier getroffenen Einteilung sowohl in der Engaging Story als auch im Hidden Sales Talk gefunden werden. Die hier dargestellten Adressierungsstrategien bieten nicht nur eine Ausdifferenzierung, sondern auch die begründete Rückführung auf werbliche Aspekte. Je nach Analyseziel kann es zielführend sein, die Adressierung der Werbefigur im Hinblick auf beide Einteilungen zu untersuchen. Werbung möchte ‚folgenreiche Aufmerksamkeit‘ generieren. Das heißt, dass Werbung als strategische Kommunikation nicht lediglich Kontakt zu den Rezipient_innen aufbauen möchte, sondern zusätzlich das Ziel der Beeinflussung im Sinne des Beworbenen verfolgt. Alle erarbeiteten Adressierungsstrategien dienen diesem Ziel – jedoch auf unterschiedliche Art. Die beschriebenen Strategien helfen nachzuvollziehen, wie die mit Werbefiguren gestaltete Werbung wirken will, also ihre persuasive Intention verfolgt. Als Analysewerkzeuge machen sie die Adressierung durch die Werbefigur beschreibbar und tragen zur Transparenz der persuasiven Kommunikation bei. Dabei zeigen sie auf, welche Kommunikationskonfigurationen mit den Rezipient_innen angestrebt werden und damit auch, welche Rollen diese einnehmen sollen.
Fallbeispiel: Adressierung und Beziehungsaufbau am Beispiel Herr Kaiser
12 Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser Die Werbekommunikation der Hamburg-Mannheimer möchte ganz im Sinne von Absatzwerbung ‚wirken‘. Einstellung und Verhalten der Rezipient_innen sollen zum Nutzen des Beworbenen beeinflusst werden, wobei das vornehmliche Ziel ‚Verkauf‘ lautet. Durch die Ansprache und Involvierung der Rezipient_innen soll eine aus Markenperspektive vorteilhafte Anschlusshandlung angeregt werden. Die Figur Herr Kaiser bildete von 1972-2010 den Mittelpunkt dieser persuasiven Kommunikation der Marke HamburgMannheimer. Herr Kaiser wird an dieser Stelle als medialer Knotenpunkt verstanden, an dem die Kontaktaufnahme zum Publikum besonders sichtbar wird und an dem sich das Beziehungsangebot an die (potenziellen) Kund_innen festmacht.162 Anhand des Fallbeispiels Herr Kaiser wird nun das in Abschnitt 11.1 theoretisch erarbeitete Analyseinstrumentarium der Adressierungsstrategien erprobt. Es soll untersucht werden, wie die Werbefigur im Dienste ihrer Marke kommuniziert und wie Rezipient_innen dabei zum Beziehungshandeln positioniert werden. Es ist nicht das Ziel der Analyse, besonders wirksame Verfahren zu identifizieren. Stattdessen sollen die Unterschiede der verwendeten Adressierungsstrategien untersucht werden und transparent gemacht werden, wie diese jeweils wirken sollen. Die Kommunikate werden also unter einer gewissen ‚Erfolgsprämisse‘ gelesen – ohne dass automatisch angenommen werden würde, dass die verschiedenen kommunikativen Elemente tatsächlich so wirken würden, wie intendiert. Dabei kann anhand der beispielhaft ausgewählten Kommunikate nachvollzogen werden, dass für die Inszenierung der Adressierungsstrategien medienästhetisch alles in den Dienst genommen wird, was eine höhere Aufmerksamkeit verspricht, was die Attraktivität steigert und die Glaubwürdigkeit der Kommunikation stärkt. In Kapitel C wurde bereits im Hinblick auf die Bedeutungsgenerierung der Figur verdeutlicht, dass Werbung ein parasitäres Zeichensystem ist. An dieser Stelle wird nun ersichtlich, dass die mediale
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Der Ausdruck ‚medialer Knotenpunkt‘ wurde in der theoretischen Vorarbeit so eingeführt, dass die Adressierungsleistung und die persuasive Funktion des medialen Werbeangebots in die Persona verwoben sind und durch sie als anthropomorphe, distinkt wahrnehmbare Entität (Artikulationsfähigkeit, Augenkontakt, Beziehungsfähigkeit) wie durch ein Brennglas besonders stark zum Ausdruck kommen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_12
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Darstellungsform (z.B. eine redaktionelle Werbeanzeige), die Botschaft der Figur mitformt und zu ihrer Überzeugungskraft beitragen soll. Innerhalb des Analysematerials liegt der Fokus auf Werbespots und Anzeigen der Hamburg-Mannheimer, weil diese über das Archivmaterial am besten zugänglich waren. Wenngleich mit den exemplarischen Analysen wesentliche Kampagnen behandelt werden,163 geht es nicht darum, die Bandbreite der Kaiser-Kommunikation abzudecken. Die Analysen sollen stattdessen den analytischen Wert der entwickelten Adressierungsstrategien als Analyseinstrumente überprüfen. Diese wurden erarbeitet, um die Adressierungsleistung von Werbefiguren einordenbar und beschreibbar zu machen und sind auf einzelne Kommunikate anwendbar. In der theoretischen Vorarbeit wurden die beiden analyseleitenden Parameter der Form der Adressierung und der Art des Appells eingeführt. Die Adressierung durch eine Persona (Werbefigur) wird dabei als Eckpfeiler betrachtet, um die Aufmerksamkeit der Rezipient_innen zu gewinnen und zu halten. Hartmann, Schramm und Klimmt sehen darin einen wichtigen Faktor für den Aufbau parasozialer Prozesse. Je höher die Adressierungsleistung, so die These, desto ausgeprägter die parasoziale Auseinandersetzung mit der Persona (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 29). Eine (hohe) Adressierungsleistung wird damit als Sichtbarmachung des Interaktionsund Beziehungsangebots verstanden. Die allgemein hohe ‚Adressivität‘ innerhalb von Werbekommunikation deutet darauf hin, wie stark diese ein solches Interaktions- und Beziehungsangebot kommunizieren möchte.
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Für die Analyse wurden beispielhafte Kommunikate aus der Kaiser-Kommunikation ausgewählt, von denen angenommen werden kann, dass sie die Wahrnehmung der Werbekommunikation mit Herrn Kaiser prägten. So wurden zwei Anzeigen aus der ‚Mehr vom Leben‘-Anzeigenserie ausgewählt, von der ich 56 Anzeigenmotive aus dem Zeitraum 1984 bis 1996 dokumentiert habe. Die jeweiligen Anzeigen unterscheiden sich dabei nur marginal. Sowohl Anzahl als auch Zeitraum der dokumentierten Anzeigen der Reihe deuten darauf hin, dass es sich um einen gängigen Anzeigenaufbau handelte. Dabei können rückwirkend jedoch keine Aussagen mehr über die tatsächliche Schaltung der Anzeigen und die jeweilige Laufzeit gemacht werden. Es erscheint jedoch auch aus ökonomischen Gründen wenig sinnvoll, dermaßen viele Anzeigenmotive zu produzieren, wenn sie nicht auch zentral in der Werbekommunikation der HamburgMannheimer waren. Ähnlich verhält es sich bei den redaktionellen Anzeigen in Abschnitt 12.5. Hier wurden 23 redaktionelle Anzeigen mit dem Kaiser-Darsteller Geiermann und 13 mit dem Darsteller Schwarzmann von mir dokumentiert. Hier ist das Wissen über die tatsächliche Schaltung jedoch ebenfalls ungewiss, zumal es sich vielfach um Musteranzeigen handelt, in denen noch die Unternehmensadressen ergänzt werden mussten. Es handelt sich dabei vermutlich um Werbematerial, das den einzelnen Vertretern für regionale Werbung zur Verfügung gestellt wurde. Auch die gewählten Werbespots stehen jeweils in einer Reihe ähnlicher Spots, sodass angenommen werden kann, dass sie über einen längeren Zeitraum die Kommunikation der Hamburg-Mannheimer prägten.
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Als zweiter analyseleitender Parameter wurde der Kauf- und Konsumappell als inhärenter Bestandteil von Werbung betrachtet. Werbung appelliert zum Kauf. In einigen Fällen wird diese werbliche Intention zusätzlich (und damit scheinbar besonders nachdrücklich) verbalisiert. Die beiden Parameter sagen jedoch nicht nur etwas über die Intensität der Werbeansprache aus. Kombiniert betrachtet, geben sie auch Hinweise darüber, wie die Zuschauer_innen die Werbung und damit die Marke wahrnehmen sollen, wie sie als Rezipient_innen durch die Werbefigur in der Werbekommunikation positioniert werden und wie Werbung darüber schließlich ‚wirken‘ möchte. Die Analyseparameter sind strategisch verbunden: So werden sie z.B. in der Werbung entsprechend kombiniert, um einen Werbeappell legitim erscheinen zu lassen. Die vorgeschlagenen, nicht trennscharfen Adressierungsstrategien ergeben sich aus der kombinierten Betrachtung beider Dimensionen. Sie wurden in Abschnitt 11.1 als Engaging Story (indirekt und implizit), Sales Talk (direkt und explizit), Hidden Sales Talk (indirekt und explizit) und Engaging Talk (direkt und implizit) eingeführt. Von diesen Strategien ausgehend, sollen die Kommunikate auch im Hinblick auf Zuschauerrollen und potenzielle sozialpsychologische Effekte befragt werden. Der folgende Abschnitt behandelt vor diesem Hintergrund zwei Anzeigenmotive, in denen eine kombinierte Ansprache beobachtet werden kann.
12.1 Verkaufsgespräch und Stellvertretungsszene in der ‚Mehr vom Leben‘-Anzeigenserie Von Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre kommunizierte die Hamburg-Mannheimer mit dem Slogan ‚Mehr vom Leben‘. Unter diesem kommunikativen Dach wurde über einen längeren Zeitraum mit einem weitgehend gleichen Anzeigenaufbau geworben. Diese Anzeigenserie kann im Archiv von 1984 bis 1996 nachvollzogen werden. Sie eignet sich in besonderer Weise als Analyseausgangspunkt, da sie die zentralen Adressierungsstrategien in der Kommunikation mit Herrn Kaiser abbildet. Folgend sollen zwei verschiedene Anzeigenvarianten von 1988 und 1996 analysiert werden.
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Abb. 44: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1988 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Das beispielhaft gewählte Motiv von 1988 (Abb. 44) legt nahe, dass eine vierköpfige Familie beim Umzug gezeigt wird. Zwei Kinder steigen mit ihrem Spielzeug in den Händen eine Treppe hinauf, gefolgt von ihren Eltern, die Stuhl und Teppich schultern. Diese
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Familienszene nimmt mittig, flankiert von zwei Textblöcken, den Hauptanteil der Anzeige ein. Im rechten Textblock ist ein Kontaktaufnahmecoupon integriert, womit die Anzeige als Dialogmarketing-Instrument mit Responseelement definiert werden kann.164 Den unteren Abschnitt der Anzeige bilden das Hamburg-Mannheimer Logo und der Slogan ‚Mehr vom Leben‘. Herr Kaiser ist am unteren rechten Bildrand außerhalb der Familienszene prominent platziert. In der Anzeige kann nachvollzogen werden, wie ein Sales Talk mit einem Hidden Sales Talk kombiniert wird. Die dadurch realisierte Adressierung will sowohl durch die direkte Ansprache als auch durch die Präsentation von Identifikationsflächen überzeugen. In der Analyse wird nach einem kurzen Blick auf das Familienmotiv zunächst der direkt adressierende Herr Kaiser untersucht, der als Kommunikationsinstanz auch die Interpretation der Familienszene steuert. Dabei wird sowohl die angestrebte Beziehung zwischen Figur und Publikum betrachtet als auch das durch Herrn Kaiser moderierte Verhältnis zwischen Stellvertretern und Publikum. Schlussendlich soll auch die implizierte Beziehung zwischen Herrn Kaiser und den Stellvertretern diskutiert werden. Es geht also in dieser Anzeigenanalyse vor dem Hintergrund der entwickelten Adressierungsstrategien darum, welche Appelle wie geäußert werden, wie das Publikum angesprochen und dadurch eingebunden werden soll und welche Identifikationsflächen zu welchem Zweck geboten werden. Im Hauptmotiv der Anzeige werden die Rezipient_innen durch die frontale Körperhaltung der dargestellten Familienmitglieder indirekt adressiert und in eine Beobachtungsposition versetzt. Dadurch, dass die dargestellten Personen jedoch nicht in die Kamera blicken, bleibt die Szene in der Diegese. Wo die Mutter die beiden Jungen betrachtet, hat der Vater sie – und damit die ganze Familie – im Blick. Der Fokus liegt, gesteuert durch die Blickrichtung der Eltern, auf dem Wohlergehen der beiden Kinder. Die den Betrachter_innen zugewandte Körperhaltung fordert diese auf, der Szene und dem insze-
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Damit bewegt sich die Anzeige an der Grenze der vorab als Untersuchungskorpus definierten Mediawerbung (siehe Abschnitt 2.1). Auch Wolfgang Hilke ordnet „Massen-Kommunikation mit ResponseMöglichkeit als Grenzfall“ (1993, 11) zwischen Massenkommunikation (Mediawerbung) und Direktmarketing (Dialogmarketing) ein. Da die Anzeige, wie vorab definiert, zur Werbekommunikation im Rahmen massenmedialer Werbeträger gezählt werden kann, wird sie hier in den Untersuchungskorpus aufgenommen.
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nierten Thema als teilnehmende Beobachter_innen Aufmerksamkeit zu schenken. Die Involvierung soll familienaffine Menschen dazu anregen, sich in die Eltern hineinzuversetzen und gegebenenfalls mit ihnen mitzufühlen (Empathie). Das Lächeln aller abgebildeten Personen lässt dabei auf eine positive Atmosphäre und auf Wohlbefinden schließen: Die im Fokus stehenden Frau und Kinder sind nachahmenswert zufriedengestellt. Die idealisierte Familie (insbesondere die Eltern) stellt eine Identifikationsfläche für Betrachter_innen dar und markiert die angesprochene Zielgruppe. Die Interpretation des Motivs wird weiter durch die rahmenden Schriftblöcke gesteuert, innerhalb derer die Rezipient_innen durch Pronominalanrede direkt angesprochen werden. Dabei wird Herr Kaiser als Kommunikator positioniert: Dadurch, dass die Familienszene nicht aus der Diegese bricht, wird nahegelegt, dass die direkte Adressierung durch eine andere Kommunikationsinstanz erfolgt. Der direkte Blickkontakt und die frontale Körperhaltung legen nahe, dass Herr Kaiser diese Instanz ist. Die Überschrift adressiert die Betrachter_innen direkt und entlarvt sich sowohl inhaltlich als auch durch den Doppelpunkt als Anleitung: „So haben Sie mehr vom Leben:“ (EA Werbeanzeigen 19721996, Werbeanzeige von 1988). Text und Bild der Anzeige sind für die angesprochenen Betrachter_innen unter diesem Anleitungsgedanken zu lesen. Der Vertreter-Beruf der Werbefigur versetzt diese in eine Autoritätsrolle für ‚Anleitungen‘. Weiterhin wird Herr Kaiser als Adressat im Rückmeldecoupon aufgeführt, womit die ‚Anleitung‘ in der Anzeige als erste Aktion von Herrn Kaiser innerhalb einer parasozialen Interaktion gelesen werden kann. Der Coupon stellt demgegenüber für die Rezipient_innen die Möglichkeit einer Reaktion auf Herrn Kaisers Aktion dar. In Leserichtung von links nach rechts wird den Leser_innen im linken Textblock unter der Überschrift „Mit Spaß aktiv…“ in der direkten Ansprache beschrieben, wie das eigene ‚Anpacken‘ beim Umzug zuträglich für die Fitness sein kann. Das Bildmotiv wird damit als vorbildliches Verhalten eingeordnet: Diese Familie ist mit Spaß aktiv und hält sich gemeinsam fit. Weitere Fitnesstipps könnten Rezipient_innen durch den Kauf des Hamburg-Mannheimer Buches „Mit Spaß gesund bleiben“ erhalten: „Für nur 7,80 DM (Verrechnungsscheck) kommt es zu Ihnen“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1988). Herr Kaiser stellt als Kommunikator in der Anzeige demnach für den ideellen Mehrwert der Fitness eine konkrete (und scheinbar intentionslose) Anschluss-
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handlung in Aussicht, die die Kontaktaufnahme mit der Marke bedeutet. Dieses vorgeblich nicht absatzdienliche Kontaktangebot versucht, die Interaktionshäufigkeit zu den Rezipient_innen zu steigern und diese in ein Beziehungsgeflecht mit der Marke zu verwickeln. Auch Andreas Lischka betrachtet die angestrebten „Interaktionen als Grundlage der Dialogkommunikation“ (2000, 56) mit dem Ziel langfristige und profitable Kundenbeziehungen aufzubauen (2000, 50). Die Kontaktdaten der Betrachter_innen, die das Unternehmen über die Anfrage erhalten würde, spezifizieren die kommunikative Adresse (aus der Masse heraus) und ermöglichen die persönlich adressierte Folgekommunikation (Hilke 1993, 12). Nichtsdestotrotz handelt es sich hier zunächst um einen impliziten Appell, Kontakt aufzunehmen. Ein expliziter Appell hätte, so lässt sich die ‚Zurückhaltung‘ interpretieren, das scheinbar intentionslose Kontaktangebot womöglich konterkariert. Thematisch wird hier auch vermittelt, dass die Hamburg-Mannheimer nicht nur für funktionale (Finanzierung, Versicherung), sondern auch für nicht-funktionale Mehrwerte (Glück, Gesundheit) steht. Dabei wird jedoch sehr deutlich, dass auch die kommunizierten nicht-funktionalen Werte letztendlich zum Konsum führen sollen. Mit dem rechten Textblock wird in der Adressierung durch Herrn Kaiser klar, dass die Idealszene erst durch eine gute Versicherung (das Angebot der Hamburg-Mannheimer) komplettiert und ermöglicht wird. Die typografische Ähnlichkeit der TextblockÜberschriften weist darauf hin, dass beide Texte zusammen gelesen werden müssen. Dabei präzisiert die rechte Überschrift: Diese Familie ist nicht nur mit Spaß aktiv, sondern auch noch gut versichert. Der weitere Text schafft die konkrete Verbindung zu den Angeboten der Hamburg-Mannheimer: Der aktuelle Versicherungstip: Eigentumsfinanzierung mit Lebensversicherung. Wenn Sie bauen oder eine Eigentumswohnung erwerben wollen, sollten Sie das Finanzierungsangebot der Hamburg-Mannheimer prüfen. Die Verbindung mit einer Lebensversicherung macht es besonders attraktiv. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1988; Hervorhebung im Original)
Die Rezipient_innen müssen aus den Zeilen schließen, dass das ausgestellte Glück (horizontaler sozialer Vergleich) nur zu erlangen ist, wenn sie gut versichert sind. Denn erst die Versicherung ermöglicht in letzter Konsequenz die Eigentumsfinanzierung und damit das abgebildete Glück der Familie. Herr Kaiser nutzt die präsentierte Identifikationsfläche damit als Argumentation für die zu vertreibende Versicherung. Als Kommunikator verweist er auf das Erstrebens- und Wünschenswerte (die glückliche Familie) und gibt dem Publikum zudem die Anleitung dafür (Fitness plus Versicherung). Der formulierte
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Appell wird als Tipp umgedeutet („Der aktuelle Versicherungstip“). Dabei mildert die Formulierung ‚Sie sollten prüfen‘ zwar nicht die appellierende Bedeutung der Äußerung, wohl aber den werblichen Ton – ein kommunikativer Kniff, um möglichen Reaktanzen zu begegnen. Herr Kaiser befindet sich durch seine direkte Ansprache und durch den geäußerten Appell in einem Sales Talk mit den Rezipient_innen. Die aufgebaute Begehrlichkeit und der verbale ‚Stupser‘ des expliziten Appells sollen zur Anschlusshandlung, der Kontaktaufnahme, führen und kommunizieren überdies: Wenn auch Sie, Betrachter_in der Anzeige, so glücklich sein wollen wie diese Familie, dann nutzen Sie das Finanzierungsangebot der Hamburg-Mannheimer. In dem bereits erwähnten Rückmeldecoupon spitzt sich der Appell kommunikativ zu: Der Coupon soll sicherstellen, dass die Rezipient_innen den werblich beabsichtigen Schluss ziehen und die Hürde der Kontaktaufnahme reduziert wird: „Hallo, Herr Kaiser! Ich möchte gern Konkretes über die Finanzierungsmöglichkeiten mit einer Lebensversicherung wissen. Rufen Sie mich bitte an“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1988). Mit der Nennung der Figur als Adressat wird die Kommunikation auf eine anthropomorphe, soziale Entität konkretisiert. Die Postanschrift verdeutlicht, dass die Werbefigur eine Adresse darstellt, der die Kommunikationshandlung zuzuschreiben ist. Diese Adresse kann im Umkehrschluss (hypothetisch) ebenfalls adressiert werden. Innerhalb des Coupons wird zudem deutlich, wie das Gefühl von Reziprozität vermittelt werden soll. Eine parasoziale Interaktion kennzeichnet sich dadurch, dass sich nicht alle beteiligten sozialen Entitäten gegenseitig wahrnehmen können. Die Rezipient_in nimmt die Persona wahr und reagiert gegebenenfalls (kognitiv, emotional, konativ) auf sie. Die Persona kann allerdings ihrerseits nicht auf die Aktion der Rezipient_in (Reaktion zweiter Ordnung) reagieren – dieses Wechselverhältnis wird von ihr nur simuliert. In der Anzeige wird nun ein Ausblick auf eine Reaktion zweiter Ordnung innerhalb der (parasozialen) Interaktion impliziert: Der Rückmeldecoupon ist nicht nur an Herrn Kaiser adressiert, sondern außerdem in unmittelbarer Nähe zu dessen Bild platziert. Hier wird die Figur frontal, lächelnd und im Anzug sowie mit Blickkontakt zur Betrachter_in dargestellt. Sein angedeuteter Schritt suggeriert, dass er auf dem Weg zu seinen Kund_innen (den Rezipient_innen) ist.
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Rezipient_innen werden im Sales Talk durch die direkte Ansprache als aktive Gesprächspartner positioniert. Sie verleihen der Anordnung des Dargestellten und der Ansprache durch die Werbefigur einen Sinn. Ihre (stummen) Reaktionen sind im Text verwoben. In der Adressierung durch die Werbefigur im Coupon werden den Rezipient_innen nicht nur implizite, sondern mit den auszufüllenden Feldern auch sichtbare Lücken, die das Zutun der Rezipient_innen einfordern, präsentiert. In der Anzeige wird durch die direkte und indirekte Adressierung sowie die persönliche Bezugnahme somit nicht nur die emotionale und kognitive Aktivität der Betrachter_innen eingefordert, sondern auch die konative Aktivität. Die Rezipient_innen haben die Möglichkeit, schriftlich auf die Anzeige zu reagieren und die Lücken mit ihren persönlichen Daten zu füllen. Durch die Positionierung von Herrn Kaiser als Adressat wären damit beide Adressen zur Zuschreibung der Kommunikationshandlungen spezifiziert. Die aus Rezipientensicht formulierte Aufforderung „Rufen Sie mich bitte an“ kann auf Sie (Herr Kaiser) und mich (Rezipient_in) bezogen werden. Über diese Spezifizierung der Kommunikation soll die Relevanz und persönliche Involvierung der Rezipient_innen gesteigert werden. Das tatsächliche Ausfüllen des Responseelements stellt für diese Involvierung keine Voraussetzung dar. Der Coupon fungiert gleichermaßen als rhetorisches Element, das die Illusion von Interaktion vermitteln soll. Ein bestehendes Wechselverhältnis wird z.B. über die aus Rezipientenperspektive vorformulierte Kontaktaufnahme („Ich möchte gern […]“) simuliert. Wo das Hauptmotiv einen langfristigen Ausblick auf die positiven Konsequenzen der Handlung gibt, gewährt der ‚schreitende‘ Herr Kaiser einen kurzfristigen Ausblick auf den Besuch des Hamburg-Mannheimer Vertreters. Der angeregte wiederholte Kontakt mit Herrn Kaiser stellt ein Beziehungsangebot an die Rezipient_innen dar. Dabei ist diese angebotene Beziehung der Weg zur Marke. Das wird auch durch den weiteren Text innerhalb des Coupons deutlich: Coupon schnell auf eine Postkarte und ab an die Hamburg-Mannheimer, Herrn Kaiser, Überseering 45, 2000 Hamburg 60. Absender nicht vergessen. Service für ganz Eilige: Btx *54321# oder [Abbildung eines Telefonzeichens; P.B] bis 20 Uhr (040) 63 76 20 55. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1988)
Eine Nachricht an die Hamburg-Mannheimer zu schicken, bedeutet Post an Herrn Kaiser zu schicken. Durch die implizierte Adressierungsfähigkeit, wird über die Figur Interaktionspotenzial für die Marke suggeriert. Günter Kaiser bietet den Rezipient_innen eine
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konkrete Anschlussmöglichkeit an die Werbekommunikation. Der Coupon zeigt den Versuch der Werbetreibenden, die Interaktion persönlich zu gestalten, die Interaktionshäufigkeit zu steigern und in einen Beziehungsstatus überzugehen. Wie bereits erwähnt, wird mit dem expliziten Appell und der direkten Adressierung durch die Figur Günter Kaiser die Adressierungsstrategie des Sales Talk verfolgt. Die Hamburg-Mannheimer möchte in dem inszenierten Sales Talk zum einen erreichen, dass sich Rezipient_innen persönlich angesprochen fühlen, und zum anderen, dass die Handlungsschlussfolgerung im Markensinne erfolgt. Diese Strategie kommuniziert die Persuasionsabsicht offen. Jedoch sollen verschiedene kommunikative Elemente die werbliche Intention in den Hintergrund rücken bzw. verargumentieren: Von der Rahmung des Appells als Versicherungstipp über das ideelle Bemühen rund um die Gesundheit bis hin zu Herrn Kaiser, der in seiner beruflichen Rolle einen Akzeptanzrahmen für die verkäuferische Kommunikation schafft. Sein Verkaufsgespräch soll aufgewertet und begehrlich gemacht werden. So haben die vorbildlichen Hamburg-Mannheimer Kund_innen dessen Finanzierungsangebote bereits geprüft und für gut befunden. Diese Stellvertreter, in die sich die Betrachter_innen hineinversetzen sollen, ordnen das Verkaufsgespräch als etwas Erstrebenswertes ein. Das Hauptmotiv ist es auch, das die Anzeige zu der eingangs erwähnten kombinierten Ansprache macht: Neben der Positionierung der Rezipient_innen als Gesprächspartner im Sales Talk werden diese nämlich zusätzlich über das Familienmotiv in eine Beobachtungsposition versetzt. Sie können sich testweise in die Situation hineinversetzen und ‚nachfühlen‘. Die Handlungsoption (Finanzierung durch HamburgMannheimer) kann so folgenlos ausprobiert werden. Ähnlich wie im Beispiel mit Karin Sommer von Jacobs, die ihre Freundin innerdiegetisch berät, stellen die dargestellten Familienmitglieder Stellvertreter für das Publikum dar. In der Familienszene gibt es weder eine direkte Ansprache noch wird ein expliziter Appell geäußert, womit das Motiv in einem ersten Schritt als Engaging Story eingeordnet werden müsste. Durch das von Herrn Kaiser vertriebene Produkt der Eigentumsfinanzierung und dem dargestellten Umzug wird allerdings ein Kundenverhältnis zwischen den Stellvertretern und Herrn Kaiser impliziert. Diese Kontextualisierung deutet darauf hin, dass erst die Hamburg-Mannheimer Finanzierung zum Eigenheim geführt hat. Das bedeutet, dass vorab eine Beratung mit Herrn Kaiser und damit ein expliziter innerdiegetischer Appell stattgefunden haben muss. Dieser wurde in der Momentaufnahme elliptisch
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ausgelassen. Die Familienszene ist aufgrund dieser kontextuellen Einbettung stärker als Hidden Sales Talk (indirekt und implizit) zu verorten, der das Verkaufsgespräch unterstützt: In Form einer Stellvertretungsszene bietet der Hidden Sales Talk Identifikationsflächen und soll Begehrlichkeit für die Anschlusshandlung wecken. Letztendlich soll auf diese Weise die Erfolgswahrscheinlichkeit für den Appell im Sales Talk erhöht werden. Umgekehrt stellt der Appell für das Publikum die Anleitung dar, wie auf die potenziell hervorgerufene Sehnsucht reagiert werden kann. Beide Strategien sind also argumentativ miteinander verwoben. Die spezifische Ansprache und Involvierung der Leser_innen soll, wie im Hauptmotiv bereits aufgezeigt, auch über eine Zielgruppen-Kennzeichnung erreicht werden. Die abgebildete Familie dürfte insbesondere familienaffine Erwachsene und Eltern ansprechen. Genauer wird die Zielgruppe im rechten Textblock durch die direkte Publikumsadressierung durch Herrn Kaiser definiert: „Wenn Sie bauen oder eine Eigentumswohnung erwerben wollen […]“. Auch wenn beide Elternteile als Stellvertreter abgebildet sind, so sprechen doch zwei Hinweise für eine spezifische Ansprache der männlichen Rezipierenden: Zum einen ist der Familienvater neben dem Textabsatz zur Finanzierung positioniert und hat damit allein durch die Anzeigengestaltung eine Nähe zum Thema. Zum anderen übernimmt der Mann durch die bereits erläuterte Blickanordnung die verantwortliche Rolle innerhalb des Familiengefüges ein. Die spezifische Ansprache lautet demnach: Wenn Sie Familienvater sind, der gern in ein Eigenheim ziehen möchte, dann ist dieses Angebot besonders interessant für Sie. Die Ansprache und Involvierung geschieht hier auch über ein Wiedererkennen der eigenen Situation, Wünsche und Träume. Auch die Umzugssituation an sich kann ein anlassbezogenes Wiedererkennen hervorrufen. Durch das Hineinfühlen in das erfolgreiche Handeln des Stellvertreters mag Begehren entstehen. So sollen letztlich mit der Darstellung erfolgreicher Vorbilder Imitationshandlungen angeregt werden. Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Werbefigur Herr Kaiser (ganz im Sinne eines Befürworters, siehe Abschnitt 3) das Angebot der Hamburg-Mannheimer präsentiert und das aktive Gegenüber für die Rezipient_innen darstellt. Der Beruf der Figur, der ihr ein gewisses Maß an Expertise und Fachautorität zuschreibt, wird zudem dazu genutzt, ihren Appell (Versicherungstipp) als Teil einer beruflichen Aufgabe, nämlich eines Verkaufsgesprächs, zu äußern. Rezipient_innen sollen sich im Sales Talk
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persönlich angesprochen fühlen. Das soll sowohl über formale Merkmale (Blickkontakt durch Herrn Kaiser, Verwendung von Personalpronomina), eine zielgruppenspezifische Ansprache (Stellvertreter) als auch die thematische Bezugnahme erreicht werden. Die vorhandenen (sichtbaren) Lücken sollen den Werbetext auf die Rezipient_innen beziehen und kennzeichnen die Stellen, an denen Aktivität eingefordert wird. Auf der einen Seite geht mit dem Sales Talk die aktive Positionierung der Rezipient_innen als Kommunikationspartner einher. Auf der anderen Seite ermöglicht die Kombination mit dem Hidden Sales Talk das testweise Hineinfühlen in Identifikationsflächen. Die hohe Adressivität und die persönliche Involvierung sollen parasoziale Prozesse forcieren und im Hinblick auf das abgebildete Glück der Stellvertreter zu Begehren und Imitationshandlungen führen. Wie eingangs erwähnt, wurde die ‚Mehr vom Leben‘-Anzeigenserie über mehrere Jahre in der Hamburg-Mannheimer-Kommunikation eingesetzt. Im Folgenden soll eine weitere Werbeanzeige aus dieser Reihe von 1996 betrachtet werden (Abb. 45). Der Aufbau dieser Anzeige ähnelt dem bereits untersuchten Kommunikat stark: Ein Hauptmotiv ist mittig innerhalb der Anzeige angeordnet, gerahmt von einer vierzeiligen Überschrift oberhalb und dem Hamburg-Mannheimer Logo und dem Slogan unterhalb der Anzeige. Im Unterschied zu der bereits untersuchten Anzeige von 1988 ist Herr Kaiser nun in der typischen Kaiserpose noch enger an das Logo gerückt und im Verhältnis kleiner abgebildet. In der Anzeigenversion von 1996 findet sich zudem nur noch rechts neben dem Hauptmotiv ein Textblock mit integriertem Rücksendecoupon. Die auffälligste Veränderung stellt die Tatsache dar, dass Herr Kaiser nun in das Hauptmotiv integriert ist. Aufgrund der Ähnlichkeit beider Anzeigen, werden im Rahmen der folgenden Analyse vor allem die Abweichungen thematisiert.
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Abb. 45: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige von 1996 (links) und Werbeanzeige von 1988 (rechts) (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Das Hauptmotiv zeigt einen jungen Mann, der neben seinem kaputten Fahrrad auf dem Bordstein sitzt, womit ein kurz zuvor geschehener Unfall impliziert wird. Herr Kaiser hat sich kumpelhaft zu ihm gesellt. Die Szene bleibt, wie das Hauptmotiv in der vorangegangenen Anzeige, in der Diegese. Die Situation ist allerdings insofern zur Betrachter_in hin geöffnet, als dass diese selbst erst die Runde vervollständigt. Die implizite Adressierung im dargestellten Stellvertretungsdialog involviert sie somit in eine stille und beobachtende Gesprächsteilnehmerposition. Die Figuren fordern die Rezipient_in durch die hingewendete Körperhaltung und den implizierten Einbezug in das Gespräch dazu auf, sie anzuschauen und die Demonstration des guten Hamburg-Mannheimer Kundenumgangs mitzuverfolgen. Die als Zitat gekennzeichnete Überschrift der Anzeige kann aufgrund der Erwähnung von Herrn Kaiser dem jungen Mann zugeordnet werden: „Hallo, Herr Kaiser, ist ja nur das Rad! Aber der Rest – der wird jetzt bei Ihnen versichert!“ (EA Werbeanzeigen 19721996, Werbeanzeige von 1996). Die Überschrift suggeriert ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Herrn Kaiser und dem Verunfallten zu sein. Dabei ist der Werbe-
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ausspruch ‚Hallo, Herr Kaiser‘ farblich hervorgehoben und dient als formelhafter Wiedererkennungsanker für den Einstieg in die Hamburg-Mannheimer Werbewelt. Inhaltlich zeigt das Zitat das vorbildliche und aktive Verhalten des baldigen Hamburg-Mannheimer Kunden an, der die Dringlichkeit der Situation erkennt und dem Appell von Herrn Kaiser zuvorkommt. Die angebotene Identifikationsfläche zeigt damit durch die eigene Initiative eine aus Werbesicht nachahmenswerte Musterhandlung. Es ist also der Stellvertreter selbst, der die abgebildete Szene durch den an sich selbst gerichteten Kaufappell zu einem Hidden Sales Talk macht. Damit soll der überredende Gestus des Appells verdeckt und auch Herr Kaiser vom Bild eines aufdringlichen Vertreters abrückt werden. Der Figur soll durch diese Vorgehensweise vielmehr Kompetenz zugesprochen werden und den Versicherungslösungen Vertrauenswürdigkeit. Die Produkte der Hamburg-Mannheimer werden dem Tenor der Anzeige folgend nicht vertrieben, sondern angefragt. So sollen die Angebote als begehrliche Problemlösungen präsentiert werden, die auch die Rezipient_innen durch ihre Involvierung und die Übernahme der Perspektive des Stellvertreters als solche bewerten sollen. Die Szene gibt durch die Integration der Figur einen Ausblick auf die persönliche Betreuung durch Herrn Kaiser. Dieser zeigt exemplarisch seinen nahbaren und umsorgten Kundenumgang in einer alltäglichen Situation. So kommuniziert Herr Kaiser auf Augenhöhe mit seinem Kunden (er sitzt neben dem jungen Mann in der Hocke) und ist zur Stelle, als das Malheur passiert. Der Koffer als Berufsausrüstung deutet darauf hin, dass der Vertreter eigentlich beruflich unterwegs ist. Davon lässt er sich jedoch nicht abhalten, spontan und menschlich zur Stelle zu sein. Der Verunfallte ist stellvertretend für die Rezipient_innen Herrn Kaisers Kommunikationspartner. Über diesen ‚Transmissionsriemen‘ soll der implizierte positive Eindruck in einer Art imaginativer direkter Adressierung an die Rezipient_innen vermittelt werden. Die Darstellung von Herrn Kaiser im Kundendialog und die indirekte Adressierung im Hidden Sales Talk sollen einen Vertrauensvorschuss für die Figur und damit für die Marke erreichen: Der junge Mann spricht Günter Kaiser proaktiv auf eine Versicherung an, weil er sich von ihm eine Problemlösung erhofft, nämlich die Absicherung im Schadensfall. Wo der junge Mann als Ratsuchender als Stellvertreter und Identifikationsfläche für die Betrachter_innen fungiert, gibt Herr Kaiser Orientierung und Hoffnung, indem er die Problemlösung verkörpert. Die positive und gelöste Stimmung – beide lachen trotz
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des Unfalls – will demonstrieren, dass der Umgang mit Herrn Kaiser auch im Schadensfall angenehm ist. Herr Kaiser wird also ‚in Aktion‘ mit einem exemplarischen Kunden präsentiert. Wie Fournier (2005, 212–15) bemerkt, muss die Marke, um als Beziehungspartner infrage zu kommen, Aktivität zeigen – eben jenes tut Herr Kaiser in dieser Szene. Neben der Aufforderung an die Rezipient_innen in eine Beziehung zur Marke zu treten, erfolgt also über Herrn Kaiser auch die Demonstration, dass die Marke als Beziehungspartner agieren kann. Dabei wird die nachahmenswerte Musterhandlung eines Stellvertreters mit der direkten und appellierenden Adressierung durch Herrn Kaiser ergänzt. Neben der Integration in das Hauptmotiv ist der schreitende Herr Kaiser wiederum neben dem Logo abgebildet und adressiert das Publikum in dieser Inszenierung über den angestrebten Blickkontakt direkt. In dieser Position fungiert die Figur aus den bereits aufgeführten Gründen als Kommunikationsinstanz für die Äußerungen im rechten Textblock, welche die Interpretation des Hauptmotivs steuern. Hier wird die Aussage des Verunfallten zugespitzt und nochmals explizit mit den Rezipient_innen verknüpft: Wer dem Spaß gern freien Lauf läßt, kann schon mal ins Schleudern kommen. Eine Unfallversicherung der Hamburg-Mannheimer sorgt dann dafür, daß man nicht auch noch finanziell den Boden unter den Füßen verliert. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1996; Hervorhebung im Original)
Herr Kaiser konkretisiert die Zielgruppe auf alle, die ‚dem Spaß gern freien Lauf lassen‘, und nimmt damit verbal Bezug auf die Rezipient_innen. Durch einen Abgleich mit dem eigenen Selbstkonzept sollen sich diejenigen, die ‚dem Spaß gern freien Lauf lassen‘, angesprochen fühlen. Daraufhin wird der implizite und scheinbar sachlich formulierte Appell geäußert, eine Unfallversicherung der Hamburg-Mannheimer zu haben. Dieser implizite Appell erweist sich bei näherer Betrachtung als Negativappell, der die Rezipient_innen über eine emotionale Involvierung (Angst), ‚den Boden unter den Füßen zu verlieren‘ oder ‚ins Schleudern zu kommen‘, zu überzeugen sucht. Dieser Appell will über den Bezug zur dargestellten Fahrradunfall umso mehr Überzeugungskraft entfalten. In einer solchen Alltagssituation haben sich Rezipient_innen unter Umständen auch schon befunden oder sie können sich gut in eine solche hineinversetzen. Der implizite Appell wird durch die vorformulierte Antwort im Rückmeldecoupon explizit gemacht und mit den eingeforderten Kontaktdaten auf die Leser_in spezifiziert, wodurch wiederum ein Sales Talk mit dem Publikum konfiguriert wird: „Ja, ich interessiere mich für eine Unfallversicherung. Rufen Sie mich bitte wegen eines Termins an“
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(EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1996). Die Bestätigung („Ja“) impliziert eine vorab geschehene direkte Ansprache. Der Appell wird dabei scheinbar nicht von außen herangetragen (‚Sie sollten sich für eine Unfallversicherung interessieren‘). Stattdessen soll die Rezipient_in die ihr zugeschriebene affirmative Haltung übernehmen. Diese Rezipientenrolle wurde bereits überzeugt, womit der explizite Appell in die Logik des Kommunizierten integriert ist. Mit der simulierten Fortführung eines Verkaufsgesprächs (Sales Talk) ordnet die Rückmeldung die Anzeige als Teil einer Interaktion ein, in der sich die Rezipient_innen als Gegenüber wiederfinden sollen. Die Werbefigur fungiert in dieser Anzeige damit in zweifacher Hinsicht als Kommunikationspartner: Zum einen ist sie im Sinne einer Modellsituation der Gesprächspartner innerhalb des Stellvertretungsdialogs im Hidden Sales Talk. Zum anderen ist sie im Sales Talk für die Rezipient_innen die kommunikative Adresse. Mit dem ‚handschriftlichen‘ Slogan wird zudem, sozusagen als ‚kaiserliches Versprechen‘, eine Spur des Menschlichen in die Anzeige integriert. Damit soll nochmals die Illusion bestärkt werden, dass die Kommunikation aus zwei handelnden Individuen besteht. Beide beispielhaften Anzeigen zeigen im Hauptmotiv Situationen und Personen, die jeweils das ideale Alltägliche im Gegensatz zum Besonderen darstellen und regen das Publikum damit zum horizontalen Vergleich an. Die aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten (Kontaktaufnahme, Versicherungsabschluss) stellen den Rezipient_innen ihr ideales Selbst in Aussicht. Dieses ideale Selbst ist im Ernstfall abgesichert bzw. glücklich im Eigenheim. Die Kommunikationsmechanik der Stellvertretungsszene bietet senderseitig die Möglichkeit, unterschiedliche Zielgruppen spezifisch anzusprechen: ob Selbstständige, Autokäufer, Eltern oder ‚junge Leute‘. Die ‚Mehr vom Leben‘-Anzeigenreihe wurde als Ausgangspunkt der Analyse gewählt, weil sie die Adressierungsstrategien des Sales Talk und des Hidden Sales Talk kombiniert. Damit bietet sie einen guten Rahmen für den ‚Zoom‘ in weitere Kommunikate innerhalb der Kaiser-Kommunikation. Bevor jedoch weitere Kommunikate betrachtet werden, folgt zunächst eine Zwischenbemerkung zur parasozialen Interaktion in den untersuchten Anzeigen.
Zwischenbemerkung: Gedanken zur Konkretisierung der (para)sozialen Werbeinteraktion
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12.2 Zwischenbemerkung: Gedanken zur Konkretisierung der (para)sozialen Werbeinteraktion Vorangehend wurden anhand zweier Hamburg-Mannheimer Anzeigen die Adressierungsstrategien der Werbefigur Günter Kaiser als Mittel zur Aufmerksamkeitsgenerierung und zur Intensivierung von parasozialen Interaktionen untersucht. Das Konzept der parasozialen Interaktion besitzt im Werbekontext aufgrund der möglichen Herausbildung von Interaktionsmustern Relevanz. Somit können parasoziale Interaktionen als Baustein für den Beziehungsaufbau zwischen Kunde und Marke betrachtet werden. Henkel und Huber verstehen parasoziale Interaktion und Beziehung dementsprechend auch als Determinanten der Beziehungsentstehung zu einer Marke und ordnen „[d]as Beziehungskonstrukt als Schnittstelle zwischen Kommunikationswissenschaft und Marketingtheorie“ (2005, 40) ein. Innerhalb der Werbung stellt die Werbefigur eine besonders anschlussreiche Persona dar, da sie (1) ein spezifisches, wiedererkennbares Individuum darstellt, (2) meist besonders zentral innerhalb der Kommunikate abgebildet wird und (3) durch langfristigen Einsatz wiederholte Interaktionen und damit die Basis für eine Beziehung ermöglicht. An diese Überlegungen anschließend, wurde im theoretischen Teil außerdem darauf verwiesen, dass parasoziale Prozesse weitergehende sozialpsychologische Effekte nach sich ziehen können wie z.B. den sozialen Vergleich. Das aktive Involvieren der Rezipient_innen in parasoziale Prozesse mit der Werbefigur hat demnach nicht nur Relevanz für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit, sondern kann selbst als Teil der Überzeugungsarbeit betrachtet werden. Die bisher untersuchten Anzeigen des Fallbeispiels regen durch die explizit eingeforderte Reaktion der Rezipient_innen zu einem Blick zurück auf das Konzept der parasozialen Interaktion an. Es lassen sich in den betrachteten Anzeigen nämlich Unterschiede zum skizzierten Konzept ausmachen, die symptomatisch für die Werbekommunikation zu sein scheinen.
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Abb. 46: Schaubild ‚Ablauf einer Interaktion‘ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 7; mit freundlicher Genehmigung von © Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt 2004b. All Rights Reserved)
Zur Erinnerung: Im Gegensatz zu einer vollständigen, sozialen Interaktion, wo auf die Reaktion von Person B die Reaktion zweiter Ordnung von Person A folgt (Abb. 46), erfolgt in der medial vermittelten parasozialen Interaktion einer Persona keine Reaktion zweiter Ordnung (Abb. 47). Die Persona simuliert das soziale Interaktionsverhältnis lediglich und reagiert nicht tatsächlich auf die Reaktion der Rezipient_in. Dies ist auch nicht möglich, da die Persona das Verhalten der Rezipient_in nicht wahrnehmen kann.
Abb. 47: Schaubild ‚Ablauf einer parasozialen Interaktion‘ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 10; mit freundlicher Genehmigung von © Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt 2004b. All Rights Reserved)
Die Coupon-Anzeigen mit Herrn Kaiser als adressierender Persona stellen jedoch eine solche Reaktion zweiter Ordnung für die Rezipient_innen in Aussicht. In der Anzeigenanalyse wurde bereits darauf hingewiesen, dass bereits die Suggestion der Reziprozität die Lesart des Kommunikats beeinflussen kann – eine direkte Reaktion ist dafür nicht notwendig. Wird jedoch von einer direkten Reaktion auf den Coupon ausgegangen,
Zwischenbemerkung: Gedanken zur Konkretisierung der (para)sozialen Werbeinteraktion
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würde der in Aussicht gestellte Rückruf eine konkrete Reaktion zweiter Ordnung darstellen. Damit würde eine Interaktion nicht lediglich simuliert werden. Die Reaktion der Rezipient_in würde somit zu einem tatsächlichen sozialen Anschluss führen und die parasoziale Interaktion scheinbar zu einer sozialen Interaktion transformiert werden. Was also passiert bei der Annahme der mit dem Coupon zugewiesenen Antwortrolle? Die Rezipient_in reagiert auf die Adressierung durch die Werbefigur Herr Kaiser. Der Coupon positioniert diesen auch als Empfänger der Nachricht. Bis zu diesem Schritt befindet sich die Rezipient_in in einer ‚normalen‘ parasozialen Interaktion. Die Figur nimmt die Rezipient_in nicht als soziale Entität wahr und wird keine Reaktion auf die CouponRücksendung im Rahmen einer spezifischen sozialen Interaktion zeigen. Für die Rezipient_in stellt die Werbefigur einen Scheinadressaten dar – die Reaktion zweiter Ordnung erfolgt durch eine dritte Entität, die nun in die Interaktion involviert ist. Diese konkrete Reaktion zweiter Ordnung macht die Folgekommunikation zwischen der Rezipient_in und einer realen Mitarbeiter_in der Hamburg-Mannheimer sozial und wechselseitig. Die Folgekommunikation findet allerdings nicht mehr zwischen den Ausgangsakteuren der parasozialen Interaktion statt. Die Rezipient_in wird nun im Kommunikationsprozess wahrgenommen und stellt keinen blinden Fleck mehr für den neuen Kommunikator dar. Die Coupon-Anzeige stellt durch die konkrete Möglichkeit zur Reaktion und die Vorformulierung der anzunehmenden Antwortrolle einen Extremfall der Adressierung in der Mediawerbung dar. Jedoch kann dieser Extremfall den Blick für den Kommunikationsprozess auch in anderen Werbekommunikaten schärfen: So enthält Werbung, wie bereits ausgeführt, stets einen zumindest impliziten Appell an die Rezipient_innen zum Kauf. Vor diesem Hintergrund erscheint das Responseelement nur wie eine Ausformulierung der ohnehin bestehenden Handlungsaufforderung. Auch ohne Coupon sind (unmittelbare) konative Reaktionen auf die Adressierung in der Werbung denkbar, z.B. der Onlinekauf des Produkts, ein Anruf beim Kundenservice, eine Kommentierung in einem sozialen Netzwerk oder eine Frage in einem Kundenforum. Die Aktionen der Werbefigur sollen kurzfristig (innerhalb der konkreten parasozialen Interaktion) und langfristig (innerhalb einer parasozialen Beziehung) bei der Kund_in vorteilhafte Einstellungen und Handlungen in Bezug auf die Marke anregen. Hazel H. Huang und Vincent-Wayne Mitchell bezeichnen Markenbeziehungen als eine Form parasozialer Beziehungen, wobei Markenbeziehungen viel Vorstellungskraft verlangen
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würden, da sie sich nicht – wie ‚traditionelle‘ parasoziale Beziehungen – auf Medienfiguren beziehen: Unlike traditional parasocial relationships involving media audiences and figures who demonstrate clear personality characteristics, brand relationships require even more imagination to produce contexts in which consumers form relationships with their brands. (Huang und Mitchell 2014, 43–44)
Werbefiguren sollen in der Werbekommunikation eine Brückenfunktion für die Herstellung von Markenbeziehungen einnehmen. Auf der einen Seite bieten sie als scheinbarer Urheber der Kommunikation und als Beziehungsangebot eine Anschlussfläche für Rezipient_innen. Auf der anderen Seite sind sie konzeptionell an die beworbene Marke gebunden, womit sie einen personifizierten Zugang zum Markenprodukt darstellen. Die hervorgerufenen Rezipientenreaktionen richten sich allerdings nur scheinbar an die Figuren selbst. Werbefiguren sind nicht selbst Ziel der interaktiven Auseinandersetzung, sondern die dahinterstehende Marke bzw. das werbetreibende Unternehmen. Innerhalb des Kommunikationsprozesses sind Werbefiguren Scheinadressaten. Bei der weiteren Betrachtung der spezifischen (para)sozialen Werbeinteraktion wird diese Positionierung der Werbefigur innerhalb des Kommunikationsprozesses deutlich (Abb. 48). Der Einfachheit halber wird (wie in der Coupon-Anzeige intendiert) dafür eine konkrete Reaktion der Rezipient_in auf die Aktion einer Werbefigur angenommen. Diese Modellierung blendet daher in ihrer Vereinfachung aus, dass (1) Reaktionen vor dem Hintergrund eines Beziehungsschemas mit unterschiedlichen Einflussfaktoren betrachtet werden müssen. Weiterhin berücksichtigt die Modellierung nicht, dass (2) konkrete Reaktionen auf ein spezifisches Kommunikat weder die Regel noch einen Automatismus darstellen (d.h. es wird hier nicht von einem Reiz-Reaktionsmodell ausgegangen).
Zwischenbemerkung: Gedanken zur Konkretisierung der (para)sozialen Werbeinteraktion
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Abb. 48: (Para)soziale Werbeinteraktion (eigene Darstellung adaptiert nach Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 7, 10); mit freundlicher Genehmigung von © Tilo Hartmann, Holger Schramm und Christoph Klimmt 2004b. All Rights Reserved)
Die (para)soziale Werbeinteraktion ist parasozial, wenn sich die Rezipient_in mit ihren Reaktionen in der asymmetrischen, medial vermittelten Interaktion befindet und ein blinder Fleck für die Persona ist (z.B. auch bei ‚unkooperativen‘ Reaktionen wie dem Auslachen oder Stirnrunzeln). Bei konkreten konativen Reaktionen, die wiederum eine Reaktion zweiter Ordnung in Aussicht stellen, verschiebt sich die Interaktion zu einer sozialen. Diese soziale Interaktion ist aber insofern werbespezifisch, als dass sie mit einer anderen sozialen Entität als der Persona (Initiator der Interaktion) stattfindet (z.B. im vereinbarten Telefonat). Die Interaktion ist jedoch nur sozial, sofern diese andere Entität für die Rezipient_in wahrnehmbar und adressierbar ist. Ist die andere Entität dies nicht, ist die Interaktion trotz Reaktion zweiter Ordnung parasozial. Einen solchen Fall stellt z.B. ein Newsletter oder Postwurf dar, bei dem kein konkreter Absender ersichtlich ist, der aber als Reaktion auf die Daten der Rezipient_in betrachtet werden kann. Mediawerbung mit der Werbefigur als Persona kann schwerlich als Reaktion zweiter Ordnung betrachtet werden und regt daher eine neuerliche parasoziale Interaktion vor dem Hintergrund eines parasozialen Beziehungsschemas an. Es wird deutlich, was auch Sterns Kommunikationsmodell (siehe Abschnitt 10) bereits vorgeschlagen hat: Die Rückführung der Kommunikation auf einen anderen Sender als die Persona, nämlich die Werbetreibenden bzw. Werbeproduzenten. Mit der erfundenen Figur wird eine spezifische kommunikative Adresse simuliert, die Aktivität innerhalb
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des parasozialen Interaktions- und Beziehungsprozesses zeigt. Die Werbefigur wird daher als textspezifische Persona und als Scheinadressat für die Reaktionen der Rezipient_innen (gerichtet an Marke und ggf. andere soziale Entitäten) positioniert. Mit der Nachzeichnung der (para)sozialen Werbeinteraktion wird außerdem angedeutet, wie komplex sich ein Kommunikationsgefüge rund um eine Marke gestalten kann (mit Chats, Foren, Service-Hotlines). Die skizzierte Werbeinteraktion soll jedoch, wie bereits erwähnt, keinen Automatismus wiedergeben. Sie soll stattdessen modellieren, was eine konative Rezipientenreaktion mit Ausblick auf eine Reaktion zweiter Ordnung für das Interaktionsgeflecht mit der Werbefigur bedeutet. Die Coupon-Anzeige verweist im Hinblick auf die angestrebte (para)soziale Interaktion auf noch etwas: Die Coupons, die den Rückkanal anbieten und damit Reziprozität suggerieren, thematisieren gleichzeitig die Vermitteltheit der Kommunikation. Das heißt, dass Rezipient_innen, die die Antwortrolle annehmen, durch die Haptik des Anzeigenpapiers mit der Medialität der Anzeige konfrontiert werden. Die Anzeige versucht durch die beschriebenen Kommunikationselemente (z.B. die Zuweisung einer affirmativen und initiativen Rezipientenrolle) in Teilen das Werbliche abzuschwächen. Aber sie versucht offensichtlich nicht, sich auf ein Medienvergessen zu stützen, um die Illusion von Reziprozität zu erreichen. Stattdessen wird die mediale Vermitteltheit in die Kommunikation integriert, was auf ein spezifisches Medien- und Werbewissen sowohl der Produzent_innen als auch der Rezipient_innen hinweist. Hartmann, Schramm und Klimmt (2004b, 16–18) weisen in ihrer Konzeptionierung der parasozialen Interaktion explizit auf ein Medialitätsbewusstsein der Rezipient_innen hin. Gleichzeitig räumen sie ein, dass eine Annäherung an das „[…] typische Verhalten in einer Face-to-Face-Situation […]“ (Hartmann, Schramm und Klimmt 2004b, 18) insbesondere bei Medienvergessen stattfinden dürfte. Diese ergänzende Bemerkung lässt im Hinblick auf Werbung darauf schließen, dass eben kein typisches Interaktionsverhältnis angestrebt wird, sondern ein werbespezifisches, das (auch durch die kurze Rezeptionsdauer) immer vor dem Hintergrund des Medien- und Werbewissens steht. Nach diesem Einschub zur (para)sozialen Werbeinteraktion und dem angenommenen Werbewissen der Rezipient_innen werden im weiteren Verlauf des Kapitels noch vier Werbespots und zwei redaktionelle Anzeigen aus der Kaiser-Kommunikation mithilfe der entwickelten Adressierungsstrategien analysiert
Stellvertretungsdialoge in den Werbespots mit Herrn Kaiser
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12.3 Stellvertretungsdialoge in den Werbespots mit Herrn Kaiser Die folgenden beiden Werbespots aus der ‚Mehr vom Leben‘-Kommunikation von 1987 und 1991 stellen den Stellvertretungsdialog in den Fokus. Der Werbespot von 1987 zeigt vier stilisierte Berufstätige in der Eingangshalle eines Geschäftsgebäudes (Abb. 49). Auf ihrem Weg zum Arbeitsplatz sagen sie dem Fahrstuhlführer entschieden ab und nehmen stattdessen sportlich die Treppen. Dabei kommt ihnen auf der Treppe Herr Kaiser entgegen, den die Personen der Reihe nach freudig mit „Hallo, Herr Kaiser“ (EA Werbespot 1987, 00:00:11-00:00:13) begrüßen. Herr Kaiser erläutert dem Publikum in die Kamera schauend daraufhin: „So sind die Hamburg-Mannheimer Kunden. Mit Spaß aktiv und gut versichert. Die haben mehr vom Leben“ (EA Werbespot 1987, 00:00:13-00:00:18). Der Abbinder schließt mit: „Hamburg-Mannheimer. Mehr vom Leben“ (EA Werbespot 1987, 00:00:18-00:00:21).
Abb. 49: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1987 (EA Werbespot 1987, 00:00:08, 00:00:11, 00:00:13, 00:00:18, 00:00:19; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Der Werbespot versucht über die Adressierungsstrategie des Engaging Talk Aufmerksamkeit zu generieren und eine positive Einstellung zur Marke zu erreichen. Der Engaging Talk bezeichnet eine Adressierung, in der die Zuschauer_innen direkt adressiert werden, ohne dass ein expliziter Kaufappell geäußert wird. In der ersten Hälfte des Spots bleibt dieser jedoch in der Diegese: Die gezeigten Statist_innen befinden sich in einer Engaging Story, die Inszenierung bleibt nach Polajnar auf den sekundären Kommunikationskreis beschränkt. Im Gegensatz zu den alltagsnahen Situationen der Werbeanzeigen,
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wirkt die Szenerie abstrakt: Ein Filter taucht die Szene in einen markentypischen Blauton und soll das Publikum in die Hamburg-Mannheimer Markenwelt entführen. Die Protagonist_innen muten mit ihren uniformen Business-Outfits und Aktentaschen stilisiert an und ihre Handlungen wirken wie eine Choreografie. Nach dem gemeinsamen Eintreten in das Gebäude bewegen sie sich im Gleichschritt zum Fahrstuhl, stellen sich in einer Linie auf, nur um dem herbeieilenden Fahrstuhlführer im Lift abzusagen. Dabei wird die Zuschauer_in den Statist_innen fast gegenüber gestellt. Durch die frontale Körperhaltung, die an eine dialogische Situation erinnert, wird sie indirekt adressiert und erhält im Kontext des Fahrstuhlfahrens selbst eine imaginative ‚Absage‘. Daraufhin gehen die Statist_innen in zügigem Schritt an der Rezipient_in vorbei und lassen sie – in Richtung Gesundheit und Fitness – hinter sich. Die zugewiesene, einbeziehende Beobachterposition soll die Zuschauer_in anregen, aufschließen zu wollen und selbst eine gesunde und fitte Hamburg-Mannheimer Kund_in zu werden. Da die gezeigten Personen durch Herrn Kaiser als Hamburg-Mannheimer-Kund_innen eingeordnet werden und sie die erstrebenswerten positiven Werte vorführen, können sie als abstrakte Stellvertreter bezeichnet werden, die überspitzt auf die werblich avisierten Themen heruntergebrochen werden. Dass deren Einstellung und Handlungen und die darüber kommunizierten Themen begehrens- und nachahmenswert sind, verdeutlicht die letzte Einstellung, in der die Protagonist_innen auf der Treppe selbstverständlich ‚auf dem Weg nach oben‘ sind. Die Froschperspektive der Kamera suggeriert Überlegenheit und legt den Zuschauer_innen nahe: Diese Position ist erstrebenswert, hier haben Sie ‚Mehr vom Leben.‘ Neben der Adressierung durch die Körper- und Kopfhaltung der Figuren, erfolgt also auch eine Adressierung durch die persönliche Bezugnahme. In dieser Situation, die Bedürfnisse wecken soll, wird das Hamburg-Mannheimer Logo eingeblendet, der Slogan erklingt durch ein Voice-Over und die Protagonist_innen werfen einen fröhlichen Blick zurück auf Herrn Kaiser. Damit wird eine Verbindung zwischen ihrem Weg nach oben und Herrn Kaiser hergestellt, der letztendlich für die Marke Hamburg-Mannheimer steht. Dieser kam bei der Begrüßung ebenfalls ‚von oben‘ und ist das einzige Indiz dafür, dass die Personen nicht nur mit Spaß aktiv, sondern auch
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noch gut versichert sind. Herr Kaiser stellt als bekannter Versicherungsvertreter165 auf der einen Seite die Verbindung zum Versicherungskontext her. Auf der anderen Seite strebt er über die direkte Adressierung die Verbindung zu den Rezipient_innen an. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde mit einer Engaging Story adressiert, nun wechselt die Adressierung zu einem Engaging Talk: Herr Kaiser steht frontal zur Kamera und nähert sich bis zu einer halbnahen Aufnahme. Neben dem Blickkontakt in die Kamera legt insbesondere die dargestellte und scheinbar in Gesprächskonvention bewusst gewählte Distanz eine Adressierung des Gegenübers nahe. Durch den Engaging Talk sollen sich die Zuschauer_innen angesprochen fühlen. Allerdings soll dabei offenbar ein aufdringlicher Eindruck vermieden werden. So werden beispielsweise keine Personalpronomen genutzt und es erfolgt im Text kein aktives Einbinden der Zuschauer_innen über Fragen, Appelle oder Ratschläge. Über die direkte Adressierung soll ein Bezug zwischen den Rezipient_innen und dem bis dahin innerdiegetisch Kommunizierten hergestellt werden. Die Stellvertreter sind für Herrn Kaiser eine Art Demonstrationsfläche gegenüber den Rezipient_innen: Sie führen das vorbildliche Verhalten bzw. die avisierten Themen vor und dienen dem Vertreter als visueller Beleg für seine kurze, direkt an das Publikum gerichtete Beweisführung: „So sind die Hamburg-Mannheimer Kunden. Mit Spaß aktiv und gut versichert. Die haben mehr vom Leben“ (EA Werbespot 1987, 00:00:13-00:00:18). Damit wird ex negativo auch impliziert: Wenn Sie keine Hamburg-Mannheimer Kund_in sind, haben Sie weniger vom Leben. Durch die Kombination aus der Adressierung mit einer Engaging Story und einem Engaging Talk bilden sich im Spot zwei Kommunikationskreise heraus: Im sekundären Kommunikationskreis agieren Herr Kaiser und die Stellvertreter innerhalb der Diegese. Im primären Kommunikationskreis befinden sich Herr Kaiser und die Zuschauer_innen in einer extradiegetischen Unterhaltung. Innerhalb der Engaging Story im sekundären Kommunikationskreis soll durch die indirekte Adressierung eine Involvierung der Rezipient_innen erfolgen, die Begehrlichkeiten in Bezug auf die Marke auslöst. Nun soll die Bezugnahme auf die Rezipient_innen nicht nur indirekt über die Stellvertreter erfolgen, sondern auch durch die direkte Adressierung im Engaging Talk durch Herrn Kaiser. Die Figur fungiert als Schnittstelle zwischen beiden Kommunikationskreisen und 165
1987 ist die Werbefigur Herr Kaiser bereits 15 Jahre für die Marke Hamburg-Mannheimer im Dienst, weshalb eine gewisse Bekanntheit angenommen werden kann.
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ihre direkte Adressierung führt zu einer Art Kurzschluss zwischen beiden Kreisen: Das zuvor im sekundären Kommunikationskreis Geschehene wird durch die Hinwendung an die Zuschauer_innen auch direkt auf diese bezogen. Mithilfe der Figur als Schnittstelle appelliert der Spot daran, das Verhalten der Stellvertreter nicht nur zurückgelehnt zu beobachten, sondern die aufgeworfenen Themen und Werte auch an sich selbst zu überprüfen. Der ‚Mehr vom Leben‘-Werbespot von 1987 zeigt die Verbindung zu den vorgestellten ‚Mehr vom Leben‘-Anzeigen sowohl durch inhaltliche als auch formale bzw. rhetorische Elemente: So werden die Themen Gesundheit, Fitness und eine gute Versicherungsleistung (die letztendlich zu ‚Mehr vom Leben‘ führen) aufgeworfen. Die Zuschauer_innen werden direkt adressiert und gleichzeitig zeigen Stellvertreter vorbildliches Verhalten. Visuell verdeutlichen die Integrationsklammern wie Logo, Werbefigur und Slogan die Markenzugehörigkeit. Im Hinblick auf die Adressierungsstrategie erfolgt im vorliegenden Werbespot allerdings – im Gegensatz zu den Anzeigen – ein Engaging Talk (direkt und implizit), in dem die Zuschauer_innen direkt adressiert werden und ein impliziter Appell geäußert wird. Die Zuschauer_innen sollen in eine parasoziale Kommunikation gezogen werden, die die Bezugnahme der aufgeworfenen Themen auf sie sicherstellt und die erwünschte Reaktion der Zuschauer_in impliziert. Herr Kaiser interpretiert das zuvor Geschehene und macht deutlich, dass man erst als Hamburg-Mannheimer Kund_in mehr vom Leben hat. Der gewünschte Anschluss an die Kommunikation, nämlich selbst Kund_in zu werden, wird damit implizit kommuniziert. In der anfänglichen Engaging Story erhält die Zuschauer_in dabei Zeit zur Beobachtung des ‚Mehr vom Leben‘ und soll empathisch involviert werden, was letztendlich die Begehrlichkeit dafür wecken soll. Der Werbespot möchte die Rezipient_innen insgesamt weniger, so lässt sich interpretieren, mit einer alltagsnahen Szenerie über konkretes Wiedererkennen und Problemlösung einbeziehen. Stattdessen sollen Einstellung und Verhalten über ein gestärktes Markenimage und Begehrlichkeit beeinflusst werden. Das bedeutet, dass die Markentypik (blauer Filter, prominentes Logo, Jingle, Werbefigur) und die über den Spot aufgeworfenen Themen und Werte die Marke inhaltlich und formal stärken sollen. Die Themen Gesundheit, Fitness und Aktivität werden überzeichnet aufgebaut und sollen auf die Hamburg-Mannheimer transferiert werden, was letztendlich zu einer positiven Einstellung zur
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Marke führen soll. Dabei wird in der Inszenierung, die an die Musikvideo-Ästhetik der 1980er Jahre erinnert, auch deutlich, dass sich Popularität und Attraktivität durch die mediale Anlehnung an das, was populär ist, versprochen wird. So beobachten Schmidt und Brigitte Spieß, dass sich die Fernsehwerbung der Achtzigerjahre „[…] eng mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend zur ‚Aktualität des Ästhetischen‘ [synchronisierte]. Die Werbung insgesamt verabschiedete sich weitgehend von der alten Reklame und Propaganda und lieferte Orientierungsangebote, Lifestyle-Empfehlungen und Trendberichte.“ (1996, 324)
Dabei war den beiden Autor_innen zufolge auch eine „[…] Ästhetik im Sinne einer Optimierung visueller Oberflächen […]“ (Schmidt und Spieß 1996, 325) erkennbar. In den Kaiser-Werbespots der 1970er Jahre ist noch die mediale Präsenz das vornehmliche Ziel („Firmen, von denen man spricht, sind werbeaktiv“ (EA HM-Forum 1970 (4), 3)). Mit der Werbung wurde ein Blick in die idealisierte ‚Nachbarschaft‘ geworfen, wodurch die Vertreterarbeit gewissermaßen medial multipliziert wurde. Der hoch stilisierte Werbespot von 1987 dagegen will nicht lediglich das ohnehin Bekannte medial näherbringen, sondern Bilder schaffen, welche die ‚Coolness‘ und das ‚Zeitgemäße‘, das mit der medialen Form des Musikvideos behaftet ist, entlehnen und auf den Konsum übertragen. Die Unterschiede zwischen Werbespot und Anzeige können auch zudem auch genereller im Medienunterschied gesucht werden: Die Anzeige bietet Raum und (bei entsprechender Involvierung der Rezipient_innen) mehr Zeit für Ausführungen (‚für das Kleingedruckte‘). Der audiovisuelle Spot ist dagegen vor allem dazu geeignet mit Musik, Farbgebung und Bewegung eine bestimmte Atmosphäre und Dynamik zu evozieren und das Markenimage zu schärfen. Nach diesem Engaging Talk soll nun ein Werbespot aus der ‚Mehr vom Leben‘-Kommunikation der Hamburg-Mannheimer betrachtet werden, der die Adressierungsstrategie des Hidden Sales Talk verfolgt (Abb. 50). Thematisch kann hier ein stärkerer Fokus auf klassische Versicherungs- und Finanzthemen beobachtet werden. Herr Kaiser wird in diesem Werbespot von 1991 in einer Einkaufshalle von einem Interessenten aufgehalten. Dieser sucht aktiv Beratung, weil er sich beruflich selbstständig macht. Er bittet ihn daher, ‚bald mal vorbeizukommen‘.
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Abb. 50: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 1991 (EA Werbespot 1991, 00:00:21, 00:00:27; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Der Werbespot ist wieder in ein markentypisches Blau gefärbt und präsentiert sich damit ebenso wie der vorangegangene Spot als moderne ‚Kunstform‘, die ein Angebot verspricht, mit dem die Konsument_in up-to-date ist. Im Gegensatz zum vorherigen Spot orientiert er sich jedoch stärker an den in den Anzeigen aufgegriffenen Alltagsszenen.166 Auch der geführte Dialog zwischen Herrn Kaiser und dem Interessenten lässt den Werbespot weniger artifiziell wirken. Innerhalb der inszenierten Alltagssituation stellt das vom Interessenten vorgetragene Problem (zu klärende Finanzthemen in der Selbstständigkeit) den mangelhaften Ausgangspunkt der Geschehnisse dar. Der Interessent repräsentiert die Zielgruppe der Selbstständigen, womit eine spezifische Ansprache angestrebt wird. Der empathische Beobachter soll nun durch die dargestellte Situation vor allem mit dem Stellvertreter mitfühlen. So wird auch die Diegese nicht für eine direkte Adressierung aufgebrochen. Die erste Einstellung präsentiert eine geschäftige und unspezifische Menschenmenge in einer Einkaufshalle. Daraufhin wird der unschlüssig über eine Hundeskulptur gebeugte Interessent gezeigt. Schließlich läuft Herr Kaiser durch das Bild, wobei nur seine Aktentasche als eine Art Teaser zu sehen ist. Die Kameraeinstellung suggeriert den Zuschauer_innen, die Aktentasche aus der Perspektive des Stellvertreters zu sehen. Sie werden dazu angehalten, seinen Blick zu übernehmen. Ohne Zögern verleitet die Aktentasche den Stellvertreter nun zur Handlung. Dieser hält Herrn Kaiser erleichtert auf und nutzt 166
Der Werbespot macht den Versuch einer integrierten Kommunikation bei der Hamburg-Mannheimer deutlich: So fand die hier beschriebene Szene ebenfalls als Anzeigenmotiv Verwendung (EA forum 1991 (1), o. S.). Durch die Integration der Kommunikate wird die Markenzugehörigkeit betont. Gleichzeitig können sich die einzelnen Kommunikate mit ihren jeweiligen medialen Leistungsprofilen ergänzen (Andree 2010, 52).
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dafür die bekannte Formel: „Hallo, Herr Kaiser, gut, dass ich Sie treffe“ (EA Werbespot 1991, 00:00:06-00:00:08). Nun erst kommt Herr Kaiser sichtbar ins Bild – wie ein Heilsbringer. Die bereits in den ersten Einstellungen implizierte Nervosität des Mannes wird im weiteren Verlauf durch starkes Gestikulieren, schnelles Sprechen sowie die geplagte und bittende Mimik verstärkt vermittelt. Diese innerdiegetisch aufgebauten Emotionen sollen Empathie erregen. Die Erklärung für die offensichtliche Aufgeregtheit folgt, als Herr Kaiser scherzend fragt: „Hallo, sind Sie in den Kunsthandel umgestiegen?“ (EA Werbespot 1991, 00:00:09-00:00:11). Der Interessent erwidert daraufhin: Nein, nein, die sind für meine Kanzlei. Ich mach‘ mich doch jetzt selbstständig und da kommt so viel auf mich zu mit der Finanzierung und so. Sie sind da doch Experte. Kommen Sie doch bitte bald mal vorbei. (EA Werbespot 1991, 00:00:11-00:00:19)
Die Antwort des Stellvertreters nimmt die kommunikative Aufgabe des Vertreters vorweg: Sowohl ein (drohender) Hinweis auf Finanzfragen als auch die Einladung zum Beratungsgespräch wären originäre Aufgaben des Vertreters Günter Kaiser. Diese Schlussfolgerungen zieht der Stellvertreter stattdessen selbst. Er ist derjenige, der die Initiative ergreift. Er verhält sich als angebotene Identifikationsfläche im Markensinne vorbildlich. Der Stellvertretungsdialog wird damit umgekehrt: Der Beratschlagte äußert selbst die Ratschläge und macht den Ratgeber zu einer Projektionsfläche für die benötigte Expertise und die in ihn gesetzte Hoffnung. Es zeigt wiederum, was die Hamburg-Mannheimer verdeutlichen möchte: Hier wird nicht vertrieben, sondern unterstützt. Dass die Begegnung zufällig und ohne Vertriebsabsicht von Herrn Kaiser geschieht, ist in der Werbeformel kondensiert, die als Begrüßung dient: „Hallo, Herr Kaiser, gut, dass ich Sie treffe“ (EA Werbespot 1991). Dieser fühlt sich denn auch gar nicht bemüht, ‚vertreibend‘ einzugreifen, sondern gibt stattdessen den freundschaftlichen Tipp, dass Yoga entspanne. Dieser Wink mutet an wie ein Überbleibsel des Fitnessthemas im Rahmen des Markenslogans ‚Mehr vom Leben‘. Mit der indirekten Adressierung und dem expliziten Appell wird in diesem Spot der Stellvertretungsdialog in Form eines Hidden Sales Talk fokussiert. Mit dem Stellvertreter wird der Rezipient_in dabei eine Identifikationsfläche geboten, über die sie eine imaginative Kommunikation mit Herrn Kaiser erleben kann. Gleichzeitig bietet die indirekte Adressierung die Möglichkeit, das Geschehen aus der Distanz zu beobachten und zu prüfen. Indem der Interessent innerdiegetisch den expliziten Appell „Kommen Sie doch bitte bald mal vorbei“ (EA Werbespot 1991, 00:00:17-00:00:19) äußert, wird dieser zu einer
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Einladung umgedeutet und verschleiert. Die aufgebaute Situation mit dem hilfesuchenden Interessenten soll den Appell zudem legitimieren. Rezipient_innen können damit zunächst Abstand zum Kaufappell einnehmen, müssen sich nicht direkt angesprochen und werblich beratschlagt fühlen. Stattdessen können sie prüfen, ob sie sich in einer ähnlichen Situation befinden. Falls ja, wird ihnen mit Herrn Kaiser ein ‚begehrter‘ Versicherungsfachmann präsentiert. Dieser wird als Problemlöser inszeniert. So entwickelt sich das zunächst dargestellte geschäftige Treiben in der Einkaufshalle zu einem entspannten, abgeschirmten Gespräch. Der Rezipient_in wird damit demonstriert, dass Herr Kaiser bei der Entwicklung vom Chaos hin zu Ordnung und Sicherheit unterstützt. Dabei ist die Adressierung durch die Werbefigur indirekt, aber nichtsdestotrotz involvierend. Herr Kaiser ist bei seinen Äußerungen frontal zur Kamera hingewendet und schaut fast direkt in die Kamera. Das durch den Jingle überlagerte entspannte Gespräch am Spotende ist ebenfalls leicht zur Rezipient_in hin geöffnet. Diese kann so als heimliche Beobachter_in an der Stimmung partizipieren.
12.4 Verkaufsgespräche in den Werbespots mit Herrn Kaiser Ab 2001 erfolgt in den Hamburg-Mannheimer Werbespots eine Bewegung hin zur Adressierungsstrategie des Sales Talk. Das heißt, dass über die Figur eine Adressierung realisiert wird, die das Publikum direkt adressiert und einen expliziten Kauf- und Konsumappell ausspricht. Herr Kaiser wird dabei als proaktiver Vertreter positioniert. Das Verkaufsgespräch mit den Rezipient_innen wird allerdings unterschiedlich umgesetzt. Zwei verschiedene Ansätze werden im Folgenden vorgestellt. In einem Werbespot von 2001 bleibt Herr Kaiser stumm und führt nach den eingeführten Adressierungsparametern dennoch ein Verkaufsgespräch (Abb. 51). Der Werbespot zeigt unterschiedliche Menschen, deren Wünsche und Gedanken über ein VoiceOver ‚hörbar‘ werden.
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Abb. 51: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 2001 (EA Werbespot 2001, 00:00:01, 00:00:04, 00:00:14; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Vom Wunsch einer Frau einfach wegzufliegen über den Traum eines jungen Mannes selbst Musik zu machen bis hin zur Dringlichkeit einer gestressten Mutter auf dem Land zu leben: Den Zuschauer_innen werden unterschiedliche Identifikationsflächen angeboten, deren Wunschäußerungen sie mit den eigenen Bedürfnissen abgleichen können. Hier erfolgt also eine persönliche Bezugnahme auf die Rezipient_innen, die dazu führen soll, dass diese sich angesprochen fühlen. Herr Kaiser spaziert dabei durch die Stadt und strahlt Ruhe und Aufmerksamkeit im geschäftigen Treiben aus. Dabei kann er, so wird durch sein verständnisvolles Lächeln angedeutet, die verschiedenen Gedanken verstehen. Die erste Einstellung zeigt eine Großstadt aus der Vogelperspektive. Danach werden die Gedanken vertont, wobei die Protagonist_innen in naher oder halbnaher Einstellung zu sehen sind. Dem Publikum wird die Intimität dieses ‚Mithörens‘ durch das Voice-Over im Flüsterton impliziert. Die Diegese bleibt intakt, die Rezipient_innen werden als heimliche Zuhörer_innen positioniert. Das ‚Nahebringen‘ der Menschen, das heißt eine indirekte Adressierung durch diese, erfolgt durch Nahaufnahmen und durch die intimen Einblicke in ihre privaten Gedanken. Werden die dargestellten Personen auf diesem Wege als Identifikationsfläche präsentiert, so sieht das Publikum sie auch mit Herrn Kaisers Augen. Es wird suggeriert, dass man – wie Herr Kaiser – an ihnen vorbeigeht (z.B. an einem Fußgängerüberweg). Zuschauer_innen können die Gedanken also verstehen, weil Herr Kaiser sie versteht. Die angeregte Perspektivübernahme ist damit hybrid: Zum einen werden die Passant_innen als Identifikationsfläche präsentiert und das Publikum angeregt, sich in diese hineinzuversetzen. Zum anderen hört man durch Herrn Kaiser, was letztendlich zu dem Eindruck führen soll: Er versteht mich. Der Werbespot bedient mit den aufwendigen Kameraeinstellungen eine Filmästhetik, die die Wertigkeit des Beratungsangebots unterstreicht. Die Protagonist_innen im Spot werden durch die Vogelperspektive auf die Stadt zunächst als eine von vielen positioniert.
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Im Gegensatz dazu wird in der Nahaufnahme demonstriert, dass Herr Kaiser die Menschen individuell wahrnimmt. Jede Person hat über das Voice-Over ihre eigene, individuelle Stimme, alle werden vom übrigen Treiben der Stadt abgeschirmt eingefangen. Es wird impliziert: Die Hamburg-Mannheimer (in Form von Herrn Kaiser) nimmt die Menschen als Individuen wahr – wovon auch auf eine individuelle Beratung geschlossen werden kann. Es soll verdeutlicht werden, dass Herr Kaiser als Hamburg-Mannheimer Vertreter nicht im Zentrum steht und sich den Menschen nicht aufdrängt. So ist er bei der ersten gezeigten Person nur dezent im Hintergrund zu sehen und auch insgesamt sind die Protagonist_innen im Spot sehr präsent. Die Aussage lautet: Hier stehen die Kund_innen und ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse im Mittelpunkt. Ein Voice-Over bezieht dieses individuelle Verständnis am Spotende auf die Rezipient_innen. In der direkten Ansprache heißt es: „Herr Kaiser versteht Ihre Wünsche. Zur Rentenreform kommt deshalb die Kaiser-Rente. Sprechen Sie mit Ihrem Berater der Hamburg-Mannheimer. Denn Glück ist planbar“ (EA Werbespot 2001, 00:00:24-00:00:31).167 Das Voice-Over bringt die Zuschauer_innen in eine neue Beziehung zur Werbefigur: Diese sehen nun nicht mehr durch Herrn Kaisers Augen, sondern sollen sich, in einer Reihe mit den vorab gezeigten Personen, als potenzielles Gegenüber betrachten. Das Voice-Over über eine neue Sprecherinstanz und in normaler Lautstärke markiert auch akustisch, dass nun eine Gesprächssituation angestrebt wird. Bis dahin wurde dem Publikum nahegelegt, Herrn Kaisers Perspektive zu übernehmen. Über diese Perspektive wurde demonstriert, wie die HamburgMannheimer ihre Kund_innen sieht. Mit dem Voice-Over wird die Rezipient_in nun verstärkt angeregt, sich selbst als potenzielle Kund_in zu sehen. Durch die direkte Adressierung mit Personalpronomen wird sie aufgefordert, das vorher Gesehene auf sich zu beziehen. Wiederum wird eine Schnittstelle zwischen primärem und sekundärem Kommunikationskreis hergestellt. Die Ansprache ‚Ihre Wünsche‘ kommuniziert zudem eine Lücke, die durch die Rezipient_innen gedanklich individuell ergänzt werden soll.
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In der theoretischen Vorarbeit wurde in Abschnitt 11 definiert, dass die Kommentierung einer Werbefigur oder das Vertonen ihrer Gedanken über ein Voice-Over der Adressierung durch die Werbefigur zugeordnet wird. Da Herr Kaiser während des Voice-Overs im Bild zu sehen ist und sich der Kommentar auf die Figur bezieht, wird dieser Kommentar auch der Adressierung durch Herrn Kaiser zugeordnet.
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Das Sehen durch Herrn Kaisers Augen wird durch das Voice-Over zudem als Beweisführung entlarvt: So konnten Rezipient_innen mit eigenen Augen – und gegebenenfalls durch empathisches hineinversetzen – nachvollziehen, dass Herr Kaiser die Wünsche der Kund_innen versteht. Dieser ‚Beweis‘ dient nun als Ausgangspunkt für die Behauptung, dass er auch Ihre Wünsche versteht. Darauf aufbauend wird auch das Versteher-Produkt der Hamburg-Mannheimer (Kaiser-Rente) als Antwort auf diese Wünsche eingeführt. Dem überlegen dargestellten Produkt (es basiert auf einer magisch anmutenden Fähigkeit) werden außerdem über die Bezeichnung ‚Kaiser-Rente‘ die dargestellten Qualitäten des Vertreters (Versteher, Zuhörer, seriös, nicht aufdringlich, sieht das Individuelle) transferiert. Die Rezipient_innen werden in der direkten Adressierung zudem angehalten, mit ihrem persönlichen Herrn Kaiser zu sprechen. Die direkte Ansprache wird also dazu genutzt, einen expliziten und spezifischen Appell zu äußern. Dabei wird die Kameraperspektive zur Figur zu einem Top-Shot gewechselt und es wird langsam herausgezoomt, sodass das unspezifische, geschäftige Treiben der Stadt wieder deutlich wird. Diese Einstellung erinnert das Publikum daran, dass es sich in einem Hamburg-Mannheimer typischen Zoom befunden hat. Der Werbespot präsentiert mit den dargestellten Menschen unterschiedliche Identifikationsflächen und strebt damit eine breite Zielgruppenansprache an. Dabei wird versucht, die Zuschauer_innen sowohl thematisch (Hauswunsch, nicht mehr arbeiten müssen, Reisen) als auch emotional (geschäftiges Treiben, Stress, eine von vielen sein) zu involvieren. Das Publikum kann zunächst beobachten, sich wiedererkennen und nachfühlen. Erst in dieser Disposition erfolgt der Sales Talk, das heißt die direkte Ansprache und der explizite Appell. Dieser Sales Talk fordert sowohl dazu auf, das Gesehene auf sich zu beziehen als auch eine konkrete Anschlusshandlung auszuführen (das Gespräch mit Ihrem Berater). In der letzten Werbespotreihe mit Herrn Kaiser ab 2007 liegt der Adressierungsfokus gänzlich auf dem klassischen Verkaufsgespräch (Sales Talk). Wo das Publikum im vorherigen Spot über längere Zeit eine Beobachtungs- und Testposition einnehmen konnte, wird diesem nun ausschließlich die aktive Rolle des Gesprächspartners nahegelegt. Herr Kaiser fungiert dabei als soziales Gegenüber. Auf einer (nahezu) leeren Bühne sucht die Werbefigur als einziger Protagonist mit Blick in die Kamera das Gespräch (Abb. 52). Die
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
reduzierte und blau getönte Szenerie lenkt den Fokus gänzlich auf die Werbefigur und die Hamburg-Mannheimer Markenwelt.
Abb. 52: Still aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 2007 (EA Werbespot 2007, 00:00:12; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Ein beispielhaft ausgewählter Werbespot dieser Reihe illustriert das Thema ‚Versorgungslücke‘. Während des gesamten ‚Auftritts‘ von Herrn Kaiser wird dessen Name ergänzend in einer Bauchbinde im Bild aufgeführt. Zum einen wird so die Inszenierung eines vertrauten Zwiegesprächs gewahrt, da keine Einordnung der Figur z.B. über ein Voice-Over erfolgen muss. Zum anderen wird mit der Bauchbinde ein aus journalistischen oder dokumentarischen Medienprodukten bekanntes Element in einen neuen Kontext übertragen. Darin zeigt sich der Versuch, den Werberahmen hin zu einem glaubwürdigeren Textrahmen zu modifizieren. Zuschauer_innen sollen Herrn Kaiser als Experten wahrnehmen, womit auch ein Werbeappell eher als Expertentipp oder Ratschlag einzuordnen wäre. Neben der Funktion der Bauchbinde als Authentizitätsmarker für Herrn Kaisers Expertise wird zudem durch die Nennung des Vornamens eine persönliche Ebene eingeführt. Herr Kaiser betritt ‚seine Bühne‘ mit den Worten: „Ich habe Ihnen da mal was mitgebracht“ (EA Werbespot 2007, 00:00:01-00:00:03). Die abstrakte, wie eine Bühne anmutende Szenerie und die verbale Einleitung zeigen an: Dieser ‚Auftritt‘ ist für das Publikum gemacht. Mit den Worten „Also von hier … bis etwa hier“ (EA Werbespot 2007,
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00:00:03-00:00:09) steckt Herr Kaiser daraufhin einen imaginären Raum mit seinen Händen ab. Die so provozierte Irritation soll Aufmerksamkeit generieren und wird von Herrn Kaiser mit den Worten aufgelöst: Was? Sie sehen nichts? Da ist ja auch nichts! Das hier ist nämlich Ihre Versorgungslücke im Alter. Ganz schön unschön. Die können Sie aber schließen. Lassen Sie uns mal darüber reden. (EA Werbespot 2007, 00:00:10-00:00:24)
Herr Kaiser ‚erzeugt‘ mit seinen Worten und Handlungen die Versorgungslücke und weist sie durch persönliche Adressierung den Rezipient_innen zu. Die Figur macht dabei nicht nur verbal, sondern auch durch Gestik deutlich, dass sich das Gesagte auf sein Gegenüber bezieht. So bekräftigt er durch einen Fingerzeig, dass es sich um Ihre Versorgungslücke handelt. Die Lücke ist also wortwörtlich eine, die individuell durch die Zuschauer_in mit ihren Befürchtungen imaginiert werden muss. Solche Lücken innerhalb der Adressierung durch Werbefiguren wurden in den theoretischen Vorüberlegungen als Möglichkeit für das Publikum eingeführt, einen persönlichen Bezug zum Gesagten herzustellen.
Abb. 53: Stills aus einem Hamburg-Mannheimer Werbespot von 2007 (EA Werbespot 2007, 00:00:19, 00:00:21; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Versorgungslücke wird durch Herrn Kaiser außerdem mimisch und verbal negativ bewertet („Ganz schön unschön“), nur um anschließend ebenfalls mimisch und verbal die Aussicht auf Besserung zu geben („Die können Sie aber schließen“) (Abb. 53). Dabei ist Herr Kaiser in einer Nahaufnahme zu sehen und blickt in die Kamera. Es wird durchgehend eine dialogische Kommunikationssituation inszeniert. Nach dem Auftritt hat die Kameraeinstellung zu einer nahen Gesprächsdistanz gewechselt. Diese soll das Mienenspiel deutlich zeigen und damit die Voraussetzung schaffen, dass auch das Publikum die Versorgungslücke negativ bewertet. Außerdem sollen die Zuschauer_innen die mimisch an-
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gedeutete Transformation von schlecht zu gut nachvollziehen können. Im darauffolgenden expliziten Appell („Lassen Sie uns mal darüber reden“) positioniert Herr Kaiser sich und die Hamburg-Mannheimer als Problemlöser, der die in Aussicht gestellte Transformation schaffen kann. Aufbauend auf dem persönlichen, verbalen Bezug (Ihre Versorgungslücke) sucht der explizite Appell in einem negativen Kontext die Zuschauer_in über Emotionen wie Angst oder Sorge zu überzeugen und dabei ein konkretes Verhalten nahezulegen. Der Werbespot will über die Adressierung im Sales Talk (direkte Adressierung und expliziter Appell) Aufmerksamkeit erlangen und (Inter)Aktivität sowohl demonstrieren als auch einfordern: Der beständig gesuchte Blickkontakt als auch die Rezipientenansprache mit Personalpronomen und Fragestellung bedeuten den Zuschauer_innen, dass sie angesprochen sind. Das Gespräch integriert die antizipierten Reaktionen der Rezipient_innen, setzt damit die Aktivität des Gegenübers voraus und simuliert eine stattfindende Interaktion. Die Kommunikation ist durch die integrierte Lücke im Werbetext (Ihre Versorgungslücke) so aufgebaut, dass die Zuschauer_innen den Werbeinhalt auf sich und ihre Lebensrealität beziehen sollen. Die Wahrscheinlichkeit einer parasozialen Involvierung mit Herrn Kaiser soll zudem durch die starke Präsenz der Figur gesteigert werden. Diese stellt bis zum Abbinder die einzige kommunikative Adresse im Text und damit das einzige Beziehungsangebot für das Publikum dar. Die Einladung, weiter im Gespräch zu bleiben, verleiht dem versuchten Beziehungsaufbau Ausdruck und formt eine Kommunikation zwischen zwei spezifischen Adressen. Wenn die anthropomorphe Entität Herr Kaiser vorschlägt „Lassen Sie uns mal darüber reden“, wird nahegelegt, dass das ‚uns‘ die Figur auf der einen und die individuelle Rezipient_in auf der anderen Seite umfasst. Der geäußerte Appell ist zwar explizit, jedoch nicht so verkäuferisch wie beispielsweise die Äußerungen des 1&1-Mannes („Wechseln Sie jetzt zum Testsieger und sichern Sie sich 100 Euro Startguthaben“ (DSLWEB 2017, 00:00:17-00:00:21), siehe Abschnitt 11.1.3). Herrn Kaisers Appell ist ein Ratschlag und eine Einladung zu einem Gespräch und (noch) nicht die Aufforderung zum konkreten Produktkauf. Auch die Aufsicht durch die Kamera im Moment des Appells kann als Versuch interpretiert werden, die Aufdringlichkeit des mahnenden Tons und des expliziten Appells zu mildern. Erst nach der Adressierung durch Herrn Kaiser erfolgt durch ein Voice-Over im getrennten Abbinder ein
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expliziter Appell zum Kauf. Dieser ist zwar nicht mehr der Adressierung durch die Werbefigur zuzurechnen, wurde jedoch durch diese vorbereitet und schließt an diese an: Sichern Sie sich mit der Kaiser-Rente das Extra-Geld vom Staat. Jedes Jahr bis zu 114 Euro und pro Kind noch einmal 138 Euro dazu. Riestern Sie jetzt mit der Kaiser-Rente. Hamburg-Mannheimer. Kaiserlich versichert. (EA Werbespot 2007, 00:00:24-00:00:37)
Dieser Appell wird durch einen sich füllenden Sparstrumpf illustriert. Die Aufforderung soll nach der Aufmerksamkeitsgenerierung durch Herrn Kaiser (über Adressivität und Obtrusivität) und dem Negativappell auf eine empfängliche Disposition bei den Rezipient_innen treffen: Der sich füllende Sparstrumpf stellt über das aufgebaute semantische Gegensatzpaar leer (Versorgungslücke) vs. voll (Sparstrumpf) einen positiven und begehrlichen Ausblick auf die Handlungskonsequenz dar. Der verbale Bezug zur Werbefigur über den Slogan „Kaiserlich versichert“ impliziert zudem, dass die Hamburg-Mannheimer Versicherung die ‚unschöne‘ Versorgungslücke umgehen kann – ganz so wie Herr Kaiser es sich zuvor zugeschrieben hat. Die angegebene Webseite im Abbinder stellt überdies eine konkrete Möglichkeit zur Kontaktaufnahme und zur Fortführung der Markenbeziehung dar.
12.5 Verkaufsgespräche in den redaktionellen Anzeigen mit Herrn Kaiser Es wurde bereits auf die Annahme eines vorhandenen Medien- und Werbewissens des Publikums hingewiesen. In der Werbekommunikation mit Herrn Kaiser wurden jedoch auch kommunikative Elemente eingebunden, die dem Medienwissen anderer Medienprodukte bzw. Darstellungsformen zuzurechnen sind. Von diesen Elementen kann aus Werbesicht ein Einfluss auf die Rezeption erhofft werden. So hat der vorangegangene Werbespot gezeigt, wie die Nutzung einer Bauchbinde die Anmutung einer Experteneinschätzung vermitteln möchte. Diese Beeinflussung des medialen Rahmens über werbefremde Darstellungsformen soll im Folgenden anhand von redaktionell anmutenden Anzeigen näher in den Blick genommen werden. Dabei soll untersucht werden, wie sich diese auf die Adressierung durch die Werbefigur auswirkt.
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Abb. 54: Redaktionelle Werbeanzeige der Hamburg-Mannheimer zwischen 1979-1986 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die Hamburg-Mannheimer warb ab 1979 mit redaktionell anmutenden Anzeigen. Bei der Betrachtung einer beispielhaft gewählten Anzeige (Abb. 54), die zwischen 1979-1986 produziert wurde,168 besitzt bereits die Beschreibung des ersten Eindrucks Aussagekraft: So fällt neben einer als Zitat gekennzeichneten Überschrift eine große, in Zeitungsspalten organisierte Textmenge mit Zwischenüberschriften auf. Zusätzlich sind noch ein Porträt-
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Es handelt sich bei dieser redaktionellen Anzeige um ein Muster, da im ‚Info-Scheck‘ (dem Responseelement) noch eine Adresse für die Rückmeldung integriert werden muss. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Musteranzeigen Hamburg-Mannheimer Vertretern für deren regionale Werbemaßnahmen zur Verfügung gestellt wurden. Details zur Schaltung der Anzeige sind jedoch über das Archiv nicht mehr nachvollziehbar. Die Anzahl und die Ähnlichkeit der redaktionellen Anzeigenmotive sprechen jedoch dafür, dass diese Anzeige so oder so ähnlich geschaltet wurde.
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foto mit Bildbeschreibung und ein Responseelement erkennbar. Ohne Kenntnis des Inhalts und des Absenders der Anzeige mutet diese wie ein redaktioneller Artikel an – im Hinblick auf das Porträtfoto genauer wie ein Fachbeitrag oder Ratgeberartikel. Diese Rahmung des Werbetextes kann zum einen als Formirritation eingeordnet werden, die durch den Bruch mit dem Erwarteten Aufmerksamkeit generieren will. Zum anderen kann sie als Versuch interpretiert werden, die Rezeption aus Werbesicht vorteilhaft zu beeinflussen: Es wird nahgelegt, dem Text als redaktionellem Inhalt zu begegnen und diesem mehr objektives Wissen und Glaubwürdigkeit beizumessen als einer Werbung. Als medialer Knotenpunkt, in den die Adressierungsleistung des Werbeangebots verwoben ist und in dem diese zum Ausdruck kommt, spiegelt die Werbefigur die Justierung des medialen Rahmens in besonderer Weise: Herr Kaiser ist sowohl Instrument als auch Ziel dieser Anpassung. Das heißt, dass die Werbefigur auf der einen Seite dazu beitragen soll, den medialen Rahmen vorteilsbringend zu beeinflussen. Auf der anderen Seite soll auch die Wahrnehmung der Figur durch den veränderten Rahmen positiv beeinflusst werden. So trägt die Deklaration der Figur als „Versicherungsexperte Günter Kaiser“ zur Rahmung der Anzeige als Ratgeberartikel bei. Gleichzeitig soll der redaktionelle Anschein auch die Glaubwürdigkeit der Werbefigur als Fachmann erhöhen und damit wiederum das Kommunizierte nobilitieren. Das abgebildete Porträtfoto der Figur mutet ästhetisch wie ein berufliches Porträtfoto an. Das Bild will über die Andeutung von Hemd und Jackett und mit gewinnendem Lächeln sowohl die Seriosität als auch die Sympathie des Geschäftsmannes Günter Kaiser ausdrücken. Durch die Einordnung der Werbefigur als Versicherungsexperte wird diese den Leser_innen nicht nur als Fachmann vorgestellt, sondern in einem ersten Schritt vor allem als reale menschliche Entität. In der Bildbeschreibung wird die Kommunikation ganz klar auf diese Entität zurückgeführt: „Versicherungsexperte Günter Kaiser von der HamburgMannheimer sagt klipp und klar, worauf es ankommt:“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986). Sowohl der Text als auch der Doppelpunkt machen deutlich, dass Herr Kaiser Absender der folgenden Nachricht ist und die Leser_in anspricht. Die beiden zu untersuchenden Parameter der Form der Adressierung und der Art des Appells spielen in dieser Anzeige zusammen, um das Wissensschema des Ratgeberartikels zu bedienen. Die Anzeige verfolgt in der Adressierungsstrategie einen Sales Talk, da
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
die Leser_in direkt adressiert wird (sowohl verbal als auch visuell) und ein expliziter Appell ausgesprochen wird. Dieser Sales Talk wird durch die Kommunikation über einen Versicherungsexperten und durch die Darstellungsform zu einem Ratschlag umdeklariert. Dabei gehört es im Rahmen eines Ratgeberartikel zu den Konventionen mit einem Verhaltensvorschlag konfrontiert zu werden. Die redaktionelle Darstellungsform soll demnach sowohl die Akzeptanz als auch die persuasive Absicht dieser Werbekommunikation stärken. Eine Involvierung der Leser_innen wird gleich in der Überschrift über die direkte und emotionale Adressierung angestrebt. Diese ist durch Anführungszeichen als Zitat des Versicherungsfachmannes gekennzeichnet: „Muß der Linienbus stark bremsen, weil Ihr Töchterchen das neue Scateboard ausprobiert, können Ihnen leicht Forderungen über 50.000 Mark ins Haus flattern“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 19791986). Der kolloquiale Ton (‚Töchterchen‘, ‚leicht‘, ‚flattern‘) kennzeichnet den Text als einen Ausspruch von Herrn Kaiser. Die Einbeziehung der Familiensituation soll eine Verbindung zur Lebensrealität der Leser_innen herstellen. Beides soll dazu beitragen, eine persönliche Gesprächssituation zu inszenieren. Die Rezipient_in wird durch die direkte Adressierung mit Personalpronomen und die Integration von Interpretationslücken (Ihr Töchterchen) dazu angeregt, die Bedeutung des Textes auf sich zu beziehen. Bereits in der Überschrift wird über diese persönliche Betroffenheit und die aufgeführten Sanktionen (Forderungen über 50.000 Mark) ein negatives Spannungsfeld kreiert, das nach einer Auflösung sucht. Dieses Spannungsfeld wird über die Skizze eines drohenden Schreckensszenario und einer noch zielgruppenspezifischeren Ansprache im Textverlauf weiter ausgebaut. Beides wird exemplarisch in den ersten Sätzen des Fließtextes ersichtlich: Wir leben in einer gefährlichen Zeit. Kleine Ursachen können heute manchmal große Wirkungen haben: Eilt Ihre Frau noch rasch bei Rot über die Straße, fällt Ihrer Tochter aus dem 13. Stock ein Blumentopf auf die Straße, läßt Ihr Sohn seinen Drachen neben dem Flughafen steigen, können Kosten auf Sie zukommen, die einfach ungeheuerlich sind. Eine Haftpflicht-Versicherung ist deshalb so aktuell wie nie zuvor. Sie ist dagegen der einzige Schutz. Man kann gar nicht genug darüber wissen. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986)
Angesprochen wird ganz spezifisch der besorgte Vater und Ehemann. Dies wird später im Text auch durch das Appellativ ‚Vater‘ gekennzeichnet: „Wenn die Tochter sich auf Vaters Brille setzt“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986). Durch die Spezifizierung der verbalen Bezugnahme wird die Zielgruppe der Väter noch
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konkreter als zuvor angehalten, die Bedeutung auf sich zu beziehen. Die Einordnung der drohenden Kosten als ‚ungeheuerlich‘, weisen den Text sowohl durch die fehlende Genauigkeit der Angabe als auch durch den emotionalen ‚Stammtisch-Ton‘ als angestrebtes Gespräch zwischen Herrn Kaiser und dem Rezipienten (dem besorgten Vater) aus. Bereits Horton und Wohl (1956, 217) bemerken, dass Verhaltensweisen wie informelle Gesten und Sprüche die Illusion von Intimität herstellen sollen. Herr Kaiser soll durch Wortwahl und Tonalität überdies als menschlich und empathisch dargestellt werden. Das erwähnte Spannungsfeld soll bei den Angesprochenen das Bedürfnis nach Abwendung des Unheils hervorrufen. Diesbezüglich wird die Hamburg-Mannheimer Haftpflichtversicherung als ‚einziger Schutz‘ und unumgänglicher Problemlöser positioniert. Gleichzeitig erinnert die Ergänzung: „Man kann gar nicht genug darüber wissen“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986) daran, dass es bei dieser Darstellungsform um die Vermittlung von Wissen geht. Die eingesetzte Polemik und der damit verbundene Angstappell werden einem semantischen Raum der Problem- und Sorglosigkeit diametral gegenübergestellt, wie auch der folgende Auszug verdeutlicht: […] Kinder unter sieben sind laut Gesetz ‚nicht deliktfähig‘, aber man wird Sie wegen Verletzung der Aufsichtspflicht rankriegen. Das kann doppelt teuer werden, denn vielleicht kommt es zum Prozeß, marschieren Zeugen an. Wohl dem, der dann eine Haftpflicht-Police als Freund und Helfer zur Seite hat: Das Ganze erledigt sich von selbst. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 19791986)
Die Versicherungspolice wird dem drohenden Unheil (‚rankriegen‘, doppelt teuer‘, ‚Prozeß‘) als handelnder ‚Freund und Helfer‘ entgegengestellt. Das Produkt stellt in Aussicht, dass sich ‚das Ganze von selbst erledigt‘. Der kommunizierte Inhalt konstruiert also in Kombination mit der beschriebenen Adressierung ein persönliches Problem, für das gleichzeitig eine Lösung angeboten wird. Das Ganze geschieht in einer Darstellungsform, die vorgibt, auf Basis einer (objektiven) Expertise das Beste für die Leser_innen zu wollen. Der explizite Appell am Textende bedient die kommunikativen Erwartungen an einen Ratgeberartikel. Er äußert unter der appellierenden Zwischenüberschrift „Greifen Sie nie der Versicherung vor“ einen ganz spezifischen Verhaltensappell beim Schadensfall: Bleiben Sie stets höflich und kühl, und überlassen Sie den Rest der Versicherung. Dieser wiederum müssen Sie nicht lang und breit darlegen, daß es Ihre guten Kinder eigentlich gar nicht gewesen sind. Glaubt sie Ihnen das, wird sie Sie vor falschen Ansprüchen schützen. Sie haften schließlich nur, wenn Sie oder Ihre Kinder Schuld am Schaden eines Dritten haben. Und nur dann zahlt Ihre Versicherung. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986)
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Der Appell setzt eine Haftpflichtversicherung voraus, womit auch das ideal handelnde Selbst der Rezipient_in vorausgesetzt wird. Der Kaufappell wird auf diese Weise zugunsten eines konkreten Verhaltensappells und Rats scheinbar umgangen – dabei impliziert dieser ‚Rat‘ den Kauf. Das integrierte Responseelement der Anzeige soll an dieser Stelle nicht mehr im Detail untersucht werden, da es im Grunde den bereits detailliert betrachteten Mechanismen der (para)sozialen Werbeinteraktion dieses Rückkanalangebots folgt. Stattdessen soll darauf hingewiesen werden, dass auch dieser Rückmeldecoupon zur Suggestion der redaktionellen Darstellungsform beitragen soll: So werden Logo und Markenname nur dezent eingebunden, um den werblichen Eindruck zu vermindern. Der Rückmeldecoupon selbst wird als ‚Info-Scheck‘ bezeichnet – ganz im Sinne eines Ratgeberartikels steht die Information im Vordergrund. Weiterhin wird der Text nochmals explizit als redaktioneller Text eingeordnet – und zwar aus Sicht der antwortenden Rezipient_innen. Die zugewiesene Antwortrolle akzeptiert und bestätigt die Einordnung des Textes: „Ich habe noch weitere Fragen allgemeiner Art zu diesem Artikel. Bitte rufen Sie mich an“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986).169 Herr Kaiser „[…] sagt klipp und klar, worauf es ankommt“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1979-1986) ist das Programm des Textes. Es soll der Eindruck entstehen, dass nicht die per se parteiische Marke eine werbliche und belehrende Aufforderung äußert, sondern der Versicherungsfachmann aus seiner Expertise heraus beratschlagt und die Rezipient_in aufklärt. Dabei ‚darf‘ die Werbefigur als menschliches Sprachrohr der Marke in der Kommunikation mehr: Sie kann emotional, polemisch und ungenau kommunizieren. Günter Kaiser empört sich mit den Leser_innen, fühlt mit ihnen und spricht ihre Sprache. Durch den Einsatz von Herrn Kaiser als Stimme der Werbemaßnahme (die als redaktioneller Artikel inszeniert wird) kann somit eine Adressierung auf einer solidarisierenden und persönlichen Ebene angestrebt werden. Die redaktionelle Werbeanzeige weist ebenso wie die vorab besprochenen Werbespots, die sich einer Musikvideo- oder Filmästhetik bedienten, auf die wichtige Stellung der medialen Rahmung in der persuasiven Adressierung durch die Werbefigur hin. Mit 169
Die zweite Ankreuzmöglichkeit fällt konkreter im Sinne des Beworbenen aus: „Ich möchte ein detailliertes Angebot haben. Bitte besuchen Sie mich“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 19791986).
Verkaufsgespräche in den redaktionellen Anzeigen mit Herrn Kaiser
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der gewählten Darstellungsform gehen gewisse Rezeptionserwartungen einher. Es werden bestimmte Kommunikationskonventionen (z.B. Ästhetik, Kommunikationsziele, Kommunikationsaufbau) mit Darstellungsformen in Verbindung gebracht. So wird einem journalistischen Beitrag eine gewisse Objektivität zugeschrieben und in einer politischen Diskussionsrunde von kontroversen Positionen ausgegangen. In Bezug auf Werbung herrscht, wie in Abschnitt 10.1 aufgeführt wurde, bei Rezipient_innen ein Wissen darüber, dass die Kaufabsicht beeinflusst werden soll. Werbung wird daher eine gewisse Manipulationsabsicht unterstellt. Das Heranziehen kommunikativer Elemente werbeferner Formate soll bestehende Erwartungshaltungen brechen bzw. irritieren. Irritationen wiederum sollen Aufmerksamkeit generieren, wie Willems und Kautt (2003, 86–99) herausstellen. An dieser Stelle wird davon ausgegangen, dass die generelle Täuschung der Rezipient_innen dagegen eine untergeordnete Rolle spielt.170 Diese Annahme wird zum Beispiel dadurch nahegelegt, dass der vorab betrachtete Werbespot von 2007 mutmaßlich in eine Werbeinsel integriert war. Bei der Kürze der Spots ist es vermessen anzunehmen, dass das Publikum vergessen würde, sich in einer Werbepause zu befinden. Stattdessen möchte ich vorschlagen, dass die Anpassung der Kommunikationskonfiguration das vornehmliche Ziel darstellt. Der mediale Rahmen legt den Rezipient_innen die Vorzeichen nahe, unter denen der Text gelesen werden und die Kommunikation stattfinden soll. Wenn die Kommunikation erfolgreich sein soll, müssen diese (neuen) Regeln – auch bei Vorhandensein eines Werbewissens – in einem gewissen Maße angenommen werden. Ganz ähnlich wie Horton und Wohl das Annehmen zugewiesener Antwortrollen durch die Zuschauer_innen als eine Art Gelingensbedingung für die Kommunikationssituation betrachten: This ‚answering‘ role is, to a degree, voluntary and independent. […] This independence is relative, however, in a twofold sense: First, it is relative in the profound sense that the very act of entering into any interaction with another involves some adaptation to the other’s perspectives, if communication is to be achieved at all. And, second, in the present case it is relative because the role of the persona is enacted in such a way, or is of such a character, that an appropriate answering role is specified by implication and suggestion. The persona’s performance, therefore, is open-ended, calling for a rather specific answering role to give it closure. (Horton und Wohl 1956, 219; Hervorhebung im Original)
Horton und Wohl (1956, 219) räumen ein, dass auch andere Antwortrollen, z.B. eine analytische oder feindselige Haltung, eingenommen werden können. Diese Zuschauer_innen
170
Willems und Kautt (2003, 113–14) dagegen betrachten einen auf diese Weise modulierten Berichtsrahmen als Täuschungsversuch.
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
würden das Programm dann jedoch lediglich wahrnehmen. Die erfüllende Erfahrung der Rollenübernahme bliebe ihnen versagt.171 Einschränkend zu Horton und Wohls Beschreibung der Rollenübernahme muss darauf hingewiesen werden, dass es sich hier im Gegensatz zu den beschriebenen Fernsehshows um Werbung handelt. Es ist nicht zu vermuten, dass Rezipient_innen sich in gleichem Umfang auf eine werbliche Kommunikation einlassen, wie auf ein freiwillig gewähltes, unterhaltendes Programm. Es kann daher auch nur bedingt von einer ‚Faithful Audience‘ ausgegangen werden, das so bereitwillig die vorgeschlagenen Rollen für den eigenen Unterhaltungswert einnimmt. Nichtsdestotrotz wird an dieser Stelle davon ausgegangen, dass Rezipient_innen ein Interesse an funktionierender Kommunikation haben. Es wird ein gewisses Bedürfnis nach ‚Closure‘ angenommen, das nur durch das sich Einlassen auf die vorausgesetzte Kommunikationskonfiguration möglich ist. Durch die Anpassung des medialen Rahmens eines Werbekommunikats, z.B. in einer redaktionellen Anzeige oder einem Sitcommercial, werden angepasste kommunikative Regeln vorausgesetzt, ohne die die Kommunikation nicht funktioniert. Eine solche angepasste Kommunikationskonfiguration wird auch in einer anderen Form der redaktionellen Anzeige der Hamburg-Mannheimer deutlich. Ab 1991 wirbt die Hamburg-Mannheimer mit einem Interviewformat (Abb. 55), das im Folgenden kurz umrissen werden soll. Wie in der vorangegangenen redaktionellen Anzeige findet sich hier eine in Spalten organisierte Textmenge, in der eine Interviewstruktur durch Hervorhebungen der Fragen und Antworten schnell deutlich wird.
171
Horton und Wohls Originaltext lautet: „Other attitudes than compliance in the assigned role are, of course, possible. One may reject, take an analytical stance, perhaps even find a cynical amusement in refusing the offered gambit and playing some other role not implied in the script, or view the proceedings with detached curiosity or hostility. But such attitudes as these are, usually, for the one-time viewer. The faithful audience is one that can accept the gambit offered; and the functions of the program for this audience are served not by the mere perception of it, but by the role-enactment that completes it“ (1956, 219).
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Abb. 55: Hamburg-Mannheimer Werbeanzeige im Interviewformat zwischen 1994-1996 (EA Werbeanzeigen 1972-1996; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Der prominent platzierte Abbinder mit Logo, Slogan und Werbefigur unterstreicht dabei, die vorab getroffene Annahme, dass eine Verschleierung der Werblichkeit nicht das primäre Ziel der Kommunikation darstellt. Stattdessen möchte die Anzeige die Wahrnehmung der Leser_innen über die gewählte Darstellungsform eines redaktionell anmutenden Interviewformats beeinflussen. Die Darstellungsform fordert von den Rezipient_innen die Zuschreibung von Aktivität ein sowie die Annahme, dass zumindest zwei soziale
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
Entitäten und ein gewisses Erkenntnisinteresse vorhanden sind. Werbende können in einem nächsten Schritt hoffen, dass sich diese Zuschreibungen positiv auf die Wahrnehmung des kommunizierten Inhalts auswirken – wobei jedoch stets die ‚Hürde‘ des Werbewissens bleibt. Die Kommunikationssituation ist klar definiert: Eine Fragensteller_in sucht Rat und „Herr Kaiser, Versicherungs-Experte der Hamburg-Mannheimer, antwortet“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1994-1996). Herrn Kaisers Gesprächspartner_in tritt weder namentlich noch bildlich in Erscheinung. Im Gegensatz zur vorgestellten Werbeanzeige von 1996 mit einem verunfallten Fahrradfahrer als Stellvertreter, wird hier keine Identifikationsfläche präsentiert. Die Rezipient_in wird über die dadurch entstehende Lücke im Text dazu angehalten, sich selbst in die Rolle der Fragesteller_in zu imaginieren. Diese implizite Aufforderung zur Rollenübernahme wird insbesondere im Responseelement deutlich, in dem die Rückantwort der Rezipient_in ausformuliert ist und textlich kein Unterschied zur Fragesteller_in deutlich wird. So wechselt der Redepart nach der Antwort von Herrn Kaiser wie zuvor und fährt aus einer Ich-Perspektive fort. Die Fragesteller_in zeigt vorbildliches Handeln durch ihre eigene Aktivität: „Also – das Thema ist mir doch zu wichtig, um es auf die lange Bank zu schieben. Können Sie uns in den nächsten Tagen mal besuchen kommen?“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1994-1996). Das vorbildliche Agieren wird durch die Zuschreibung der Fragerolle an die Rezipient_in ihrem idealen Selbst zugeordnet, welches die drohenden Schreckensszenarien ohne Pflegeversicherung erkennt und die Konsequenzen aus dieser Einsicht zieht. In der vorangegangenen redaktionellen Anzeige wurde bereits beschrieben, wie ein kolloquialer und empathischer Ton über die Werbefigur als menschliches Sprachrohr angestrebt wurde. So kann der Mensch Günter Kaiser seine höchst subjektiven Empfindungen und Meinungen kundtun. In dem gewählten Beispiel für das Interviewformat wird die Menschlichkeit der Figur zudem dazu verwendet, um als ‚lebendes‘ Beispiel zu fungieren: Nehmen Sie mal meinen eigenen Fall. Ich habe mich für unser ganz neues Angebot entschieden. Die sogenannte Pflegerenten-Zusatzversicherung. Damit bin ich zu einem vernünftigen Preis auf jeden Fall zusätzlich abgesichert. (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1994-1996)
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Herr Kaiser nimmt damit nicht nur die Rolle des Rat gebenden Experten, sondern auch die des Vorbilds ein. Durch die Berufung auf das eigene Handeln wird eine Verifizierung der Produktgüte impliziert. Der Blick auf die verfolgte Adressierungsstrategie zeigt, wie die Darstellungsform die Ansprache beeinflusst. Herr Kaiser führt mit der Rezipient_in einen Sales Talk: Die Interviewform impliziert die direkte Ansprache eines Interviewpartners – die Rolle, in die die Rezipient_innen gedrängt werden – und verargumentiert so auch die direkte Adressierung. Sowohl diese direkte Adressierung als auch der explizite Appell werden zudem als elliptische Auslassung im Responseelement nachvollziehbar: „Ja, ich interessiere mich für Ihre Pflegerenten-Zusatzversicherung. Rufen Sie mich bitte wegen eines Termins an“ (EA Werbeanzeigen 1972-1996, Werbeanzeige von 1994-1996; Hervorhebung im Original). Über das suggerierte Experteninterview erhält der Kaufappell wiederum den Anschein eines Ratschlags, den die Fragesteller_in selbst einfordert.
12.6 Adressierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser – Reflexion des Analyseinstrumentariums In diesem Kapitel sollte die Anwendbarkeit und der analytische Wert des entwickelten Analyseinstrumentariums anhand der Analyse einzelner Kommunikate mit Herrn Kaiser erprobt werden. Rekurrierend auf Sterns (1994) Modell der massenmedial vermittelten Werbekommunikation wurde die Werbefigur als Persona bestimmt, die den Kommunikator im Werbetext darstellt. Ihr lässt sich der Werbetext zuordnen (‚the persona’s message‘). Sie ist ‚Gesicht und Stimme‘ der Werbetreibenden (Zurstiege 2007, 111) und an ihr wird als textinterne Instanz „[…] das Beziehungsangebot festgemacht, das die Werbetreibenden den Werberezipienten unterbreiten“ (Zurstiege 2007, 112). Vor dem Hintergrund dieser Position der Werbefigur sollte näher beleuchtet werden, wie eine ‚wirkungsvolle‘ Verbindung zum Publikum anstrebt wird. Dabei wurde die Adressierung durch die Werbefigur als Ausgangspunkt zur Untersuchung dieses Beziehungsangebot bestimmt. Nach Mikos ist in den Adressierungsformen von Medienpersonen nämlich „[…] die Materialisierung der ‚Öffnung‘ der Situationen im Fernsehen zum Beziehungshandeln der Zuschauer“ (1996, 102) zu beobachten. Die Adressierungsleistung wurde
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demnach als Sichtbarmachung des Interaktions- und Beziehungsangebots der Werbefigur verstanden. Dabei ist aus Werbesicht beides, Interaktion und Beziehungsaufbau, relevant für die Aufmerksamkeitsgenerierung und Kundenbindung. Ausgehend von diesem Zusammenspiel aus Persuasionsabsicht, Adressierung, Beziehungsaufbau und Werbefigur als medial vermitteltem Kommunikator wurden in der theoretischen Vorarbeit verschiedene Adressierungsstrategien zur Untersuchung von Werbekommunikaten vorgeschlagen. Diese systematisieren die Adressierung durch die Werbefigur basierend auf den Analysedimensionen der Form der Adressierung und der Art des Kauf- und Konsumappells. Die Strategien ergeben sich aus der kombinierten Betrachtung beider Dimensionen. Innerhalb des Fallbeispiels Herr Kaiser sollte nun die Anwendbarkeit und der Mehrwert dieser Strategien als Analysewerkzeuge überprüft werden. Die vorangegangenen Analysen von Werbespots und Anzeigen mit Herrn Kaiser haben gezeigt, dass das Instrumentarium über die definierten Analyseparameter (Adressierung und Appell) und deren Ausprägung (direkt und indirekt, explizit und implizit) insbesondere ein systematisches Erschließen der Kommunikate erlaubt. Es wurde ein regelgeleitetes Beschreiben der Adressierungsleistung in den Kommunikaten ermöglicht. So konnten an alle untersuchten Kommunikate erfolgreich die Fragen nach der Form der Adressierung und der Art des Appells gestellt werden. Dies diente als Ausgangspunkt für ein Close Reading der Kommunikate im Hinblick auf die Aufmerksamkeitsgenerierung, die Rezipienteninvolvierung und den Persuasionsversuch. Hierbei wurde über die Identifikation der bloßen Adressierungsstrategie hinaus der Blick für das Zusammenspiel der Analysedimensionen in Bezug auf die Persuasionsabsicht geschärft. Das Analysewerkzeug ermöglichte diesbezüglich also ‚mehr zu sehen‘: So wurde in der Werbeanzeige von 1996 erkenntlich, dass Appelle nicht immer plakativ geäußert werden, sondern in die Logik der Kommunikate (durch elliptische Auslassungen, affirmative Zuschauerrolle) verwoben sein können. Die Analyse des Werbespots von 1987 zeigte, wie sich über eine kombinierte Ansprache in der Engaging Story und dem Engaging Talk zwei Kommunikationskreise herausbilden. Dabei diente die Verknüpfung der Kommunikationskreise dazu, den gewünschten Anschluss an die Kommunikation implizit zu äußern und zu verargumentieren.
Adressierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser
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Insbesondere über den Analyseparameter der Form der Adressierung wurde zudem eine Verbindung zu den kommunikationstheoretischen Konzepten der parasozialen Interaktion und Beziehung hergestellt. Die Untersuchung der Adressierung in Anzeigen und Spots hat in diesem Zusammenhang dafür sensibilisiert, wie (wiederholte) Interaktion und darüber eine Beziehung zur Marke (Kundenbindung) angestrebt wird. Über die realisierte Adressierung konnten darüber hinaus die im Text angelegten Zuschauerrollen nachvollzogen werden: So wurde deutlich, wie Rezipient_innen in einer inszenierten dialogischen Kommunikationssituation als Gegenüber der direkt adressierenden Werbefigur positioniert wurden und ihnen eine affirmative Antwortrolle z.B. über vorausgefüllte Rücksendecoupons oder vorformulierte Fragestellungen aufgedrängt wurde. Es konnte auch nachvollzogen werden, wie Stellvertreter als Identifikationsflächen eingesetzt wurden und wie thematische Bezugnahmen zum ‚Mitfühlen‘ oder zum Vergleich führen sollten. Insbesondere bei einer indirekten Adressierung wurde den Rezipient_innen das Beobachten und testweise Hineinfühlen in die Situation ermöglicht, was schlussendlich zum Imitieren der dargestellten Handlungen anregen sollte. Nicht zuletzt wurde ersichtlich, wie der geäußerte Appell durch die Aktivität der Stellvertreter legitimiert werden sollte. Die Stellvertreter machten innerhalb der konstruierten Welten ersatzweise Erfahrungen für die Rezipient_innen und zeigten Handlungsmöglichkeiten auf. Dabei sollten wechselnde Protagonist_innen (Selbstständiger, junger aktiver Mann, Familie etc.) eine zielgruppenspezifische Ansprache ermöglichen. In der Kaiser-Kommunikation lässt sich in den realisierten Adressierungsstrategien eine starke Abhängigkeit zum Werbemedium beobachten. Wo Werbespots insbesondere auf Imagebildung und die Darstellung von Aktivität setzen, lassen Anzeigen den nötigen Raum zur Begründung eines Kaufappells. Die zentrale Rolle des Werbemediums in der Adressierung durch die Werbefigur wurde in diesem Fallbeispiel besonders in den redaktionellen Anzeigen ersichtlich: So sollten redaktionelle Elemente zu einer Formirritation und zur Beeinflussung der Rezeption führen. Die Rekapitulation der Adressierungsstrategien als Analyseinstrumentarium hat gezeigt, dass diese einen nützlichen Ausgangspunkt für ein Close Reading der Werbekommunikate im Hinblick auf die Adressierungsleistung der Werbefigur darstellen. Sie bieten nicht nur feste Analyseparameter, auf die die Untersuchung rückführbar ist, sondern be-
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Adressierungsstrategien in der Hamburg-Mannheimer Werbung mit Herrn Kaiser
schreiben als Strategien auch Kommunikationskonfigurationen, die den Überzeugungsversuch von Werbefiguren transparenter machen sollen. Nach der Reflexion über die Anwendbarkeit und den analytischen Wert der entwickelten Adressierungsstrategien als Analyseinstrumentarium soll die Rolle der Anthropomorphisierung der Werbefigur in diesem Fallbeispiel reflektiert werden.
13 Anthropomorphisierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser In diesem Abschnitt sollen die Überlegungen zur Anthropomorphisierung aus Kapitel B wiederaufgenommen und in einen Zusammenhang mit dem Beziehungsangebot der Werbefigur Günter Kaiser gebracht werden. Es soll aufgezeigt werden, dass die erfolgte Adressierung über Herrn Kaiser stark mit der Darstellung der Figur als natürlichem Menschen zusammenhängt. In Kapitel B wurde festgehalten, dass der Markenführungsansatz anthropomorph geprägt ist. Konsument_innen sollen über eine Marke, der menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden (Markenpersönlichkeit), die Möglichkeit erhalten, ihr Selbstkonzept auszudrücken. Außerdem soll eine solch anthropomorphisierte Marke die Herausbildung von Konsument-Marke-Beziehungen erleichtern (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 187-188). Eine Konsument-Marke-Beziehung berücksichtigt aufbauend auf der Markenpersönlichkeit „[…] die Interaktionen zwischen Marken und Konsument […]“ (Herrmann, Huber und Braunstein 2005, 188). Dabei stellt Reziprozität eine Prämisse einer solchen Beziehung dar: Beide Beziehungspartner müssen nach Fournier (Fournier 2005, 212–15) die Beziehung formen, das heißt Einfluss ausüben können. Werbetreibende streben die Anthropomorphisierung von Marken also bewusst an und Werbefiguren können als eine Konsequenz dieser Bemühungen betrachtet werden. Die Figur (Persona) ist nach Hartmann, Schramm und Klimmt der „[…] für alle parasozialen Prozesse notwendige Ausgangsakteur“ (2004b, 14). Damit ergibt sich im Zusammenhang mit dem kurzen Rekurs auf die Anthropomorphisierung der Marke ein übergreifender theoretischer Zusammenhang zwischen Kapitel B und D: Die Werbefigur ist ein Werkzeug für die Anthropomorphisierung der Marke, das über die Adressierungsleistung den Blick auf parasoziale Prozesse anbietet – diese sollen wiederum die mit der Anthropomorphisierung angestrebte Beziehungsfähigkeit der Marke positiv beeinflussen. Diese theoretische Verbindung der Kapitel B und D soll im Folgenden anhand des Fallbeispiels Herr Kaiser skizziert werden. Wie im Fallbeispiel in Kapitel B gezeigt wurde, war die Anthropomorphisierung der Marke Hamburg-Mannheimer ein explizites Bestreben der Werbeverantwortlichen. Eine
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_13
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Anthropomorphisierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser
Vermenschlichung der Dienstleistungsmarke sollte die Anonymität des großen Unternehmens abwenden und die Positionierung als sympathischer Partner erreichen. Herr Kaiser wurde dabei als wertvolles Mittel zum Zweck betrachtet. Die Werbefigur sollte das Abstrakte konkretisieren und die Interaktion einfacher erscheinen lassen. Herr Kaiser kann in einem ersten Schritt als menschliche und natürliche Figur eingeordnet werden: Mit einem Schauspieler sollte ein absoluter ‚Durchschnittsmann‘ inszeniert werden. Über diese grundsätzliche Einordnung hinaus wurde in Kapitel B gezeigt, wie die Vermenschlichung von Herrn Kaiser (und damit in letzter Konsequenz der Hamburg-Mannheimer) mit unterschiedlichen Anthropomorphisierungsstrategien weiter verfolgt wurde: Vom Einsatz indexikalischer Zeichen der Menschlichkeit (handschriftlich anmutende Unterschrift und Slogan) über den Einsatz von Günter Kaiser auf unvermittelten PR-Events (z.B. die Kaiser-Tour) bis hin zur kontinuierlichen Inszenierung der Figur als Beziehungspartner (z.B. über das Grüßen der Werbefigur und das aktive Einholen von Ratschlägen durch Stellvertreter). So wurde bereits in Kapitel B auf die Positionierung von Herrn Kaiser als konkreter Adressat in Rückmeldecoupons hingewiesen. Durch die implizierte Adressierungsfähigkeit sollte über die Figur Interaktionspotenzial für die Marke suggeriert und diese als potenzieller Beziehungspartner präsentiert werden. Der Beruf der Figur sollte zudem die Ratgeberrolle in der Adressierung legitimieren. Die Verzahnung mit der Marke Hamburg-Mannheimer geschah unter anderem durch die rhetorische Gleichsetzung von Werbefigur und Unternehmen und durch die Nutzung des Namens der Figur für Slogans, Produkte und Events. So sollte das ‚Kennen‘ einer menschlichen Figur auf ein abstraktes wirtschaftliches Konstrukt transferiert werden. Die realisierten Anthropomorphisierungsstrategien zeigen einen Zusammenhang zwischen der Vermenschlichung der Figur und ihrer Adressierungsleistung auf. So taucht das Beispiel des an Herrn Kaiser adressierten Rückmeldecoupons in beiden Kapiteln auf: Zum einen als Anthropomorphisierungsstrategie und zum anderen als Adressierungsmerkmal. Eine Figur als adressierbaren Kommunikator zu positionieren, ist sowohl eine Strategie, um diese Entität zu vermenschlichen als auch Bestandteil einer Adressierung, die Reziprozität vermitteln will. Insbesondere die Reziprozität suggerierenden Adressierungsverfahren bedürfen der realistisch dargestellten Menschlichkeit von Herrn Kaiser. Anders gesprochen: Mit einer Figur wie dem Spee-Fuchs ließe sich eine solche Rezipientenansprache kaum realisieren.
Anthropomorphisierung und Beziehungsaufbau im Fallbeispiel Herr Kaiser
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Die Aufforderung von Herrn Kaiser „Lassen Sie uns mal darüber reden“ (EA Werbespot 2007, 00:00:22-00:00:23) fügt sich in die angestrebte Illusion eines Gesprächs mit einem Finanzberater. Der Ausspruch kann durch die Menschlichkeit und den Beruf der Figur zudem als generelle Aufforderung gelesen werden, mit einem Vertreter zu sprechen. Würde dagegen eine solche Äußerung durch einen animierten Fuchs erfolgen, würde sie keine Anschlussfläche finden. Ebenso wenig könnte eine Unterschrift des Spee-Fuchs wie bei Herrn Kaiser als Spur eines menschlichen und identifizierbaren Kommunikationsursprungs eingesetzt werden. Menschen unterschreiben Korrespondenzen, Füchse nicht. Auch die Inszenierung als Beziehungspartner durch das Grüßen (‚Hallo, Herr Kaiser‘) referenziert auf eine reale, soziale Situation. Ähnliche Grußszenen würden bei einem animierten Fuchs unweigerlich niedlich wirken. Das könnte wiederum eine Strategie darstellen, um Sympathien und positive Assoziationen zur Marke zu generieren. Rezipient_innen blieben jedoch kaum Ansatzpunkte, um sich in den Situationen wiederzuerkennen. Ebenso würden aufgeführte Problemstellungen (z.B. die fehlende Unfallversicherung) ins Lächerliche gezogen werden. Diese Feststellung im Rahmen des Fallbeispiels soll nicht bedeuten, dass über animierte Tiere keine involvierende Adressierung realisiert werden kann. Auch von einem sprechenden Fuchs können sich Zuschauer_innen angesprochen fühlen. Die Kommunikation mit Herrn Kaiser basiert allerdings stark auf einer suggerierten Rückkanalfähigkeit – und zwar in einem solchen Maße, dass Rezipient_innen die Fiktivität der Figur durchaus infrage stellen könnten. Herr Kaiser soll als Werbefigur der Hamburg-Mannheimer zur Vermenschlichung der Marke und – über Interaktion und Beziehungsaufbau – zur Markenbindung beitragen. Im vorliegenden Fallbeispiel basiert die realisierte Adressierung zu großen Teilen auf der Menschlichkeit der Figur. Diesen Zusammenhang zwischen Anthropomorphisierung und Adressierung gilt es in der Werbefigurenanalyse von Figur zu Figur neu zu überprüfen.
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Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren
Im Folgenden werden Archivfunde vorgestellt, in denen eine Auseinandersetzung des Publikums mit der Werbefigur Herr Kaiser ersichtlich wird. Die archivierten Zuschriften weisen aufgrund ihrer geringen Anzahl und ihrer besonderen Ausprägungen – beispielsweise im Vergleich zu einem einfachen Autogrammwunsch – auf ein sehr selektives Aufbewahren hin, dass das ‚Kuriose‘ herausstellen wollte. Die vorliegenden Zuschriften lassen also in keiner Weise generalisierbare Aussagen zu. Das hätten die zahlreichen Zuschriften und Liebesbriefe an Herrn Kaiser, von denen in der internen Kommunikation der Hamburg-Mannheimer die Rede ist, gegebenenfalls leisten können.172 Die vorliegenden Archivfunde können jedoch Hinweise auf die breit gefächerte Rezeption und die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten an die Kommunikation mit der Werbefigur geben und so den Blick für Herrn Kaiser als kulturelles Phänomen schärfen. Sie zeigen zudem, dass Kommunikation mit und über die Figur angeregt wurde – nur eben nicht zwangsläufig in dem von den Werbetreibenden intendierten Sinne. Als erstes soll eine Zuschrift vorgestellt werden, die auf eine empfundene Bindung zur Figur schließen lässt. Die Zuschrift wurde 1996 in der Mitarbeiterzeitschrift forum (EA forum 1996 (1), 31) in der Rubrik ‚Leserforum‘ abgedruckt. Es handelt sich dabei also um eine ‚Weitersendung‘ eines Kundenbriefs durch eine Mitarbeiterin der HamburgMannheimer. Diese kommentiert den Kundenbrief zudem wie folgt: Manche machen es kurz und schmerzlos. Anderen tut kündigen weh! Wie weh – das zeigt der sehr persönliche Brief einer Kundin an Herrn Kaiser, in dem sie anrührend menschlich um Verzeihung bittet. (EA forum 1996 (1), 31)
Die Tatsache, dass die Mitarbeiterin den Inhalt als sehr persönlich einstuft und ihn dennoch in der Mitarbeiterzeitschrift ausstellt, mutet widersprüchlich und aufmerksamkeitsheischend an. Da es sich um keine Originalzuschrift, sondern um einen Wiederabdruck handelt, können Manipulationen am Text bis hin zur gänzlichen Fälschung an dieser
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So heißt es 1992 in der Mitarbeiterzeitschrift forum: „Immer wieder bekommt Herr Kaiser Post: Autogrammwünsche, Liebesbriefe, Fachfragen. Bis heute hat die Briefflut, die an ihn adressiert ist, nicht nachgelassen“ (EA forum 1992 (4), 11). Ich konnte im Archiv 19 Publikumszusendungen dokumentieren.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_14
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Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren
Stelle natürlich nicht ausgeschlossen werden. In jedem Fall zeigt der Abdruck, dass sowohl die Mitarbeiterin als auch die Redaktion der persönlichen Hinwendung an Herrn Kaiser Nachrichtenwert beimessen. Letztendlich konnte so intern der Erfolg der eigenen Werbemaßnahmen vorgeführt werden. Der Kundenbrief lautet wie folgt: Sehr geehrter Herr Kaiser, es ist mir ein bißchen zu peinlich, aber ich mußte dringend diesen Brief an Sie schreiben. Ich bitte Sie um Verzeihung und um Ihr Verständnis. Bevor ich diese Versicherung abgeschlossen hatte, wußte ich gar nicht, daß ich so unerwartet in finanziellen Schwierigkeiten landen würde. Deshalb möchte ich Sie bitten, erst mal die Versicherung abzubrechen. Wenn mein Zustand sich inzwischen verändert, sage ich Ihnen sofort Bescheid. Die Papiere werde ich sorgfältig aufbewahren. Ich bitte Sie nochmals um Ihr Verständnis, weil ich sehr gerne Ihre Kundin bleiben möchte. (EA forum 1996 (1), 31)
Wird der Brief als Originalabdruck behandelt, vermittelt dieser, dass der Absender_in die Fiktivität der Figur nicht bewusst ist und sie Herrn Kaiser stattdessen als realen Vertreter der Hamburg-Mannheimer begreift. Sowohl der für den förmlichen Briefverkehr geläufige Gruß („Sehr geehrter Herr Kaiser“) als auch die wiederholte Nutzung von Personalpronomina weisen darauf hin, dass durchgängig Herr Kaiser als soziale Entität adressiert wird. Der Figur wird überdies auch Handlungsmacht zugeschrieben: Sie soll die Versicherung ‚abbrechen‘. Die Kundin befindet sich in einer Art Bekenntnissituation („[…] es ist mir ein bißchen zu peinlich, aber ich mußte dringend diesen Brief an Sie schreiben“). Die persönliche Hinwendung zeigt auch, dass ein verständnis- und vertrauensvolles Gegenüber vorausgesetzt wird. Der bevorstehende Bruch mit der Bezugsperson Herrn Kaiser bereitet der Absender_in Unbehagen.173 Sie möchte Kundin bleiben und ganz im Sinne des etymologischen Wortursprungs – das althochdeutsche ‚kundo‘ bedeutet ‚der Bekannte‘ (Kluge und Seebold 2011) – die empfundene Beziehung nicht aufgeben. Ebenfalls eine positive Einstellung zur Figur zeigt eine Zuschrift aus dem Jahr 1992 (Abb. 56). Im Gegensatz zum vorangegangenen Schreiben ist hier allerdings ein Bewusstsein über die Fiktivität der Figur abzulesen. In diesem Brief wird im Betreff um „Auskunft über Herrn Kaiser“ gebeten. Weiter heißt es: Sehr geehrte Damen und Herren, da ich mir gern Werbespots und Anzeigen ansehe, ist mir etwas aufgefallen, das mir keine Ruhe läßt! HERR KAISER IST JÜNGER GEWORDEN [Hervorhebung im Original; P.B.]! Ich habe noch ein Autogramm von ihm aus dem Jahre 1984. Seitdem ist er keinen Tag älter geworden, sondern eher jünger und frischer! Woran liegt das? Benutzt er etwa Kosmetikprodukte? Kommt diese jugendliche Frische vielleicht auch daher, daß er sich so sehr über den Titelgewinn von Kaiserslautern gefreut hat? Oder hat Herr Kaiser vielleicht ein Gesundheitsgeheimnis entdeckt, von
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Ein solches Unbehagen wird in der Forschung zu parasozialen Beziehungen auch als ‚Parasocial Breakup Distress‘ thematisiert.
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dem Millionen Menschen noch träumen? Vielleicht braucht man dann noch nicht einmal die Versicherung mehr? Teilen Sie mir doch bitte einmal mit, was des Kaisers Geheimnis ist! Mit freundlichen Grüßen (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 07.01.1992)
Herr Kaiser wird hier weder postalisch noch in der Anrede adressiert, sondern die Werbetreibenden. Die Kommunikationsstrukturen (Werbetreibende, Persona) werden demnach reflektiert. Trotz des offensichtlichen Bewusstseins dafür, dass Herr Kaiser keine Adresse darstellt, und des humorvollen Tons, zeigt sich hier ein Fan-Verhalten (Autogramm, schaut gern Werbung, Interesse an der Figur). Die Figur steht für den Absender im Zentrum des Interesses, nicht die Marke oder eine Dienstleistung des Unternehmens. Der Werbegegenstand ist zwar bekannt, wird aber eher als Beiwerk abgekanzelt („Vielleicht braucht man dann noch nicht einmal die Versicherung mehr?“). Dieses wahrgenommene Verhältnis zur Marke illustriert das, was im Kapitel B mit der Werbefigur als emanzipiertem Star beschrieben wurde: Die Marke wird eher dem Vorstellungsbild der Figur zugeordnet als andersherum. Der emanzipierte Star Herr Kaiser funktioniert auch ohne Marke. Dies wird besonders dort deutlich, wo der Figurenursprung bekannt, aber an sich nicht von Interesse ist.
Abb. 56: Zuschrift an die Hamburg-Mannheimer vom 07. Januar 1992 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
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Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren
Das Schreiben zeigt sowohl ein Fan-Verhalten und Interesse in Bezug auf Werbung im Allgemeinen als auch auf Herrn Kaiser im Speziellen. Des Weiteren wird durch den auf die Figur bezogenen Wortwitz (‚Titelgewinn von Kaiserslautern‘) eine kreative Arbeit an der Figur offenbar, die als Wunsch nach Partizipation an dem Konstrukt Herr Kaiser und als Möglichkeit zum Selbstausdruck gelesen werden kann. Die Werbeabteilung nimmt die Kommunikation auf und informiert über den Schauspielerwechsel, der für die ‚Verjüngung‘ der Figur verantwortlich ist. Seit 1972 steht die Figur des Herrn Kaiser symbolisch für den kompetenten Außendienst der HamburgMannheimer. Diese Idee ist beim Publikum gut angekommen und soll deshalb auch nicht verändert werden. Nun ist es allerdings kaum möglich, über so lange Zeiträume eine Werbefigur jung und dynamisch zu erhalten, wenn man sich nicht entschließt, auch einmal einen anderen Darsteller für diese Rolle einzusetzen. So haben wir uns nach 18 Jahren von dem Schauspieler, der bis dahin die Rolle des Herrn Kaiser verkörpert hat [sic!] getrennt, ihn sozusagen mit einer Hamburg-Mannheimer-Rente versehen in Pension gehen lassen. Seit 1990 wurde die Rolle von einem jüngeren Schauspieler übernommen, der nun wieder ebenso aktiv wirkt wie früher der alte Darsteller. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 28.02.1992)
In dem Schreiben der Hamburg-Mannheimer werden zum einen die strategischen Hintergründe des Schauspielerwechsels erläutert. Zum anderen bemühen sich die Werbetreibenden, die Figur im Bewusstsein des Fans stärker an die Marke zu rücken („[…] symbolisch für den kompetenten Außendienst der Hamburg-Mannheimer“). Es wird außerdem auf einen fairen Umgang mit dem zuvor eingesetzten Schauspieler hingewiesen („Hamburg-Mannheimer-Rente“). Schließlich wird in dieser Antwort transparent auf die Konstruiertheit der Figur hingewiesen. Dieser transparente Umgang mit der Konstruiertheit der Figur war allerdings keine Selbstverständlichkeit wie ein anderes Beispiel von 1995 zeigt (Abb. 57). Die Werbeabteilung der Hamburg-Mannheimer sendet eine Korrespondenz mit folgenden Worten an die interne Presseabteilung weiter: Für den Fall, daß RTL auf die Presseabteilung zukommt, schicke ich Ihnen Kopien eines Vorganges, in dem ein Versicherungsinteressent mit ‚Wie bitte‘ droht, weil wir ihm nicht den echten Kaiser zur Beratung schicken können. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 08.08.1995)174
Ausgangspunkt dieses ‚Vorgangs‘ war ein an Herrn Kaiser gerichtetes („Sehr geehrter Herr Kaiser“) Schreiben eines vorgeblichen Interessenten. In diesem wollte der Interessent für den Abschluss einer Lebensversicherung „[…] nur persönlich mit Ihnen [Herr
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‚Wie bitte?!‘ war eine deutsche Verbraucher-Comedyshow, die von 1992-1999 auf dem Fernsehsender RTL lief (fernsehserien Webseite).
Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren
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Kaiser; P.B.] verhandeln“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 26.07.1995). Zu einem daraufhin stattgefundenen Telefonat vermerkt ein Hamburg-Mannheimer Mitarbeiter handschriftlich: Herr […] ist in einer Vereinigung gegen irreführende Werbung und legt Wert auf ausschlieslichen [sic!] Besuch durch ‚Herrn Kaiser‘. Laut Aussage von Herrn […] werden weiter Schreiben von anderen Personen folgen um damit auf unlauteren Wettbewerb (Werbung) hinzuweisen. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 26.07.1995)
Dem vorgeblichen Interessenten wurde durch die Hamburg-Mannheimer nach dem Telefonat allerdings schriftlich die private und geschäftliche Telefonnummer von Herrn Kaiser mitgeteilt. Die Hamburg-Mannheimer komme selbstverständlich gern dem Wunsch nach, direkt mit Herrn Kaiser zu sprechen, heißt es in dem Antwortschreiben (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 27.07.1995). Daraufhin antwortet der Interessent: Es grenzt schon an Beleidigung wie Sie Ihre Kunden verblöden; den von mir angesprochenen Herrn Kaiser hat es in Ihrem Hause noch nie gegeben. Es war ein Schauspieler; mit dem o.g. Hn. Kaiser dürfte nur Namensgleichheit bestehen. Bitte senden Sie mir zum Vergleich ein Foto von ‚Ihrem‘ Herrn Kaiser. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 29.07.1995)
Der darunter stehende Vermerk: „DG: RTL, ‚Wie bitte‘“ weist drohend auf eine FernsehVerbrauchershow hin, die unlautere Praktiken von Unternehmen vorführt.
Abb. 57: Hamburg-Mannheimer Korrespondenz vom 26. bis 29. Juli 1995 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
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Die vermutete Täuschung durch die Hamburg-Mannheimer gibt einen Hinweis darauf, dass in der Rezeption der Figur nicht unbedingt deutlich wurde, ob diese fiktiv ist oder nicht. Die Korrespondenz zeigt zudem, dass das Konstrukt Herr Kaiser dafür verwendet wird, die als ‚unlauterer Wettbewerb‘ eingeordnete Werbung an sich zu reflektieren und zu kritisieren. Damit geht die hier vorliegende Auseinandersetzung mit Herrn Kaiser deutlich über den Werbegegenstand der Hamburg-Mannheimer hinaus und bildet eine Metakommunikation über die Kommunikationsform Werbung an sich ab. Herrn Kaisers prominente Stellung innerhalb der Werbung macht die Figur für den Interessenten zur Verkörperung der täuschenden Praxis und bildet damit einen konkreten Ansatzpunkt für eine Kritik daran. Der Versuch des Absenders aktiv eine vermutete Irreführung aufzudecken, mutet wie eine Ermittlung an. So bedeutete diese ‚Ermittlungsarbeit‘ 1995 noch einigen Aufwand: Schreibmaschinenarbeit, Kopieren und Faxen. Die Hartnäckigkeit innerhalb der Korrespondenz kann aber auch auf eine gewisse Freude hinweisen, sich an dem Konstrukt der Werbefigur ‚abzuarbeiten‘: Das wahre Wesen der Figur und die täuschenden Kommunikationsstrukturen aufzudecken, Heldentaten im Verbraucherschutz zu vollbringen und in der verfolgten Vorgehensweise die Täuschenden selbst zu täuschen. Die Hamburg-Mannheimer versuchte eine Bloßstellung abzuwenden, indem das Vorgehen des Interessenten ad absurdum geführt wurde. Im letzten vorliegenden Schreiben innerhalb der Korrespondenz weist die Werbeabteilung zunächst auf mehrere Medienberichte hin, in denen Herr Kaiser als Werbefigur aufgeführt wird. Weiter heißt es: Unabhängig von dieser Medienpräsens [sic!] darf man heute davon ausgehen, daß die Verbraucher wissen, daß in der Werbung Fotomodelle und Schauspieler eingesetzt werden. Kaum jemand wird deshalb ernsthaft vermuten, daß der in den Anzeigen und Fernsehspots dargestellte ‚Herr Kaiser‘ ein echter Außendienstmitarbeiter der Hamburg-Mannheimer sei. Erst recht wird niemand auf die Idee kommen, daß dieser eine Mann alle unsere Kunden beraten würde. Auch Sie haben das – wie wir Ihren Äußerungen entnehmen können – nicht ernsthaft angenommen, als Sie um eine persönliche Beratung durch ‚Herrn Kaiser‘ baten. […] Unser Vorschlag, mit einem echten Herrn Kaiser aus unserem Außendienst zu sprechen, sollte vielmehr ein humorvolles Angebot an einen Kunden sein, von dem wir ahnten, daß er die Zusammenhänge durchschaut. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 04.08.1995)
Die Hamburg-Mannheimer hält dem Ermittler damit vor, dass die Produktionsstrukturen um die Werbefigur allgemein bekannt seien. Alles, was der Interessent mit seiner Ermittlung demnach noch aufdecken könnte, wäre seine eigene Naivität. Die Antworten aus der Hamburg-Mannheimer Werbeabteilung zeigen, dass der Dialog mit den Rezipient_innen aufgenommen wurde. Fan-Verhalten sollte gepflegt werden.
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Positive, aber falsche Annahmen sollten gestützt und oppositionelle Lesarten abgemildert werden. In anderen Zuschriften fungiert die Figur als Ausgangspunkt, um inhaltliche Kritik an der Hamburg-Mannheimer zu äußern. In einem anonymen Schreiben von 1993 heißt es: ‚Hallo, Herr Kaiser‘, es wird Zeit, daß ich Ihnen mal schreibe, auch im Namen vieler Freunde und Bekannte. Es ist erschreckend, auf welch abgebrühte Art und Weise Sie Volksverdummung betreiben. Da empfehlen Sie in Ihrer Werbung in DM Juli ´93 doch tatsächlich Ihre Kapitallebensversicherung als Geldanlage. Ihr Gesprächspartner kann es in der Werbung kaum glauben (armer Kerl), daß Sie es schaffen, das eingezahlte Kapital im Laufe von 25 Jahren zu verdoppeln. Das treibt mir die Tränen in die Augen (vor Lachen!). Selbst bei nur durchschnittlichem Kapitalmarktzins gelingt einem dies locker in der Hälfte der Zeit. Und das bei großer Sicherheit und hoher Liquidität (was man bei der Kapitallebensversicherung nicht behaupten kann). (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 19721997, Datum 06.10.1993)
Die Absender_in kennzeichnet den Ausspruch „Hallo, Herr Kaiser“ mit Anführungszeichen als Zitat. Die Begrüßungsfloskel kann als Bewusstsein darüber gelesen werden, dass die Figur nicht real ist, sondern ein Kind der Werbung. Dass ein solches Bewusstsein vorhanden ist, wird allerdings dadurch infrage gestellt, dass der Text stringent Herrn Kaiser adressiert. Die auf die Begrüßung folgenden Vorwürfe deuten das in der gängigen Kommunikationsmechanik freudig gemeinte Wiedererkennungssignal „Hallo, Herr Kaiser“ negativ um. Die angebotene Kapitallebensversicherung wird vor dem Hintergrund des eigenen Wissens als schlechte Leistung überführt. Die anonyme Absender_in reflektiert darüber hinaus die Werbeinhalte und die Adressierungsstrategie über einen ‚Gesprächspartner‘. Sie weist mit ihrem Schreiben die Annahme dieser Stellvertreterposition aktiv zurück: Durch die negative Skizzierung des werblich intendierten Stellvertreters grenzt sie sich von der unwissenden Rolle und der angebotenen Identifikationsfläche ab („[…] kann es […] kaum glauben […]“, „armer Kerl“). In dem Schreiben wird eine gewisse Dringlichkeit der Absender_in offenbar, selbst zum ‚Sender‘ zu werden: „[…] es wird Zeit, daß ich Ihnen mal schreibe, auch im Namen vieler Freunde und Bekannte […]“. Dabei weist sie auch darauf hin, dass sie nicht nur für sich spricht. Die Werbefigur Herr Kaiser scheint als Verkörperung schlechter Finanzberatung Einzug in ihren privaten Diskurs gefunden zu haben. Dass die Absender_in nichtsdestotrotz anonym bleibt, weist darauf hin, dass sie keinen Dialog anstrebt. Sie nutzt das Schreiben als Möglichkeit, ihre Gegenposition kundzutun – und ein Ventil benötigt keinen Rückkanal. Stattdessen verweist die Absender_in auf ihre Sympathien für den Bund der Versicherten, dem sie die Aufgabe der weiteren Ermittlung und Ahndung zuschreibt:
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Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren Fazit: Ihre angeblichen Experten sind gar keine, oder aber sie wirtschaften den größten Teil in die eigene Tasche. Ich darf wohl das Zweite annehmen, richtig? Also von wegen ‚gute Rendite‘… Das glauben Sie doch hoffentlich selber nicht!? Denn sonst müßte ich an Ihrem Sachverstand zweifeln. Also einfach nur ‚legaler Betrug‘, wie immer häufiger in der Presse zu lesen ist. Na ja, der Bund der Versicherten wird schon dafür sorgen, daß es Ihnen und allen anderen Versicherungs-‚Bonzen‘ an den Kragen geht. Auf bald!? (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 06.10.1993)
Nachdem zunächst die eigene Sachkundigkeit vorgeführt wurde, wird im ‚Fazit‘ der Unmut und die Erregung der Absender_in deutlich. Dies wird sowohl durch die reichlich gebrauchten Satzzeichen als auch durch die flapsige Umgangssprache hervorgehüben. Herr Kaiser wird als Speerspitze vorgeblicher Experten betrachtet, die eigentlich ausgemachte Betrüger und Versicherungs-‚Bonzen‘ sind. Die Figur stellt für die Absender_in eine Möglichkeit dar, an jemandes ‚Sachverstand‘ zweifeln zu können. Ob real oder fiktiv wahrgenommen, erleichtert Herr Kaiser den Umgang mit einem abstrakten Unternehmenskonstrukt, indem eine konkrete soziale Entität demontiert werden kann. In einem inhaltlich ähnlichen Schreiben begrüßt ein anderer verärgerter Leser 1995 Herrn Kaiser zwar förmlich, weist aber einen Satz später darauf hin, dass dieser nur eine Werbefigur sei (Abb. 58): „Sehr geehrter Herr Kaiser, wenn man mal davon absieht, daß Sie nur eine Werbefigur sind. Hätte ich zu der Anzeige in der DM 8/95 einiges zu sagen“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 01.08.1995). Nach einer Kritik, die sich ganz ähnlich zu vorangegangenem Beispiel verhält, schließt der Absender: Unter Berücksichtigung ihrer im Sachversicherungsbereich veranschlagten Wucherprämien, bleibt als Fazit nur: HALLO HERR KAISER, schlecht das [sic!] ich sie getroffen habe. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 01.08.1995)
Der Werbeausspruch „Hallo, Herr Kaiser, gut, dass ich Sie treffe“ als Ausdruck einer positiven Beziehung und eines aktiven, zufriedenen Kunden wird für die eigene Kritik adaptiert. Das Einbeziehen der Werbefigur wird damit als Möglichkeit gesehen, einer kreativen und oppositionellen Rezeption der Werbekommunikation Ausdruck zu verleihen. In diesem Beispiel bleibt der Absender zudem nicht anonym: Seine Kritik äußert damit nicht nur seinen Unmut, es kann auch eine beabsichtigte Demonstration der eigenen Überlegenheit vermutet werden.
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Abb. 58: Zuschrift an die Hamburg-Mannheimer vom 01. August 1995 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Trotz Fiktivitätsbewusstsein stellt die Figur die kommunikative Adresse dar, an die der Unmut herangetragen wird. Herr Kaiser fungiert im produktiven Sinne für den Rezipienten bewusst als Scheinadressat. Die Werbefigur stellt damit nicht nur ein Medium für die Werbebotschaft dar. Auch Rezipient_innen können sich die Figur als Medium zur Übermittlung der eigenen Nachricht aneignen. Die letzte Zuschrift, die ich gern aufführen möchte, zeigt ebenfalls, wie Herr Kaiser als anthropomorphe Figur dazu genutzt wird den eigenen Frust kanalisiert zu äußern (Abb. 59). Wieder angelehnt an den berühmten Kaiser-Ausspruch heißt es auf einem Umschlag beschimpfend: „Hallo Herr Kaiser Sie sind ein Arschloch!!“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 05.08.1992).
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Exkurs: Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Herr Kaiser – Archivspuren
Abb. 59: Beleidigende Zuschriften an die Hamburg-Mannheimer vom 05. August 1992 (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997; mit freundlicher Genehmigung von © Ergo Group AG [2020]. All Rights Reserved)
Die wütende Kommentierung („immer derselbe Scheiss!!“ (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 05.08.1992)) von kopierten und mit Textmarkern bearbeiteten Stellenanzeigen deutet darauf hin, dass der geäußerte Unmut der Hamburg-Mannheimer als (potenziellem) Arbeitgeber und nicht als Anbieter von bestimmten Dienstleistungen gilt. Auf dem Briefumschlag fällt auf, dass das Responseelement aus den Hamburg-Mannheimer Anzeigen mit Herrn Kaiser kopiert und auf den Umschlag geklebt worden ist.175 Mit der negativen Umformulierung des Werbeausspruchs und der Bearbeitung der Anzeigen mit Textmarkern entsteht eine Wut äußernde Collage. Hier webt sich die Rezipient_in in den Werbetext ein und gestaltet den fiktionalen Dialog mit. Von Autogrammwünschen, skurriler Fan-Post bis hin zu Beschwerden und Beschimpfungen – die Sendungen an und über die Werbefigur Günter Kaiser nehmen die unterschiedlichsten Formen an. Die Werbefigur fungiert dabei als Adressat, Scheinadressat oder als Kommunikationsanlass. Die vorgestellten Zuschriften offenbaren eine breit gefächerte und aneignende Rezeption der Werbung mit der Figur Günter Kaiser. So zeigen intertextuelle Verweise einen kreativen Umgang mit dem intendierten Sinn der Werbekommunikation auf. Dabei wird deutlich, dass die Werbefigur eine kulturelle Relevanz hat, die über ihren Werbegegenstand hinausgeht. Herr Kaiser bietet als kulturelles Phänomen auch außerhalb des Werberahmens kommunikative Anschlusspunkte, z.B. für die Auseinandersetzung mit Werbung an sich. Hier liegt in der Rezeption auch ein Ansatzpunkt für die Emanzipation der Werbefigur und ihren Eingang in werbefremde Diskurse.
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Zu erkennen an der deutenden Hand der Figur, die in einigen Anzeigenvarianten eingesetzt wurde.
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Die Zuschriften geben zudem Hinweise darauf, dass Rezipient_innen sich von der Figur angesprochen gefühlt haben (bis hin zur Reflexion der zugewiesenen Antwortrolle). Es wurde deutlich, dass die erfolgte Adressierung über eine menschliche Figur sowohl Verbundenheit und Faszination als auch Skepsis und ein gewisses Frustpotenzial hervorbringen kann. Man stelle sich beispielsweise vor, dass der kündigenden Absender_in die Fiktivität der Figur offenbart worden wäre. Es wurde außerdem deutlich, dass die werblich intendierte Antwortrolle in den Kommunikaten nicht zwangsläufig übernommen wurde. Stattdessen wurde auch humorvoll oder klar oppositionell an dem Konstrukt Herr Kaiser gearbeitet. Dieses Umstands sind sich auch die Werbetreibenden bewusst, wie ein Antwortschreiben der Hamburg-Mannheimer Werbeabteilung zu erkennen gibt, das in diesem Kapitel den Schlusspunkt markieren soll: Ihre grundsätzlich andere Meinung zu Kapitallebensversicherungen teilen wir natürlich nicht, aber wir können sie akzeptieren. Werbung ist schließlich nur ein Angebot. Man kann es annehmen, aber man kann es auch ablehnen. (EA Artikel, Werbeanzeigen und Korrespondenzen 1972-1997, Datum 04.08.1995)
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In den vorangegangenen Kapiteln wurde ein facettenreicher Blick auf den Gegenstand der Werbefigur angestrebt, indem sowohl nach den konzeptionellen und semantischen Strukturen der Figur als auch nach den kommunikativen Strategien in ihrem Einsatz gefragt wurde. Die vorliegende Arbeit möchte so zum medientheoretischen Verständnis der Werbefigur beitragen und hat vor diesem Hintergrund Ansatzpunkte für ihre Untersuchung entwickelt. In Bezug auf die Figur-Marke-Beziehung wurde eine semiotisch argumentierte Typologie vorgeschlagen, die zwischen den Werbefigurtypen des Ebenbilds, des Unterstützers und des emanzipierten Stars differenziert (Kapitel B). Die identifizierten Typen wurden in einem nächsten Schritt im Hinblick auf ihre Werbefunktion konkretisiert. Im Rahmen der marken- und werbestrategischen Verortung der Werbefigur wurden zudem Unterschiede zwischen der direkten und indirekten Anthropomorphisierung der Marke durch die Werbefigur ausgemacht. Mit diesen Überlegungen und Begriffen sollte dem persuasiven Konzeptionsursprung der Werbefigur Rechnung getragen und eine analytische Hilfestellung für ihre Untersuchung als strategischem Kommunikationswerkzeug bereitgestellt werden. In Kapitel C lag der Fokus auf der Semantik der Werbefigur und ihrer, so wurde argumentiert, strukturell damit verbundenen Zirkulationsfähigkeit in Texten und Medien. Es wurde vorgeschlagen, Werbefiguren als sekundäre semiologische Systeme (Barthes) zu untersuchen, die Bedeutung über das parasitäre Aufsetzen auf bestehenden Zeichenketten generieren. Als solche werden Werbefiguren zu kompakten Symbolen bzw. flachen Figuren: Sie sind keine komplexen Charaktere, haben keine Biographie oder Geschichte, sondern vermitteln wenige Bedeutungen. Im Anschluss an Denson und Shane wurde angenommen, dass unter anderem diese Flachheit die Figur von spezifischen Texten und Medien emanzipiert und dementsprechend ihre Zirkulationsfähigkeit begünstigt – sowohl innerhalb als auch außerhalb des originären Markenkontextes.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5_15
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Schließlich sollte auch ein analytischer Zugang zur Figur als Kommunikator entwickelt werden (Kapitel D). Dabei wurde im Hinblick auf die persuasive Kommunikationsabsicht der angestrebte ‚wirkungsvolle‘ Beziehungsaufbau mit den Rezipient_innen und die damit verbundenen Adressierungsspezifika der Werbefigur untersucht. Bezugnehmend auf das kommunikationswissenschaftliche Konzept der parasozialen Interaktion wurden Adressierungsstrategien (Sales Talk, Hidden Sales Talk, Engaging Story und Engaging Talk) herausgearbeitet, die intendierte Kommunikationskonfigurationen mit den Rezipient_innen und ihnen zugeschriebene Antwortrollen beschreiben. Die entwickelten theoretischen Annahmen haben sich in der Untersuchung des Fallbeispiels Herr Kaiser als nützliche Analysewerkzeuge erwiesen. So haben sie als Hilfestellung in der markenstrategischen Verortung der Figur gedient, wobei sie insbesondere dabei unterstützen konnten, den steten Aushandlungsprozess zwischen interner Konzeption sowie externer Wahrnehmung und Verhandlung nachzuzeichnen. Die bis heute anhaltende mediale Zirkulation von Herrn Kaiser hat verdeutlicht, wie dieser als verhandelbares Symbol rekontextualisiert und selbst zum Zeichen in neuen Mythen wird. Nicht zuletzt konnten mithilfe der entwickelten Adressierungsstrategien unterschiedliche Überzeugungsversuche in Werbespots und (redaktionellen) Anzeigen untersucht werden. Davon ausgehend wurden spezifizierende Überlegungen für die parasoziale Interaktion in der Werbekommunikation angestellt. Mit dem Fallbeispiel Herr Kaiser wurden nicht nur die entwickelten theoretischen Annahmen erprobt, sondern auch ein Stück deutsche Werbegeschichte aufgearbeitet. Ausgehend von den hier resümierten Forschungsergebnissen und dem in dieser Arbeit untersuchten Fallbeispiel Herr Kaiser wäre es wünschenswert, das entwickelte Analyseinstrumentarium detaillierter an weiteren Werbefiguren zu erproben. Da Herr Kaiser eine menschliche Figur darstellt, könnte die Betrachtung von (tierischen) Animationsfiguren weitere Erkenntnisse und theoretische Ausdifferenzierungen hervorbringen, z.B. hinsichtlich folgender Fragestellungen: In welchem Verhältnis stehen diese Animationsfiguren zur beworbenen Marke? Sind Unterschiede in der Publikumsadressierung auszumachen? Wie haltbar sind Annahmen zu sozialpsychologischen Effekten der parasozialen Interaktion? Die vorliegende Untersuchung ist übergeordnet an die Analyse der Strukturen und des Einsatzes von Werbefiguren herangegangen. Es wurde zunächst als wichtig erachtet,
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grundlegend zu erarbeiten, welche Werbefigurtypen ausgemacht und welche Kommunikationsstrategien beschrieben werden können. Darauf aufbauend bietet sich nun die Ausdifferenzierung der Ansätze und die Anwendung in spezifischen Medien- und Werbekontexten als Anknüpfungspunkt für zukünftige Forschungen an. Im Hinblick auf den medienspezifischen Einsatz stellt ein Desiderat an dieser Stelle die detaillierte Untersuchung der Kommunikation mit Werbefiguren in digitalen und interaktiven Medien wie sozialen Netzwerken oder Chats dar. Daran schließt die zukunftsgerichtete Reflexion darüber an, was z.B. anthropomorphe Roboter am Verkaufsort oder KI-Sprachassistenten für die Entwicklung und den Einsatz von Werbefiguren bedeuten. Eine tatsächlich interaktive und personalisierte Figurenkommunikation zieht auch Fragestellungen zu einer notwendigen Präzisierung, Reformulierung oder gar Anwendbarkeit eines parasozialen Interaktionskonzepts in der Werbekommunikation nach sich. Aufbauend auf den identifizierten Werbefigurtypen können auch produktspezifische typologische Ausprägungen untersucht werden: Welche Typen und welche kommunikativen Strategien werden für welche Produktkategorien eingesetzt? Gibt es Unterschiede zwischen Low-Involvement- (z.B. Süßigkeiten, Reinigungsartikel) und High-Involvement-Produkten (z.B. Versicherungen, Immobilien)? Diese Fragestellungen können auf Grundlage der theoretisch erarbeiteten Typologien auch in der quantitativen Forschung adressiert werden. Der Fokus dieser Arbeit lag darauf, ein medienwissenschaftliches Instrumentarium zur Analyse von Werbefiguren zu entwickeln, das detailliert die Strukturen und kommunikativen Strategien der Figur in den Blick nimmt. Wünschenswert wäre nun ergänzend dazu eine stärkere kulturwissenschaftliche Untersuchungsperspektive auf (einzelne) Werbefiguren. So könnten die Werbefunktion des Typus sowie die Verfahren der Bedeutungsgenerierung im Hinblick auf stereotype Darstellungen von Gender-Rollen oder die Repräsentation (oder Nicht-Repräsentation) ethnischer Vielfalt durch Werbefiguren in Close Readings untersucht werden. Weiterhin wären interkulturelle Vergleiche von Werbefiguren z.B. im Hinblick auf die Tendenz zu oder der ästhetischen Rahmung von bestimmten Adressierungsstrategien interessant. Die vorliegende Untersuchung bietet somit, das hat der skizzierte Ausblick gezeigt, vielfältige Anschlussmöglichkeiten für die qualitative und quantitative, medientechnolo-
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gisch und kulturwissenschaftlich interessierte Analyse von Werbefiguren. Wo die Marketingforschung zur Werbefigur die Wirkungsoptimierung fokussiert, sollten an dieser Stelle mögliche Zugänge für eine systematische, medienwissenschaftliche Analyse vorgestellt werden, die zu einem besseren Verständnis des Werbephänomens und seiner kommunikativen Operationen beiträgt. In der Einleitung wurden folgende Fragen gestellt: Wie will Familie Heins wirkungsvoll kommunizieren? In welchem Verhältnis steht Karin Sommer semiotisch betrachtet zur beworbenen Marke? Auf welche Art und Weise generiert der Persil-Mann Bedeutung? Was begünstigt die Zirkulation des HB-Männchens durch Texte und Medien? Diese Arbeit hat analytische Ansatzpunkte für die Untersuchung dieser Fragestellungen aufgezeigt.
Quellenverzeichnis Anmerkungen zu den aufgeführten Quellen: Verwendete Archivquellen sind im Kurznachweis mit einem vorangestellten ‚EA‘ für Ergo-Archiv gekennzeichnet. Dieses ‚EA‘ gibt den Hinweis, dass die dazugehörigen Angaben hier im Quellenverzeichnis unter ‚Archivquellen‘ aufzufinden sind. Die jeweilige Quelle ist dann unter der im Kurznachweis vermerkten Bezeichnung und dem angegebenen Jahr zu finden. Der Kurznachweis ‚EA Werbespot 2001‘ leitet demnach dazu an, in den Archivquellen nach ‚Werbespot 2001‘ zu suchen. Rechtschreibfehler bei Titeln oder Nutzernamen von Online-Videos und Social-Media Beiträgen wurden ohne weitere Kennzeichnung übernommen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. M. Bönighausen, Typologie und Analyse von Werbefiguren, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32332-5
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Quellenverzeichnis
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