Traumreisende: Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem [1. Aufl.] 9783839406595

Diese interdisziplinäre Studie beschäftigt sich mit drei großen Regisseuren des europäischen Autorenkinos - mit Ingmar B

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German Pages 236 [237] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK
Ingmar Bergman: Ein Leben als Theater- und Filmregisseur
Sommer, Jugend, Künstler und die Welt der Frauen
Smultronstället und die »Trilogie«
Der Einschnitt: Persona
Viskningar och rop und die 70er Jahre
Von den 80er Jahren bis heute
Filmhistorische Einordnung und Einflüsse
Die Entdeckung durch die Nouvelle Vague
André Téchiné
Téchinés Genre-Filme
Der Wendepunkt: Hôtel des Amériques
Von den 90er Jahren bis heute
Julio Medem
Eine Familiensaga im Baskenland: Vacas
Wechselspiel der Identitäten und Geschlechter: La ardilla roja
Tierra
Los amantes del círculo polar
Lucía y el sexo
DAS ERZÄHLEN IN BILDERN
Zeit-Bilder
Die fließenden Zeitebenen
Die zyklische Zeit
Beziehungs-Bilder
Familienproblematik
Geschlechterbeziehungen
Identitäts-Bilder
Das Auflösen von Identitäten
Spiegelbilder
Selbstreflexivität und Selbstreferentialität
Traum-Bilder
Traum und Surrealismus
Traum und mentale Bilder
DAS ERZÄHLEN IN TÖNEN
Die Anwendung von Musik
Die narratologischen Funktionen von Filmmusik
Die strukturellen Funktionen und Leitmotive
Die kommentierenden und verstärkenden Funktionen
Die Musik als Signal für Traum und Suggestion
Schlusswort
Literatur
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Traumreisende: Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem [1. Aufl.]
 9783839406595

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Sandra Strigl Traumreisende

Sandra Strigl (Dr. phil.) absolvierte ihr Doktoratsstudium in Romanistik an der Universität Wien und ein Masterstudium in Musikwissenschaft an der Université Paris-Sorbonne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Film, Musik, Literatur, Narratologie und Dramaturgie.

Sandra Strigl Traumreisende. Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem

Die vorliegende Publikation wurde vom Schwedischen Institut in Stockholm, der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und der Universität Wien finanziert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sandra Strigl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-659-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorwort 9

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK 11

Ingmar Bergman: Ein Leben als Theater- und Filmregisseur 11

Sommer, Jugend, Künstler und die Welt der Frauen 13

Smultronstället und die »Trilogie« 15

Der Einschnitt: Persona 17

Viskningar och rop und die 70er Jahre 21

Von den 80er Jahren bis heute 22

Filmhistorische Einordnung und Einflüsse 23

Die Entdeckung durch die Nouvelle Vague 25

André Téchiné 29

Téchinés Genre-Filme 32

Der Wendepunkt: Hôtel des Amériques 35

Von den 90er Jahren bis heute 39

Julio Medem 42

Eine Familiensaga im Baskenland: Vacas 48

Wechselspiel der Identitäten und Geschlechter: La ardilla roja 55

Tierra 61

Los amantes del círculo polar 66

Lucía y el sexo 68

DAS ERZÄHLEN IN BILDERN 71

Zeit-Bilder 71

Die fließenden Zeitebenen 71

Die zyklische Zeit 96

Beziehungs-Bilder 104

Familienproblematik 107

Geschlechterbeziehungen 112

Identitäts-Bilder 128

Das Auflösen von Identitäten 131

Spiegelbilder 135

Selbstreflexivität und Selbstreferentialität 151

Traum-Bilder 166

Traum und Surrealismus 166

Traum und mentale Bilder 171

DAS ERZÄHLEN IN TÖNEN 191

Die Anwendung von Musik 191

Die narratologischen Funktionen von Filmmusik 194

Die strukturellen Funktionen und Leitmotive 196

Die kommentierenden und verstärkenden Funktionen 208

Die Musik als Signal für Traum und Suggestion 215

Schlusswort 221

Literatur 223

Merci… … à mes grand-parents, pour avoir été mon »chez-moi« … à Maman, pour son amour et sa compréhension … à Madame Danièle Pistone, pour l’immense soutien qu’elle m’a apporté … à Alexis et Lovisa, pour être mes amours … à Monsieur Jacques Aumont, pour son aide

Danke…. … an Barbara, für ihr Dasein bei Regen und Sonne … an Stefan, für seine grenzenlose Freundschaft … an Valérie und Papa, die ich über alles liebe … an Christian, für all die feinen gemeinsamen Stunden … an Theresa, die mit mir lacht und Sorgen teilt … an Carmen, für ihre Hilfe und Liebenswürdigkeit … an Norman, dem besten Nachbarn, den ich mir wünschen konnte … an Sonja und Hilde, für alle(s) Film(wissen)e … an Prof. Birgit Wagner und Prof. Sven Hakon Rossel, für ihre wunderbare Betreuung … an das Büro für Internationale Beziehungen Wien

Tack… … till Svenska Institutet, för att göra möjligt mitt år i Stockholm … till Maaret Koskinen, för hjälpen … till Annika, Lovisa och Lisa, för att vara mina vänner

Gracias… … a Profesor Umberto Cuesta Cambra, por su ayuda … a Enrique, por haber sido una inspiración para mí

Thank you… … to Elizabeth, who encourages me to reach for the stars … and to all the people I can’t name but who I appreciate and love just as much!

Die vorliegende Publikation wurde von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und der Universität Wien finanziert. Ich möchte mich hiermit für diese großzügige finanzielle Unterstützung herzlichst bedanken.

VORWORT Anlässlich der Ausstrahlung von Saraband, des letzten Filmes von Ingmar Bergman, durch das schwedische Fernsehen am 1. Dezember 2003 organisierte die Cinémathèque française in Paris im Herbst 2003 eine Retrospektive seines gesamten Werkes, begleitet von Diskussionen mit französischen zeitgenössischen Filmregisseuren, -kritikern und -wissenschaftlern wie Jean-Claude Brisseau, Patrice Chéreau, Olivier Assayas, Pascal Bonitzer, Agnès Varda und Jacques Aumont. In diesem Zusammenhang erschien auch ein Artikel über Ingmar Bergman und seinen Einfluss auf den modernen Film in der international renommierten französischen Filmzeitschrift Cahiers du cinéma, in dem der französische Regisseur André Téchiné auf den enormen Einfluss, den der schwedische Regisseur auf sein Filmschaffen wie auf das vieler anderer Regisseure des heutigen französischen Films hatte, hinweist.1 Da der Einfluss Bergmans zwar oft erwähnt, nie jedoch konkret an einem bestimmten Regisseur untersucht wurde, erschien eine vergleichende Analyse als gewinnbringend, wobei sich André Téchiné, dessen Werk im Übrigen selten Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten ist, als besonders interessant herausstellte2 Ebenfalls (vor allem im deutschsprachigen Raum) noch wenig analysiert wurden die Filme des spanischen Regisseurs Julio Medem3, der sowohl thematisch als auch stilistisch Parallelen zu den zwei anderen Regisseuren aufweist. Ein Vergleich dieser drei Filmautoren ist deshalb erhellend, da diese unterschiedlichen Generationen und Kulturen entstammen, dennoch aber ähnliche Thematiken behandeln und sich ähnlicher stilistischer Mittel bedienen. Anhand des Vergleichs der Filme Ingmar Bergmans, der als einer der vielseitigsten und einflussreichsten Regisseure der Filmgeschichte gilt, mit denen zweier weiterer Regisseure, die bisher nur vereinzelt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen waren, sollen also Parallelen und Unterschiede herausgearbeitet und 1 2 3

Vgl. Cahiers du cinéma 583 (2003). Es gibt nur ein einziges vollständiges Buch über den Regisseur, das jedoch so weit zurückliegt, dass es Téchinés neuere Filme nicht enthält. Vgl. Alain Phillipon: André Téchiné, Paris: Cahiers du cinéma 1998. Zu nennen wäre hier die Arbeit von Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen. Die Filme von Julio Medem, Remscheid: Gardez! Verlag 2005. 9

TRAUMREISENDE

somit Entwicklungen in der filmischen Narration sichtbar gemacht werden. Aufgrund der stark narrativen Komponente in diesen Filmen, konzentrieren sich die Analysen vor allem auf narratologische Aspekte, sowohl was das Bild als auch den Ton betrifft. Narratologische Analyseschwerpunkte werfen außerdem Fragen der Darstellungsformen der vermittelten Inhalte wie auch der in den Filmen gezeigten menschlichen Beziehungen auf, die bei allen drei Regisseuren eine zentrale Rolle spielen. Das Korpus umfasst acht Filme, wobei auch andere Beispiele punktuell herangezogen werden, um ein besseres Bild der Regisseure zu vermitteln und die Thematik zu beleuchten. Nach einem einleitenden Kapitel, das einen Einblick in die Filme der drei Cineasten gewähren sollte (jedes der drei Unterkapitel musste dafür der Verfügbarkeit biografischen wie analytischen Materials angepasst werden), wird das Korpus in vier größeren Kapiteln thematisch wie stilistisch untersucht. Einleitend wird auf den Begriff der Zeit eingegangen, wobei eine Anknüpfung an die Theorien von Gilles Deleuze erfolgt. Anhand von Beispielen wird aufgezeigt, dass sich alle drei Regisseure, der Idee fließender Zeitgrenzen sowie einer zyklischen Zeit folgend, von starren Erzählstrukturen lösen. Ein weiterer wichtiger Aspekt gilt, neben der Darstellung verschiedenster Beziehungsmuster, der Identität. Auch hier entfernen sich die Regisseure von einer starren Auffassung von Identitätsformationen, wobei das Motiv des Spiegels als Symbol für die Suche nach Identität – sowohl für die Charaktere im Film als auch, in einem weiteren Schritt, für den Film an sich – zentral ist. In enger Verbindung mit dem Spiegel stehen somit auch die die Begriffe der Selbstreflexivität und Selbstreferentialität, die das abschließende Unterkapitel über die Identität bilden. Das wichtigste Bindeglied zwischen den drei Regisseuren stellt schließlich eine Traumästhetik dar, die auf den Surrealismus zurückgeht und sich bei jedem einzelnen Filmemacher auf charakteristische Weise manifestiert. Allen dreien gemeinsam ist jedoch das Einfließen einer Traumwelt in die (im Film dargestellte) Wirklichkeit. Um die Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Filmen zu unterstreichen, scheinen am Ende eines jeden Kapitels Bilder (überwiegend screenshots aus den Filmen) auf. Den Abschluss der Arbeit bildet eine narratologische Untersuchung der Filmmusik, da diese in (sich auf das Bild konzentrierenden) narratologischen Untersuchungen nur selten im Detail analysiert wird. Die deutsche Übersetzung der fremdsprachigen Zitate stammt, wenn nicht anders vermerkt, von der Verfasserin.

10

DIE

DREI

R EG I S SE U R E

IM

ÜBERBLICK

Ingmar Bergman: E i n L e b e n al s T h e a te r - u n d Fi l m r e g i s se u r Ingmar Bergman wurde 1918 als Sohn des Pastors Erik Bergman und seiner aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Frau Karin in Uppsala geboren. In seiner Autobiographie Laterna Magica1 schildert Ingmar Bergman auf sehr persönliche Weise seine Kindheit und Jugend in einem düsteren, bürgerlichen Umfeld, das durch den Beruf seines Vaters, die konfliktgeladene Beziehung der Eltern und die abweisende Haltung seiner Mutter geprägt war. Bergman selbst meint in einem Gespräch mit S. Björkman, T. Mann und J. Sima2, dass er zu seiner Mutter ein ambivalentes Verhältnis hatte. Er gesteht, dass er stets versuchte, ihr, die eine schwierige Person war, nahe zu sein. Durch diesen Versuch lernte er schnell jegliche Verhaltensweisen, um ihre Liebe und Zärtlichkeit für sich zu gewinnen.3 War die Beziehung zu seiner Mutter geprägt von Ambivalenz doch zugleich auch Liebe und Bewunderung, so dominierte in der Beziehung zu seinem Vater die Kälte und Strenge. Zweifelsohne ist die Stellung Gottes im menschlichen Leben, die immer wieder in Bergmans Filmen vorkommt, auf diesen frühen Kontakt mit der Religion durch den Vater zurückzuführen. Auch die Beziehung zwischen den Eltern war konfliktgeladen, wie Bergman selbst in Laterna Magica4 schildert – ebenfalls ein autobiographisches Element, das in seinen Filmen durchwegs zu finden ist. Eine wichtige Person in Bergmans Leben war auch seine Großmutter mütterlicherseits. Die magische Atmosphäre in ihrem großen Haus in Uppsala, die Bergman als Kind so faszinierte, ist in so manchen seiner 1 2

3 4

Laterna Magica, Stockholm: Norstedts 1987. Le cinéma selon Bergman. Entretiens avec S. Björkman, T. Mann et J. Sima, Paris: Editions Seghers 1974. Zit. nach Thi Nhu Quynh Ho: La femme dans l’univers bergmanien: analyse de quatre films d’Ingmar Bergman, Fribourg: Editions universitaires 1975, S. 21. Ebd. S. 22. Vgl. S. 79. 11

TRAUMREISENDE

Filme zu spüren, vor allem in Fanny och Alexander (Fanny und Alexander, 1982). Bei ihr konnte er mit zehn Jahren das erste Mal dank eines Filmprojektors Filme zu Hause ansehen. Schon als Kind war der Film und das Theater für Bergman Zufluchtsort aus der stickigen, streng religiösen und von Autorität geprägten Atmosphäre des Elternhauses. Im Theater und vor allem im Film fand er ein Ausdrucksmittel für seine von jeher blühende Fantasie. »Da die Wirklichkeit nicht mehr ausreichte, begann ich also, zu fantasieren und Altersgenossen mit unheimlichen Geschichten um meine heimlichen Taten zu unterhalten. […] Schließlich zog ich mich aus dem gemeinschaftlichen Leben zurück und behalt meine Traumwelt für mich. […] Es liegt ziemlich logisch, dass die Kinematographie zu meinem Ausdrucksmittel wurde. Ich konnte mich durch eine Sprache verständigen, die an den Worten vorbeiging, die mir fehlten, an der Musik, die ich nicht beherrschte, an der Malerei, die mich nicht berührte. Plötzlich hatte ich eine Möglichkeit, mit der Umwelt in einer Sprache zu kommunizieren, die buchstäblich von Seele zu Seele gesprochen wird […]. Mit dem seit der Kindheit aufgestauten Hunger warf ich mich über mein Medium und seit zwanzig Jahren habe ich unermüdlich und in einer Art Wut Träume, Geisteserlebnisse, Fantasien, Wahnsinnsausbrüche, Neurosen, Glaubenskrämpfe und schlicht Lügen vermittelt.«5

Nach dem Schulabschluss begann Bergman das Studium der Literatur und Kunstgeschichte, brach aber bald ab, um als Theaterregisseur tätig zu sein, was zum Bruch mit seinen Eltern führte. Er inszenierte Stücke für Studenten und begann bald, selbst welche zu schreiben und aufzuführen. Bereits nach kurzer Zeit war sein Name in Kulturkreisen bekannt. In Folge wurde ihm eine Stelle in der Drehbuchabteilung der Svensk Filmindustri angeboten, womit Ingmar Bergman den Schritt in die Welt des Films geschafft hatte, ohne dabei aber das Theater zu verlassen. 1944 wurde er zum Leiter des Theaters in Helsingborg berufen und zwei Jahre später wechselte er an das Theater in Göteborg. Ingmar Bergman wird sein ganzes Leben zwischen Theater und Film teilen. Der erste Film, für den Ingmar Bergman selbständig Regie führte, ist das Psychodrama Kris (Krise, 1946), dessen Erfolg mäßig war, woraufhin die Svensk Filmindustri Bergman wieder mehr mit dem Schreiben von Drehbüchern betraute. Nur Lorens Marmstedt, ein unabhängiger Produzent, glaubte an den jungen Regisseur und produzierte dessen Filme Det regnar på vår kärlek (Es regnet auf unsere Liebe, 1946), Skepp till Indialand (Schiff nach Indialand, 1947), Musik i mörker (Musik im Schatten, 1948) und Fängelse (Gefängnis, 1948). Diese Produktionen 5

Ingmar Bergman: Bilder, Stockholm: Nordstedts 1990, S. 48f. 12

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

erlaubten es Bergman schließlich, für seine großen Filme aus den 50er Jahren zur Svensk Filmindustri zurückzukehren. Det regnar på vår kärlek und Musik i mörker verweisen auf seine Faszination für den poetischen Realismus von Marcel Carné, vor allem Quai des Brumes (Hafen im Nebel, 1938), während in den Filmen Skepp till Indialand und auch Hamnstad (Hafenstadt, 1948) der Einfluss des Neorealismus zu spüren ist. Auch für Alfred Hitchcock hegte er eine gewisse Vorliebe, wie in Sånt händer inte här (Menschenjagd, 1950) sichtbar wird.6 Trotz all dieser unterschiedlichen Einflüsse war Bergman jedoch von Anfang an auf der Suche nach einer eigenen Filmsprache, die sich in den 50er Jahren erst so richtig herauskristallisierte. Bereits in seinen ersten Filmen stehen der Mensch und die menschlichen Beziehungen in Krisensituationen im Vordergrund.

Sommer, Jugend, Künstler und die Welt der Frauen Nach seinen teilweise sehr dunklen Anfängen drehte Bergman eine Reihe von Filmen, die trotz Tragik auch helle Momente des Glücks enthalten. Was diese zudem auszeichnet, ist, dass sie im Sommer spielen (Bergman arbeitete zu dieser Zeit das ganze Jahr über im Theater und drehte im Sommer einen Film) und die Wärme und das Licht somit auch bedeutend zum Glücksgefühl der Protagonisten beitragen. Oft handeln sie auf irgendeine Weise von Musik, und im Zentrum stehen (junge) Frauen. In Bergmans filmischem Werk haben das Theater und die Musik insgesamt einen zentralen Stellenwert. In seinen ersten Schaffensperioden stellt die Musik eine Art Zuflucht für die Protagonisten dar. In Till glädje (An die Freude, 1950) sind alle Protagonisten Musiker, allen voran der junge Violinist Stig (Stig Olin), der während einer Probe von Beethovens Neunte Symphonie vom Tod seiner Frau und Tochter erfährt. Er erinnert sich an alle Stationen in ihrem gemeinsamen Leben, an Glücksmomente, die Hochzeit, die Geburt der zwei Kinder und die Trennung bis hin zur Versöhnung. Sein alter Dirigent (Victor Sjöström) rät ihm, neue Kraft aus der Musik zu schöpfen, und so kehrt er zur Probe zurück und spielt die Ode an die Freude mit noch nie da gewesener Kraft. Bergman gelingt es in dieser Sequenz, die Musik den Zuschauern filmisch derart näher zu bringen, dass sie dasselbe empfinden können wie die Protagonisten im Film. Musik stellt für Bergman also etwas Göttliches, Magisches dar, durch das der Mensch sich entfalten und sich selbst übertreffen kann. In diesem Sinne ist auch die Schlusssequenz von Sommarlek (Einen Som6

Vgl. N. T. Binh: Ingmar Bergman. Le magicien du Nord, Paris: Gallimard 1993, S. 29ff. 13

TRAUMREISENDE

mer lang, 1951) zu sehen, in der die junge Primaballerina Marie (MajBritt Nilsson) mit ihrem Auftritt in Schwanensee die Vergangenheit mit ihrem verstorbenen Geliebten hinter sich lassen und ihre neue Liebe akzeptieren kann. Von Bedeutung in diesem Film ist neben dem Gefühl von Sommerglück, das in Bergmans Filmen zu dieser Zeit eine wichtige Komponente darstellt, auch das Motiv der Reise: Marie fährt in die Stockholmer Archipele, um sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Film zu Bergmans Lieblingsfilmen gehört: »I made Sommarlek with my heart. The plot had to do with the best there is: Summer vacation in the archipelago and The First Great Love, two manifestations rather fresh in my memory, but already seeming incredibly far away – yes, experienced in another and happier life.«7

Das Gefühl von Sommer und Freiheit wird auch in Sommaren med Monika (Ein Sommer mit Monika, 1953) vermittelt. Vor allem die Regisseure der Nouvelle Vague waren von der teils provozierenden Freizügigkeit und antikonformistischen Haltung der Protagonistin Monika (Harriet Andersson) fasziniert, weil Bergman mit ihr ein neues Frauenbild entwarf. Monika ist eine junge Frau, die ihr Leben in Freiheit, fern ihrer bescheidenen sozialen Herkunft, leben möchte und dies mit ihrem Freund auch tut, bis das Geld nicht mehr reicht und sie schwanger wird. Nach der Heirat und der Geburt des Kindes hält es Monika im erstickenden Familienhaushalt nicht mehr aus und verlässt Mann und Kind. Auf die Bedeutung dieses Films für die Nouvelle Vague wird später noch eingegangen werden. Wichtig in Bezug auf Bergmans Filmästhetik ist die Sequenz, in der Monika einen ungewöhnlich langen Moment in die Kamera blickt, nachdem sie ihren Mann betrogen hat – als ob sie mit ihrem Blick den/die ZuschauerIn provozierend und rechtfertigend anblicken wolle. Kvinnors väntan (Sehnsucht der Frauen, 1952) brachte Bergman von all seinen »Sommerfilmen« den größten finanziellen Erfolg ein und zeichnet sich durch seinen heiteren Erzählton aus: vier verheiratete Frauen und eine junge unverheiratete warten eines Abends in einem Sommerhaus auf die Rückkehr ihrer Männer. Die vier Beziehungen stellen die vier unterschiedlichen Stadien einer Beziehung dar, von der Verliebtheit bis hin zur Desillusion in der Ehe. In Rückblenden erzählt jede der Frauen ihre persönliche Geschichte. Der Film endet damit, dass die Männer zurückkommen und die junge Frau mit ihrem Geliebten hinaus 7

Zit. nach Birgitta Steene: Ingmar Bergman, New York: Twayne Publishers 1968, S. 50. 14

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

in den schwedischen Sommer zieht. Somit fügt Bergman dem teilweise bitteren, desillusionierten Ton einen heiteren, hoffnungsvolleren hinzu. Interessant bei diesem Film ist vor allem – wie bei den vorhergehenden auch – dass aus der Perspektive der Frauen erzählt wird. Bergman versucht hier also, ihre Stellung einzunehmen und sich ihrer Welt und Probleme anzunehmen. Von dieser Schaffensperiode an stellen Frauen die Hauptfiguren im Großteil seiner Filme dar. So handelt Kvinnodröm (Frauenträume, 1955) von der Desillusion zweier unverheirateter berufstätiger Frauen, in Nära livet (Am Anfang des Lebens, 1958) treffen drei Frauen in der Geburtenstation eines Krankenhauses aufeinander und in Jungfrukällan (Die Jungfrauenquelle, 1960) geht es um Vergewaltigung und Rache. Zusammenfassend kann man zu dieser Schaffensperiode also sagen, dass drei Aspekte mehr oder weniger von Bedeutung sind: das Gefühl von Sommer, Freiheit und Nostalgie ist vorherrschend; die Protagonisten sind Künstler; und die Protagonisten sind Frauen, wobei diese als stärker und dem Leben näher dargestellt werden als die Männer.8 Auch zwei Komödien wurden in dieser Zeit unter Bergmans Regie produziert, En lektion i kärlek (Lektion in Liebe, 1954) und Sommarnattens leende (Das Lächeln einer Sommernacht, 1955). Nicht unwichtig ist, dass Bergman zu dieser Zeit am Theater in Malmö tätig war und Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe inszenierte, deren Ironie wohl einen gewissen Einfluss auf die beiden Komödien hatte. Auch der Einfluss von Pirandello und Ionesco ist in En lektion i kärlek zu spüren.9 Das Theater ist insgesamt für sein Filmschaffen stets eine Quelle der Inspiration geblieben, was seinen Ausdruck in sehr vielen seiner Filme findet, sei es indem er das Theater thematisiert oder formal darauf verweist, wie in Djävulens öga (Das Auge des Teufels, 1960), einer sehr theatralischen Verfilmung des Don Juan-Mythos. So auch in seinem Film Det sjunde inseglet (Das siebente Siegel, 1957), den man als mittelalterliches Schauspiel bezeichnen könnte und in dem ebenfalls Gaukler, Clowns und Saltimbanques vorkommen.

Smultronstället und die »Trilogie« Wie in Det sjunde inseglet, so wird die Hauptfigur in Smultronstället (Wilde Erdbeeren, 1957) vom Tod verfolgt, und auch in diesem Film begibt sich der Protagonist (in diesen beiden Filmen wohl aus autobio8 9

Vgl. Marc Gervais: Ingmar Bergman. Magician and Prophet, Montreal: McGill-Queen’s University Press 1999, S. 35. Vgl. N. T. Binh: Ingmar Bergman. Le magicien du Nord, S. 50. 15

TRAUMREISENDE

graphischen Gründen keine Frau) auf eine Reise, die als Symbol für die Suche nach dem eigenen Ich gesehen werden kann. Einen Tag vor der Verleihung seines Ehrendoktors in der Kathedrale von Lund träumt der 78-jährige Arzt und Wissenschaftler Isak Borg (Victor Sjöström) von seinem eigenen Tod. Auf der Reise von Stockholm nach Lund setzt sich Isak mit seiner Vergangenheit und Identität auseinander. Dass Ingmar Bergman mit diesem Film einen inneren Konflikt, nämlich den mit seinen Eltern, zu lösen versuchte, belegt die Tatsache, dass der Name Isak Borg dieselben Initialen wie Ingmar Bergman sowie die Worte is (Eis) und borg (Burg) enthält: »Das war einfach und billig. Ich modellierte eine Figur, die äußerlich meinem Vater gleichte, die aber durch und durch ich selber war.«10 Isak träumt und erinnert sich zurück an seine Jugend, wo er auf seine Jugendliebe Sara (Bibi Andersson) trifft, wie sie wilde Erdbeeren pflückt. Wilde Erdbeeren symbolisieren in Bergmans Filmen – wie bereits in seinen »Sommerfilmen« und Det sjunde inseglet – Jugend und das ephemere Glück. Der Protagonist erinnert sich, dass Sara seinen Bruder Sigfrid ihm vorgezogen hat, weil dieser lustiger als Isak war, der sie stets mit Gespräche über Gott und das Leben langweilte. Dass Isak inzwischen ein egoistischer und kalter alter Mann geworden ist, spiegelt sich in seinem eigenen Sohn Evald (Gunnar Björnstrand) wider, der das Leben eigentlich nur mehr noch erträgt, also ein »lebender Toter« ist. Er und seine Frau Marianne (Ingrid Thulin) haben sich vorübergehend getrennt, und so begleitet Marianne ihren Schwiegervater, bei dem sie einige Tage Unterschlupf gefunden hat, zurück zu ihrem Mann nach Lund. Auf der Reise ist die Spannung zwischen Schwiegervater und -tochter zu spüren, und Marianne wirft Isak, ebenso wie Evald, Egoismus vor. Im Laufe der Reise, die zu Isaks Reise zu sich selbst wird, kommen die beiden sich jedoch näher, und Marianne erzählt Isak, dass sie schwanger ist, Evald jedoch aufgrund seines Weltpessimismus kein Kind möchte. Im Laufe der Reise treffen die beiden auf drei junge Anhalter: zwei Männer und eine Frau, die nicht nur wie Isaks Jugendliebe Sara heißt, sondern verblüffende Ähnlichkeit zu ihr aufweist (beide Rollen werden von Bibi Andersson gespielt) und ebenfalls zwischen zwei Männern steht – Anders (Folke Sundquist), einem atheistischen Rationalisten, der Arzt werden möchte, und Viktor (Björn Bjelfvenstam), einem Seminaristen. Während der Fahrt kommt es fast zu einem Zusammenprall mit einem anderen Auto, das in den Graben fährt, woraufhin der Fahrer und dessen Frau ein Stück in Isaks Auto mitfahren. Die Disharmonie und Kälte, die zwischen dem Ehepaar Alman herrscht, spiegelt Isaks eigene Ehe wider. In seinem späteren Albtraum sieht er seine tote Frau, wie sie ihren Liebhaber trifft. 10 Ingmar Bergman: Bilder, S. 20. 16

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

Smultronstället ist also die Ich-Erzählung eines alternden Mannes, der, bewegt durch den Traum seines eigenen Todes, sein Leben revuepassieren lässt, wobei subjektive Wahrnehmung und Traum nahtlos in die Handlung eingewoben sind. Über die Traumästhetik dieses Films schreibt Bergman folgendes: »Eigentlich lebe ich ständig in meinem Traum und bin in der Wirklichkeit nur auf Besuch. In Wilde Erdbeeren bewege ich mich ohne Anstrengung und ziemlich ungezwungen zwischen verschiedenen Ebenen – Zeit, Raum und TraumWirklichkeit.«11

Dass dieser Film autobiographische Züge aufweist, vor allem was die Eltern-Kind-Beziehung und den versöhnlichen Ton gegen Ende des Films betrifft, wo Isak seinen Eltern begegnet, die ihm wohlwollend zuwinken, belegt folgendes Zitat: »Ich suchte nach meinem Vater und meiner Mutter, aber ich konnte sie nicht finden. Die Schlussszene in Wilde Erdbeeren ist folglich stark von Sehnsucht und Wunschdenken geprägt: Sara nimmt Isak Borg bei der Hand und führt ihn zu einer sonnigen Waldlichtung. Auf der anderen Seite der Meerenge kann er seine Eltern erblicken. Sie winken ihm zu. […] Ich verstand damals nicht – und verstehe bis heute nicht ganz – wie sehr ich mit Wilde Erdbeeren meine Eltern anflehte: seht mich, versteht mich und – wenn möglich – verzeiht mir.«12

Bergmans drei nächste Filme werden aufgrund ihrer gemeinsamen Gottesthematik oft als »Trilogie« bezeichnet: Såsom i en spegel (Wie in einem Spiegel, 1961), Nattvardsgästerna (Licht im Winter, 1963) und Tystnaden (Das Schweigen, 1963). Alle drei Filme handeln von Menschen, die den Glauben an Gott verloren haben und sich im Stich gelassen fühlen. Obwohl sie an Einsamkeit und mangelnder Wärme und Liebe leiden, wollen sie die Hoffnung nicht ganz aufgeben.

Der Einschnitt: Persona Persona (1966) ist ein Film, der nicht nur in Ingmar Bergmans Werk »aus dem Rahmen fällt« und einen speziellen Platz einnimmt, sondern er steht mit seiner Selbstreflexivität und seinem experimentellen Charakter allgemein für die Entwicklungen in der Kunstszene, die sein Entstehen begleitet haben. 11 Ebd., S. 22. 12 Ebd., S. 20. 17

TRAUMREISENDE

»[…] Persona certainly stands today as one of the supreme examples of modernist art the cinema has yet produced. Like the central works of modernism in other forms – Picasso’s cubist paintings, Pirandello’s plays, Eliot’s The Waste Land, Joyce’s Ulysses – it exhibits the qualities of fragmentation, selfreflexivity, and ambiguity associated with the movement that came into prominence at the beginning of the century while retaining a spirit of examination that makes it still seem ›a film in search of its own laws.‹«13

Es ist unmöglich, diesen Film in ein paar Zeilen zusammenzufassen. Im Rahmen der Filmanalysen wird ihm daher der Platz eingeräumt werden, der ihm gebührt. An dieser Stelle soll nur kurz auf den Inhalt eingegangen und darauf hingewiesen werden, dass dieser Film eine Sonderstellung in Bergmans Schaffen einnimmt, denn in keinem anderen Film wagt Bergman wohl so viel wie in diesem. Persona ist der experimentellste all seiner Filme und der radikalste, was die Selbstreflexivität des Films betrifft. Bergman wollte diesen Film übrigens ursprünglich Cinematografet (das schwedische Wort für Kinematographie) nennen, was ein wichtiger Hinweis darauf ist. Dass Persona unter anderem den Film selbst als illusionsschaffendes Medium zum Thema hat, wird gleich zu Beginn sichtbar: ein Bildschirm wird belichtet und ein Projektor lässt eine Reihe an Bildern vorüberziehen, die teilweise Zitate aus Bergmans früheren Filmen sind und deren Symbolgehalt und unzusammenhängende Abfolge an Buñuels und Dalís Un chien andalou (Ein andalusischer Hund, 1929) erinnern. Dann sieht man ein Kind, das erwacht und den überdimensionalen Bildschirm berührt, auf dem nun abwechselnd zwei Frauengesichter gezeigt werden, die sich verblüffend ähnlich sehen. Im Vorspann werden verschiedenste Bilder eingeblendet, dann folgt völlige Stille und die eigentliche Geschichte beginnt. Sie handelt von der Schauspielerin Elisabet Vogler (Liv Ullmann), die während einer Vorstellung plötzlich kein Wort mehr über die Lippen bringt. Nachdem sie zu reden aufgehört hat, wird sie in ein Krankenhaus gebracht, wo Schwester Alma (Bibi Andersson) mit ihrer Obhut betraut wird. Die Ärztin schickt Patientin und Krankenschwester auf eine Insel, wo Elisabet in einer Villa genesen soll. Da Elisabet kein Wort von sich gibt, füllt Alma das Schweigen, indem sie ununterbrochen von sich erzählt, und nachdem Elisabet geduldig und scheinbar wohlwollend zuhört, erzählt Alma ihre intimsten Geheimnisse, von ihrer Sexualität und einer Abtreibung. Als Alma eines Tages einen Brief entdeckt, den Elisabet an die Ärztin geschrieben hat und in dem sie sich über die geschwätzige Alma lustig macht, verwandelt sich ihre Zu13 Lloyd Michaels: Bergman and the Necessary Illusion. An Introduction to Persona, in: Lloyd Michaels (Hg.): Ingmar Bergman’s Persona, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 7. 18

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

neigung zu Elisabet jedoch in Hass- und Rachegefühle. Nachdem Alma absichtlich einen Glassplitter auf dem Boden liegen lässt und Elisabet sich verletzt, zerreißt das Filmband und fängt Feuer. Danach folgt unter anderem eine Traumsequenz, in der Alma – wobei nicht mit Gewissheit feststellbar ist, wem diese Sequenz zuzuordnen ist – träumt, dass Elisabets Mann Alma für seine Frau hält und sie vor Elisabets Augen liebt. Nach dieser Traumsequenz deckt Alma Elisabeths Vergangenheit auf, ihr Versagen als Mutter, ihren fehlgeschlagenen Versuch abzutreiben und ihre Schuldgefühle, ihren wider Erwarten geborenen Sohn nicht lieben zu können. Diese Sequenz wird zweimal gezeigt: einmal sehen wir Alma, wie sie auf Elisabet einredet, das andere Mal Elisabet, wie sie unter den harten Worten schockiert zusammenzuckt. Daraufhin wiederholt sich die Einstellung vom Beginn des Films, wo sich Elisabets und Almas Gesicht abwechseln und schließlich zu einer erschreckenden Hybride werden. Alma hat in der Folge einen Wutausbruch, in dem sie Elisabet angreift und ihr droht, sie mit kochendem Wasser zu überbrühen. Am Ende des Films verlassen beide die Insel, Alma nimmt den Bus und Elisabet steht wieder als Elektra im Rampenlicht, diesmal in einem Studio, wo Probeaufnahmen von ihr gemacht werden. Der Film endet wie er begonnen hat, nämlich mit dem Kind, wahrscheinlich Elisabets Sohn, der den überdimensionalen Bildschirm berührt. Das Filmband rollt aus der Spule, und der Bildschirm wird wieder schwarz. Persona hinterfragt also die starre Definition von Identität anhand der Geschichte zweier Frauen: einer Krankenschwester, die anfangs Bewunderung und Zuneigung für die Schauspielerin empfindet, dann aber nur mehr noch Eifersucht und Hass, nicht so sein zu können wie sie und sich ihrer eigenen Identität beraubt zu fühlen; und einer Schauspielerin, die beschlossen hat, zu schweigen, da das Theater, die Sprache und das Leben in der Gesellschaft allgemein nur aus Lügen bestehen. Zweifellos kann die Selbstreflexivität des Films auf Bergmans eigene Identitätskrise als Regisseur und seine Hinterfragung der Rolle der Kunst in einer ohnehin schon von menschlichem Drama geprägten Welt zurückgeführt werden.14 Die Idee zu diesem Film kam Bergman, als er mit einer Lungenentzündung und einer Penizillinvergiftung im Krankenhaus lag und ein Bild von Bibi Andersson und Liv Ullmann sah und von deren Ähnlichkeit verblüfft war. Ähnlich wie Fellinis Otto e mezzo (8 1/2, 1963) kann Persona als ein Film angesehen werden, der dem Regisseur dazu diente, seine Identitätskrise als Künstler zu überwinden: »Ich habe einmal gesagt, dass Persona mein Leben gerettet hatte. Das war keine Übertreibung. Wenn ich nicht die Kraft für diesen Film gefunden hätte, wäre 14 Vgl. Birgitta Steene: Ingmar Bergman, S. 117. 19

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das wahrscheinlich das Ende meiner Karriere gewesen. […] Heute denke ich, dass ich mit Persona – und später mit Schreie und Flüstern – so weit gekommen bin, wie ich nur kommen kann; dass ich in aller Freiheit unaussprechliche Geheimnisse antastete, die nur die Kinematographie enthüllen kann.«15

Der Hinweis auf den Film als Artefakt und Fiktion findet seinen Platz auch in all seinen späteren Filmen, wenn auch in geschwächter Form, ebenso wie das Ineinanderfließen von Fiktion, Traum, Albtraum und Unbewusstem. In Vargtimmen (Die Stunde des Wolfes, 1968) kommt ein kurzes musikalisches Zwischenspiel in einem Marionettentheater vor, ein beklemmender Albtraum, der der Vorbote für die gesamte Erzählung ist. Dieser Film handelt von einem Maler, Johan (Max von Sydow), der seine Kunst und seine innere Welt nicht mehr von der äußeren trennen kann und schließlich auf seine Frau Alma (Liv Ullmann) schießt und einen kleinen Jungen dabei tötet. Skammen (Schande, 1968) wiederum beschreibt das Leben eines Musikerpaares, das aber im Film nie Musik spielt, und wie der Krieg die Welt in ein Chaos verwandelt. Dieser Krieg nimmt – ähnlich wie in Tystnaden – keine konkrete Gestalt an, sondern behält als abstrakter Konflikt seine universelle und zeitlose Aktualität. Hat in den Filmen der 40er und 50er Jahre die Kunst einen therapeutischen Zweck, so entlarvt sie in den Filmen der 60er Jahre das menschliche Dasein als ein Marionettentheater. Zwei weitere Filme, die in dieser Zeit entstanden sind, stellen ebenfalls den Künstler und die demaskierende Wirklichkeit in den Mittelpunkt: En Passion (Passion, 1969) handelt von einem Mord, dessen Täter nie gefunden wird, und vier Personen, darunter dem Bildhauer Andreas (Max von Sydow), der sich endlich fern der gesellschaftlichen Zwänge selbstverwirklichen kann. In Riten (Der Ritus, 1969) werden vier Schauspieler von einem Richter vorgeladen, der ihr Stück zensuriert hat, doch wird am Schluss der Richter selbst verurteilt und stirbt an einem Herzinfarkt, während die Schauspieler vor seinen Augen das »obszöne« Stück aufführen. Bergmans Filme der 60er und 70er Jahre zeichnen sich also insgesamt durch eine offenere, musikalische und traumartige Erzählstruktur aus: »Whereas the films of the fifties were storycentered, Bergman now experiments with more esoteric narrative modes.«16

15 Ingmar Bergman: Bilder, Stockholm: Nordstedts 1990, S. 65. 16 James F. Scott, zit. n. Maaret Koskinen: Spel och speglingar. En studie i Ingmar Bergmans filmiska estetik, Stockholm: Nordstedts 1993, S. 23. 20

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Viskningar och rop und die 70er Jahre Mit Viskningar och rop (Schreie und Flüstern, 1973) ist Bergman ein weiteres international anerkanntes Meisterwerk gelungen. Dieser Film spricht buchstäblich in Schreien und Flüstern von Liebe, Wärme und Barmherzigkeit und deren Abwesenheit sowie vom Tod: zwei Schwestern, Karin (Ingrid Thulin) und Maria (Liv Ullmann), sind zu ihrem Familienhaus zurückgekehrt, um ihrer sterbenden Schwester Agnes (Harriet Andersson) beizustehen. Eine vierte Frau, Anna (Kari Silwan), die Bedienstete des Hauses, wacht am Bett der Toten, mit der sie eine tiefe Zuneigung verbindet. Wie in seinen vorigen Filmen, so lässt Bergman auch hier die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Erinnerung und Traum verwischen. Die vier Protagonistinnen – die männlichen Charaktere stellen nur Randfiguren dar – stehen für die »vier Gesichter« von Bergmans Mutter, wie Bergman sich selbst einmal dazu äußerte (eine der Hauptfiguren trägt wie Bergmans Mutter den Namen Karin). Dieser Film wird oft auch als eine »Komposition für vier Instrumente« bezeichnet.17 Im Gegensatz zu den Filmen aus den vorhergehenden Jahren hat dieser einen versöhnlicheren Ton. Zwar stellen Karin und Maria negative Charaktere dar – die eine ist kalt und frustriert, die andere oberflächlich und egozentrisch – doch ist die sterbende und leidende Agnes dankbar und glücklich, in Gegenwart ihrer Schwestern sterben zu können, und sie beschreibt dieses Gefühl, von Wärme und Liebe umgeben zu sein, als einen der schönsten Momente in ihrem Leben. Die einzige Person, die ihr jedoch in ihren schwersten Stunden beisteht, ist Anna, die ihr Kind verloren hat und seitdem Agnes wie ihr eigenes umsorgt. Obwohl Marias Versuch, nach Agnes‹ Tod ihrer kalten und frigiden Schwester Karin näher zu kommen, fehlschlägt, zeigt die Schlusssequenz Agnes, wie sie träumt, mit ihren Schwestern und Anna in Weiß gekleidet durch den herbstlich gefärbten Park zu spazieren. Der Film ist von Träumen und Erinnerungen in Form von Rückblenden geprägt und in rote und weiße Farben getaucht, was ihn zu einem weiteren Beispiel für Bergmans symbolträchtige Traumästhetik macht. »Das erste Bild kehrte immer wieder zurück: das rote Zimmer mit den in weiß gekleideten Frauen. Es kommt vor, dass Bilder beharrlich wiederkehren, ohne dass ich weiß, was sie von mir wollen. So verschwinden sie und kehren dann zurück und sehen genau gleich aus. Vier in weiß gekleidete Frauen in einem roten Zimmer. Sie bewegten sich und flüsterten einander zu und waren äußerst geheimnisvoll.«18 17 Vgl. Marc Gervais: Ingmar Bergman, S. 120. 18 Ingmar Bergman: Bilder, S. 83. 21

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Seine drei weiteren Filme drehte Bergman fürs Fernsehen: das sechsteilige Beziehungsdrama Scener ur ett äktenskap (Szenen einer Ehe, 1973) mit Liv Ullmann und Erland Josephson in den Hauptrollen, die Opernverfilmung von Mozarts Zauberflöte (Trollflöjten, 1975) und Ansikte mot ansikte (Von Angesicht zu Angesicht, 1976), in dem eine Psychologin (Liv Ullmann) selbst Opfer der Dämonen wird, die sie bei anderen behandelt, und nicht mehr zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann. Nachdem Bergman der Steuerhinterziehung beschuldigt wurde und Schweden für einige Zeit verließ, entstand 1977 der Film Ormens ägg (Das Schlangenei) in München und 1978 Höstsonat (Herbstsonate) in Oslo, der zum ersten Mal beide berühmten Bergmans – Ingmar und Ingrid Bergman (die allerdings in keinem Verwandtschaftsgrad zueinander stehen) zusammenführt. Ingrid Bergman spielt Charlotte, eine erfolgreiche Konzertpianistin, die nach langen Jahren ihre Tochter Eva (Liv Ullmann) besucht. Ähnlich wie Isak Borg in Smultronstället, so wird auch Charlotte schmerzhaft bewusst, dass sie ihr Egoismus kalt und einsam gemacht hat. Im Titel Herbsonate steckt sowohl die Jahreszeit Herbst, mit der aufgrund ihrer warmen Farben und der Reife der Natur oft Versöhnung assoziiert wird, als auch die Musik, die hier wie in so vielen anderen von Bergmans Filmen Form und Inhalt bestimmt. Bergman selbst nannte seinen Film aufgrund seiner Stimmung einen Film für zwei Celli.19

Von den 80er Jahren bis heute 1979 schrieb Bergman die Drehbücher für seine zwei letzten Spielfilme. Aus dem Leben der Marionetten (1980) wurde vom deutschen Fernsehen in München koproduziert und handelt vom Mord an einer Prostituierten durch Peter Egerman (Robert Atzorn), einen äußert normal scheinenden, verheirateten Geschäftsmann. Die Frage, warum dieser Mann getötet hat, zieht sich durch die einem Puzzle ähnelnde Erzählstruktur. Der Film greift viele von Bergmans bevorzugten Themen auf, wie den Voyeurismus, die unmögliche Beziehung, das Doppelgänger-Motiv und sexuelle Identität. Bergmans letzter Kinofilm, Fanny och Alexander (Fanny und Alexander, 1982), stellt in vielerlei Hinsicht Bergmans Mikrokosmos dar. Mit dieser Erzählung begibt sich der Regisseur auf eine magische Reise in seine eigene Kindheit zurück. Der gesamte Film, eine Art skandinavische Familiensaga, wird aus der Perspektive von Alexander (Bertil Gu19 Vgl. Joseph Marty: Ingmar Bergman. Une poétique du désir, Paris: Les Éditions du Cerf 1991, S. 179. 22

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ve), Bergmans alter ego, erzählt, und somit werden der Magie und Fantasie, wie sie nur von einem Kind empfunden werden können, keine Grenzen gesetzt. Nach diesem Film wandte sich Bergman vom Kino ab und widmete sich fast ausschließlich dem Theater. Es folgten noch Fernseh- und Kurzfilme, Drehbücher, Memoiren und ähnliches. Bergman ist auch heute noch aktiv, wie sein letzter Fernsehfilm Saraband (2003) gezeigt hat. Es handelt sich hier um die Fortsetzung von Scener ur ett äktenskap, mit den alternden Schauspielern Liv Ullmann und Erland Josephson in ihren ursprünglichen Rollen.

Filmhistorische Einordnung und Einflüsse Zweifelsohne gilt Bergman als einer der wichtigsten und einflussreichsten Regisseure des europäischen Autorenkinos der Nachkriegszeit. Von seinem ersten bis zum letzten Film spannt sich eine ganze Bandbreite von Werken, an denen man deutlich eine Entwicklung im Schaffen des Regisseurs erkennen kann, durch die sich jedoch gleichzeitig ein roter Faden zieht, der Bergmans Filmästhetik kennzeichnet. Natürlich wurde auch Bergman von anderen Künstlern beeinflusst und inspiriert, und es kann daher von Interesse sein, einen kurzen Blick auf diese unterschiedlichen Einflüsse zu werfen. Joseph Marty führt Bergmans Vorliebe für das Mystische, Lyrische und den Traum auf dessen schwedische Kultur und deren literarische Vertreter zurück: »Alle Tore des Imaginären wurden von den großen schwedischen Schriftstellern geöffnet, die auf der Suche nach den seltsamsten Mysterien des Übernatürlichen waren und gleichzeitig vom Körper und der Sinnlichkeit besessen waren. […] Diese Alchemie des Traumes und der Realität, des Religiösen und des Körperlichen, des Mysteriums und der Suche, die im chiaroscuro der Angst und der Leidenschaft, der Einsamkeit und der Sehnsucht nach Gemeinschaft gesungen wird, ist das Rohmaterial der schwedischen Ausdrucksweise.«20

Allen voran ist hier August Strindberg (1848-1912) zu nennen, dessen Werk (Fräulein Julie, 1888; Traumspiel, 1902) Ingmar Bergman durch seine Karriere sowohl als Theater- als auch als Filmregisseur stets begleitet hat. Bergman verweist unter anderem in Fanny och Alexander auf Strindberg, indem er Alexanders Großmutter (Gunn Wållgren) das Vorwort von Strindbergs Traumspiel (Ett drömspel) am Ende des Films vorlesen lässt. Auch die Pioniere des schwedischen Stummfilmes Victor 20 Ebd., S. 34. 23

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Sjöström, Mauritz Stiller und Alf Sjöberg prägten Bergmans Filmschaffen. Hier ist der Film Smultronstället zu nennen, der eine Art Hommage an Victor Sjöströms Körkarlen (Der Fuhrmann des Todes, 1921) ist und in dem Sjöström selbst die Hauptrolle spielt. Eine weitere Thematik, die sowohl in der schwedischen Literatur als auch im schwedischen Film wiederholt zu finden ist, ist der Konflikt zwischen dem Individuum und der Autorität, verkörpert durch Gesellschaft, Kirche und Familie, die sich dem individuellen Glück entgegenstellt. So zeigen Bergmans erste Filme (vor allem Hamnstadt, 1948) Ähnlichkeiten zum französischen poetischen Realismus von Carné und Duvivier und zum italienischen Neorealismus auf.21 Wie zahlreiche Kunstschaffende war natürlich auch Bergman von zeitgenössischen philosophischen und künstlerischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst, besonders von Sartre, Camus und dem Existentialismus. Bergman jedoch dem Realismus oder dem Existentialismus zuzuschreiben hieße, seine ganz spezielle Filmästhetik außer Acht zu lassen, die sich durch den Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit und eine poetische und symbolische Filmsprache auszeichnet. Was seine Traumästhetik betrifft, so meint Bergman selbst durch Buñuel, Kurozawa, Mizoguchi und seine schwedischen Vorgänger inspiriert worden zu sein22, doch setzt er Träume und das Imaginäre in seine ganz persönliche Filmsprache um. Bis zu einem gewissen Grad kann Bergman sicherlich auch der Avantgarde zugerechnet werden. Vor allem Persona weist stark avantgardistische Züge auf, aber auch viele seiner übrigen, insbesondere späteren Filme zeichnen sich durch eine Betonung des Innenlebens der Figuren und durch die Einbringung eines subjektiven Blickwinkels aus. Das folgende Zitat, das den Kern der Avantgarde beschreibt, spiegelt sehr gut auch das Werk des schwedischen Regisseurs wider: »[A]vant garde films both depict and ›represent‹ expressive behavior. They emphasize the emotional context of action far more than they emphasize the social action itself. Some avant garde films dwell exclusively on the interior experience… They emphasize the value of expressivity and emotion over cognition. Avant garde films are primarily valued as personal expressions of their creator’s inner emotions and feelings.«23

21 Vgl. Jacques Siclier: Ingmar Bergman. Paris: Editions Universitaires 1960, S. 18ff. 22 Vgl. Joseph Marty: Ingmar Bergman, S. 46. 23 Jan Rosenberg, zit. n. Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, Columbia, N.C.: Camden House 1997, S. 13. 24

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Filmtheoretiker und -kritiker spalten sich diesbezüglich in zwei Lager, wobei die einen der narrativen Kontinuität in seinem Werk nachspüren, während die anderen auf die stilistischen Merkmale der Avantgarde hinweisen. Wie Paisley Livingston jedoch aufweist, so ist das Interessante an Bergmans Filmen vielleicht gerade die Wechselwirkung zwischen beiden Tendenzen, wobei Persona den Höhepunkt dieser dialektischen Beziehung darstellt. »One camp asks Bergman for the seamless continuity of the classical narrative film, yet the other wishes or imagines that he aims at the stylistic violence of the avantgarde. Bergman in fact examines this false choice: Persona captures both continuity and discontinuity, bringing them together to study their necessary relation.«24

Feststeht, dass Bergman mit seinen Zeitgenossen wie Fellini, Buñuel, Antonioni und Kurosawa und den jüngeren Regisseuren der Nouvelle Vague, wie Truffaut, Godard und Resnais, dreißig Jahre lang das internationale Kunstkino mitgeprägt hat: »[H]is contributions to the art cinema remain fundamentally unchallenged: Bringing intellectual content and emotional force of language to the screen.«25 Dass Bergman im Laufe seiner erstaunlich langen Karriere verschiedenen Strömungen und Einflüssen zugeordnet wurde, versteht sich von selbst. Durch sein Werk zieht sich jedoch von Anfang bis Ende sein Streben, den existenziellen Fragen, die das menschliche Dasein begleiten, auf den Grund zu gehen und diese in seine eigene, unverwechselbare Filmsprache zu kleiden. »Bergman has been Expressionistic, Surrealist, and ›literary‹ by turns, in an experimental onslaught on the visualization of intense states of being. He has Dreyer’s feel for faces and Strindberg’s for dream-invasions, Beckett’s talent for reductive abstraction and O’Neill’s for creating volatile characters and caging them together until they crack. Perhaps the only way to describe him that includes all these interests is to call him a metaphysical psychologist.«26

Die Entdeckung durch die Nouvelle Vague Die wohl wichtigste Veröffentlichung, aus der die Faszination der Regisseure der Nouvelle Vague, allen voran Jean-Luc Godard und François 24 Paisley Livingston, zit. n. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 134. 25 Lloyd Michaels: Bergman and the Necessary Illusion, S. 8. 26 Bruce F. Kawin: Mindscreen. Bergman, Godard and First-Person Film, Princeton: Princeton University Press 1978, S. 93. 25

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Truffaut, durch Ingmar Bergman hervorgeht, ist ein von Jean-Luc Godard unter dem Titel Bergmanorama27 1958 in den Cahiers du cinéma veröffentlichter Artikel. In diesem Artikel bezeichnet Godard den schwedischen Regisseur unter anderem als den »originellsten Autor des modernen Kinos« und den »Cineasten des Momentes«: »Ein Film von Ingmar Bergman ist gewissermaßen ein Vierundzwanzigstel einer Sekunde, das sich über eineinhalb Stunden verändert und sich ausdehnt. Es ist die Welt zwischen zwei Augenaufschlägen, die Traurigkeit zwischen zwei Herzschlägen, die Lebensfreude zwischen zwei Handschlägen.«28

Laut Jacques Aumont entsprach Bergman aufgrund seiner persönlichen und expressiven Art Filme zu machen der von der Nouvelle Vague postulierten politique des auteurs29, die den Regisseur einem Autor gleichstellte und ihn somit als einzigen künstlerischen Verantwortlichen des Filmschaffens ansah: »Das Kino ist kein Beruf. Es ist eine Kunst. Es ist kein Team. Man ist immer alleine; am Set wie vor der weißen Seiten. Und für Bergman, alleine zu sein bedeutet, sich Fragen zu stellen. Und Filme zu machen bedeutet, auf sie zu antworten.«30

Genauso wie Bergman, so waren die Regisseure der Nouvelle Vague auf der Suche nach einer rein audiovisuellen Sprache (in dieser Hinsicht war auch Max Ophüls ein wichtiger Wegbereiter).31 Film sollte nicht nur ein intellektuelles und rationales, sondern auch ein emotionales und psychologisches Unternehmen sein. Aus diesem Grund lehnten sie sich gegen die bestehenden, in der tradition de qualité (die mit ihren Literaturverfilmungen das Augenmerk vor allem auf das Verbale und Theatralische legte) festgefahrenen Konventionen auf, da diese ihrer Meinung nach die audiovisuelle Sprache daran hinderten, zu ihrem vollen Ausdruck zu gelangen.32 Vor allem Jean-Luc Godard und François Truffaut waren fasziniert von der Offenheit und Natürlichkeit, mit der Bergman die Liebesgeschichte zweier Jugendlicher in Sommaren med Monika erzählt und dabei 27 Godard, Jean-Luc: »Bergmanorama«, in: Cahiers du cinéma 85 (1958), S. 1-14. 28 Ebd., S. 2. 29 Vgl. Jacques Aumont: Les Théories des cinéastes, Paris: Nathan Cinéma 2002, S. 136f. 30 Ebd. 31 Vgl. David A. Cook: A History of Narrative Film, New York: W.W. Norton & Company 1996, S. 524. 32 Ebd., S. 567. 26

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

Konventionen und Tabus bricht. Das Bild der Hauptdarstellerin Harriett Andersson, wie sie das Gesicht der schwedischen Sommersonne zuwendet, war für die beiden Franzosen Ausdruck von Freiheit und (sexuellem) Verlangen. François Truffaut verweist direkt auf dieses Bild in Les Quatre Cents Coups (Sie küssten und sie schlugen ihn, 1959), als Antoine Doinel es in der Vitrine eines Kinos stiehlt: »[D]er Film wird sofort als Werk eines echten Cineasten aufgenommen. Dies belegt jene bedeutende Einstellung, die so manche als Ausgangspunkt der Nouvelle Vague hernehmen möchten: Monika starrt einen langen Moment in die Kamera und hält, ohne zu blinzeln, dem missbilligenden, ja verurteilenden Blick des Publikums stand. Plötzlich wird die (bereits von Rossellini verrückte) Position der Zuschauer wortwörtlich umgedreht. Nun wird er in der Behaglichkeit seines Sessels aufgescheucht und in seinem guten Gewissen als genießender Voyeur angegriffen. Er ist nicht mehr sicher. Er wird in den bergmanschen Strudel der Schuld hineingezogen. Seine Rolle ändert sich in ihrer Beschaffenheit. Er glaubte allein in seinem Urteil zu sein. Nun wird über ihn geurteilt. Er trägt Verantwortung. Die NV lernt ihre Lektion. Daher kommen die häufigen Blicke in die Kamera in seinen ersten Filmen, wovon der berühmteste jener von Antoine Doinel am Ende von Quatre Cents Coups ist.«33

Ein weiterer Aspekt, der vor allem François Truffaut an Ingmar Bergmans Filmen fasziniert hat, ist, dass seine Figuren und die Situationen, die diese durchqueren, emotionsgeladen sind und Liebe, Leiden, Melancholie und das Gefühl der Einsamkeit ausdrücken.34 Eine interessante und relevante Verbindung zwischen Bergman und Truffaut ist auch, dass beide Regisseure eine schwierige Kindheit hatten. Und beide flüchteten schon als Kind in die magische Welt des Films und arbeiteten später ihre Kindheitsprobleme in ihren Filmen auf, in denen oftmals das Kind oder der Jugendliche in Konflikt mit einer von Autorität geprägten Erwachsenenwelt steht (so beispielsweise in Truffauts Les Quatre Cents Coups und Bergmans Fanny och Alexander). Die französische Filmzeitschrift Cahiers du cinéma, für die die Regisseure der Nouvelle Vague – anfangs Filmkritiker – regelmäßig schrieben, hat schließlich zu Bergmans Ruhm in Frankreich und auf der ganzen Welt beigetragen.35 Vor allem das Jahr 1958 war laut Jacques Siclier, der mit Jean Beranger36 einer der ersten war, die Bücher über Ingmar Berg33 Jean Douchet: Nouvelle Vague, Paris: Cinémathèque française, Éditions Hazan 1998, S. 66. 34 Vgl. Annette Insdorf: François Truffaut. Le cinéma est-il magique?, Paris: Éditions Ramsay 1989, S. 21. 35 Vgl. Jean Douchet: Nouvelle Vague, S. 67. 36 Jean Beranger: Ingmar Bergman et ses films, Paris, 1959. 27

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mans Filme veröffentlichten, das »Bergman-Jahr«: 1957 gewann er mit Det sjunde inseglet den Prix spécial du Jury beim Filmfestival in Cannes, und bei der 1958 von der Cinémathèque Française organisierten Retrospektive seines gesamten Werkes waren die Kinosäle überfüllt.37 Diese anfängliche Begeisterung der Regisseure der Nouvelle Vague für Ingmar Bergman in den 50er und 60er Jahren muss man jedoch rückblickend etwas relativieren, da es sich bei der Nouvelle Vague um eine sehr heterogene Filmbewegung handelt, die Einflüsse von den unterschiedlichsten Regisseuren, von Hollywood bis zum europäischen Autorenfilm, aufgegriffen und somit sehr unterschiedliche Filme hervorgebracht hat. Auch das Werk Ingmar Bergmans selbst besteht, von seinem ersten Film Anfang der 40er Jahre bis zu seinem letzten 2003, aus den unterschiedlichsten Werken, und seine Filmästhetik hat sich im Laufe der Jahre, vor allem ab Persona Mitte der 60er Jahre, verändert, sodass der Einfluss Bergmans auf die darauf folgende Generation der Post – Nouvelle Vague wohl als komplexer und für die Betrachtung von Bergmans Bedeutung für das zeitgenössische Kino als aufschlussreicher anzusehen ist. Von Bedeutung ist jedoch, dass sich Regisseure der Post – Nouvelle Vague wie André Téchiné und Olivier Assayas (der übrigens gemeinsam mit dem schwedischen Filmregisseur und -kritiker Stig Björkman ein dreitägiges Interview mit Bergman geführt hat) sich eben durch ihre Tätigkeit bei den Cahiers du cinéma näher mit den Filmen Ingmar Bergmans auseinandersetzten. Dies scheint, zusätzlich zu einer ohnehin schon vorhandenen Faszination durch den schwedischen Regisseur, dessen Einfluss auf diese jüngere Generation von Filmemachern mit ausgemacht zu haben. Deutlich wird auch, dass die Regisseure Arnaud Desplechin, Philippe Garrel, Jacques Doillon sowie Benoît Jacquot, die laut Téchiné ebenfalls von Ingmar Bergman beeinflusst wurden38, mit den Regisseuren der Nouvelle Vague in Verbindung standen (etwa durch die Tätigkeit als Regieassistenten). Aber auch ein Regisseur wie François Ozon, der in keiner direkten Verbindung mit der Nouvelle Vague steht, spricht in Bezug auf seinen Film 5x2 (2004) von Bergman als Inspirationsquelle, insbesondere dessen Fernseh-Film Szenen einer Ehe: »Es ist schwierig, sich nicht von der zeitlos gültigen Vision Bergmans beeinflussen zu lassen. Besonders gut gefällt mir an seinem Film, dass er vor über dreißig Jahren schon seine Frauenfiguren derart stark gezeichnet hat.«39

37 Vgl. Jacques Siclier: Ingmar Bergman, Paris: Editions Universitaires 1960, S. 11. 38 Vgl. Cahiers du cinéma 583, S. 86. 39 www.skip.at/AT/stars/interviews/interview.php?intnr=492 vom 23. November 2004. 28

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

A n d r é T é c hi n é André Téchiné wurde 1943 in Valence d’Agen in Südwestfrankreich geboren, wo auch sehr viele seiner Filme spielen. Schon früh zog er jedoch nach Paris, wo er von 1964 bis 1967 für die Cahiers du cinéma schrieb und auch kurze Zeit Assistent von Jacques Rivette, einem der Vertreter der Nouvelle Vague, war. Auf seine Zeit als Filmkritiker ist laut Alain Phillipon Téchinés extremes Feingefühl für die Analyse der Filme anderer und seiner eigenen zurückzuführen.40 Wie Ingmar Bergman und die Generation der Nouvelle Vague, so hegte auch André Téchiné bereits als Kind eine Leidenschaft zum Film, und auch für ihn war das Kino eine Art Zuflucht aus der oft tristen und von Einsamkeit geprägten Kindheit: »Das Kino war die einzige Möglichkeit, der Welt zu entfliehen, es war meine Art zu träumen, aber es war, glaube ich, bereits verbunden mit einer ersten Annäherung, mit einer Art Gefühl einer Annäherung des wahrhaftigen Lebens. Es war also eine Mischung aus einem Entfliehen und einem Leben, das wahrhaftiger ist als das Leben an sich, oder jedenfalls wahrhaftiger als jenes, zu unnatürliche, das ich führte.«41

Seine Liebe zum Kino drückt Téchiné unter anderem dadurch aus, dass die Darsteller in seinen Filmen cinephil sind und leidenschaftlich gerne ins Kino gehen. So sehen sich beispielsweise François und Maïté in Les Roseaux sauvages Bergmans Såsom i en spegel an, woraufhin eine der Schlüsselsequenzen des Films folgt. Die Filme, die Téchiné am meisten fasziniert haben, stammen von bestimmten cinéastes-explorateurs, wie er sie selbst bezeichnet: die Trilogie über Gott von Ingmar Bergman oder die über die moderne Welt von Antonioni (Die mit der Liebe spielen, 1959; Die Nacht, 1960; Liebe, 1962), aber auch Die Vögel (1963) von Hitchcock oder Der Würgeengel (1962) von Buñuel. Welche Bedeutung die Nouvelle Vague für sein Filmschaffen hatte, beschreibt der Regisseur selbst mit folgenden Worten: »Das Erwachen meines filmischen Bewusstseins und der Wandel von der Begeisterung zur Reflexion sind über das Aufbrausen der Nouvelle Vague gelaufen, mit dieser Sehnsucht nach Freiheit und dieser Begeisterung für die Möglichkeit Filme zu machen, die persönlicher und inspirierter sind. Aber all dies

40 Vgl. Alain Phillipon: André Téchiné, Paris: Cahiers du cinéma 1998, S. 49. 41 Entretien avec André Téchiné, in: Alain Phillipon: André Téchiné, S. 117. 29

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ist stark zeitlich bedingt. Es reichte nicht, gegen die Regeln zu verstoßen, sondern jeder musste diszipliniert seine eigenen entdecken.«42

Dass eine so starke Bewegung wie die Nouvelle Vague sowohl Stimulation wie auch Hemmschwelle für junge Filmemacher wie André Téchiné, Jean Eustache oder Philippe Garrel war, liegt auf der Hand und zeigt sich am Beispiel Téchinés daran, dass Téchinés Anfangsphase von einem Experimentieren mit den verschiedensten Genres geprägt ist und somit von einer Identitätssuche als Filmregisseur zeugt. Téchiné hat jedoch seine eigene Filmsprache gefunden, die gleichzeitig Filmerbe der Nouvelle Vague ist, als auch sich davon emanzipiert. Oftmals wird Téchiné als ein cinéaste romanesque bezeichnet: seine Geschichten und Figuren wie auch sein Erzählstil sind stark fiktiv und oft realitätsfern. Seine Filme erzählen häufig mehrere Geschichten zugleich: »Daher gleichen meine Drehbücher Kreuzungen, einem ›Aufeinandertreffen von Geschichten‹.«43 Alain Phillipon hebt zwei für Téchinés Filme relevante Aspekte des Begriffes romanesque hervor: die Emotionalität und Leidenschaft der Figuren, deren Leben durch schicksalhafte Begegnungen mit anderen in unerwartete Bahnen gelenkt werden und die ihr Leben mehr träumen als wirklich leben oder ein mysteriöses Doppelleben führen. Ähnlich wie die Figuren in Medems Filmen werden jene in Téchinés Filmen von einer Sehnsucht getrieben, die sie oftmals in eine andere, traumähnliche Welt flüchten lässt. Sie klammern sich an das Leben und leben bzw. träumen es mit einer ungewöhnlichen Intensität, die sie der Realität nur noch mehr entrückt. Um auf Téchinés Verbindung zu Ingmar Bergman zurückzukommen, so ist interessant, dass Téchinés erster Spielfilm, Paulina s’en va (Paulina haut ab, 1969), starke Parallelen zu Bergmans Persona aufweist. In Téchinés Film geht es um eine Frau, Paulina (Bulle Ogier), die in eine psychische Anstalt gebracht wird, weil sie verrückt geworden ist. Vor allem die Beziehung zwischen ihr und der Krankenschwester (Michèle Moretti) erinnert sehr an die Beziehung zwischen Elisabet und Alma in Persona. Aber auch die Art, wie Téchiné das Abgleiten in die Verrücktheit darstellt, erinnert an Bergmans Film. Paulina s’en va schildert das psychische Innenleben und den dauerhaften Schlafzustand Paulinas, wobei an vielen Stellen im Film für die Zuschauer nicht mehr klar ist, was ihrer Wahrnehmung und was der »objektiven« Filmerzählung zuzuordnen ist. Dieses Wechselspiel zwischen Traum und Wirklichkeit ist, wie wir bereits gesehen haben, in vielen von Bergmans Filmen ab Persona zu finden, es ist aber auch ein Verweis auf den Surrealismus. Wie Phillipon 42 Ebd., S. 120. 43 Ebd., S. 122. 30

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jedoch hervorhebt, hat Téchiné nur Teilaspekte des Surrealismus »geerbt«.44 So findet man vor allem in Téchinés ersten Filmen, in geringerem Ausmaß jedoch in all seinen Filmen eine Art Traumwelt, die in Form von Albträumen auftreten kann und die immer wieder und ohne Vorankündigung in die Film-Wirklichkeit hereinbricht: »Von einem Film zum nächsten, oder im selben Film, eröffnet Téchiné das breite Spektrum an parallel existierenden Welten, und es braucht oftmals nicht viel damit die Figuren, die Fiktion, der Film diese kaum bemerkbare Grenze zu anderen Sphären überschreiten und die Realität verlassen, um in ein Reich der Angst, des Albtraums, des Schreckens und der Verrücktheit einzutreten.«45

Dieses Einbrechen einer Traumwelt in die Wirklichkeit hat etwas Bedrohliches und steht gleichzeitig stark in Verbindung mit der Sehnsucht der Figuren, der Realität oder ihrem Schicksal zu entfliehen. Téchiné erklärt selbst, dass er in dieser Hinsicht wohl von Bergman beeinflusst wurde: »In einer Fiktion, die scheinbar bemüht ist, sich an eine realistische Lesart zu halten, versuche ich immer, Momente der Abweichung einzubauen. Nicht Angst zu haben, Elemente zu integrieren, die widersprüchlich erscheinen mögen – diese Freiheit habe ich wahrscheinlich von Bergmans Filmen.«46

Eine weitere Parallele zu Persona ist, dass Paulina gleich nach ihrer Einweisung in die Klinik einer Befragung unterzogen wird – und zwar anhand eines Films, in dem Untertitel zu sehen sind, auf die Paulina antworten soll: »Was haben Sie mit all diesen Jahren gemacht? Sie haben alle umgebracht. An was erinnert Sie dieser Film?« Worauf Paulina antwortet: »Das stimmt nicht, das stimmt nicht, das stimmt überhaupt nicht. Ich muss einen Kurs verfolgen, auch wenn alles verschwommen erscheint… Ja, natürlich, auch wenn ich ihre Stimme, ihr Gesicht habe… Es ist ein Stummfilm, der weiß ich woher kommt. Was sind das für Figuren? Ich habe den Faden verloren. Ich kenne die Geschichte nicht… Oder aber sehr spät in der Nacht, bevor ich ganz dem Schlaf verfalle…«

Einer ihrer Lebensgefährten meint dazu, dass Paulina immer schon den ganzen Tag über in Filmgeschichten gelebt hat. Der Film – ein Stumm44 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 32. 45 Ebd., S. 31. 46 Cahiers du cinéma 583, S. 84. 31

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film, in dem unerkennbare Personen zu sehen sind, die sich seltsamen Theaterritualen hingeben – soll dazu dienen, in ihr Assoziationen zu wecken und ihre Identität wieder zu finden. Langsam findet Paulina Zugang zu diesem fiktiven Film und somit zu sich selbst zurück. Téchiné verknüpft also die Thematik von Traum und Wirklichkeit und die der Identitätsfindung mit dem Medium Film selbst. Ähnlich wie Bergman, wirft er in seinen Filmen die Frage auf, was Identität und was Wirklichkeit ist, und verweist dabei auf die Welt des Films. Mit Paulina s’en va wagte sich Téchiné in eine poetische Richtung vor, die das französische Kino, bis auf wenige Ausnahmen, nur wenig erforscht hatte. Im Jahr 1974, als Téchinés zweiter Spielfilm, Souvenirs d’en France (Erinnerungen aus Frankreich), entstand, kann man von einer neuen Generation französischer Filmemacher sprechen. Die ersten Jahre des Jahrzehntes sind von den Anfängen von Benoît Jacquot und Chantal Akerman (und auch vom chilenischen Regisseur Raoul Ruiz, der 1974 in Frankreich zu arbeiten begann) geprägt, sowie von Jacques Doillon, dessen Karriere etwas anders als die der vorhin genannten Regisseure verlief. Diese neue Generation kämpfte gegen den naturalisme à la française an, genauso wie sich die Nouvelle Vague gegen die tradition de qualité auflehnte: »André Téchiné, Benoît Jacquot, Raoul Ruiz, Chantal Akerman begaben sich auf einen Kreuzzug gegen diesen ›neuen Naturalismus‹. […] Jeder dieser Filmemacher versuchte auf seine Art, sich radikal gegen den ›umgebenden Naturalismus‹ zu stellen (und hatte Erfolg damit).«47

Téchinés Genre-Filme Mit seinen drei folgenden Filmen, Souvenirs d’en France, Barocco und Les Sœurs Brontë, experimentiert Téchiné mit verschiedenen Genres – der Familiensaga, dem Kriminalfilm und der Literaturverfilmung. Obwohl sich sein Stil seither sehr weiterentwickelt und verändert hat, wendet Téchiné bereits in diesen drei Filmen viele der stilistischen Mittel an, die in den 80er und 90er Jahren bis heute seine Filmsprache geprägt haben. Souvenirs d’en France erzählt die Geschichte der Industriellenfamilie Pédret in Frankreich (Valence d’Agen) von den 30er bis zu den 70er Jahren und erforscht die Beziehung zwischen Geschichte und der persönlichen Wahrnehmung von Geschichte und somit auch zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft – wie der doppeldeutige Titel bereits andeutet: Souvenirs d’en France ist ein Wortspiel zwischen souvenirs de 47 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 53. 32

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France und souvenirs d’enfance. Es werden in diesem Film also verschiedene, persönliche Geschichten miteinander verknüpft, wobei jede die anderen ergänzt und verstärkt.48 Der Film ist typisch für Téchinés damaligen höchst stilisierten, theatralischen, anti-naturalistischen Erzählstil, der vor allem die Zuschauer in seinen Bann ziehen und unterhalten möchte: »It is, perhaps, an attempt to reconstruct the mixture of escapism and the morethan-true-to-life […] which constitutes the magic of the cinema that Téchiné recalls having experienced as a child. […] The question for Téchiné is whether it is possible to achieve a ›cinéma de spectacle‹ whilst remaining resolutely modern, to make the viewer question his aesthetic habits at the same time as satisfying his desire for cinema.«49

Téchiné wie auch Bergman haben also beide das Anliegen, den Zuschauern die Magie des Kinos näher zu bringen, bleiben jedoch ihrem künstlerischen Status treu, indem sie an manchen Stellen gezielt auf den Film als Medium aufmerksam machen. Die Erinnerungen einer der Figuren (und mit ihr die von André Téchiné selbst, da der Film durch biografische Erlebnisse inspiriert wurde) spiegeln sich in cinematografischen Erinnerungen und Bezugspunkten wider. Das Kino wird somit gleichzeitig zum Bezugsrahmen. In der Anfangssequenz sieht man auf den Fabriksmauern Poster von George Cukors Film Camille (Die Kameliendame, 1936, nach dem Roman La Dame aux camélias von Alexandre Dumas) mit Greta Garbo und Robert Taylor in den Titelrollen. Derartige Intertextualität50 erinnert zwangsläufig an die Nouvelle Vague, die in ihren Filmen auch stets auf andere Filme bzw. andere Kunstrichtungen verweist. Auch die Schlusssequenz nimmt Bezug auf das Kino: während die Kamera auf das Familienhaus der Pédret zurückblickt, erzählt Berthe (Jeanne Moreau), eine der Hauptfiguren des Films, von ihren Erinnerungen an das Kino und deutet an, dass das Haus selbst wie ein Schauplatz eines Films war. Sie erzählt, wie sie als Kind manchmal hinter den Eisengittern am Ein-

48 Vgl. Jill Forbes: The Cinema in France After the New Wave, London: Macmillan 1992, S. 246. 49 Ebd., S. 251. 50 Der Begriff der Intertextualität wurde durch Julia Kristevas Übersetzung des »dialogischen« Konzeptes von Mikhail Bakhtines eingeführt und später von Roland Barthes übernommen. Dieses Konzept der Intertextualität geht davon aus, dass ein Text stets in Verbindung mit einem oder meheren anderen Texten steht. So spricht man beispielsweise von »filmischer Intertextualität« wenn in einem Film auf einen anderen Film verwiesen wird. Von Intermedialität hingegen spricht man, wenn in einem Medium (Literatur, Film, Theater, Musik, Malerei u.a.) auf ein anderes verwiesen wird. 33

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gang gestanden und dieses für sie so faszinierende Haus stundenlang angeblickt hat. Wie hypnotisiert beobachtete sie Menschen, wie sie kamen und gingen. Spät abends ging sie nach Hause, wie jemand, der nach dem Kino nach Hause kommt, wenn alle Lichter bereits ausgeschaltet sind. Diese Sequenz rückt die Verbindung zwischen Kino, Geschichte und der individuellen Wahrnehmung und Erinnerung ins Zentrum. Auch Standbilder in Form von Fotografien haben hier eine wichtige Bedeutung, da durch sie Assoziationen und Erinnerungen ausgelöst werden und sie somit die Handlung vorantreiben. Die Fotografie als narratives Mittel ist auch in Téchinés späteren Filmen, vor allem in Ma saison préférée, wieder zu finden. Seinen nächsten Film, Barocco (1976), eine Art Kriminalgeschichte, beschreibt Jean-Michel Frodon als eine »Traumerzählung von einer seltsamen, ein wenig künstlichen Schönheit, wo sich Expressionismus und poetischer Realismus vermengen«.51 Auch hier ist der Bezugsrahmen kein realer, sondern das Kino. Und wieder verbindet Téchiné Autorenkino mit einem narrativen, unterhaltenden Filmstil. Barocco erzählt die Geschichte von Laure (Isabelle Adjani), die nicht über den Tod ihres Geliebten hinwegkommt und ihn in Form eines anderen wieder auferstehen lässt: sie projiziert ihre Liebe auf einen Fremden, der der Mörder ihres toten Geliebten ist. Dabei lässt Téchiné beide Rollen, sowohl Opfer als auch Mörder, vom selben Schauspieler (Gérard Depardieu) darstellen. Téchiné lässt also auch hier das Unwirkliche, Fiktive in der Gestalt eines Doppelgängers in die Erzählung einfließen. Ein weiteres Mittel, das die filmische Illusion zerstört und dem Film eine Art Unwirklichkeit verleiht, ist die Anwendung von Spiegeleffekten oder effets-vitrines, wie Phillipon sie nennt. Auf die zentrale Stellung von Spiegeln und Spiegeleffekten wird im Rahmen der Analysen noch genauer eingegangen werden. Wichtig festzuhalten ist hier die Bedeutung derartiger stilistischer Mittel als Verweis auf den Film als Konstrukt von Wirklichkeit. Ein anderer Aspekt, der das Medium als solches ausweist, ist wiederum die an die Nouvelle Vague erinnernde filmische Intertextualität, von der auch Souvenirs d’en France Gebrauch macht. Téchiné zitiert an mehreren Stellen Hitchcock: zwei Einstellungen sind ein Direktzitat von Die Vögel, Philippe Sarde komponierte seine Musik frei nach einer Melodie von North by Northwest (Der unsichtbare Dritte, 1959), und auch die Tatsache, dass Laure ihren »wieder gefundenen« Geliebten die Haare färbt, um ihn nach dem Bild ihres verstorbenen Geliebten zu verändern, erinnert sehr an Vertigo (Vertigo – Aus dem Reich der Toten, 1958).52 51 Jean-Michel Frodon: L’âge moderne du cinéma français. De la Nouvelle Vague à nos jours, Paris: Flammarion 1995, S. 530. 52 Vgl. Alain Phillipon: André Téchiné, S. 66. 34

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Ein Beispiel von Intermedialität ist Téchinés nächster Film, die Literaturverfilmung Les Sœurs Brontë (Die Schwestern Brontë, 1979), in der Téchiné wiederum die Familie und den Konflikt zwischen der Familie, also der Gemeinschaft, und dem Individuum (in diesem Fall der Künstlerin), ins Zentrum rückt. Die Sehnsucht, einerseits das Familiennest zu verlassen, um den eigenen Weg zu gehen, andererseits in die Geborgenheit der Familie zurückzukehren, bestimmt die Handlung dieses Films: Emily (Isabelle Adjani), Charlotte (Marie-France Pisier) und Anne (Isabelle Huppert) bewegen sich zwischen dem Familienhaus und der Welt »draußen«, ebenso wie sie zwischen der wirklichen Welt und der Welt der Fiktion stehen, wobei das Schreiben selbst zur Metapher der gesamten Erzählung wird: »Die ständige Bewegung des Films zwischen dem Hier des Heims und dem Dort der Begegnungen ist die Bewegung des Schreibens selbst, die zugleich zentrifugal ist (es gibt kein Schreiben ohne aus sich selbst herauszugehen) und zentripetal (es gibt auch kein Schreiben ohne Rückkehr zu sich selbst und das Einschließen in – und Erforschen von – dem was Henri Michaux das ›ferne Innere‹ nennt.«53

Auch hier fließt wieder die Fiktion in die Filmerzählung ein, sogar im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich in Form der Schriftstellerfantasie und der Schöpfungskraft der drei Schwestern. Die Fantasie der Künstlerin greift also auf die Handlung und den Erzählstil über, Form und Inhalt fließen ineinander – ähnlich wie in Julio Medems Lucía y el sexo.

Der Wendepunkt: Hôtel des Amériques Mit Les Sœurs Brontë geht die Periode zu Ende, in der Téchiné mit den verschiedenen Genres experimentiert und seine Geschichten und Figuren stark meta-fiktional sind. Ab Hôtel des Amériques (Begegnung in Biarritz, 1982) beschäftigt sich Téchiné weniger mit dem Kino, sondern mehr mit dem Leben, den Menschen und deren Sehnsüchten. Die Figuren im Film sind mehr aus dem – alltäglichen – Leben gegriffen, und auch Ästhetik bewegt sich weg von hochstilisierten filmischen Kunstgriffen wie den effets-vitrines hin zur Konzentration auf den Schauspieler: »Es gibt ein Vorher und ein Nachher von Hôtel des Amériques. Vorher arbeitete Téchiné vor allem mit den filmischen Codes, mit dem Begriff Genre, der Stellung des Bildes… Nachher entfernte er sich von dieser Introspektion um 53 Ebd., S. 75. 35

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eine transparentere Sprache anzunehmen und um zu klareren Erzählungen zurückzukehren, die in spezifischen sozialen Kontexten verankert sind, mit ausgearbeiteten Figuren und dem Willen, in einen direkteren affektiven Kontakt mit dem Publikum zu treten. Eine Aussage von Téchiné fasst diese Bemerkungen zusammen: ›Vorher war der Bezugspunkt meines Kinos das Kino; heute ist es vielmehr das Leben‹.«54

Bezeichnend für diesen Wandel ist, dass seine beiden nächsten Filme, La Matiouette (1983) und Rendez-vous (Rendez-Vous, 1985), vom Theater und den Schauspielern handeln und dass die Dialoge an Bedeutung gewinnen: »Die Dialoge seiner Filme übernehmen ziemlich literarische Formen und sind oftmals aus Reminiszenzen gesponnen, die aus dem Theater oder der klassischen Poesie stammen.«55 An dieser Stelle sollte auch auf den 40-minütigen Film L’Atelier hingewiesen werden, den Téchiné mit Schülern der Schauspielschule Nanterre-Amandier nach einer Idee vom Film- und Theaterregisseur Patrice Chéreau und basierend auf drei Theaterstücken u.a. Bergmans Aus dem Leben der Marionetten, gedreht hat. Wie Bergman, so arbeitet auch Téchiné ab den 80er Jahren immer mehr – mit einer »quasi Bergmanschen Disziplin«56, wie Phillipon sie nennt – mit den Körpern und Gesichtern der Schauspieler. Im Zentrum steht der Mensch, der sich in einer existentiellen Krise befindet. Dass Téchiné trotz der Tendenz zu mehr Realismus das in die Handlung eingreifende Unwirkliche, Fantastische nicht ganz hinter sich gelassen hat, belegt die Handlung von Rendez-vous: Nina (Juliette Binoche) zieht von der französischen Provinz nach Paris, um dort Schauspielerin zu werden. Dort trifft sie auf den etwas brutalen Quentin (Lambert Wilson), mit dem sie ein Verhältnis eingeht. Als Quentin ums Leben kommt, wird Nina von seinem Phantom verfolgt. Auch hier tritt Quentin immer wieder und ohne Vorwarnung für die Zuschauer in die Erzählung ein, obwohl er eigentlich gestorben ist (ähnlich wie Fannys und Alexanders Vater in Bergmans Fanny och Alexander). Nina wird vom Schatten ihres verstorbenen Liebhabers verfolgt, kann sich jedoch schließlich durch die schicksalhafte Begegnung mit dem väterlichen Theaterdirektor Scrutzler (Jean-Louis Trintignant) von ihrer Vergangenheit befreien und die Angst vor ihrem ersten Auftritt überwinden. Ähnlich wie der Primaballerina Marie in Bergmans Sommarlek gelingt es Nina, sich durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und durch ihren Kampf mit allem, was 54 Jean-Marc Lalane, in: Le mensuel du cinéma 7 (1993), S. 62. 55 Jean-Marc Lalanne: »À la rencontre d’Alice et Martin«, in: Cahiers du cinéma 521 (1998), S. 46. 56 Vgl. Jill Forbes: The Cinema in France After the New Wave, S. 92. 36

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sich ihr entgegensetzt, von ihrem alten Leben loszulösen und einen Neubeginn zu machen, der mit ihrem Auftritt als Schauspielerin zusammenfällt. Rendez-vous ist auch ein typisches Beispiel für Téchinés Auffassung vom Leben als Reise: im Laufe des Films lernt Nina – durch Zufall – Menschen kennen, die ihr Leben prägen und sie zu ihrem persönlichen Weg leiten. Dabei zeigt Téchiné Ninas Passivität und Hilflosigkeit gegenüber der (männlichen) Gewalt ebenso auf wie ihre Erfolge – nicht zuletzt den des Erwachsenwerdens. Insgesamt kann man also sagen, dass Téchinés Filme von nun an persönliche Geschichten von Menschen erzählen, deren Leben von Krisensituationen und schicksalhaften Begegnungen geprägt ist. Das Schicksal stellt Téchiné jedoch nicht als unüberwindbare Autorität dar, sondern vielmehr als Feind, gegen den die Figuren ankämpfen können, oder als eine Tatsache, die sie auf positive Weise von ihrem Weg abbringt. Die Figuren in Téchinés Filmen bekommen auf ihrem Weg immer auch die Chance mit, für ein besseres Dasein zu kämpfen. In diesem Sinne ist auch Téchinés Darstellung der Frauen zu sehen, denn trotz ihres Leidensweges stehen sie immer vor der Wahl, sich selbst zu retten oder sich zu verlieren. Für jede Figur besteht die Möglichkeit einer Wiedergeburt, wie dies beispielsweise der Fall von Lili in Téchinés nächstem Film Le Lieu du crime (Schauplatz des Verbrechens, 1986) ist: »Die Dimension des Lernens […] führt die weiblichen Figuren an einen Weg, der einem Leidensweg gleicht, der Téchiné aber nicht gleichzeitig zu einem Maler von weiblichem Leiden und Misserfolg macht, ganz im Gegenteil, da seine Heldinnen gefangen sind zwischen dem ›sich retten‹ und dem ›sich verlieren‹ von Lili am Ende von Lieu de crime.«57

So werden die Figuren in Le Lieu du crime von Verlangen und Sehnsucht getrieben, was sie schließlich ins Verderben stürzt: Lili (Catherine Deneuve) geht ein Verhältnis mit dem aus dem Gefängnis entflohenen Martin (Wadeck Stanczak) ein, um aus ihrem Alltag auszubrechen. Von ihrem Mann (Victor Lanoux) lebt sie getrennt und zu ihrem Sohn Thomas (Nicolas Giraudi) hat sie ein inzestuös anmutendes Verhältnis. Thomas‹ Vater ist ein Musterbeispiel für die auf den ersten Blick autoritären und doch abwesenden Vaterfiguren in Téchinés Filmen, denn über seinen Sohn hat er so gut wie keine Autorität, versucht diese aber vorzuspielen, indem er Thomas in einer Sequenz eine Ohrfeige verpasst. »Der Vater hat keine Macht mehr und weiß dies: die Ohrfeige, die er Thomas beim Essen nach der Kommunion verpasst […] (nachdem das Kind den 57 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 96. 37

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Wunsch äußert, die Schule möge durch eine Bombe in die Luft gehen) ist, in ihrer Gewalt, das kaum maskierte Geständnis seines Unvermögens, für seinen Sohn ein seines Namens würdiger Vater zu sein.«58

Das Hauptaugenmerk der Erzählung wird auf den jungen Thomas gerichtet: »[T]he structure of the film is that of the family romance as a child might invent it.«59 So wächst das Kind zwischen der Mutter, die in einem Nachtclub arbeitet und ebenso wenig Autorität über ihren Sohn hat wie der Vater, und den Großeltern auf, die ihm ebenso wenig echte Liebe geben wie seine Eltern. Unerwartet bricht Martin in das Leben dieser seltsamen, – für Téchinés Filme jedoch typisch – zusammengestückelten Familie ein, und seine ungewisse Vergangenheit vermittelt das Gefühl, er sei ein Phantom – ähnlich wie die männlichen Protagonisten in Barocco und Rendez-vous. In der phantomartigen Figur des Martin fließen sowohl Lilis als auch Thomas‹ unbewusstes Verlangen füreinander zusammen. Liebe und (sexuelles) Verlangen stehen auch im Mittelpunkt von Les Innocents (Die Unschuldigen, 1987), wobei sich hier die Kategorien Sexualität und soziale wie kulturelle Herkunft im Begehren auflösen. Jeanne (Sandrine Bonnaire) liebt zwei Männer zugleich: den maghrébin Saïd (Abdel Kechiche) und Stéphane (Simon de La Brosse), wobei sich diese beiden Männer gegenseitig auch lieben, diese Liebe im Film aber nicht offen ausleben. Beide projizieren ihr Begehren somit auf Jeanne, die als Bindeglied zwischen ihnen fungiert. Verkompliziert wird dieses Beziehungsgeflecht zusätzlich durch Stéphanes homosexuellen Vater Klotz (Jean-Claude Brialy), dessen Liebe zu Saïd offensichtlich ist, jedoch unerwidert bleibt. Saïd wird somit zum Objekt der Begierde aller Charaktere, und dadurch werden jegliche Klischees bezüglich Sexualität, Ethnie und sozialer Status verworfen. Bei der Darstellung seiner Figuren verzichtet Téchiné jedoch auf einen wertenden Blick, vielmehr geht es ihm darum, die inneren und äußeren Konflikte der Protagonisten auf subtile Weise zu beleuchten: »Téchiné’s filmmaking is typified by an intimate, non-judgemental focus on his protagonists, their inner and outer dramas, their locations and their histories. He charts small changes, in a visual style which is understated and immeasurably subtle. This produces particularly heartfelt effects when set against subject matter which can be far more provocative. Téchiné avoids sensationalism at all

58 Ebd., S. 23. 59 Jill Forbes: The Cinema in France After the New Wave, S. 253. 38

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costs and thus offers a new image of sexual and emotional transgression (notably representing adolescent desires and even incestuous relations).«60

Von den 90er Jahren bis heute In seinen Filmen von den 90er Jahren bis heute spinnt Téchiné die Thematik rund um Identitätsfindung weiter, sowohl was Sexualität und kulturelle Identität betrifft als auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bzw. Kindheit. Die drei Filme Ma saison préférée (1993), Les Roseaux sauvages (1994) und Alice et Martin (1998) werden im Rahmen der Filmanalysen noch genauer behandelt. Hier sollte wiederum nur kurz auf deren Inhalt eingegangen werden. Erwähnenswert ist auch der Film Les Voleurs (Diebe der Nacht, 1996), der eine Art Thriller ist und in flash-backs erzählt wird und in dem Catherine Deneuve eine Universitätsprofessorin spielt, die mit einer jungen, delinquenten Frau (Laurence Côte) ein Liebesverhältnis eingeht. Interessant ist auch Loin (Weit weg – Loin, 2001), den Téchiné erstmals mit Digitalkamera drehte. Spielte sich Alice et Martin teilweise in Andalusien ab, so pendelt die Handlung von Loin zwischen Südfrankreich und Marokko, und auch hier wird das Leben der Figuren (gespielt unter anderem von Stéphane Rideau und Gaël Morel, die er sieben Jahre nach Les Roseaux sauvages wieder trifft) von einer starken Sehnsucht getrieben: Marokkaner träumen davon, nach Frankreich oder Kanada auszuwandern, Franzosen und Kanadier träumen vom Süden, von seiner Kultur, Musik und den Traditionen. »[T]he southern coastal cities – Marseilles is the most obvious example – are nowadays places of transit where the mixing of classes and races takes place and this is reflected in the changing role of the immigrant in Téchinés [sic!] films.«61

Mit seinem vorletzten Film, Les Égarés (2003), nimmt sich Téchiné schließlich wieder Frankreichs Geschichte an und verlegt die Handlung in den Zweiten Weltkrieg. Mit der Dialektik des Films zwischen (Film-) Geschichtsschreibung und subjektiver Wahrnehmung schließt sich der Kreis in Téchinés Filmwelt – vorerst – wieder.

60 Wilson, Emma: French Cinema Since 1950. Personal Histories, London: Duckworth 2001, S. 35. 61 Jill Forbes: The Cinema in France After the New Wave, London: Macmillan 1992, S. 255. 39

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Ma saison préférée Ma saison préférée (Meine liebste Jahreszeit, 1993) ist die Geschichte von Emilie (Catherine Deneuve), einer erfolgreichen Notarin mittleren Alters, die mit ihrem Ehemann (Jean-Pierre Bouvier) gemeinsam eine Firma leitet und zwei erwachsene Kinder, Anne (Chiara Mastroianni) und den adoptierten Lucien (Anthony Prada), hat. Als ihre Mutter (Marthe Villalonga), die alleine auf dem Land lebt, einen Schwächeanfall erleidet, nimmt Emilie sie zu sich und sucht ihren Bruder Antoine (Daniel Auteuil) auf, der als Chirurg in einem Krankenhaus arbeitet und zu dem sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr pflegt. Als Emilie Antoine zum Weihnachtsessen zu sich und ihrer Familie einlädt, kommt es zur Eskalation, in der alle verdrängten Familienprobleme an die Oberfläche treten. Emilies Mutter beschließt, wieder in ihr Haus zurückzukehren. Daraufhin macht die Erzählung einen Sprung nach vorne, es ist Frühling geworden und Emilie und Antoine treffen sich wieder. Nach anfänglicher Kälte und einem Streit über die Mutter, die erneut einen Schwächeanfall erlitten hat, entsteht ein Gefühl der Nähe zwischen beiden und Emilie erzählt, dass sie ihren Mann verlassen hat und nun im Hotel wohnt. Die Geschwister bringen ihre Mutter in ein Heim. Als diese bei ihrem nächsten Besuch jedoch wirr redet, lässt Antoine sie in seiner Klinik untersuchen, und es stellt sich heraus, dass sie einen Tumor hat. Als sie am Ende des Films stirbt, versammelt sich die gesamte Familie zum Essen in Emilies Haus, und auf Annes Frage hin erzählt jeder einzelne, was seine Lieblingsjahreszeit ist. Wie der Titel bereits andeutet, durchläuft die Erzählung alle vier Jahreszeiten. Diese teilen den Film in vier Kapitel, die als solche auch als Zwischentitel aufscheinen, wobei die den Film einleitende Jahreszeit, der Herbst, wohl ähnlich wie in Bergmans Höstsonat Emilies Alter als auch ihre von Nostalgie und Schuldgefühlen geprägte Beziehung zu ihrer Familie symbolisiert. Les Roseaux sauvages Les Roseaux sauvages (Wilde Herzen, 1994) spielt in einem kleinen Dorf im Südwesten Frankreichs zur Zeit des Algerienkrieges und handelt von vier Jugendlichen, die kurz vor ihrem Schulabschluss stehen und sich zunehmend mit ihrer – sexuellen, politischen und moralischen – Identität auseinandersetzen: François (Gaël Morel) – Téchinés alter ego, wie man später erkennen kann – wird sich seiner Homosexualität bewusst und fühlt sich zu Serge (Stéphane Rideau), dem Sohn immigrierter, italienischer Bauern hingezogen. Serge hingegen verliebt sich in die offene und unabhängige Maïté (Élodie Bouchez), die eng mit François befreundet ist. Den Außenseiter bildet Henri (Frédéric Gorny), ein aus Algerien geflüchteter pied noir, dessen Vater im Krieg umgekommen ist und der

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augrund seiner extrem faschistischen Ansichten immer wieder mit François und Serge in Streit gerät. Der Gegenpol zu seinen rechtsgerichteten Ansichten wird von Maïtés Mutter, Madame Alvarez (Michèle Moretti), verkörpert, die die Lehrerin der drei jungen Männer und für die lokale kommunistische Partei tätig ist. Während des Zweiten Weltkrieges half sie im Namen der Résistance kommunistischen Soldaten unterzutauchen. Als Serges Bruder Pierre heiratet, um nicht in den Algerienkrieg ziehen zu müssen, bittet er während der Feier Madame Alvarez, ihm durch ihre Kontakte zu helfen, dem Krieg zu entgehen. Doch sie lehnt ab, da sie für Algeriens Unabhängigkeit ist. Als sie erfährt, dass Serges Bruder in Algerien gefallen ist, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch und wird ins Krankenhaus gebracht, wo sie den Großteil des restlichen Films bleibt. Ihr Nachfolger in der Schule, Monsieur Morelli (Jacques Nolot), vertritt weniger extreme politische Ansichten, und auch die übrigen starren Fronten lösen sich zunehmend auf, was dadurch belegt wird, dass sich Maïté und Henri, die beiden politischen Extreme, ineinander verlieben. Die Schlusssequenz zeigt zum ersten Mal alle vier Jugendlichen zusammen in der sommerlichen Natur, an einem Fluss – das Symbol schlechthin für Bewegung und Veränderung. Alice et Martin In Alice et Martin (Alice und Martin, 1998) lebt der zehnjährige, unehelich geborene Martin (Alexis Loret) mit seiner Mutter (Carmen Maura) in einem kleinen Ort in Südwestfrankreich. Sein Vater (Pierre Lacroix), ein reicher, autoritärer Geschäftsmann, der mit Martins Mutter damals nur eine Affäre hatte und nun mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebt, zeigt plötzlich Interesse an der Erziehung seines Sohnes. Die Mutter lässt Martin zum Vater ziehen, weil sie meint, dass es zum Besten des Kindes sei. Nach dieser Einleitung macht die Erzählung einen Sprung von acht Jahren nach vorne: Martin flüchtet Hals über Kopf aus dem väterlichen Haus in die Berge. Nachdem er sich wochenlang in der Natur herumtreibt, schlägt er sich zu seinem Halbbruder Benjamin (Mathieu Amalric) nach Paris durch, wo dieser mit der Violinistin Alice (Juliette Binoche) eine Wohnung teilt. Martin macht als Model Karriere und beginnt, Alice zu beobachten und zu verfolgen. Als er ihr seine Liebe gesteht, weist sie ihn zuerst ab, beginnt aber bald darauf eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit ihm. Je mehr Alice ihre Liebe jedoch beweist, desto mehr zieht sich Martin zurück. Als die beiden nach Südspanien reisen und Alice Martin dort gesteht, dass sie schwanger ist, wird Martin von seiner Vergangenheit eingeholt und er fällt in ein psychisches Koma. Alice, die hinter Martins verschlossener Haltung ein dunkles Geheimnis ahnt, versucht ihm zu helfen, doch er weist sie zurück. Erst später wird

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dem/der ZuschauerIn in Rückblenden erzählt, dass Martin seinen Vater im Affekt getötet hat. Martin lässt sich freiwillig in eine Psychiatrie einweisen, während Alice dessen Spuren zurückverfolgt. Sie sucht seine Mutter und schließlich seine Stiefmutter Lucie Sauvagnac (Marthe Villalonga) auf, um sie auf Martins Wunsch hin zu einer Zeugenaussage zu überreden. Ihre Liebe währt auch dann noch fort, als Martin sich der Polizei stellt und bereit ist, im Gefängnis für seine Schuld zu büßen. Der Film endet mit einem Brief, in dem Martin seine Liebe zu Alice beteuert und seine Zuversicht hinsichtlich der Zukunft ausdrückt.

Julio Medem Julio Medem wurde 1958 im baskischen San Sebastián als Sohn einer baskisch-französischen Designerin und eines aus Deutschland stammenden Zeichners geboren, der während seiner Kindheit Mitglied in der Hitler-Jugend war, bis ihn mit zwölf Jahren seine Valencianische Mutter nach Spanien brachte. Wie Bergmans Vater, so war auch Medems Vater äußerst streng. Er gehörte sein Leben lang der politischen Rechten an, weshalb sich Medem schon als Jugendlicher gegen die politischen Überzeugungen seines Vaters auflehnte und, nachdem er nach Madrid gezogen war, von der Mittelklasse distanzierte. Wie Bergman und Téchiné, so suchte auch Medem im Kino Zuflucht aus der Einsamkeit.62 Um seine rege Fantasie auf irgendeine Weise künstlerisch verarbeiten zu können, begann er schon früh, Geschichten zu schreiben und zur Super-8 Kamera seines Vaters zu greifen, um mit seiner Schwester Ana in der Nacht Filme zu drehen: »Mein Vater verwahrte seine Ausrüstung in einem verschlossenen Schrank. Nachts weckte ich meine Schwester Ana, wir nahmen die Schlüssel, öffneten den Schrank und holten die Kamera heraus. […] Hier fand ich ein Geheimnis, das ich nicht definieren konnte, das mich aber sehr faszinierte, da ich verstand, dass sich etwas von mir auf die Bilder zu übertragen begann und ich wollte herausfinden, um was es sich handelte. Ich entdeckte, dass dieses Spiel es mir erlaubte, irgendwelche Traumsphären zusammenzurufen oder zu sehen, die mir halfen, in Orte oder Atmosphären einzutreten, zu denen ich zuvor keinen Zugang hatte, […] die mich verführten, ohne dass ich wusste warum.«63

62 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, Essex: Pearson Education Limited 2002, S. 159. 63 Medem zit. n. Carlos F. Heredero: Julio Medem, in: Carlos F. Heredero (Hg.): Espejo de miradas. Entrevistas con nuevos directores del cine español de los años noventa, Madrid: Alcalá de Henares 1997, S. 552. 42

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Auffallend ist, dass die Protagonistin in Los amantes del círculo polar wie seine Schwester Ana heißt und dieser Film, wie wir später sehen werden, von einer Art verbotenen Geschwisterliebe handelt. Schließlich verliebte sich Medem in seine Nachbarin, seine Liebe wurde aber nicht erwidert. Seine erste – unglückliche – Liebe ist nicht ganz unwichtig, um seine Filme, vor allem was die Behandlung von Liebe und Begehren betrifft, besser zu verstehen. Er verbrachte Stunden damit, seine Sehnsucht, seine Frustrationen und seinen Kummer niederzuschreiben, was schließlich in einem Roman endete, der den Titel Mi primer día trägt und von einem Jungen handelt, der träumt, zum Stadium des Sich-Verliebens zurückzukehren, und es schafft, in diesem Stadium zu verweilen und nie mehr wieder von der Realität enttäuscht zu werden. Schon zu dieser Zeit beschäftigte sich Medem also mit den Themen, die in seinen Filmen immer wiederkehren, nämlich dem Konflikt zwischen Sehnsucht und Realität und der Frage nach einer imaginären Welt. Die Sehnsucht und die Suche nach Liebe liegen all seinen Filmen zugrunde. Sein Streben, für seine metaphysischen Fragen eine entsprechende emotionale, expressive Filmsprache zu finden, eint ihn mit Bergman und Téchiné. »For desire is the driving force of Medem’s films and their metaphorical complexity, both visually and structurally, is invariably traversed by characters in search of love and a little enlightenement. Medem, too, is after a little charity in his vision, criss-crossing the border between post-modernism and metaphysics in his search for images that express emotional truths.«64

Nach dem Schulabschluss ging Medem zur Universität in Soria im NordOsten Spaniens, kehrte aber mit 21 in seine Geburtsstadt San Sebastián und somit sozusagen zu seinen baskischen Wurzeln zurück. Er belegte dort ein Psychologiestudium, aber seine Leidenschaft zog ihn bald in Richtung Film. Was von seinem Psychologiestudium und der Beschäftigung mit der Psychoanalyse in seinen bisher fünf Spielfilmen jedoch zu spüren ist, ist die Erforschung der menschlichen Psyche und die von Sigmund Freud geprägten Begriffe »Ich« und »Es«. Neben Bergman, Buñuel, Kurosawa und Zulueta betont Medem später immer wieder den Einfluss von Víctor Erice auf sein eigenes Filmschaffen. Es war dessen Film El espíritu de la colmena (Der Geist des Bienenstocks, 1973), der Medem dazu bewegte, selbst Regisseur zu werden.65 Genauso wie Medems eigene Filme erforscht er das Ineinandergreifen von Realität und Fantasie.

64 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, S. 158. 65 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 16. 43

TRAUMREISENDE

»Die große Erschütterung kam für mich, als ich El espíritu de la colmena von Víctor Erice sah. Dieser Film löste in mir einen enormen Schock aus und regte mich daher zum Nachdenken an, was ich in Wirklichkeit sein möchte. […] Es faszinierte mich zu entdecken, dass sich in der harmonischen Linie seiner Bilder ein Loch verbarg, das mysteriös und düster, gleichzeitig aber auch sanft und warm war. Ich wollte dorthin gelangen, um Realitäten zu schaffen, die durchlöchert sein sollten, Welten, die aus der Realität entstanden sind, die aber ein Loch haben, durch das du entschwinden kannst.«66

Medem begann früh, Kurzfilme mit der Super-8 Kamera zu drehen und zu einer Zeit verstärkter separatistischer Bestrebungen für die baskische Zeitung La Voz de Euskadi Filmkritiken zu schreiben. Medem kritisierte jedoch die ihm vorhergehende Generation an Regisseuren dafür, dass sie ihre politischen Bestrebungen über den künstlerischen Anspruch stellten. Cineasten wie Saura und Berlanga kritisierte er hingegen dafür, dass sie sich mehr mit der jüngeren Geschichte Spaniens befassten, anstatt sich der Gegenwart anzunehmen.67 1986 drehte er schließlich mit einer Förderung von 3 Millionen Pesetas durch die baskische Regierung den Kurzfilm Patas en la cabeza (Füße im Kopf), der Medem den Preis für den besten Kurzfilm beim Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmfestival in Bilbao einbrachte. Der Film weist strukturelle Ähnlichkeiten mit Los amantes del círculo polar auf, geht es in diesem Film doch um die symmetrische Vorstellung eines Jungen und eines Mädchens, die einen gemeinsamen Freund erfinden, um zusammen sein zu können. Ein Jahr später gewann Medem den renommierten Telenorte-Preis mit Las seis en punto (Genau Sechs Uhr, 1987), einer surrealen Erzählung eines Jungen, der einen Albtraum erfindet, um ein Mädchen fangen zu können, und schließlich merkt, dass er die Kontrolle über diesen verloren hat. Diese Preise brachten Medem viel Anerkennung und Kontakte ein. Er arbeitete in der Folge unter anderem als Regieassistent von José María Tuduri bei den Dreharbeiten zu Crónica de la segunda guerra Carlista (Bericht über den zweiten Karlistenkrieg, 1987) und machte einen Bildungsfilm für junge Journalisten mit dem Titel El diario vasco (1989). Danach wurden allerdings durch einen Regierungswechsel die Förderungen für den Filmnachwuchs gekürzt, und Medem war gezwungen, das teure San Sebastián zu verlassen und in das Bergdorf Amasa zu ziehen, wo er drei Jahre lang vom Geld seiner Frau lebte und sich um ihren gemeinsamen Sohn kümmerte. Neben Haushalt und Kindererziehung schrieb Medem weiterhin Kurzgeschichten. In dieser Zeit entstand das Drehbuch zu Me-

66 Medem zit. n. Carlos F. Heredero: »Julio Medem«, S. 554. 67 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, S. 159. 44

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dems erstem Spielfilm Vacas (Kühe, 1991), der wohl durch seine Mitarbeit an Tuduris Film über den zweiten Karlisten-Krieg inspiriert wurde. Was Julio Medem zu einem der interessantesten Regisseure des gegenwärtigen spanischen Kinos macht, ist seine unkonventionelle, komplexe Erzählweise und seine expressive, emotionale Filmsprache. Seine Filme werden nicht rein chronologisch erzählt, sondern durch das Einflechten von Rückblenden, Träumen oder surrealen Sequenzen konstruiert Medem das subjektive Erleben seiner Figuren und deren gedankliche Assoziationen. Nicht umsonst lehnte Medem es bisher immer ab, ein fremdes Drehbuch zu verfilmen. Um seinen Figuren Leben einzuhauchen, verfasst er häufig parallel zum Drehbuch Tagebücher für die einzelnen Charaktere.68 Durch eine Art assoziatives Erzählen wird der Blick vor allem auf die Visualisierung der Gedanken und Emotionen der Protagonisten gerichtet, die sich oft an einem Wendepunkt in ihrem Leben befinden. Medem erzählt seine Geschichten durch Bilder und Stimmungen, wobei häufig der Zufall und das Schicksal im Zentrum der Erzählung stehen, was sich bei Medem gerne in ein Spiel mit Namen übersetzt (beispielsweise Jota und Lisa in La ardilla roja, Angel und Angela in Tierra, die Namen Otto und Ana in Los amantes del círculo polar, die sich gleichermaßen von beiden Seiten lesen lassen, und der Zusammenhang zwischen dem Namen Lorenzo und der Sonne sowie zwischen dem Mond und Luna in Lucía y el sexo). An dieser Stelle sollte kurz auf den so genannten hasard objectif, den objektiven Zufall, eingegangen werden, der bei den Avantgardebewegungen und insbesondere bei den Surrealisten eine zentrale Stellung einnimmt und der im Rahmen einer »den Gesetzen einer dem […] ›Zufall‹ gehorchenden Dramaturgie«69 oft als Mittel der Distanzierung verwendet wird. Am Beispiel von André Bretons Nadja (1928) lässt sich darstellen, was unter hasard objectif gemeint ist: zwei Ereignisse, die ein oder mehrere übereinstimmende Merkmale aufweisen, werden miteinander in Beziehung gesetzt. Die Surrealisten stellen die Übereinstimmung zwischen diesen semantischen Elementen fest, deren Sinn aber nicht zu erfassen sei. Auch wenn die Surrealisten den Zufall zwar nicht herstellen, da sich dieser wie von selbst einstellt, so bedarf es doch in den Augen der Surrealisten einer Prädisposition, die es ermöglicht, die voneinander unabhängigen Ereignisse auf Übereinstimmung von semantischen Elementen hin zu beobachten. Somit wird nicht nur die Aufmerksamkeit auf das Belanglose und Wunderbare im Alltäglichen gelenkt, das anderen auf68 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 17f. 69 Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 254. 45

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grund ihrer mangelnden Eindrucksempfänglichkeit entgeht, sondern das Außergewöhnliche wird regelrecht provoziert. »Ausgehend von der Erfahrung, dass eine zweckrational geordnete Gesellschaft die Möglichkeiten der Entfaltung des einzelnen immer mehr beschränkt, suchen die Surrealisten Momente des Unvorhersehbaren im alltäglichen Leben zu entdecken. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich daher auf diejenigen Phänomene, die in der zweckrational geordneten Welt keine Stelle haben.«70

Die surrealistische Deutung der Kategorie des Zufalls ist mit Ideologie verknüpft in dem Sinn, als sie versuchen, im Zufall einen objektiv gegebenen Sinn zu erkennen. Da die aktive Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen von der zweckrationalen Gesellschaft dominiert wird, stellt der Zufall eine Chiffre der Freiheit dar, da das sich gegen die Gesellschaft protestierende Individuum sich einer Erfahrung überlassen kann, »deren Merkmal und Wert in der Nichtzweckgebundenheit besteht«.71 Der im Zufall gesuchte Sinn muss folglich zwingenderweise unfassbar bleiben, da er ansonsten wieder in zweckrationale Beziehungen eingehen und damit seinen Protestcharakter verlieren würde. Somit wird die passive Erwartungshaltung als Opposition zur bestehenden Gesellschaft verstanden. In Medems Filmen dient der Zufall nur bedingt dem Protest gegen die bestehende Ordnung (beispielsweise im Sinne einer Dekonstruierung baskischer Identität in Vacas oder einer Auflehnung gegen die elterliche Autorität in Los amantes del círculo). Vielmehr sorgt der Zufall für eine teils absurde, teils magische Grundstimmung und vermittelt das Gefühl, als würden die Figuren gelenkt werden. Einen zentralen Stellenwert in Medems Filmen hat auch die Natur, die zur geheimnisvollen, magischen Atmosphäre der Filme beiträgt und das Seelenleben der Figuren spiegelt. Tomás Fernández Valentí beschreibt den Regisseur und sein Schaffen mit folgenden Worten: »Als ein unvorhersehbarer und ikonoklastischer Filmemacher gefällt es ihm, den Großteil seiner Fiktionen rund um Situationen zu bauen, die bestimmt sind vom Zufall und den eigenwilligen Wendungen des blinden Schicksals, das seine Figuren unbarmherzig trifft. Letztere entsprechen auch nicht konventionellen, ›natürlichen‹ Parametern, sondern der Großteil von ihnen sind voller unerwarteter Fähigkeiten. […] Der Zufall wird von Medem wie eine Art Spiel gesehen, das nicht realistisch, sondern im Gegenteil eindeutig unnatürlich und künstlich ist und das ihm erlaubt, seine Erzählungen zu exotischen, geografi70 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 89. 71 Ebd., S. 90. 46

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schen Landschaften zurückzuführen, wie Finnland in Los amantes del círculo polar oder die fast schon außerirdische Insel Lanzarote, die in Lucía y el sexo erscheint.«72

Das Etikett, Hoffnungsträger des baskischen Films im neuen Jahrtausend zu sein, wies Medem jedoch zurück. Überhaupt weigerte er sich, wie viele andere baskische Regisseure seiner Generation, sich ausschließlich baskischer Themen anzunehmen: »[W]ir sind Filmemacher, weil wir Filme machen wollten, aber nicht aus kämpferischen Gründen. Die vorhergehende Generation drehte Filme in einer Stimmung der ständigen ideologischen Debatte, und es gab einige unter ihnen, die begannen Filme zu machen, da dies ihnen als der beste Weg erschien, sich mit gewissen Themen auseinander zu setzen, die zur Zeit Francos tabu waren.«73

Obwohl Medem sicherlich als einer der Hauptvertreter des zeitgenössischen spanischen Autorenkinos und innerhalb des Kontextes eines spanischen Nationalkinos angesehen wird, ist seine Auffassung von Identität nicht so starren Definitionen wie »Nationalität« verhaftet (man sehe sich nur den Handlungsort in seinen späteren Filmen wie Los amantes del círculo polar oder Lucía y el sexo an): »Julio Medem’s cinema can be understood as an instrument by which the discourse that locates the Spanishness of Spanish cinema in high art and the intellectual traditions of the country is maintained. Furthermore, his films often directly engage with questions of Spanishness, of the nature of modern national identities, and the place of those identities in a wider European framework. Medem’s oeuvre, like that of Bigas Luna, reveals a preoccupation with national/transnational subjectivity, and the director’s genealogical credentials are paraded, for example by Heredero, as proof of his ›pan-European subjectivity‹, which makes him ideal for creating a transnational art cinema for the Spain of the third millenium.«74

Dass sich Medem seiner baskischen Herkunft jedoch durchaus bewusst ist und diese auch thematisiert, beweist sein letzter Film La pelota basca (2003). In diesem Dokumentarfilm analysiert er die Terrorgruppe ETA und deren Einfluss auf die baskische Gesellschaft, indem er mehr als 50 72 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, in: Dirigido 304 (2001), S. 49. 73 Medem zit. n. Carlos F. Heredero: »Julio Medem«, S. 557. 74 Núria Triana-Toribio: Spanish National Cinema, London, New York 2003, S. 149. 47

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Personen interviewt und diese Interviews durch Landschaftsaufnahmen, Aufnahmen von traditionellen, baskischen Sport- und Kulturereignissen sowie Spielfilm- und Dokumentarfilmsequenzen zum Thema Terrorismus auflockert. Vielleicht könnte man deshalb vielmehr sagen, dass sich Medem bewusst von seiner baskischen Heimat entfernt hat, um sich ihr mit neuen Augen zu nähern: »Medem’s artistic decision to move away from purely Basque locations, characters and stories somehow disqualifies him from becoming an unproblematic representative of contemporary Basque cinema. But, conversely, one could also argue that this process of separation and distancing from the motherland is a necessary strategy geared towards self-examination and self-definition. Only through a dynamics of differentiation can an individual acquire self-knowledge.«75

Eine Familiensaga im Baskenland: Vacas Die unkonventionelle, originelle Erzählweise von Medems erstem Spielfilm brachte dem Regisseur über zwanzig Preise ein, darunter den Preis in Gold für die Sektion Neue Regisseure auf dem Internationalen Filmfestival in Tokio sowie den Goya als Bester Neuer Regisseur, und machte ihn zu einem der vielversprechendsten zeitgenössischen Regisseure Spaniens. Die komplexe, verschachtelte Handlung von Vacas (Kühe, 1992) ist in vier Kapitel unterteilt und spielt in einem kleinen baskischen Dorf, vom Zweiten Karlisten-Krieg 1875 bis zum Bürgerkrieg 1936. Sie erzählt die Geschichte zweier dort ansässiger, rivalisierender Familien, den Irigibels und den Mendiluces, über drei Generationen hinweg, beginnend mit Manuel Irigibel (Carmelo Gómez) und Carmelo Mendiluce (Manolo Uranga). Im Krieg kommt Carmelo um, während Manuel überlebt, indem er sich mit Carmelos Blut beschmiert und sich tot stellt. Eine weiße Kuh starrt ihn und damit die Kamera an, die Handlung schreitet nach einer Iris-Blende dreißig Jahre voran und Manuel ist ein alter Mann (Txema Blasco), umgeben von seinem Sohn Ignacio (wiederum dargestellt von Carmelo Gómez – Medem zögert ebenso wenig wie Téchiné in Barocco oder Bergman, zwei verschiedene Rolle mit demselben Schauspieler zu besetzen) und seinen drei Töchtern. Im Zentrum dieses zweiten Kapitels stehen nun Ignacio, das Weiterführen der Familienfehde durch ihn und Juan, Carmelo Mendiluces Sohn (Manolo Uranga) sowie die 75 Isabel C. Santaolalla: »Far from Home, Close to Desire. Julio Medem’s Landscapes«, in: Bulletin of Hispanic Studies 3 (1998), S. 333. 48

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sexuelle Anziehung zwischen Ignacio und Juans Schwester Catalina (Ana Torrent). Der Höhepunkt des Kapitels ist der Holzhackwettbewerb zwischen Ignacio und Juan, bei dem Ignacio Juan schlägt, woraufhin Juan seine Axt in den Wald hineinwirft. Die Kamera nimmt den subjektiven Blickpunkt der Axt ein, und in der nächsten Sequenz treffen sich Ignacio und Catalina im Wald, als wollten sie dieser Geste folgen, und leben ihre Leidenschaft aus. Die Erzählung macht wiederum einen Sprung, diesmal von zehn Jahren, und durch eine visuelle Verbindung zwischen einer Kuhgeburt und dem ersten Erscheinen von Catalina mit ihrem Sohn Peru (Miguel Angel García als Kind, wiederum Carmelo Gómez als junger Mann) wird klar, dass dieser das Ergebnis der unehelichen Verbindung zwischen ihr und Ignacio ist. Das dritte Kapitel kreist vor allem um die Freundschaft zwischen Manuel, dessen jüngster Enkelin Cristina (Ana Sánchez als Kind, Emma Suárez im Erwachsenenalter) und Peru. Diese drei verbindet eine besondere Beziehung zur Natur, zum Wald und zu den Kühen. Durch den mysteriösen, ausgehöhlten Baumstumpf, der das zentrale Motiv des Kapitels ist, sowie Manuels zunehmender geistigen Verwirrung erhält die Erzählung immer mehr einen surrealen Charakter. Als Catalina und Ignacio sich am Ende des Kapitels dazu entschließen, nach Amerika auszuwandern und Peru mit sich zu nehmen, erhalten Cristina und Peru weiterhin den Kontakt durch Briefwechsel aufrecht. Im letzten Kapitel kehrt Peru im Sommer 1936 als Zeitungsfotograf in das Dorf zurück, das zunehmend vom Krieg zerstört wird. Obwohl Peru in den USA verheiratet ist und ein Kind hat, beschließen er und Cristina, nach Frankreich auszuwandern, um ihre Liebe in Freiheit ausleben zu können. Somit begeben sie sich auf dieselbe Reise wie ihr Vater Ignacio zwanzig Jahre zuvor, doch in die entgegengesetzte Richtung. Der Film endet mit einer Kamerafahrt in das Loch im Baumstumpf und Cristinas Worte aus dem off, »Wir sind fast da«. Wie in seinen folgenden Filmen gab ein zentrales Bild Medem den Impuls für diese Geschichte – das Bild einer Axt, die ein Mann in einen nahe gelegenen Wald wirft, in dem er seine Rivalen versteckt glaubt.76 Dieses Bild taucht in Vacas in der Mitte des Films auf, als Juan Irigibel wutentbrannt seine Axt in den Wald wirft. Genauer betrachtet handelt es sich bei diesem Motiv aber auch um den Ausgangspunkt der Handlung, was eine für Medems Filme typische Zentrifugalkraft zur Folge hat: »Medem’s films have a habit of spiralling out from their centres rather than following a linear path. Thus the impact of this axe sends out shock waves like

76 Vgl. Carlos F. Heredero: »Julio Medem«, S. 569. 49

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ripples on a pond, each wave representing past and future generations of two Basque families […].«77

Obwohl der Film durch den Karlisten- und den Bürgerkrieg eingerahmt ist, geht es Medem hier weniger um den Krieg als solchen, sondern vielmehr um die Darstellung der baskischen Gesellschaft als eine autodestruktive, gewalttätige und inzestuöse (am Beispiel von Juan und seiner Schwester Catalina, und Peru und seiner Halbschwester Cristina), deren größter Feind letztlich sie selbst ist. Außerdem stellt Medem zwei Lebensauffassungen einander gegenüber – auf der einen Seite die der pragmatisch orientierten Mendiluces, die bereit sind, zu kämpfen und zu sterben, auf der anderen Seite die der Irigibels, die individualistischer und weniger bodenständig sind und deren Lebensauffassung die Gefühle und Fantasie betont. Somit stützt sich die Erzählung auf die Darstellung zweier verschiedener Welten: die äußere, reale Welt, die durch Liebe und Leidenschaft, jedoch auch durch Rivalität, Hass und Krieg gekennzeichnet ist, und die innere, imaginäre Welt, die von der Realität abgekapselt ist und für einige Figuren, allen voran Manuel, eine Art Zufluchtswelt darstellt.78 Wie bei Bergman und Téchiné, so findet sich also auch hier der Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit wieder. In einem Interview von 1994 äußert sich Medem folgendermaßen dazu: »I usually like to create situations which can incorporate various worlds at the same time. I often like to use a very real, very immediate and recognizable photography, adjusting myself to the rules of reality as it is known and shared by all of us. But I am also interested in contrasting this reality with another one, with another space which looks like this reality but which is not, which has not yet been made and which is somehow connected to it; and sometimes I want to narrate the trajectory from one world to the other.«79

Daher erzählt Medem die Geschichte nicht auf konventionelle Art, sondern versucht, durch spezielle Kameraführung und Montage die Gefühle der Protagonisten zu vermitteln. Die Sprache der einzelnen Bilder ist so stark, dass die Verbindung zwischen einzelnen Figuren oft nur durch Blicke und Gesten ausgedrückt werden können. Tomás Fernández Valentí sieht in dieser suggestiven, visuellen Art des Erzählens das wirklich Interessante an Medems ersten Spielfilm: 77 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 161. 78 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 22. 79 Zit. nach Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, in: Peter Williams Evans: Spanish Cinema. The Auteurist Tradition, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 313. 50

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»Viele Elemente machen Vacas zu einem interessanten Film, aber das Ansprechendste ist nach wie vor die einfallsreiche Erzählweise, die er zum Besten gibt: diese reservierte, indirekte Art, Tatsachen zu erzählen, Figuren zu beschreiben und Ideen anzudeuten, auf metaphorische Weise auf andere Fragen anzuspielen, aber ohne dass das Ergebnis strikt realistisch oder, glücklicherweise, symbolisch überladen wäre. […] Der attraktivste Aspekt liegt in seiner Form, harmonisch und filmisch, die äußere und innere Handlung, die Gesten und Bewegungen der Figuren und die tiefen psychologischen Verwicklungen zwischen diesen auszudrücken.«80

Diese Art des Erzählens wird von Medem vor allem bei der Darstellung von Liebenden eingesetzt, zwischen denen eine übernatürliche Verbindung besteht und die durch schicksalhafte Bestimmung zueinander geführt werden. So zum Beispiel Ignacio, der, durch einen inneren Instinkt angetrieben, einer unsichtbaren Person durch den Wald folgt. Er bleibt am Waldrand stehen, und man sieht Catalina den Hügel zu ihrem Haus hinauflaufen. Indem die Kamera den subjektiven Blick der Liebenden wiedergibt, wird die Distanz zwischen ihnen verringert, und ihr gegenseitiges Begehren wird durch einen Windhauch, der sie beide im selben Moment berührt, zum Ausdruck gebracht.81 Dieser Windhauch, der die Verbindung zwischen suggeriert, erinnert auch an Buñuels L’Age d’or, wo der Wind »[…] ushers in a realm far away from the worlds of the two lovers, suggesting the potential space of their union«.82Auch zwischen Peru und Cristina besteht eine magische Beziehung. Sie spürt beispielsweise, wenn sein Blick auf ihrem Nacken ruht, und indem die Kamera Perus Blickpunkt wiedergibt, macht sie dessen Gefühl der Verliebtheit für den/die ZuschauerIn spürbar. Wie bereits erwähnt, verbindet die beiden, ebenso wie Manuel, ein besonderes Verhältnis zur Natur. Sie sind auch die einzigen Figuren, die Zugang zu Manuels Fantasiewelt haben. Nachdem dieser im Krieg neben Carmelo Mendiluce »versagt« hat, zieht er sich in seine eigene Welt zurück, die der durch Gewalt und Wettbewerb geprägten männlichen Welt fern steht: »[…] Manuel is symbolically reborn to a new self, a self which he can no longer relate to male prowess or blood pride.«83 Obwohl die wechselnde Kameraperspektive keine ausschließliche Identifizierung mit einer Figur zulässt, liegt der Fokus auf Manuel. Er ist die einzige Figur, die einen Wandel durchmacht 80 Fernández Valentí, Tomás: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 50f. 81 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 23. 82 Linda Williams: Figures of Desire. A Theory and Analysis of Surrealist Film, Berkeley, Los Angeles, Oxford: University of California Press 1981, S. 148. 83 Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, S. 320. 51

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(was Medem dadurch sichtbar macht, dass er der einzige ist, der über die Jahre nicht von ein und demselben Schauspieler interpretiert wird), und im Gegensatz zu den übrigen Männern im Film hat er eine sehr nahe Verbindung zur Natur und der Welt der Instinkte. Neben seiner Enkelin Cristina ist es später die gestohlene Fotokamera, die es ihm ermöglicht, den Kontakt zur Außenwelt nicht gänzlich zu verlieren. Während Manuel immer wieder versucht, sich der Natur anhand von Hilfsmitteln wie der Kamera zu nähern, wird Cristina von Anfang an als ein Teil dieser etabliert.84 Wie ihr Großvater, so hat auch Cristina die Fähigkeit, sich in eine andere, schützende Welt zurückzuziehen. Ähnlich wie Manuel so wird auch Peru als ein gesellschaftlicher Außenseiter dargestellt. Im Gegensatz zu seinen Verwandten interessiert er sich mehr für die Welt der Natur als für den Sport des Holzfällens. Er teilt mit Manuel ebenfalls dessen Faszination für die Kamera und verbringt seine Zeit damit, anhand ihrer den Wald und dessen Einwohner zu erkunden und später auch Cristinas immer weiblicher werdenden Körper zu beobachten. Peru ergreift schließlich den Beruf des Fotografen und nimmt im Bürgerkrieg die Zerstörung des Tals auf. Der Natur wird auch durch die spezielle Kameraführung Bedeutung beigemessen und ein fast übernatürlicher, magischer Anschein verliehen, wodurch – in Anknüpfung an den Surrealismus, der die Natur als Bindeglied zwischen dem Menschen und dem Universum ansieht – ein Gegensatz zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen entsteht. So richtet Medem die Kamera hoch hinauf, um den Mond, die Sonne und den Himmel zu filmen, um dann im wahrsten Sinne des Wortes auf den Boden der Realität zurückzukehren und das Gras aus Bodenhöhe zu filmen. Medem spielt mit verschiedenen Identitäten genauso wie er mit Kameraeinstellungen spielt. Daher verwundert es nicht, dass wir plötzlich eine Einstellung aus dem Blickwinkel einer Kuh sehen. Drei Generationen von Kühen werden somit zu Zeugen des menschlichen Handelns.85 So setzt Medem auch das Kuhauge der Linse – dem »Auge« der Kamera – gleich (das Auge hat als das Fenster zu einer anderen Welt auch für den Surrealismus eine besondere Bedeutung). Der Wald in Vacas, der zwischen den Anwesen der Irigibels und Mendiluces liegt, wird somit zu einem mystischen Ort an der Grenze zwischen Realität und Fantasie. Dabei wird dieser aber nicht nur in seiner Idylle gezeigt, sondern auch in einer nahezu bedrohlichen Atmosphäre, unterstützt von den extrem vergrößerten Kameraeinstellungen von Manuel und Peru. Die Natur ist, im Gegensatz zum historischen Raum, der vorwiegend mit männli84 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 27. 85 Vgl. Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, S. 315. 52

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chen Attributen besetzt ist (die Axt und das Gewehr, die jeweils Gewalt und Krieg symbolisieren), von Weiblichkeit geprägt. So werden einige Waldsequenzen auf akustischer Ebene mit weiblicher Atmung unterlegt. Bezeichnenderweise stimuliert der Wald wiederholt die Triebe der Männer, hier spielen alle Liebesszenen, und auch die Briefe zwischen Cristina und Peru werden dort gelesen.86 Medem betont somit die weibliche Präsenz gegenüber der in der spanischen Gesellschaft vorherrschenden männlichen Dominanz87 – oder anders ausgedrückt, er stellt die weibliche Welt der Kühe der von Wettbewerb und Gewalt geprägten männlichen Welt gegenüber. Trotz der Ähnlichkeiten, die Vacas zu früheren baskischen Filmen aufweist, – sowohl was Handlung, Handlungsort und Stil betrifft als auch die zeitweise dokumentarischen Züge88 – macht Medem gleichzeitig auf eine nationale baskische Identität als gesellschaftliches Konstrukt aufmerksam. Durch fast schon ironische Wiederholungen (nicht zuletzt durch die Besetzung mit denselben Schauspielern für drei verschiedene Generationen) entmythisiert er die ethnische Identitätskonstruktion der Basken und zeigt die Schablonenhaftigkeit und Selbstzerstörung dieser Gesellschaft auf. »On the surface, it sought to excavate the historical roots of Basque national identity using the steady, unflinching perspective of the silent witnesses (the ›vacas‹ of the title), who contemplate the bitter rivalries between two Basque families over a fifty-year cycle of war and aggression. However, the film also displays a clear awareness of its status as a textual production; it presents itself as a text which is both a clarification as well as another mystification of Basque history and identity. In short, it stands as another version of events to be questioned rather than be unquestionably accepted.«89

Durch die Besetzung dreier verschiedener Generationen mit denselben Schauspielern verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen den Generationen und damit auch zwischen den einzelnen Kapiteln der Filmerzählung, Medem stellt hier bewusst die Frage nach Identität und Abgrenzung, nach der Spannung zwischen dem »Gleich-Sein« und dem »Anders-Sein«, und seine Aussage scheint zu sein, dass es keine fixe Identität gibt. Indem Medem den Film damit enden lässt, dass Peru und Cristina auswandern, reißt er die Mauern zwischen den zwei Familien ab und 86 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 29. 87 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 163. 88 Vgl. Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, S. 311. 89 Barry Jordan/Rikki Morgan-Tamosunas: Contemporary Spanish Cinema, Manchester, New York: Manchester University Press 1998, S. 196. 53

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zeigt somit die Sinnlosigkeit von starren Grenzen auf, die den Ausschluss des »Anderen« mit sich bringen. Sowohl stilistisch als auch thematisch vermischen sich in Vacas die Gegensätze – zwischen dem Realen und dem Traum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, zwischen dem »Ich« und dem »Du«. »[I]t could be argued that this final step towards the further blurring of boundaries between the Irigibels and the Mendiluces consummates the film’s ongoing efforts to expose the ultimate ineffectiveness of systems which rely on axioms of difference and exclusions. In Vacas, thematic, structural, and stylistic features work together to knock down physical and psychological barriers, eliminate distinctions, and thus put into question the categories of ›sameness‹ and ›difference‹. The reappearance of actors in different roles, the blending of the real and the fantastic, the combination of objective and subjective point-of-view shots, the lack of coincidence between chapter and temporal transition, the duplication of processes of mental alienation (Manuel Irigibel and Juan Mendiluce), as well as of incests (only attempted between Juan and Catalina, but fulfilled between Peru and Cristina), among other things, place into question those structures – psychological, philosophical, and political – which attempt to define identity through ironclad notions of difference.«90

Er sieht Identität als flüchtiges Konstrukt an, das von den Träumen und Visionen der Charaktere bestimmt wird. Wie in all seinen späteren Filmen, so geht es auch hier um Individuen, die auf der Flucht sind von der sie einengenden Identität, sei sie definiert über ihr (Heimat-)Land und dessen Traditionen, über ihre Sexualität oder ihre subjektive Wahrnehmung. So begeben sie sich auf eine Reise und Suche nach ihrer (neuen) Identität: »Medem’s films invariably feature individuals trying to escape from constraints of various kinds – (home)land, tradition, gender, sex, subjectivity – in narratives where the motif of the ›journey‹ features prominently.«91

Medems eigene Worte belegen auch, dass er sich mit seinen Filmen auf eine Reise begibt, auf der er letztendlich seine eigene Identität sucht, und dass diese Identität sich im Laufe eines Films verändert: »I compare film-making to making a very intense journey; having completed the journey, I never go back. A part of me remains there and I have to move on 90 Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, S. 323. 91 Ebd., S. 311. 54

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to something else. I can never be the same again after making a film, so the person who made Vacas is someone else.«92

So kann Medems Erzählstruktur als (Lebens-)Zyklus beschrieben werden, wobei alles zum Anfang zurückkehrt und sich doch etwas verändert. Diese metaphysische, zirkuläre Bewegung mit minimaler Veränderung erinnert an Buñuel, insbesondere an El Angel exterminador (Der Würgeengel, 1962), Cet obscur objet du désir (Dieses obskure Objekt der Begierde, 1977) und Le Charme discret de la bourgeoisie (Der diskrete Charme der Bourgeoisie, 1972).93 Hier findet sich auch eine Parallele zu Téchiné, bei dem die Figuren ebenfalls ihren Weg gehen, um dann doch wieder am Anfang anzugelangen. So zum Beispiel in Souvenirs d’en France: »Régina (Marie-France Pisier), in Souvenirs d’en France, hat nur im Sinn, ihre bürgerliche Familie zu verlassen, wohin sie ihre Heirat gebracht hat. Dies wird sie auch tun, sie wird das große amerikanische Abenteuer erleben von dem sie geträumt hat, um dann viel später genau dorthin zurückzukehren, zugleich verändert und mit sich selbst identisch.«94

Eine theoretische Anknüpfung lässt sich diesbezüglich außerdem bei Gilles Deleuze finden, der davon ausgeht, dass das Ich das radikal Individuelle ist, das sich in der Bewegung der wiederkehrenden Differenz verbirgt. »Den Mythos von der ewigen Wiederkehr deutet Deleuze als diese spielerischkindlich-artistische Korrelierung von Einem und Vielem, Sein und Werden. ›Revenir est l’être de ce qui devient.‹ Die ewige Wiederkehr ist die ›Wiederholung der Differenz‹, die ›Reproduktion des Diversen‹, das Sein des Werdens.«95

Wechselspiel der Identitäten und Geschlechter: La ardilla roja Medems zweiter Spielfilm, La ardilla roja (Das rote Eichhörnchen, 1993), basiert auf einer Kurzgeschichte über die Lüge, die aus der Zeit 92 Zit. nach Rob Stone: Spanish Cinema, S. 167. 93 Vgl. John Andrén: Ursprungets ursprung. Metafysik och identitet i Julio Medems filmer, Stockholm: Stockholms Universitet 2003, S. 25. 94 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 19. 95 Gerd Hötter: Surrealismus und Identität. André Breton: »Theorie des Kryptogramms«. Eine poststrukturalistische Lektüre seines Werks, Paderborn: Igel Verlag 1990, S. 57. 55

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stammt, in der Medem drei Jahre lang zu Hause arbeitete.96 Mit diesem Film setzt er seine visuelle und emotionale Erzählweise fort und räumt der Natur- und Tierwelt einen besonderen Platz ein. Wie in Vacas steht hier die Realität einer imaginären, von den Protagonisten konstruierten Welt gegenüber, und das Unbewusste fließt häufig in Form von Träumen in die Erzählung ein und weist somit auf eine Welt außerhalb der realen. Dies wird zudem durch Alberto Iglesias‹ Vertigo zitierende Filmmusik verstärkt.97 Wie in Vacas geht es hier auch um die Konstruiertheit von Identität. Nicht umsonst besetzt wohl Medem die Hauptrollen Jota und Lisa mit denselben Schauspielern, die u.a. Peru und Cristina in Vacas gespielt haben: Vacas endet mit der Vereinigung und Flucht von Carmelo Gómez und Emma Suárez, während die beiden in La ardilla roja ein kürzlich getrenntes Ehepaar verkörpern. Der Film wird mit einer Unterwasseraufnahme vom Grund eines Sees eröffnet, was bereits andeutet, dass sich tief unter der offensichtlichen Erzählung noch eine zweite Lesart versteckt. Immer wieder schiebt Medem einzelne, auf den ersten Blick absurd wirkende Bilder in die Erzählung ein und fügt dem Haupterzählstrang kleine, eigenständige Nebenerzählungen hinzu, die die Haupterzählung jedoch unterstützen und sich am Schluss wie Puzzleteile zu einem Ganzen fügen und eine interne Logik offen legen.98 Laut Fernández Valentí macht gerade diese Mischung aus leichter Erzählung und einer geheimnisvollen, fast surrealen Atmosphäre Medems Film zu einem der gewagtesten Vorstöße gegen die Erzählkonventionen, die das spanische Kino im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat: »[Ü]ber dieses Spiel angedeuteter Geheimnisse und schrittweise enthüllter Überraschungen (und sei es auch nur über den Weg des Absurden: unglaubliche Zufälle, in Träumen offenbarte Wahrheiten bis hin zu improvisierten Hypnosesitzungen) hinaus besteht das Attraktivste an La ardilla roja in seiner Form, dieses ganze argumentative Delirium mit einem entspannten und auch alltäglichen Erzählton zu harmonisieren, ohne dass die Interferenz mit dem Surrealen forciert erschiene. Man könnte, mit spärlichen Vorbehalten, behaupten, dass Medems Film zu den entschlossensten Verletzungen der Erzählkonventionen gehört, die das spanische Kino in den vergangenen zehn Jahren hervorgebracht hat.«99

96 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 33. 97 Vgl. Paul Julian Smith: Vision Machines. Cinema, Literature and Sexuality in Spain and Cuba, 1983-93, London, New York: Verso 1996, S. 136. 98 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 45. 99 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 53. 56

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La ardilla roja beginnt mit einem Motorradunfall einer jungen Frau (Emma Suárez), durch den sie vorübergehend ihr Gedächtnis verliert. Jota (Nancho Novo), der gerade den Mut gefasst hat, Selbstmord zu begehen, da er von seiner Freundin Eli (Susana García) verlassen wurde, wird Zeuge des Unfalls: ein Motorrad prallt gegen das Gelände, an das sich Jota mit dem Blick aufs Meer gerichtet anlehnt, und Jota spürt dessen Vibration. Nachdem er merkt, dass die Frau sich an nichts erinnern kann, beschließt er, ihr einzureden, sie sei seine Freundin und ihr Name sei Lisa (in Ahnlehnung an den Song Elisa, den er einst für Eli geschrieben hat). Lisa heißt eigentlich Sofía und gibt, obwohl sie ihr Gedächtnis bald zurückgewinnt, weiterhin vor, sich nicht an ihr früheres Leben erinnern zu können. Jota führt Lisa weg von San Sebastián zu einem Campingplatz in La Rioja, der den Namen La ardilla roja trägt. Dort hält sich auch der Taxifahrer Anton (Karra Elejalde) mit seiner Frau Carmen (Maria Barranco) und deren Kindern auf. Am Ende des Films begibt sich Lisa auf die Flucht vor ihrem psychotischen und brutalen Ehemann Félix (Carmelo Gómez), der sie ausfindig gemacht hat. Nach einem gemeinsamen Unfall kommt Félix ums Leben, während Jota überlebt und Lisa schließlich im Zoo von Madrid findet. Der Film endet – über alle Lügen hinweg – mit der glücklichen Vereinigung von Sofía und Jota. Interessant an diesem Film ist, wie bereits in Vacas, wie Medem hier auf subtile Weise mit Identität und Geschlechterrollen und gleichzeitig mit den Erwartungshaltungen der Zuschauer spielt. Der Film beginnt mit einer Totalaufnahme vom Strand von San Sebastián: Sofías Unfall wird so gezeigt, dass sie mit dem Motorrad senkrecht von der Straße auf den Strand hinunterfällt, als ob sie von einem anderen Planeten heruntergefallen wäre.100 Dann sehen wir Sofía von Jotas Blickpunkt aus, woraufhin ein Gegenschuss durch Sofías Helm gezeigt wird. Medem kontert somit Laura Mulveys Kritik101, dass in den meisten Filmen aus der Sicht des Mannes gefilmt und erzählt wird und dass die Frau nur passives Objekt ist, deren Blickpunkt den Zuschauern nie vermittelt wird. Dieser konsequente Wechsel der subjektiven Sichtweise zieht sich durch die gesamte Erzählung hindurch und wird somit zum Grundmotiv des Films: es geht um das Erzählen einer Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven. Während Jotas Sichtweise jedoch offensichtlich ist, enthüllt sich Lisas Erzählperspektive meist in Träumen oder in kurzen Rückblicken und ergibt erst am Ende, nach der überraschenden Auflösung der Geschichte, gänzlich Sinn. Die Frage, ob sie sich nach ihrem Unfall wirklich an 100 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, S. 167. 101 Vgl. Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Sue Thornham (Hg.): Feminist Film Theory, Edinburgh: Edinburgh University Press 1999. 57

TRAUMREISENDE

nichts mehr erinnert oder ihre Amnesie nur vorspielt, legt sich wie ein dunkler, geheimnisvoller Schleier über die gesamte Erzählung und macht Lisa zu einer mysteriösen Figur102, was durch die magische Verbindung zwischen ihr und dem roten Eichhörnchen auf dem Campingplatz verstärkt wird. Nur sie und Carmens Tochter können dieses sehen, dem Blick der Männer (und der Zuschauer) bleibt es jedoch vorenthalten. Je mehr die Erzählung voranschreitet, desto mehr sickert die Wirklichkeit durch die von Jota und Lisa konstruierte Illusionswelt durch – anfangs in Form von Träumen (beide haben einen Traum, der einmal Jota zwischen zwei Frauen, einmal Lisa zwischen zwei Männern zeigt), dann schließlich durch die Suchmeldung nach Sofía Fuentes im Radio. Das offensichtlichste Zeichen dafür, dass Lisa – trotz ihrer Versuche, in eine andere Welt einzutauchen – spürt, wie sehr sie die Realität einholt, ist die Gänsehaut, die immer wieder plötzlich auf ihrem Körper sichtbar wird. Aber auch ihre Träume sind ein Schlüssel zur Wirklichkeit. Medem selbst beschreibt dieses Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Traum folgendermaßen: »[D]as, was in der Realität geschah, war eine Lüge oder hätte zumindest falsch sein können. Das, was im Universum der Träume geschieht, besitzt hingegen eine intime, sehr starke Wirklichkeit in der Gefühlswelt der Figuren.«103

Eine interessante Sequenz ist auch die, in der Lisa hypnotisiert wird und die durch eine Parallelmontage diese ständige Präsenz der Realität spüren lässt: während Jota durch die Hypnose Lisas richtigen Namen erfährt, erlebt der/die ZuschauerIn Félix‹ Suche nach seiner Frau mit. In Zusammenhang mit der einsetzenden Wirkung der Hypnose und durch das Zusammenspiel von Bild und Ton (das Klingeln und Öffnen der Wohnungstür durch Lisas Bruder Salvador) wirkt es so, als würde in Lisas Unbewusstes eingedrungen und als könne sie selbst die parallel laufende Suche ihres Mannes selbst mitverfolgen. Der gewaltsame Einbruch Félix‹ in Lisas Privatsphäre könnte auch eine Anspielung auf die terroristische Gewalt der ETA sein, die Medem hier nicht direkt zeigen will.104 Medem baut dieses Gefühl der Gleichzeitigkeit an mehreren Stellen des Films auf und sorgt somit für zusätzliche Spannung. Er vermischt beispielsweise auf der Bildebene Gespräche zwischen Lisa und Jota mit jeweils denselben Gesprächen zwischen Lisa und Félix bzw. Jota und Eli.

102 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 34. 103 Zit. nach Carlos F. Heredero: »Julio Medem«, S. 575. 104 Paul Julian Smith: Vision Machines, S. 140. 58

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Da diese Einschnitte aber nur für den/die ZuschauerIn sichtbar sind, wirken sie wie Signale aus dem Unbewussten der Protagonisten.105 Ebenso wie Medem mit den Blickpunkten der Kamera spielt, stellt er auch die Geschlechterrollen auf den Kopf. Somit hat Sofía nicht nur die Kontrolle über den Blick, sie hat auch die Männerwelt im Griff. Obwohl Jota ihr eine neue Identität überstülpt und sie sich auf den ersten Blick seinen Traumvorstellungen einer Frau anpasst, sucht sie sich bewusst nach ihrem Wohldünken die Bestandteile dieser Identität aus. Sie spielt das Spiel mit, weil ihr die Aufgabe ihrer alten Identität als Ehefrau eines dominanten, brutalen Mannes sichtlich nur gelegen kommt. Treibt Jota mit ihr also ein Spiel, so spielt Sofía ein doppeltes Spiel und macht Jota somit für die Zuschauer lächerlich. Im Film kommt es zu einem Machtwechsel zwischen Mann und Frau, was sich unter anderem dadurch äußert, dass die beiden irgendwann fast beiläufig die Motorradhelme tauschen. Jota merkt dabei nicht, dass Lisa längst die Regie seines eigenen Spieles übernommen hat. Genauso wie er von seiner Ex-Freundin Eli (finanziell und emotional) abhängig war, begibt er sich mit Lisa in eine neue Abhängigkeit. Sofías Emanzipation von ihrem Ehemann und ihr Machtspiel mit Jota könnte ebenfalls politische und historische Konnotationen aufweisen und in Zusammenhang mit dem Aufkommen des Feminismus in der Zeit nach Franco und dem sich parallel manifestierenden Streben des Baskenlandes nach Unabhängigkeit gesehen werden. Auch zeigt Medem wiederum die Konstruiertheit von Identitäten auf und wie sehr selbst die Erinnerung, die mit Identität eng verknüpft ist, sich mit der Zeit verändert und durch das Individuum gefiltert wird. »A sense of identity is based on memories of ourselves, but memories change with time, becoming, in effect, an edited version of events that shows us in a better light – a ›director’s cut‹ that lets us all be auteurs in the new, improved version of our lives.«106

Die Männer in La ardilla roja glauben also, stark und unabhängig zu sein, doch Medem stellt sie bewusst so dar, als wären sie ohne Frauen nicht überlebensfähig. Während Jota ein T-Shirt mit dem Aufdruck seines eigenen überdimensionalen Gesichts tragen muss, um sein Selbstwertgefühl zu stärken, verblüfft Lisa ständig mit unerwarteten Fähigkeiten.107 Medem dekonstruiert somit auf ironische Weise das Macho-Bild und zeigt die in der Gesellschaft herrschenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern auf. Während die Beziehung zwischen Lisa und 105 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 36. 106 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 169. 107 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 53. 59

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Jota durch eine flexible Rollenverteilung gekennzeichnet ist, führen Carmen und Anton eine konventionelle, stereotype Ehe. Medem spielt aber nicht nur mit den Rollenverteilungen zwischen Mann und Frau, sondern macht auch auf andere, gleichgeschlechtliche Lebensformen aufmerksam – anhand des homosexuellen Paares (Salvador und der Tankwart), der lesbischen Besitzerinnen des Campingplatzes sowie der Witwe, die sich von ihren Flirts mit deutschen Männern einen Ersatz ihres verstorbenen Ehemannes erhofft. Medem geht sogar soweit, dass er diejenigen Beziehungen, die sich durch keine traditionelle Rollenverteilung auszeichnen, als funktionierend darstellt. Weiter scheint er damit auch ausdrücken zu wollen, dass es keine fixen Identitäten gibt und schon gar keine, die sich am Geschlecht festmachen lassen. »By way of the device of feigned amnesia, Medem’s rather cerebral, complex feature contains a parodic, postmodern send-up of personal as well as cultural ›origins‹ and ›roots‹. Indeed, the film invites the spectator to reflect on the ways in which we construct our notions of self, cultural heritage and national identity, which can be seen as potentially fanciful, always provisional and subject to transformation.«108

Dass der Feminismus schließlich über den Machismus siegt, wird dadurch bekräftigt, dass sich Sofía am Ende für Jota entscheidet, dem es offensichtlich an »Männlichkeit« mangelt. Am Ende stehen sich die beiden ehrlich gegenüber und in dem Moment, in dem er zu ihr sagt, dass sich die beiden immer noch nicht kennen, erblickt er auch zum ersten Mal das Eichhörnchen. Somit ist La ardilla roja neben allem anderen auch eine Liebesgeschichte. Interessant ist auch, dass Sofía und Jota ein Paar werden, obwohl sie nicht wirklich zusammenpassen. »In one way or another the reunion of mismatched lovers forms the conclusion to all of Medem’s films.«109 Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Medem die Differenz als etwas Positives, Fruchtbares ansieht. Wie in all seinen übrigen Filmen, drückt Medem die gegenseitige Zuneigung und Liebe durch Details und expressive Bilder aus. Und wie es für Medem so typisch ist, geht es hier vor allem um das Gefühl und nicht um Rationalität. »[T]his is a Julio Medem film, where truth is based on the emotional resonance that unite the characters and reason has little to say. Emotions are the bridge between fantasy and reality and lies are an acceptable means to a happy ending

108 Barry Jordan/Rikki Morgan-Tamosunas: Contemporary Spanish Cinema, S. 101. 109 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 166. 60

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because ultimately La ardilla roja contends that if the emotions are true it doesn’t matter what they’re based on.«110

Eine zentrale Rolle spielt auch das Schicksal, das der Geschichte wie ein vorgefertigtes Muster unterliegt. Am Ende setzen sich die einzelnen Handlungsstränge und Zufälle wie durch Magie zusammen. Was diesen Film außerdem mit anderen von Medems Filmen verbindet, ist die Betonung der Natur als Spiegel der Menschen und derer Beziehungen. Die Verbindung zwischen Lisa und dem Eichhörnchen wurde bereits erwähnt. Auch die Landschaft in La ardilla roja spiegelt den narrativen Inhalt des Films wieder, handelt es sich hier doch um eine künstlich geschaffene Umgebung, die für die ebenfalls konstruierte, künstlich angelegte Beziehung zwischen Jota und Lisa steht. Das Campinggelände könnte aufgrund der Darstellung verschiedener Beziehungsformen als Mikrokosmos der spanischen Gesellschaft angesehen werden.111 Das Eichhörnchen fungiert hierbei als Schnittstelle zwischen dem Campingplatz (der imaginären Welt) und der Realität und wird zu einem visuellen Leitmotiv, das sowohl in Salvadors Wohnung auf einem Buchcover als auch in Form eines Dokumentarfilms in Jotas Apartment auftaucht. Ähnlich wie die Kühe in Vacas hat es die Funktion eines Beobachters der menschlichen Handlungen und erhält, auch durch die Verbindung mit der mysteriösen Lisa, eine geheimnisvolle Aura. Auch der künstlich angelegte See könnte als ein Sinnbild für Lisas verborgene Seite angesehen werden, was dadurch verstärkt wird, dass Lisas Träume häufig mit einem angedeuteten Ein- und Auftauchen aus dem Wasser eingeleitet bzw. beendet werden.112

Tierra Nach La ardilla roja scheint Medem mit seinem dritten Spielfilm, Tierra (Tierra, 1996) etwas mehr Schlichtheit und Ruhe in der Erzählung zu suchen. Was ihm jedoch geblieben ist, ist unter anderem der Hang zum Übernatürlichen und Fantastischen (so weist allein die Tatsache, dass der Protagonist Angel, wie der Name bereits suggeriert, ein Engel ist, auf eine Welt außerhalb der realen) und die Betonung der Natur. »[…] Tierra ist ein Film, der meine Überzeugung bestätigt, dass der Stil Medems, in großen Linien und mit allen Nuancierungen, die man machen kann 110 Ebd., S. 172. 111 Vgl. ebd., S. 171. 112 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 44. 61

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(und sollte), in der fantastischen Behandlung von theoretisch realistischen Handlungen besteht. Tatsächlich, wenn man den Film genauer ansieht, so merkt man ihm ständig diese Sehnsucht an, die realistischen Grenzen der Geschichten, die er erzählt, zu überschreiten und sie auf eine Ebene zu heben, die mehr spirituell als physisch ist (zumal sie durch ein wichtiges physisches Element, nämlich die Landschaften, in denen sie sich gänzlich oder teilweise abspielen, unterstützt werden: die Berge in Vacas, der warme Camping in La ardilla roja, der raue Erdboden Cariñenas in Tierra, die lappländischen Wälder und der Schnee in Los amantes del círculo polar, die steinige Insel Lanzarote in Lucía y el sexo).«113

Tierra handelt von Angel Bengoechea (Carmelo Gómez), der halb Mensch, halb Engel ist und sich im Auftrag seines Onkels in eine karge, entlegene Region Spaniens begibt, um die dortigen Weinreben von Asseln zu befreien, die dem Wein einen erdigen Geschmack verleihen. Zunächst trifft er auf fahrende Landarbeiter, die Zeugen eines seltsamen Unfalls wurden: ein Schäfer und mehrere Schafe wurden vom Blitz getroffen. Als Angel eintrifft, rafft sich der tot geglaubte Schäfer wie durch ein Wunder auf und berichtet von einem befriedigenden Gefühl des Nichts, bevor er zum zweiten Mal stirbt. Dieses sonderbare Auftreten verleiht Angel den Anschein, er habe übernatürliche Kräfte: »›Half-alive and half-dead, halfway between the stars and the atmosphere‹, he’s like Christ amongst us humans, on a mission to make some sense of the world and revealing himself in the opening scene by his recovery of a lost lamb and his resucitation of a shepherd hit by lightning.«114

Im Dorf angekommen, stellt sich Angel den Bewohnern und somit auch der zurückhaltenden, mütterlichen Angela (Emma Suárez) vor, von der er sich sofort angezogen fühlt. Sie ist mit dem Bauern Patricio (Karra Elejalde) verheiratet, der Angel seinen neuen Traktor präsentiert, als die erotische Mari (Silke) auftaucht, die, in enger Lederkluft auf dem Motorrad über die Landstraße rasend, in vielerlei Hinsicht das Gegenbild der blonden Angela ist, von der Angel aber ebenfalls fasziniert ist. Bald kommt es zum Konflikt mit dem groben Macho Patricio, der sich als Herr beider Frauen sieht (mit Mari hat er eine Affäre). Als Patricio in seinem Traktor vom Blitz erschlagen wird, scheinen sich die Dinge von selbst zu lösen. Doch kann sich Angel nicht für eine der beiden Frauen entscheiden und beschließt, die Region zu verlassen. Nach einem Unfall, der ihn ins

113 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 53. 114 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 173. 62

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Krankenhaus bringt, folgt ihm schließlich Mari, und beide begeben sich auf eine Reise ans Meer. Geht man davon aus, dass zwischen den einzelnen Filmen von Julio Medem durch die Besetzung mit denselben Schauspielern sowie durch die Behandlung ähnlicher Themen eine auffallende Verbindung besteht, so könnte man sagen, dass Angel die Reinkarnation von Félix aus La ardilla roja ist, der ja bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – beide Rollen werden von Carmelo Gómez interpretiert. Weitere Hinweise dafür könnten das Foto in La ardilla roja sein, das Félix vor dem Hintergrund roter Erde zeigt und plötzlich zum Leben erwacht, sowie die Tatsache, dass sich Félix selbst als Sofías Engel bezeichnet.115 Angel beschreibt sich selbst als komplexes Wesen, das versucht, seiner Zweiteilung als Mensch und Engel zu entkommen. Dass er eine mehr als lebhafte Fantasie (die er selbst als imaginación hiperexcitable bezeichnet) hat und diese immer wieder regelrecht über ihn herfällt, macht es für den/die ZuschauerIn teilweise schwer, Geschehnisse der Erzählung bzw. Angels Vorstellung zuzuschreiben. Durch die Begegnung mit zwei so unterschiedlichen Frauen wie Angela und Mari wird Angels innere Zerrissenheit noch offensichtlicher und führt zu regelrechten Konflikten in seinem Kopf. Der erste Teil des Films zeichnet sich durch einen starken Hang zum Fantastischen aus, doch wird die Handlung mit Fortschreiten des Films realistischer und es wird immer deutlicher, dass das in sich geschlossene Universum von Tierra nur in Angels Vorstellung existiert und sich der Film in seinem Unbewussten abspielt. Medem selbst beschreibt diesen Film als »a journey from the abstract to the concrete, a coming down to earth«.116 Die ersten Bilder des Films zeigen eine surreale Reise durch den Weltraum in Richtung Erde. Die Kamera nähert sich durch dicke Wolkenfelder hindurch dem roten Erdboden, befindet sich plötzlich unter der Erde auf der Augenhöhe einer Assel und landet schließlich bei einem allein stehenden Baum, der, vom Blitz getroffen, in zwei Hälften getrennt wurde. Die Kamerafahrt gibt Angels Blickpunkt wieder, und es ist seine Stimme, die man aus dem off hört. Ebenso wie sich Angel zwischen Leben und Tod, Körper und Geist, Himmel und Erde befindet (was gleich zu Beginn dadurch visualisiert wird, dass der Titel gleich zweimal eingeblendet wird, einmal mit dem Himmel als Hintergrund, einmal mit der Erde)117, fühlt er sich zwischen zwei unterschiedlichen Frauen hin- und hergerissen. Angela ergänzt, wie der Name bereits andeutet, die Engelhälfte in Angel und wird dement115 Vgl. Carlos F. Heredero: 20 nuevos directores de cine español, Madrid: Alianza 1999, S. 261. 116 Zit. nach Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 47. 117 Vgl. ebd., S. 57. 63

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sprechend als eine freundliche Person dargestellt. Bezeichnend sind auch die Kameraaufnahmen vom Himmel, mit denen die Gespräche zwischen Angel und Angela unterlegt werden. So zum Beispiel das Telefongespräch, während dessen die Kamera, durch den Nachthimmel »fliegend«, das Telefonkabel von einem Ende zum anderen verfolgt. Auf diese für ihn so typische Weise vermittelt Medem die Anziehung zwischen den beiden. Mit dem zweiten Telefongespräch, das zwischen den beiden stattfindet, geht er noch einen Schritt weiter und lässt dieses zu einer Art surrealen, extraterrestrischen Unterhaltung werden, bei der es zu einem metaphysischen Gedankenaustausch und einer Liebesbegegnung zwischen den beiden kommt: ähnlich wie zu Beginn des Films nähert sich die Kamera »fliegend« und schwankend Angelas Haus und begibt sich von oben in ihre Wohnung. In der nächsten Sekunde erscheint Angel neben Angela und beginnt sie zu küssen. Das Gespräch wird zwar auf der akustischen Ebene fortgeführt, aber da die Figuren ihre Lippen nicht mehr bewegen, wird klar, dass es sich hier nicht mehr um ein gewöhnliches Telefongespräch handelt.118 Den Gegenpart zur zauberhaften Angela bildet Mari, die in ihrer engen Lederkluft häufig nachts auftaucht und die Verführung und das Vergnügen verkörpert. Mari ist davon überzeugt, dass sie und Angel füreinander bestimmt sind, da sie beide unter der elektrisierenden Atmosphäre leiden, die im Universum von Tierra herrscht. Durch die Beziehung mit Mari wird der Film auch zunehmend realistischer. Paradoxerweise ist es jedoch Angela, mit der Angel leidenschaftlichen Sex unter der Dusche hat, während Mari ihm verbietet, sie zu berühren, da sie durch den Verzicht auf Sexualität zur wahren Liebe gelangen möchte.119 Angels Zweiteilung in Engel und Mensch wird ebenfalls visuell beispielsweise in Form von Spiegelbildern (in einer Kaffeetasse oder in der Glastür von Angelas Haus) angedeutet und äußert sich außerdem in einer doppelten Erzählperspektive, wobei in der ersten Hälfte des Films der Engel in Angel dominierend ist (was sich beispielsweise in einer leichten Aufsicht der Kamera zeigt). Je mehr sich Angel jedoch zu Mari hingezogen fühlt, desto mehr trennt er sich von diesem Engel und kehrt auf den Boden (der Realität) zurück. In dem Moment, in dem Angel auf die Erde zurückkommt, findet auch eine Art Bruch in der Erzählung statt. Der/die ZuschauerIn erfährt nun, dass Angel Patient einer psychiatrischen Anstalt war und unter Persönlichkeitsspaltung leidet, wodurch der Geschichte der fantastische Boden weggezogen wird. Das Zurückziehen des Engels in Angel wird (wie zu Beginn des Films) durch ein Gewitter signalisiert, man hört die Vögel wieder zwitschern, die Bäume und Sträucher begin118 Vgl. ebd., S. 49. 119 Vgl. Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 54. 64

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

nen zu blühen, und Angel merkt immer mehr, dass das Universum von Tierra nur in seinem Kopf existierte. Mit dem Steinwurf von Charly (Ricardo Amador) an seinen Kopf vollzieht sich Angels Rückkehr auf die Erde gänzlich, was durch eine leichte Kamerafahrt auf seinen auf der Erde liegenden Körper visuell umgesetzt wird – eine Kamerafahrt, die an diejenige zu Beginn des Films, vom Himmel in Richtung Erde, erinnert. Medem dreht am Ende also die Blickrichtung der Anfangssequenz um, indem die Kamerafahrt einen Blickpunkt von unten nach oben, vom Boden in den Himmel, wiedergibt. Angel durchläuft somit im Laufe des Films eine Reise von oben nach unten, oder besser von innen nach außen, denn er merkt, dass er sich nicht mehr zurückziehen kann und dass der Rückzug nur Einsamkeit mit sich bringt.120 »Wenn es eine Botschaft in Tierra gibt, dann die, dass man sich nicht vom Himmel täuschen lassen sollte, dass man lernen muss, mit offenen Augen zu leben, dicht über der Erde, auf der wir gehen.«121

Wie in allen von Medems Filmen ist auch in Tierra (wie der Titel bereits andeutet) die Landschaft ein wichtiges Erzählelement und steht für eine Art imaginäre Welt, in die sich die Figuren zurückziehen. Indem auch sonst Parallelen zwischen den einzelnen Filmen bestehen, vor allem durch die Besetzung mit denselben Schauspielern und eine ähnliche Rollenverteilung (Patricio könnte beispielsweise als das Pendant zu Anton in La ardilla roja gesehen werden, und beide werden von Karra Elejalde gespielt), bekommt der/die ZuschauerIn das Gefühl, als bestünde eine vom Regisseur gewollte Verbindung zwischen den einzelnen Filmen. Auch zwischen der Tatsache, dass die Figuren in La ardilla roja eine Scheinidentität annehmen und somit eine Trennung zwischen Realität und Fiktion stattfindet, und Angel eben unter dieser Persönlichkeitsspaltung leidet, gibt es einen merkwürdigen Zusammenhang.122 Erwähnenswert ist auch wiederum die biografische Komponente, die wohl in den Film eingeflossen ist: ähnlich wie Angel die klaustrophobe Atmosphäre in Tierra verlässt, bricht auch Medem nach diesem Film die Zelte im Baskenland ab, um nach Madrid zu ziehen. Während sich in Tierra noch Bezüge zum Baskenland finden lassen (insbesondere zur baskischen Mythologie, vor allem durch die Figur der Mari, die sich, in Anlehnung an die Gottheit Mari, gerne in Erdhölen oder Bergen aufhält), beginnt mit Los amantes del círculo polar eine neue Schaffensperiode123, 120 121 122 123

Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 53-56. Medem zit. n. ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 59. 65

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die sich rein geografisch in einer anderen Umgebung abspielt und neue Gesichter unter den Schauspielern auftauchen lässt. Thematisch und stilistisch jedoch nimmt Medem einiges mit, was er in seinen drei ersten Filmen bereits begonnen hat.

Los amantes del círculo polar Das Drehbuch zu Los amantes del círculo polar (Die Liebenden des Polarkreises, 1998) entstand in der Pariser Wohnung von Medems Bruder, wohin Medem nach dem Tod seines Vaters und dem Bruch mit seiner Ehefrau geflüchtet war.124 Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass es sich bei diesem Film um eine Liebegeschichte handelt, die um das Thema Versöhnung kreist und die seinem Vater gewidmet ist. In Medems vierten Film laufen alle in seinen vorherigen Filmen behandelten oder gestreiften Themen zusammen – der Zufall, das Schicksal, der Tod, die Liebe, die durch Blicke und Gesten ausgedrückte Zuneigung zwischen zwei Menschen, die Familie (und ein gewisser inzestuöser Unterton), die Natur, das Verstreichen der Zeit, die Dualität, das Ineinandergreifen von Realität und Fantasie, der Rückzug in eine imaginäre Welt sowie das Infragestellen von Identität. Die Geschichte handelt von zwei Schulkindern, Otto (Fele Martínez) und Ana (Najwa Nimri), die in dieselbe Schule gehen. Als Ottos Eltern sich scheiden lassen und Anas Vater stirbt, treffen Ottos Vater (Nancho Novo) und Anas Mutter (Maru Valdivielso) aufeinander und nach einer Reihe von Zufällen kommt es zur Heirat der beiden, womit Otto und Ana, die sich von Anfang an geliebt haben und in der Zwischenzeit heimlich zum Liebespaar geworden sind, plötzlich die Geschwisterrollen übernehmen müssen. Otto zieht schließlich zu seinem Vater, um näher bei Ana zu sein, und hinter dem Rücken der Eltern führen sie eine Liebesbeziehung. Ähnlich wie in Vacas wird ihre Liebe von einem inzestuösen Unterton begleitet: »Although their transgressions are not technically incestuous, the film implies that the borders between the amorous and the fraternal are porous and easily crossed.«125 Ihre Liebesbeziehung findet ein jähes Ende, als Ottos Mutter stirbt und Otto, von Schuldgefühlen geplagt, das zu Hause verlässt und den Kontakt zu Ana abbricht. Später wird er zum Piloten – veranlasst durch die Tatsache, dass Ottos Großvater einen deutschen Piloten namens Otto (der nach der Bombardierung der baskischen Stadt Guernica angeschossen wurde) gerettet hat und sich Otto auf piloto reimt. Ana wird Grundschullehrerin an derselben Schule, 124 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, S. 176. 125 Núria Triana-Toribio: Spanish National Cinema, S. 150. 66

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

zu der bereits Otto und sie selbst gegangen sind, und geht ein Verhältnis mit Ottos ehemaligem Lehrer ein. Auch Ottos Vater und Anas Mutter trennen sich, und Anas Mutter führt eine neue Beziehung zu einem Mann, der niemand anderer ist als der Sohn von Otto el piloto, dem deutschen Piloten, dem Ottos Großvater das Leben gerettet hat. Von Unruhe und Sehnsucht getrieben, fährt Ana zu Otto el piloto nach Lappland, an den Polarkreis, der in Anas und Ottos gemeinsamer Kindheit bereits eine wichtige symbolische Rolle gespielt hat. Dort wartet sie auf den »Zufall ihres Lebens«: sie hat einen Brief an die Adresse von Ottos Vater geschrieben, und als Otto erfährt, wo Ana sich befindet, fliegt er nach Lappland. Medem bietet den Zuschauern zwei verschiedene Endversionen: in der glücklichen Version treffen sich Ana und Otto in Otto el pilotos Wohnung und umarmen sich, in der tragischen Version wird Ana auf dem Weg zu Otto von einem Auto überfahren und Otto spiegelt sich in den Augen der sterbenden Ana. Medem erzählt diese verschachtelte Geschichte, indem er abwechselnd aus Anas und Ottos Perspektive erzählt und filmt. Diese Technik des polyperspektivischen Erzählens wendete Medem bereits 1985 in seinem Kurzfilm Patas en la cabeza an, in dem die Charaktere ebenfalls abwechselnd ihre Version der Ereignisse erzählen.126 Erzähltechnisch knüpft dieser Film auch an La ardilla roja an, da beide Filme auf eine Anhäufung von Zufällen und Details bauen, die sich am Ende wie ein Puzzle zusammenfügen und den Eindruck entstehen lassen, dass alles miteinander in einer magisch-mythischen Verbindung steht. »Los amantes del círculo polar lässt eine Variation und sogar einen Rückfall in der narrativen Konstruktion von La ardilla roja vermuten, basierend auf dem Zufall und gestaltet als eine Anhäufung von Details, Worten und Gesten, scheinbar hier und da zerstreut, die sich am Ende aber wie die Teile eines Puzzles zusammenfügen.«127

Diese Erzählung handelt, ebenso wie alle anderen Filme von Julio Medem, vom Gegensatz zwischen der Realität und der subjektiven, von Sehnsucht und Träumen bestimmten Welt, aber auch von Familienbeziehungen und Versöhnung. Interessant ist, dass sich diese Versöhnung nicht nur auf die einzelnen Personen im Film bezieht, sondern Medem mit der Einblendung einer Nachrichtensendung, in der sich Deutschlands Präsident offiziell bei der baskischen Regierung für die Bombardierung von Guernica entschuldigt, auch eine geschichtliche und politische Komponente mit einbezieht. 126 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, S. 177. 127 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 55. 67

TRAUMREISENDE

Lucía y el sexo Mit Lucía y el sexo (Lucía und der Sex, 2001) knüpft Medem thematisch wie auch erzähltechnisch an seine vier vorhergehenden Spielfilme an: »Der Film rechnet sozusagen mit Medems Standardrepertoire: eine Erzählung, die stark vom Zufall getragen wird, gewürzt mit absurden, beinahe magischen Details, einer gewissen Vorliebe für den flash-back und die zeitlichen Strukturen, die gegen die traditionelle Idee der narrativen Kontinuität verstoßen, und der Anwesenheit von rückfälligen Bildern.«128

Den Inhalt von Lucía y el sexo zusammenzufassen ist schwierig, denn mehr denn je vermischen sich hier die verschiedenen Ebenen von (Film-) Realität und Fiktion. Der Film beginnt mit einem Telefongespräch zwischen Lucía (Paz Vega) und ihrem Geliebten, dem Schriftsteller Lorenzo (Tristán Ulloa), aus dem hervorgeht, dass es Lorenzo schlecht geht. Daraufhin verlässt Lucía ihren Arbeitsplatz und eilt nach Hause, findet Lorenzo jedoch nicht vor. Als das Telefon klingelt und die Polizei sich meldet, glaubt Lucía, Lorenzo habe sich das Leben genommen, und legt auf. Sie flüchtet auf die Insel, von der Lorenzo so viel erzählt hat und wo er vor einigen Jahren eine leidenschaftliche, anonym gebliebene Liebesnacht hatte. Lucía lernt auf der Insel Carlos (Daniel Freire) und Elena (Najwa Nimri) kennen, in deren Haus sie Zuflucht findet. Ohne dass sie es voneinander wissen, haben alle eine Verbindung zu Lorenzo. Mit Elena hatte Lorenzo eben diese eine Liebesnacht damals bei Vollmond auf derselben Insel, und in dieser Nacht wurde auch deren Tochter Luna gezeugt, von der Lorenzo aber erst Jahre später erfahren sollte. Carlos – der eigentlich Antonio heißt – ist der Stiefvater von Belén (Elena Anaya), die, genauso wie er, verschwunden ist, nachdem sie als Kindermädchen Lunas Tod zu verantworten hatte: sie verführte Lorenzo und ließ dabei das Kind unbeaufsichtigt. Je mehr Lucía über ihre beiden neuen Mitbewohner erfährt, desto mehr kommen in ihr Erinnerungen an das Manuskript hervor, das Lorenzo vor seinem Verschwinden verfasste. Lucía beginnt, den Grund für Lorenzos Depression zu verstehen. Im Gegensatz zu seinem vorhergehenden Film lässt Medem diese Geschichte aber glücklich enden: Lorenzo, der, wie sich nun herausstellt, kurz nach dem Telefongespräch mit Lucía einen Unfall hatte und bewusstlos im Krankenhaus lag, fährt mit seinem Freund und Manager Pepe (Javier Cámara) auf die Insel. Hier kommt es zur Versöhnung mit Elena und zur Wiedervereinigung mit Lucía.

128 Ebd., S. 56. 68

DIE DREI REGISSEURE IM ÜBERBLICK

Medem erzählt diese Geschichte in Rückblenden und vermischt somit Gegenwart mit Vergangenheit. Auch die verschiedenen Fiktionsebenen lässt er ineinander überfließen, und es bleibt oft unklar, ob das, was der/die ZuschauerIn sieht, im Film wirklich passiert oder Lorenzos schriftstellerischer Fantasie entsprungen ist. Die Insel hat, ähnlich wie in Los amantes del círculo polar der Polarkreis, eine symbolische Bedeutung und ist zugleich das zentrale Strukturelement, um das die Erzählung kreist. Auch hier flüchten die Figuren vor ihrem eigenen Schicksal, um dann am Ende doch von diesem eingefangen zu werden. Dies entspricht auch Medems Auffassung vom Leben als Zyklus, und so stehen seine Figuren, ähnlich wie bei André Téchiné, immer zugleich am Ende und am Anfang. Bereits auf der Basis dieses einleitenden Vergleichs der drei Regisseure, ihrer Biografie und ihres filmischen Gesamtwerkes, lassen sich zahlreiche Parallelen feststellen, vor allem was die Betonung eines subjektiven Blickpunktes und des psychischen Innenlebens der Figuren gegenüber einer scheinbar objektiven Filmerzählung betrifft. Auch die Thematisierung von Identität und das Einfließen einer Traumwelt in die (Film-)Wirklichkeit stehen im Zentrum ihrer Werke. Betrachtet man ihre Biografien, so wird ersichtlich, dass für alle drei das Filmemachen eine Art Flucht aus der Realität und eine Aufarbeitung der Fragen, die sie beschäftigen und nicht loslassen, darstellt. Im nächsten großen Abschnitt sollen nun die acht Filme des Korpus thematisch wie stilistisch miteinander verglichen werden. Nach einer vorerst oberflächlichen Sichtung des Materials haben sich die Aspekte »Zeit«, »Beziehung«, »Identität« und »Traum« als besonders ertragreich herausgestellt, wobei auch eine theoretische und filmgeschichtliche Kontextualisierung dazu dienen sollte, die Regisseure besser zu beleuchten und filmgeschichtlich und -ästhetisch einzuordnen.

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DAS ERZÄHLEN

IN

BILDERN

Bei Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem handelt es sich um drei Regisseure, die für das europäische Autorenkino stehen, das sich vor allem ab den 50er Jahren entwickelt hat und das sich unter anderem durch eine Fokussierung auf den Menschen auszeichnet und Fragen metaphysischer Art aufwirft. Hier geht es weniger um die »objektive« Erzählung einer Geschichte (wie es vor allem für den amerikanischen Mainstreamfilm so typisch ist), in die der/die ZuschauerIn hineingezogen werden soll, sondern um das subjektive Empfinden. Die drei Regisseure stellen Themen wie Zeit, zwischenmenschliche Beziehungen, Identität und Traum auf sehr persönliche, unverkennbare Weise dar, es werden jedoch auch Gemeinsamkeiten zwischen den drei Regisseuren sichtbar.

Zeit-Bilder Zeit nimmt bei Bergman, Téchiné und Medem eine zentrale Stellung ein und wird auf verschiedenste Arten und unter den verschiedensten Aspekten behandelt. Mit ihr geht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, der Vergangenheit, der Kindheit und der Vergänglichkeit einher. Zeit ist auch im Medium Film selbst eingeschrieben und bestimmt die Struktur des Films.

Die fließenden Zeitebenen Die hier behandelten Filme haben alle in gewisser Weise mit Zeit zu tun, einige von ihnen haben jedoch die Zeit selbst zum Thema. So weisen in Bergmans Smultronstället und Téchinés Ma saison préférée bereits die Titel auf eine Thematisierung der Zeit. Viele Theoretiker haben sich mit der Zeit im Film auseinandergesetzt, da das »bewegte Bild« des Films eng mit der Zeit verbunden ist. Was die drei hier behandelten Regisseure betrifft, so scheint Gilles Deleuzes Auffassung der Zeit in Form von Kristallen am passendsten. Ich möchte im Folgenden also auf einige Aspekte des Begriffs der Zeit bei Deleuze eingehen, um ein besseres Zeit-

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verständnis in den Filmen von Bergman, Téchiné und Medem zu ermöglichen. Während sich Deleuze in seinem ersten Buch Das Bewegungs-Bild (1983) vor allem mit der Bewegung des kinematographischen Bildes auseinandersetzt, widmet er sich in Das Zeit-Bild (1985) dem Aspekt der Zeit. Er knüpft dabei an das Bewegungs-Bild an, indem er davon ausgeht, dass das Bewegungs-Bild zwei Seiten hat: »Die eine ist den Gegenständen zugewandt, deren relative Position es variieren lässt, während sich die andere auf ein Ganzes bezieht, dessen absolute Veränderung es ausdrückt. […] Hieraus ergibt sich eine erste These: die Montage selbst konstituiert das Ganze und liefert uns folglich das Bild der Zeit.«1

Somit macht die Montage den Hauptvorgang im Kino aus, da sie ein Bewegungs-Bild mit einem anderen verbindet und die wichtigsten Momente selektiert und koordiniert, wodurch die Zeit notwendigerweise eine indirekte Repräsentation erfährt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Gegenwart als die einzige direkte Zeit des kinematographischen Bildes angenommen wird, täuscht über diese von der Bewegung abhängige Zeit hinweg: »Nach Pasolini ›verwandelt‹ sich durch die Montage ›die Gegenwart in Vergangenheit‹, doch aufgrund der Natur des Bildes ›erscheint diese Vergangenheit stets als Gegenwart‹.«2 Die einzige Möglichkeit, so setzt Deleuze fort, dass die Zeit direkt erscheinen und ihre Abhängigkeit von der Bewegung abschütteln kann, erfolgt über die abweichende, anormale Bewegung. »[D]ie dem kinematographischen Bild eigene anormale Bewegung befreit die Zeit von jeder Verkettung, sie erlaubt eine direkte Präsentation der Zeit, indem sie das Unterordnungsverhältnis, das diese an die normale Bewegung bindet, umkehrt; der Film ist die einzige Erfahrung, in der mir Zeit als Wahrnehmung gegeben ist.«3

Das heißt, die Zeit muss dem geregelten Ablauf einer jeden Aktion und einer jeglichen normalen Bewegung, die durch die Motorik bestimmt ist, zuvorkommen (Deleuze spricht in diesem Zusammenhang auch vom »unmöglichen Anschluss«)4. So bewirken laut Deleuze beispielsweise die Kamerafahrten bei Resnais und Visconti sowie die Tiefenschärfe bei Welles eine Verzeitlichung des Bildes oder führen zu einem direkten 1 2 3 4

Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 53. Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. Ebd., S. 59. 72

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Zeit-Bild (wobei es sich mehr um eine »Verschiebung in der Zeit als um eine physische Bewegung«5 handelt), während es bei Dreyer und anderen Autoren gerade die Abschaffung der Tiefenwirkung und die Flachheit des Bildes sind, die das Bild direkt auf die Zeit als vierte Dimension öffnen. Entscheidend ist, dass die Personen und Dinge sich frei in der Zeit, unabhängig vom Raum bewegen können. Dabei geht es Deleuze vor allem auch darum aufzuzeigen, wie fatal das Postulat, die Bilder seien in der Gegenwart, für jegliches Kinoverständnis ist, denn die Gegenwart ist immer auch Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist also immer nur eine äußerste, niemals gegebene Grenze. »Was hier in Frage steht, ist gerade die Evidenz, der zufolge das kinematographische Bild sich in der Gegenwart und ausschließlich in der Gegenwart ereignet. Wäre dies der Fall, so könnte die Zeit nur indirekt, nämlich ausgehend vom gegenwärtigen Bewegungs-Bild und durch die Vermittlung der Montage, repräsentiert werden. Ist dies nicht offensichtlich eine völlig falsche Evidenz, und zwar unter zwei Aspekten? Einerseits gibt es keine Gegenwart, die nicht von einer Vergangenheit und einer Zukunft heimgesucht wird: einer Vergangenheit, die sich nicht auf eine frühere Gegenwart reduziert, und einer Zukunft, die nicht aus einer zukünftigen Gegenwart besteht. Die einfache Sukzession affiziert die vorübergehende Gegenwart, aber jede Gegenwart koexistiert mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, ohne die sie selbst gar nicht vorübergehen könnte. Es gehört zum Film, diese Vergangenheit und diese Zukunft zu erfassen, die mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren. Filmen, was vorher und was nachher kommt… Möglicherweise muss man das, was vor und nach dem Film ist, ins Innere des Films versetzen, um der Kette der Gegenwarten zu entkommen.«6

Laut Deleuze unterscheidet sich somit das so genannte »moderne« Kino vom klassischen Kino und der indirekten Repräsentation der Zeit darin, »dass sich die Wahrnehmungen und Aktionen nicht mehr verketten und dass sich die Räume nicht mehr zusammenfügen und füllen. Die in rein optischen und akustischen Situationen gezeigten Figuren sehen sich zum Herumirren und Umherschlendern verurteilt.«7 Es ist nicht mehr die Zeit, die von der Bewegung abhängig ist, sondern die abweichende Bewegung hängt von der Zeit ab. Die Abweichung hat von nun an einen eigenen Wert und bezeichnet die Zeit als ihre direkte Ursache: »Die Beziehung sensomotorische Situation – indirektes Bild der Zeit wird durch eine nicht-lokalisierbare Relation reine optische und akustische Situation 5 6 7

Ebd., S. 58. Ebd., S. 56f. Ebd., S. 60. 73

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– direktes Zeit-Bild ersetzt. Die Opto- und Sonozeichen sind direkte Präsentationen der Zeit. Die falschen Anschlüsse sind die nicht-lokalisierbare Relation selbst.«8

Der Montage geht es nicht mehr darum, auf welche Weise sich die Bilder verketten, sondern was das Bild zeigt. Nur wenn die Zeit in der Einstellung unabhängig ist, geht die Einstellung über das Bewegungs-Bild und die Montage über die indirekte Repräsentation der Zeit hinaus, sodass beide in einem direkten Zeit-Bild zusammenkommen können. Ähnlich verhält es sich mit dem Erinnerungsbild und der reinen Erinnerung. Zwar erscheint das Verhältnis zwischen aktuellem Bild und Erinnerungsbild in der Rückblende, doch bleibt diese ein einfaches konventionelles Mittel, wenn sie ihre Rechtfertigung nicht anderswoher erhält, wie dies beispielsweise bei Carnés Schicksal oder Mankiewicz’s »sich verzweigender Zeit«9 der Fall ist. So findet bei Mankiewicz die Rückblende stets ihre Berechtigung in ineinander verschränkten Erzählungen, welche die Kausalität außer Kraft setzen, und zum Schluss sieht es dann so aus, als ob alles wieder von vorne begänne. Es handelt sich also um Verzweigungen der Zeit, die der Rückblende eine Zwangsläufigkeit und den Erinnerungsbildern eine Authentizität geben, ohne die sie konventionell blieben. »Zwar haben also Rückblende und Erinnerungsbild ihren Grund in diesen Verzweigungen der Zeit. Aber dieser Grund kann sich […] unmittelbar zur Geltung bringen – ohne seinen Weg über die Rückblende oder durch ein Gedächtnis nehmen zu müssen. […] Doch nehmen die Verzweigungen der Zeit hier eine unmittelbare Bedeutung an, welche die Rückblende außer Kraft setzen.«10

Damit das Bild zu einem Erinnerungsbild werden kann, muss es jedoch nach einer reinen Erinnerung dort suchen, wo sie war: »[I]n der Gegenwart bildet man sich ein Gedächtnis, um sich seiner in der Zukunft zu bedienen, wenn das Gegenwärtige vergangen sein wird. […] [D]as reine und einfache Bild wird mich nicht zur Vergangenheit zurückführen, es sei denn, dass ich es wirklich in der Vergangenheit aufgesucht habe und so dem kontinuierlichen Prozess gefolgt bin.«11

8 9 10 11

Ebd., S. 61. Ebd., S. 76. Ebd., S. 75. Ebd., S. 75 & 77. 74

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Das Erinnerungsbild liefert nicht das Vergangene, sondern repräsentiert einzig die vergangene Gegenwart, welche die Vergangenheit gewesen ist. Das Erinnerungsbild aktualisiert die Vergangenheit, sie ist ein aktualisiertes oder sich aktualisierendes Bild, das mit dem gegenwärtigen und aktuellen Bild keinen ununterscheidbaren Kreislauf bildet. Wenn das Sich-Wiedererinnern jedoch nicht gelingt, dann findet keine Fortsetzung im sensomotorischen Bereich statt, und das aktuelle Bild bzw. die gegenwärtige visuelle Wahrnehmung kann sich weder mit einem motorischen Bild noch mit einem Erinnerungsbild verknüpfen, das den Kontakt wiederherstellen könnte. Dies ist laut Deleuze der Grund, weshalb das aktuelle Bild mit wahrhaft virtuellen Elementen in Beziehung tritt – mit ganz allgemein vergangenen Erlebnissen, mit Traumbildern, Phantasiebildern und dergleichen. »Es ist dies der Grund, weswegen sich der europäische Film schon sehr früh mit dem ganzen Ensemble von Phänomenen wie Amnesie, Hypnose, Halluzination, Delirium, Visionen Sterbender und vor allem Traum und Alptraum auseinandergesetzt hat. Diese Thematik war ein wichtiger Aspekt des sowjetischen Kinos und seiner wechselnden Allianzen mit dem Futurismus, dem Konstruktivismus und dem Formalismus; des deutschen Expressionismus und seiner wechselnden Allianzen mit der Psychiatrie und der Psychoanalyse; oder der französischen Schule und ihrer wechselnden Allianzen mit dem Surrealismus. Für den europäischen Film bildete all dies ein Mittel, mit den »amerikanischen« Beschränkungen des Aktionsbildes zu brechen, an ein Mysterium der Zeit zu rühren und schließlich Bild, Denken und Kamera – ganz im Gegensatz zu der allzu objektiven Konzeption der Amerikaner – in ein und derselben ›automatischen Subjektivität‹ zu vereinen. Das Gemeinsame all dieser Zustände besteht darin, dass sich eine Person ihren visuellen und akustischen (oder auch taktilen, kutanen, kinästhetischen) Empfindungen ausgeliefert fühlt, die ihre Fortsetzung im Bereich der Motorik verloren haben.«12

Da keine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit besteht, schweben Kindheitserinnerungen, Phantasien und Déjà-vu-Eindrücke frei herum. Der Unterschied zwischen einem Erinnerungsbild und einem Traumbild besteht also darin, dass das Erinnerungsbild zwar im Gegensatz zum aktuellen Wahrnehmungsbild virtuell ist, jedoch insofern aktuell wird, als sie von einem Wahrnehmungsbild hervorgerufen wird. Sie aktualisiert sich in einem Erinnerungsbild, das dem Wahrnehmungsbild korrespondiert. Was den Traum betrifft, so aktualisiert sich das virtuelle Bild nicht unmittelbar, sondern in einem anderen Bild, das selbst wiederum die Rolle eines virtuellen Bildes übernimmt, das sich in einem 12 Ebd., S. 78f. 75

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dritten aktualisiert, und so fort. Der Traum ist eine Serie von Anamorphosen, die einen äußerst weiten Kreis beschreiben. In Buñuels Un chien andalou, beispielsweise, aktualisiert sich das Bild der aufgerissenen Wolke, die den Mond durchschneidet, indem es in das Bild der Rasierklinge übergeht, die das Auge durchschneidet, und bleibt damit im Verhältnis zum folgenden Bild virtuell. Es kann auch vorkommen, dass die Traumbilder über den ganzen Film verstreut sind und in ihrem Zusammenhang wieder zusammengefügt werden.13 Deleuze unterscheidet bei den Traumbildern weiter zwischen zwei unterschiedlichen Verfahren: das erste bedient sich einer Vielzahl technischer Mittel wie Überblendungen, Doppelbelichtungen, Abblendungen, verschiedenartige Kamerabewegungen, Spezialeffekte, Labormanipulationen u.ä; das andere Verfahren geht mit derartigen Mitteln sparsam um und operiert mit Schnitt-Montage oder direkten Schnitten, die »den Betrachter zwischen den konkret bleibenden Gegenständen träumen lässt«.14 So wendet Buñuel sehr wenig Mittel an und behält die vorherrschende Kreisform in den stets konkreten Gegenständen bei, welche der Film in klaren einfachen Schnitten aufeinander folgen lässt. Das Traumbild ist an die Bedingung geknüpft, den Traum einem Träumer und das Bewusstsein vom Traum (das Reale) dem Zuschauer zuzuordnen. Deleuze stellt hier jedoch auch die Frage, ob es nicht Mittel und Wege gäbe, »diese Spaltung im großen Kreislauf durch die Zustände von Traum, Wachtraum und durch wundersamen oder märchenhaften Zauber zu überwinden«.15 Für diese sich vom expliziten Traum distanzierenden Zustände führt er den von Michel Devillers geprägten Begriff des impliziten Traums an. Beim impliziten Traum ist das optische und akustische Bild zwar wie beim expliziten Traum von seiner motorischen Fortsetzung getrennt, doch es gleicht diesen Verlust nicht mehr aus, indem es mit expliziten Erinnerungs- oder Traumbildern in Beziehung tritt. Laut Deleuze wird gerade im impliziten Traum die Bewegung der Welt befreit, während sie im expliziten Traum gezügelt und zurückgehalten wird.16 Beschreibt die Verbindung zwischen den gegenwärtigen Bildern mit Erinnerungs-Bildern und Traumbildern die größten Kreise, so stellt sich Deleuze weiter die Frage, was der kleinste Kreislauf ist, der als innere Grenze aller anderen Kreisläufe funktioniert und das aktuelle Bild an ein unmittelbares, symmetrisches, an ein Nachbild oder sogar ein Double bindet. An dieser Stelle spricht Deleuze vom Zeitkristall, dem kleinsten 13 14 15 16

Vgl. Ebd., S. 81. Ebd., S. 83. Ebd. Vgl. ebd., S. 84. 76

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Kreislauf zwischen dem aktuellem Bild und seinem virtuellen Bild, der das Ganze trägt und als innere Grenze dient. »Wir haben gesehen, wie auf den größeren Strecken Wahrnehmung und Erinnerung, Reales und Imaginäres, Physisches und Mentales oder vielmehr deren Bilder einander unaufhörlich folgen, aufeinander verweisen und um einen Punkt der Ununterscheidbarkeit kreisen. Aber dieser Punkt der Ununterscheidbarkeit ist genau dieser kleinste Kreis, nämlich die Koaleszenz zwischen dem aktuellen und dem virtuellen Bild, das zweiseitige Bild, das zugleich aktuell und virtuell ist. Hier nun findet das Optozeichen sein wahres genetisches Element, wenn das aktuelle optische Bild mit seinem eigenen virtuellen Bild auf dem kleinen inneren Kreislauf kristallisiert.«17

Bei der aktuellen und virtuellen Seite des Zeitkristalls verhält es sich so wie mit dem Spiegelbild: das Spiegelbild ist in Bezug auf die aktuelle Person, die es reflektiert, virtuell, aber zugleich ist es aktuell im Spiegel, der von der Person nicht mehr als eine einfache Virtualität zurücklässt. Wenn das virtuelle Bild also aktuell wird, dann ist es sichtbar und rein wie im Spiegel oder in der Festigkeit des vollendeten Kristalls.18 Die Gegenwart kann dementsprechend als das aktuelle Bild angesehen werden, und seine zeitgleiche Vergangenheit als das virtuelle Bild, das Spiegelbild. Jeder Augenblick unseres Lebens bietet also diese beiden Aspekte: er ist aktuell und virtuell, einerseits Wahrnehmung und andererseits Erinnerung. Wenn das gegenwärtige Bild nicht gleichzeitig schon vergangen wäre, dann würde die Gegenwart niemals vergehen: »Die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie nicht mehr ist, sie koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist.«19 »[D]a sich die Vergangenheit nicht nach der Gegenwart, die sie gewesen ist, bildet, sondern gleichzeitig mit ihr, muss sich die Zeit in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit aufteilen, die naturgemäß voneinander differieren, oder, was auf das gleiche hinausläuft, sie muss die Gegenwart in zwei heterogene Richtungen teilen, wobei die eine auf die Zukunft hinstrebt und die andere in die Vergangenheit fällt.«20

Die Zeit besteht aus dieser Spaltung, wobei sie es ist, die man im Kristall sieht. Der Kristall existiert ständig an der Grenze, er selbst ist die »zurückweichende Grenze zwischen der unmittelbaren Vergangenheit, die 17 18 19 20

Ebd., S. 96f. Vgl. ebd., S. 98. Ebd., S. 109. Ebd., S. 111. 77

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schon nicht mehr ist, und der unmittelbaren Zukunft, die noch nicht ist«.21 Folglich gibt es niemals einen vollendeten Kristall, denn jeder Kristall ist unendlich und im Stadium des Sich-Bildens. Es ist der Kristall, der ein unmittelbares Zeit-Bild enthüllt, und nicht länger ein indirektes Zeit-Bild, das von der Bewegung herrührt. »Der Kristall enthüllt den verborgenen Grund der Zeit, das heißt ihre Differenzierung in zwei Strahlen, den der vorübergehenden Gegenwarten und den der sich bewahrenden Vergangenheiten. Die Zeit lässt die Gegenwart vorübergehen und bewahrt zugleich die Vergangenheit in sich. Folglich gibt es zwei mögliche Zeit-Bilder; das eine gründet in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Jedes ist komplex und gilt als das Ganze der Zeit. […] Es ist die Zeit, in der sie sich bewahrt: sie ist das virtuelle Element, in das wir eindringen, um die ›reine Erinnerung‹ aufzufinden, die sich in einem ›Erinnerungs-Bild‹ aktualisieren wird.«22

Im Folgenden sollen nun die einzelnen, für diese Thematik relevanten Beispiele näher betrachtet werden. Smultronstället »Bergman, der generell von der Kritik aufgrund seiner Neuerungen in Bezug auf die Darstellung des menschlichen Gesichtes geschätzt wurde, ist innovativ und tiefgründig auch als Cineast der Zeit, von der er zahlreiche und neue Darstellungsformen lieferte. Die Neuerung konnte in einer etwas beschränkten Metapher bestehen, wie der Pendeluhr und der Uhr ohne Zeiger im ersten Traum von Wilde Erdbeeren, die sich ein wenig später in der Abwesenheit der Zeiger der ›echten‹ Uhr des Vaters wiederholt: die Zeit als etwas, das nur ganz essentiell im Kern des Lebens fehlen kann, wie der Tod, der dort angesiedelt ist; eine absolut negative Darstellung der Zeit als Abwesenheit und Rückzug.«23

In Smultronstället begibt sich der alternde Professor Isak Borg im wahrsten Sinne des Wortes auf eine Reise in seine Vergangenheit, die gleichzeitig als Spiegel seines jetzigen Lebens fungiert. Isak geht in seinen Träumen und Erinnerungen zurück in seine Jugend, geht jedoch spirituell gesehen gleichzeitig vorwärts. Die wilden Erdbeeren (smultron), die Isak auf der Wiese nahe seines Elternhauses entdeckt, dienen – ähnlich wie Prousts madeleines24 – als Auslöser für einen flash-back, da smultron 21 Ebd., S. 112. 22 Ebd., S. 132. 23 Jacques Aumont: Ingmar Bergman. Mes films sont l’explication de mes images, Paris: Cahiers du cinema 2003, S. 129f. 24 Eugene Archer, zit. n. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 88. 78

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sehr oft bei Bergman mit Jugend, Sommer und Glück verbunden werden. Smultronstället bezeichnet den Ort, an dem wilde Erdbeeren gefunden werden, und im übertragenden Sinne auch einen Ort des Wohlfühlens. Bergman verknüpft also diese Erinnerungen an die Jugend mit dem Gefühl der Geborgenheit. Die im Film vorkommenden flash-backs fungieren insgesamt als Spiegel für Isaks gegenwärtiges Leben und sind somit Ausdruck für sein Bewusstsein bzw. sein Unbewusstes. Das Besondere an diesen flashbacks ist, dass sie eine Mischung aus Erinnerung und Traum darstellen und somit mehr als rein narrative Zwecke erfüllen. Da die Erzählung um Isak kreist und die Rückblenden allein sein Unbewusstes spiegeln, kommt nur ein flash-back vor, der nicht mit dem Traum vermischt ist und der nicht durch Isak, sondern durch Marianne ausgelöst wird. Daraus wird ersichtlich, dass Isaks Schwiegertochter in der Erzählung eine Schlüsselrolle einnimmt, weil sie Isak mit ihrem Anderssein (und ihrer Wärme, die im Gegensatz zur Gefühlskälte steht, die sie Isak vorwirft) und ihrer unglücklichen Ehe mit Isaks Sohn Evald ebenfalls einen Spiegel entgegenhält. Mariannes flash-back zeigt die konfliktgeladene Ehe von Marianne und Evald, welche Parallelen zu Isaks und Karins Ehe sowie zu der des Paares Alman aufweist. Nachdem Marianne Isak von ihren Eheproblemen und ihrer Schwangerschaft erzählt hat, kommen sich die beiden näher. Am Ende des Films (und Isaks Reise) findet ein sehr herzlicher Austausch zwischen den beiden statt. Der durch Marianne eingeleitete flash-back hat also neben einer Spiegelfunktion auch die Wirkung, Isak aus seiner Gefühlskälte herauszulocken (zum ersten Mal zeigt er aufrichtiges Mitgefühl mit dem Leiden seiner Mitmenschen) und das Eis zwischen den beiden zu brechen. Das Kind, das Marianne in sich trägt, kann auch als Symbol für den neuen, veränderten Isak Borg und als Hoffnung auf eine hellere Zukunft gesehen werden.25 Das wahrhaft Innovative an diesem Film in Bezug auf die Behandlung der Zeit ist jedoch die Tatsache, dass Bergman auch ohne Hilfe der Rückblende die Erinnerung in die Gegenwart holt und die Zeitebenen ineinander fließen lässt. Mit diesem Film drückt er das aus, was auch Federico Fellini mit den Worten »wir sind gleichzeitig Kindheit, Jugend, Alter und Reife« beschreibt.26 Indem Isak direkt seiner Vergangenheit (Sara) begegnet, befindet er sich in dem, was Deleuze als die reine Erinnerung bezeichnet. Bergman kommt hier also ohne ein Erinnerungsbild aus und lässt Gegenwart und Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes »nebeneinander stehen«. 25 Vgl. Margareta Wirmark: Smultronstället och dödens ekipage, Stockholm: Carlsson Bokförlag 1998, S. 150. 26 Zit. nach Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 133. 79

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»Nicht im Erinnerungs-Bild, wohl aber in der reinen Erinnerung sind wir ›gleichzeitig‹ mit dem Kind, das wir gewesen sind […]. Sie dringen in eine Tiefe ein, die nicht mehr länger die des Gedächtnisses ist, sondern die einer Koexistenz, in der wir mit ihnen gleichzeitig werden, so wie sie mit allen vergangenen und künftigen »Jahreszeiten« gleichzeitig werden.«27

Die Tatsache, dass Isak als alter Mann auf die junge Sara aus seiner Vergangenheit trifft (und Bergman somit Isak nicht durch einen jüngeren Schauspieler ersetzt) bekräftigt die Aussage, dass in der Gegenwart stets Vergangenheit und Zukunft enthalten sind. Isak ist ein alter Mann, der bald sterben wird (Zukunft), ohne richtig gelebt zu haben (Vergangenheit). Auch die Schlusssequenz drückt diese Gleichzeitigkeit aus: im Bild der Eltern vermischt sich die Vergangenheit (die Kindheitserinnerungen) mit der Zukunft (die Hoffnung auf eine glückliche Vereinigung nach dem Tod). Ingmar Bergman markiert also den Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr anhand einer Rückblende, wie das noch Jahre zuvor in der Filmsprache üblich war. Er ist jedoch nicht der Einzige, der die Zeitstrukturen derart aufbricht. So lässt beispielsweise Carlos Saura die Grenzen zwischen Gegenwart, Erinnerungen, Träumen und Imaginationen verschwimmen und die Ebenen unmerklich ineinander übergehen. »Indem Saura – entsprechend der ›Logik‹ der Bewusstseinsprozesse seiner Protagonisten – vom traditionellen Erzählschema der linearen Narration abweicht, entstehen subtile, immer komplexer werdende filmische Gebilde aus Zeit und Raum. Die Zeit wird zeitlos, die Gegenwart wird transparent für die Vergangenheit, die Kindheit.«28

Sauras Die Cousine Angélica (La prima Angélica, 1973) und Bergmans Smultronstället gehören somit zu den markantesten Beispielen, die die Erinnerung im Film ohne Hilfe einer Rückblende oder sonstiger konventioneller Mittel wiederaufleben lassen. »Die Cousine Angélica (1973) zählt mit Wilde Erdbeeren (1957) von Ingmar Bergman zu den schönsten filmischen Beispielen der Darstellung der Erinnerung, mit diesem Eindringen der Bilder der Vergangenheit in die Gegenwart. Tatsächlich wurde lange Zeit der Übergang von einer Zeit zur anderen syntaktisch durch verschiedene technische Procedere markiert, wie beispielsweise 27 Ebd. S. 125. 28 Renate Gompper: »Luis Buñuel und Carlos Saura. Inspirationen, Differenzen und Parallelen«, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Luis Buñuel, S. 265. 80

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durch das Verschwimmen des Bildes. Im modernen Kino verschwindet diese Signalisierung, was natürlich Konsequenz bezüglich der Konzeption und der Repräsentation der Beziehung zwischen Gegenwart/Vergangenheit und allgemein der Zeit im Film mit sich bringt.«29

Eine interessante Thematisierung und Darstellung der Erinnerung findet sich auch in Alain Resnais‹ Hiroshima, mon amour (1959), wo der menschliche Erinnerungsprozess von politischen und historischen Konnotationen begleitet wird. Ähnlich wie bei Bergman und Saura, so sind auch bei ihm die Grenzen zwischen den verschiedenen Zeitebenen und zwischen Objektivität und Subjektivität oftmals nicht klar ersichtlich. »Resnais’s almost Proustian fascination with time and memory leads [him] to create remarkable structures for his films, in which past, present, and future are perceived upon the same spatial and temporal plane, and in which objectivity and subjectivity are never clearly distinguishable.«30

André Téchiné knüpft in Ma saison préférée an einer Stelle explizit an Bergmans direkte Präsentation der Zeit an, indem er die bereits erwachsene Emilie in ihre Kindheit zurückreisen und ihren Eltern begegnen lässt. Laut eigener Angaben verweist der Regisseur damit auf die Schlusssequenz in Smultronstället.31 Interessant ist, dass Emilies Erinnerung hier durch nichts (wie etwa durch eine Großaufnahme von Emilie) als solche markiert wird: die Kamera schwenkt langsam von einem Strauch und vom Fluss auf Emilies Eltern, während man die Stimme von Emilies Mutter hört, die Emilie zu sich ruft. Diese tritt ins Bild und setzt sich zwischen ihre Eltern. Der Vater fragt sie, ob sie sich einen Bruder wünsche. Daraufhin folgt ein Schnitt auf eine Aufnahme von Emilie, die wieder alleine am Ufer steht. Nur durch den Dialog und die Tatsache, dass der Vater bereits gestorben ist und die Mutter zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus liegt, wird klar, dass sich diese Sequenz in der Vergangenheit abspielt. Stärker noch als Bergman lässt Téchiné hier also die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, indem er nicht nur, wie Bergman, denselben/dieselbe SchauspielerIn für die Rolle des Kindes und des Erwachsenen einsetzt, sondern indem er eine Erinnerung nahtlos – ohne Überblendung oder dergleichen – in die Gegenwart einfließen lässt.

29 Henri Talvat: Le Mystère Saura, Castelnau-le-Lez: Éditions Climats 1992, S. 32. 30 David A. Cook: A History of Narrative Film, 1996, S. 547. 31 Cahiers du cinema 583 (2003), S. 84. 81

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Bergman bedient sich in Smultronstället eines weiteren Mittels, um die Zeitebenen miteinander zu verknüpfen: in der Traumszene lässt Sara Isak mit den Worten »Hast du dich im Spiegel gesehen, Isak? Du bist ein alter, ängstlicher Greis, der bald sterben wird« in einen kleinen runden Spiegel blicken. Zwar befindet sich Isak in seiner Jugend, doch zeigt das Spiegelbild den alten Isak. In diesem Spiegel fließen also die verschiedenen Zeit- und Wirklichkeitsebenen ineinander32, wodurch sich Bergman Gilles Deleuzes Auffassung von Zeit in Form von Kristallen annähert. Anstelle der Rückblende wendet Bergman also den Spiegel an, um den Widerspruch der Gegenwart aufzuzeigen: genau betrachtet gibt es keine Gegenwart, denn in dieser ist immer auch gleichzeitig die Vergangenheit und die Zukunft enthalten, da auch die Vergangenheit einmal Gegenwart war und die Zukunft nichts anderes als eine bevorstehende Gegenwart ist. Ebenso wie der Film also durch das gegenwärtige Bild diese Koexistenz der Zeiten ausdrückt, wird anhand des Spiegels in Smultronstället der Übergang zwischen den verschiedenen Zeitebenen möglich und die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft signalisiert. Viskingar och rop Auch in Viskningar och rop spielen Zeit und Vergangenheit eine wichtige Rolle. Der Film beginnt und endet mit einer Sequenz im Park und hat somit einen symmetrischen Aufbau, der den Kontrast zwischen Gemeinschaft und Isolation und zwischen psychischem und physischem Schmerz hervorhebt33: der Film öffnet mit dem Leiden von Agnes und schließt mit einer paradiesisch anmutenden Vision der Vergangenheit. Der Film wird mit Überblendungen verschiedener in Großaufnahmen gezeigten Uhren eröffnet, und man hört deren unterschiedliches Ticken, wodurch das Vergehen der Zeit und die ständige Anwesenheit des Vergangenen ausgedrückt wird. Die unterschiedlichen Uhren könnten auch für die vier unterschiedlichen Frauenfiguren stehen, die im Zentrum der Erzählung stehen. Bezeichnenderweise bleibt Agnes‹ Uhr gleich zu Beginn stehen, wodurch ihr bevorstehender Tod symbolisiert wird. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung wird immer wieder durch das Einblenden von Uhren auf das Fortschreiten der Zeit und die ständige Präsenz des Todes aufmerksam gemacht. Obwohl der Film als Ganzes in der dritten Person erzählt wird, wird jeder der vier Frauen mindestens eine subjektive Passage eingeräumt: »[…] Bergman’s film refuses to grant authority to any unitary subjectivity. Rather point-of-view is dispersed across a variety of subjects, none of

32 Vgl. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 91. 33 Vgl. Bruce F. Kawin: Mindscreen,S. 14. 82

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which has access to an indisputable ›truth‹.«34 Jede der Frauen wird in einer »realistischen« Sequenz dargestellt, dann wird eine Situation oder ein Ereignis aus der Vergangenheit in Form eines flash-backs fokalisiert.35 Diese flash-backs sind aber, wie in Smultronstället, keine Rückblenden im üblichen Sinne, da sie die Vergangenheit mit der Traumvorstellung und subjektiven Wahrnehmung der Fokalisator-Figuren vermischen, wobei oft die Grenze zwischen dem, was wirklich eingetroffen ist, und dem, was sich nur im Kopf der Figuren abspielt, unscharf ist. Während Agnes‹ und auch Marias Sequenz (sie wird durch reine Assoziation – ihr erneuter Versuch, den Arzt zu verführen – in die Erzählung eingewoben) noch Rückblicke auf reale Ereignisse sein könnten, lässt Karins Sequenz aufgrund der Emotionalität und der Intensität ihres masochistischen Dranges Zweifel, ob es sich hier um einen Rückblick oder eine Vorstellung, sich an ihrem gefühlskalten Ehemann zu rächen, handelt.36 Auch der Selbstmordversuch von Marias Mann in deren Sequenz könnte Ausdruck für ihr Wunschdenken sein, dass der Mann dem Liebhaber Platz macht. Der erste flash-back ist Agnes gewidmet, da sie und ihr Leidem im Zentrum der Handlung stehen. Gleich zu Beginn der Erzählung sehen wir sie, wie sie mit Schmerzen aufwacht, zu ihrem Tagebuch geht und hineinschreibt, während wir ihre Worte als voice-over hören: »Es ist Montag morgen und ich habe Schmerzen«. Es handelt sich hier also klar um eine Erzählpassage in der ersten Person, was auch dadurch verstärkt wird, dass der Blick, den sie anschließend auf Maria wirft, durch subjektive Kamera wiedergegeben wird. Etwas später beginnt Agnes, über ihre Mutter nachzudenken. Die Großaufnahme ihres auf den Tisch gestützten Kopfes und einer weißen Rose im Vordergrund wird von der Aufnahme

34 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 13. 35 In einer narratologischen Analyse ist es wichtig, klar auseinander zu halten, wer in der Erzählung die Geschichte erzählt (Erzähler) und durch wen diese gesehen bzw. wahrgenommen wird (Fokalisator). Bei der Fokalisierung geht es also um die Frage, von wessen Blickpunkt (point de vue, Englisch point of view, kurz POV) aus gesehen wird und welche Informationen der/die ZuschauerIn dadurch erhält: »Focalization is the relationship between the ›vision‹, the agent that sees, and that which is seen«. Über die Gestaltung des point of view kann der/die Film-ErzählerIn seinem/ihrem Standpunkt und Blickwinkel Ausdruck verleihen; er/sie kann Elemente isolieren und damit herausheben; er/sie kann Distanz wahren oder sich mitten ins Geschehen begeben; und bei all dem nimmt er/sie die Zuschauer mit und zwingt sie, seinen/ihren Blick zu teilen. Vgl. Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, 2. Ausgabe, Toronto: University of Toronto Press 1997, S. 146. 36 Ebd., S. 186. 83

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ihrer in Weiß gekleideten Mutter überblendet. Wir hören ihre Stimme im voice-over und sehen Aufnahmen von Agnes als kleines Mädchen und ihrer Mutter. Aus dem voice-over geht hervor, dass es sich hier wirklich um Agnes‹ Erinnerungen handelt, dass sie versucht, diese Erinnerungen zu ordnen und zu verstehen. Eine von Agnes‹ schönsten Erinnerungen ist jene, als sie über die Wange ihrer Mutter streichen durfte: »Dieses eine Mal waren wir uns ganz nahe«. Wie in Smultronstället, so zieht Bergman auch hier Parallelen zwischen verschiedenen Sequenzen, um diese gegenseitig zu beleuchten. So hat dieser flash-back sein Pendant in der Sequenz, in der Maria ihre Schwester Karin berührt. Der nächste flash-back handelt von Maria. Nach einer Rotblende, einer Großaufnahme ihres halbbelichteten Gesichts und wieder einer Rotblende, die von Glockenschlägen und Flüstern begleitet werden und die markieren, dass es sich hier um Marias Erinnerung handelt, wird der flash-back von einer männlichen Erzählstimme (voice-over) eingeleitet. Dieser informiert die Zuschauer darüber, dass die folgenden Sequenzen einige Jahre zurückliegen. Man sieht Marias Versuch, den Familienarzt zu verführen, sowie den Selbstmordversuch ihres Mannes. Obwohl Maria nicht die Erzählerin dieses flash-backs ist, wie dies bei Agnes der Fall war, so wird das Vergangene doch von ihr fokalisiert: das Geschehen wird von ihrem Blickpunkt aus gezeigt und als das, was in Marias Kopf vorgeht, präsentiert. Der flash-back wird dadurch ausgelöst, dass sie erneut versucht, den Arzt zu verführen, und somit Assoziationen in ihr hervorgerufen werden. Karins Sequenz wird ebenfalls durch eine Rotblende, eine Großaufnahme, erneut eine Rotblende, begleitet von Glockenschlägen und Flüstern, und einen männlichen Erzähler eingeleitet. Das Besondere an ihrer Großaufnahme ist jedoch, dass sie den Mund aufreißt, als wolle sie schreien, als wolle sie aus ihrer Rolle ausbrechen. Parallel zu Marias flash-back zeigt Karins eine Sequenz beim Abendessen und eine im Schlafzimmer sowie eine Sequenz der Selbstverstümmelung. Durch diesen flash-back wird Karins Verhalten nicht nur erklärt (wie dies auch der Fall bei Marias Sequenz ist), er scheint dieses auch für den Rest des Films zu beeinflussen.37 Bei Annas Sequenz handelt es sich schließlich eindeutig um eine Traumvision, die aber wie die Sequenzen von Maria und Karin, jedoch ohne Erzähler eingeleitet wird. Durch das Fehlen der externen Erzählstimme ergibt sich eine Parallele zwischen Annas und Agnes‹ Sequenzen, wodurch eine Verbindung zwischen den beiden hergestellt wird. Auch die abschließende Sequenz ist Ausdruck für die Nähe zwischen Anna und Agnes – die einzige Nähe, die im Film wirklich stattfindet: die im Haus alleine zurückgebliebene Anna liest aus Agnes‹ Tagebuch: 37 Vgl. ebd., S. 16. 84

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»Die Menschen, die mir am meisten bedeuten, waren bei mir. […] Ich spürte die Anwesenheit ihrer Körper, die Wärme ihrer Hände. Ich schloss die Augen so gut ich konnte, wollte diesen Augenblick festhalten und dachte: Das hier muss Glück sein.«

Dieser flash-back wird durch Annas voice-over eingeleitet, das dann aber durch Agnes‹ Stimme abgelöst wird. Dass die Schlusseinstellungen dennoch als Annas subjektive Wahrnehmung ausgelegt werden können, ist darauf zurückzuführen, dass Anna in ihrem Zimmer aus Agnes‹ Tagebuch liest. Diese Sequenz ist parallel zur Eingangssequenz zu sehen, in der Anna für ihre Tochter betet. Die Musik, eine Chopinmazurka, ist dieselbe, wie auch die sie umgebenden Requisiten: eine Kerze, die Anna anzündet, Blumen und Äpfel. Das Bild der weißen Kerze wird von der Einstellung der in Weiß gekleideten Agnes im Park überblendet – ebenfalls eine Parallele zwischen diesem und Agnes‹ flash-back, in dem sie sich an ihre Mutter erinnert. Egil Törnqvist interpretiert diese Überblendung als Annas Glaube an Agnes‹ Frieden im Jenseits. Er schreibt auch die Worte »Und so schweigen die Schreie und das Flüstern«, die am Ende des Films aufscheinen, Annas Glauben und Hoffnung zu. Dieser flash-back holt nicht nur Agnes wieder in Annas Gegenwart zurück und zeigt, wie stark Agnes noch für Anna präsent ist, er weist auch auf das Jenseits und die Tatsache, dass Agnes in Annas Erinnerung weiterleben wird. Betrachtet man die vier subjektiven Passagen der Hauptfiguren, so lässt sich eine Steigerung in der Intimität der Sequenzen feststellen, die in Annas rein auf mentale Bilder basierenden Abschnitt kulminiert. Diese Struktur könnte insgesamt für Bergmans offensichtliche Aussage stehen, dass Intimität zu einem verstärkten Gemeinschaftsgefühl führt, auch im Sinne einer Einbindung der Zuschauer in die Narration. »[T]here is a structure of ascending privacy from Agnes’s literary first person, through Maria’s and Karin’s more cinematic, although less deliberately ›presentational,‹ points of view, to Anna’s mindscreen; and it is in keeping with the film’s apparent intent to suggest that increased intimacy (in which Bergman has led the audience to participate) results not in isolation but in community.«38

Alice et Martin In Alice et Martin kommt nur ein flash-back vor, dieser spielt aber eine zentrale, den Film dominierende Rolle, da durch ihn Martins gegenwärtiges und zukünftiges Verhalten klar wird. Ebenso wie Martins Schuldgefühle bezüglich der Vergangenheit diesen nicht loslassen und zu einer 38 Bruce F. Kawin: Mindscreen, S. 17f. 85

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Entscheidung zwingen, bricht der flash-back in die Erzählung herein und steuert deren weiteren Verlauf. »Das Trauma bei Téchiné – und das ist das Faszinierende an ihm – ist nicht nur der Ort, von dem man kommt, sondern auch der, wohin man sich bewegt. Nicht nur weil das vergangene Trauma in die Gegenwart des Films zurückkehrt und die Fiktion wieder belebt […], sondern vor allem weil auf das, was geschehen ist, das was geschehen wird antwortet, nicht indem der Film zur eigenen Fiktion zurückkehrt, sondern in Form eines neuen, entscheidenden Ereignisses, das das Ende einer erforschenden Rückverfolgung der Vergangenheit ist.«39

Der Film beginnt mit dem kleinen Martin und ein paar Sequenzen, in denen man sieht, wie er zuerst bei der Mutter und dann beim Vater aufwächst. Daraufhin macht die Erzählung einen Sprung nach vorne: man sieht den kleinen Martin aus dem Haus und durch das Torgatter laufen und anschließend, nach einer Schwarzblende und einem Zwischentitel (10 Jahre später), den nun erwachsenen Martin durch dasselbe Gatter stürzen. Aus der Musik, der Geschwindigkeit und der bestürzten Miene, mit der Martin davonläuft, kann man schließen, dass etwas Tragisches vorgefallen und Martin auf der Flucht ist. Aber erst viel später folgt die Erklärung für Martins Flucht, als dieser mit Alice in Südspanien ist und erfährt, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Alices Schwangerschaft holt Martins Vergangenheit zurück und löst gleichzeitig den flash-back aus: nachdem Martin Alices Bauch berührt hat, in dem sein Kind heranwächst, zoomt die Kamera auf Alices Gesicht, und nach einer Schwarzblende sieht man in einem langen Rückblick Martins tragische Vergangenheit. Die Rückblende endet mit einer ähnlichen Aufnahme wie die, mit der die Erzählung zu Beginn des Films einen Sprung nach vorne machte, nur dass diesmal Martin von hinten und nicht frontal gezeigt wird. Im Anschluss daran sprechen Alice und Martin über diese Geschichte, wodurch klar wird, dass Martin Alice den Inhalt des flash-backs erzählt hat. Der Kreis ist somit geschlossen, und sowohl Alice als auch der/die ZuschauerIn wissen nun über den tragischen Vorfall Bescheid. Der flash-back birgt also das Trauma in sich, das Martin nicht loslässt und ihn schließlich einholt. Das Trauma bildet insgesamt in den Filmen Téchinés oftmals den Kern der Erzählung, der diese vorantreibt und wie etwas Unfassbares, Unheimliches bestimmt, bis es an die Oberfläche tritt. Interessant an diesem flash-back ist, dass er nicht durch eine Großaufnahme von Martin eingeleitet wird (wie dies der Fall der Protagonisten in Viskningar och rop oder Smultronstället ist), sondern durch die von Alices Gesicht. Wie Alice selbst bemerkt, verändert sich Martin ab 39 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 11. 86

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dem Zeitpunkt, als er erfährt, dass er Vater wird. Der flash-back wird also bedeutenderweise auch dann ausgelöst, als Martin über Alices Bauch streicht, als könne er nur dann die Zukunft zulassen, wenn er mit der Vergangenheit abgerechnet hat. »When Alice asks Martin to tell her about this ›flight‹ from the family, she uses the French word fugue. The word carries a psychoanalytical connotation, describing the state in which a subject loses awareness of his identity and flees his usual environment. Indeed, the film is another French examination of a young man’s growth, via crisis, to responsibility and maturity. Martin’s anxieties are triggered by Alice’s pregnancy, which unleashes a double-barrelled stock of guilt relating to his half-brother François‹ suicide and Martin’s ›parricide‹. Téchiné structurally underscores this by having the explanatory flashback begin the moment Martin touches Alice’s growing belly.«40

Auch hier fließen also, ähnlich wie bei Bergman, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander, und diese Gleichzeitigkeit findet durch den flash-back ihre erzähltechnische Entsprechung. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass Vergangenheit und Erinnerung bei Téchiné oft mit Schuldbewusstsein in Verbindung stehen, und dieses, ähnlich wie das Unbewusste in Form von Schuldgefühlen an die Oberfläche tritt, die Gegenwart der Figuren und somit auch die Erzählung bestimmt. Eine interessante Sequenz, in der Téchiné ebenfalls die Zeitebenen auf symbolische Weise ineinander übergehen lässt, ist jene zu Beginn des Films, in der der kleine Martin im Haus des Vaters sich verzweifelt und weinend auszieht, das Fenster aufmacht und den Schnee betrachtet. Die Kamera zoomt auf Martin und zeigt ihn von hinten, dann sieht man den Jungen von draußen, aus einer extremen Untersicht, die den Himmel mächtig und Martin klein erscheinen lässt. Diese Aufnahme von Martin und dem vom schwarzen Himmel rieselnden weißen Schnee hat einen übernatürlichen Anschein, als suche Martin da draußen eine Hilfe aus seiner Verzweiflung. Hier bleibt auch die Zeit scheinbar für einen Moment stehen, und es fließen wiederum die Zeitebenen ineinander und kristallisieren, wie die Schneeflocken, die vom Himmel fallen (Deleuze spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von den »kristallinen Schneeflocken« in Fellinis Amarcord)41, denn in der darauf folgenden Sequenz macht die Erzählung einen Sprung nach vorne und Martin ist erwachsen. Andere Hinweise auf die Zeit sind Fotos aus Martins Kindheit, besonders das Foto, auf dem er und seine Mutter zu sehen sind. Dieses Foto 40 Chris Darke: »Alice et Martin«, in: Sight and Sound 9, issue 12 (1999), S. 36. 41 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 125. 87

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zeigt den kleinen, unschuldigen Martin, der noch in einer heilen Welt lebt, und dient somit als Erinnerung an diese Zeit und gleichzeitig als Spiegel für den erwachsenen Martin, der mit einer großen Schuld leben muss. Es ist auch dieses Foto, das Martin den letzten Anstoß gibt, nach dem Selbstmord seines Halbbruders von zu Hause auszuziehen. Les Roseaux sauvages In Les Roseaux sauvages kommt nur ein flash-back vor, der durch Madame Alvarez ausgelöst wird und, wie in Alice et Martin, Ausdruck quälender Schuldgefühle ist: sie sitzt im Krankenhaus einsam beim Essen, als sie sich an Serges Bruder Pierre und an ihren gemeinsamen Tanz auf dessen Hochzeit erinnert. Interessant ist auch die vorhergehende Sequenz: nachdem man ein altes Foto von ihr in Großaufnahme gesehen und das Ticken einer Uhr gehört hat, sieht man Maïté, wie sie den Wecker stellt, und die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, bevor man nach einem Schnitt ihre Mutter im Krankenhaus sieht. Auch hier verwendet Téchiné Fotos, um die Gegenwart mit der Vergangenheit zu konfrontieren, während das Ticken der Uhr diesen Kontrast zwischen der Vergangenheit und dem Voranschreiten der gegenwärtigen Zeit unterstreicht. Dadurch wird außerdem eine Verbindung zwischen den beiden Figuren hergestellt, die neben dem Generationskonflikt auch das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit (Mutter) und Zukunft (Tochter) ausdrücken könnte. Lucía y el sexo Noch extremer als Bergman und Téchiné, lässt Medem in Lucía y el sexo die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwischen. In den langen flash-backs wird die Vergangenheit aufgearbeitet und in die Gegenwart/Erzählung integriert. Aber auch gleichzeitig ablaufende Ereignisse werden mithilfe der Parallelmontage miteinander verknüpft, und durch Ellipsen wird das Erzähltempo beschleunigt. Der Film besteht aus zwei großen Teilen: der eine spielt sich in der Gegenwart ab und wird mit dem Titel Lucía eingeleitet, der andere stellt die Vergangenheit in Form von flash-backs dar und trägt den Titel El Sexo (Der Sex). Somit konzentriert sich die Erzählung auch auf zwei unterschiedliche Handlungsorte: während sich die Gegenwart (bis auf den Anfang, der in Madrid gedreht ist) vor allem auf der Insel abspielt, findet die Vergangenheit (bis auf den Anfang der Rückblende, der Lorenzo und Elena beim Sex im Meer zeigt) hauptsächlich in Madrid statt. Somit nimmt die Vergangenheit einen großen Raum innerhalb der Erzählung ein. Diese Zweiteilung – in Gegenwart und Vergangenheit, bzw. in Stadt und Land – wird durch die Verwendung unterschiedlicher Farbfilter und unter-

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schiedlicher Musikstile zusätzlich unterstrichen. Diesen zwei verschiedenen Zeitebenen fügt Medem außerdem noch die Ebene der Metafiktion hinzu, weshalb sich die Erzählung sowohl auf einer horizontalen als auch auf einer vertikalen Achse bewegt: »[E]ine Geschichte, die sich, auf einigen horizontalen Koordinaten, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart bewegt, und, auf seiner vertikalen Achse, zwischen der Realität und der Fiktion, um schließlich wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren und die Zirkularität der Geschichte hervorzuheben.«42

Der Film beginnt mit einem Telefongespräch zwischen Lucía und Lorenzo, aus dem hervorgeht, dass es Lorenzo sehr schlecht geht. Ähnlich wie in Alice et Martin erfährt man erst später, was der Grund für Lorenzos Depression und für die Auseinandersetzung zwischen ihm und Lucía war. Der erste flash-back wird dadurch ausgelöst, dass Lucía bei ihrer Erkundung der Insel durch ein Loch in eine Grotte fällt und auf das Meer blickt. Nach einer Schwarzblende scheint der Titel El sexo – 6 años antes (Der Sex – 6 Jahre zuvor) auf, und man sieht Lorenzo mit einer Frau, Elena, nachts im Meer baden. Ein Schwenk auf den weißen Mond wird von der Aufnahme eines weißen, runden Schwangerschaftstests überblendet. Dieses Mittel, durch Überblendungen ähnliche Bilder miteinander zu verknüpfen, ist typisch für Medems Filmsprache und erlaubt der Erzählung, sich frei in Zeit und Raum zu bewegen und effektiv Ellipsen zu überbrücken. Diese Technik, Bilder auf assoziative Art zu verbinden, erinnert außerdem an den Surrealismus (man denke nur an die Sequenz in Un chien andalou, in der das Rasiermesser durch das Auge der Frau fährt, nachdem ein schmaler Wolkenstreifen am Himmel messergleich durch den Mond zieht). Auch durch die Verwendung ähnlicher Aufnahmen und Blickwinkel schafft Medem eine Verbindung zwischen den verschiedenen Zeitebenen. So zum Beispiel an der Stelle, wo die Kamera den subjektiven Blickpunkt der betrunkenen Lucía wiedergibt, die das Lichtermeer der Stadt für Lorenzos Wohnungslichter hält. Diese Stelle erinnert an die subjektive Aufnahme zu Beginn des Films, durch die der/die ZuschauerIn sieht, wie das Madrider Lichtermeer unter Lucías Tränen verschwimmt, als sie von Lorenzos Unfall erfährt. Hier wird also allein durch die Verwendung ähnlicher Kameraperspektiven auf die Vergangenheit verwiesen. Im weiteren Verlauf des Rückblicks verknüpft Medem die Geschichte der (von Lorenzo) schwangeren Elena mit der sich zwischen Lorenzo 42 Fernando Bernal zit. n. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 74. 89

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und Lucía anbahnenden Liebesgeschichte. Man sieht, wie Lucía Lorenzo in einem Café anspricht und ihm ihre Liebe gesteht, sowie ihre leidenschaftliche Liebes- und sexuelle Beziehung. Der Übergang zurück zu Elenas Geschichte erfolgt auf der Tonebene: Lucías Schrei beim Sex geht in Elenas Schrei bei der Entbindung über. Nach einer kurzen Sequenz, in der man Lucía und Lorenzo im Bett sieht, filmt die Kamera Elena, wie sie mit dem Kinderwagen über einen Platz spaziert, und schwenkt dann hinauf zu einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses, wo Lorenzo schreibt und Lucía dieselbe Melodie wie auf der Insel summt – »Ein Sonnenstrahl, brachte mir deine Liebe. Ein Sonnenstrahl, zu meinem Herzen«. Danach schwenkt die Kamera hinauf zum Himmel und zur Sonne, wo das Bild in eine Weißblende und anschließend in eine Aufnahme vom Himmel auf der Insel übergeht. Durch die fließenden Bewegungen der Kamera und die Verknüpfung ähnlicher Aufnahmen wechselt die Erzählung zwischen den unterschiedlichen Geschichten und Zeitebenen. Auf diese Weise wird auch der zweite flash-back eingeleitet: nach ein paar Sequenzen auf der Insel, in denen Lucías Leben auf der Insel mit Elena und Carlos dargestellt wird, zoomt die Kamera nach einem Schnitt durch ein Fenster hindurch auf Lorenzo und Lucía in der Madrider Wohnung. Dieser flash-back ist umfangreicher als der erste und liefert die Erklärung für Lorenzos Depression – seine beginnende Schreibblockade, das Treffen mit seiner Tochter Luna und deren Kindermädchen Belén, die Tragödie von Lunas Tod und abschließend der Streit zwischen Lorenzo und Lucía. Der flash-back endet damit, dass Lucía verärgert die Tür zuschlägt (was eine Schwarzblende rechtfertigt) und man Lorenzo im Krankenbett sieht. Dieser Streit fand also vor dem Telefongespräch statt, das den Film einleitet. Von diesem Zeitpunkt an ist der Kreis der Vergangenheit geschlossen, und der Film geht vorwärts dem Schluss entgegen. Diese zwei flash-backs unterscheiden sich dadurch voneinander, dass der erste einen leichteren Erzählton hat und fröhlichere Ereignisse darstellt (wie das Treffen zwischen Lorenzo und Lucía und ihr Liebesglück), während der zweite Lorenzos zunehmende Depression schildert. Im zweiten flash-back vermischen sich verstärkt die Fiktionsebenen, da Lorenzos schriftstellerische Fantasie und Kreativität in die Erzählung einfließen. Auch kommt es mit dem Fortschreiten der Erzählung zu einer immer stärkeren Verflechtung zwischen den Zeitebenen, und Gegenwart und Vergangenheit sowie zeitlich parallel laufende Ereignisse werden miteinander verknüpft. Dadurch entsteht der Eindruck, als würde die Vergangenheit die Gegenwart durchdringen. Durch die Parallelmontage wird auch verdeutlicht, dass die Figuren zunehmend mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden, bis sie schließlich am Ende ganz von ihr

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eingeholt werden und sich, wie es typisch für Medem ist, alle Puzzleteile zu einem Ganzen zusammenfügen. Durch die ständigen Sprünge zwischen den Zeit- und Wahrnehmungsebenen entstehen außerdem Hohlräume, die zum Prinzip des Films selbst werden, da sie Lucías Suche nach den Gründen für ihre Beziehungskrise mit Lorenzo ausdrücken. Diese Löcher, die Lucía anhand von Lorenzos Texten zu rekonstruieren versucht, werden durch jene, in welche die Geschichte und die Figuren buchstäblich fallen, symbolisiert.43 Dies könnte auch mit Deleuzes Auffassung in Verbindung gebracht werden, dass, indem sich die »Räume nicht mehr zusammenfügen und füllen«, sich die Figuren »zum Herumirren und Umherschlendern verurteilt« sehen.44 Schließlich irrt Lucía auf der Insel herum und versucht, die Puzzleteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ein weiterer interessanter Aspekt, was die Erzähltechnik und den Zeitbegriff betrifft, ist die zyklische Struktur, die, ähnlich wie in Los amantes del círculo polar, der Erzählung zugrunde liegt: nach der Wiedervereinigung von Lucía und Lorenzo geht Elena auf das Foto von Luna zu. Während Elena geht, zoomt die Kamera auf das Foto, das in eine Aufnahme von der lebenden Luna übergeht. Die Kamera zoomt wieder zurück, und im Bild erscheint Elena, die auf dem Platz, den sie im ersten flash-back mit dem Kinderwagen überquert hat, ein Foto ihrer Tochter macht. Dann schwenkt die Kamera, analog zu eben dieser Sequenz im flash-back, hinauf zum Fenster. Man sieht Lorenzo und Lucía in einer ähnlichen Situation wie im flash-back, doch diesmal steht Lorenzo auf und geht zum Fenster zu Lucía, wo nun beide zum Himmel und zur Sonne hinaufblicken. Während dieser gesamten Sequenz sind Lorenzos Worte zu hören, die er zuvor in Form einer Geschichte an Elena geschrieben hat: »Der erste Vorteil besteht darin, dass, wenn die Erzählung zu ihrem Ende gelangt, diese nicht zu Ende ist, sondern in ein Loch fällt, und die Erzählung kehrt zur Hälfte der Erzählung zurück. Dies ist auch der zweite und noch größere Vorteil: dass von hier aus die Richtung geändert werden kann – wenn du mich lässt, wenn du mir Zeit gibst.«

Medem verknüpft hier also die fiktionale mit der metafiktionalen Ebene, indem er am Ende des Films zur Hälfe der Erzählung zurückkehrt und die Geschichte von dort neu beginnen lässt, diesmal aber mit einem anderen Verlauf. Er weist somit auf den Zufallsfaktor im Leben hin, ebenso wie auf eine metafilmische Ebene. Die für Medems Erzähltechnik typi43 Ebd., S. 75f. 44 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 60. 91

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schen Zeitsprünge geben auch den selektiven Charakter der Erinnerung wieder und zeigen auf, dass Lucía y el sexo, wie alle von Medems Filmen, aus dem subjektiven Blickpunkt der Figuren erzählt wird. Auch spiegeln Medems eigene Worte Deleuzes Auffassung wider, dass die Gegenwart immer auch gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft ist: »In real life, you get to the present or what’s happening to you in a way that’s not constant; it comes and goes. Some things remind you of the past and some things don’t. Maybe in one instance you’re in the past, and in the next you’re planning about the future. And in that regard our lives are not linear.«45

Los amantes del círculo polar In Los amantes del círculo polar kommt eine Sequenz vor, in der mentale Bilder gleichzeitig als Erinnerung und eine Art Vorausblick fungieren: als Ottos Vater im Auto zu Otto sagt, dass alles vergänglich sei, sogar das Benzin, wirft Otto einen Blick auf die Benzinuhr, die zum Auslöser für eine Erinnerung wird. In der nächsten Einstellung sieht man eine Benzinuhr in einem anderen Auto, der Tank ist leer. Otto befindet sich mit seinen Eltern auf einer Landstraße, man sieht das blaue Auto und die drei Figuren vor strahlend blauem Hintergrund aus einer leichten Untersicht, was der Aufnahme etwas Traumartiges verleiht. Sein Vater wartet darauf, dass ein Auto anhält, während seine Mutter zu Otto spricht: »Man muss die Unannehmlichkeiten des Lebens mit guter Laune hinnehmen, denn genauso wie sie kommen, gehen sie auch wieder. Es kann nicht für immer dauern«. Schließlich hält ein Auto an, und Ottos Vater steigt ein. Aus dem Auto winkt er den beiden noch zu, doch beginnt er bereits mit der Fahrerin zu sprechen. Diese Sequenz ist sowohl eine Erinnerung als auch ein Vorausblick auf das, was folgen wird. Die Worte der Mutter, das Abschiednehmen des Vaters und die Tatsache, dass der Benzintank leer ist – all das hat Symbolcharakter, da Ottos Vater seine Mutter kurz darauf verlässt und deren gemeinsames Familienleben ein jähes Ende findet. Somit bilden Gegenwart (Otto sitzt mit seinem Vater im Auto), Vergangenheit (er erinnert sich an das Erlebnis auf der Landstraße) und Zukunft (in Form eines Vorausblickes) im Augenblick des mentalen Bildes eine Einheit. Medem verknüpft in einer weiteren Sequenz Erinnerung und Fantasievorstellung, wobei er dieselben Schauspieler für verschiedene Rollen einsetzt: als Otto Anas Brief aus Finnland liest (den er außerdem selbst in seinem Kurierflugzeug von Finnland nach Spanien gebracht hat), in dem sie ihm von der Geschichte von Otto el piloto erzählt, wird Otto el pilotos spätere spanische Frau Cristina ebenfalls von Najwa Nimri gespielt. 45 Zit. nach Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 76. 92

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Diese Sequenz beginnt damit, dass Otto die ersten Zeilen des Briefes liest, während Anas Stimme als voice-over zu hören ist. Mit den Worten »Otto ging durch den Wald« schwenkt die Kamera auf das Fenster und zoomt durch dieses hindurch auf die Blätter eines Baumes. Damit geht diese Einstellung über in die Vergangenheit, zurück zu Otto el piloto (verkörpert wiederum durch Fele Martínez). Anstelle eines flash-backs signalisiert also eine Kamerafahrt durch ein Fenster den Übergang zur Vergangenheit/Fantasiewelt. Parallel zur Sequenz, in der Otto die Geschichte seines Großvaters erzählt und Ottos Vater (gespielt von Nancho Novo) in der Gestalt des Großvaters auftritt, werden hier die Rollen von Ana und Otto selbst interpretiert. Diese Sequenz erinnert außerdem an die zwei zu Beginn des Films, als Otto Ana hinterherläuft. Die Tatsache, dass die unterschiedlichen Figuren von denselben Schauspielern verkörpert werden, markiert diese Sequenz als Ottos Vorstellung, ebenso wie sie auf einen zyklischen Zeitbegriff hinweist – als geschähen Transformationen nur auf kreisförmigen Bahnen, wobei das Ende wieder an den Anfang zurückkehrt. Der Kreis liegt denn auch der gesamten Erzählstruktur von Los amantes del círculo polar zugrunde, ebenso wie er in zahlreichen Äußerungen zum Leitmotiv des Films wird. In Los amantes del círculo polar finden sich außerdem einige interessante Sequenzen, die zeigen, wie Julio Medem Zeitellipsen auf äußerst originelle Art überbrückt. Ein Beispiel dafür, wie durch eine Abfolge von Aufnahmen das Vorübergehen der Zeit ausgedrückt wird, ist die kurze Sequenz, in der Ottos Liebesaffären gezeigt, oder besser gesagt, angedeutet werden: zuerst wird das Foto von Ottos Mutter gefilmt, das auf einem Kästchen in Ottos Schlafzimmer steht, dann werden in jump-cuts und aus der Perspektive des Fotos verschiedene Frauen gezeigt, die das Foto ansehen und Fragen dazu stellen. Im Hintergrund befinden sich das Bett und Otto. Den Schluss dieser Sequenz bildet wiederum die Aufnahme des Fotos. Durch die Abfolge von schnellen Schnitten wird die Kurzlebigkeit von Ottos Beziehungen ausgedrückt und die Erzählung vorangetrieben. Letztere geht insgesamt sehr zügig voran, vor allem die ersten Kapitel werden in einem sehr schnellen Tempo erzählt. Nur in einigen wichtigen Sequenzen (wie zum Beispiel der Blickwechsel im Wald oder der Flug der Papierflugzeuge) lässt sich die Erzählung Zeit, und interessanterweise sind es dieselben (Kindheits-)Erinnerungen, die in Anas und Ottos Gedächtnis hängen geblieben sind und die die beiden dementsprechend in ihren Erzählungen wieder aufleben lassen. Die zahlreichen Zeitsprünge weiß Medem mit den verschiedensten Mitteln zu überbrücken: als Otto und Ana im Auto sitzen und Anas Mutter mit einem Bus zusammenprallt, werden die beiden Kinder auf dem Rücksitz nach vorne geschleudert. Als sie wieder nach hinten fallen, sind sie keine Kinder

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mehr, sondern Jugendliche. Auch das Familienfoto, auf dem Otto und Ana plötzlich nicht mehr als Jugendliche, sondern als junge Erwachsene erscheinen, signalisiert, dass einige Jahre vorübergegangen sind. Les Roseaux sauvages Les Roseaux sauvages entstand anlässlich einer autobiographischen Filmreihe, die der französische Fernsehsender La Sept/Arte 1993 in Auftrag gab. Unter dem Titel Tous les garçons et les filles de leur âge sollten neun Regisseure unterschiedlichen Alters aus ihrer Kindheit erzählen. Zweck dieser Filmreihe war, ohne jegliche dokumentarische Objektivität ein breites historisches und soziales Panorama Frankreichs (und im Fall von Chantal Akerman auch Belgiens) von den 60er bis zu den 80er Jahren zu liefern. Die Filme sollten also autobiographisch sein, sich auf die Jugendjahre der Regisseure konzentrieren und eine Partyszene und populäre Lieder aus dieser Zeit enthalten.46 Daraus erklärt sich auch der stark geschichtliche Bezug von Les Roseaux sauvages, der nicht ganz unwichtig ist, wenn man das Thema Zeit im Film betrachtet. Obwohl der Film während des Algerienkrieges spielt, bildet der Konflikt jedoch nur den Hintergrund für die Geschichte der vier Jugendlichen, die André Téchiné aus seiner ganz persönlichen Perspektive erzählt. Gleich zu Beginn des Films wird sichtbar, dass es dem Regisseur nicht um ein Geschichtsdokument, sondern vielmehr um die Darstellung des Lebens dieser vier Jugendlichen, François, Maïté, Serge und Henri, geht, die repräsentativ für eine ganze Generation von Menschen stehen, die vor dem Hintergrund des Algerien-Krieges mit der Schwierigkeit der Entscheidungsund Identitätsfindung konfrontiert sind. Allein durch die im Film eingebauten Fernseh- und Radionachrichten über den Algerienkrieg und durch die Figur des Henri wird der/die ZuschauerIn direkt mit dem Krieg konfrontiert, während die von den Produzenten vorgeschriebenen Zeitindizien wie die Lieder, oder auch Verweise auf die damalige Mode und Anspielungen auf die Filme dieser Zeit, klar machen, dass die Handlung in den 60er Jahren spielt. »Diese Anfangssequenz spricht für die Vorrangstellung, die Téchiné der Spannung des Moments entgegen einer Widergabe der Geschichte und dem dramatischen Gehalt entgegen der getreuen zeitlichen Rekonstruktion einräumt. Nur wenige Merkmale ermöglichen es, Les Roseaux sauvages zeitlich zu platzieren, wie die Nachrichten von ›draußen‹ oder die Plakate der Filme in der Vitrine eines lokalen Kinos (A travers le miroir, Lola, Les Oiseaux), ein Haarschnitt à 46 Vgl. Wendy Everett: »Film at the Crossroads. Les Roseaux sauvages (Téchiné, 1994)«, in: Phil Powrie (Hg.): French Cinema in the 1990s. Continuity and Difference, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 49. 94

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la ›Françoise Hardy‹, und natürlich die Lieder von Chubby Checker, den Beach Boys oder den Platters, die die Interpunktion des Films vorgeben, wobei diese Musik hier gewollt illustrativ ist.«47

Abgesehen von der geschichtlichen Komponente stecken noch zwei weitere Geschichts- und somit Zeitaspekte in diesem Film: erstens wird im Film mehrmals auf die Filmgeschichte angespielt, wie beispielsweise auf Bergmans Såsom i en spegel, den sich François und Maïté im Kino ansehen. Auch auf die Nouvelle Vague wird verwiesen – die letzte Aufnahme des Films, ein tracking shot, der die drei Jugendlichen auf ihrem Weg zurück zur Schule verfolgt, weist auf das Ende von Truffauts Les Quatre Cents Coups.48 Es handelt sich hier also um ein Beispiel filmischer Selbstreferentialität. Zweitens bringt ein autobiografischer Film zwangsläufig eine zeitliche – und selbstreflexive – Komponente mit sich. Die verschiedenen Blickpunkte, die im Film wiedergegeben werden, spiegeln »the remembering eye of the director«49 wider. Les Roseaux sauvages befindet sich somit an der Kreuzung zwischen zwei verschiedenen Achsen – auf der einen Seite zwischen Fiktion und autobiografischer Erzählung, auf der anderen zwischen der Vergangenheit und Zukunft, da der Regisseur zurückblickt, während die Figuren nach vorne blicken. Die Gegenwartskomponente wird anhand der Zuschauer hinzugefügt, da die Vergangenheit immer auch ein Konstrukt der Gegenwart und der/die ZuschauerIn an diesem Prozess genauso beteiligt ist. »Thus the autobiographical gaze crosses time; both the child’s present and his hypothesized future belong, in reality, to the director’s past. In other words, the autobiographical framing of the filmic narrative inhibits temporal closure; its gaze is self-reflexive and open-ended. […] Indeed, it is the essentially mobile, polyphonic, and open-ended nature of autobiographical discourse that enables Téchiné to instigate a dynamic dialogue not only between different times and viewpoints but also, essentially, between text and spectator. Because, of course, as that self-conscious discourse constantly reminds us, throughout all the levels of looking, all the various I/eye dualities the film explores, the ultimate one, the one whose gaze alone can impart meanings to the film, is that of the spectator.«50

47 Vincent Vatrican: »Au seuil de la vie«, in: Cahiers du cinéma 481 (1994), S. 10. 48 Vgl. Wendy Everett: »Film at the Crossroads«, S. 53. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 56. 95

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Die zyklische Zeit Der zyklische Zeitbegriff, der in vielen von Medems Filmen die Erzählstruktur bestimmt, entspricht dem, was Gilles Deleuze in seinem Buch Das Zeit-Bild im Kapitel Jenseits des Bewegungs-Bildes51 beschreibt: eine Erzählung, in der eine zirkuläre oder zufallsbestimmte zentrifugaltreibende Kraft die Handlung im traditionellen Sinne ersetzt. Der zyklische Zeitbegriff zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch das Werk von Luis Buñuel. In Susana (1950) ist es das Vergessen, in El ángel exterminador ist es die genaue Wiederholung, die noch innerhalb eines einzigen Kosmos das Ende eines Zyklus und den möglichen Beginn eines anderen anzeigt.52 Ein weiteres, an Medem erinnerndes Beispiel ist Cet obscur objet du désir, wo Buñuel zwei Darstellerinnen für ein und dieselbe Person einsetzt (wobei Medem umgekehrt denselben/dieselbe SchauspielerIn für unterschiedliche Rollen besetzt). Dies entspricht auch Buñuels Auffassung, dass es verschiedene, koexistierende Welten gibt: »Es handelt sich dabei nicht um subjektive (imaginäre) Blickpunkte innerhalb derselben Welt, sondern um dasselbe Ereignis in verschiedenen objektiven Welten, die alle in dem Ereignis enthalten sind: unerklärbares Universum.«53

Los amantes del círculo polar Der zirkuläre Zeitbegriff trifft auf keinen von Medems Filmen mehr zu als auf Los amantes del círculo polar. Wie in Lucía y el sexo, so weist Medem auch hier auf unterschiedliche Möglichkeiten des Handlungsverlaufes hin, diesmal kehrt die Erzählung jedoch nicht zur Mitte zurück, sondern es handelt sich um zwei verschiedene Schlussversionen, denen Medem unterschiedliche Titel verleiht. Die erste Version heißt Los ojos de Ana (Anas Augen), die Fokalisator-Figur ist hier also Ana: als sie in der Zeitung vom Flugzeugabsturz eines spanischen Piloten liest und Otto tot glaubt, läuft sie, in der Zeitung lesend, über die Straße auf die Wohnung von Otto el piloto zu und wird von einem Bus überfahren. Nach einer Detailaufnahme ihrer Augen, die starr in den Himmel blicken, sieht man in den folgenden Aufnahmen, wie sie die Treppen zu Otto el piloto in die Wohnung läuft, dort Otto vorfindet und dieser sie umart. Ana blickt jedoch starr vor sich hin, als wäre sie bereits tot. Die nächste Aufnahme zeigt erneut ihre Augen. Die Tatsache, dass man eine Detailaufnahme von Anas Augen sieht, bevor sie die Treppen hinaufläuft, weist darauf hin, dass es sich hier wohl um ihre Traumvorstellung handelt: 51 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 11-40. 52 Vgl. ebd., S. 137. 53 Ebd. S., 138. 96

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»[D]ie Augen, die man in Großaufnahme sieht, werden sich als die der sterbenden Ana herausstellen, in denen sich das Gesicht ihres geliebten Ottos spiegeln wird […]; die Szene, in der Ana die Treppen hinaufläuft, um oben Otto wiederzusehen, wird nicht einmal real sein, sondern die letzte Traumvorstellung des Mädchens.«54

Die zweite Version, Otto en los ojos de Ana (Otto in Anas Augen), stellt Ottos Perspektive dar. Otto, der zuvor erfahren hat, wo Ana sich befindet, kommt gerade angefahren, als Ana vom Bus überfahren wird, läuft auf die Straße hinaus und kniet neben ihr nieder. Verzweifelt blickt er in Anas starres Gesicht und kneift die Augen zu, genauso wie er es als Kind getan hat, als er im Regen auf Ana wartete, in der Hoffnung, sein Wunsch sei in Erfüllung gegangen, wenn er die Augen wieder aufmacht (auch dies ist, wie in Lucía y el sexo, ein Verweis auf die Vergangenheit). Doch Ana liegt weiterhin regungslos auf der Straße, und Ottos Gesicht spiegelt sich in ihren Augen. In dieser Version fehlt die Sequenz, in der Ana und Otto sich wiedersehen, was die Annahme verstärkt, dass es sich bei der ersten Version entweder um das Wunschdenken der sterbenden Ana oder um jenes des Regisseurs selbst handelt. Die Tatsache, dass Medem, wie in Lucía y el sexo, den Zuschauern mehrere Erzählvarianten anbietet, hat auch hier selbstreflexive Züge, als wolle er damit sagen, dass die Geschichte zwischen Ana und Otto auch anders hätte enden können, genauso wie in der Realität verschiedene Zufälle das Leben in unterschiedliche Bahnen lenken. Dass Medem hier den Zuschauern zwei Schlussversionen anbietet, entspricht überdies der Aufteilung der Erzählperspektiven in die von Ana und Otto: »Medem engineers a logical conclusion to the parallel subjective realities of his protagonists by offering his audience two separate endings. In the first, Ana finds and embraces Otto; in the second, he arrives too late for anything but the split second reconciliation of seeing himself reflected in the rapidly dilating pupils.«55

Die Spiegelung von Otto in Anas Augen bildet (zusammen mit der Aufnahme des Flugzeugwrackes im weißen Schneesturm) den Ausgangsund Endpunkt der Geschichte und wird von Medem selbst als Kern der Handlung beschrieben, in dem sich die gesamte Geschichte konzentriert und der den Rahmen für zwei weitere Kreise bildet, nämlich den von Otto und den von Ana.56 Medem lässt die Geschichte abwechselnd von 54 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 55. 55 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 180. 56 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 60. 97

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Otto und Ana erzählen, es handelt sich hier also um eine doppelte Fokalisierung. Die Erzählung ist in 12 Kapitel unterteilt, die jeweils durch eine Weißblende voneinander getrennt sind und zumindest anfangs als Titel abwechselnd die Namen der Hauptfiguren tragen. In der Mitte der Erzählung, nach dem Tod von Ottos Mutter und dem Verschwinden von Otto aus Anas Leben, werden die Erzählperspektiven im Kapitel Otto/Ana zusammengefasst, und diesmal erscheint der Titel nicht vor weißem Hintergrund, sondern, nach einer Schwarzblende, vor einer dunklen Aufnahme von Ottos Zimmer in einer Pension. Die letzten Kapitel heißen schließlich El Círculo Polar (Der Polarkreis), Los ojos de Ana und Otto en los ojos de Ana. Die Erzählung umfasst eine Zeitspanne von 17 Jahren, die Ana und Otto jeweils als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zeigt. Nach der tragischen Anfangssequenz (die eigentlich die Schlusssequenz ist) und einer Weißblende, erscheint der Titel Otto und man hört Ottos erwachsene Stimme: »Es ist gut, dass das Leben verschiedene Kreise hat«, während die Mitternachtssonne im Schnelldurchlauf über einem See aufund absteigt. Nach Ottos Erzählpassage über seine Kindheit, als er Ana langsam kennen lernte, folgt Anas Erzählpassage über dieselbe Zeit, während man ihr voice-over hört: »Ich warte gerade auf den Zufall meines Lebens«. Man sieht dieselbe Aufnahme der auf- und untergehenden Sonne über dem See, diesmal aber aus einer etwas anderen Perspektive. Am Ende des Films kommen genau dieselben, vom voice-over der Protagonisten begleiteten Aufnahmen wieder, und es wird klar, dass die Bilder am Anfang des Films eigentlich die vom Ende sind, als Otto und Ana kurz vor dem Unglück sich nicht weit voneinander entfernt am See befinden und die am Horizont entlang wandernde Sonne betrachten, während sie auf das langersehnte Wiedersehen warten. Ebenso wie die Polarsonne eine kreisförmige Bewegung beschreibt, so besteht die gesamte Erzählung aus verschiedenen Zirkeln: der größte umfasst Anfang und Beginn der Erzählung und stellt den metafiktionalen, mit Deleuzes Worten »virtuellen« Kreis dar. Innerhalb dieses Zirkels beschreiben die kleineren Kreise die verschiedenen Ereignisse aus der Kindheit, jeweils – spiegelgleich – aus der Perspektive von Ana und Otto, deren Schicksale sich bezeichnenderweise am Polarkreis zum letzten Mal kreuzen. Die zyklische Erzählstruktur steht also für die verschiedenen Zyklen im Leben: Ende und Anfang, Kindheit und Erwachsenenalter gehen ineinander über und bilden einen Kreis. Medem vermischt somit auch die verschiedenen Zeitebenen der Erzählung. Beginnend mit Otto und Ana als Erwachsene, geht die Erzählung dann in ihre Kindheit zurück, die chronologisch erzählt wird. Nur ab und zu sieht man den bereits erwachsenen Otto als Pilot über die finnische Seenlandschaft fliegen. Medem springt

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hier also zwischen den verschiedenen Zeitebenen – einerseits erzählen Ana und Otto abwechselnd in Form von flash-backs ihre Kindheits- und Jugenderinnungen, andererseits wird Spannung aufgebaut, indem gezeigt wird, wie Otto wortwörtlich der Liebe seines Lebens hinterher fliegt, während Ana auf den Zufall ihres Lebens wartet. Der Kreis wird in diesem Film auch regelrecht zum Leitmotiv, das sich in einzelnen Bildern wiederfindet: der Fußball, Anas Auge und die Mitternachtssonne am Anfang und Ende der Erzählung. Auch die Namen Ana und Otto, die als Palindrome sowohl vor- als auch rückwärts gelesen werden können, sind in gewisser Weise wie zwei Kreise. Zudem kommen zahlreiche Sequenzen und Motive wiederholt vor, wodurch der Eindruck eines dichten Erzählteppichs mit immer wiederkehrenden Bildern entsteht. So zum Beispiel Flugzeuge – Papierflugzeuge, Flugzeuge im Fernsehen, echte Flugzeuge, die eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen, sowie der Satz »Otto el piloto, ja klar«, den Ana mehrmals wiederholt; oder ein Fallschirmspringer, der im Baum hängen bleibt; ein Mann, der einer Frau hinterherläuft; der Kreis, den Otto auf die Zeitungsanzeige der Pilotenstelle als auch auf seine Landkarte kritzelt und in den er Anas Namen in Großbuchstaben schreibt; der leere Benzintank, der einmal Anas Vater in den Tod treibt, das andere Mal Ottos Familie auf einer Landstraße zum Stehen bringt; und schließlich der rote Bus, der Ottos Vater zum Bremsen zwingt, sodass sich Otto am Armaturenbrett den Kopf anschlägt, gegen den später Olga prallt, sodass Otto und Ana nach vorne katapultiert werden, der den finnischen Mann zum Bremsen bringt, sodass sich Otto, analog zu seiner Kindheit, den Kopf am Armaturenbrett anschlägt, und schließlich der rote Bus, der Ana in Rovaniemi überfährt. Diese einzelnen Erzählelemente wiederholen sich an verschiedenen Stellen und in den unterschiedlichen Erzählebenen und werden somit miteinander verbunden, wodurch ein Gefühl der Zwangsläufigkeit entsteht, als würden sich unsichtbare Fäden durch die Geschichte hindurchziehen und die Figuren lenken.57 Durch zahlreiche Verbindungslinien zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit/Kindheit (und somit zwischen der Realität und der Fantasiewelt) bricht der Kontakt zwischen Ana und Otto auch während ihrer Trennung nie gänzlich ab. So wird Otto Pilot und knüpft somit an die Papierflugzeuge aus der Kindheit sowie an die Geschichte seines Großvaters mit dem deutschen Piloten an. Eine weitere Verbindung zur Kindheit und auf abstrakter Ebene zur kindlichen Fantasiewelt ist die Tatsache, dass Otto ausgerechnet als Kurier zwischen Spanien (Realität) und Finnland (Fantasie) tätig ist. Vor der Sequenz, in der Otto und Ana in ihrem Geografiebuch eine Landkarte von den Gebieten rund um den 57 Vgl. ebd., S. 61f. 99

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Polarkreis betrachten und sich dann zum ersten Mal küssen, wird daher, wie eine Art flash-forward, eine Aufnahme von Otto gezeigt, wie er in seinem Kurierflugzeug über die finnische Seenlandschaft fliegt. Auch Ana knüpft mit ihrer Berufswahl und ihrer Beziehung zu Ottos ehemaligem Grundschullehrer an die Kindheit an.58 Später, als sich Ana auf den Weg nach Finnland begibt, kreuzt sich ihr Flugzeug mit Ottos, und beide blicken dem anderen Flugzeug nach, als würden sie spüren, dass sie sich soeben gekreuzt haben. Dieser Blickwechsel erinnert auch an den ersten, den sie als Kinder im Wald ausgetauscht haben. Medem wendet also nicht nur das konventionelle Mittel des flashbacks an, um die verschiedenen Zeitebenen miteinander zu verbinden, sondern weckt durch die Wiederholung ähnlicher Aufnahmen und Motive Assoziationen und Erinnerungen und lässt dadurch die Vergangenheit »direkt« wieder aufleben. Persona Ähnlich wie Julio Medem verknüpft auch Ingmar Bergman seine Filme untereinander, was besonders am Beispiel von Persona sichtlich wird. Bereits im Vorspann sieht man eine Reihe an Symbolen aus Bergmans früheren Filmen. Das farceartige Stummfilmfragment stammt aus Fängelse, der darin vorkommende Mann im Nachthemd kommt von Sommarnattens leende, die Spinne weist auf den Spinnengott in Såsom i en spegel, während das Schlachten des Schafes an Märta in Nattvardsgästerna erinnert. Die durch das Nägeleinschlagen verursachten Wunden an den Händen – ein klarer Hinweis auf Christis Kreuzigung – kommen sowohl in Det sjunde inseglet als auch in Smultronstället und Nattvardsgästerna vor.59 Am deutlichsten ist jedoch die Anknüpfung an den Film Tystnaden, der vor Persona gedreht wurde: nicht nur, dass gleich zu Beginn derselbe Junge (Jörgen Lindström) erscheint wie in Tystaden, er liest auch dasselbe Buch, nämlich Michail Lermontovs Ein Held unserer Zeit (was in Verbindung mit der Gottessymbolik wohl ein Hinweis auf Jesus ist). Es scheint also, als ob Persona eine Fortsetzung von Tystnaden sei, nur dass Bergman nun einen Schritt weiter geht – Gott ist gänzlich aus dem menschlichen Leben verschwunden, und der Junge versucht vergebens, sich seiner Mutter zu nähern, indem er den Bildschirm, auf dem ein überdimensionales weibliches Gesicht erscheint, berührt. Nun scheint die Mutterfigur noch abwesender zu sein als im Film zuvor. Doch der Film knüpft nicht nur an vorhergehende Filme an und ist somit ein weiterer Teil von Bergmans filmischem Mikrokosmos, Perso58 Vgl. ebd., S. 67. 59 Vgl. Egil Törnquist: Filmdiktaren Ingmar Bergman, Värnamo: Bokförtaget Arena 1993, S. 70. 100

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na hat auch in vielerlei Hinsicht eine zirkuläre Erzählstruktur. In den Schlussaufnahmen wird gezeigt, wie Elisabet und Alma zu ihren ursprünglichen Aktivitäten zurückkehren: man sieht dieselbe Aufnahme von Elisabet wie zu Beginn des Films (in der sie als Elektra verkleidet im Rampenlicht steht) und wie eine Kamera von ihr Aufnahmen macht (es bleibt unklar, ob es sich hier nicht um Liv Ullmann und somit um die metafilmische Ebene handelt), wobei ihr auf den Kopf gestelltes Gesicht an die drei auf den Kopf gestellten Gesichter der Personen in der Einleitungssequenz erinnert. Alma ihrerseits fährt in ihrer Krankenschwesterkleidung mit dem Bus davon, nachdem sie sich in den Spiegel gesehen hat und in ihrer Vorstellung die Aufnahme nochmals erschienen ist, in der Elisabet von hinten über Almas Haar streicht und sich ihre Köpfe in entgegengesetzte Richtungen neigen. Diese Aufnahme ist zum ersten Mal in der Mitte des Films zu sehen und kommt insgesamt dreimal vor. Da sie am Schluss nochmals zu sehen ist (jedoch seitenverkehrt, wie in einem Spiegelbild), schließt sich der Kreis von Traum und Vorstellung, und Alma scheint endgültig zu ihrer ursprünglichen Identität zurückzukehren. Der Film endet, so wie er begonnen hat, aber spiegelverkehrt: wir sehen, wie der Filmstreifen, der zu Beginn in den Projektor lief, nun aus ihm ausläuft. Schließlich erscheint zu Beginn und am Ende des Films der Junge, der tastend nach dem Bildschirm und dem weiblichen Riesengesicht greift. Somit verknüpft Bergman Illusion, Wirklichkeit und metafilmische Ebene auf eine Art, die an Strindbergs Traumspiel und Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor erinnert – zwei Theaterstücke, die Bergman stets sehr viel bedeutet haben.60 Die Tatsache, dass der Schluss von Persona offen bleibt, ist auch ein typisches Merkmal für den avantgardistischen Film und ein von feministischen Strömungen bevorzugtes Mittel, den männlich dominierten Diskurs zu dekonstruieren: »A rejection of closure, of the enigma-resolution structure, as characteristic of avant-garde cinema in general and of Bergman’s later films in particular, also coheres with feminism since closure is a feature of dominant ›masculine‹ language, to the extent that such language embodies a hierarchy of meanings and implies a subjection to, a completion and closure of, meaning.«61

Ma saison préférée Ähnlich wie in Bergmans Smultronstället, wird in Ma saison préférée der Zeitbegriff selbst thematisiert, diesmal steht jedoch nicht die Elterngeneration im Zentrum, sondern ein Geschwisterpaar. Wie der Titel bereits 60 Vgl. ebd., S. 69. 61 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 12. 101

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andeutet, spielen die Jahreszeiten eine zentrale Rolle: der Film ist in vier Kapitel eingeteilt, die jeweils einer Jahreszeit entsprechen. Jedes Kapitel stellt eine in sich geschlossene Erzählung dar.62 Der Titel könnte aber auch ein Wortspiel zwischen saison und maison sein: »[…] das Mutter-Haus (wörtlich), das zu Beginn des Films verlassen wird, was in einem ersten Kapitel mit dem Zwischentitel als Der Aufbruch bezeichnet wird. Wie die Jahreszeiten und ihr Licht, kalt, bläulich, grün, goldfarben, schließlich reif, so wird auch der Film durch vier Zwischentitel unterteilt […].«63

Im Laufe der Jahreszeiten und der entsprechenden Kapitel treffen Emilie und Antoine nach drei Jahren wieder aufeinander (Kapitel I), es kommt zum Familienstreit (Kapitel II), zur Versöhnung (Kapitel III), erneut zum Streit (nachdem sich herausstellt, dass die Mutter an einem Tumor leidet) und nach dem Tod der Mutter zur Wiedervereinigung, sowohl zwischen Antoine und Emilie als auch zwischen ihr und ihrem Mann (Kapitel IV). Die Zwischentitel beschreiben also die Beziehung zwischen Antoine und Emilie, ebenso wie die Erzählung hauptsächlich um die beiden Geschwister kreist. Dass der Film dennoch auch vom Generationskonflikt (sowohl zwischen Antoine und Emilie und ihrer Mutter, als auch zwischen Emilie und ihren Kindern) handelt, ist an mehreren Stellen sichtbar. Téchiné thematisiert hier die Schattenseiten des Fortschrittes und der heutigen modernen Gesellschaft. An mehreren Stellen sieht oder hört man ein Flugzeug, beispielsweise in der Sequenz (zu Beginn von Kapitel III), in der die Mutter im Garten Kirschen pflückt und umfällt (diese Sequenz wird bedeutenderweise von Glockenklängen eingeleitet): nach einer Großaufnahme ihres Gesichts und einem Schwenk auf das Gras, in dem man den Schatten der sich im Wind bewegenden Blätter sieht, werden Schwarzweiß-Fotos von ihr als junge Frau eingeblendet, während man ein Flugzeug hört. Auch zu Beginn von Kapitel IV sieht man ein Flugzeug über ein Industriegebiet fliegen und ein Motorboot über die Garonne rauschen. Nach der Beerdigung sieht Antoine, der im Gras von Emilies Garten liegt, ein Flugzeug am Himmel. Diese Symbole für den Fortschritt drücken den Generationskonflikt zwischen den Geschwistern und ihrer Mutter aus und schaffen einen Kontrast zwischen der heutigen modernen Gesellschaft und der älteren, auf dem Land lebenden Generation. 62 Martin Bright: »Ma saison préférée«, in: Sight and Sound 4, issue 8 (1994), S. 46. 63 Camille Taboulay: »L’épreuve du temps«, in: Cahiers du cinéma 467/8 (1993), S. 24. 102

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Auf das Voranschreiten der Zeit wird auch durch SchwarzweißFotos, die häufig im Film zu sehen sind, verwiesen. Vor allem Antoine sieht sich öfter Fotos an, wie jenes von Emilie, das in ihrem Schlafzimmer steht, und jene im Haus der Mutter, die sie mit ihren jugendlichen Kindern zeigen. Einen besonderen Stellenwert nimmt jedoch das Foto ein, auf dem Antoine und Emilie als Jugendliche zu sehen sind. Es scheint, als wolle Antoine zurück in die Kindheit, in die Nähe von Emilie, indem er sich alte Aufnahmen ansieht. Dieses Foto kommt vor allem in einer Sequenz vor, die an sich schon sehr vom Begriff der Zeit geprägt ist: im Kapitel III, als Emilie bei Antoine übernachtet und Antoine ausgeht, beginnt eine Frau im Lokal zu singen – »Die Zeit wird vergehen… Wir werden nicht mehr hier sein«. Man sieht in Zeitlupe, wie sie singend aus dem Lokal geht und Antoine sie mit dem Blick verfolgt. Daraufhin läuft Antoine nach Hause und stürmt in die Wohnung, um sich zu vergewissern, dass Emilie am Leben ist. Das Foto von ihm und seiner Schwester, das er ihr am Abend zuvor gegeben hat, liegt auf dem Bett und wird von der Kamera angezoomt. Durch dieses Foto versteht man, wie nahe sich Emilie und Antoine als Jugendliche waren und wie sehr Antoine die Zeit festhalten und rückwärts gehen möchte, um Emilie wieder so nahe zu sein. Téchiné betont, ähnlich wie Bergman, dass die Kindheit auch in der Gegenwart ständig präsent ist, dass man ihr nicht entkommen kann, und dass manche Dinge trotz des Voranschreitens der Zeit immer gleich bleiben. Ähnlich wie in Bergmans Viskningar och rop (und vielen anderen seiner Filme) nimmt die Uhr auch in Ma saison préférée einen symbolischen Charakter an: nachdem es nach dem Weihnachtsessen (Kapitel II) zum Streit zwischen Antoine und Emilies Mann gekommen ist, gesteht Antoine, dass er einen Traum hatte, in dem er die Uhr auf Emilies Kaminsims kaputt machte. Wenig später, als Antoine und die Mutter das Haus verlassen haben, geht Emilie auf den Kamin zu und dreht am Ziffernblatt der Uhr. Nach einem kurzen, zögernden Augenblick stößt sie die Uhr langsam und müde zu Boden. Die Tatsache, dass Antoine davon geträumt hat, die Uhr in Emilies Haus kaputt zu machen und sie diese dann wirklich zu Boden wirft, ist eine Voraussage für all das, was später eintreten wird: Antoine zerstört indirekt nicht nur die Porzellanuhr, die säuberlich auf dem Kaminsims steht, sondern die Familienidylle, die Emilie so gerne aufrechterhalten möchte. Nachdem sie einsieht, dass diese Idylle eine Illusion ist, zerstört sie diese, indem sie die Uhr auf den Boden wirft, und trennt sich von ihrem Mann. Sie bricht also mit der »Zeit« mit ihrem Mann und kehrt nach und nach zu ihrem Bruder und damit in ihre Kindheit zurück.

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Abschließend kann man also feststellen, dass Zeit bei allen drei Regisseuren eine zentrale Rolle spielt. Nicht nur, dass sie in vielen dieser Filme zum Thema selbst wird, sondern anhand verschiedener Techniken wird klar, dass der Film ein privilegiertes Medium ist, das allein es der Erzählung ermöglicht, sich frei zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen zu bewegen und auszudrücken, dass, wie Deleuze meint, die Gegenwart immer auch gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft ist. Eine weitere Parallele findet sich vor allem zwischen Bergman und Medem: während Téchiné das Thema Zeit mehr auf einer »intellektuellen« Basis behandelt und seine flash-backs eher selten den Rahmen des reinen Rückblickes übersteigen, so lassen der schwedische und der spanische Regisseur verstärkt Erinnerung und Traum ineinander überfließen. Auch weist die zyklische Erzählstruktur, vor allem in Persona, Los amantes del círculo polar und Lucía y el sexo, selbstreflexive Züge auf, die bei Téchiné weniger manifest zu erkennen sind. Das, was Téchiné mit Bergman eint, ist die Verwendung von Symbolen wie Uhren und Fotografien, die das Voranscheiten der Zeit signalisieren. Diese kommen wiederum bei Medem eher selten vor, wie beispielsweise das Familienfoto in Los amantes del círculo polar oder das Foto Lunas in Lucía y el sexo, das gleichzeitig als Schwelle zu einer Fantasiewelt fungiert. Die drei Regisseure verwenden häufig flash-backs, um die Vergangenheit in die Erzählung einfließen zu lassen, wobei diese oft den konventionellen Rahmen verlassen. Vor allem Medem bedient sich auch anderer Mittel, um Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen zu schaffen. Bis zu einem gewissen Grad ist dies auch bei Bergman (wie beispielsweise in Smultronstället, wo der alte Isak zurück in die Vergangenheit reist) und in geringerem Maße auch bei Téchiné (vor allem in der an Bergman erinnernden Sequenz in Ma saison préférée, in der die erwachsene Emilie wieder in die Rolle des Kindes schlüpft und ihren Eltern begegnet) der Fall. Bei allen drei Regisseuren kommt also – wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen – Deleuzes »direkte Präsentation« der Zeit zum Tragen.

B e z i e h u n g s- B i l d e r Beziehungen spielen sowohl bei Ingmar Bergman als auch bei André Téchiné und Julio Medem eine zentrale Rolle, wobei die drei Regisseure oft ähnliche Mittel anwenden, um Beziehungen filmisch darzustellen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Bildkomposition. Wie André Téchiné meint, so hat Ingmar Bergman in seinen Filmen stets eine Antwort auf

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die Frage gesucht, wie man zwei (oder mehrere) Gesichter innerhalb eines Bildrahmens darstellen kann: »Er war besonders auf der Suche nach einer Art, wie man zwei Gesichter im selben Rahmen filmen kann. Das heißt, nicht nur ein Gesicht in all seiner Gewalt und in all seinem Mysterium, sondern in seiner Beziehung zu einem anderen. Dies fällt besonders in seinem Film Persona auf, der auf dem Austausch des Unaustauschbaren basiert, aber man erkennt sehr früh dieses Bemühen um eine Montage der Gesichter. Wie kann man zwei Gesichter gleichzeitig filmen? Diese Frage hat er sich häufig gestellt.«64

So vertritt auch Marianne Höök die Ansicht, dass Bergman sich stets mehr für Bildkomposition als für Kamerabewegungen interessiert hat und dass er eine Vorliebe für Silhouetteneffekte und die innere Spannung zwischen den Bildkomponenten hegt.65 Meist handelt es sich dabei um Großaufnahmen. Ingmar Bergman meint selbst dazu: »Für mich ist Film Gesicht.«66 Auch in Julio Medems Filmen sind die häufigen Großaufnahmen auffallend. Man denke nur an die Detailaufnahme von Anas Auge, in dem sich Ottos Gesicht spiegelt. Rob Stone bezeichnet Los amantes del círculo polar deshalb als einen »film based on faces«.67 André Téchiné behandelt Bildkomposition und Großaufnahmen ähnlich wie Ingmar Bergman. Die Tatsache, dass er oftmals zwei Gesichter in einem Bildrahmen einfängt, um deren harmonische oder disharmonische Beziehung auszudrücken, erinnert sehr an Bergman: »[D]ie Frage rund um das Gesicht nimmt bei Téchiné seit seinem Beginn mit Paulina s’en va eine sehr wichtige Stellung ein. Er sucht dort eine Antwort bezüglich der gegenseitigen Beziehung, die Tiefe, die, entgegen einer Abplattung des Visuellen, durch die gleichzeitige Anwesenheit zweier Gesichter ermöglicht wird, die sich gegenseitig bereichern, dank eines ›Dialoges‹, der nicht zwingend aus Wörtern besteht .«68

In Les Roseaux sauvages beispielsweise wendet Téchiné vermehrt eine polarisierte Bildkomposition an, um die Beziehung zwischen den Antagonisten und deren Entwicklung zu verdeutlichen. So sieht man Madame Alvarez und Henri nie im selben Bild, sehr wohl aber Henri und Monsieur Morelli: in der Sequenz, in der der Lehrer versucht, den Schüler zur 64 Cahiers du cinema 583 (2003), S. 86. 65 Zit. nach Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 29. 66 Vgl. Annika Holm: »För mig är film ansikte«, in: Dagens Nyheter 28/5 1966, zit. n. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 27. 67 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 177. 68 Jean-Michel Frodon: L’âge moderne du cinéma français, S. 764. 105

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Vernunft zu bringen, findet eine Annäherung der beiden Gesichter im selben Bildrahmen statt. Die Dreiecksbeziehung zwischen Henri, François und Serge findet ebenfalls im Spiel mit verschiedenen Bildkompositionen ihren filmischen Ausdruck. Die Schnitte zwischen den Aufnahmen isolieren Henri klar von Serge und François und teilen somit die drei in zwei verschiedene Lager. Auffallend ist auch die Verwendung von eckigen Bildhintergründen, die am Schluss von der Natur abgelöst werden. Auch die in diesem Film vorherrschende variable Fokalisierung ist erwähnenswert, da sie die verschiedenen Sichtweisen und Standpunkte aufzeigt, wobei politische Konflikte sexuellen und moralischen gegenübergestellt werden. Durch diese abwechselnden Sichtweisen macht Téchiné es auch für den/die ZuschauerIn schwierig, einen klaren Standpunkt einzunehmen. »Téchiné shows the decisions and cost of the war in personal terms, focusing on the individual, on the intimate space of response and reaction, to reveal a larger roll. A lack of fixed view in his film is also shown in his representation of the pieds noirs (Algerian-born white French citizen) who return to France.«69

Bei Téchiné sind außerdem die kreisenden Kamerabewegungen auffallend, die der Regisseur mehrmals anwendet, um zwei Menschen miteinander in Verbindung zu setzen. In der Sequenz in Alice et Martin, in der Alice Madame Sauvagnac den Brief vorliest, in dem Martin seine Stiefmutter um ihre Aussage vor Gericht bittet, kreist die Kamera um Alice und Madame Sauvagnac herum, bis sie in einer Großaufnahme auf dem Profil der schweigenden älteren Frau verharrt. Ähnlich wie diese Sequenz ist die Aufnahme von Emilie am Schluss von Ma saison préférée, in der sie der Familie das Lied vorträgt. Nachdem sie erklärt hat, dass sie sich diese Zeilen immerzu selbst ins Gedächtnis rief, während sie auf den Sommer und das Wiedersehen mit Antoine wartete, beginnt die Kamera, sich langsam hinter Antoines Rücken Emilie zu nähern, während sie die Zeilen vorträgt: »Wo ist nur der Freund, den überall ich suche«. Die Kamera ruht nach einer Kreisbewegung schließlich auf Emilies Profil in einer Großaufnahme, schwenkt dann aber auf Antoines Gesicht, wodurch die enge Verbindung zwischen den beiden Geschwistern klar wird. Téchiné kontrastiert oft schnelle Kamerabewegungen mit langsamen, kreisförmigen, als ob er damit ausdrücken wolle, dass es trotz der Schnelllebigkeit und der Unentrinnbarkeit des Lebens Momente der Ruhe gibt, denen man – auch innerhalb der Erzählung – Platz einräumen muss.

69 Emma Wilson: French Cinema Since 1950, S. 37. 106

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Betrachtet man also die unterschiedlichen Beziehungen in den Filmen von Bergman, Téchiné und Medem, so ist es notwendig, auch die filmischen Darstellungsweisen wie Großaufnahmen, Bildkompositionen, Kameraperspektiven und die Verknüpfung der Aufnahmen untereinander in die Analyse mit einzubeziehen.

Familienproblematik Ingmar Bergman versuchte durch viele seiner Filme, den Konflikt mit seinen Eltern auszudrücken und sich schlussendlich mit ihnen zu versöhnen. Daher ist die Eltern-Kinderbeziehung oft zentral. Bergman selbst beschreibt diese folgendermaßen: »Wir verlassen unsere Eltern, und kehren wieder zu ihnen zurück. Plötzlich verstehen wir sie, wir sehen in ihnen menschliche Wesen, und in diesem Moment sind wir erwachsen geworden.«70

Die Abschlusssequenz in Smultronstället, in der der alte Isak seinen Eltern zuwinkt, drückt eben diesen Wunsch aus, sich mit den Eltern zu versöhnen und ihnen nahe zu sein. Interessant ist, dass Isaks Vater ausschließlich in dieser (Traum-)Sequenz vorkommt, während seine Mutter nur als alte, kalte und einsame Frau gezeigt wird. Die einzige positive Darstellung seiner Eltern ist also in der letzten Sequenz zu finden, die jedoch Isaks Traumvorstellung wiedergibt und somit nicht der Wirklichkeit entspricht. In Isaks erstem Tagtraum sind sowohl Isak als auch sein Vater abwesend. Es heißt, Isak sei mit seinem Vater fischen gegangen, was sogar noch im alten Isak eine unerklärbare Freude auslöst. Während die Abwesenheit der Mutter unkommentiert bleibt, scheint es, als ob die Kinder ständig auf den Vater warteten und nach ihm Ausschau hielten.71 Abgesehen von Isaks Mutter werden die Frauen jedoch stets mit Mütterlichkeit in Verbindung gebracht. Indem Bergman sowohl die junge Sara, als auch die aus Isaks Erinnerung mit derselben Schauspielerin (Bibi Andersson) besetzt, wird der Eindruck verstärkt, dass hier nicht eine individuelle Frau, sondern vielmehr eine idealisierte Mutterfigur dargestellt werden soll. Die Tatsache, dass die Gefühlskälte vor allem auf Isaks Mutter und nicht auf den Vater zurückzuführen ist, erklärt Marilyn Blackwell Johns durch eine Projektion der Schwäche und Fehler des Vaters auf die Mutter:

70 Zit. nach Joseph Marty: Ingmar Bergman, S. 107. 71 Egil Törnquist: Filmdiktaren Ingmar Bergman, S. 54. 107

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»That in Wild Strawberries the legacy of coldness and death, elsewhere in Bergman attributed to the father, is associated with the mother is a case of projection of the failings of the father onto the mother in order to save the father so that the son might be reconciled with him.«72

Von der Unmöglichkeit, sich den Eltern zu nähern, handelt auch Viskningar och rop, doch steht hier die Mutter-Tochterbeziehung im Mittelpunkt: Agnes teilt in ihrem flash-back mit, dass sie ihre Mutter grenzenlos liebte und ihr immer nahe sein wollte, dass sie sich jedoch immer als Außenseiterin fühlte und Maria das Lieblingskind der Mutter war. Als sie erzählt, wie sie ihre Mutter einmal traurig an ihrem Schreibtisch sitzend überraschte, sieht man eine Großaufnahme des Gesichts des Mädchens, das, hinter einem durchsichtigen Vorhang versteckt, die Mutter beobachtet. Als diese Agnes zu sich ruft, berührt das kleine Mädchen sanft und mitfühlend ihre Wange. Interessanterweise ist Agnes die einzige der drei Schwestern, die zu Liebe und Berührung fähig ist. Die einzige Mutterfigur, die der Idealvorstellung der liebevollen, fürsorglichen Mutter entspricht, ist hingegen Anna, die seit dem Tod ihrer Tochter wie eine Mutter für Agnes sorgt. Während Agnes‹ Mutter als kalt und abweisend beschrieben wird, ist die Vaterfigur gänzlich abwesend. Die drei Schwestern sind mit Marilyn Blackwell Johns‹ Worten »products of an ongoing maternal heritage of loneliness, alienation, and despair«.73 In Persona ist der Vater ebenfalls so gut wie abwesend, denn der Film handelt hauptsächlich von der problematischen Beziehung zwischen Elisabet Vogler und ihrem Sohn. Aus Almas Monolog, in dem sie Elisabet vor Augen hält, wie es dazu gekommen ist, dass Elisabet ein Kind zur Welt brachte und dieses anschließend ablehnte, geht hervor, dass Elisabet unter dem Druck der Gesellschaft eine Rolle angenommen hat, die sie nun ablehnt. »[W]hile Elisabet certainly does reject her son, both the doctor’s statement and the association in the repeated monologue between Elisabet’s denial of the child and her friends‹ confinement of her within the role of the glowing ›devoted‹ mother indicate that Elisabet is also resisting society’s norm of maternal behavior, its imposition of otherness. The rejection of the child is also very much a rejection of the role of mother as defined and enforced by society.«74

72 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 200. 73 Ebd., S. 174. 74 Ebd., S. 149. 108

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Bergman weist hier auf die Problematik der Mutterrolle innerhalb der Gesellschaft, wobei er, wie so oft in seinen Filmen, die Vaterfigur marginalisiert. Auch in André Téchinés Filmen ist diese entweder abwesend oder schwach, weshalb die Frauenfiguren die tragenden Rollen einnehmen: »Die Familienbindungen legen, wenn man sie ein wenig systematisch untersucht, großteils einen ernsthaften Mangel der Vaterfigur offen, was keineswegs der Kraft der Fiktionen Schaden zufügt.«75

In Ma saison préférée beispielsweise ist der Vater von Emilie und Antoine bereits verstorben, und er wird auch kaum erwähnt. In der Art, wie sich die Mutter mit ihren zwei Kindern verhält, kommt ihr dominanter Charakter zum Vorschein. Grundsätzlich scheint die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn weniger konfliktgeladen zu sein als die zu ihrer Tochter. In der Sequenz, in der die Mutter Antoine fragt, ob es etwas gäbe, das er ihr vorwerfe, sieht man die beiden Gesichter in einer Großaufnahme im selben Bildrahmen. Dies ist eine der wenigen Sequenzen, wo sich Mutter und Sohn nahe sind und wo die Mutter bereit ist, ihre Fehler einzugestehen. Das Verhältnis zwischen der Mutter und Emilie hingegen ist kühl und angespannt. Antoine hält Emilie im Streit vor Augen, dass sie ihre Mutter hasse, da sie nie die Zuneigung und Liebe erhalten hat, um die sie – ähnlich wie Agnes in Viskningar och rop – stets so hart und vergebens gekämpft hat. Eine ähnlich dominante Mutter- und Frauenfigur wie Emilies und Antoines Mutter ist Madame Alvarez in Les Roseaux sauvages. Nachdem sie ihr Mann verlassen hat, ist sie eine allein erziehende Mutter. Maïté, ihre Tochter, ist sehr stark von der Prinzipientreue und ideologischen Überzeugung ihrer Mutter geprägt. Sie ist sehr selbstständig und hat gelernt, ohne Vaterfigur auszukommen. Außer Madame Alvarez kommen die Eltern der Jugendlichen jedoch nicht vor und werden höchstens beiläufig erwähnt. Dieser Film handelt von Jugendlichen und wird auch aus ihrer Perspektive erzählt. Die Erwachsenen übernehmen lediglich die Rolle der Autoritätspersonen, die als Spiegel für die Identitätsfindung der Jugendlichen dienen. So nimmt Maïté zuerst die politische Haltung der Mutter ein, stellt diese jedoch in Frage, als sie Henri kennen lernt, ebenso wie dieser seine eigene zu hinterfragen beginnt. Indem Téchiné die beiden Extreme zusammenführt, zeigt er die Komplexität der verschiedenen Standpunkte auf:

75 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 20. 109

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»Ich wollte, dass der OAS-Anhänger und die junge kommunistische Frau sich ein wenig aneinander reiben, dass sie ein Ereignis des anderen erleben, das ihnen komplett fremd und unbekannt ist. Ich wollte eine direkte Gegenüberstellung mit dem Feind, die nicht so ausfällt wie man erahnen könnte, und die zu einer gegenseitigen Infragestellung führt.«76

Obwohl Téchiné die verschiedenen Blickpunkte der Figuren wiedergibt, geht doch hervor, dass François die Hauptfigur des Films ist und gewissermaßen als Téchinés alter ego fungiert, was nicht zuletzt durch François‹ Liebe zum Film und seine Begeisterung für Ingmar Bergman bestärkt wird. »If Henri is the film’s most enigmatic and disturbed character, François is the one with whom the film-maker seems to feel the greatest affinity, presenting his sexual confusion, self-loathing and intellectual excitement with great sympathy. It is not that Téchiné gives François anything as straightforward as a preponderance of point-of-view shots, it is simply this trajectory that interests him most.«77

In Alice et Martin wird Autorität durch die Vaterfigur verkörpert. Auch wenn der Vater anfangs abwesend ist, so bestimmt er, nachdem Martin zu ihm zieht, dessen Leben. Martin fühlt sich von ihm ständig gedemütigt und verliert sein Selbstvertrauen, weil der Vater ihn ständig kritisiert und zur Rede stellt. Téchiné zeigt mit diesem Film, wie zerstörerisch eine autoritäre Vaterfigur sein kann, sowohl für die Frau als auch die Kinder. Was die Thematisierung der Familie und der Eltern-Kinderbeziehungen bei Julio Medem betrifft, so muss diese laut Rob Stones unter dem geschichtlichen Aspekt gesehen werden, dass Medem der postfrankistischen Generation angehört: »[…] Medem too is part of a generation of film-makers that has little memory of the dictatorship, but which certainly shared in the emotional fallout of their parents‹ suffering. Tellingly, some of the dominant themes of their films are absent mothers, obscure paternal figures and a lack of communication between the sexes and between the generations, together with urban alienation and the emerging disillusionment with the new democracy. In response, many of the youthful characters in their films exhibited a reproachful morality towards tired, cowardly, shameful or adulterous parental figures. The children of Los amantes del círculo polar are therefore typical of their generation in their involvement 76 Vincent Vatrican: »Au seuil de la vie«, S. 13. 77 Chris Darke: »Les Roseaux sauvages«, in: Sight and Sound 5, issue 3 (1995), S. 50. 110

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in a process of immunisation against reality, where sex signifies a profound act of commitment that they have rescued from the profligacy of their parents. Indeed, as Medem has described, Los amantes del círculo polar is ›filmed in such a way that the kids practically turn their backs on their parents, filming them either from in front or behind. If the parents are there, they’re out of focus.‹«78

Ein Beispiel dafür, dass die Erzählung in Los amantes del círculo polar auf die Kinder fokussiert ist und die Eltern in den Hintergrund rückt, ist die Sequenz, in der Otto die Geschichte von seinem Großvater und dem deutschen Piloten erzählt: vom Fernseher, in dem Archivaufnahmen von Bombenangriffen ausgestrahlt werden, schwenkt die Kamera auf Otto. Nach einem Schnitt auf Ana zoomt die Kamera auf ihr Gesicht, während man ihre Worte als voice-over hört, die erklären, dass Ana ab diesem Zeitpunkt an versteht, dass Otto nicht die Reinkarnation ihres verstorbenen Vaters ist: »Endlich höre ich Otto zu«. Dann bewegt sich die Kamera von hinten auf ihren Kopf zu, während man Otto im Hintergrund sieht, wie er ihr zugewandt die Geschichte erzählt. Nach einem Zoom auf ihren Hinterkopf und einer Überblendung folgt der von Ottos Stimme kommentierte flash-back, in dem man Ottos Großvater und den deutschen Piloten sieht. Der Zoom auf Anas Kopf und die Tatsache, dass Ottos Großvater vom selben Schauspieler wie Ottos Vater dargestellt wird, lassen darauf schließen, dass diese Bilder Anas Vorstellung entspringen. Nach dem flash-back folgt wieder ein Schnitt auf Anas Gesicht. Sie beginnt zu begreifen, dass Otto einfach nur Otto ist und dass er sich in sie verliebt hat. Nachdem Otto nach Hause gegangen ist, macht sich Anas Mutter lustig über diese Geschichte und meint, dass das alles nur ein Witz sei. Man sieht die beiden Erwachsenen im Hintergrund lachen, während im Vordergrund Anas Gesicht zu sehen ist. Man kann ihre Gedanken hören: »Ich möchte auch verliebt sein«. Diesen Satz wiederholt sie nochmals laut, doch die Eltern sind unscharf im Hintergrund und hören nicht, was sie sagt. Der gesamte Film gibt oft den Blickpunkt von Otto und Ana wieder, nie jedoch den der Eltern. Besonders die Sequenzen zu Beginn des Films, in denen abwechselnd Otto und Ana von ihrer Kindheit erzählen, zeigen, dass Otto und Ana die Fokalisator-Figuren des Films sind. So zum Beispiel, als Otto Ana nachläuft und das Bild dementsprechend verwackelt ist; als Ana durch die Glasscheibe des Autos Ottos Lehrer seine Freundin küssen sieht; oder als Otto im Regen auf Ana wartet und die Augen schließt, was filmisch in eine Schwarzblende übersetzt wird (eine ähnliche Sequenz kommt in Les Roseaux sauvages vor, in der eine Schwarzblende François‹ Bewusstlosigkeit ausdrückt, als er im Streit zwischen 78 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 179. 111

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Serge und Henri verletzt wird). Auch gewisse Töne werden von den zwei Protagonisten fokalisiert, wie in der Sequenz, in der Ana Ottos Herzschlag hört. Die Eltern hingegen sieht man oft nur von hinten, vor allem im Auto. Sie scheinen auch nicht zu hören, was die Kinder sprechen, und merken nicht, was sich zwischen den beiden Jugendlichen abspielt. Ein weiterer Aspekt, der die Erzählung in die Nähe von Otto und Ana rückt und die Eltern ausschließt, sind die häufigen Groß- und Nahaufnahmen der beiden, während die Eltern vorwiegend in Amerikanischen Einstellungen oder in Halbaufnahmen gezeigt werden. In Lucía y el sexo ist die Vater-Tochterbeziehung zwischen Lorenzo und Luna mehr eine fiktive als eine reale. Auch wenn er der leibhafte Vater von Luna ist, so lebt Lorenzo seine Vaterschaft nur in seiner Fantasie aus, wie beispielsweise in der Traumsequenz, in der Lorenzo und Luna am Strand sitzen. Am Anfang der Sequenz sieht man Luna von hinten, Lorenzo sitzt ein paar Meter hinter ihr. Während die Aufnahmen abwechselnd Vater und Tochter wiedergeben, rückt die Kamera immer näher, bis sie bei der Großaufnahme angelangt ist, wodurch die wachsende Nähe zwischen den beiden ausgedrückt wird. Schließlich sitzt Lorenzo neben seiner Tochter, und man sieht die beiden abwechselnd von vorne und von hinten. Auch ein Schuss-Gegenschuss gibt die nun bestehende Nähe zwischen Vater und Tochter wieder. Die Sequenz endet mit einem Bild von Lorenzo, der seine Tochter im Meer im Arm hält. Die Einleitung (Lorenzo sitzt an seinem Computer und schreibt) und der Schluss der Sequenz (Lucía sitzt am Computer und liest die Geschichte), Lorenzos voice-over und die an einen Traum erinnernde Darstellungsweise lassen jedoch keinen Zweifel, dass es sich hier ausschließlich um Lorenzos Wunschdenken handelt und dass er seiner Tochter nie so nahe sein wird. Auch aufgrund ihres Namens und der speziellen Umstände ihrer Zeugung ist das Mädchen mehr eine imaginäre Figur als eine Tochter im herkömmlichen Sinne. Die Darstellung der Eltern-Kinderbeziehung ist hier daher mehr dem allgemein fiktiven Grundton der Erzählung zuzuordnen.

Geschlechterbeziehungen In Viskningar och rop werden die zwei Mann-Fraubeziehungen, nämlich die von Maria und Karin zu ihren jeweiligen Männern, vor allem in den flash-backs behandelt. In Marias Fall geht dem flash-back eine Sequenz voraus, in der Maria versucht, den Hausarzt David zu verführen. Sie passt ihn im Gang ab, auf der einen Hälfte ihres Gesichtes liegt ein Schatten. Die Kamera wechselt nun zwischen Großaufnahmen von ihm

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und Nahaufnahmen von den beiden, die über seine rechte Schulter gefilmt werden: »This camera position privileges spectator identification with the doctor, and we see her with his eyes as temptress. The spectator experiences female sexuality through an objectifying male, not a female, perspective. For Maria (as for, by extension, the mother) female sexuality is a matter not of sharing but of selfindulgence.«79

Im darauf folgenden flash-back wird Marias Darstellung als Verführerin nur noch verstärkt: als David zu Abend isst, sieht man sein Profil im Vordergrund, während sie im Hintergrund auf ihn einredet. Später erscheint sie in Davids Schlafzimmer im roten Nachthemd und Morgenrock mit tiefem Dekolletee. David ruft sie zu sich und stellt sich mit ihr vor einen Spiegel. Er spricht von hinten zu ihr, während sie beide Marias Gesicht im Spiegel betrachten. Er meint, sie habe sich verändert und dass in ihrem Gesicht nun Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit, Langweile, Egoismus und Kälte zu sehen seien. Ihr Gesicht in Großaufnahme befindet sich rechts im Vordergrund des Bildrahmens, sein Gesicht links hinten, doch im Laufe seines Monologes bewegt er sich auf die andere Seite und redet von rechts auf sie ein. Schließlich sind nur mehr noch sein Mund zu sehen und seine Worte zu hören, während Maria sich lächelnd im Spiegel betrachtet. Der Mann nimmt hier deutlich eine Kontrollposition ein, während der Frau die Rolle der liebeshungrigen, ehebrecherischen femme fatale zugeordnet wird. Den Gegensatz zu Maria bildet ihre Schwester Karin. In ihrem flashback sieht man sie mit ihrem kalten, gleichgültigen Mann beim Essen. Ihr bis oben zugeknöpftes, schwarzes Kleid und der schwarze Schrank, der den Hintergrund in dieser Sequenz bildet, weisen bereits darauf hin, dass Karin steif und frigide ist. Während die Sequenz zwischen Maria und David mit weichen Kamerabewegungen und durch Großaufnahmen wiedergegeben wird, sind Karin und ihr Mann Fredrik nie im selben Bildrahmen zu sehen, was die Distanz zwischen den beiden hervorhebt. Aufschluss über diese lieblose Beziehung gibt vor allem die Sequenz, in der Karin sich mit einer Scherbe in ihr Geschlecht schneidet und sich ihren Mund mit Blut verschmiert. Sie sieht ihren Mann dabei provozierend an, als wolle sie ihm signalisieren, dass sie sich ihm nun verschließt, sowohl sexuell als auch gefühlsmäßig. Karin, so scheint es, kann sich ihrem Mann nur entziehen und sexuelle Lust verspüren, indem sie ihr

79 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 176. 113

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Geschlecht verstümmelt. Diese Sequenz wurde aufgrund ihrer Ambivalenz von zahlreichen FeministInnen kritisiert. »While Karin’s rejection of her repulsive husband’s sexual demands and her acknowledgement of her marriage as a ›tissue of lies‹ might be read as privileging a feminist reading, the form her rejection takes certainly cannot, for it occurs as a mutilation of her own body.«80

Marilyn Blackwell Johns kritisiert auch Bergmans stereotype Darstellung der Geschlechter und stellt sie der offenen, unkonventionellen Darstellung der Frauen in Bergmans früheren Filmen gegenüber: »No longer does he present women such as Ester, Elisabet, and Alma, whose sexual ambiguity reflects their dissatisfaction with androcentric values and ideology. No longer do deeply flawed but basically aware and thoughtful women struggle to define themselves against a hostile culture that would contain them within rigidly circumscribed roles. Instead, his women characters are cardboard cutouts, overdetermined by their specific sets of attributes – certain clothing, certain objects and occupations, certain sounds, certain movements, and certain camera treatments […].«81

In Persona sind keine solchen Stereotype zu finden, denn auch in dieser Hinsicht zeichnet sich der Film durch seine unkonventionellen Erzählund Darstellungsformen aus. Beziehungen zwischen Mann und Frau werden nur angedeutet oder erwähnt, denn im ganzen Film kommt dass männliche Geschlecht, außer dem kleinen Jungen am Anfang und Ende und Elisabets Ehemann in einer kurzen Sequenz, nicht vor. Bei dieser Sequenz handelt es sich außerdem um eine Traumsequenz, wobei nicht klar festzustellen ist, ob sie von Alma oder von Elisabet geträumt wird: nach der heftigen Auseinandersetzung mit Elisabet steht Alma in der Nacht auf und geht im Haus umher. Plötzlich greift ihr jemand auf die Schulter – es ist Herr Vogler, Elisabets Ehemann, der eine Sonnenbrille trägt. Er verwechselt Alma mit Elisabet und beharrt auch dann darauf, als Alma mehrmals versucht ihm zu erklären, dass sie nicht seine Frau ist. Schließlich nähert sich Elisabet den beiden von hinten, nimmt hinter Almas Rücken deren Hand und berührt damit die Wange des Ehemannes. Alma übernimmt somit Elisabets Rolle als Ehefrau und versichert dem Ehemann, dass sie ihn liebt und zu ihm und dem gemeinsamen Sohn zurückkehren wird. Als Herr Vogler die Sonnenbrille abnimmt, umarmt und küsst sie ihn. Die Kamera schwenkt von den beiden Gesichtern auf 80 Ebd., S. 179. 81 Ebd., S. 184. 114

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Elisabets, das genau zu dem geworden ist, was Elisabet ablehnt – eine Maske: »Die typischste aller bergmanschen Aufnahmen ist das von vorne, in einer präzisen Einstellung gezeigte, zusammengedrängte, symmetrische Gesicht – ohne Gefühl und Ausdruck: eine Maske, eine persona. Das Gesicht von Liv Ullmann, neutral, fahl, fast aufgedunsen (durch eine kurze Brennweite), das sich entfernt als der Rahmen wie eine Schublade zu gleiten scheint, um uns das offen zu legen, was sich darunter verbarg: Alma und der Ehemann.«82

Nach dieser Aufnahme von Elisabets Gesicht zoomt die Kamera wieder weg, und nun sind Alma und Herr Vogler im Hintergrund zu sehen, während sich Elisabets Gesicht in Großaufnahme rechts im Bildrahmen befindet. Nach dieser Einstellung zoomt die Kamera erneut auf Elisabets Gesicht und dann wieder weg, sodass sich Alma und Herr Vogler wieder im Hintergrund befinden. Diesmal sieht man sie aber liegend, und aus Almas Bemerkung, Herr Vogler sei ein wunderbarer Liebhaber, geht hervor, dass die beiden Geschlechtsverkehr hatten. Plötzlich beginnt Alma, sich gegen den Mann, der auf ihr liegt, hysterisch zu wehren. In dieser kurzen Sequenz übernimmt Alma also Elisabets Rolle als Ehefrau, versucht diese anfangs pflichtgemäß zu erfüllen, weist sie dann aber, wie Elisabet zuvor, verzweifelt ab. Da sich Elisabet zuerst hinter Alma befindet und ihre Bewegungen und Worte steuert, und dann im Vordergrund steht, liegt es nahe, Elisabet als diejenige zu sehen, die Alma kontrolliert. Sie zwingt sie, ihre Rolle zu übernehmen und am eigenen Leibe die Unterwerfung der Frau durch den Mann zu spüren. Nachdem Alma Elisabets Brief gelesen hat und somit die Vertrauensbasis zwischen den beiden zerstört ist, scheint sich Alma bewusst zu werden, dass Elisabet ihr ihre Identität aufzwingen will, und wehrt sich vehement dagegen. Auch die Tatsache, dass Herr Vogler Elisabet in die Rolle der Ehefrau und Mutter zwingen will, ist mit Gewalt verbunden. Die Ehe zwischen Isak Borg und seiner Frau Karin in Smultronstället wirft ebenso wenig ein gutes Bild auf den Mann. Isak selbst gesteht im Gespräch mit Marianne, dass das Ehepaar Alman ihn an seine eigene Ehe erinnert, die von Kälte und Kommunikationslosigkeit geprägt war. In der zweiten Traumszene, in der Isak einer Prüfung unterzogen wird, führt ihn Herr Alman an eine Waldlichtung und zwingt ihn, eine Situation aus seiner Vergangenheit zu beobachten, die Isak auch viele Jahre nach Karins Tod nicht vergessen konnte: er sieht Karin mit einem anderen Mann. Sie lacht ununterbrochen, der Mann stürzt sich auf sie, wogegen sie sich wehrt. Nach dem Liebesakt, der nicht explizit gezeigt wird, sagt Karin 82 Jacques Aumont: Ingmar Bergman, S. 175. 115

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wie zu sich selbst, das Gesicht der Kamera zugewandt, dass sie Isak alles beichten, dass dieser ihr verzeihen und Mitleid vortäuschen werde, dass es sich dabei jedoch um Gleichgültigkeit und Kälte handle. Karin wird hier gewissermaßen als Opfer dargestellt – sowohl des Egoismus ihres Mannes als auch der sexuellen Begierde ihres Liebhabers. Obwohl die gesamte Erzählung von Isak fokalisiert wird, bietet Karins Monolog der Frau Raum, ihren Standpunkt darzulegen, ohne für ihr Ehebrechen angeklagt zu werden. Insgesamt ist die Darstellungsweise von Mann und Frau in diesem Film jedoch eine traditionelle, mit der Frau – vor allem Sara und Marianne – in der Rolle der lebensbejahenden Mutterfigur. Die Darstellung der Beziehung zwischen Emilie und ihrem Mann Bruno in Ma saison préférée ist die einer typischen Ehekrise. Nach dem Familienstreit beim Weihnachtsessen spitzt sich diese zu, als Emilie Bruno erklärt, dass sie diese Nacht lieber alleine schlafen möchte. Einen Moment lang befinden sich die Gesichter der beiden im selben Bildrahmen, wobei ihr Gesicht im Vordergrund ist und der Fokus von ihrem Gesicht zu seinem wechselt. Indem der Fokus ständig hin und her wechselt, wird die Spannung zwischen den beiden zum Ausdruck gebracht. Am Ende des Films sieht man eine ähnliche Sequenz, als Bruno Emilie nach der Beerdigung einen Brief überreicht. Diesmal werden die beiden jedoch in einer Nahaufnahme und nicht wie zuvor in einer Großaufnahme gezeigt, weshalb diese Sequenz weniger an Spannungs- und Konfliktpotential besitzt. Téchiné lässt offen, ob sich die beiden letztendlich wieder versöhnen, das harmonische Essen weist jedoch auf die Möglichkeit der Versöhnung hin. Im Gegensatz zu Emilie, die sich trotz ihrer Karriere nicht ganz vom Frauenklischee emanzipieren kann, stellt Maïté in Les Roseaux sauvages eine emanzipierte junge Frau dar. Ihre Beziehung zu François steht im Zentrum der Erzählung. Zu Beginn des Films ist noch unklar, ob es sich bei den beiden Jugendlichen nur um gute Freunde oder um ein Liebespaar handelt. Im Laufe der Erzählung wird jedoch dem/der ZuschauerIn ebenso wie François selbst klar, dass er homosexuell ist. Er gesteht dies Maïté auf dem Fest ihrer Freundin: während alle Jugendlichen um sie herum tanzen, geht eine Nahaufnahme der beiden in eine Großaufnahme über. Man sieht abwechselnd ihre und seine Großaufnahme, jedoch befinden sich stets beide Gesichter im selben Rahmen. Durch die Nähe der Kamera wird ein Gefühl der Intimität geschaffen, das den Wortaustausch unterstreicht. Aus Maïtés Worten geht hervor, dass die Tatsache, dass ihr Vater ihre Mutter verlassen hat, sie stark geprägt hat: »All diese von den Männern gekennzeichneten Frauen erinnern mich an die Tiere, die man fürs Schlachten kennzeichnet«. Sie gesteht François, dass er der erste Mann war, dem sie vertraut hat, und dass er ihr Geborgenheit und Schutz

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bietet. Am Ende des Films geht sie eine Liebesbeziehung mit Henri ein, der in vielerlei Hinsicht François‹ Gegensatz ist. Nachdem sie diesen Schritt gewagt hat, stürzt sie sich wieder verzweifelt in François‹ Arme, wodurch die Schwierigkeit des Erwachsenwerdens verdeutlicht wird. Maïté ist jedoch von allen Figuren im Film diejenige, die am besten weiß, was sie will und auch dafür kämpft. Ähnlich wie Maïté sind auch die Frauen in Julio Medems Filmen die handelnden Personen, was teilweise damit zusammenhängt, dass die postfrankistische Generation an Filmemachern einen neuen, stärkeren Frauentypus in ihren Filmen darstellen will: »In contrast to the repressive discourses of Francoist cinema, the modern Spanish woman – often single or separated – is sexually active and frequently takes the initiative in relationships.«83

In Medems Filmen sind es vor allem die Männer, die den Rückzug in eine fiktive oder innere Welt wählen und dabei viel passiver erscheinen als die Frauenfiguren, die stark und unbeirrbar sind, in dem was sie tun. Dem männlichen Blick wird daher immer wieder die weibliche Perspektive gegenübergestellt. Sowohl Ana in Los amantes del círculo polar als auch Lucía in Lucía y el sexo sind Beispiele für diesen aktiven, starken Frauentypus: bereits bei ihrer ersten Begegnung als Kinder ist es Ana, die das Gespräch mit Otto beginnt. Otto wird als ein sanfter, sensibler junger Mann charakterisiert, der nach dem Tod seiner Mutter zusammenbricht. Auch diese Darstellung von Mann und Frau ist typisch für das zeitgenössische spanische Kino: »The stronger female protagonists of a number of contemporary Spanish films are registering their rejection of the traditional macho male and a preference for the socially and emotionally reconstructed ›new‹ Spanish man who displays gentleness, sensitivity, tolerance etc.«84

Medem selbst beschreibt seinen Film Los amantes del círculo polar als eine Liebesgeschichte »zwischen zwei Personen, die sich anschauen und vom Rest der Welt nichts mehr wissen wollen, außer von ihrem Gegenüber«85. In der Sequenz, in der die beiden ihre Eltern beim Sex beobachten, blickt Otto Ana von der Seite an und beginnt, sie auf die Wange zu küssen. Die Kamera zeigt die beiden abwechselnd von hinten in einer 83 Barry Jordan/Rikki Morgan-Tamosunas: Contemporary Spanish Cinema, S. 129. 84 Ebd., S. 153. 85 Zit. nach Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 63. 117

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Nahaufnahme und in Großaufnahme von der Seite, wie sie sich leidenschaftlich küssen, wodurch Intimität und Zärtlichkeit ausgedrückt wird. Zentral ist auch die Sequenz zu Beginn des Films, in der der kleine Otto zuerst einem Ball und dann Ana hinterherläuft. Dieser Umstand ihres Kennenlernens ist übrigens durch eine Kurzgeschichte des spanischen Schriftstellers Ray Loriga inspiriert, in der ein Junge einem Mädchen hinterherläuft, weil sie es liebt, verfolgt zu werden, und er es liebt, sie zu verfolgen.86 Als Ana stolpert und zu Boden fällt, findet ein Blickwechsel zwischen den beiden statt, der laut Rob Stone Zuneigung ausdrückt: »Ana slips and falls and the reverse cutting between the two establishes a balance between the characters that, in Medem’s films, most often signifies love, or at least its potential.«87

Otto beginnt, sich Fragen über das andere Geschlecht – »Wohin laufen die Mädchen?« – und den Zufall des Lebens zu stellen: was wäre gewesen, wenn der Ball nicht außerhalb des Schulgeländes gefallen und Otto ihm hinterhergelaufen wäre? Und wenn Ana nicht zur gleichen Zeit aus der Schule gelaufen wäre? Wäre er dann niemals auf Ana getroffen? Dieselbe Sequenz sieht man anschließend nochmals, diesmal von Ana fokussiert. Dieses Laufen wird gleich zu Beginn mit dem Zufall und dem Lauf des Lebens verknüpft. Ana läuft vor ihrer Mutter davon, die ihr die Nachricht vom Tod ihres Vaters überbringt, und will somit der Zeit hinterherlaufen: »Man kann zurücklaufen, ein paar Stunden zurück, ein Leben zurück, das das Leben meines Vaters war«. Da Otto ihr hinterherläuft, bildet sich Ana ein, dass Otto die Reinkarnation ihres Vaters ist. In der letzten Sequenz des Films läuft Otto wieder Ana hinterher, nachdem er miterlebt hat, wie sie vom Bus angefahren wird. Doch diesmal hat das Schicksal bereits vorgegriffen. Ana und Otto lernen sich als Kinder kennen und zwar zu einem Zeitpunkt, der von einem Verlust von Geborgenheit geprägt ist – bei Otto ist es die Scheidung der Eltern, bei Ana der Tod ihres Vaters. Beide versuchen also in gewisser Hinsicht, durch den anderen eine Sehnsucht nach Liebe zu stillen. Als Otto die Papierflugzeuge aus dem Toilettenfenster wirft, schafft es ein Flugzeug (das die Kamera auch dementsprechend in einer Großaufnahme verfolgt) in den Pausenhof der Mädchen und, wie der Zufall es will, ist es Ana, die es aufhebt und die Frage nach der Liebe, die darauf notiert ist, liest. Der nächste Zufall führt Anas Mutter und Ottos Vater zusammen, indem Ana Ottos Vater (zunächst unwissend, dass es sich um Ottos Vater handelt) als den Verfasser der Zeilen ausgibt. 86 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 62. 87 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 177. 118

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Der allerwichtigste Zufall für die beiden ist jedoch der, als sie sich im Wald zum ersten Mal gegenüberstehen: die Kamera verfolgt Otto bereits, als er aus der Schule kommt, wobei sie zuerst frontal die Schule und dann die Kindermenge zeigt. Dabei bewegt sich die (auf einem Kran befestigte) Kamera gleichzeitig rückwärts und nach oben, bis sie aus einer extremen Aufsicht auf den mit Kindern überfüllten Schulhof »herabblickt«, als wäre sie das Schicksal selbst. Während dieser Kamerabewegung ist Ottos voice-over zu hören: »Als ich klein war, lebte ich umgeben vom Rest der Welt, ich fühlte mich beschützt, bis an einem kalten Nachmittag, als ich aus der Schule kam, etwas passierte«. Erst als die Kamera Otto fokussiert, weiß man, welches von den Kindern er ist. Kurz darauf wirft jemand einen Ball in die Luft, den Otto mit dem Blick verfolgt – wiederum filmt die Kamera Otto von oben, als würde der Ball ihn beobachten. Als dieser wieder auf den Boden zurückkehrt, läuft Otto ihm nach und trifft im Wald auf Ana. Der Ball wird somit zum Schicksal, sowohl für Otto als auch für Ana. Zwischen den beiden entwickelt sich eine innige Liebe, die durch ihre besonderen Gesetzmäßigkeiten vom Rest der Welt abkapselt ist. In den ersten Sequenzen, in denen sich die beiden kennen lernen, wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass sich die Erzählung in beiden Perspektiven fast ausschließlich auf das Innere von Álvaros Auto konzentriert. Die beiden sind wie in ihrer eigenen Welt »eingekapselt« und rein bildlich (durch die ständige Rückenansicht der Eltern) von der Elternwelt getrennt. Der Fokus liegt vor allem auf Ana und Otto, und diese enge Fokussierung auf die beiden Hauptfiguren zieht sich durch den gesamten ersten Teil des Films, wobei die Gesichter der beiden oftmals den gesamten Bildrahmen ausfüllen. »Daher wählte ich für die ersten Einstellungen einen fast schon extremen Fokus und einen oftmals verschwommenen Hintergrund. Sie leben in einer Kapsel, die jeder für den anderen schafft, und dies in Einklang mit den Gefühlen, die sie füreinander empfinden.«88

Diese Abgeschirmtheit ihrer Beziehung wird zusätzlich durch die Räumlichkeiten unterstrichen. So werden sie beispielsweise in einem Zimmer, in der Dunkelheit der Nacht oder in der Umrahmung des Bettes gezeigt, was das Gefühl der Intimität noch mehr verstärkt. Diese Intimität geht soweit, dass sich die beiden nach einer gewissen Zeit ohne Worte (so erwidert beispielsweise Otto den Kuss, den Ana diesem hinter seinem Rücken vom Auto aus zuwirft) und nur mehr noch über Blicke, Gesten und geheime Berührungen verständigen können. Das zeitlich längste zu88 Carlos F. Heredero: »Julio Medem«, S. 582. 119

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sammenhängende Kapitel ist in beiden Erzählperspektiven dementsprechend dem ersten Kuss gewidmet, den sie über einem Geografiebuch, in dem das Bild eines Rentiers sichtbar ist, austauschen. Somit schafft Medem hier zum ersten Mal die Verbindung zwischen dem Polarkreis und ihrer Liebe – eine Verbindung, die die beiden am Ende wieder zusammenführt. Nach dem Tod von Ottos Mutter trennen sich ihre Wege vorübergehend, doch obwohl man die beiden nicht mehr gemeinsam im Bild sieht, ist ihre Sehnsucht nach dem jeweils anderen zu spüren. Durch zahlreiche Verbindungslinien wird weiterhin das Gefühl vermittelt, als gäbe es ein starkes Band, das die beiden trotz der physischen Trennung miteinander verbindet. So zum Beispiel durch parallel laufende Handlungen (beide schließen sich im Zimmer ein und leben dort ihren Kummer aus) oder das Zurückgreifen auf dasselbe Symbol der Verbundenheit, nämlich das rote Stoffherz. Aber auch durch subtilere Mittel wird die Kraft der Verbindung und gleichzeitig des Zufalls zum Ausdruck gebracht: als sich Ana und Otto zur selben Zeit auf der Plaza Mayor bewegen und sich unweit voneinander in ein Café setzen, blicken die beiden gleichzeitig auf zum Himmel. Als Otto sich eine Zigarette anzündet, weht der Wind den Tabakgeruch in Anas Gesicht, woraufhin sie den Mann neben sich, der sich als Ottos ehemaliger Grundschullehrer herausstellt, bittet, ihr eine Zigarette zu schenken. Als Otto in der Zeitung die Anzeige der Pilotenstelle liest, kreist er diese ein und schreibt mit Großbuchstaben Anas Namen hinein, genau in dem Moment, als Ana dem Lehrer ihren Namen verrät. Die Nähe zwischen ihnen wird umso spürbarer, je näher sich die beiden physisch wieder kommen: ein Luftzug, der die Tür von Anas Hütte in Finnland öffnet, kündigt Ottos Ankunft an, und Ana zuckt zusammen, als sie das Röhren des Rentiers hört, das genau unter dem Baum steht, in dem Otto mit seinem Fallschirm hängt.89 Ähnlich wie Ana wird auch Lucía in Lucía y el sexo als eine starke Frau dargestellt. Sie ist diejenige, die Lorenzo in einer Bar anspricht und ihm ihre Liebe gesteht, und Lorenzo ist derjenige, der seinen Mut sammeln muss und zu Tränen gerührt ist. Als er ihr eine Zigarette anbietet, ist es Lucía, die ihm Feuer gibt. Männer werden, wie in den übrigen Filmen Medems, insgesamt als den Frauen unterlegen dargestellt. Als Lucía zum ersten Mal Carlos begegnet, schmunzelt sie, als er aus dem Wasser kommt, auf den Steinen ausrutscht und dadurch aus dem Bild verschwindet. Auch in sexueller Hinsicht ist Lucía diejenige, die die Initiative ergreift, während Lorenzo der Schüchterne ist. Lucía wird als spontan, voller Energie und lustvoll dargestellt. Wie der Name bereits sagt (»lucir« auf Spanisch bedeutet »scheinen«), ist Lucía ein Sonnenstrahl, weshalb 89 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 67-69. 120

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ihr Elena den Chatnamen Lucía, un rayo de sol gibt. Während Medem Lucía als den edlen Teil der Geschichte bezeichnet und sie dementsprechend als eine positive, leuchtende Figur darstellt, verkörpert Lorenzo für ihn die dunkle Seite der Geschichte.90 Im Gegensatz zu Lorenzo, der hauptsächlich über seine fiktive Welt charakterisiert wird, steht Lucía mit beiden Beinen im Leben. Auch Elena wird als eine starke Frau charakterisiert. Sie verlässt ihren damaligen Lebensgefährten, geht nach Madrid und zieht dort ihre Tochter alleine groß. Eng verbunden mit der Beziehungsproblematik zwischen Mann und Frau ist natürlich die Darstellung von Sexualität. Dass diese eine der tragenden Komponenten in Lucía y el sexo ist, geht bereits aus dem Titel sowie aus Medems eigenen Worten hervor: »Mein Ziel war es, in Lucía y el sexo zu diesem Ort zu gelangen, den ich dann unter Wasser platziere, genau im Zentrum unter der Insel. Und dass der Ort dann etwas zu tun haben könnte mit Sex als Instinkt. Wenn es noch keine Handlungen gibt, sondern nur Vorstellungen. Der sexuelle Instinkt erregt Vorstellungsbilder.«91

Sex wird als Instinkt, als natürlicher Trieb dargestellt, wobei Medem hier zwei Varianten zeigt – einerseits die leidenschaftliche, positive und helle Seite von Sex sowohl zwischen Lorenzo und Lucía als auch zwischen ihm und Elena, andererseits die dunkle, pornographische. Die Tatsache, dass Elena und Lorenzo Sex im Meer und unter Vollmond haben, hebt hervor, dass es sich bei Sex um etwas Ursprüngliches, Natürliches handelt. Die Sexsequenzen zwischen Lorenzo und Lucía sind heiter und spielerisch, das weiße Sonnenlicht strahlt auf die beiden Liebenden, sodass durch die starke Überbelichtung ein Gefühl der Leichtigkeit vermittelt wird. Zwischen den beiden besteht von Anfang an ein starkes Intimitätsverhältnis, was durch die Nacktheit unterstrichen wird, mit der die beiden auf ganz natürliche Art und Weise umgehen. Durch das Ineinanderfließen verschiedener Liebessequenzen wird der Verlauf ihrer ersten gemeinsamen Zeit dargestellt. Medem wendet dabei häufig jump-cuts an (z.B. in der Sequenz, in der Lorenzo Lucía in ihrer ersten Nacht auszieht, sowie in der Sequenz, in der Lorenzo und Elena miteinander Sex haben), was ein eher ungewöhnliches Mittel ist und die für solche Situationen typische, klischeehafte Romantik wegnimmt. Außerdem werden die Körper in Groß- bzw. Detailaufnahmen gezeigt, wodurch auch die Dis90 Vgl. ebd., S. 76. 91 Ursula Vossen/Peter Kremski: »Reisen ins Unbewusste. Der spanische Filmemacher Julio Medem«, Auszug aus Kinomagazin 2002. Unter: www. 3sat.de/3sat.php?www.3sat.de/ard/35927/ vom 2. Februar 2006. 121

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tanz zum/zur ZuschauerIn verringert wird. Durch die extreme Nähe und die Bewegungen der Kamera werden die Körperlichkeit und das Verlangen der Figuren zusätzlich verstärkt. Wichtig festzuhalten, ist, dass hier vor allem auch die weibliche Sexualität betont und der männlichen gleichermaßen gegenübergestellt wird. Intimität und Leidenschaft wird zudem über Lorenzos Schreiben übertragen. Lucía liest leidenschaftlich und gespannt Lorenzos Geschichte und identifiziert sich mit den Figuren aus Lorenzos Büchern. »[D]ie Beeinflusste und der Beeinflussende, oder die Realität und die Fiktion… In der Beziehung zwischen dem, der die Fiktion hervorbringt, und dem, der sie empfängt, besteht, mit dem gegenseitigen Einverständnis, eine sehr enge Intimitätsbeziehung .«92

Lucía verliebte sich ursprünglich auch in Lorenzos ersten Roman, und als sie von seinem zweiten Buch enttäuscht wird, geht es auch mit ihrer (sexuellen) Beziehung bergab. Somit erhält das Schreiben bzw. Lesen eine stark erotische Konnotation. Auch die Beziehung zwischen Lorenzo und Elena wird über das Schreiben ausgetragen. »Sex kommt als reines Vergnügen vor, für die Figuren ist es ein Glücksschub. Wenn Lucía mit ihrem Freund zusammen ist, stirbt sie aus lauter Liebe, weil es eine so helle und offene Leidenschaft ist… Es ist auch das intime Verhältnis zwischen dem Schreibenden und dem Lesenden. Es ist die verzauberte Beziehung zwischen zwei Menschen, in der es nichts Negatives gibt.«93

In Los amantes del círculo polar wird der Sex zwischen Ana und Otto ebenfalls als ungezwungen und spielerisch präsentiert, doch trägt hier die Heimlichkeit, in der sie ihre Liebe ausleben, zur Romantik und Erotik der Beziehung bei. So beispielsweise, als sich Otto morgens aus Anas Zimmer schleicht und sich die beiden unter dem Bett küssen. In Lucía y el sexo ist der verbotene Aspekt von Sex jedoch weitaus stärker. Hier wird der Sex als Liebesakt dem Sex als Pornographie gegenübergestellt. Im Gegensatz zu den Sexsequenzen zwischen Lucía und Lorenzo sind diese dunkel. »[Der Sex] ist in seinen drei Formen präsent: wilder Sex mit einer Unbekannten, Sex mit Liebe und dreckiger, fauliger Sex.«94

92 Medem zit. n. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 98. 93 Interview mit Julio Medem in der Zeitschrift La gran ilusión. Unter: www. movienetfilm.de/lucia_und_der_sex/presseheft.php vom 7. Juli 2005. 94 Tristán Ulloa zit. n. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 98. 122

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Lunas Kindermädchen Belén weckt Lorenzos (schriftstellerische) Neugierde, und obwohl er sich bewusst ist, dass er mit ihr eine verbotene, verborgene Beziehung eingeht, die ihn schließlich ins Verderben stürzen wird, scheint ihn gerade dies zu verführen. Ähnlich wie Ana und Otto in Los amantes del círculo heimlich Hände halten und sich berühren, geben sich Belén und Lorenzo hinter Lunas Rücken die Hand und tauschen Beléns Pornovideo aus. Lorenzo projiziert seine sexuellen und schriftstellerischen Fantasien auf Belén, in seiner Wahrnehmung vermischen sich Realität und Fiktion. Er verwertet alles, was Belén erzählt, in seinem Roman und macht somit daraus seine eigene Geschichte, die auch Lucía liest und in die sie wiederum ihre eigene Fantasie hineinprojiziert. Über die Figur der Belén befasst sich Medem also auch mit der Frage, inwiefern eine geschriebene Geschichte Macht auf den Schreibenden selbst ausüben kann. Lorenzo geht bis an die Grenzen, hat aber auch gleichzeitig Angst, die Kontrolle über die erotische Belén und somit über seine eigene Geschichte zu verlieren. Am Abend, als er in Elenas Haus kommt, erschrickt er, als er den Hund sieht. Einen ähnlichen Hund hat er an jenem Abend, als Lucía ihm ihre Liebe gestand, in der Kneipe im Fernsehen gesehen, was als ein Hinweis auf den späteren Verlauf der Erzählung zu sehen ist. Während Belén Lorenzo ins Schlafzimmer zieht, werden Aufnahmen von Luna eingeblendet, wie sie Lorenzo an der Hand zieht. Lorenzo, so scheint es, fühlt sich zwischen Belén und seiner sexuellen Begierde auf der einen Seite, und seiner Verantwortung als Lunas Vater auf der anderen Seite, hin- und hergerissen. Schließlich ist Belén jedoch stärker, Luna lässt seine Hand los und wird vom Hund getötet. Diese gesamte Sequenz wird wie ein Albtraum dargestellt: das Tempo wird verlangsamt und die traumähnliche Atmosphäre wird durch einen starken Weitwinkel betont.95 In den Filmen von André Téchiné ist Sexualität oftmals mit Gewalt verbunden. In Ma saison préférée beispielsweise wird Emilie von einem Unbekanntem aus dem Krankenhaus verfolgt: er entdeckt sie durch die Glasscheibe der Krankenhauskantine, setzt sich zu ihr an den Tisch und berührt mit seinem Fuß ihr Bein. Emilie steht auf und geht, doch er folgt ihr an den Fluss, wo er sie brutal an sich reißt und versucht, sie zu küssen. Nachdem Emilie anfangs kühl und abweisend reagiert, küssen und berühren sich die beiden schließlich leidenschaftlich. Da Emilie sonst eher als sexuell reservierte Person dargestellt wird, wirkt dieses Zwischenspiel wie ein Ausbruch, als wolle sie in etwas flüchten, wo keine Gefühle im Spiel sind. Diese sexuelle Begegnung ist aber von einer gewalttätigen und ungezügelten Begierde gekennzeichnet, ähnlich wie die Liebesaffäre von Isaks Frau in Smultronstället. 95 Vgl. ebd., S. 81. 123

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»Der Sex bleibt abgekapselt, problematisch und kalt. Die kurze körperliche und anonyme Begegnung zwischen Emilie und einem Schönling wird fatalerweise nach einer deprimierenden Szene im Krankenhaus als ein Wiederaufleben gezeigt. Durch das Aufeinandertreffen der Körper in einer raschen Bildabfolge wird die Vermittlung einer gewissen Gewalt bewirkt, eine Art Rettungsboje beim Ertrinken. Aber es hat auch den Anschein eines Zwischenspieles, die herbe und schüchterne Kehrseite der Entblößungen der jungen Khadija, vielleicht sogar ein Phantasma, und diese Szene erfüllt den Zweck einer zwar notwendigen Lücke, die aber in der Bewegung des Films isoliert stehen bleibt.«96

Auch in der Sequenz, in der Alice und Martin das erste Mal Geschlechtsverkehr haben, mangelt es an Zärtlichkeit und Liebe (ähnlich wie in vielen von Bergmans Aufnahmen wird hier Alices Gesicht auf den Kopf gestellt im Bildrahmen gezeigt). Später, als die beiden in dem Fischerdorf in Südspanien sind, berühren sich die beiden, doch Martin greift an Alices Hals, wirft sie auf den Rücken und macht Ansätze, sie zu erwürgen. Martin hat in seiner Liebesbeziehung zu Alice nahezu etwas Animalisches. Die Schatten seiner Vergangenheit rufen Gewalt in ihm hervor, die er an Alice ausübt. Eine weitere Komponente von Sexualität, die durchwegs in Téchinés Filmen vorkommt, ist Homosexualität. In Alice et Martin ist es Martins Halbbruder Benjamin, der eine Männerbeziehung nach der anderen eingeht. In Les Roseaux sauvages thematisiert Téchiné das sexuelle Erwachen des jungen François, der sich nach der Erfahrung mit Serge, der in vielerlei Hinsicht sein eigenes Gegenteil darstellt, seiner Homosexualität bewusst wird. Nach Serge fühlt sich François auf seltsame Weise zu Henri hingezogen, was dem Spektrum an verschiedenen politischen und sexuellen Ausrichtungen eine weitere Facette hinzufügt. Gewissermaßen schaffen es Liebe und Sexualität, den Graben, der zwischen den Figuren liegt, zumindest vorübergehend zu überbrücken. »The film presents a more open view of sexualities, manifested in the camera’s plural gaze (Téchiné is one of the few French directors to use two cameras on the set) and its pleasure in the bodies of all its young protagonists.«97

Téchiné bezieht Homosexualität jedoch nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen. Die Darstellung einer sexuellen Beziehung zwischen zwei Frauen findet in Les Voleurs ihren Höhepunkt. Aber auch in Ma saison préférée ist Annes Verhalten Khadija gegenüber unterschwellig homosexuell. Beim Weihnachtsessen fordert sie mit Lucien Khadija zum 96 Camille Taboulay: »L’épreuve du temps«, S. 25. 97 Emma Wilson: French Cinema Since 1950, S. 36. 124

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Striptease auf und sieht ihr bewundernd dabei zu. Nachdem sie ihre Eltern belauscht hat und versteht, dass sie sich trennen werden, bittet sie Khadija, bei ihr übernachten zu dürfen. Als die beiden im Bett liegen und Khadija auf der Seite liegt und Anne den Rücken kehrt, legt sich Anne hinter sie und ihr Gesicht an Khadijas, während sie unter Tränen gesteht, dass sie sich immer schon eine Schwester gewünscht hat. Annes Gesicht liegt dabei eng an Khadijas, die beiden Gesichter werden in einer Großaufnahme wiedergegeben. In Bergmans Persona ist die Verschmelzung zwischen Elisabets und Almas Identität ebenfalls von lesbischen Untertönen begleitet. Dies zeigt sich vor allem in der zentralen Sequenz, in der Elisabet hinter Alma steht und die beiden das Gesicht der Kamera zuwenden, als ob sie in einen Spiegel blickten: Elisabet streicht Alma übers Haar, dann neigen die beiden ihre Köpfe in entgegengesetzte Richtungen. Die Art, wie Elisabet Alma von hinten küsst, wurde häufig als Vampirkuss interpretiert98 und erinnert an Edvard Munchs Bild Vampir (1893)99. Elisabet hört Alma neugierig zu, streichelt öfters ihre Wange und saugt das Blut aus ihrer Wunde, was ebenfalls in diese Richtung weist. Alma hingegen bewundert Elisabet und fühlt sich zu ihr hingezogen. Nachdem ihre Beziehung durch Elisabets Vertrauensbruch einen Riss bekommen hat, trägt Alma, ebenso wie Elisabets Mann, der wenig später auftaucht, Sonnenbrillen. Alma will das Machtspiel also umdrehen, indem sie sich auf die Seite der Männer stellt und in voyeuristischer Manier Elisabet zum (Sexual-) Objekt macht. »Alma dons sunglasses after the eruption of violence in her relationship with Elisabet, and the actress’s husband also wears them. The equation between Alma and these two males, then, strengthens the impression of Alma’s attraction (sexual and otherwise) to Elisabet. At the same time that the boy’s eyewear improves his vision, the sunglasses allow Alma and Vogler to look out without the other being able to look in and thus function as another screening surface, linking voyeurism and gazing with both sexuality and the (im)permeable boundaries of the subject-object dualism.«100

Auch das Verhältnis zwischen Agnes und Anna in Viskningar och rop beschränkt sich nicht nur auf eine Mutter-Tochter ähnliche Beziehung, was vor allem in jener Sequenz hervortritt, in der Anna sich zu Agnes ins Bett legt, ihre Brust frei macht und Agnes auf die Lippen küsst: 98 Vgl. Egil Törnquist: Filmdiktaren Ingmar Bergman, S. 68. 99 Vgl. Bruce F. Kawin: Mindscreen, S. 124. 100 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 139. 125

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»On the first occasion, Anna’s kissing Agnes on the lips suggests, I think, the subliminal sexual aspect of the attraction to the mother at the same time that the positive aspect of the implicit lesbianism of this scene reflects Bergman’s continuing fascination with the possibility of a sexuality not fragmented by gender.«101

Bergman, Téchiné und Medem stellen also alle drei häufig homosexuelle Beziehungen dar und weisen somit auf eine Alternative zu starren Beziehungsmustern. Vor allem in Bergmans Persona wird die Frage, inwiefern Sexualität und Geschlechterrollen durch die Gesellschaft geprägt werden, ins Zentrum der Erzählung gerückt. Diese Frage haben sich feministische Bewegungen und die so genannten Gender Studies zum Zentrum ihrer Forschungsarbeiten gemacht, wobei auch der Einfluss der Psychoanalyse Lacans und der diskursanalytischen Arbeiten Michel Foucaults wesentlich dazu beigetragen haben, »dass geschlechtliche Differenz nicht als von Natur aus vorgegeben angesehen wird, sondern durch und innerhalb von psychischen Prozessen und historisch spezifischen Diskursen geformt, dass also die Gender-Rollen von Frauen ebenso wie von Männern sozial und kulturell geprägt und dementsprechend auch veränderbar sind und nicht biologisch determiniert.«102

Natürlich sind Geschlechterrollen auch eng mit Machtverhältnissen verknüpft. Dies wird wiederum vor allem in Persona, aber auch bei Medem, beispielsweise in La ardilla roja, sichtlich.

101 Ebd., S. 183. 102 Christina Lutter/Markus Reisenleitner: Cultural Studies. Eine Einführung, Wien: Löcker 2002, S. 93. 126

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Screenshot aus Los amantes del círculo polar

Screenshot aus Les roseaux sauvages

Viskningar och rop, ©1973 AB Svensk Filmindustri Stillbildsfoto: Bo-Erik Gyberg 127

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I d e n ti t ät s- B i l d e r Identität spielt bei Bergman, Téchiné und Medem meist eine zentrale Rolle, was sich sowohl thematisch als auch stilistisch in ihren Erzählungen auswirkt. Diese drei Regisseure sind jedoch keineswegs die einzigen, die sich mit Fragen der Identität im Film auseinandergesetzt haben, und diese Fragen reduzieren sich auch nicht auf Diskurse innerhalb der Medienwissenschaften. Vor allem im Rahmen der Kulturwissenschaften hat die Diskussion über »Identität« in den letzten Jahren einen explosiven Aufschwung erlebt, wobei der Begriff der Identität selbst in den Mittelpunkt der Kritik rückte. Verschiedene Disziplinen sind an ihrer Dekonstruktion beteiligt und nehmen eine kritische Haltung gegenüber der Vorstellung einer ursprünglichen und einheitlichen Identität ohne Brüche ein. Die Frage nach der Konstituierung des Subjekts und dem Unbewussten wurde in von der Psychoanalyse beeinflussten Diskursen des Feminismus und der Kulturkritik weiterentwickelt. So beschäftigt sich u.a. Stuart Hall, der von 1968 bis 1979 die Leitung des 1964 an der Birmingham University ins Leben gerufenen »Centre for Contemporary Cultural Studies« übernahm, mit Fragen nach der Konstitution von Identität innerhalb eines spezifischen Kontexts. Laut Hall sind Identitäten niemals einheitlich und singulär, sondern fragmentiert, gebrochen und vielfältig. »Identitäten entstehen im Rahmen von Machtverhältnissen und Klassifikationssystemen, die sozial wie symbolisch Differenz und Ausschluss markieren. Identitäten werden durch, nicht außerhalb von Differenzen konstituiert, mehr noch, die Konstruktion von Identität erfolgt immer durch Differenz, durch die Beziehung zum anderen.«103

Fragen der Differenz sind in den Cultural Studies in den letzten Jahrzehnten in den Blick gerückt und von verschiedenen Disziplinen unterschiedlich bearbeitet worden. Allgemein wird Differenz sowohl als notwendig als auch als gefährlich eingeschätzt. Die für die vorliegende Arbeit relevanten Debatten über »Differenz« und das »Andere« sind in der Linguistik und in der Psychoanalyse angesiedelt. So verwendet der Linguist Saussure beispielsweise die Sprache als Modell, wie Kultur funktioniert, und hebt hervor, dass Differenz essentiell für Bedeutung ist, ohne sie kann Bedeutung nicht existieren. Stuart Hall weist gleichzeitig jedoch darauf hin, dass binäre Gegensätze dazu tendieren, »in ihrer rigiden dualen Struktur übervereinfachter Darstellung alle diese Variationen

103 Ebd., S. 85. 128

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und Unterschiede aufzusaugen«.104 So ist gewöhnlich ein Pol des Gegenpaares der dominante und schließt den anderen in seinem Operationsfeld ein. Der große russische Linguist und Kritiker Michail Bachtin untersuchte wiederum, wie Bedeutung im Dialog konstruiert wird. Die psychoanalytischen Ansätze, die ihren Ursprung in Freuds Theorien über das Unbewusste finden, beziehen sich ihrerseits auf die Rolle von Differenz in unserem psychischen Leben und gehen davon aus, dass das »Andere« die Basis für die Konstitution des Selbst und für die sexuelle Identität ist. Für Lacan, der die Theorien Freuds weiterentwickelt hat, ist es die Widerspiegelung des eigenen Selbst »von außerhalb« während des Spiegelstadiums, oder was er den »Blick vom Ort des Anderen«105 nennt, die es dem Kind ermöglicht, sich selbst zum ersten Mal als einheitliches Subjekt zu erkennen. Das gemeinsame Element all dieser unterschiedlichen Versionen von Freuds Theorie ist die Rolle, die diese dem Anderen für die subjektive Entwicklung zukommen lassen. Unsere Subjektivität, so sagen sie aus, hängt von unseren unbewussten Beziehungen mit signifikanten Anderen ab. Die negativen Implikationen, die jene Ansätze mit sich bringen, sind die, dass es demnach keinen gegebenen stabilen Kern des Selbst oder der Identität gibt. Psychisch sind wir als Subjekte niemals vollständig einheitlich. Auf diesen Mangel des Subjekts werden auch die Neurosen zurückgeführt.106 Somit ist »Differenz« ein ambivalenter Begriff, der sowohl positiv als auch negativ sein kann: »Sie ist notwendig für die Produktion von Bedeutung, die Formierung von Sprache und Kultur, für soziale Identitäten und ein subjektives Bewusstsein des Selbst als ein sexuelles Subjekt. Und gleichzeitig ist sie bedrohlich, eine Quelle von Gefahr, von negativen Gefühlen, Spaltungen, Feindseligkeiten und Aggressionen gegenüber dem ›Anderen‹.«107

Ein im Rahmen des Films zentraler Begriff ist auch die »Identifikation«, die Bedeutungen sowohl aus dem diskurstheoretischen wie aus dem psychoanalytischen Lager aufnimmt, ohne sich auf eines der beiden zu beschränken. Der diskurstheoretische Ansatz sieht Identifikation als eine Konstruktion, als einen Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Identifikation ist kontextabhängig und nicht determiniert in dem Sinn, dass sie

104 Stuart Hall: Ideologie, Identität, Representation, Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 117. 105 Ebd., S. 121. 106 Vgl. ebd., S. 120ff. 107 Ebd., S. 122. 129

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gewonnen oder verloren, festgehalten oder verlassen werden kann. Wenn sie erreicht ist, macht sie Differenz gleichwohl nicht unkenntlich. »[I]ch [gehe] davon aus, dass Identitäten niemals einheitlich sind. In der Spätmoderne erscheinen sie zunehmend fragmentiert und zerstreut, jedoch niemals eindeutig. Identitäten sind konstruiert aus unterschiedlichen, ineinandergreifenden, auch antagonistischen Diskursen, Praktiken und Positionen. Sie sind Gegenstand einer radikalen Historisierung und beständig im Prozess der Veränderung und Transformation begriffen.«108

Freud sprach von Identifikation als »frühe Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person«, die schon in der Vorgeschichte des ÖdipusKomplexes, der die Objekt-Besetzung der elterlichen Personen umschreibt, eine Rolle spielt. Identifikation ist »von Anfang an ambivalent, sie kann sich ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum Wunsch der Beseitigung wenden«. Sie gründet in Fantasie, Projektion und Idealisierung. Unter der Herrschaft der Mechanismen des Unbewussten kann Identifikation bedeuten, dass das »Ich die Eigenschaften des Objektes an sich nimmt« und »in zwei Stücke zerfällt«.109 Die totale Verschmelzung, die Identifikation nahe legt, ist somit eine Vereinnahmungsfantasie (Sigmund Freud spricht in diesem Kontext von »Einverleiben« oder »Introjektion«). Identität ist daher immer teilweise in der Fantasie oder innerhalb eines phantasmatischen Feldes konstruiert. Und weil Identifikation als Prozess sich gegen Differenz richtet, erfordert sie Diskursarbeit und das Ziehen und Markieren symbolischer Grenzen.110 Identitäten treten außerdem innerhalb des Spiels bestimmter Machtformen hervor, was vielmehr ein Effekt der Kennzeichnung von Differenz und Ausschluss denn ein Zeichen einer identischen, natürlich konstituierten Einheit ist. Letztlich sind Identitäten vor allem auf der Grundlage von Differenz konstruiert und nicht jenseits von ihr, d.h. im Gegensatz zu der Form in der man sich gewöhnlich auf sie beruft. Einheit und Homogenität sind keine natürlichen, sondern konstruierte Formen der Schließung. Somit kann die »positive« Bedeutung von Identität »nur über die Beziehung zum Anderen, in Beziehung zu dem, was sie nicht ist, zu gerade dem, was von ihr ausgelassen ist, konstruiert werden«.111

108 109 110 111

Ebd., S. 170. Zit. nach ebd., S. 169. Ebd., S. 169. Ebd., S. 171. 130

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Das Auflösen von Identitäten Sowohl Bergman als auch Téchiné und Medem zeigen mit ihren Filmen auf, dass es sich bei Identität nicht um etwas Statisches, sondern etwas Fließendes handelt. Ihre Figuren sind ständig in Bewegung, durchlaufen einen Prozess und begeben sich auf eine mentale (bzw. wirkliche) Reise, die ihre Identität durch die (zufällige) Begegnung mit anderen Menschen verändert: »Bergman demonstrates that identity is never simple or immediate and that it does not reside in a static equivalence of self to self. The boundaries of self are open and fluid; its unity is not rigid, but evolves through contact with others… identity is never established in isolation but is the product of a basic, inescapable reciprocity.«112

Die Idee einer fließenden Identität beschränkt sich aber nicht nur auf einzelne Filme, sondern umspannt mehrere. So arbeiten alle drei Regisseure in mehreren Filmen mit denselben Schauspielern und wenden dieselben Namen für ihre Figuren an, als ob sie damit einen Mikrokosmos schaffen wollten, in denen die Identitäten von einem Film zum nächsten übergehen und sich dabei verändern. Den Namen Angel beispielsweise setzt Medem sowohl in La Ardilla Roja als auch in Tierra ein, der Schauspieler Nancho Novo kommt sowohl in La Ardilla Roja als auch in Los amantes del círculo polar vor, und Najwa Nimri spielt Ana in Los amantes del círculo polar und Elena in Lucía y el sexo. In den Filmen von Ingmar Bergman kommt der Name Vogler vermehrt vor, wie Elisabet Vogler in Persona und Marianne Vogler in Vargtimmen, und auch Alma, ebenfalls in Persona und Vargtimmen, hat einen speziellen Platz in seinen Filmen, als ob er damit aufzeigen wolle, dass mit denselben Namen unterschiedliche Identitäten einhergehen können, die aber in gewisser Weise doch miteinander verknüpft sind. Die Schauspieler, mit denen Téchiné bevorzugt arbeitet, sind vor allem Catherine Deneuve, Daniel Auteuil, Juliette Binoche und Gérard Depardieu, aber auch Marthe Villalonga, Michèle Moretti, Stéphane Rideau und Gaël Morel kommen in mindestens zweien seiner Filme vor. Ein weiterer Hinweis auf die Identitätsproblematik ist die Anwendung eines Schauspielers für verschiedene Rollen im selben Film: Gérard Depardieu spielt in Barocco den Geliebten von Laure und übernimmt in Folge ebenfalls die Rolle des Mörders, in den sich Laure verliebt. Liv Ullmann spielt in Viskningar och rop sowohl die Mutter als auch Maria, wodurch nicht nur die äußere als auch 112 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 9. 131

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die innere Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter ausgedrückt wird. Und Nancho Novo übernimmt sowohl die Rolle von Ottos Vater als auch die des Großvaters in Anas Vorstellung. Ein auffallendes Beispiel ist, wie bereits erwähnt, auch Vacas, wo ein und derselbe Schauspieler die Figuren dreier Generationen verkörpert. Somit unterminieren diese Filme die Auffassung von Identität als einen eindimensionalen, starren Prozess: »The films are open-ended processes in which one-dimensional or essentialist notions of identity and subjectivity are ruthlessly exposed […].«113 Medems Figuren sind ständig auf der Flucht, um jemand anderer zu werden, doch am Ende sind sie doch nur »dieselben anderen«, wodurch das Gefühl entsteht, als wären sie dazu verdammt, nochmals den Kreis zu durchlaufen, ohne jemals aus diesem herauskommen zu können. Wie bereits erwähnt, ist vor allem in Medems ersten Filmen die Thematisierung von Identität eng mit nationaler Identität und ihrer Konstruiertheit verknüpft. In seinem Aufsatz Sobre la identidad vasca (ensayo de identidad dinámica) macht Julio Caro Baroja auf die etymologische Verbindung zwischen »identidad« (Identität) und »idéntico« (identisch) aufmerksam, um aufzuzeigen, »that, as is the case with an individual’s identity – one remains ›the same‹ regardless of the many transformations that take place during one’s life – a nation’s identity is necessarily informed and affected by the dynamics of change«.114 Indem Medems Figuren also sowohl im Laufe der Erzählung, als auch von Film zu Film Kreise durchlaufen, zeigt der Regisseur die dialektische Beziehung zwischen dem »Selben« und dem »Anderen« auf, die einer jeglichen Identitätssuche und -formation zugrunde liegt. Dies entspricht auch der Auffassung Lawrence Grossbergs, der mit seiner Theorie der »Andersheit« (otherness), die »nicht mit einander ausschließenden – negativen – Gegensätzen operiert, sondern in Begriffen von Effektivität, Zugehörigkeit und ›the changing same‹«115, dem Dilemma der modernen Identitäts- und Differenzlogik zu entkommen versuchte. Vor allem in Vacas weist Medem außerdem eine Identitätsauffassung, die zu sehr auf Differenz und Ausschluss basiert, als etwas Gefährliches aus: »The film argues that when identity relies excessively on difference and exclusion, the result is death and destruction. When the parameters of sameness and difference are applied in rigid intransigent ways, when normative notions of

113 Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, S. 312. 114 Ebd., S. 317f. 115 Gilroy zit. n. Christina Lutter/Markus Reisenleitner: Cultural Studies. Eine Einführung, S. 89. 132

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identity impose themselves on more fluid alternatives, when external aggression imposes itself on internal consonance, the most destructive forces of Nature are unleashed.«116

Bürgerkrieg und Inzest sind Anzeichen, dass der Feind nicht außerhalb, sondern innerhalb der eigenen Grenzen zu suchen ist. Der Krieg zwischen »Brüdern« ist genauso unmoralisch wie der autodestruktive Sex mit Schwestern. Medem suggeriert, dass der baskische Stolz auf Rassenreinheit der Grund für Kriege und inzestuöse Vermählungen war, die wiederum den Keim für die eigene Stagnierung in sich bargen.117 Bei Téchiné ist Identität, abgesehen von Gender, oft mit (sozio-)kultureller Identität verknüpft. Nicht umsonst kommt eine der Figuren in Ma saison préférée, Khadija, aus dem Maghreb, und auch der adoptierte Lucien scheint nicht französischer Herkunft zu sein, weshalb er sich vielleicht gerade deshalb in Khadija verliebt. Im Gegensatz zu Khadija scheint sich Lucien seiner Herkunft zu schämen und drängt sich selbst in die Rolle des sozialen Außenseiters. Die Frage der kulturellen Identität führt Téchiné in Loin zu ihrem Höhepunkt: Jeder träumt davon, seine Identität hinter sich zu lassen und sich eine neue zu schaffen, weit – loin – vom Heimatland und der eigenen Kultur. Auch Bergmans Werk reflektiert soziale und kulturelle Umbrüche, mit denen der Mensch konfrontiert ist, wobei er eine kritische Haltung gegenüber der okzidentalen Kultur und der modernen Gesellschaft einnimmt: »The films of Ingmar Bergman mirror both a crisis in and an ambivalence toward Western culture, a disruption and reinscription of cultural notions of difference.«118 Die Frage, was Identität im gesellschaftlichen Rahmen darstellt und wie austauschbar und wechselhaft sie ist, steht im Zentrum von Persona. Das Wort persona kommt aus dem Lateinischen und steht für die Maske, die ein Schauspieler im alten römischen Theater trug, um seine Rolle anzudeuten. Später wurde dieses Wort in die Jungsche Terminologie aufgenommen und als die Maske, die wir in der Öffentlichkeit tragen, also die Rolle, die uns die Gesellschaft aufzwingt, interpretiert.119 Sowohl in Viskningar och rop als auch in Persona tragen die Figuren eine metaphorische Maske, die sie daran hindert, frei zu atmen: »For Bergman, as for many feminists, socially imposed

116 Isabel C. Santaolalla: »Julio Medem’s Vacas (1991). Historicizing the Forest«, S. 323. 117 Vgl. Rob Stone: Spanish Cinema, S. 164f. 118 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 1. 119 Vgl. Birgitta Steene: Ingmar Bergman, S. 115. 133

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roles undermine subjectivity and lead to a loss of selfhood […].«120 So existiert Karins Mann in Viskningar och rop beispielsweise nur mehr noch über seine (kalte) Maske, und auch Maria hat, wie der Arzt David bemerkt, im Laufe der Jahre eine Maske angenommen, unter der sich ihr wahrer Charakter verbirgt. Elisabet wiederum weigert sich zu sprechen, da sie, besonders als Schauspielerin, keine Rollen mehr spielen möchte. Als die Ärztin Alma zu Beginn des Films erklärt, dass Elisabet während einer Aufführung plötzlich kein Wort mehr über die Lippen brachte, wird eine Aufnahme von Elisabet eingeblendet, wie sie, als Elektra verkleidet, in die Kamera blickt. Dieselbe Aufnahme wird am Ende des Films nochmals eingeblendet, nachdem eine Großaufnahme von einer Statue, die neben dem Sommerhaus steht, gezeigt wird. Die Verknüpfung zwischen der Statue und der geschminkten Elisabet macht auf die Maske aufmerksam, die Elisabet ständig zu tragen hat. »Bergmans Kunst des Gesichtes siedelt sich zwischen zwei Polen an: das geschminkte Gesicht, das für das Rampenlicht bestimmt ist und das das alltägliche Leben verlassen hat, um ein Körperzeichen zu werden; und das gewöhnliche, kommunizierende Gesicht, von dem man von Natur aus und aus Gewohnheit Gefühle, Schreie und Flüstern, die Pavane und den Kummer abliest.«121

Bergman verknüpft die Frage der Identität und gesellschaftlichen Rollen auch mit Sexualität und Gender. In Persona stellt die Beziehung zwischen Elisabet und Alma eine Alternative zu einer Mann-Frau-Beziehung und einer über Sexualität definierten, fixen Identität dar, weist jedoch gleichzeitig auf die Gefahr einer Identitätsfusion hin: »The attraction Elisabet and Alma feel for each other and the absence of any remotely viable male sexuality in the film cohere with their identification with each other and the permeability of boundaries between the self and the other to create a doubling that is at the heart of the film […].«122

Identität wird in diesem Film also als etwas sehr Komplexes dargestellt, das sich ständig verändert und widerspricht. Da eine derartige Darstellung jegliche starre Identitätskonzeptionen aufbricht, bietet sie gleichzeitig eine Alternative zu männlich dominierten Ideologien. Aber auch zwischen den zwei Frauen in Persona findet schließlich ein Machtspiel statt, 120 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 6. 121 Jacques Aumont: Ingmar Bergman. Mes films sont l’explication de mes images, S. 166. 122 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 151. 134

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das eng mit Identität verknüpft ist. Am Beispiel von Alma zeigt sich die Schwierigkeit, die Frauen haben, Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen zu ziehen.123 Es ist auch keineswegs ein Zufall, dass Elisabet Schauspielerin ist, da Bergman damit wohl eine Doppelbotschaft mitgeben wollte: als Schauspielerin ist Elisabet gleichzeitig Objekt des durch das Mainstreamkino perpetuierten männlichen Fetischismus und Voyeurismus. Genauso wie sie von der männlichen Kultur und deren voyeuristischer Mechanismen vereinnahmt wurde, verleibt sie Alma ein und macht sie zum Objekt. Somit nimmt sie eine männliche Machtposition ein, um sich der Illusion hinzugeben, sie selbst könne die Kontrolle über diesen Voyeurismus und die Vereinnahmung durch die anderen übernehmen.124 Elisabet scheint es zu genießen, die Kontrolle über andere zu haben und mit ihrer Passivität deren Reaktionen zu provozieren. Diese Rolle soll ihr Macht verleihen und sie vor den Urteilen anderer schützen, da sie nichts »tut«, was man ihr vorwerfen könnte. All dies lässt sich letztendlich auf ihre Angst zu leben, sich selbst zu definieren und Verantwortung für ihre Taten und Gefühle zu übernehmen, zurückführen.125 Bergman verwendet in Persona, wie in all seinen übrigen Filmen auch, mehrmals den Spiegel, um die Identitätsproblematik bildlich darzustellen: in der Sequenz, in der Elisabet Alma übers Haar streicht, blicken die beiden direkt in die Kamera, als ob der/die ZuschauerIn ein Spiegel wäre: »Der Spiegel, in dem sich Almas und Elisabets Blicke treffen, wird zum Platz, wo sich Identitäten bilden – wo sie sich mal auflösen, mal vor dem Blick des Anderen entstehen.«126 Der Spiegel ist ein zentrales Symbol für die Identitätsfrage, ebenso wie der Blick des Anderen, der das Ich spiegelt.

Spiegelbilder Der Spiegel ist in der Kunst seit langem ein Symbol für die Selbstbetrachtung. In den letzten Jahrzehnten haben sich verschiedene filmtheoretische Debatten seiner angenommen, vor allem auch, was die Beziehung zwischen dem Film und dem/der ZuschauerIn betrifft. »In der Konfrontation mit dem Spiegelbild, in der Doppelrolle von Subjekt und Objekt, erfährt der Mensch sein Getrenntsein, den Verlust seiner Einheit mit

123 124 125 126

Vgl. ebd. Ebd., S. 144. Bruce F. Kawin: Mindscreen, S. 121. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 129. 135

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der Welt. Für die Kunst war diese Erfahrung in mehrfacher Weise Impuls zur Gestaltung und Reflexion.«127

Die Spiegelmetapher hat in der psychoanalytischen Theorie von Jacques Lacan, die vom so genannten Spiegelstadium spricht, eine zentrale Stellung. Laut Lacan ist das Subjekt nicht konstant, sondern instabil und schwankend und versucht ständig, sich im Zusammenspiel mit der Umgebung zu rekonstruieren. Lacan wurde vor allem wegen seiner Strukturalen Psychoanalyse bekannt, die von einer Dreiteilung der Psyche in ein Symbolisches, Reales und Imaginäres ausgeht. Beim Spiegelstadium als das zentrale Moment in der frühen Subjektbildung geht Lacan davon aus, dass das Kind zwischen sechs und achtzehn Monaten sein eigenes Abbild im Spiegel erkennt. Es ist das erste Mal, dass sich das Kind selbst erfährt – eine Erfahrung, die nur durch die Identifizierung seiner selbst mit dem Anderen möglich ist. »Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. Dass ein Bild für einen solchen Phasen-Effekt prädestiniert ist, zeigt sich bereits zur Genüge in der Verwendung, die der antike Terminus Imago in der Theorie findet. […] Die Funktion des Spiegelstadiums erweist sich uns nun als ein Spezialfall der Funktion der Imago, die darin besteht, dass sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder, wie man zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt.«128

Die Subjektkonstitution des Kindes erfolgt also durch die Übermittlung des Bildes des eigenen Körpers und durch die fälschliche Erkenntnis des Anderen, das es für sich selbst hält (Lacan nennt dies méconnaissance). Laut Lacan ist das Spiegelstadium eine narzisstische Fehlerkenntnis, da das Ich sich als Einheit ansieht: das Kind denkt, dass das Bild, mit dem es sich identifiziert, ein einheitliches Subjekt ist.129 Lacan geht in seiner Theorie jedoch von einem brüchigen, zerstückelten Subjekt aus, das gerne der Verführung durch das Einheit versprechende Imago des Spiegelbildes verfällt. Diese Einheit ist nach Lacan eine imaginierte Identifikation mit dem Anderen als mächtiges und »ganz« oder »ganzheitlich« er-

127 Harald Schleicher: Film-Reflexionen. Autothematische Filme von Wim Wenders, Jean-Luc Godard und Federico Fellini, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991, S. 1. 128 Jacques Lacan: Schriften I, 4. durchgesehene Auflage, Berlin: Quadriga Verlag 1996, S. 64 & 66. 129 Vgl. Linda Williams: Figures of Desire, S. 113ff. 136

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scheinenden Gegenübers. Von Anfang an sei der Mensch mit sich selbst nicht-identisch, er muss und will diesen »Riss« jedoch überschreiten. »In einer ›triumphalen Geste‹ geschieht die symbolische Setzung des Ichs über den Weg des einheitlich-potent erscheinenden Gegenübers, das die eigene Unvollkommenheit im Imaginären zu übertünchen in der Lage ist, und das dadurch zum Phantasma, zum Realen wird.«130

Die Trennung von der Mutter, der Verlust des schützenden Mutterleibes als das »Ganze« und das Geborgene ist der Ursprung jener Sehnsucht, die Lacan als das Begehren (désire) bezeichnet. Aus dem Verlust und der Entfremdung erwächst also der Wunsch nach abermaliger Einheit. Diese Idealität ist nie erreichbar, immer aber Begehren. Das Subjekt kann sein Begehren nur befriedigen, wenn es die Affirmation dessen durch den Anderen erfährt, zugleich ist dieser Zustand der Befriedigung aber unerreichbar, da er im Augenblick des Erreichens zerfällt. Der Mangel an Sein ist also Konstitutionsbedingung für das Subjekt in Lacans Verständnis. So setzt sich das Begehren unendlich fort, sucht unendlich die Zustimmung des Anderen. Das Einzige, was sich »real« manifestiert, ist das Begehren nach dem Realen, dem Idealzustand.131 »Zudem wird das Reale als der nie zu erreichende Punkt des Begehrens herangezogen, um Formen von Begründungslogiken des Subjekts in ihrem unmöglichen Bestreben nach einem Idealzustand offen zu legen.«132

Demnach lässt sich auch die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen auf die Sehnsucht nach dem Idealzustand des Ichs zurückführen: »Desire for the loved one is simply an extension of the process of identification with an ideal self begun in the mirror stage.«133 Das Imaginäre, das bei Freud gerade der »Ort« der Wunscherfüllung ist (ihr »anderer Schauplatz«, verstanden als ein »auf-der-anderen-Seite-des-Schauplatzes«, ein »Schauplatz-Jenseits«), wird bei Lacan zum Ort der Nichterfüllung oder der »fiktiven« Erfüllung des Wunsches.134 Auf die von Lacan unterstrichene Fehlerkenntnis (méconnaissance) und das ständige, unbefriedigende Begehren, den Idealzustand zu erreichen, machten auch die Surrealis130 Thomas Dörfler: Das Subjekt zwischen Identität und Differenz. Zur Begründungslogik bei Habermas, Lacan, Foucault, Neuried: Ars Una 2001, S. 116. 131 Ebd., S. 115ff. 132 Ebd., S. 113. 133 Linda Williams: Figures of Desire, S. 145. 134 Mikkel Borch-Jacobsen: Lacan. Der absolute Herr und Meister, München: Wilhelm Funk Verlag 1999, S. 109. 137

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ten aufmerksam, indem sie bewusst die filmische Illusion zu durchbrechen und den/die ZuschauerIn aus dem Identifizierungsprozess mit dem Bild herauszureißen suchten. Daraus erklärt sich unter anderem auch deren Vorliebe für die Verwendung von Spiegeln. »In remarkably Lacanian terms, they focused on the misrecognition (méconnaissance) of the image – its endless paradox of believable falsehood. To do this, Surrealist film frequently exposes the illusions of diegesis – the false representative powers of the iconic sign. […] In their efforts to reveal both the seductive power and the fundamental falseness of the image, Surrealist artists have often employed mirrors in their works.«135

Einer der ersten Theoretiker, die Fragen der Identität und der Identifizierung explizit auf den Film übertrugen, war Christian Metz, der der Ansicht war, dass der Film die Fähigkeit besitzt, den/die ZuschauerIn in einen Zustand zu versetzen, der dem Spiegelstadium gleicht, und somit die unbewussten Prozesse, die mit der Identitäts- und Subjektbildung einhergehen, zu wiederholen. Analog zum Erlebnis des Kindes geschieht also in der filmischen Zuschauersituation ein illusorischer Zusammenfall zwischen Subjekt und Umwelt/Film, Sehendem und Gesehenem: der/die ZuschauerIn wird zu einer Identifizierung mit sich selbst als all-wahrnehmendes Subjekt und mit dem Gesehenen als solches ermuntert. Dies bezeichnet Metz als Primäridentifizierung mit dem Kamerablick (im Gegensatz zur sekundären Identifizierung mit beispielsweise den Filmfiguren), wobei das unsichtbare, allsehende Erzählerauge zu einem Ersatz für unsere Sehnsucht nach Ordnung und Überblick wird.136 Der Spiegel hat in Bergmans Werk einen fixen und wichtigen Platz – sei es als Mittel der Selbsterkenntnis oder als Ort, wo sich die Blicke zweier Menschen treffen. Dabei drückt er genau den Gedanken aus, der bei Lacan so zentral ist, nämlich dass sich das Individuum nur im Konflikt mit der Außenwelt definieren kann: »In Bergmans films, identity is never established in isolation, but is the product of a basic, inescapable reciprocity […]. Thus, whenever Bergman sends one of his characters to a mirror, he includes in the scene those who mediate the vision of the self.«137

135 Linda Williams: Figures of Desire, S. 143. 136 Christian Metz: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus Publikationen 2000, S. 44ff. 137 Paisley Livingston, Maaret zit. n. Koskinen: Spel och speglingar, S. 70. 138

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Ein Beispiel dafür ist die Sequenz in Viskningar och rop, in der Karin und Anna in Karins Zimmer vor dem dreigeteilten Spiegel stehen: Anna steht hinter Karin und betrachtet offen und direkt deren Spiegelbild. Als Karin dies bemerkt, sagt sie erbost: »Schau mich nicht so an!«, woraufhin Anna den Blick senkt. Man sieht nun aus der Perspektive des Spiegels deren Gesichter in Großaufnahme – Karin vorne im Bild, Anna hinten. Dann hebt Anna wieder den Blick, und als Karin dies wiederum bemerkt, ruft sie nochmals aus »Schau mich nicht so an, sage ich!«, und schlägt sie ins Gesicht. Sie bittet Anna um Verzeihung, doch diese weigert sich. Diese Spiegelsequenz – die zweifache Spiegelung Karins und Annas direkter Blick über die Schulter ihrer Herrin – ist sehr aussagekräftig. Anna nimmt trotz ihrer niederen sozialen Stellung hier die stärkere Position ein, da sie als Subjekt des Blickes die Kontrolle über Karin hat. In einem weiteren Schritt könnte man auch sagen, dass Anna hier für »uns«, die Zuschauer, steht, die Karin beobachten: »Dies weist vor allem auf die zentrale Rolle des (realen oder gedachten) Filmpublikums in Bergmans Ästhetik: ein starkes Bewusstsein, dass ein Werk erst durch die Begegnung mit seinem Publikum, im Akt des Beobachtens selbst, entsteht.«138 Karin wird durch Annas direkten, offenen Blick (der als Blick des Anderen fungiert) ihr eigenes, mangelhaftes Sein bewusst. Ihr zweifaches Spiegelbild drückt die Gespaltenheit zwischen ihrem Scheindasein und ihrem wahrhaften Sein aus. Eine weitere Schlüsselsequenz, die durch den Spiegel zu ihrem vollen Ausdruck kommt, ist die jene, in der Maria und der Arzt David vor dem Spiegel stehen und er ihr vor Augen hält, zu welchem Menschen sie sich entwickelt hat und welche Maske sie nun trägt. Beide sehen geradeaus in den Spiegel bzw. in die Kamera, die den Platz des Spiegels eingenommen hat. Während man nur Davids Stimme hören und später seinen Mund sehen kann, nimmt Marias Großaufnahme den gesamten Bildrahmen ein. Erst ab dem Zeitpunkt, als Maria meint, dass er all das auch in seinem eigenen Gesicht sehen könne, weil sich die beiden so ähnlich sind, zoomt die Kamera zurück, sodass beide Gesichter im Rahmen sichtbar werden. Davids Stimme wird hier wie ein voice-off angewandt: sie scheint von einer Macht zu kommen, die über Maria steht und urteilt, doch sobald Davids Gesicht im Bild sichtbar wird (genau in dem Moment, in dem Maria dessen eigenes Unvermögen aufdeckt), verliert seine Stimme diese Macht. Hier könnte man auch an Kaja Silvermans Argumentation anknüpfen: »Not only does the male subject occupy positions of authority within the diegesis, but occasionaly he also speaks extra-

138 Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 265. 139

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diegetically, from the privileged place of the Other.«139 Davids Stimme ist hier zwar nicht extra-diegetisch, doch erzielt sie denselben Effekt, da David sowohl mit seiner Stimme als auch mit seinem Blick Macht über Maria ausübt. In dieser Sequenz sind auch die drei Möglichkeiten des Blickes, von denen Laura Mulvey in Visual Pleasure and Narrative Cinema spricht, zu finden: »There are three different looks associated with the cinema: that of the camera as it records the prefilmic event, that of the audience as it watches the final product, and that of the characters of each other within the screen illusion.«140

Indem die beiden Figuren direkt in die Kamera blicken, wird dem/der ZuschauerIn der eigene Blick bewusst, der wiederum zum Blick des Anderen wird. Maria wird somit nicht nur von David, sondern auch von den Zuschauern beobachtet, wobei ihre eigene Identität in Frage gestellt wird. In den Filmen von Téchiné wird der Spiegel auf weniger selbstreflexive Weise verwendet, doch findet auch über ihn der Blickwechsel zweier Figuren statt. In Alice et Martin sind es Alices und Martins Blicke, die sich im Spiegel in Martins Umkleidezimmer kreuzen: als Alice Martin sagt, dass, wenn er sie noch haben will, sie damit einverstanden wäre, dreht sich Martin um, und im ersten Moment fokussiert die Kamera das überraschte Gesicht des »wirklichen« Martins, dann geht der Fokus auf das Spiegelbild der beiden über, deren Blicke sich kreuzen. Die Tatsache, dass Alice nur einmal, Martin jedoch doppelt zu sehen ist, könnte auf Martins gespaltene Persönlichkeit zurückgeführt werden. Dass die beiden nur im Spiegelbild gemeinsam zu sehen sind, weist möglicherweise darauf hin, dass diese Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, da sie auf einer »Vorspiegelung« falscher Tatsachen beruht – Martin verheimlicht Alice seine tragische Vergangenheit. Daher ist der »wirkliche« Martin auch nur kurz im Fokus und meist unscharf im Bild. Es kommen noch zwei weitere Spiegelsequenzen in diesem Film vor. Als Monsieur Sauvagnac den kleinen Martin zur Rede stellt, als dieser vortäuscht krank zu sein, steht der Mann vor einem großen Wandspiegel und blickt seinen Sohn über den Spiegel an, während er ihm sagt, er solle nicht lügen. Den kleinen Jungen sieht man nur ganz klein im Spiegel, der Bildrahmen wird von seinem autoritären Vater und dessen Spiegelbild dominiert. Anhand dieser Aufnahme wird die problematische Identifizierung des Sohnes mit dem Vater sichtlich. In einer ähnlichen Sequenz 139 Kaja Silverman: »Dis-Embodying the Female Voice«, in: Mary Ann Doane/Patricia Mellencamp/Linda Williams (Hg.): Re-Vision. Essays in Feminist Film Criticism, Los Angeles 1984, S. 131f. 140 Zit. nach Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 52. 140

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erscheint später Madame Sauvagnac im Spiegel, als sie Martin davon abhalten möchte, von zu Hause auszuziehen. Der Spiegel begleitet also diejenigen Sequenzen, in denen Martin mit seinem Vater (und in geringerem Ausmaß mit dessen Frau) im Konflikt steht. Eine ähnliche Anwendung des Spiegels als Ort, wo sich die Beziehung zwischen zwei Menschen herauskristallisiert, findet sich in Les Roseaux sauvages in der Sequenz, in der Henri bei Maïté übernachtet und diese bittet, ihm den Brief vorzulesen, den ihm seine Mutter aus Marseille geschickt hat: Maïté befindet sich links vorne im Bildrahmen, im Hintergrund sieht man das Spiegelbild von Maïté und Henri, die einander zugewandt stehen. Die Kamera fokussiert Maïté, die zögert. Als sie akzeptiert, den Brief vorzulesen, setzt sie sich hin und verschwindet dadurch aus dem Bildrahmen, sodass nur mehr noch das Spiegelbild der beiden zu sehen ist. Dann folgt ein Schnitt auf die beiden »realen« Personen, die nebeneinander auf dem Bett sitzen. Dass Maïté zuerst doppelt im Bild zu sehen ist, unterstreicht ihre Gespaltenheit Henri gegenüber, ihr Zögern, ob sie sich auf ihn einlassen soll. Doch siegt die Solidarität in ihr, und sie setzt sich zu ihm, wodurch ihre doppelte Erscheinung im Bild aufgelöst wird und sich die beiden im selben Bildrahmen befinden – zuerst im Spiegelbild, dann in der Wirklichkeit. Der Spiegel wird somit Zeuge der Annäherung zwischen den zwei Jugendlichen. Eine der wichtigsten Spiegelsequenzen in diesem Film ist jene, in der François gegen Ende den homosexuellen Monsieur Cassagne in dessen Schuhgeschäft aufsucht, um ihn um Rat bezüglich Liebesbeziehungen zu fragen. Während des Gesprächs stehen François und Monsieur Cassagne vor einem Spiegel, der aus mehreren aneinandergefügten Platten besteht. Die Linie der Platten trennt das Spiegelbild in verschiedene Felder, sodass der ältere Herr sich in der einen Hälfte befindet, während der Jugendliche zwischen zwei Linien wie gefangen aussieht. Nach der Aufnahme des Spiegelbildes gibt die Kamera eine Großaufnahme des realen François wieder, der von seinen Sorgen und Ängsten erzählt. Danach folgt eine Großaufnahme von Monsieur Cassagne, diesmal aber von dessen Spiegelbild. Er erklärt François, dass seine Liebeserfahrungen so lange her seien, dass er sich nicht mehr erinnere. Daraufhin verabschiedet er sich von François, und die Kamera macht einen raschen Schwenk auf den realen Monsieur Cassagne. Er folgt François mit dem Blick, wie dieser hinausgeht, und blickt anschließend direkt in die Kamera, als wolle er sich mit diesem schuldbewussten Blick vor dem/der ZuschauerIn rechtfertigen oder sogar entschuldigen (ähnlich wie Monika in Bergmans Sommaren med Monika trotzig in die Kamera blickt, als wolle sie den/die ZuschauerIn herausfordern, sie zu verurteilen). Die Linien im Spiegelbild weisen daraufhin, dass sich die beiden nicht näher kommen können, da

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Monsieur Cassagne vorgibt, François nicht helfen zu können, er jedoch in Wahrheit mit diesem Problem nicht mehr konfrontiert sein möchte, während François noch immer in seinem Konflikt gefangen ist. Der Spiegel wird überdies häufig angewandt, wenn eine Figur versucht, durch die Selbstbetrachtung die eigene Identität zu erforschen oder eine Antwort auf ihre Fragen zu finden. »In den Spiegelszenen geben die Spiegel die Gesten der Figuren wider, ohne dass sie es merken wenn sie sich nicht darin anblicken. Wenn sie sich anblicken, hoffen sie vielleicht eine Lösung auf die Probleme zu finden, die sie beschäftigen. Die Spiegel fordern also zu einer Introspektion auf, sich selbst kennen zu lernen, aber sie geben auch eine Illusion vor.«141

Betrachtet man die Verwendung des Spiegels in den Filmen der Nouvelle Vague, die André Téchiné zumindest am Anfang seiner Karriere prägten, so ist Les Amants von Louis Malle erwähnenswert: die Protagonistin Jeanne scheint sich oft unklar über ihr Leben zu sein und verbringt einen großen Teil des Films damit, sich im Spiegel zu betrachten – entweder aus purer Eitelkeit oder um herauszufinden, wer sie ist. Téchiné verwendet den Spiegel auf ähnliche Weise in der Sequenz, in der sich François seine Homosexualität bewusst macht: François wacht in der Nacht auf und begibt sich in den Waschsaal. Dort zeigt die Kamera zuerst eine Großaufnahme seines Profils, dann sein Spiegelbild, während François sich immer wieder einredet, dass er homosexuell ist. Er sagt dies immer lauter, wobei die Kamera in jump-cuts François von hinten zuerst in einer Amerikanischen Einstellung, dann in einer Nah- und schließlich in einer Großaufnahme zeigt. Die Kamera rückt also immer näher, während François‹ Gespaltenheit immer kleiner wird. In der Großaufnahme ist fast nur mehr noch sein Spiegelbild sichtbar: »Téchiné shows identity as something to be named and assumed; like Truffaut or Godard, he creates a cinematic miror stage and scene through which the protagonist attempts to pass.«142

Die Sequenz in Les Roseaux sauvages ist ein Hinweis auf Lacans Spiegelphase, in der sich das Subjekt zum ersten Mal selbst erkennt, aber auch ein Beispiel für filmische Selbstreferentialität, denn sie steht in engem Zusammenhang mit einer früheren Sequenz, in der François Maïté seine Homosexualität gesteht: die beiden kommen gerade aus dem Kino, in dem sie Bergmans Såsom i en spegel gesehen haben (dies allein ist ein 141 Thi Nhu Quynh Ho: La femme dans l’univers bergmanien, S. 43. 142 Emma Wilson: French Cinema Since 1950, S. 36. 142

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Beispiel für Selbstreferentialität, nämlich ein Verweis auf die Filme der Nouvelle Vague, in denen so viele der Protagonisten leidenschaftlich ins Kino gehen, wie beispielsweise Antoine Doinel, Truffauts alter ego, in Les Quatre Cents Coups). Der französische Titel dieses Films lautet A travers le miroir, und Maïté hinterfragt die Bedeutung dieses Titels, wodurch sie die Aufmerksamkeit des/der ZuschauerIn darauf lenkt. Als sich François vor dem Spiegel mit seiner Homosexualität auseinandersetzt, betrachtet der/die ZuschauerIn diese Sequenz mit eben dieser Referenz im Kopf. Aufgrund der autobiographischen Natur dieses Films und Téchinés Vorliebe für Bergman ist es naheliegend anzunehmen, dass Téchiné den Film als eine Art Spiegel verwendet, um seine eigene Identität neu zu verstehen und zu definieren.143 Eine ähnliche Sequenz kommt auch in Bergmans Aus dem Leben der Marionetten vor, wo Tim (Walter Schmidinger) vor einem großen Spiegel sitzt und in einem Monolog seinem eigenen Spiegelbild (aber auch seiner Freundin und Kollegin Katarina außerhalb des Bildrahmens) von seiner Homosexualität und seinen Ängsten erzählt. Das Spiegelbild wird hier regelrecht zu einem Doppelgänger. Ein weiteres Beispiel für eine zentrale Spiegelsequenz in den Filmen von Ingmar Bergman ist jene in Smultronstället, in der Sara aus Isaks Vergangenheit Isak einen kleinen, runden Spiegel vorhält und ihn zwingt, hineinzusehen: »Hast du dich im Spiegel gesehen, Isak? Du bist ein alter, ängstlicher Mann, der bald sterben wird, […] der die Wahrheit nicht erträgt«. Isak sieht nur widerwillig hinein, da der Spiegel ihm die Wahrheit vor Augen hält. Der Spiegel wird hier zu einem Du, vor dessen Blick das Ich sich zu spiegeln und sich selbst zu definieren versucht. »Das Kino kann alle Inszenierungen des Spiegels reproduzieren, angefangen von der einfachsten: uns eine Figur zeigen, die sich anblickt, und die Spiegelung ihres Gesichtes. Bergman liebte diese Disposition, die in fast all seinen Filmen vorkommt. Es ist dies der Moment in Wilde Erdbeeren, wo Isak Borg ein Spiegel von Sara vorgehalten wird, seiner Jugendliebe, deren Trugbild durch die wilden Erdbeeren, die ›madelaine‹, hervorgerufen wurde. Sie hält uns einen Spiegel vor, wie ein Engelchen ihn Venus in einem berühmten Bild von Velázquez vorgehalten hat; wir sehen darin das Gesicht des alten Mannes, durch den Egoismus verblüht und plötzlich durch die Erinnerung an eine Liebe wieder belebt; als er sich, verwundert, von Neuem sieht, macht sie sich über ihn lustig.«144

143 Wendy Everett: »Film at the Crossroads«, S. 55. 144 Jacques Aumont: Ingmar Bergman, S. 155. 143

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Eine ähnliche Funktion wie der Spiegel erfüllen alle möglichen reflektierenden Oberflächen, wie beispielsweise Glas. André Téchiné wendet bevorzugt den bereits erwähnten effet-vitrines an. So zum Beispiel in einer Sequenz in Ma saison préférée zu Beginn des Films, als Emilies Mutter gerade zu ihnen ins Haus gezogen ist und in der Nacht alleine auf der Gartenliege vor dem Swimmingpool sitzt. Emilie überrascht sie, wie sie mit sich selbst spricht. Nach einem kurzen Gespräch zwischen den beiden, beobachtet Emilie besorgt ihre Mutter durch die gläserne Terrassentüre. Ähnlich wie die Sequenz mit François und Monsieur Cassagne in Les Roseaux sauvages, ist das Bild in zwei Hälften geteilt: in der einen Hälfte sieht man das Spiegelbild der Mutter, die der Tochter den Rücken kehrt, in der anderen Hälfte steht Emilie. Die Spiegelung des Swimmingpools liegt wie ein unwirklich schimmernder, blauer Schatten auf den Gesichtern der beiden. Das geteilte Bild, das teils aus Emilie, teils aus dem Spiegelbild ihrer Mutter besteht, unterstreicht wie sehr Emilie sich ihrer Mutter nähern möchte, doch wie sehr die beiden voneinander entfernt sind. Die Mutter kehrt der Tochter den Rücken, zwischen ihnen steht die durch den Swimmingpool symbolisierte Modernität. Eine Annäherung zwischen den beiden findet also nur in Emilies Wunschvorstellung statt. Julio Medem wendet in seinen Filmen weniger den Spiegel als solchen an, sondern eher spiegelnde Oberflächen wie Fenster, Computer oder Fernseher. In Los amantes del círculo polar kommt in einer Sequenz ein Spiegel und ein spiegelndes Fensterglas vor: Otto besucht seinen Vater und beobachtet, bevor er ins Haus geht, Ana wie sie sich kämmt. Durchs Fenster ist sowohl sie als auch ihr Spiegelbild zu sehen. Dann stellt sich Otto direkt vors Fenster und will Mut fassen, Ana seine Liebe zu gestehen. Doch Ana bemerkt ihn nicht und geht, ohne aufzublicken, auf das Fenster links von Otto zu und öffnet es. Ottos Gesicht wird in der Fensterscheibe reflektiert, während man seine Gedanken im voiceover hört: »Ana, mein Leben, ich liebe dich«. Die Glasscheibe steht, wie Ottos Angst, zwischen ihm und ihr. Die Spiegelung im Spiegel und in der Glasscheibe verleiht der Sequenz ein Gefühl der Unwirklichkeit, als ob Ana ein ferner Traum wäre. Eine andere Sequenz, in der eine Spieglung aussagekräftig für die Erzählung ist, ist jene, die auf Ottos und Anas erste sexuelle Begegnung folgt: nach einer Naturaufnahme folgt eine Überblendung auf ein eingerahmtes Foto von Ana und Otto mit ihren Eltern. Zuerst spiegeln sich Otto und sein Vater im Rahmen, dann wird das Foto weitergereicht, und man sieht Ana mit ihrer Mutter. Das Foto geht nochmals hin und her, während sich die vier darüber unterhalten, ob sie nun eine Familie sind. Der Vater sagt, »jetzt haben wir bereits ein Familienfoto«, als ob er da-

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mit meinte, dass ein Familienfoto ausreiche, um eine Familie zu bilden. Otto antwortet, dass er bereits eine Familie habe. Die Spiegelbilder, die Vater und Sohn sowie Mutter und Tochter separat zeigen, widersprechen dem Foto, auf dem die vier als Familie abgebildet sind. Die Spiegelbilder sollten schließlich Recht behalten, da sich Anas Mutter und Ottos Vater trennen und Ana ihre Mutter und Otto seinen Vater in Folge separat besuchen werden. In Lucía y el sexo setzt Medem einen richtigen Spiegel ein, um die Beziehungskrise zwischen Lucía und Lorenzo zu veranschaulichen. Als Lucía eines Abends nach Hause kommt und Lorenzo sie fragt, ob sie ihn mit ihrem Chef betrogen habe, findet der Dialog anfangs über den Wandspiegel statt, der am Eingang hängt: Lucía betrachtet zuerst sich, dann sieht man Lorenzo im Spiegel. Lucía spricht also zuerst mit Lorenzos Spiegelbild, bevor sie sich umdreht und man den »richtigen« Lorenzo sieht. In einer späteren Sequenz, als Lucía mit Lorenzo streitet und sie ihm erklärt, dass sie auf diese Art nicht mehr mit Lorenzo zusammenleben kann, betrachtet sie sich beim Hinausgehen nochmals im Spiegel und besinnt sich. Sie gesteht Lorenzo, noch nie mit jemandem derart gesprochen zu haben. Der Spiegel steht hier symbolisch für die Trennwand, die sich zwischen Lucía und Lorenzo aufgebaut hat, und deutet überdies an, dass Lorenzo in seiner fiktiven Welt gefangen ist. Häufiger als richtige Spiegel kommen in diesem Film jedoch Spiegelungen in Computer- und Fernsehbildschirmen vor, die, ähnlich wie der Spiegel in Smultronstället, als Orte fungieren, wo Wirklichkeits- und Fiktionsebene ineinander überfließen und der (fiktive) Kontakt zwischen zwei Menschen stattfinden kann. Diese Bildschirme dienen also, über die Spiegelung der Figuren hinaus, auch der Spiegelung der Erzählung selbst, da sie zur direkten Thematisierung des Medialen eingesetzt werden und den Zuschauern den Akt des Zusehens bewusst machen. Dadurch werden die Grenzen zwischen Fiktion und Metafiktion aufgebrochen. Christian Metz führt allgemein »Rahmen« als Mittel der Enunziation145 an, da diese an die Filmleinwand erinnern: 145 Der ursprünglich vom Sprachwissenschaftler Émile Benveniste eingeführte und später auf die Filmwissenschaft angewandte Begriff der Enunziation ist, wie Christian Metz ihn definiert, »der semiologische Akt, durch den bestimmte Teile eines Textes uns diesen als Akt erscheinen lassen«, d.h. der Enunziator (die Erzählinstanz, die hinter der Filmerzählung steckt) macht durch bestimmte stilistische Mittel auf die Quelle der Enunziation aufmerksam und kann so den/die ZuschauerIn ansprechen. Christian Metz führt in Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films eine Reihe solcher stilistischer Mittel an. Dazu gehören zum Beispiel der Blick der Schauspieler in die Kamera, die Adressierung vermittels der Off-Stimme, schriftliche Adressierungen, »Rahmen im Rahmen«, die Verwendung von Spiegeln (oder Spiegeleffekten) innerhalb der Die145

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»Der Film präsentiert uns ein wie auch immer geartetes und gerahmtes Spektakel (z.B. von einer Tür, von einem Fenster etc.), wobei sich dieser ›Rahmen‹ wiederum selbst in das Rechteck der Leinwand einfügt. Die Quelle des Films verdoppelt die optische Betrachtung und Vermittlung, die gewöhnlich erforderlich ist, um uns zu erreichen: dies als ein weiteres einfaches Vorbild einer enunziativen Geste.«146

Bereits zu Beginn, als Lucía das erste Mal in Lorenzos Wohnung umhergeht, betrachtet sie sich im Bildschirm, als verstecke sich dahinter eine andere Welt – eine Vorwegnahme dessen, was später folgen wird. Als sie dann später die Geschichte von Lorenzo und Luna liest, spiegelt sich ihr Gesicht wiederum im Bildschirm des Computers, wobei die Kamera abwechselnd die geschriebenen Zeilen und Lucías Gesicht fokussiert. Der Bildschirm wird hier nicht nur zu einer Grenze zwischen der Fiktion und der Binnenfiktion (also Lorenzos Fiktion), sondern auch zwischen Lucía und Lorenzo, deren Beziehung sich immer mehr über Lorenzos Geschichte, die Lucía dann heimlich liest, austrägt. Eine ähnliche Sequenz ist jene, in der Lorenzo Elena seine Geschichte mit den vielen Vorteilen schreibt. Die Kamera fokussiert abwechselnd den Schreibenden/die Lesende und das Geschriebene am Computer. Je näher sich die beiden durch das Schreiben kommen, je mehr die Kamera sich in Zooms ihm, ihr und dem Bildschirm nähert, desto tiefer rutschen sie in eine fiktive Welt ab. Sobald Lorenzo mit seiner Geschichte beginnt, sind die Spiegelbilder von Lorenzo und Elena in ihren jeweiligen Bildschirmen zu sehen, bis Elena Lorenzo in ihrem Bildschirm sieht, wie er sie von hinten küsst. Lorenzo verschwindet aus dem Bild, als Lucía in sein Zimmer kommt und er den Computer ausschaltet und somit die Erzählung beendet. Am Ende des Films kommt der Bildschirm nochmals vor, nachdem die Erzählung zu ihrer Mitte zurückgekehrt ist: Lorenzo sitzt am Computer, und man sieht in der Spiegelung, wie Lucía sich zum Fenster bewegt, woraufhin Lorenzo aufsteht und ihr folgt. Anhand der Spiegelung wird der Kontrast zwischen Fiktion und Binnenfiktion deutlich, und die Frage stellt sich, inwiefern Lorenzos Fantasie auf die Filmerzählung Einfluss gese, aber auch betonte Kamerabewegungen und subjektive Bilder und Töne. Dadurch wird bewirkt, dass sich der/die ZuschauerIn sowohl auf der Seite der Quelle befindet, indem er/sie sich mit dem Blick der Kamera identifiziert, als auch auf der Seite des Ziels, indem der Film ihn/sie anblickt. Außerdem wird dadurch die filmische Illusion durchbrochen und auf eine Welt außerhalb des Films verwiesen. Vgl. Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster: Nodus Publikationen 1997, S. 11f. 146 Metz, Christian: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, S. 57. 146

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hat oder inwiefern er bestimmen kann, bis zu welchem Grad seine Fiktionen auf die Filmerzählung übergreifen. Diese Spiegelungen (sowohl in Lucía y el sexo, als auch in Los amantes del círculo polar) dienen auch als Ort, wo das Begehren an die Oberfläche tritt – ähnlich wie in Buñuels L’Age d’or, wo durch den Spiegel das Begehren der Liebenden herauskristallisiert wird und die Spiegelbilder die Distanz zwischen den zwei Liebenden überbrücken.147 Ähnlich wie diese Spiegeleffekte setzt Medem das Mittel der Überblendung ein, um den Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Fiktionsebenen zu markieren: nach der Aufnahme Lorenzos im Krankenbett zoomt die Kamera auf ein kleines Glasfenster, woraufhin eine Überblendung auf ein Foto von Carlos folgt. Lucía liest in Elenas Zimmer im Internet, dass Carlos von der Polizei gesucht wird. Die Kamera zoomt nun wieder auf Carlos‹ Foto am Bildschirm, das von einer Aufnahme von Lucías Gesicht überblendet wird. Sie sitzt an Lorenzos Computer und liest dessen, von seinem voice-over begleitete Erzählung von Beléns und deren Mutters Tod. Diese Erzählung wird auch im Film gezeigt: Lorenzo wacht neben Belén auf, die sich, ebenso wie ihre Mutter im anliegenden Zimmer, die Pulsadern aufgeschnitten hat und blutüberströmt auf dem Bett liegt. Lorenzo befindet sich zwischen den zwei blutbefleckten Zimmern, die Kamera zeigt ihn von oben zwischen den spiegelgleichen Wänden stehen. Dann erscheint wieder Lucía im Bild, diesmal aber zurück in Elenas Zimmer, die Kamera zoomt nochmals auf Carlos‹ Foto im Internet, das wiederum vom Bild der Vergangenheit bzw. der Fiktion überblendet wird: Lorenzo küsst Belén zum Abschied. Dieselbe Einstellung wird nach einem Schnitt auf Lucías Gesicht nochmals gezeigt, diesmal ist es jedoch Carlos, der Belén küsst. In dieser Sequenz fließen also wieder Fiktion und Binnenfiktion zusammen, wobei das kleine Fenster in Lorenzos Krankenhauszimmer, der Computerbildschirm und die spiegelartigen Überblendungen als Schwellen zwischen den beiden fungieren. Ebenso wie Medem den Bildschirm des Computers zu Spiegelungszwecken verwendet, kommt auch der Bildschirm des Fernsehers vor, um die fiktionalen Ebenen ineinander übergehen zu lassen, womit Medem noch einen Schritt weiter in Richtung Selbstreferentialität geht: als Belén (in Lorenzos Fantasie) vor dem Video ihrer Mutter masturbiert, erscheint plötzlich Lorenzos Spiegelbild im Bildschirm. Die beiden haben Sex, doch nachdem das Bild auf die lesende Lucía wechselt, ist es Lucía, die sich plötzlich in der Binnenfiktion befindet, da die Bilder nun ihrer Vorstellungskraft entspringen. Später, als Belén Lorenzo erzählt, dass sie vor dem Bildschirm masturbiert hat und dabei das Gefühl hatte, dass Carlos sie dabei beobachtete, ist es Carlos Spiegelbild, das im Bildschirm er147 Linda Williams: Figures of Desire, S. 149. 147

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scheint. In den verschiedenen (Spiegel-)Bildern werden also jeweils die Vorstellung des Schreibenden (Lorenzo) bzw. der Lesenden (Lucía) und der Erzählenden (Belén) reflektiert. Auch Bergman verwendet nicht nur Spiegel, sondern jegliche Rahmen und reflektierende Oberflächen, um das Mediale selbst zu thematisieren. »In addition to the literal screens that constantly reappear in the film, Bergman proffers a variety of other screening surfaces in the form of windows (frequently only partially obscured by transparent curtains and draperies) that are positioned as intersections of transgression and containment, mergence and differentiation, and that are further elaborated by a series of doorways and corridors that reinforce the motif.«148

Diese Spiegel, Fenster, Türen und Korridore tragen weiter zur verschachtelten, labyrinthischen Erzählung bei. Vor allem aber bringen sie, neben anderen Mitteln der Enunziation, die Sehgewohnheiten der Zuschauer durcheinander und stellen den Film als künstlerisches Produkt in Frage. »Der gesamte Film Persona wurde wie eine Abhandlung über den Traum und den Spiegel gemacht, wobei der Spiegel wie ein Traum und der Traum wie ein Film an sich behandelt wurde. Dieser Film ist unübertroffen, auch von seinem Regisseur, da mit ihm eine neue Stellung des filmischen Bildes erfunden wurde.«149

Persona ist auch das beste Beispiel für filmische Selbstreflexivität, da sich die Thematisierung der Identitätsproblematik der zwei Frauen auf jene des Regisseurs selbst ausweitet. Wie Christian Metz hervorhebt, werden Spiegel unter anderem auch deshalb bevorzugt verwendet, da diese an die Kamera erinnern und somit an und für sich bereits ein Verweis auf die Selbstreflexivität des Films sind. »Jeder Spiegel ist wie eine Kamera (oder ein Projektor), da er das Bild ein zweites Mal ›zurückwirft‹, da er ihm einen zweiten Abzug verleiht, da er die Kraft zur Ausstrahlung besitzt. Der Grund für das zahlreiche Auftreten von Spiegeln in der Bilderwelt des Films liegt sicherlich auch darin, dass das Kino selbst so reich an Affinitäten mit dem Spiegel ist und dass diese dort so häufig den Verlauf der Enunziation lenken.«150

148 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 159. 149 Jacques Aumont: Ingmar Bergman, S. 161. 150 Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, S. 68. 148

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Smultronstället, ©1957 AB Svensk Filmindustri Stillbildsfoto: Louis Huch

Screenshot aus Les roseaux sauvages

Screenshot aus Les roseaux sauvages 149

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Screenshot aus Alice et Martin

Screenshot aus Lucía y el sexo

Screenshot aus Ma saison préférée 150

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Selbstreflexivität und Selbstreferentialität151 »[S]elf-conscious aesthetic devices that disrupt the narrative flow can serve to interrupt the passive identification that characterizes traditional cinematic experience and substitute for it a more critical mode of spectator experience termed ›passionate detachment‹ by Mulvey and ›critical subjectivity‹ by Gentile. […] By fragmenting and interrupting the narrative, presenting ›flat‹ characters, depicting time as nonlinear, and so forth, one can hinder identification and engender a more critical spectator experience.«152

Zu den Strömungen, die bewusst Mittel der Selbstreflexivität und -referentialität verwendet haben, um die vollständige Identifikation der Zuschauer mit der Fiktion zu verhindern, und die für die drei hier behandelten Regisseure relevant sind, gehören auch der Surrealismus und die Nouvelle Vague. Der Surrealismus spielt unter den Avantgardebewegungen, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zu grundlegenden Veränderungen im Umgang mit den Künsten und Medien und zum Bruch mit den 151 Bei selbstreferentiellen Filmen handelt es sich um Filme, die jegliche Bereiche rund um das Phänomen Film thematisieren, von der Produktion, Distribution, Konsumtion, bis hin zum Produkt »Film« selbst: »Die filmische Referenz auf das Produkt Film erfolgt über Bezugnahmen auf Filmgenres oder Epochen der Filmgeschichte, über Anspielungen auf bekannte Szenen oder tatsächliche Zitate (im Sinne von einmontierten clips aus Filmen), aber auch über bewusste Thematisierung von filmästhetischen Mitteln«. Von Selbstreferentialität spricht man beispielsweise, wenn Filmfiguren ins Kino gehen, wenn in einem Film ein Ausschnitt aus einem bestimmten, real existierenden Film gezeigt und dieser somit zitiert wird, oder wenn auf diesen Film angespielt wird. Aber auch durch den Hinweis auf filmische Gestaltungsmittel (dazu gehören sowohl Kostüm und Maske, Dekoration und Requisiten, als auch Einstellungskomposition, Kameraperspektive und Kamerabewegung, sowie Musik und Dialog) kann auf das Medium Film selbst verwiesen werden. Selbstreflexive Filme sind hingegen solche, die »in bestimmten Momenten des Diskurses tatsächlich sich selbst thematisieren und die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen mit verschiedenen Mitteln auf diesen Film selbst lenken«. Dies betrifft also nicht einen Bereich des Gesamtsystems Film, sondern eben jenen Film, der sich der/die ZuschauerIn gerade ansieht. Beispiele für filmische Selbstreflexivität wären, wenn das Filmen dieses Films gezeigt wird, wenn Personen aus dem Filmteam zu Personen der Handlung werden oder wenn die filmende Kamera im Bild gezeigt wird. Sowohl durch die Selbstreferentialität als auch durch die Selbstreflexivität wird der/die ZuschauerIn daran erinnert, dass er/sie gerade einen Film sieht. Vgl. Gloria Withalm: »Der Blick des Films auf Film und Kino. Selbstreferentialität und Selbstreflexivität im Überblick«, 1999. Unter: www.uni.ak.ac.at/culture/withalm/wit-texts/wit99-kwt.html vom 2. Februar 2006. 152 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 14. 151

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Traditionen und Wahrnehmungsgewohnheiten geführt haben, eine entscheidende Rolle. Der Surrealismus ist als eine ars combinatoria zu begreifen: ein Wechselspiel zwischen Literatur, bildenden Künsten, Theater, Musik, Fotografie, Radio und dem neuen Medium Film.153 »Die Segmentierung und Fragmentierung der Objekte entsprechen dem avantgardistischen Prinzip, das die klassische Einheit und die natürlichen Beziehungen zwischen den Dingen zu zerstören sucht. In den Räumen zwischen den untereinander getrennten Objekten entsteht etwas, das über dem empirisch Sichtbaren steht.«154

Obwohl die Surrealisten sich anfangs dem Film zuwendeten, eben weil dieser ihnen einen Ausweg aus den starren Strukturen der kodifizierten Sprache bot, so entwickelte sich ihr Erforschen des bewegten Bildes bald zu einem äußerst raffinierten Versuch, auf die fälschliche Identifizierung (die vorhin erwähnte méconnaissance bei Lacan) der Zuschauer mit der Filmerzählung aufmerksam zu machen. Damit distanzierten sie sich von der »klassischen« Filmerzählung, die die Zuschauer in der Illusion einer Realitätsabbildung durch den Film verharren lässt.155 Wie bereits erwähnt, sind auch die Filme der Nouvelle Vague für ihre Selbstreferentialität und Selbstreflexivität bekannt.156 Den Regisseuren ging es darum, den Zuschauern klar zu machen, dass das, was sie gerade sehen, Kunst und nicht die Realität ist, und eine »persönlichere« Beziehung zwischen dem Regisseur und den Zuschauern herzustellen: »Movies must no longer be alienated products which are consumed by mass audiences; they are now intimate conversations between the people behind the camera and the people in front of the screen.«157 153 Vgl. Volker Roloff: »Metamorphosen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika. Medienästhetische Aspekte«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld: transcript Verlag 2004, S. 13. 154 Vittoria Borsò: »Entre lo visible y lo invisible. La autonomía de los objetos en la poesía de García Lorca y en el cine de Luis Buñuel«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, S. 42. 155 Linda Williams: Figures of Desire, S. 41f. 156 An dieser Stelle sei erwähnt, dass natürlich auch viele andere Regisseure, die nicht dem Surrealismus oder der Nouvelle Vague zuzuordnen sind, selbstreferentielle und selbstreflexive Filme gedreht haben, von Charlie Chaplin und Ernst Lubitsch, über Woody Allen, Howard Hawks, Pier Paolo Pasolini, Federico Fellini, bis hin zu Rainer Werner Fassbinder und Wim Wenders. Vgl. Harald Schleicher: Film-Reflexionen, S. 3. 157 James Monaco: The New Wave, New York: Oxford University Press 1976, S. 8. 152

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Die Filme der Nouvelle Vague zeichnen sich daher häufig durch eine elliptische, rasch voranschreitende und oftmals unzusammenhängende Erzählung aus, wobei der jump cut zu ihren typischsten stilistischen Merkmalen gehört. Auch die Tatsache, dass es sich bei diesen Regisseuren um cinéphiles handelt, hat eine Thematisierung des Films und des Kinos insgesamt zur Folge. Hans T. Siepe spricht in Zusammenhang mit François Truffauts La Nuit américaine (Die amerikanische Nacht, 1973) auch von Intrafilmizität (die engeren Verweise auf den Film und das Filmschaffen Truffauts) und Interfilmizität (weitere Verweise auf das Filmkorpus und die Filmgeschichte im Allgemeinen).158 Bereits der Titel – eine nuit américaine bezeichnet ein filmisches Verfahren, bei dem eine Nachtszene bei helligstem Tag gedreht wird – weist auf filmische Illusion ebenso wie auf Selbstreferentialität und bietet dem/der ZuschauerIn zwei mögliche Lesarten: die eine befindet sich auf der Ebene der Illusion (d.h. der Film bildet Wirklichkeit ab), die andere auf der Ebene der Desillusionierung (der Film wird als etwas Fabriziertes enthüllt). Truffauts Film gilt mit seinen Anspielungen auf andere Filme, der Verwendung referenzieller Namen und der mise-en-abyme, die an mehreren Stellen und auf mehreren Ebenen realisiert wird, als eine der bedeutendsten Auseinandersetzungen des Kinos mit dem Kino. Ähnlich wie Bergman, Téchiné und vor allem Medem, entspricht für Truffaut die Kinoarbeit dem Verlauf einer Reise: »Man kann auch mit Recht sagen, dass Truffauts Amerikanische Nacht eine Reise von einem Film zum anderen ist.«159 Der ganze Film dreht sich letztlich um die Frage, ob der Film dem Leben überlegen sei, gibt jedoch darauf keine Antwort. »In der Literatur und im Film ist Autoreflexivität (was andere unter Postmodernität verstehen) zu einem der beherrschenden Themen geworden. Beide stellen die Frage nach der Rolle, welche die Literatur bzw. das Kino spielen kann; beide evozieren die Mythen und Illusionen, die für die Entwicklung der beiden Gattungen charakteristisch sind; beide verweisen auf den Prozess des Schaffens und der Rezeption, kurz: auf die literarische und filmische Kommunikation; beide behandeln das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, zwischen Leben und Kunst […].«160

Die Regisseure der Nouvelle Vague verlangten von den Zuschauern »a more mature, less prudish, and more free-spirited vision of human exis158 Vgl. Hans T. Siepe: »Spiegelspiele oder Im Reich der Filme. La Nuit américaine (1973) von François Truffaut«, in: Jochen Mecke/Volker Roloff (Hg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1999, S. 277. 159 Ebd., S. 283. 160 Ebd., S. 290. 153

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tence than Hollywood films of the era were willing or able to provide«.161 Im Gegensatz zu den Surrealisten, die mit ihren selbstreferenziellen und -reflexiven Filmen vor allem ihrem Protest gegen die Diktatur Ausdruck verleihen wollten, ging es der Nouvelle Vague jedoch hauptsächlich darum, den Film von den Konventionen und Zwängen des Studiosystems zu befreien. Von allen Regisseuren der Nouvelle Vague ist Jean-Luc Godard derjenige, der ab Mitte der 60er Jahre am gewagtesten gegen die Erzählkonventionen verstößt und somit als einer der einflussreichsten Regisseure gesehen werden kann, was die Selbstreflexivität des Films betrifft, wobei sein autothematischer Film Le Mépris (1963) wahrscheinlich das hervorstechendste Beispiel dafür ist. Ein weiterer Film, der im Rahmen der Selbstreflexivität in der Literatur einen fixen Platz einnimmt, ist Bergmans Persona, der laut Wheeler Winston Dixon von Godard beeinflusst wurde. Da es sich bei der Selbstreflexivität jedoch um ein Phänomen handelt, das besonders ab den 60er Jahren sich verstärkt zu verbreiten begann, sind die Einflüsse in Persona wohl mehr auf eine allgemeine Entwicklung in der Filmsprache zurückzuführen, die als eine Antwort auf den zu dieser Zeit vorherrschenden Hollywoodfilm zu sehen ist. »Persona is a classic, but it is a modern classic, a work of self-knowledge and self-reflexivity that incorporates the work of numerous other auteurs of the 1960s, but none so much as the great French filmmaker, Jean-Luc Godard. […] More than any other filmmaker, it seems to me, Jean-Luc Godard’s inexorably penetrating camera gaze in his films of the early to middle 1960s informs Bergman’s style in Persona. […] Yet Godard’s is certainly not the only external influence one feels in Persona, for Persona belongs to a decade in which the cinema became modern, a decade in which the constraints of Hollywood style and the inherent artificiality of the ›fourth wall‹ of theatrical presentation (in which the actors and/or director of a film or play never acknowledge that they are performing for an audience) were swept away.«162

Die Tatsache, dass Bergman einen derart selbstreflexiven und experimentellen Film wie Persona machte, lässt sich wohl autobiographisch mit einer Schaffenskrise und der Hinterfragung der Rolle des Künstlers in der heutigen Gesellschaft erklären: »[Bergman] had become aware of the useless function of art in a world where most people’s lives are full of potential drama«163. Dies wird dadurch verstärkt, dass eine der Protago161 Wheeler Winston Dixon: »Persona and the 1960s Art Cinema«, in: Lloyd Michaels (Hg.): Ingmar Bergman’s Persona, S. 51. 162 Ebd., S. 46f. 163 Birgitta Steene: Ingmar Bergman, S. 117. 154

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nistinnen eine Schauspielerin ist. Insgesamt könnte man also sagen, dass Persona die Beziehung zwischen dem/der KünstlerIn (Elisabet), dem Kunstwerk (Persona) und dem Publikum (Alma) beschreibt.164 »[I]t is […] likely that Bergman has wanted to put the spectator in a receptive mood and wake him emotionally, much the same as the Spanish film-maker Buñuel did in his now classic film The Andalusian Dog. Persona demonstrates, in fact, what the writers of the so-called new novel have set forth in their program: that art can be an interplay between creator and receiver; that its function is not to soothe or entertain but to activate.«165

Ein weiterer Grund für Bergmans Hang zur filmischen Selbstreflexivität, der vor allem in der Einleitungssequenz von Persona zum Vorschein kommt, könnte in seinem Protest gegen Autorität liegen, der auf seine strenge, religiöse Erziehung zurückzuführen ist: »By revealing the machine behind the illusion, the prologue also disrupts Bergman’s authority as a narrating presence and therefore calls into question authority in general.«166 Indem die Selbstreflexivität eingesetzt wird, um mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer zu brechen und den Film als Realitätskonstrukt auszuweisen – genauso wie die Intermedialität Medienkonventionen zitiert, um das Repräsentierte, das Sichtbare zu destabilisieren167 – können durch sie in weiterer Folge jegliche Konstruktionen thematisiert werden, somit auch die Konstruiertheit von Geschlechterrollen. Durch narrative Diskontinuität und illusionsbrechende Verfremdungseffekte schafft Bergman, obwohl nicht dezidiert als feministischer Regisseur bekannt, also eine Alternative zu den männlich dominierten Erzähl- und Sehkonventionen. »[B]oth feminist films and Bergman’s post-1960 works frequently incorporate new methods of narrative organization to replace a more conventional linear plot. In subverting traditional narrative, an avant-gardist such as Bergman and feminist filmmakers come to rely on the visual instead of the verbal for expressiveness, at least in part because of the complicity between language and patriarchy. […] While the film presents the mergence of identity as an alternative to the male model of a fixed (and gendered) subjectivity, it also investigates the

164 Bruce F. Kawin: Mindscreen, S. 130. 165 Birgitta Steene: Ingmar Bergman, S. 121. 166 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 136. 167 Vgl. Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, S. 172. 155

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false mergence of the spectator/spectacle relationship of appropriation and deconstructs it […].«168

Persona ist ein stark visueller Film, was dadurch bekräftigt wird, dass nur eine der Protagonistinnen spricht. Da das Erzählte nicht immer klar einer Figur oder einer Erzählperspektive zugeordnet werden kann, nimmt der Film auch die Gestalt einer sich ihrer selbst bewussten, sich selbst erzählenden Narration an.169 Bereits zu Beginn macht Bergman durch filmische Auto-Intertextualität auf den Film als künstlerischen Schaffensprozess aufmerksam. Laut eigener Aussage wollte er mit der Einleitungssequenz ein Bild-Gedicht über die Situation machen, in der Persona entstand. So begann er mit dem Projektor. Doch als dieser einmal in Gang war, kamen ihm nur alte Ideen in den Sinn, wie die Spinne und das Lamm Gottes.170 In der Einleitungssequenz variiert die Zeit (in Form von Bewegung) in den unterschiedlichen Abschnitten: rasche (unrealistische) Zeitabfolge in der Stummfilmfarce, langsamere (realistische) im Abschnitt, in dem der Junge aufwacht. Das wechselhafte Tempo erinnert den/die ZuschauerIn an den Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und der Spiegelung der Wirklichkeit durch den Film. Weiter trägt das Tempo dazu bei, den Kontrast zwischen Leben und Tod zu markieren.171 Diese Einleitungssequenz und die Sequenz in der Mitte des Films, in der die Filmrolle sich im Projektor verfängt und ein kurzer Ausschnitt aus einem Stummfilm eingeschoben ist, erinnern an Filme des Surrealismus, wie beispielsweise Un chien andalou und L’Âge d’or von Buñuel, in denen Zitate und Verfremdungen »verschiedener Formen des europäischen Avantgardetheaters und des Avantgardefilms« sowie der »Rekurs auf prämoderne Traditionen der Farcenkomik, der Burleske, Groteske und Parodie«172 dominieren. Auch die von den Surrealisten häufig eingesetzte Technik, (scheinbar) unzusammenhängende Bilder frei miteinander zu kombinieren und damit Neues zu schöpfen, kommt hier zum Tragen. Im Raum, der zwischen Segmentierung und Reihung der jeweiligen Einstellung zu den darauffolgenden entsteht, sieht Buñuel das Spezifische des filmischen Bildes:

168 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 12 & 155. 169 Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 122. 170 Vgl. Egil Törnquist: Filmdiktaren Ingmar Bergman, S. 70. 171 Ebd., S. 64. 172 Scarlett Winter: »Das surrealistische Auge. Inszenierungen der Schaulust bei Buñuel, Dalí und Almodóvar«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, S. 108. 156

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»In den zahlreichen theoretischen Essays hat Buñuel wiederholt die Isolierung von Gegenständen in filmischen Bildern mittels einer freien Kombinatorik als ein grundsätzliches Prinzip der Kinokunst hervorgehoben.«173

Die allgemeine Feststellung, dass sich das Photogenetische durch die Bewegung vom Photographischen unterscheide, weist außerdem auf den intermedialen Status des Films. Demnach liegt die Besonderheit des filmischen Mediums in der grundsätzlich intermedialen Natur des filmischen Bildes, die durch die Bewegung erzeugt wird.174 Dieser Aspekt des Intermedialen wird im Fall von Persona durch die Selbstreferentialität (in Form der Anspielungen auf frühere Filme Bergmans sowie auf Un chien andalou in der Einleitungssequenz) und die Selbstreflexivität verstärkt. Die Aneinanderreihung disparater Bilder weist aber nicht nur Züge der Selbstreflexivität auf, sondern knüpft auch an eine Traumästhetik, die sowohl für den Surrealismus als auch für Bergman so typisch ist und die besonders in Persona zum Vorschein kommt, da der Film insgesamt als Traum angesehen werden könnte. »Die surrealistische Inszenierung im Sinne Buñuels und Dalís ist an eine Ästhetik des inneren Auges gebunden, die zum einen die mediale Verfasstheit unseres Wahrnehmungsbewusstseins spiegelt (seinen fragmentarischen, assoziativen, auch collagierenden Charakter), zum anderen den Blick des Zuschauers der (zumeist verblendeten) Komplexität (s)einer inneren Erfahrungswelt aussetzt: D.h. einer Welt der Träume und Phantasien, der Ängste, Grausamkeiten und irrationalen Bezüge.«175

Bergman verweist auf die Rolle der Zuschauer, indem er den Film, ähnlich wie Tystnaden, mit einem kleinen Jungen (außerdem vom selben Schauspieler interpretiert) beginnen lässt. Dieser wacht auf, dreht sich um und versucht weiterzuschlafen, doch gelingt ihm dies nicht, als spüre er die Anwesenheit des/der ZuschauerIn. Daraufhin wendet er sich der Kamera zu und streckt seine Hand nach ihr aus. Dann sehen wir, nach einem 180-Gradschnitt, den Jungen von hinten, wie er einen überdimensionalen Bildschirm berührt, auf dem die zwei Frauengesichter, die sich später als die Protagonistinnen herausstellen werden, abwechselnd erscheinen. Da sich der Junge in einer Position zwischen uns und dem Bildschirm (Film) befindet, ist es nahe liegend, ihn als den Fokalisator 173 Vittoria Borsò: »Luis Buñuel. Film, Intermedialität und Moderne«, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Luis Buñuel, S. 161. 174 Vgl. ebd., S. 163. 175 Scarlett Winter: »Das surrealistische Auge. Inszenierungen der Schaulust bei Buñuel, Dalí und Almodóvar«, S. 106. 157

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der Erzählung anzunehmen. Eine Interpretationsmöglichkeit wäre, dass der gesamte Film sein Traum ist: »Der Junge steht für uns alle, Bergman und die Zuschauer, auf einer Art Wahrheitssuche […], die eine Reise in das Bewusstsein dieser zwei Frauen in Gang setzt.«176 Gleichzeitig wird den Zuschauern deren Position als »Zu-Seher« bewusst: »It is not just that the audience sees the boy reach up to a flat surface and then, through a reverse angle shot, is allowed to see what is on the surface; it is also that the frame of the image of Persona is identified with one (or both) of these surfaces. Bergman makes one feel this by having the boy so literally […] touch the surface of the lens and the limits of the frame. The audience senses, for the duration of this shot, that is is being looked at, or at best is hiding behind a twoway mirror.«177

Ein weiterer Hinweis auf die Enunziation, diesmal auf Bergman als Enunziator, ist die Tatsache, dass Elisabets und Almas Aufenthalt im Sommerhaus in der schwedischen Originalversion vom voice-over des Regisseurs selbst kommentiert wird. Diese filmische Enunziation kulminiert, als der Filmstreifen sich im Projektor verfängt und vor den Augen der Zuschauer Feuer fängt, als ob der Film, nach Elisabets Vertrauensbruch Alma gegenüber, selbst kollabieren würde. Nach diesem Zusammenbruch scheint sich die Erzählung nur mehr noch schwer selbst zu finden. Es tauchen ein paar Bilder aus der Einleitungssequenz auf, ebenso wie eine Detailaufnahme eines Auges (das jedoch nur schwer als solches zu erkennen ist; das Auge kommt auch in anderen Filmen Bergmans vor, beispielsweise in Smultronstället: als Isak in seinem Albtraum durchs Mikroskop blickt, sieht man, ebenfalls nur schwer als solches zu erkennen, ein Auge). Bei der Tonspur unterscheidet sich interessanterweise die schwedische Originalversion von der deutschen. In der schwedischen Version hört man kurz verwirrte Stimmen, in der deutschen synchronisierten Version sagt eine Männerstimme: »Ich für meinen Teil glaube, dass es einfach eine Inflation an Worten wie Leere, Einsamkeit, Entfremdung, Schmerz, Hilflosigkeit ist.« Danach sieht man Elisabet in einer unscharfen Aufnahme im Haus umhergehen, zuerst in Zeitlupe, dann in normaler Geschwindigkeit. Als sie zum Fenster hinaussieht, wir das Bild plötzlich wieder scharf. In dieser Sequenz drückt Bergman also explizit seine kritische Haltung gegenüber der Sprache aus, die sich auch in Elisabets Schweigen und der allgemeinen Kommunikationslosigkeit widerspiegelt: »Bergman’s skepticism toward language has always been 176 Maria Bergom-Larsson, zit. n. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 124. 177 Bruce F. Kawin: Mindscreen, S. 116. 158

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great. In Persona words only exist in the form of monologues and letters.«178 Indem Elisabet den Dialog mit Alma verweigert und somit sprachliche Kommunikation unterbindet, kann es zu keiner Identitätsformation mehr kommen, weswegen es zu einer Identitätskrise zwischen Alma und Elisabet kommt, die sozusagen über die Rahmen der Fiktion hinausströmt und zur Identitätskrise des Film(bild)es selbst wird.179 Interessanterweise gewinnt Elisabet Macht nicht durch Sprache, sondern indem sie diese verweigert. Ihr Schweigen kann sowohl als Verstoß gegen die kinematographischen Konventionen (da es äußerst ungewöhnlich ist, dass eine der Hauptfiguren kein Wort spricht), als auch wiederum als Antwort auf den männlich dominierten Diskurs gesehen werden. »[S]ilence is both a rejection of male discourse and a reification of the gender dichotomy: both a protest against an ideologically corrupted language and a surrendering of language and its power – a resistance and an acquiescence to the male symbolic order.«180

Auch die zahlreichen Blicke der Schauspieler in die Kamera bewirken einen Sprung in der filmischen Illusion und schaffen eine Brücke zwischen dem Film und dem/der ZuschauerIn. »Im Unterschied zu den sprachlichen, d.h. gesprochenen oder geschriebenen Adressierungen ist die Adressierung durch den Blick reflexiv. Sie bewirkt einen Spiegeleffekt besonderer Art. Wie die steigende Flut im Mündungsrichter eines Flusses, der sich ins Meer ergießt, wie ein Blick, den der Spiegel auffängt und mir zurückwirft, ist der Blickstrahl aus den Augen der Figur gegenläufig zum gewöhnlichen Fluss aus dem Projektionsapparat (er hält ihn auf) und auch zu den auf die Leinwand gerichteten Augen des Betrachters […]. Der Blick in die Kamera führt hier eine Umkehrung ein, die dem Dispositiv die Unschuld nimmt und es mit einem großen, ungewendeten Strich hervortreten lässt.«181

Bereits in Sommaren med Monika ließ Bergman die Protagonistin in die Kamera blicken. Diesen Blick bezeichnet Gertrud Koch als »one of the most unnerving camera angles in the history of film«, weil er ihrer Ansicht nach »the taboo on women’s gaze« bricht.182 Alma und Elisabet blicken öfters in die Kamera, als ob diese ein Spiegel wäre, der ihnen die 178 Birgitta Steene: Ingmar Bergman, S. 119. 179 Vgl. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 132. 180 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 146. 181 Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, S. 31. 182 Gertrud Koch, zit. n. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 102. 159

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Antwort auf ihre (Identitäts-)Fragen gibt. So betrachtet sich Alma am Ende des Films im Spiegel und merkt, wie sich über ihr Spiegelbild ein anderes Gesicht, nämlich jenes von Elisabet, legt. »Diese Einstellung am Ende von Persona, wo die Krankenschwester Alma sich verträumt ansieht und nach und nach in der Spiegelung ihres Gesichtes ein anderes Bild erscheinen sieht, nämlich jenes der nächtlichen Begegnung mit Elisabet, des Gesichtes, vor dem sie während des gesamten Filmes geflüchtet ist und das sie letztlich einholt. In diesem Moment weiß die junge Krankenschwester, von ihrer Krankheit angesteckt, nicht mehr wer sie ist, noch welche dunklen Schatten sich in ihrer Seele verbergen.«183

Zu Beginn des Films, nachdem Alma Elisabet im Krankenhaus kennen gelernt hat, wacht Alma in ihrem Bett auf, macht das Licht an und spricht mit dem Gesicht zur Kamera gewandt, als wolle sie dem/der ZuschauerIn etwas anvertrauen. An die Stelle eines richtigen Spiegels tritt hier also die Kamera selbst – und damit auch das Publikum. Durch den »Dialog« mit dem Publikum suchen der Film und seine Figuren nach ihrer Identität.184 Dieser imaginäre Spiegel könnte auch spezifisch im Sinne Lacans interpretiert werden, da durch ihn der/die ZuschauerIn in eine Art Spiegelstadium »zurückgeworfen« wird und sich dadurch das Zusehersubjekt formiert.185 Auch die Protagonistinnen in Viskningar och rop richten ihren Blick öfters in die Kamera. Die kleine Agnes beispielsweise blickt in Agnes‹ flash-back in die Kamera, als sie von den Familientreffen erzählt, bei denen sie stets auf Maria eifersüchtig war, und auch dann, als sie hinter dem Schleier steht und ihre Mutter beobachtet, ist ihr Blick in die Kamera gerichtet, als suche sie das Mitgefühl des/der ZuschauerIn. Der Pastor blickt bei seiner Predigt in die Kamera, ebenso wie Maria, als sie zu Karin spricht und versucht, sich dieser zu nähern. Auch jede subjektive Passage wird durch einen Blick der Figur in die Kamera eingeleitet. In Smultronstället ist die Sequenz, in der Isak nach dem Essen am See den Psalm vorträgt und dabei andächtig in die Kamera blickt, auffallend. Durch diesen Blick in die Kamera wird diesem Moment besondere Bedeutung beigemessen, als wären die Zeilen so wichtig, dass sie Bergman über Isak direkt zum Publikum aussprechen möchte. Téchiné durchbricht in seinen Filmen ebenfalls des Öfteren die Sehgewohnheiten der Zuschauer, wenn auch weniger systematisch und auffallend als Bergman oder Medem: 183 Jacques Aumont: Ingmar Bergman, S. 155ff. 184 Vgl. Maaret Koskinen: Spel och speglingar, S. 79. 185 Vgl. Ebd., S. 130. 160

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»Téchiné hat eine klare Vorliebe für im Zickzack verlaufende Erzählungen, er liebt es, wenn eine Geschichte, wie er selbst sagt, eine andere verbergen kann wie Züge, die sich kreuzen […]. Diese Liebe für das erzählerische Risiko, das auf positive Weise die Gewohnheiten der Zuschauer umstößt, hat so manches Mal dem Erfolg seiner Filme geschadet […].«186

In seinen Filmen kommt der direkte Blick in die Kamera nur vereinzelt vor, wie beispielsweise in der bereits erwähnten Sequenz in Les Roseaux sauvages, in der Monsieur Cassagne François schuldbewusst nachblickt. In Alice et Martin ist eine Sequenz erwähnenswert, in der Martin in Südspanien von einem Albtraum erwacht und zum Fenster geht: zuerst wird er von hinten in einer Nahaufnahme gezeigt, dann, nach einem 180Gradschnitt und in einer Großaufnahme, von vorne. Er macht die Augen zu, die Kamera zeigt ihn wieder von hinten, dann wieder von vorne. Dann macht er die Augen wieder auf. Martin blickt in den Großaufnahmen geradeaus in die Kamera, das Licht ändert sich von hell auf dunkel, während ein starkes Rauschen zu hören ist. Dass es sich hier um eine innere auditive Fokalisierung handelt, wird dadurch klar, dass das Rauschen aufhört, als Martin die Augen wieder öffnet. Martins Blick in die Kamera verdeutlicht dem/der ZuschauerIn, mit welchen Albträumen er zu kämpfen hat und wie verzweifelt er ist. Der Blick der Schauspieler in die Kamera findet sich nur zu einem geringen Maß bei Julio Medem. In Lucía y el sexo gibt es diesbezüglich jedoch eine interessante Sequenz, in der der direkte Blick mit mentalen Bildern verbunden wird: am Ende des Films sitzt Elena im Auto und sieht Lorenzo und Pepe vorbeifahren. Man sieht sie in einer Großaufnahme, das vorbeifahrende Auto anfangs jedoch in einer Totalaufnahme. Elena blickt dem Auto nach, dann blickt sie direkt in die Kamera, und aus ihrer Perspektive sieht man das Auto nochmals, diesmal jedoch in einer Amerikanischen Einstellung und in Zeitlupe. Daraufhin macht sie die Augen zu und wieder auf, und man sieht nochmals das Auto vorbeifahren, in derselben Einstellungsgröße wie zuvor. Sie blickt dem Auto in ihrer Vorstellung nochmals hinterher, und man sieht es wiederum, diesmal ein Stück weiter entfernt. Bei diesen Aufnahmen handelt es sich also nicht um gewöhnliche point of views, sondern um Bilder, die sie sich in Erinnerung ruft, um herauszufinden, ob es Lorenzo war, der an ihr vorbeifuhr. Auffällig sind hier nicht nur Elenas direkte Blicke in die Kamera, sondern auch die jump-cuts und die Spiegelungen der Autoscheiben, die als Mittel der Enunziation zu sehen sind. Julio Medem bricht jedoch durch andere Mittel mit den Erzählkonventionen. Dazu gehören ungewöhnliche Kamerakadrierungen und -per186 Alain Phillipon: André Téchiné, Paris: Cahiers du cinéma 1998, S. 43. 161

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spektiven ebenso wie das Einfließen einer metafiktionalen Ebene in die Erzählung: »[T]his is achieved by a combination of style and structure, most noticeably in the frequently disorientating effect of travelling shots which adopt the point of view of animals or inanimate objects, or which depart from conventional narrative viewpoints to reflect more abstract motivations.«187

Besonders auffallend bezüglich der filmischen Selbstreflexivität ist die Verwendung des Fotoapparates als Zeitindikator. In der Sequenz, in der Otto zu seiner Mutter nach Hause kommt und diese tot vorfindet, hat er einen Fotoapparat in der Hand. Nach dieser Sequenz folgt ein kurzer Schnitt, und man sieht den kleinen Otto, der direkt in die Kamera fotografiert, als wolle er den/die ZuschauerIn fotografieren. Dann stellt sich heraus, dass er ein Bild seiner Mutter gemacht hat, die beiden sitzen an einem See. Dieses Foto der Mutter, das Otto gemacht hat, hat er nach ihrem Tod immer bei sich. Ähnlich wie in Persona, wo Elisabet nach einer Schwarzblende ebenfalls in die Kamera fotografiert, werden mit dieser Adressierung der Zuschauer deren Sehgewohnheiten in Frage gestellt. Auch die Detailaufnahme von Anas Auge, in dem sich Otto spiegelt, ist ein Verweis auf das Filmauge – ähnlich wie in Persona, aber auch in Buñuels und Dalís Un chien andalou. »The connections with surrealism are as evident here as they are in the films‹ recurrent linking of seeming opposites (inner and outer, waking and dreaming), their use of the eye as the threshold, or the inscription of the viewer’s look in the text itself. The director has often been criticized for the films‹ selfconscious style, wild imaginings, and unexplained breaches of realism. And yet, his somewhat fantastic worlds – like those of his much-admired precursors Buñuel, Saura, or Erice – conjure up recognizable historical and social orders, in a sort of film equivalent of political allegories by Swift or Gracián.«188

Hier findet sich auch wieder eine Parallele zu Buñuels L’Age d’or, wo das Auge des Anderen als Spiegel im Sinne Lacans fungiert. Als würde Buñuel Lacans Auffassung vom mangelhaften Sein und dem nie zu befriedigenden Begehren folgen, so kann auch hier die Sehnsucht nach dem Anderen nie ganz befriedigt werden: »Each lover finds his or her identity

187 Barry Jordan/Rikki Morgan-Tamosunas: Contemporary Spanish Cinema, S. 51 188 Peter Williams Evans: Spanish Cinema, S. 313f. 162

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reflected in the eyes of the other used as a mirror of the self. The desire for the other can never be fully satisfied […].«189 In Lucía y el sexo greift die metafiktionale Ebene oft auf die Erzählung über, weshalb sich der/die ZuschauerIn fragen muss, was zur Fiktion und was zur Binnenfiktion gehört. Medem thematisiert hier die künstlerische Schaffenskrise eines Schriftstellers, die, ebenso wie es der Fall von Bergmans Persona ist, jene des Filmemachers selbst widerspiegeln könnte. Obwohl Lucía laut Titel die Protagonistin ist und sie auch den größten Platz innerhalb der Erzählung einnimmt, ist es Lorenzo, der aufgrund seiner schriftstellerischen Tätigkeit die Zügel der Erzählung in der Hand hält. Er zwingt der Erzählung sozusagen seine eigene auf und versucht, den Kurs der Geschichte zu verändern. Lucía begreift auf der Insel immer mehr, wie sehr Lorenzos Geschichten mit dessen realem Leben zusammenhängen. Als sie durch das Gespräch mit Elena begreift, dass Luna auch Lorenzos Tochter ist, bewegt sie sich auf deren Foto zu, das in Elenas Zimmer hängt. Die Kamera filmt aus der Perspektive des Fotos, sodass Lucía in die Kamera blickt und sich dieser nähert, bis sie in einer Großaufnahme vor der Kamera bzw. dem Foto stehen bleibt. Das Foto steht hier wiederum für die Grenze zwischen Fiktion und Binnenfiktion. Indem Lucía das Bild und gleichzeitig den/die ZuschauerIn anblickt, begibt sie sich nicht nur in Lorenzos Fiktion, sondern auch außerhalb des fiktionalen Rahmens des Films. Sie wiederholt die Worte »Welche Bedeutung hat es Vater zu sein, wenn seine Tochter es nicht wusste?«, die sie in Lorenzos Roman zuvor gelesen hat, woraufhin Lorenzo und Luna zu sehen sind, wie sie im Meer baden. Medem weist bereits vor Beginn der eigentlichen Erzählung auf den selbstreflexiven Charakter seines Films, nämlich im Vorspann, den auch Christian Metz als ein Mittel der Enunziation anführt: »Der Vorspann hat eine offensichtliche und, was im Kino selten vorkommt, sogar ›offizielle‹ Adressierungsfunktion.«190 Im Vorspann von Lucía y el sexo scheinen die Namen der Schauspieler in flirrenden Buchstaben und unter Tippgeräuschen eines Computers am Bildschirm auf, als wolle Medem damit sagen, dass die Schauspieler für ihn eine ebenso wichtige Rolle bei der Verarbeitung der Realität darstellen wie die Figuren in Lorenzos Manuskripten.191

189 Linda Williams: Figures of Desire, S. 149. 190 Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, S. 51. 191 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 86. 163

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Persona, ©1966 AB Svensk Filmindustri

Screenshot aus Los amantes del círculo polar

Screenshot aus Los amantes del círculo polar 164

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Screenshot aus Alice et Martin

Screenshot aus Ma saison préférée

Screenshot aus Lucía y el sexo 165

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T r au m - B i l d e r Betrachtet man die Behandlung des Traums im Film, so ist eine Einbeziehung des Surrealismus unumgänglich, da diese (vor allem was Julio Medem betrifft) allgemein Aufschluss über Entwicklungen der Traumästhetik geben kann.

Traum und Surrealismus Ana María Pilar Koch weist in ihrem Artikel über den Literaten und Dramatiker Ramón María del Valle-Inclán, den sie als Vorreiter des surrealistischen Films angibt, darauf hin, dass bereits August Strindberg 1902 im Prolog Erinran (Erinnerung) zu Ein Traumspiel das Prinzip vertritt, dass die Vision der Dinge im (durch Erinnerung hervorgerufenen) Bewusstsein ausschlaggebend für das Erfassen ist, weil sie dann unabhängig von Zeit und Raum stehen.192 »Zeit und Raum existieren nicht; auf einer unbedeutenden Wirklichkeitsbasis spinnt die Einbildung um sich und webt neue Muster: eine Mischung aus Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen.«193

Eine derartige Traumdarstellung erfordert eine diskontinuierliche Erzählung, die auch an vielen Stellen in den Filmen von Bergman, Téchiné und Medem sichtbar wird. Interessant ist hier auch die Verknüpfung zwischen dem Surrealismus und Strindberg, der, wie wir bereits gesehen haben, wiederum Bergman sehr beeinflusste. Mit seinen neuen Möglichkeiten bietete der Film der Suggestion ein gutes Mittel einer solchen Ästhetisierung der Traumform. Unter allen traditionellen Künsten vermochte der Film Buñuels Meinung nach am besten, die unbewusste »Welt der Träume, der Emotionen, des Instinktes«194 auszudrücken und dadurch die bestehenden Konventionen in Frage zu stellen. Der Film bzw. die Anordnung des Sehens, die der Kinoraum gestaltet, erweist sich als das Medium, mit dem die Kreativität des menschlichen Geistes, vor allem seine 192 Ana María Pilar Koch: »Valle-Inclán als Vorreiter des surrealistischen Films. Visionäre Sichtweise, kinematographische Techniken, Adaptationen«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, S. 77. 193 Aus Erinran von August Strindberg, zit. n. Margareta Wirmark: Smultronstället och dödens ekipage, S. 37. 194 Zit. nach Renate Gompper: »Luis Buñuel und Carlos Saura. Inspirationen, Differenzen und Parallelen«, S. 264. 166

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traumanaloge Wahrnehmungsstruktur, besonders anschaulich in Erscheinung tritt. Daher setzten die ersten Filmemacher des Surrealismus große Erwartungen in den Film: »Der manifeste Inhalt des Lebens wird zum ersten Mal auf dieselbe Ebene gestellt wie der latente, und das Resultat ist die Surrealität, an die das Publikum nur im Kino glaubt. […] Die absolute Natur des Kinos, gleich wie des Traumes, ist problemlos für jeden zugänglich und tolerierbar.«195

Film lässt die Dinge »erscheinen« und wird somit zum »Tor, das der Imagination den Weg zum empirisch ›Unsichtbaren‹ öffnet, weil die bewegten Bilder ein autonomes Leben erhalten, das durch keine ›Ordnung der Dinge‹ erklärt werden kann.«196 »Vergleicht man die Mittel des Filmes mit denen des Traumes, fallen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Zeit wird zur flexiblen Größe, sie kann gedehnt, verkürzt und umgestellt werden; Gegenstände verlieren ihre natürliche Größe und materielle Existenz. Beide Faktoren folgen eher semantischen Notwendigkeiten denn tatsächlichen Gegebenheiten. Film und Traum verbindet die visuelle Kontinuität der Bilder, durch die ein gewisser ›Schwebezustand‹ erreicht wird. […] Aber die Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht auf eher formale Aspekte. […] So scheinen es gerade die unter der Oberfläche liegenden Thematiken zu sein, die den Bildern des Films wie des Traums Botschaften von unseren Sehnsüchten und Ängsten verleihen.«197

Von hier ist der Schritt zu den Theorien über den Traum und das Unbewusste, wie sie vor allem von Sigmund Freund und Carl Gustav Jung entwickelt wurden, nicht mehr weit. André Breton, der als der Begründer des Surrealismus gilt, spricht bereits in seinem ersten Manifest (Premier Manifeste du surréalisme, 1924) dem Traum eine große Bedeutung zu. Er beruft sich dabei auf Freud und weist darauf hin, dass dessen Entdeckungen der psychologischen Forschung ein neues Gebiet erschlossen haben. Jedoch geht aus dem ersten Manifest auch hervor, dass Breton über keine genaueren Kenntnisse über Freuds Traumdeutung verfügt, und aus seinen Formulierungen wird erkenntlich, dass für ihn die Kontrolle der Vernunft von sekundärer Bedeutung ist. Freud geht es unter anderem darum, die Herrschaft der ratio über den Bereich des Irrationa195 Ado Kyrou, zit. n. Gérard Durozoi: L’histoire du mouvement surréaliste, Paris: Hazan 1997, S. 521. 196 Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, S. 170. 197 Harald Schleicher: Film-Reflexionen, S. 46. 167

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len auszudehnen, während Breton die Ansicht vertritt, dass in bestimmten extremen Lebenssituationen, in denen die ratio versagt, das Irrationale den einzigen Ausweg darstellt. Breton geht zwar von Freud aus und hält an dessen Modell vom manifesten und latenten Trauminhalt fest198, entwickelt dann aber eigene, abweichende Vorstellungen. Ihm geht es nicht so sehr um einen Rückschluss vom manifesten Trauminhalt auf den latenten Traumgedanken, sondern vielmehr darum, den Zusammenhang vom Traum und der Wirklichkeit zunächst am Traummaterial aufzuzeigen. So schätzt Peter Bürger die Bedeutung des romantischen Dichters Gérard Nerval, insbesondere dessen Aurélia, für die Entwicklung der im Manifest entwickelten Traumtheorie höher ein als die von Freud, da vor allem die Grundintention Bretons, die Gegensätze Traum und Wirklichkeit miteinander zu vereinen, ihre Entsprechung bei Nerval findet.199 Auch scheint die Traumdeutung und der Symbolbegriff von Jung den Auffassungen Bretons und der übrigen Surrealisten näher zu liegen. Betrachtet man die Theorien von Freud und Jung, so ergeben sich interessante Unterschiede, die für das Traumverständnis der Surrealisten aufschlussreich sind. So nahmen die spanischen Surrealisten eine distanziert-ablehnende Haltung gegenüber dem rationalistischen Anliegen der Psychoanalyse ein. Vor allem Buñuel spottete über den Reduktionismus der »an freudianschen Formeln orientierten Deutungsversuchen seiner Filme«: »Die Surrealisten Buñuel, Dalí und Lorca wehren sich gegen die Unterwerfung des Rätselhaften, Wunderbaren unter den rationalistischen Diskurs der Psychoanalyse und entwickeln eine eigene, eine neue Traumästhetik, in der die Visualität und Sinnlichkeit der Traumbilder und eben nicht ihre psychoanalytischen oder symbolischen Sinngehalte im Vordergrund stehen.«200

198 Laut Freud wird der »latente Inhalt« (die »Gesamtheit der Bedeutungen« oder die »Traumgedanken«, die in einem Traum enthalten sind und die die Analyse des Traumes fördern sollen) durch verschiedene Entstellungen in den »manifesten Inhalt« (den zu deutenden, eigentlichen Traum) transformiert. Für Freud stehen also die Traumbilder für etwas anderes, während für Jung das Traumbild der Traum selbst ist und den ganzen Sinn enthält. Vgl. Rainer Zuch: Die Surrealisten und C. G. Jung. Studien zur Rezeption der analytischen Psychologie im Surrealismus am Beispiel von Max Ernst, Victor Brauner und Hans Arp, Weimar: VDG 2004, S. 66. 199 Vgl. Peter Bürger: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 85 & 88ff. 200 Uta Felten: »Buñuels Traumästhetik im karnevalesken Rekurs auf die Récits der Psychoanalyse«, in: Jochen Mecke/Volker Roloff (Hg.): Kino(Ro)Mania, S. 409. 168

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Jung erkennt mehrere Elemente der Freudschen Traumtheorie an. Auch er spricht von »kausal bestimmten Träumen«, d.h. von Träumen als Wunscherfüllung und Schlafbewahrung, deren Ursache in der Vergangenheit liegt, die also auf bewusst erlebte Situationen zurückzuführen sind. Diese Träume sind aber nicht jene, die Jung am meisten interessieren. Er siedelt Träume nach dem Freudschen Modell an der untersten Stufe an. Freud spricht dem Traum außerdem jegliche Originalität ab, während er für Jung ein Beweis für die schöpferische Kraft des Unbewussten ist und aus einer rein unbewussten Tätigkeit resultieren kann. Laut Jung weist der Traum von sich aus auf die notwendige Lösung eines Konflikts und ist »eine spontane Selbstdarstellung der aktuellen Lage des Unbewussten in symbolischer Ausdrucksform«201. Somit erhält der Traum dessen Wirkungskraft über eine symbolische Bildsprache. Auch hier findet sich ein grundlegender Unterschied zu Freud, der der Bildsprache im Traum zwar ebenfalls große Bedeutung einräumt, diese aber über die Analyse der Traumarbeit zu rationalisieren versucht. Die Rede von der Chiffrenschrift der Träume, wie sie bei Jung vorkommt, kann auf die Romantik zurückgeführt werden. Dies ist auch ein Anknüpfungspunkt an den Surrealismus und insbesondere an Breton, dessen Auffassung vom Leben als »chiffrierte Botschaft« nicht zuletzt auf seiner Begeisterung für die deutsche Romantik beruht. Ein gravierender Unterschied zwischen Jung und Freud und somit eine Tatsache, die die Surrealisten näher an Jung als an Freud rückt, ist, dass Freud die Traumbilder nach sprachlichen Mustern formuliert und ihrer sprachlich-rationalen Erfassung große Bedeutung zumisst, während Jung von der Unmittelbarkeit der Traumbilder überzeugt ist und folglich Freuds Theorie von der Traumarbeit ablehnt.202 Für Jung hat die Traumerzählung außerdem einen eigenen Wert, er betrachtet den Traum unter dramaturgischen Gesichtspunkten, die auftretenden Szenerien, Gegenstände und Personen interpretiert er als »personifizierte Züge der Persönlichkeit des Träumers«.203 Die Parallelen zum Surrealismus und zum Medium Film werden an dieser Stelle deutlich: »Eben dieser die surrealistische und avantgardistische Ästhetik bestimmende Versuch, den symbolischen Charakter des Mediums Sprache zu überwinden und das Ding im Bild ›erscheinen‹ zu lassen, findet im filmischen Medium eine kongeniale Verwirklichung. Daraus erklärt sich auch, dass die Filmtechnik als

201 Rainer Zuch: Die Surrealisten und C. G. Jung, S. 64. 202 Vgl. ebd., S. 66. 203 Ebd., S. 67. 169

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die absolute Entsprechung zur literarischen Ästhetik der Avantgarde angesehen werden konnte.«204

Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Breton und Jung ergibt sich daraus, dass beide, analog zur surrealistischen Konzeption, von der Existenz prophetischer Träume ausgehen und somit den Träumen einen deliberatorischen, prospektischen Charakter einräumen, der den Menschen aus seinem Gefängnis befreien könnte. Dies führt zu einer weiteren Parallele, die wiederum einen Anknüpfungspunkt zu Hegel und dessen Konzeption vom Traum als dynamischen Prozess, »im Sinne des realen Widerspruchs, der weitertreibt«205, mit sich bringt. Hegels dialektisches Prinzip spiegelt sich in Bretons Streben wieder, die Trennung von Traum- und wacher Welt in einer höheren Realität, der »Sur-Realität« aufzuheben. Da Jung den Traum- und den Wachzustand als komplementär und in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander stehend ansieht, konzipiert er ihre Beziehung ebenfalls als eine dialektische, die der Hegelschen Definition folgt. »Das Unbewusste hat etwas zu sagen in der hegelschen Dialektik: die surrealistische Strömung ist eine Summe psychischer Experimente mit verschiedenen Arten von Medien, die zum Ziel hat, die verstümmelnden Widersprüche der Realität abzuschaffen. Dies ermöglicht es dem Surrealismus, sich von dieser Dialektik zu befreien. Der Surrealismus disqualifiziert die objektive Welt. Er is, eine Suche nach Freiheit, da er den Geist vom Menschen ablöst.«206

Auch was das Symbol betrifft, teilen Jung und die Surrealisten ähnliche Ansichten. Während für Freud das Symbol ein entschlüsselbares Zeichen ist, das in der Deutung zumindest potentiell vollständig auflösbar ist, stellt dieses für Jung etwas wesentlich Weitreichenderes dar, das über jede konkretisierende Deutungsmöglichkeit hinausreicht. Im Gegensatz zur semiotischen Auffassung des Symbols als etwas Repräsentatives ist das Symbol bei Jung lebendig und dynamisch. Da an seiner Bildung laut Jung die gesamte Psyche einschließlich des kollektiven Unbewussten beteiligt ist, hat ein solches Symbol einen (zumindest partiell) archetypischen Charakter und dient als Mittler zwischen Bewusstsein und Unbewussten. Je nach kulturellem und individuellem Kontext treten immer nur bestimmte Facetten der gleichen Konstellation ins Bewusstsein, wes204 Vittoria Borsò: »Luis Buñuel. Film, Intermedialität und Moderne«, S. 160. 205 Rainer Zuch: Die Surrealisten und C. G. Jung, S. 69. 206 Jean-Luc Rispail: Les surréalistes. Une génération entre le rêve et l’action, Paris: Gallimard 1991, S. 38. 170

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halb ein und dasselbe Symbol in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben kann, jedoch stets über einen gemeinsamen Bedeutungskern verfügt. Der Inhalt eines Symbols lässt sich niemals in Form von Sprache oder Zeichen gänzlich ausdrücken. Dementsprechend werden Symbole laut Jung unabhängig vom Bewusstsein im Unbewussten produziert und können in Form von Intuitionen und Offenbarungen ins Bewusstsein treten. Darüber hinaus hat das archetypisch geladene Symbol eine »prospektive Funktion«, weshalb der Traum in der Lage ist, dem Bewusstsein eine verändernde und verbesserte Richtung zu geben.207 Dieser Gedanke ist auch interessant, wenn man an den prospektiven Charakter des Traumes beispielsweise in Smultronstället denkt, der Isak dazu veranlasst, sein Leben und seine Haltung zu ändern.

Traum und mentale Bilder Das, was Bergman, Téchiné und Medem am stärksten eint, ist wohl die Darstellung einer Art Traumwelt, die neben der Wirklichkeit existiert und immer wieder in den Alltag hereinbricht. In den meisten der hier analysierten Filme kommt der Traum in irgendeiner Form vor, von der einfachen Traumsequenz bis zur vom Traum bestimmten Erzählstruktur. Um das, was eine Figur empfindet, träumt oder sich vorstellt, auf die Leinwand zu bringen, zögern diese drei Regisseure also nicht, den Rahmen der »Wirklichkeit« zu verlassen und sich in eine Fantasiewelt zu begeben, in der die Gesetze der Logik aufgehoben sind. Sie sind jedoch nicht die einzigen Regisseure, die sich einer derartigen Traumästhetik bedienen. Außer dem Surrealismus hat sich u.a. auch das italienische und französische Kino der frühen 60er Jahre mit der Parallele zwischen dem Träumen und dem Filmsehen beschäftigt. Zwei hervorstechende Beispiele sind hierfür Alain Resnais‹ L’Année dernière à Marienbad (1961) und Federico Fellinis 8½ (1963). Die Linearität der Erzählung in diesen Filmen weicht der Imitation des Tagträumens, sodass es unmöglich ist, klar zwischen (diegetischer) Wirklichkeit und Phantasiewelt zu unterscheiden.208 Sowohl Resnais und Fellini, als auch Buñuel und Bergman (um nur einige zu nennen), waren zu dieser Zeit bahnbrechend, was die Darstellung von Träumen und Visionen im Film betrifft, da sie über die thematischen, symbolischen und literarischen Konnotationen hinaus die Parallelen zwischen dem Traum und dem Kino erforschten und filmisch umzusetzen versuchten. Im Gegensatz zu vielen anderen begnügten sie 207 Vgl. Rainer Zuch: Die Surrealisten und C. G. Jung, S. 72. 208 Vgl. Vlada Petriü (Hg.) : Film and Dreams. An Approach to Bergman, South Salem: Redgrave Publishing Company 1981, S. 43. 171

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sich nicht damit, die Zuschauer durch bizarre Ereignisse oder unzusammenhängende, für symbolische Interpretationen offene Bilder nur an ihre Träume zu erinnern, sondern sie entwickelten Strategien, um in den Zuschauern Reaktionen zu wecken, die dem Traumzustand ähnlich sind.209 So kommt in Buñuels Filmen seit Un chien andalou mindestens eine Sequenz vor, die einen Traum darstellt. Dieser Film gehört zu den wenigen Stummfilmen, die die zwiespältige Raum-Zeit-Struktur, die dem Traumprozess innewohnt, erforschen. Auch Los olvidados (1950) und Robinson Crusoe (1952) enthalten interessante Traumsequenzen, Belle de jour (1966) ist ein typischer Tagtraum-Film, dessen Struktur dem unvorhersehbaren Lauf des Unbewussten folgt, und Le Charme discret de la bourgeoisie und Cet object obscur du désir ahmen den Bewusstseinsstrom nach.210 Die Frage stellt sich nun, worin sich Bergman von übrigen Regisseuren unterscheidet, die ebenfalls durch den Film ihre eigenen Träume ausdrücken. Bergmans Träume sind Offenbarungen: »In his tragic vision, he uses them as exorcism in a psychological and religious sense.«211 Strukturell gesehen bewegen sich die Träume bei Bergman nach innen und legen das verborgene Innere der Figuren offen. Im Gegensatz dazu sind Fellinis Träume Wunscherfüllungen. In seiner komischen Vision wendet er sie als ein narzisstisches Spiel an, und seine Träume bewegen sich kreisförmig, mit seinem eigenen Ego als Gravitationszentrum. Buñuels Träume wiederum sind albtraumartige Fallen: »In his satiric vision, he uses them as subversive anarchy in a political sense.«212 Seine Träume bewegen sich strukturell gesehen nach außen und sind Ausdruck für den Protest gegen Konventionen und das Streben nach Freiheit. Somit ergeben sich Unterschiede zwischen diesen drei Regisseuren, sowohl was den Stil betrifft, als auch deren persönliche Träume, auf denen die Filme basieren. Ingmar Bergman Der Traum zieht sich wie ein Schlüsselbegriff durch Ingmar Bergmans Karriere sowohl als Film- als auch als Theaterregisseur. Ab Såsom i en spegel kommen vermehrt Traumsequenzen in seinen Filmen vor. Während die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit in den Filmen der 50er Jahre zwar fließend, jedoch für den/die ZuschauerIn noch klar erkennbar ist, nimmt in seinen späteren Werken auch die Wirklichkeit die Gestalt des Traumes an, sodass weder eindeutig festzumachen ist, ob es 209 210 211 212

Vgl. ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 45f. Ebd., S. 58. Ebd. 172

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sich um einen Traum handelt, noch wer der/die Träumende ist. Bergmans Befassung mit dem Traum reicht von der Integration einer oder mehrerer Traumsequenzen in die Erzählung bis zur den Traum imitierenden Erzählstruktur. Was Bergman jedoch zu einem der wichtigsten Vertreter des traumbehafteten Films macht, ist seine originelle und subtile Art, den Traum in Filmsprache zu übersetzen. Indem er die Ähnlichkeiten zwischen dem Traumzustand und dem Filmsehen erforschte, gelang es ihm, die Anwendung von Traumelementen nicht auf erzähltechnische Funktionen zu reduzieren. Wie Bergman oft genug selbst betonte, so ermöglichte ihm der Film, seine Träume und die Bilder in seinem Kopf künstlerisch umzusetzen: »This medium gave me the possibility of making myself understood in a language that surpassed the words of which I was bereft, the music that I had not mastered, the painting that left me indifferent. Suddenly I felt capable of communicating with another by the help of a language that, literally, speaks from soul to soul, in expressions that escapes the control of the intellect almost voluptuously. […] It is a good idea to suddenly wake the audience up for a moment and then plunge them into the dramatic action again, as when you continue to dream after being briefly awakened.«213

Dieser konstante Wechsel zwischen dem Eintauchen in den/die Traum/Fiktion und dem Wiederaufwachen ist zentral für Bergmans Traumdarstellung und hält den Zuschauern ständig die dialektische Beziehung zwischen objektivem und subjektivem Erleben, zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dem Traum und der Realität vor Augen. Auch die Tatsache, dass sich Bergman, wie Medem, immer wieder derselben Namen, Gesichter, Figuren, Situationen, Bilder und Themen bedient, die sich wie ein Grundmuster durch sein gesamtes Werk ziehen, erinnert an den Traum: »[T]his pattern of recurrence with variations creates the effect of fluid transformations and displacements so characteristic of dreams.«214 Smultronstället Smultronstället ist ein Beispiel für einen Film, der nicht nur Traumsequenzen enthält, sondern dessen gesamte Struktur, ähnlich wie Buñuels Belle de jour, vom unvorhersehbaren Strom des Unbewussten bestimmt ist. Auffallend ist wie bereits erwähnt der Einfluss von August Strindberg und dessen Traumspiel-Ästhetik, die vor allem in Ein Traumspiel zur vollen Geltung kommt. Auch im Kammerspiel Spöksonaten (Gespenster213 Zit. nach ebd., S. 52. 214 Ebd., S. 59. 173

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sonate) schmilzt das Alltägliche mit dem Übernatürlichen zusammen. Laut Egil Törnqvist verweist Bergman in Smultronstället mehrmals auf den schwedischen Dramatiker: die Prüfungsszene ist das Pendant einerseits zur Schulszene in Ein Traumspiel, andererseits zur Asylszene im Drama Till Damaskus (Nach Damaskus).215 Isaks erster Albtraum erinnert mit seiner Ästhetik des chiaroscuro und den menschenähnlichen Gebäuden mit Fenstern und Türstöcken, die wie geschlossene Augen und aufgerissene Münder aussehen, außerdem an den deutschen Expressionismus und den französischen Surrealismus der späten 20er Jahre216, ebenso wie an die surrealistischen Klassiker Entr’acte (die Kutsche ohne Fahrer und der Sarg, der aus der Kutsche fällt) und Un Chien andalou (das abgetrennte Auge).217 Die Traumszenen in Smultronstället nehmen ein Drittel der gesamten Spielzeit ein und folgen dem Muster: Albtraum, nostalgischer Traum, Albtraum, nostalgischer Traum. Das Besondere an diesen Traumszenen ist auch, dass sie eine Art Mischung aus Traum und Erinnerung darstellen. Es handelt sich hier nicht um reine flash-backs, da in Isaks Träumen Ereignisse vorkommen, die zwar von großer Bedeutung für sein Leben waren, an denen er jedoch nicht selbst teilgenommen hat. So zum Beispiel die erste nostalgische Traumszene: Isak begibt sich in den Wald und trifft auf das Sommerhaus, in dem er bis zum 20. Lebensjahr mit seinen zehn Geschwistern die Sommerferien verbrachte. Er sieht wilde Erdbeeren, die in ihm Erinnerungen und Sentimentalität auslösen. Dann beginnt die eigentliche Traumszene, die, von der Ich-Stimme begleitet, die Form eines flash-backs annimmt. Von seinem Blickpunkt aus wird das leer stehende Haus gefilmt, doch dann erzeugt eine Überblendung ein mentales Bild und das Haus verwandelt sich in das jenes von damals. Nach einer Großaufnahme von Isaks Gesicht folgt wiederum eine Überblendung auf Bäume, Wolken und die wilden Erdbeeren. Der/die ZuschauerIn befindet sich nun gemeinsam mit Isak in der Vergangenheit und erlebt das Gespräch zwischen Isaks Verlobten Sara und seinem Bruder Sigfrid mit. Dass es sich hier jedoch nicht um eine Erinnerung, sondern mehr um eine Vorstellung handelt, erklärt sich daraus, dass, wie man später erfährt, Isak mit seinem Vater zum Angeln gegangen ist und somit nicht anwesend sein konnte. Isak muss sich dieses Gespräch also später zusammengereimt haben. Genauso verhält es sich mit der Sequenz in der zweiten Traumszene (die gleich wie die erste durch eine Überblendung und die Ich-Stimme eingeleitet wird), in der Isak von außen durch ein Fenster Sara und Sigfrid beobachtet, wie sie sich küssen und 215 Margareta Wirmark: Smultronstället och dödens ekipage, S. 40. 216 Birgitta Steene: Ingmar Bergman, S. 75. 217 Vlada Petriü (Hg.): Film and Dreams, S. 63. 174

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gemeinsam essen. In Isaks Träumen vermischen sich also teils seine Erinnerungen, teils seine eigenen Vorstellungen und sein Unbewusstes, das in Form von Schuldgefühlen an die Oberfläche tritt. Doch werden auch gewisse Aspekte aus der Gegenwart im Traum verarbeitet, wie das Ehepaar Alman, das in seinem Albtraum vorkommt. Bergman zögert hier auch nicht, Ungereimtheiten in seine Erzählung einzubauen – beispielsweise die Tatsache, dass die junge Sara Isak am Ende des Films zuruft: »Verstehst du, dass du es bist, den ich liebe?! Heute, morgen und alle Tage!« In die Filmgeschichte eingegangen ist auch der Albtraum zu Beginn des Films, der den weiteren Verlauf der Erzählung bestimmt. In diesem Traum sieht Isak seinen eigenen Tod: er geht durch eine ausgestorbene Stadt, in der jegliche Uhren die Zeiger verloren haben. Auch seine eigene Taschenuhr besitzt keine Zeiger mehr, während sein Herzschlag wie das Ticken einer Uhr zu hören ist. Die Zeit, so scheint es, ist stehen geblieben, und Isak ist mit seinem eigenen ausrinnenden Leben konfrontiert. Er sieht einen Mann, der ihm den Rücken zuwendet. Als Isak ihm auf die Schulter klopft, dreht dieser sich um, und mit Entsetzen stellt Isak fest, dass er kein Gesicht hat. Plötzlich bricht der Mann zusammen und entleert sich wie ein Getreidesack. Was von ihm übrig bleibt sind Blutspuren. Dieser Mann ohne Gesicht, den Isak zuerst für einen lebenden Menschen hält, der sich dann aber als tot erweist, ist eine Art Doppelgänger Isaks.218 Eine Glocke läutet, und Isak sieht schließlich eine Kutsche ohne Fahrer, die gegen eine Laterne stößt, woraufhin der Sarg, der sich in der Kutsche befindet, herausfällt und dessen Deckel sich öffnet. Als Isak hineinblickt, erkennt er niemand anderen als sich selbst. Der tote Isak im Sarg will den lebenden mit in den Sarg ziehen, wogegen sich dieser erschrocken wehrt. Dass der lebende Tote Isaks Spiegelbild ist, wird dadurch verstärkt, dass diese Sequenz in einer Reihe von Schuss-/Gegenschussaufnahmen gefilmt wird: wir sehen zuerst den Toten im Sarg durch Isaks Augen und diesen durch die Augen des Toten, wobei sich die Großaufnahmen in immer kürzeren Abständen ablösen, bis die Gesichter fast miteinander verschmelzen. Nach einem Zoom auf Isaks Gesicht folgt nach einem kurzen Schnitt eine Großaufnahme von ihm, wie er in seinem Bett von seinem Albtraum erwacht. Dieser Traum ist also ein Spiegelbild für Isaks Leben und eine Voraussage für all das, was später geschehen soll. Später taucht die Taschenuhr ohne Zeiger bei dessen Mutter wieder auf, woraufhin Isak begreift, dass dieser Traum kein gewöhnlicher Traum war, sondern die Funktion eines Spiegels hatte. Isak begreift, dass er ein »lebender Toter« ist (ein Verweis auf Henrik Ibsen)219 und dass er 218 Vgl. Egil Törnquist: Filmdiktaren Ingmar Bergman, S. 49. 219 Vgl. Margareta Wirmark: Smultronstället och dödens ekipage, S. 8. 175

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an einem Punkt in seinem Leben angelangt ist, wo sich jegliche Zeitgrenzen aufheben. Persona Während in Smultronstället die Traumszenen noch klar als solche zu erkennen sind, ist in Persona ebenso wenig klar, welche Sequenzen der Erzählung und welche dem Traum zuzuordnen sind, wie ob der jeweilige Traum durch Almas oder Elisabets Unbewusstes ausgelöst wird. Vielmehr scheint es der Film selbst zu sein, dessen Gefühle, Ängste und Begehren den Erzählfluss bestimmen. Diesbezüglich erinnert der Film erneut an Un Chien andalou: »Un Chien andalou is a film composed entirely of visual formulations of (sexual) desires and fears. But these desires and fears are not anchored in a character; they are figures generated by film text itself – a text whose dynamics are modeled upon the rhetorical figures of unconscious thought.«220

Auch dieser Film weist, über einzelne Traumsequenzen hinaus, als Ganzes die Struktur eines Traumes auf, vor allem in der Einleitungssequenz: »[T]he introduction to Persona is purely dreamlike on the structural level. As such, it encapsulates the disjointed narrative flow of the entire film, which subverts its own spatio-temporal continuity, turning it into a nightmarish dream.«221

Der teilweise unzusammenhängende Erzählstrang sowie die Tatsache, dass die Erzählung mit dem Jungen, der den Bildschirm berührt, sowohl beginnt als auch endet, könnten darauf hinweisen, dass die gesamte Erzählung über Alma und Elisabet nur ein Traum – der Traum des Jungen – ist. Wie bereits erwähnt, kommen innerhalb der Erzählung Stellen vor, die unlogisch erscheinen. Sowohl die Sequenz, in der Elisabet Alma von hinten übers Haar streicht und diese im Nacken küsst, als auch jene, in der Alma auf Herrn Vogler stößt, haben traumähnliche Züge. Die Szene, in der Alma Herrn Vogler begegnet, wird mit Alma eingeleitet, die sich im Bett hin- und herwälzt. Man sieht ihr Gesicht verkehrt im Bild, was an das Bild der alten Frau im Leichenschauhaus aus der Einleitungssequenz erinnert. Man könnte sagen, dass die (Traum) Szene Almas doppelten Monolog und die Sequenz im Krankenhaus, in der Alma Elisabet zum Reden zwingt, umfasst und mit der Aufnahme von Elisabet, die Alma von hinten berührt, endet. Dass es sich bei all dem möglicherweise 220 Linda Williams: Figures of Desire, S. 51f. 221 Vlada Petriü (Hg.): Film and Dreams, S. 47. 176

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um Almas Traum handelt, könnte man daraus schließen, dass die Szene mit einer Weißblende beendet wird, woraufhin Alma in ihrem Bett erwacht. Der Traum drückt letztendlich auch Almas Angst aus, Elisabets Identität anzunehmen, weshalb es stimmig wäre, den Traum auf Alma zurückzuführen. Dasselbe gilt für die erste Traumsequenz, in der Elisabet Alma von hinten übers Haar streicht: bevor die beiden ins Bett gehen, legt Alma ihren Kopf auf den Tisch, und man hört eine (gespenstische) Stimme flüstern, dass sie ins Bett gehen solle. In der darauf folgenden Sequenz, in der Elisabet (die Filmkamera) fotografiert, fragt Alma Elisabet, ob sie gestern mit ihr gesprochen habe oder ob sie bei ihr gewesen wäre, doch Elisabet verneint dies. Es bleibt hier also die Frage offen, ob Alma all dies nur geträumt hat oder ob Elisabet ein Spiel mit ihr treibt. Viskningar och rop »In Persona und Das Schweigen kamen bereits diese fließenden Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Fantastischen vor, zwischen dem Traum und dem Phantasma. Schreie und Flüstern übernimmt unterschwellig dasselbe Prinzip und verleiht damit der gesamten Erzählung eine elegante Atmosphäre der Unsicherheit.«222

Obwohl Viskningar och rop in vielerlei Hinsicht verständlicher ist als Persona, ist auch hier die Erzählstruktur nicht linear, sondern basiert auf dem freien, an den Traum erinnernden Fluss von Assoziationen, was durch die vermehrte Verwendung von Schwenks (vor allem in Agnes‹ Sterbeszene und in der Darstellung von Annas Figur) noch verstärkt wird. Wie bereits erwähnt, ist bereits bei den flash-backs nicht mit Sicherheit festzustellen, ob es sich um eine reine Erinnerung oder eine Traumvorstellung handelt. Die Großaufnahmen und die Rotblenden dienen dazu, die Sequenzen als subjektiv zu markieren (im Fall von Maria und Karin erscheint das rote Bild, nachdem die Frauen die Augen geschlossen haben, als ob das Rot das Innere des Augenlides wäre), was dadurch zusätzlich hervorgehoben wird, dass die Aufnahmen von Flüstern begleitet werden – flehende Stimmen von der anderen Seite der (Wirklichkeits-)Grenze, die zum/zur ZuschauerIn hinrufen. Die Sequenz, die am meisten an den Traum erinnert, ist jedoch diejenige, die auf Anna zurückzuführen ist und die Agnes‹ Auferstehung (oder besser gesagt, ihr Leben nach dem Tod) zeigt: Anna befindet sich in ihrem Zimmer, als sie das Weinen eines Kindes vernimmt. Aus der Sequenz zu Beginn des Films, in der man Anna sieht, wie sie für ihre verstorbene Tochter betet, kann man schließen, dass es sich hier um eine innere, auditive Fokalisierung handelt, die Anna diese Laute als jene 222 Jacques Aumont: Ingmar Bergman, S. 163. 177

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ihres Kindes wahrnehmen lässt. Kurz darauf ist das Stöhnen der bereits verstorbenen Agnes zu hören, die um Hilfe fleht. Als Anna in Agnes‹ Zimmer kommt, blickt sie auf die Tote. Dann folgt ein schneller Zoom auf Agnes‹ Gesicht, auf dem Tränen über die Wangen rollen. Der unerwartete Winkel, aus dem gezoomt wird, verleiht dieser Aufnahme, in Kombination mit den Tränen, die über das bleiche Gesicht der Toten rollen, ebenfalls etwas Unwirkliches. Anna meint denn auch »Es ist nur ein Traum, Agnes«, als wolle sie, die all das träumt, sich vergewissern, dass es sich hier um einen Traum handelt. Doch Agnes antwortet darauf: »Nein, es ist kein Traum. Für euch ist es vielleicht ein Traum, aber nicht für mich.« Nachdem wenig später die tote Agnes Maria zu küssen versucht, flüchtet diese entsetzt aus dem Zimmer, was in albtraumähnlichen, dunklen Aufnahmen dargestellt wird. Dass es sich hier um Annas subjektive Vorstellung handelt, geht aus der Großaufnahme ihres halbbelichteten Gesichtes sowie den Rotblenden hervor, die bereits zuvor die mentalen Bilder eingeleitet haben. Diese Sequenz endet auch, ebenso wie jene von Maria und Karin, mit einer Umkehrung dieser Bilderfolge: eine Rotblende, eine Überblendung auf die Großaufnahme des Gesichtes und wiederum eine Rotblende. Bergman geht es bei der Traumdarstellung in seinen Filmen also vor allem darum, den Traumprozess selbst zu imitieren, wobei er die Grenzen zwischen (diegetischer) Realität und Traum immer wieder nahtlos ineinander überfließen lässt, wodurch die Zuschauer gezwungen werden, diese Grenzen selbst zu erkennen. Marilyn Blackwell Johns sieht darin auch das Potential für eine feministische Interpretation, da durch die Hinterfragung der Grenzen auch der dominante männliche Diskurs in Frage gestellt wird. »[T]he spectator is challenged to question what is real and what is fantasy, itself very much a feminist enterprise, since, as many critics have pointed out, specificity of meaning, of identity, and of spectator identification is in and of itself a reinforcement of traditional systems of discourse.«223

André Téchiné »Téchiné legt das Aneinandergrenzen zweier Welten offen – die Wirklichkeit und ihre Kehrseite – und vor allem die Fähigkeit dieser zwei Welten, nicht nur miteinander in Berührung, sondern, durch ein Spiel des geheimen Transfers, der kommunizierenden Röhren, in eine Wechselbeziehung zu treten. […] Das, was Téchiné fasziniert, ist diese zwei Register sich begegnen und überlagern zu 223 Marilyn Blackwell Johns: Gender and Representation in the Films of Ingmar Bergman, S. 205. 178

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lassen, ohne dass jemals das eine stärker als das andere wäre, als ob es niemals eine Wirklichkeit ohne ihr imaginäres oder phantasmatisches Double gäbe – eine Thematik, die Téchiné besonders am Herzen liegt […].«224

Bereits ab seinem ersten Film Paulina s’en va hat André Téchiné stets Stellen in seinen Filmen eingebaut, in denen eine Art Traumwelt durch die (Film-)Wirklichkeit durchscheint. »Paulina ist bereits eine romanhafte Figur: man braucht nur ›Roman‹ durch ›Kino‹ ersetzen (das Kino ist der Roman des 20. Jahrhunderts) und man wird feststellen, dass Paulina in einer Welt der Bilder lebt, genauso wie ihre Schwestern aus der Vergangenheit in einer Welt lebten, wo die Wörter nach den Bildern riefen. Wenn das Romanhafte nicht ohne das Unmögliche (oder ohne das Verbotene, wobei es das eine oftmals nicht ohne das andere gibt) und ohne das Verlangen, gegen dieses anzukämpfen, existiert, dann ist die Schimäre nicht weit, die Paulina zum Spiegel führt, den sie, eine schlafende Reisende, Heldin eines daydream, der ebenso gefährlich wie aufregend ist, durchqueren muss.«225

Auch Rendez-vous und Barocco zeichnen sich durch einen starken Bezug zum Traum aus. In seinen späteren Filmen geht es Téchiné jedoch weniger um die Darstellung dieser Traumwelt selbst, sondern mehr um die Anwendung von Traumelementen, um den Gefühlszustand seiner Figuren zu beleuchten. Daher kommen Traumsequenzen nur vereinzelt vor, sind dafür aber umso aussagekräftiger. Obwohl die Verbindung zwischen Téchiné und dem Surrealismus nicht so offensichtlich ist, wie dies bei Bergman und Medem der Fall ist, so finden sich auch hier einige Parallelen: »Vom Surrealismus hat Téchiné […] nicht das gesamte Erbe bewahrt, nur das, was die seine Größe ausmachte: die Begegnung, den hasard objectif, die Aufarbeitung einer traumhaften, surrealen Welt.«226

Was den hasard objectif betrifft, so ist Le Lieu du crime ein gutes Beispiel, wo die Anhäufung von Begegnungen und Zufällen die Erzählung an die Grenzen des Glaubwürdigen treibt.227 Während in Medems Filmen die Magie des Zufalls teilweise absurde Züge annimmt, bemüht sich Téchiné (zumindest in seinen späteren Filmen) darum, den Rahmen einer 224 225 226 227

Alain Phillipon: André Téchiné, S. 26 & 31. Ebd., S. 74. Ebd., S. 32. Alain Phillipon: André Téchiné, S. 129. 179

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logischen Lesart nicht zu überstrapazieren. Eine interessante Parallele zwischen Téchiné und dem Surrealismus ist neben dem Einfließen einer Traumwelt in den Alltag auch das Genrespiel, das Téchinés frühere Filme auszeichnet. »Sowohl die auf den ersten Blick realistisch anmutenden Filme wie Las hurdes (1932) oder Los olvidados (1950) – als Ausschnitte der spanischen und mexikanischen Wirklichkeit – als auch tendenziell kommerziell ausgerichtete Filme wie El (1952), La ilusión viaja en tranvía (1953) oder Ensayo de un crimen (1955) sind von einer Ästhetik verschachtelter Bildebenen, von Träumen und Halluzinationen überzogen, die den filmischen Diskurs immer wieder aufbrechen und in seinem Genrespiel, seinen Mehrdeutigkeiten und medialen Konstruktionen ausstellen und reflektieren.«228

Das, was Téchiné in Bezug auf seine Traumästhetik in die Nähe von Bergman rückt, ist das Auftreten des Traums in Form eines erschreckenden Albtraumes, der von Gewalt begleitet wird. Dieses Gewalttätige, Unheimliche verbirgt sich – ähnlich wie bei den Surrealisten – hinter dem Alltäglichen, Banalen. Häufig sind es (Kindheits-)Erinnerungen, verdrängte Gefühle oder Sehnsüchte, die sich mit Gewalt einen Weg an die Oberfläche verschaffen. Der Gegensatz zwischen dem Zauber und dem Schrecken zieht sich insgesamt wie ein roter Faden durch Téchinés Werk. »›Ursprüngliche Bilder‹ muss man auch in der Hinsicht verstehen, als sie auf das […] Urkino verweisen, das dieses Urbild, dieses ursprüngliche Bild übermittelt, deren Abwandlungen sich bei scheinbar so unterschiedlichen Filmemachern wieder findet wie Ingmar Bergman, Philippe Garrel, Alfred Hitchcock oder André Téchiné, deren Ästhetik und Thematik auf ihrer Überzeugung oder Intuition beruht, dass jedes Bild mit der dreifachen Problematik der Kindheit, des Schreckens und der Verführung zu tun hat: […] die Filme von Téchiné, oft im Konflikt mit der Kindheit, bewegen sich in einem magnetischen Feld, das durch die zwei Pole des Schreckens und der Verführung erzeugt wird […].«229

Ma saison préférée In Ma saison préférée kommt ein interessantes Beispiel für ein traumbehaftetes, mentales Bild vor: Antoine läuft in jener Nacht, als Emilie bei ihm übernachtet, nach Hause, da er eine Vorahnung hat, als er das Lied der alten Dame in der Bar hört, das von Zeit und Vergänglichkeit han228 Scarlett Winter: »Das surrealistische Auge. Inszenierungen der Schaulust bei Buñuel, Dalí und Almodóvar«, S. 113. 229 Alain Phillipon: André Téchiné, S. 12f. 180

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delt. Er läuft, als wolle er die Zeit zurückdrehen. Als er in seiner Wohnung angekommen ist, sieht er das leere Bett, in dem Emilie zuvor gelegen ist. Zaghaft und angsterfüllt bewegt er sich auf das offene Fenster zu, wobei abwechselnd das Fenster und Antoine (von vorne und von hinten) gezeigt werden. Er geht mit Blick in die Kamera auf diese bzw. das Fenster zu. Die letzte Aufnahme wird aus Antoines Blickpunkt gezeigt, wie er sich aufs Fenster zubewegt und hinabblickt, wo man Emilie blutüberströmt auf dem Boden liegen sieht. Dieses mentale Bild wird dann wie ein Schwarzweißfoto festgehalten, während man einen Wecker klingeln hört. Diese realen Töne reißen Antoine aus seiner Vision heraus, und es folgt ein Schnitt auf Emilie, die im Bett liegt und den Wecker abstellt. Dadurch wird klar, dass es sich zuvor nur um Antoines Vorstellung handelte. Alice et Martin Ähnlich wie in Smultronstället und Ma saison préférée wird auch hier ein Erwachsener mit seiner Kindheit konfrontiert und dies filmisch dargestellt: Martin sitzt im Regen auf einer Parkbank der Psychiatrie, man sieht sein Profil in einer Großaufnahme. Diese Aufnahme wird von einem Bild vorbeiziehender Äste überblendet. Es folgen in Überblendungen zuerst eine Großaufnahme seines Vaters, dann eine von Martin als Kind (beide schräg von der Seite und durch ein Gitter gezeigt). Daraufhin, wiederum nach einer Überblendung, sieht man in einer Amerikanischen Einstellung den erwachsenen Martin von hinten auf der Bank sitzen, links von ihm steht der kleine Martin und auf der anderen Seite sitzt der Vater. Dieselbe Einstellung folgt nochmals von der Seite und, nach einer weiteren Überblendung, etwas mehr aus der Ferne. Téchiné stellt also Martins Konflikt mit seiner Kindheit und seinem Vater dar, indem er den kleinen Martin und den Vater erscheinen und neben ihn hinsetzen lässt, obwohl die beiden natürlich in Wirklichkeit nicht anwesend sind. Dadurch macht der Regisseur klar, mit welchen Dämonen Martin zu kämpfen hat und wie sehr er sich eine Vereinigung mit dem Vater und der verlorenen Kindheit wünscht. Doch ähnlich wie Emilies Mutter in Ma saison préférée ihrer Tochter den Rücken kehrt, sitzt auch hier der Vater mit dem Rücken zum Sohn. Eine weitere Sequenz, in der die Vorstellung einer Figur durch eine Art mentales Bild vermittelt wird, ist jene, in der Alice sich im Haus der Sauvagnac befindet und einen Blick auf die Treppe wirft, die Martins Vater damals herabgestürzt ist. Der Blick auf die Treppe wird zwar nicht aus ihrem Blickpunkt gezeigt, da sie noch im Bildrahmen sichtbar ist. Dass es sich hier jedoch trotzdem um eine Art mentales Bild handelt, wird dadurch klar, dass sich die Treppe unter ihrem Blick verdunkelt, als

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ob sie sich an etwas zurückerinnere, das sie zwar selbst nicht erlebt hat, das sie jedoch durch Martins Erzählung nachempfinden kann. Nach diesem Erlebnis läuft sie bestürzt nach draußen und ringt nach Luft. Les Roseaux sauvages Um ein mentales Bild handelt es sich auch in der Sequenz in Les Roseaux sauvages, in der Madame Alvarez sich im Krankenhaus befindet und plötzlich Serges Bruder Pierre vor sich sieht. In diesem Fall wird das Bild nicht durch eine Assoziation, ein Geschehen oder dergleichen hervorgerufen, sondern rein durch Madame Alvarez‹ Gefühlszustand und ihre Schuldgefühle. Julio Medem Was den Traum in den Filmen von Julio Medem betrifft, so wurde der Regisseur sicherlich von anderen spanischen Regisseuren beeinflusst, insbesondere durch Luis Buñuel und Carlos Saura, der selbst wiederum von Buñuel beeinflusst wurde.230 Auch Saura versuchte in Filmen wie Peppermint Frappé (1967) davor zu warnen, Francos kulturelle Propaganda für bare Münze zu nehmen, indem er innerhalb der Filmerzählung die Träume, Vorstellungen und Gefühlszustände der Figuren aufzeigte und die Wirklichkeit als ein Konstrukt offen legte.231 Ähnlich wie in Medems Filmen schließt die Realität in Sauras Filmen immer auch das Imaginäre ein, wobei die Vergangenheit nicht mehr als solche betrachtet, sondern in Bezug auf die Realität interpretiert wird.232 An dieser Stelle kann eine kurze Unterscheidung zwischen Buñuel und Saura von Interesse sein, um Medem besser unter ihnen einordnen zu können: während Saura durch den Einsatz der assoziativen Montage Hinweise auf die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Phantasie liefert, lässt Buñuel diese entsprechend des surrealistischen Prinzips offen. Saura bleibt stets der Realist, der, ähnlich wie Téchiné und auch Bergman, den Horror aus der Realität entwickelt und ihn auf die psychische Wirklichkeit des Innenlebens einer Person oder einer Gesellschaft rückprojiziert. Er zeigt das, was das innere Auge einer Person zu sehen imstande ist, zeigt es aber immer in Verbindung mit einer wirklichen Person mit vollständig glaubwürdigen und in einem kognitiv plausiblen Sinne erfassbaren Trauma.233

230 So erinnert beispielsweise Sauras Cría cuervos (Züchte Raben) an Buñuels Los Olvidados (Die Vergessenen) und Peppermint frappé an L’Age d’or (Das goldene Zeitalter). 231 Rob Stone: Spanish Cinema, S. 67. 232 Henri Talvat: Le Mystère Saura, S. 31. 233 Gertrud Koch, zit. n. Renate Gompper: »Luis Buñuel und Carlos Saura. Inspirationen, Differenzen und Parallelen«, S. 267. 182

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»An dieser Stelle lässt sich die grundlegende Differenz zwischen Buñuel und Saura zusammenfassen wie folgt: während die Achsen Surrealität – Realität Buñuel zugeordnet werden können, gelten für Saura die Achsen Realität – ›Hinter-der-Realität‹. Buñuel erscheint in vielen Filmen als Anti-Rationalist; Saura ist, mehr als Buñuel, als Intellektueller auf der Suche nach dem, was sich hinter der unmittelbar erfahrbaren, alltäglichen Realität verbirgt. Nicht der ›surreale Akt‹, sondern die Analyse der Zustände – der aber immer ein offener Interpretationsspielraum zukommt – herrscht vor. Selbst ein ›surreales‹ Bildmotiv oder eine ›surreale‹ Imaginations- oder Traumsequenz lassen sich bei Saura auf die psychische Welt der Protagonisten zurückführen […].«234

Buñuels Traumbilder und Visionen legen hauptsächlich die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unterdrückten, geheimen und subversiven Triebe der Individuen offen. Obwohl es auch Saura darum geht, die bürgerliche Gesellschaft, die katholische Religion, das politische System und Spaniens Vergangenheit zu entmythologisieren, so ist der Film für ihn in erster Linie »Erinnerung und Phantasie«. Ähnlich wie Bergman, Téchiné und Medem sieht auch er den Film als sein ganz persönliches Ausdrucksmittel.235 Das, was Medem wohl am stärksten mit den Surrealisten verbindet, ist der hasard objectif, die assoziative Montage, die Verwendung typischer Symbole wie der Mond oder das Auge als Schwelle zu einer Welt außerhalb der realen und die zentrale Bedeutung der Natur. Eine weitere interessante Parallele zwischen Medem und dem Surrealismus ist die vorherrschende Kreisform, wie sie beispielsweise in Un chien andalou vorkommt (das Auge, der Mond, der kreisförmige Haarkranz, der Kreis der schaulustigen Passanten, der Suchscheinwerfer, die Irisblende etc.). Das Kreismotiv dient dabei nicht nur als Signal für die Bedeutung und Funktion des Sehens, sondern deutet auch auf das »traumästhetische Prinzip des Kreisens und des virtuellen Kreislaufs […], in dem jedes Bild als Aktualisierung des vorherigen erscheint bzw. virtuelle Funktion übernimmt, um sich in einem nachfolgenden dritten zu aktualisieren«236. Was die Träume in Medems Filmen betrifft, so lassen jedoch auch sie sich meist von einer Figur ableiten, was ihn diesbezüglich näher an Saura, Bergman und Téchiné rückt als an Buñuel, auch wenn oftmals eine den Filmen innewohnende absurde Grundstimmung über den Realitätsbezug hinwegtäuscht. Auch fehlen in Medems Filmen die für den Surrealismus 234 Renate Gompper: »Luis Buñuel und Carlos Saura. Inspirationen, Differenzen und Parallelen«, S. 267. 235 Vgl. ebd. 236 Scarlett Winter: »Das surrealistische Auge. Inszenierungen der Schaulust bei Buñuel, Dalí und Almodóvar«, S. 111. 183

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so typischen »Schockbilder«, und seine Darstellung des Traumes erfolgt über eine poetische, äußerst persönliche Bildsprache. Los amantes del círculo polar In Los amantes del círculo polar herrscht eben diese »atmósfera de lo absurdo«237, die absurde Grundstimmung: so viele Zufälle und Unwahrscheinlichkeiten reihen sich hier aneinander, dass sich gerade dadurch das Gefühl ergibt, alles wäre möglich. Vor allem am Ende des Films häufen sich diese unglaublichen Zufälle und geben den Anschein, als stünde alles auf magische Weise miteinander in Verbindung: die Tatsache beispielsweise, dass Olgas neuer Lebensgefährte genauso wie Ottos Vater Álvaro heißt und der Sohn von Otto el piloto ist; dass eben dieser Otto mit einer Spanierin verheiratet war (genauso wie sein Sohn nun mit einer Spanierin zusammen ist) und eine Hütte am Polarkreis besitzt; und dass Otto als Kurier zwischen Spanien und Finnland tätig ist und dass all diese Umstände die beiden Liebenden an den Polarkreis führen. Medem macht hier den magischen Zufall selbst zum Thema, der immer wieder in den Alltag hereinbricht. Eine weitere Sequenz, die den Rahmen der wirklichkeitsgetreuen Erzählung verlässt, ist jene, die auf den Tod von Ottos Mutter folgt. Von Schuldgefühlen geplagt, will Otto sich das Leben nehmen, indem er, mit Ana im Rücken, auf dem Rodelschlitten den Abgrund hinabfährt. Interessanterweise lässt sich Ana in Ottos Version selbst vom Schlitten fallen, während in Anas Version, die auf Ottos folgt, klar hervorgeht, dass Ottos Vater diese vom Schlitten reißt. Die eigentliche Traumsequenz beginnt, nachdem Otto vom Schlitten gefallen ist: er fliegt über den Abgrund und landet im Schnee, wo ihn ein in dicken Pelz verhüllter Mann findet. Otto fährt auf dem Rücken dieses Mannes auf Schiern nach oben, so, als wolle Otto die Zeit zurückdrehen und somit in die Zeit zurückflüchten, in der noch keine Schuld auf seinen Schultern lastete. Dann bringt ihn der Mann in eine Hütte, wo Ana auf ihn wartet. Doch Otto wird nicht als Erwachsener gezeigt, sondern vom Schauspieler interpretiert, der zuvor Otto als Kind gespielt hat. Ana (die zwar erwachsen ist, aber kurze Haare hat, obwohl sie sie erst am Ende des Films kurz trägt) streichelt den kleinen Otto und hüllt ihn in Decken. Dann meint Otto »Aber du bist ja Ana«, worauf Ana antwortet »Ja, mein Kind«, wie Ottos Mutter es stets getan hat. Otto fragt »Möchtest du meine Mutter sein?«, doch Ana gibt zur Antwort »Das geht nicht«. Ähnlich wie Ana als Kind ihren Vater in Otto gesehen hat, wünscht sich nun auch Otto, die tote Mutter in Otto weiterleben zu lassen, und sehnt sich nach Wärme und Geborgenheit. Doch Ottos abschließende Frage und Anas verneinende 237 Tomás Fernández Valentí: »Julio Medem. El cine de azar«, S. 56. 184

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Antwort machen deutlich, dass er nicht in diese kindliche Fantasie flüchten kann, wie dies bei der kleinen Ana der Fall war. In Anas Erzählversion sagt Otto ebenfalls »Du bist Ana«, worauf Ana dieselbe Antwort wie in Ottos Version gibt. Doch nun fragt Otto »Wo ist meine Mutter?« Auch fehlt in dieser zweiten Sequenz jeglicher Hinweis auf einen Traum, da Otto derjenige ist, der sich, im Schockzustand, diese Bilder vorstellt und dies somit nur auf die von Otto fokalisierte Passage zutreffen kann. In Anas Version befinden sich die beiden außerdem im Schnee, an jener Stelle, wo Ana Otto findet, und nicht wie in Ottos Version im Haus. Eine weitere Sequenz erinnert an die oben analysierte in Alice et Martin, in der der kleine Martin dem Erwachsenen begegnet. In Los amantes del círculo polar ist es Otto, der in die Rolle des kleinen Jungen schlüpft, da er sich mit dem Tod seiner Mutter nicht auseinandersetzen kann: als er seine Mutter besucht und ahnt, dass etwas Schlimmes geschehen ist, möchte er am liebsten wieder gehen, doch dann macht er vor der Türe Halt, und die Kamera zeigt seinen Hinterkopf in einer Großaufnahme. Die nächste Einstellung zeigt Otto von vorne, dann zoomt die Kamera von seinem Gesicht zurück, woraufhin man den kleinen Otto sieht. In der nächsten Aufnahme wird wieder der erwachsene Otto gezeigt, er bewegt sich nach vorne, bis er aus dem Fokus verschwindet und sein Gesicht unscharf wird. Nun werden abwechselnd der kleine und der erwachsene (unscharfe) Otto gezeigt, wie sie sich auf die Küchentüre zubewegen. Aus dem Blickpunkt des kleinen Ottos bewegt sich die Kamera nach vorne. Als er schließlich die Küchentüre aufmacht, sodass die tote Mutter sichtlich ist, erscheint wieder der erwachsene Otto scharf im Bild, der beim Anblick seiner Mutter erschrickt und die Hand, in der er einen Fotoapparat hält, schützend vor sein Gesicht hebt. Nach einem Schnappschuss befindet sich die Erzählung in der Vergangenheit, und man sieht den kleinen Otto mit seiner Mutter an einem See. Ähnlich wie Bergman und Téchiné behandelt also Medem die Auseinandersetzung mit den Eltern und der eigenen Kindheit, indem er die Zeitgrenzen aufhebt. Da der erwachsene Otto sich seinem Schicksal und seinen Schuldgefühlen nicht stellen kann, schlüpft er in die Rolle des Kindes, als wolle er alles rückgängig machen. In dem Moment, als er seine Mutter tot vorfindet, wird er aber zum Erwachsensein gezwungen, weshalb er wieder scharf im Bild erscheint. Lucía y el sexo Wie bereits erwähnt, wird in Lucía y el sexo die gesamte Erzählung von Lorenzos Fiktion bestimmt, wobei dessen Erzählungen immer auch seinen eigenen Gefühlszustand widerspiegeln. Nach dem Tod seiner Tochter drückt er all seine Schuldgefühle und Abscheu sich selbst gegenüber

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in der Geschichte über Belén aus. Die erdrückende Atmosphäre der Geschichte, die zur Metapher seines eigenen seelischen Zustandes wird, überträgt sich außerdem auf die Außenwelt: als er über die stickige, heiße Luft in seinem Manuskript schreibt, beginnt er selbst zu schwitzen und reißt die Fenster in seinem Zimmer auf. Medem deutet an, dass Lorenzos Kontrolle über die Binnenfiktion hinausgeht und er die Fiktion selbst beeinflussen kann. So verschwinden Belén, ihre Mutter und deren Liebhaber auch in der Fiktion selbst, nachdem Lorenzo die beiden Frauen in seinem Manuskript durch Selbstmord ausgelöscht hat.238 Die Sequenz, die Lorenzo mit Luna am Strand zeigt, ist im Gegensatz zu der mit Belén verbundenen Erzählung sehr hell (durch die Begegnung mit Luna wird auch Lorenzos Schreibblockade gelöst). Hier markieren die Umgebung – das Meer, der Sand und die Wolken, die in ein unwirkliches Blau getaucht sind – und die ungewöhnlichen Kamerawinkel diese Sequenz als eine Fantasievorstellung. Als Lorenzo Luna erklärt, was passieren würde, wenn jemand das Geheimnis zwischen dem Mond und der Sonne wüsste, werden die beiden von unten gezeigt, wobei die verzerrten Proportionen diesem Bild einen traumähnlichen Anschein verleihen. Lorenzo erklärt weiter, dass das Meer sich mit einem rauschenden Geräusch zurückziehen würde, und ahmt dieses Geräusch nach, woraufhin der Fokus von den beiden auf das Meer wechselt, als ob sich dieses tatsächlich zurückziehen würde. Als Lorenzo schließlich meint, dass die Berge dann verkehrt dastehen würden, blickt Luna auf den kleinen Sandberg, den sie zuvor aufgehäuft hat, und stellt mit Erstaunen fest, dass der kleine Berg nach unten gesunken ist. Ihr verwundertes Gesicht wird aus der Perspektive des Sandberges gezeigt. In einer ähnlichen Sequenz erzählt Lorenzo Luna in deren Zimmer von der Wunschinsel, auf der niemand sterben kann, da, wenn man in ein Loch fällt, man von dort aus sein Leben wählen oder sich in seinen Lieblingsfisch verwandeln kann. Obwohl Luna schon fast eingeschlafen ist, reißt sie nochmals die Augen auf, als Lorenzo erzählt, dass das Mädchen auf der Insel sich auf die Suche ihres Vaters begeben musste und dass der Vater genauso sein sollte, wie ihn sich das Mädchen wünschte. Nach einer Weißblende sieht man Lorenzo am Strand, wie er dort die Geschichte weitererzählt. Am Ende sagt er, dass sich das Mädchen wünschte, dass sich ihre Mutter in eine Sirene verwandelte. Damit ist zwar Lorenzos Geschichte zu Ende, doch als Luna vom Hund gebissen wird, tritt genau das ein, was Lorenzo zuvor erzählt hat: Luna fällt in ein Loch und dann ins Meer, wo sie in die Arme ihrer in eine Sirene verwandelten Mutter schwimmt. Später sagt Elena am Telefon zu Belén, dass sie auf die Insel gefahren ist, um ihrer Tochter beim Schwimmen näher zu sein. 238 Vgl. Julia Bochnig: Von der großen Sehnsucht zu fliehen, S. 78-80. 186

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Die zwar klar als Fiktion markierte Geschichte Lorenzos greift also auf die gesamte Erzählung über, sodass Lorenzos Erzählung von der eigentlichen (Film-)Erzählung nicht klar zu trennen ist. Dasselbe gilt für Lorenzos Erzählung über Beléns Tod (der auch in Form von Lorenzos Albtraum vorkommt): obwohl klar hervorgeht, dass es sich hier um Lorenzos Fiktion handelt, hat auch in der Filmerzählung die im Krankenhaus liegende Belén Verbände an ihren Pulsadern. Ähnlich wie in Los amantes del círculo polar tragen die vielen Zufälle dazu bei, dass die Erzählung zeitweise irreal und unlogisch erscheint. Doch genauso wie Lorenzo mit seiner Geschichte mit den vielen Vorteilen Elena helfen will, vor ihrem Schmerz zu fliehen, bietet Medem dem/der ZuschauerIn mit seinen Filmen eine Welt jenseits der Wirklichkeit an, als wolle er, ähnlich wie André Breton, damit sagen, dass es eine Welt außerhalb der realen gibt und dass genau diese Welt den Menschen hilft, die Realität besser zu verstehen und zu ertragen. Zusammenfassend kann man zu diesem filmanalytischen Kapitel sagen, dass besonders die Darstellung der Zeit, der Identität und des Traums Parallelen zwischen den drei Regisseuren sichtbar machen. Natürlich ergeben sich auch zahlreiche Unterschiede. So kann man bei Julio Medem beispielsweise eine besonders starke Nähe zum Surrealismus feststellen, die bei Bergman und Téchiné in einer etwas schwächeren Form auftritt, während sich bei Téchiné Anlehnungen an die Nouvelle Vague und bei Bergman sein schwedisches Filmerbe spürbar machen. Auch werden bei genauerer Betrachtung generationsbedingte Unterschiede sichtbar. So findet zum Beispiel die Beziehung zwischen Lorenzo und Elena in Lucía y el sexo übers Chatten statt, was auf die zeitlich bedingten Veränderungen weist. Trotz dieser Unterschiede können die Gemeinsamkeiten jedoch deutlich auf generelle Entwicklungen in der Filmästhetik zurückgeführt werden, wobei sich hier die Bedeutung des Surrealismus am offensichtlichsten erweist. Im nächsten Abschnitt soll schließlich noch der Filmmusik Platz eingeräumt werden, da diese in filmwissenschaftlichen Analysen oft ausgeklammert wird, über die Erzählung jedoch wichtige Aufschlüsse liefern kann. In den folgenden Betrachtungen geht es vor allem um die narratologischen Aspekte, also die Beziehung zwischen Bild und Ton, wobei speziell die musikalischen Leitmotive, welche Verbindungen zwischen den einzelnen narrativen Komponenten schaffen, und die Signalisierung des Traums durch die Musik Gegenstand der Analysen sind.

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TRAUMREISENDE

Screenshot aus Ma saison préférée

Screenshot aus Ma saison préférée

Screenshot aus Alice et Martin 188

DAS ERZÄHLEN IN BILDERN

Screenshot aus Lucía y el sexo

Screenshot aus Los amantes del círculo polar

Screenshot aus Alice et Martin 189

DAS ERZÄHLEN

IN

TÖNEN

Die Anwendung von Musik Ingmar Bergmans Interesse für Musik war von jeher sehr groß. Neben seinen zahlreichen Operninszenierungen schrieb er ein Opernlibretto (Bakanterna) und machte 1974 einen Opernfilm zu Mozarts Zauberflöte (Trollflöjten). Insgesamt kann man zu Bergmans Verwendung von Musik sagen, dass etwa 18 seiner Filme ohne eigens komponierte Musik auskommen und dass in 19 die Musik von Erik Nordgren komponiert wurde. Dieser schwedische Komponist war von 1952 bis 1967 Musikdirektor der Svensk Filmindustri und arbeitete, abgesehen von Bergman, mit einer Reihe von international anerkannten schwedischen Regisseuren wie Jan Troell, Gustav Molander und Alf Sjöberg zusammen, wobei seine Vorliebe stets der Kammermusik galt. Die Musik zu Bergmans Filmen brachte ihm jedoch den größten Erfolg ein. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Regisseur könnte mit jener zwischen Eisenstein und Prokofjew, Hitchcock und Herrmann, Fellini und Rota sowie Cocteau und Auric verglichen werden. Sie basierte auf Freundschaft und auf Nordgrens Kompromissbereitschaft als Filmkomponist. Die Wege der beiden trennten sich schließlich, als Bergman Ende der 50er Jahre die Pianistin Käbi Laretei heiratete und er somit tagtäglich mit Musik zu tun hatte. Ihr ist auch der Film Såsom i en spegel gewidmet, und sie wirkte in mehr als einem Film mit (u.a. in Höstsonat und Fanny och Alexander). Zur gleichen Zeit begann Bergman auch seine Arbeit als Regieassistent an der Königlichen Oper Stockholm, was seine Sicht auf die Musik ebenfalls grundlegend veränderte. Wie Bergman selbst meint, lehrte ihm seine Frau, seinen Filmen eine Art musikalische Struktur zu verleihen: »Käbi lehrte mich sehr viel über Musik. Dies half mir, die Form des Kammerspieles zu finden. Es gibt keine Grenze zwischen dem Kammerspiel und der Kammermusik, genauso wenig wie zwischen dem filmischen und dem musikalischen Ausdruck.«1 1

Ingmar Bergman: Bilder, S. 249. 191

TRAUMREISENDE

Bergman wendete im Laufe der Jahre und vor allem ab den 50er Jahren Musik immer sparsamer an, dafür aber umso gezielter. Meist entlehnt er diese dem klassischen (Solo-)Repertoire, wobei seine Liebe besonders Chopin und Bach gilt. Ab Smultronstället, in dem Johann Sebastian Bach zum ersten Mal vorkommt, wuchs Bergmans Interesse für den deutschen Komponisten. In Bergmans Augen hat allein die Musik die Kraft, einzuspringen, wenn die Worte versagen. Seine Liebe zur Musik fand auch in seiner Arbeit mit den Schauspielern und seinem technischen Team Anwendung. »I think that the use of music in film is unnecessary, except when neither words nor pictures can express your intention. Then nothing can help but music, as in The Silence and Through a Glass Darkly when I decided to use Bach […]. On the other hand, I find that film is, anyway, some sort of music. Its very structure is musical. Therefore, when I give instructions to my actors, and when I consult with my technical crew, I always use musical terms to explain the ideas of the future film.«2

Rein musikalisch erneuerte Bergman nichts in seinen Filmen. Vielmehr verfeinerte er die Anwendung der Musik, indem er anhand von Rhythmus-, Tempo- und Ausdrucksänderungen die unterschiedlichen Stimmungen und Gefühle der Figuren auszudrücken und die Handlungsstränge und Beziehungskonstellationen näher zu beleuchten suchte.3 Musik hat laut Bergman die Kraft, ebenso wie die filmischen Bilder, direkt die Emotionen der Zuschauer anzusprechen und auch dann zu vermitteln, wenn die Sprache versagt hat. In Bergmans Filmen ist vor allem auch das Verhältnis zwischen Bild, Dialog, Musik und anderen Tönen, wie zum Beispiel Vogelgesang oder der Klang der Glocken und Uhren, von Bedeutung. André Téchiné arbeitet schon seit vielen Jahren mit dem französischen Komponisten Philippe Sarde zusammen, der die Musik zu den meisten seiner Filme schrieb: Barocco, Les Sœurs Brontë, Rendez-vous, Le Lieu du crime, Les Innocents, J’embrasse pas, Ma saison préférée, Les Voleurs, Alice et Martin und Les Égarés. Für seine Musik zu Barocco erhielt er 1977 den César, für zehn weitere Filme wurde er dafür nominiert. Auch mit zahlreichen anderen renommierten französischen Regisseuren arbeitete er wiederholt zusammen. So komponierte er beispielsweise die Musik zu mehreren Filmen von Claude Sautet, Pierre Granier-Deferre, Bertrand Tavernier, Robert Bresson, Roman Polanski, Maurice Pialat und Jacques Doillon. Im Gegensatz zur Fülle an französi2 3

Zit. nach Vlada Petriü (Hg.): Film and Dreams, S. 55. Michel Chion: La musique au cinéma, Paris: Fayard 1995, S. 307. 192

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schen Filmen (insgesamt etwa 200), zu denen Sarde die Musik komponierte, arbeitete er nur wenig an ausländischen Produktionen mit. Genauso wie Téchiné – und sein Bruder Alain Sarde, der ein etablierter Filmproduzent ist – war Philippe Sarde schon sehr früh ein begeisterter Filmanhänger und ging während seiner Studienzeit (er studierte Klavier und Komposition am Pariser Konservatorium) regelmäßig ins Kino, was ihn für seine spätere Karriere sehr beeinflusste. Bereits mit 25 Jahren war er ein bekannter Komponist für Filmmusik. Was Sardes Musik auszeichnet, ist sein Vermögen mit Nuancen zu arbeiten und der Musik eine dramaturgische Rolle innerhalb der Erzählung zuzuschreiben, weshalb er sich später dem intimeren Autorenkino zuwandte.4 Über seine Arbeit als Filmkomponist und mit Téchiné im Speziellen schreibt Sarde folgendes: »Eine musikalische Beziehung mit einem Regisseur zu haben bedeutet zu allererst, eine filmische Beziehung mit ihm zu haben, um das zu verstehen und zu erweitern, was er von einem erwartet. Die Noten folgen später, sie spielen am Anfang noch keine Rolle: das was zählt ist, was man mit den Noten ausdrücken will! Im Grunde geht es um den musikalischen Drehbuchautor. Und Téchiné ist ein wirklicher Autor, mit seiner eigenen Welt. […] Ich würde sogar sagen, dass man bei André bei der Erarbeitung der Montage mitgearbeitet haben muss. Bei Polanski ist es ähnlich: sie sind Bildmenschen! Das Kino interessiert mich mehr noch als die Musik. Ich gehe vom Kino aus, um zur Musik zu gelangen, und nicht umgekehrt. Dies geht wahrscheinlich auf meine Kindheit zurück: ich stamme aus einer Musikerfamilie, meine Mutter war Sängerin an der Oper, wo ich ab dem Alter von zwei oder drei Jahren mein Leben verbrachte. Ich sah alles in Zusammenhang mit einem Bühnenbild, also mit einer Dramaturgie und den Figuren. Ich nehme die Musik nur über diese Figuren wahr. Das, was ein Regisseur von mir erwartet, ist nicht, sein Bild zu färben, sondern ein wenig weiter zu gehen als das, was er gemacht hat. Ansonsten bräuchte er keine Musik […].«5

Alberto Iglesias, der die Musik zu bisher allen von Medems Filmen komponierte, ist einer der erfolgreichsten spanischen Filmkomponisten, der seit La flor de mi secreto (Mein blühendes Geheimnis, 1995) auch eng mit Pedro Almodóvar zusammenarbeitet. Iglesias‹ Musik trägt sicherlich bedeutend zur Ausdrucksstärke von Medems Filmen bei: »Medems Filme sind sehr stark und ausdrucksvoll, sie benötigen eine sehr präzise musikalische Idee, die ich bei jedem Film neu zu finden versu-

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Vgl. ebd. Dominique Maillet: »Philippe Sarde«, in: Cinématographe (1985), S. 21f. 193

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che.«6 Auf die Frage, woher er die Ideen für seine Musik holt, antwortet er, dass die Musik bereits in den Bildern enthalten und dass es die Aufgabe des Komponisten sei, die Stimmung in den einzelnen Sequenzen herauszuspüren und in die Sprache der Musik zu übersetzen. Diese Einstellung gegenüber dem künstlerischen Schöpfungsprozess entspricht der Essenz von Medems Filmen, da dieser auch Bilder und deren Stimmungen als Ausgangspunkt für seine Filme nimmt. »Die Möglichkeit einer Fiktion entstand immer im Moment, in der die Musik für einen Film geschrieben wurde. Diese äußerste Fiktion besteht darin zu glauben, dass nicht der Komponist die Musik komponiert, sondern sie errät. Die Musik ist bereits in den Bildern enthalten, in den Sequenzen, die der Regisseur gedreht hat, in einer Art geheimen Code, den es zu entdecken gilt. Der wichtigste Ort in einem Film hütet das Geheimnis der Musik. […] Die melodischen Modulationen, die Dauer, im Grunde die gesamte Wirbelsäule der Filmmusik ist von den Bildern vorgegeben, dort holt sie ihre Energie und dorthin muss man gehen, um ihren ganzen Sinn zu schätzen.«7

D i e n ar r a t o l o g i s c h e n F u n k t i o n e n v o n Fi l m m u si k »Film music is at once a gel, a space, a language, a cradle, a beat, a signifier of internal depth and emotion as well as a provider of emphasis on visual movement and spectacle. It bonds: shot to shot, narrative event to meaning, spectator to narrative, spectator to audience.«8

Obwohl extradiegetische Filmmusik im Grunde unrealistischer Natur ist, da sie die einzigen Töne darstellt, deren Quelle im Bild nicht sichtbar ist, trägt sie zu einem Großteil dazu bei, die Handlung und Figuren samt deren Gefühle glaubhafter zu machen. Filmmusik gehört zu den Konventionen, an die sich der/die ZuschauerIn bereits in dem Ausmaß angepasst hat, dass sie sich in den meisten Fällen der kritischen Hinterfragung durch das Publikum entzieht. Die Musik verleiht dem Film Gefühle, Tiefgründigkeit und Dramatik, die allein durch Worte nicht ausgedrückt werden können: »To the ›objectivity‹ of image and dialogue answers the

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Casanova, Eduardo/Saiz, Juan A.: »Entrevista a Alberto Iglesias«, Rosebud Banda Sonora 3. Unter: www.arrakis.es/~saimel/IGLESIAS.HTM vom 5. August 2005. Ebd. Claudia Gorbman: Unheard Melodies. Narrative Film Music, London: BFI Publishing 1987, S. 55. 194

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subjectivity, interiority, depth, of nondiegetic music.«9 Musik hat nicht nur psychologische Funktionen, indem sie dem/der ZuschauerIn hilft, in die Filmdiegese hineinzufinden und sich mit den Figuren zu identifizieren (was Claudia Gorbman als bonding bezeichnet)10, sondern auch semiotische: sie kann zweideutigen Bildern ihren Sinn verleihen und somit insgesamt Klarheit schaffen. Betrachtet man die Anwendung von Musik in den acht für die vorliegende Arbeit gewählten Filmen im Vergleich, so fällt auf, dass Julio Medem mit Abstand derjenige Regisseur ist, der diese am meisten zu stimmungsschaffenden und -verstärkenden Zwecken einsetzt. In Los amantes del círculo polar und Lucía y el sexo ist die Musik nahezu allgegenwärtig, und die vielen Leitmotive durchziehen die Filme wie ein Muster, das die verschiedenen Figuren und Orte miteinander verknüpft. Musik ist nur dann abwesend, wenn dadurch ein bestimmter Effekt erzielt wird, wie zum Beispiel in der Sequenz, in der sich Ana, ihre Mutter und Ottos Vater im Schnee auf Ottos Suche begeben. Hier spiegelt die Abwesenheit von Musik die in den weißen Bildern enthaltene Einsamkeit und Verlorenheit wider. Noch weitaus bewusster setzt Ingmar Bergman die Abwesenheit von Musik als Ausdrucksmittel ein. Während die Musik in Smultronstället noch den Konventionen der (an die Spätromantik anlehnende) Filmmusik angepasst ist, nimmt sie in Persona äußerst moderne Züge an. Durch die Wechselwirkung der An- und Abwesenheit von Musik werden die vielen Gegensätze im Film ausgedrückt: jener zwischen der schweigenden Elisabet und der geschwätzigen Alma, zwischen Traum und Wirklichkeit und zwischen der filmischen und metafilmischen Ebene. Viskningar och rop enthält bis auf eine Chopin-Mazurka und eine Cello-Suite von Bach keine Musik, weshalb der Einsatz jener Stücke umso wirkungsvoller und bedeutsamer ist. Die grundlegende Abwesenheit von Musik drückt die Einsamkeit der Figuren und die mangelnde Kommunikation unter ihnen aus. Die vorkommende Musik steht somit für Nähe und Wärme. Was die drei Filme von André Téchiné betrifft, so ist der geringe Anteil von Musik in Ma saison préférée auffallend. Musik kommt ausschließlich in diegetischer Form vor, und Geräusche wie das Ticken einer Uhr, der Schlag einer Kirchenglocke oder das Dröhnen eines Flugzeugs oder eines Motorbootes nehmen einen ebenso wichtigen Stellenwert ein. In Les Roseaux sauvages erfüllen die vielen diegetischen Lieder den Zweck eines Zeitdokuments und sollen den Zuschauern helfen, sich in die 60er Jahre zurückzuversetzen. Die Anwendung von Leitmotivik in Alice et Martin nimmt keineswegs dieselben Proportionen an wie in Los 9 Ebd., S. 67. 10 Vgl. ebd., S. 63. 195

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amantes del círculo polar und Lucía y el sexo, doch ist die Musik in diesem Film weitaus mehr an die Konventionen der Filmmusik angepasst als dies in den beiden anderen Filmen der Fall ist.

Die strukturellen Funktionen und Leitmotive Die Anwendung von musikalischen Leitmotiven erfüllt in erster Linie strukturelle Funktionen, indem sie Zusammenhänge zwischen Figuren und Situationen herstellt und somit komplexe Beziehungen näher beleuchtet und offen legt: »Aside from revealing the deeper level of the drama […], leitmotifs may also be used to help decipher an especially complex set of dramatic relationships […].«11 Ein Leitmotiv kann für die verschiedensten Inhalte in einem Drama stehen: für eine Figur, eine Beziehung, ein Objekt, einen Ort, ein Gefühl, eine Idee und dergleichen. Somit beschreibt das Leitmotiv nicht nur das, was im Bild sichtbar ist, sondern kann auch das suggerieren, was im Bild nicht vorhanden ist und was ohne die Begleitung von Musik nicht erahnt werden könnte. »The designative properties of musical leitmotifs explain how they can fulfill the narrative cueing functions such as giving point of view, indicating formal demarcations, and establishing setting and characters […]. As such, a leitmotif can (1) underscore the obvious presence of a character, place, and so forth that is clearly visible on screen; (2) indicate the presence of someone/something that is otherwise obscure (out of the frame, hidden in the scene, in disguise, and so forth); and (3) indicate the ›psychological presence‹ of a character or idea […]. Music has the capacity for signifying or expressing emotion; we routinely characterize musical passages as ›heroic,‹ ›longing,‹ ›tender,‹ ›melancholy,‹ and so forth […].«12

Die Analyse der in der Filmmusik vorkommenden Leitmotive kann also eine weitere narrative Ebene aufdecken und somit Aufschluss über die gesamte Erzählung geben. Smultronstället Die von Erik Nordgren komponierte Musik zu Smultronstället knüpft an die Romantik an und bringt eine Melodie hervor, die man als das Leitmo11 David Schroeder: Cinema’s Illusions, Opera’s Allure. The Operatic Impulse in Film, New York & London: Continuum 2002, S. 81. 12 Justin London: »Leitmotifs and Musical Reference in the Classical Film Score«, in: James Buhler/Caryl Flinn/David Neumeyer (Hg.): Music and Cinema, Hannover, London: Wesleyan University Press 2000, S. 89. 196

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tiv »Wilde Erdbeeren« bezeichnen könnte. Zum ersten Mal ist diese Melodie im Vorspann zu hören, wo sie in dramatischer Orchesterfassung in Moll gespielt wird, wobei der Schwerpunkt auf den Streichern liegt, die der wehmütigen, melancholischen Melodie ihren Ausdruck verleihen. Diese Melodie nimmt also bereits im Vorspann die melancholische Grundstimmung der Erzählung vorweg und wird, durch die Einblendung des Filmtitels, von Anfang an mit den wilden Erdbeeren als Symbol für eine verflossene, glückliche Zeit in Verbindung gebracht. Sie erklingt von neuem, als Isak und Marianne zum Sommerhaus gelangen. Diesmal ertönt das Leitmotiv jedoch nur kurz und leise, von wenigen Streichern und Klarinetten gespielt. Nachdem die Melodie kurz verstummt, ertönt sie wiederum, als Isak sich alleine befindet und in Erinnerungen schwelgt. Als er mit einem Seufzer »die wilden Erdbeeren« ausspricht und diese mit einer melancholischen Geste berührt, wird die Melodie lauter und, in einem crescendo und von Paukenschlägen und Geigentremoli begleitet, zu ihrem Höhepunkt geführt, während die Bilder durch Überblendungen in die Vergangenheit wechseln. Als Isak daraufhin seine Jugendliebe Sara erblickt, erklingt die Melodie zum ersten und einzigen Mal in Dur. Daraus lässt sich schließen, dass Isaks Welt zu diesem Zeitpunkt noch heil war. Ansonsten wird die Melodie in Moll gespielt, was ein Ausdruck für Isaks Wehmut, Nachdenklichkeit und Reuegefühle ist. In dem Moment, in dem Isak Wallins Psalm vorträgt, ist sein Blick in die Kamera gerichtet, während das Leitmotiv der wilden Erdbeeren im Hintergrund ertönt. Wiederum drückt hier diese Melodie Isaks Sehnsucht nach Geborgenheit, Barmherzigkeit und der Flucht zurück in die Unschuld der Kindheit aus. Das Leitmotiv ertönt kurz, als Isak bei seiner Mutter zu Besuch ist und diese auf Sara zu sprechen kommt, woraufhin Isak melancholisch vor sich hin blickt. Das Leitmotiv begleitet auch die Sequenz, in der die drei Jugendlichen Isak einen Blumenstrauß überreichen und die Kamera sein melancholisches Gesicht fokussiert, während sich der Hintergrund verdunkelt und die dramatische Musik Isaks wahren Gemütszustand enthüllt. Auch dann, als Isak während der Zeremonie geehrt wird und seine Gedanken zu den Ereignissen des Tages abschweifen, werden die Bilder von der wehmütigen Melodie in Moll begleitet, die einen Kontrast zur feierlichen diegetischen Musik der Zeremonie, die zuvor gespielt wurde, bildet. Eine etwas andere Version dieses Leitmotivs kommt in der Traumsequenz vor, in der Sara vor Isak wegläuft, nachdem sie diesem den Spiegel vorgehalten hat: als Isak ihr folgt und sich schließlich alleine vor der Wiege befindet, ertönt eine unheimliche, gespenstische Version der sonst so wehmütigen Melodie. Diesmal werden die Streicher von bedrohlichen Pauken und Bläsern begleitet, die die Dramatik der Situation hervorhe-

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ben. In dieser Sequenz wird Isak mit dem Baby, das symbolisch für das eigene Kind in ihm steht, konfrontiert, wobei sich der dramatische Höhepunkt der Narration in dem der Musik wiederfindet. Durch die Abwandlung des Leitmotivs der wilden Erdbeeren – die Version in Dur sowie die unheimlich anmutende – werden die verschiedenen Gefühlszustände Isaks deutlich gemacht. Das Leitmotiv steht also nicht nur für narrative Inhalte an sich, sondern drückt durch ihre verschiedensten Abwandlungen auch deren Veränderungen aus. Persona Von einem Leitmotiv im konventionellen Sinne kann man im Fall von Bergmans Persona wohl kaum sprechen, da die von Lars Johan Werle komponierte Musik sehr dissonant und unzusammenhängend ist. Es treten jedoch wiederkehrende Tonabfolgen auf, die jeweils von denselben Instrumenten gespielt werden. Besonders auffallend ist die Musik, die jene Sequenz begleitet, in der Elisabet im ersten Teil des Films das Foto ihres Sohnes zerreißt, sowie jene, in der Elisabet hinter Alma erscheint und dieser übers Haar streicht (die dreimal vorkommt, wovon jedoch nur die ersten zwei mit Musik untermalt werden): ein paar Blasinstrumente, wobei hohe und dissonante Flöten- und Klarinettentöne herauszuhören sind, Streicher und vereinzelte Klaviertöne schaffen eine unheimliche Tonkombination, die die Zweideutigkeit und Rätselhaftigkeit der Bilder unterstreicht. Ohne die Musik wäre wohl nicht klar verständlich, dass es sich hier womöglich nur um einen Traum handelt. Es ist die Musik, die klar signalisiert, dass die Annäherung zwischen Elisabet und Alma Gefahren der Identitätsfusion in sich birgt. Die Sequenz wird mit Geigenglissandi beendet, die wie unheilverkündende Sirenen aufheulen. Diese immer lauter werdenden Geigenglissandi sind bereits in der Einleitungssequenz des Films zu hören, als der kleine Junge den überdimensionalen Bildschirm berührt, und ziehen sich in leitmotivischer Weise durch den gesamten Film. So sind sie auch in den Sequenzen zu hören, als Elisabet das Foto des gefangenen Jungen im Warschauer Ghetto betrachtet, als Alma sich aufkratzt und Elisabet ihr Blut aufsaugt, sowie am Ende, als der Junge wiederum den Bildschirm berührt. Diese sirenenhaften, im crescendo an Dramatik gewinnenden Geigenglissandi sind wie Warnsignale, die den/die ZuschauerIn auf eine Gefahr aufmerksam machen. Auch die farceartige Musik, die der Stummfilmära entlehnt zu sein scheint, kommt an mehreren Stellen vor: Paukenschläge und Xylofonklänge schaffen ein wirre, grotesk klingende Tonmischung, die zum ersten Mal in der Einleitungssequenz zu hören ist, dann wieder im Vorspann, als das Filmband reißt, und schließlich wieder am Schluss.

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Der Film wird also nicht nur mit denselben Bildern eingeleitet und beendet, auch die Musik trägt hier zur zyklischen Erzählstruktur bei. Interessant ist auch, wie der Klang von tropfendem Wasser zu narrativen Zwecken eingesetzt wird, beispielsweise in der Einleitungssequenz, als die scheinbar toten Menschen im Bild zu sehen sind. Hier wird Temporalität allein durch dieses Geräusch hergestellt, da die Bilder an sich starr und zeitlos sind.13 Dieses Geräusch von tropfendem Wasser ist auch in der Sequenz zu hören, in der Alma im Auto sitzt und Elisabets Brief an die Ärztin liest. Dieses unregelmäßige Tropfgeräusch löst ein Gefühl der Verwirrung ebenso wie der Einsamkeit aus, das in den kargen Bildern bereits enthalten ist. Auch Geräusche können demnach, wie das Leitmotiv in der Musik, Verbindungen zwischen verschiedenen Sequenzen, Situationen und Figuren schaffen und somit Aufschluss über die Erzählung geben. Viskningar och rop Wie Musik eine Verbindung zwischen den Figuren herstellen kann, wird in Viskningar och rop offensichtlich. In diesem Film kommen insgesamt nur zwei Musikstücke vor, nämlich Frédéric Chopins Mazurka in A-Moll, op. 17 nr. 4 (gespielt von Käbi Laretei) und eine Sarabande – Johann Sebastian Bachs Cello-Suite nr. 5 in C-Moll (die Bergman später zum Ausgangspunkt für seinen letzten Film Saraband nimmt). Diese beiden Stücke sind an mehreren Stellen zu hören, wodurch Querverweise zwischen Situationen und Figuren hergestellt werden. Chopins Mazurka erklingt zum ersten Mal, als Anna in ihrem Zimmer vor dem Foto ihrer verstorbenen Tochter laut zu Gott betet. Sie beginnt leise in Dur, als handle es sich hier um diegetische Musik, deren Quelle in einem der anliegenden Zimmer zu erahnen ist. Sie wird aber in der gleichen Lautstärke gespielt, als in der nächsten Aufnahme Agnes gezeigt wird. Erst mit steigender Emotionalität (Agnes lässt sich müde am Tisch nieder und atmet den Duft einer weißen Rose ein) wird sie lauter, weshalb anzunehmen ist, dass es sich hier mehr um extradiegetische als um diegetische Musik handelt. Die Mazurka wird an einer weiteren Stelle gespielt, nämlich in Marias flash-back nach dem Gespräch zwischen ihr und ihrem Ehemann. Während die Kamera die Großaufnahme seines schockierten Gesichts einfängt, ist im Hintergrund die Mazurka zu hören. Da die Musik jedoch wieder verstummt, als Maria nach einiger Zeit in das Zimmer ihres Mannes tritt, ist anzunehmen, dass es Maria war, die am Klavier saß. Die Mazurka ertönt schließlich ein letztes Mal, als Anna am Schluss des Films in ihrem Zimmer eine Kerze anzündet, sich auf das Bett setzt, Agnes‹ Ta13 Michel Chion: L’audio-vision. Son et image au cinéma, 2. Auflage, Paris: Nathan, 1990, S. 176. 199

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gebuch hervorholt und zu lesen beginnt. Eine Verbindung zwischen Anna und Agnes wird also nicht nur bildlich sondern auch über die Musik hergestellt. Durch die Musik wird die Nähe, die zwischen Anna und Agnes besteht und die auch aus der Narration klar hervorgeht, verdeutlicht. Schwieriger zu deuten ist jedoch, dass auch Marias Ehemann durch die Musik in diesen Zusammenhang integriert wird. Da er der einzige in der Familie ist, der nach Agnes‹ Tod Anna gegenüber Mitleid zeigt, könnte die Musik jedoch auf diese Ansätze an menschlicher Güte weisen, ebenso wie auf die Tatsache, dass er, genauso wie Agnes, zum Opfer der menschlichen Kälte geworden ist. Das zweite Musikstück, Bachs Sarabande, kommt an zwei Stellen vor: erstmals als eine Annäherung zwischen Maria und Karin stattfindet und sich die beiden gegenseitig streicheln und küssen. Die Worte, die die beiden sichtlich austauschen, sind für den/die ZuschauerIn unhörbar, die Bilder werden nur vom Klang des Cellos begleitet, als wolle Bergman damit ausdrücken, dass Worte nichtig sind und dass allein die Musik es vermag, wahre Gefühle auszudrücken. Die Sarabande ist ein zweites Mal nach Agnes‹ »Auferstehung« zu hören. Sie setzt ein, als die Kamera von Marias auf Karins Gesicht schwenkt, und findet ihren Höhepunkt, als sich Anna in einer Pietà-ähnlichen Position zu Agnes ins Bett setzt. Durch die Verwendung derselben Musik für die zwei Sequenzen werden diese also in Verbindung miteinander gebracht. Während sich die erste Sequenz als eine Lüge herausstellt, da am Ende des Films klar wird, dass Marias Gefühle Karin gegenüber nur vorgetäuscht waren, sind Annas Liebe und Barmherzigkeit Agnes gegenüber tief und echt. Auch in diesem Film spielen Geräusche eine zentrale Rolle: das Flüstern und das Atmen, die vor allem die Großaufnahmen zu Beginn eines jeden flash-backs begleiten, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Erzählung und tragen bedeutend zu deren Aussagekraft bei. Les Roseaux sauvages In Les Roseaux sauvages ist es ebenfalls ein Musikstück eines bekannten klassischen Komponisten, das leitmotivisch verwendet wird: das Adagio für Streicher op. 11 von Samuel Barber. Als François hinter Serge auf dem Motorrad sitzt und seinen Kopf an dessen Rücken anlehnt, wird der diegetische Ton (der Lärm des Motors) plötzlich weggenommen, und anstelle ist Barbers gefühlvolle, tiefgreifende Musik und François‹ Worte im voice-over zu hören, mit denen er seine durch die Musik vermittelten Gefühle ausdrückt. Als die Krankenschwester das Radio wenig später für Madame Alvarez aufdreht, ist es wieder das Adagio für Streicher, das anfangs zwar diegetisch ertönt, dann aber, als Pierre vor dem inneren Auge von Madame Alvarez erscheint, in extradiegetische Musik über-

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geht und ihre Gefühle wiedergibt. Barbers Adagio wird ein zweites Mal mit Madame Alvarez in Verbindung gebracht, als sie nach dem Essen mit Monsieur Morelli und der flüchtigen Bekanntschaft mit dessen algerischer Ehefrau gedankenversunken auf die Landschaft blickt. Diese Melodie ist ein letztes Mal kurz vor Ende des Films zu hören, als die Kamera auf Serges Gesicht zoomt und dessen Blick auf Maïté, die François‹ Gesicht verzweifelt und unter Tränen küsst, und somit auch dessen Gefühle einfängt. Im Gegensatz zu Smultronstället, wo das Leitmotiv ganz klar mit Isak und den wilden Erdbeeren assoziiert wird, oder Viskningar och rop, wo eine Melodie für eine Beziehung zwischen zwei Menschen steht, kommt Barbers Adagio in Zusammenhang mit mehreren Menschen und Beziehungen vor. Es wird in Zusammenhang mit François‹ unerwiderter Liebe zu Serge gebracht, ebenso wie mit Madame Alvarez‹ Schmerz und Reuegefühle bezüglich Pierres Tod. Barbers Adagio drückt hier also mehreres aus, doch handelt es sich stets um tiefe Gefühle der Figuren, die zugleich mit Schmerz und Hoffnung verbunden sind. Eine weitere Melodie, die sich leitmotivisch durch die Erzählung zieht und gewissermaßen einen Gegensatz zu Barbers dramatischer, tiefgründiger Musik bildet, ist das okzitanische Lied, das bereits im Vorspann zu hören ist. Bis auf ein einziges Mal wird die Melodie jedoch nur gepfiffen, und zwar von Serge: als die vier Jugendlichen am Schluss des Films zum Fluss gehen, und wiederum, als er, François und Maïté den Fluss verlassen. Das Pfeifen klingt sorglos und heiter und bildet somit einen Kontrast zu den Sorgen der Jugendlichen. Das Lied ertönt als gesamtes auf Pierres Hochzeit, wo es von den Gästen gesungen wird, nachdem Pierre die heitere Hochzeitsmusik abdreht. Während das Lied gesungen wird, sieht man Madame Alvarez, Maïté und François unter den Blicken der Gäste den Heimweg antreten. Dieses okzitanische Lied klingt, in Anbetracht der gespannten politischen Lage bezüglich des Algerien-Konfliktes, wie eine Art Verteidigung der eigenen, lokalen Kultur. Alice et Martin In Alice et Martin kommt eine Melodie mehrfach vor, die in ihrer hellen, aufstrebenden Melodik an die Cello-Suite n°1 in G-Dur von Johann Sebastian Bach erinnert, doch wird das Cello hier von mehreren Streichern begleitet. Die Melodie setzt ein, als Martin zum ersten Mal bei den Sauvagnac ist und Madame Sauvagnac ihm Fotos seiner Halbbrüder zeigt. Im weiteren Verlauf ist sie an folgenden Stellen zu hören: als Martin durch die Berge und gelben Felder auf Essenssuche herumirrt, nachdem er fluchtartig das Haus verlassen hat; als Alice und Martin am Meer spazieren, nach dem flash-back; und als Alice sich bei Martins Mutter befindet und ein Foto von Martin als Kind sieht. Die Melodie tritt also an-

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fangs in Zusammenhang mit Martin auf, dann in einer Sequenz, in der sowohl Martin als auch Alice zu sehen sind und sich die beiden nach Martins Geständnis wieder ein Stück näher kommen, und schließlich nur in Zusammenhang mit Alices Auftreten, als sie um Martins Wohlbefinden kämpft. Dieses Leitmotiv gehört folglich nicht ausschließlich zu einer Person. Auch wenn es gegen Ende des Films mehr Alices Erscheinen im Bild begleitet, so ist ihre Figur mehr eine Beifigur zu Martin, der das eigentliche Zentrum der Narration ist. Es scheint, als begleite das Leitmotiv Martin auf seinem Weg und, ab dem Zeitpunkt, als Martin nicht mehr selbst um sein Leben kämpfen kann, auch Alice bei ihren Versuchen, für Martin zu kämpfen. Diese helle, aufstrebende Melodie passt aber nicht wirklich zu den eher tragischen und traurigen Inhalten der Sequenzen, sie scheint vielmehr die Hoffnung von Martin und Alice zu verkörpern. Lucía y el sexo Im Gegensatz zur Musik der vorhin beschriebenen Filme, wo Leitmotivik eher in geringem Maße und nicht streng systematisch angewendet wird, ist in Lucía y el sexo und Los amantes del círculo polar eine Fülle an Leitmotiven zu finden. Ebenso wie die gesamte Erzählung von Lucía y el sexo von Lorenzo dominiert wird, stehen die drei großen musikalischen Themen des Films mit ihm in Verbindung. Das erste Thema ist ein walzerartiges, melancholisches Musikstück, das abwechselnd von einem Klavier und einer Viola gespielt wird und als Leitmotiv für Lorenzo und Elena (und somit auch für Luna) dient. Es leitet den mit den Worten 6 años antes (6 Jahre zuvor) betitelten flash-back ein, in dem die Liebessequenz zwischen Lorenzo und Elena zu sehen ist. Die Musik (in der Klavierversion) wird während des Gesprächs zwischen Lorenzo und Elena ausgeblendet, um dann am Ende der Sequenz wieder einzusetzen und in die nächste Sequenz, in der Elena den positiven Schwangerschaftstest betrachtet, überzugreifen. Die Musik wird während des Liebesaktes zu Beginn der Sequenz von einem leisen Atmen begleitet, wie dies auch an den anderen Stellen, wo dieses Leitmotiv auftaucht, der Fall ist. So kündigt das Atmen an einer anderen Stelle die eigentliche Musik (erneut in der Klavierversion) an: als Lorenzo vor dem tragischen Vorfall mit dem Hund davonläuft, hört man das Atmen, bevor das Leitmotiv einsetzt (als Luna ins Wasser springt und in die Arme ihrer Mutter schwimmt). Die Musik geht wiederum in die nächste Sequenz über, als Elena sich mit dem Schiff auf die Insel begibt und von dort aus mit Belén telefoniert. Dass dieses Leitmotiv ganz klar zur Welt von Elena, Lorenzo und Luna gehört, wird aus den drei übrigen Sequenzen sichtbar, in denen es vorkommt: als Lorenzo an Elena schreibt und sich deren Gesichter im Bild-

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schirm spiegeln; als Lucía versteht, dass Lorenzo Lunas Vater ist; und am Schluss, als Lorenzo auf die Insel fährt und sich die beiden wieder erkennen und unter Tränen umarmen (hier wird das Thema zum einzigen Mal in seiner vollen Länge gespielt). In den beiden Sequenzen, in denen sich Elena und Lorenzo übers Internet wieder einander annähern und sich schließlich wiedersehen, wird die Melodie dieses melancholischen Walzers teilweise von einer Viola gespielt. Dieses Zusammenspiel des Klaviers und der Viola in den beiden letzteren Sequenzen könnte musikalisch für die Wiedervereinigung und Versöhnung zwischen Elena und Lorenzo stehen. Jedenfalls trägt die Musik dieser beiden Instrumente wesentlich zu der in den Bildern enthaltenen Emotionalität bei. Das zweite Thema, das leitmotivisch verwendet wird, ist ebenfalls eine walzerähnliche Melodie, die zum ersten Mal einsetzt, als Lucía Lorenzo in der Bar ihre Liebe gesteht. Die Musik beginnt mit einer zaghaften Klarinette, die sich in wenigen Tönen vorantastet und nach und nach von den übrigen Instrumenten – der Viola, Flöte, Oboe und dem Fagott – gefolgt wird. Das nächste Mal, wo dieses Leitmotiv zu hören ist, wird es von der Viola angestimmt, als Lucía Lorenzo fragt, was er bevorzugt – wilden Sex mit einer Unbekannten oder Sex mit einer wilden Bekannten. Als Lorenzo darauf antwortet, dass er Sex mit ihr haben möchte, setzt die Melodie ein und überbrückt den Übergang zur nächsten Sequenz, in der Elena mit dem Kinderwagen einen Platz überquert und die Kamera hinauf zum Fenster von Lorenzos Wohnung schwenkt. Das Leitmotiv ist dann in zwei Sequenzen zu hören, in denen Lorenzo zwar nicht direkt vorkommt, aber von ihm die Rede ist: als Elena durch das Gespräch mit Lucía begreift, dass Lorenzo Lunas Vater ist; und umgekehrt, als Elena Lucía vom Leuchtturmwächter erzählt, der ihr eine Geschichte schreibt und Lucía versteht, dass Lorenzo hinter dieser Geschichte steckt. Diese Melodie beschließt den Film in zyklischer Weise, indem sie in der Schlusssequenz, wie bei ihrem ersten Auftreten, zaghaft beginnt, als Lucía Geräusche hört und plötzlich Lorenzo erblickt, und auch dann weiterspielt, als die Erzählung im wahrsten Sinne des Wortes zu ihrer Mitte (und somit zu den Anfängen von Lucías und Lorenzos Beziehung) zurückkehrt. Während das vorhin besprochene Leitmotiv klar zur Welt von Lorenzo, Elena und Luna gehört, bezieht sich dieses Leitmotiv vor allem auf Lucía und Lorenzo. Die Musik beginnt dort, wo Lucía all ihren Mut zusammen nimmt und Lorenzo ihre Liebe gesteht, ist dann zu hören, als Lorenzo ihr seine Liebe versichert, und schließlich, als sich die beiden am Schluss des Films wieder finden. Sie tritt aber auch dann auf, als Lorenzo nur erwähnt wird. Das dritte Thema ist ebenfalls ein Walzer, im Gegensatz zu den zwei anderen Leitmotiven ist dieses jedoch in Dur geschrieben. Es ist dies das

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Leitmotiv für die anfängliche, sorglose Beziehung zwischen Lorenzo und Lucía. Als die beiden zum ersten Mal Sex miteinander haben, beginnt das Leitmotiv mit der Harfe und Viola, worauf die Flöte, das Klavier, die Klarinette und das Fagott folgen und sich in einem heiteren Zusammenspiel abwechseln. Diese Melodie begleitet dann, bis auf den Nachspann, ausschließlich die Sexsequenzen zwischen Lorenzo und Lucía. Im Unterschied zu den zwei übrigen Leitmotiven, ist dieses ganz klar der beginnenden Beziehung zwischen Lucía und Lorenzo zuzuordnen und kommt ausschließlich in Sequenzen vor, die diese Beziehung zeigen. Es handelt sich hier auch um die einzige wirklich heitere Melodie, denn die übrigen sind eher mit den Adjektiven »melancholisch« und »gefühlsbetont« zu bezeichnen. Eine weitere Melodie, die zwar kein ausgefeiltes Thema ist, aber ebenfalls als Leitmotiv verwendet wird, ist das Lied Un rayo de sol, das Lucía öfters singt oder summt. Ursprünglich wollte Julio Medem eine Geschichte mit dem Titel Lucía, un rayo de sol schreiben.14 Was von dieser Idee geblieben ist, ist dieses Lied, das gewissermaßen das Leitmotiv für Lucía ist. Sie singt und summt es, als sie sich am Morgen nach der ersten Begegnung mit Lorenzo unter dessen Dusche stellt; als sie in Lorenzos Wohnung auf das Fenster zugeht und hinaussieht, während Lorenzo am Computer sitzt und schreibt; sie singt eine Strophe davon, als sie aus Elenas Küche den Sonnenuntergang betrachtet; und schließlich, als die Erzählung am Schluss des Films zu ihrer Mitte zurückkehrt. Somit trägt dieses Leitmotiv, gemeinsam mit dem zweiten, zur zyklischen Struktur der Erzählung bei. Los amantes del círculo polar In Los amantes del círculo polar ist die leitmotivische Anwendung der Musik ebenso offensichtlich wie in Lucía y el sexo, wobei Alberto Iglesias hier oftmals nur Teile ein und desselben Themas zu leitmotivischen Zwecken anwendet. Das Thema, das im Film vorherrschend ist, ist nur zweimal als ganzes zu hören, ansonsten kommt nur ein Teil davon an zahlreichen Stellen als Leitmotiv vor: gleich zu Beginn begleitet es die Bilder von Anas Tod, wie sie die Treppen zu Otto el pilotos Wohnung hinaufläuft und Otto sie dort in seine Arme nimmt, und wie sich Ottos Gesicht schließlich in ihrem Auge widerspiegelt. Die Melodie wird hier von einer Klarinette gespielt, die von Streichakkorden und -tremoli begleitet wird. Das Leitmotiv kommt im Laufe des Films an mehreren Stellen vor und wird von Streichern und abwechselnd von der Klarinette oder vom Klavier gespielt. Das gesamte Thema ist zu hören, als Ana und Otto 14 Interview mit Julio Medem in der Zeitschrift La gran ilusión. Unter: www.movienetfilm.de/lucia_und_der_sex/presseheft.php vom 7. Juli 2005. 204

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beim Anblick der Mitternachtssonne auf ihr Wiedersehen warten. Es handelt sich hier um dieselben Bilder, die den Film einleiten, und auch Anas und Ottos Erzählstimmen im voice-over sind dieselben. Analog dazu ist das Leitmotiv wiederholt zu hören. Somit trägt, genauso wie in Lucía y el sexo, auch hier die Musik zur zyklischen Erzählstruktur des Films bei, indem dasselbe Leitmotiv am Anfang und Ende verwendet wird. In diesem Thema sind neben dem Leitmotiv auch zwei weitere Passagen enthalten, die an mehreren Stellen des Films eingesetzt werden: zum einen die kurze, walzerartige Klavierpassage, die bereits in der Sequenz vorgekommen ist, in der Otto auf dem Rücken des in Pelz gehüllten Mannes den Berg hinauffährt. Und zum anderen warme, sentimentale Streichakkorde, die eine fallende Figur beschreiben und die mehrmals vorkommen: als der in Pelz gehüllte Mann Otto in die Hütte bringt; als Otto seit langem seinem Vater einen Besuch abstattet und diesen fragt, ob er noch immer in Olga verliebt sei; und als Ana sich nach Ottos Fortgehen in ihrem Zimmer einsperrt. Iglesias verwendet also Teile ein und desselben Themas und setzt diese an mehreren Stellen ein, wodurch eine gewisse Kontinuität in der Erzählung und eine Verbindung zwischen den einzelnen Erzählelementen und -strängen erzielt werden. Was das Leitmotiv betrifft, das sich durch die gesamte Narration zieht, so könnte man sagen, dass es Ana und Otto auf dem schicksalhaften Weg ihrer Beziehung begleitet – von der einleitenden Sequenz und Anas Tod, über ihre erste Begegnung, ihre Trennung und den Weg, der sie wieder zueinander führt, bis hin zur letzten Sequenz und wiederum Anas Tod. Dabei wird das Leitmotiv durch eine unterschiedliche Instrumentation und Spieltechnik der jeweiligen Sequenz und Stimmung angepasst, von einer tragischen, traurigen Version zu Beginn des Films, bis hin zur durch Streichtremoli erzeugten spannenden Ausführung, als Ana über das Videoband ihrer Mutter von Otto erfährt und sich die beiden Liebenden auf getrennten Wegen nach Rovaniemi begeben. Ein weiteres Leitmotiv, das von einer tiefen Flöte gespielt wird, steht unter dem Zeichen des Polarkreises. Es begleitet die Sequenz zu Beginn des Films, in der Otto Papierflieger aus dem Fenster der Toilette wirft, und deutet mit seiner sehnsüchtigen Melodie auf eine magische Welt fern der Realität – die Welt, von der Otto und Ana gemeinsam träumen und die sie mit dem Polarkreis assoziieren. Der Klang der Flöte kehrt dementsprechend wieder, als Otto und Ana am Abend an ihrem Schreibtisch vor einem Buch sitzen und über den Polarkreis lesen. Auch dann, als Otto nicht im Bild sichtbar ist, beschwört die Flöte ihre gemeinsam erschaffene, magische Welt rund um den Polarkreis herauf – als Ana auf der Plaza Mayor mit Ottos ehemaligem Lehrer spricht und dabei Ottos Name

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fällt, oder als Álvaro, der neue Freund von Anas Mutter, Ana fragt, ob sie nach Lappland fahren möchte und dabei meint »Es otro mundo«. Dieses von der untypischen Flöte gespielte Leitmotiv steht also für den Polarkreis und Anas und Ottos gemeinsam geschaffene Welt, ihre Sehnsüchte und Träume. Es schließt auch den Film, indem es im Nachspann, gemeinsam mit dem Sausen des Windes und vor dem weißen Bild des abgestürzten Flugzeuges, ertönt. Ein weiteres Leitmotiv ist mit einigen Stellen, die mit Ottos Mutter zu tun haben, verknüpft. Es erklingt zum ersten Mal, als Ottos Vater seinem Sohn verkündet, dass er sich von dessen Mutter trennen wird, und geht in die nächste Sequenz über, in der Otto in seinem Bett liegt und dem Weinen seiner Mutter lauscht, während draußen ein Sturm tobt: ein Cello, begleitet von einigen übrigen Streichern, spielt eine dramatische, sehnsüchtige und mit Dissonanzen besetzte Melodie, die in eine bewegte Passage übergeht, als das Fenster vom Sturm aufgestoßen wird und seine Mutter in das Zimmer stürzt und es schließt. Das von den Streichern gespielte, dissonante und dramatische Leitmotiv kommt noch in zwei weiteren Sequenzen vor, die mit Ottos Mutter verknüpft sind. Das Leitmotiv ist aber auch dann zu hören, als Otto als Jugendlicher bei seinem Vater zu Besuch ist und Ana beobachtet, wie sie sich vor dem Spiegel kämmt. Dasselbe Leitmotiv begleitet die Sequenz, in der Otto bei seinem Vater das Briefkuvert öffnet, das ihm Ana aus Finnland geschickt hat. Nach den dramatischen, dissonanten Streicherklängen folgt wiederum eine bewegte Passage (diesmal von einem Klavier gespielt), die ansonsten nur in der zuvor erwähnten Sequenz, in der Ottos Mutter ins Zimmer eilt und das Fenster schließt, zu hören ist, und zwar genau in dem Moment, in dem Otto den im Kuvert enthaltenen Papierflieger auseinander faltet und darauf Anas Zeilen »Diese Nacht wachte ich auf dich und blicke dabei die Sonne an« liest. Diese Passage, die in diesen zwei unterschiedlichen Sequenzen vorkommt, hat also die Funktion, der Situation zusätzlich Dramatik und Spannung zu verleihen. Das von den Streichern gespielte Leitmotiv drückt, vor allem was die mit der Mutter verknüpften Sequenzen betrifft, den durch die Liebe verursachten Schmerz als auch die Sehnsucht nach Liebe aus. Die dissonanten, dramatischen und sehnsüchtigen Klänge der Streicher vermitteln eben dieses verzweifelte Sehnen und die unerfüllte Liebe, sowohl von Ottos Mutter als auch von Otto selbst. Ein Leitmotiv, das vor allem in Anas Zusammenhang vorkommt und von einer Klarinette gespielt wird, ist zu Beginn von Anas erstem Erzählabschnitt zu hören, als ihre Mutter ihr die Nachricht vom Tod ihres Vaters überbringen will und Ana sich mit den Worten »Und wenn ich nein sage, dann bedeutet das nein!« dagegen wehrt. In einer ähnlichen

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Situation ist dasselbe Leitmotiv nochmals zu hören, als Ana sich im Schnee auf die Suche nach Otto begibt und sie sich ebenfalls, aus dem Wunsch heraus, Otto lebendig zu finden, mit den Worten »Hör auf! Du bist nicht tot! […] Nein!« gegen das Schicksal wehrt. Auch zu Beginn des Films, als Ana an jenem verregneten Tag mit ihrer Mutter in Álvaros Auto auf Otto wartet und dieser schließlich einsteigt, ertönt das Leitmotiv, ebenso wie am Ende, als Ana die Treppen zu Otto el pilotos Wohnung hinaufläuft und Otto dort auf sie wartet. Die Klarinette spielt das Leitmotiv, während Ana von Raum zu Raum wandert und ihre Hoffnung auf den Zufall ihres Lebens steigt. Anas Leitmotiv hängt also in gewisser Weise mit ihrem Glauben an den Zufall und mit ihrem Schicksal, das ja eng mit Ottos verknüpft ist, zusammen. Das Leitmotiv verbindet auch hier ähnliche Situationen und schafft eine Parallele zwischen diesen Sequenzen. Dasselbe geschieht in der Sequenz, in der Otto zu Beginn des Films Ana nachläuft und sie stolpert: dieselben, durch Pausen unterbrochenen hellen Streichakkorde und Xylofonklänge, die diese Sequenz begleiten, ertönen auch, als Ana in ihrem Brief an Otto die Geschichte von Otto el piloto und dessen Frau Cristina erzählt. Diese Sequenz verläuft analog zu jener aus ihrer Kindheit, weshalb beide Sequenzen von derselben Musik untermalt werden. Dieselbe Musik ist außerdem dann zu hören, als der junge Otto Anas nackten Oberschenkel sieht und diesen mit der Hand zu berühren versucht, nachdem Olga mit dem roten Bus zusammengeprallt ist. Diese Töne könnten also für die Annäherung zwischen Otto und Ana stehen, die sich von der Kindheit über die Jugend bis hin zum Erwachsenenalter zieht. Ein weiteres Leitmotiv, das ausschließlich in Anas Erzählungen erklingt, ist eine rasche Klavierpassage, die zu hören ist, während Ana im voice-over erklärt, dass sie und Otto als Kinder jeden Nachmittag auf dem Rücksitz des Autos saßen und sie sich einbildete, dass der Geist ihres Vaters Ottos Körper innewohnte. Diese rasche Klaviermelodie setzt weiter ein, als Anas Mutter am Morgen Otto sucht und diesen schließlich unter seinem Bett entdeckt, und als sich Ana in Otto el pilotos Wohnung in Finnland befindet, diesem dankend die Hand küsst und dann mit dem Auto zum Haus gefahren wird. Die rasche, schwungvolle Melodie dieses Leitmotivs hat den Effekt, vor allem in Begleitung von Anas voice-over, Zeit zu raffen und die Bewegung in der Erzählung musikalisch darzustellen.

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Die kommentierenden und verstärkenden Funktionen Persona Die Musik in Persona ist, der allgemeinen Erzählung entsprechend, dissonant, modern und unzusammenhängend. Es gibt keine einheitliche Melodie, die sich durch mehrere Takte hindurchzieht. Meist obliegt es der Musik, Spannung zu erzeugen und die narrativen Sprünge und Ungereimtheiten zu untermalen. Oft erzeugen die einzelnen Instrumente ungewohnte Klänge, weshalb nicht klar zu erkennen ist, um welche Instrumente es sich handelt. So sind beispielsweise die Sirenenklänge, die bereits zu Beginn des Films ertönen, nur für geschulte Ohren als Geigenglissandi zu erkennen. Durch diese ungewöhnlichen Klänge wird ein Entfremdungseffekt erzeugt, der dieser unkonventionellen Erzählung per se zugrunde liegt. Die Beispiele für eine derartige Anwendung von Musik in Persona sind unerschöpflich: die Sequenz, in der Elisabet das Foto ihres Sohnes zerreißt, wird von einer äußerst dissonanten Musik begleitet. In dem Moment, in dem sie das Foto zerreißt, setzt ein Tongemisch ein, aus dem man Flöte, Klarinette, Streicher und einzelne Klaviertöne heraushören kann, gefolgt von den sirenenhaften Geigenglissandi und Tremoli des Schlagwerks. Dieselbe Tonabfolge und -kombination ist, wie bereits erwähnt, auch das Leitmotiv für die Annäherung Elisabets an Alma in der Traumsequenz. Ähnliche, schwer zu erkennende Tonkombinationen kommen jedoch an jeglichen Stellen vor, auf die die Aufmerksamkeit der Zuschauer gelenkt werden soll, und besonders jene, die sich durch Dysnarration auszeichnen. So zum Beispiel die Sequenz in der Mitte des Films, in der das Filmband reißt: nachdem Stimmen, ein kurzer farceartiger Musikabschnitt und ein Schrei zu hören sind, ertönen vereinzelte Xylofon- und Klavierklänge, während das Bild eine Detailaufnahme eines (kaum zu erkennenden) Auges zeigt. Dann sieht man in einer unscharfen Aufnahme Elisabet im Raum umhergehen, auf der Tonspur sind Glissandi von mutierten Geigen zu hören, die, begleitet von Bläsern, wieder aufheulende Sirenen imitieren. Das unscharfe Bild verleiht, in Kombination mit den ungewöhnlichen, schwer zu definierenden Klängen der Instrumente, dieser Sequenz etwas Spukhaftes. Sobald das Bild wieder an Schärfe gewinnt und man Elisabet sieht, die, sichtlich auf der Suche nach Alma, einen Blick durchs Fenster wirft, schließt das wirre Klanggemisch mit einem lauten Dissonantakkord (in Zusammenhang mit Filmmusik auch als stinger bezeichnet). Die Musik trägt hier also dazu bei, die – wenn auch schwer zu erkennenden – Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit hervorzuheben. Eine weitere Sequenz, die sich der narrativen Logik mit Hilfe der Musik widersetzt, ist jene, in der Elisabets und Almas Ge-

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sichtshälften zu einem einzigen, hybriden Gesicht verschmelzen. In dem Moment, in dem die Aufnahme dieses Gesichts einfriert, platzt ein lauter Dissonantakkord aus dem Nichts. Die einzelnen Instrumente sind wiederum nur schwer auseinander zu halten – Trompeten und übrige Bläser, Streicher, Paukenschläge und ein Gong sind jedoch herauszuhören. Die Musik in Persona ist also perfekt dem Bild angepasst und unterstreicht den dysnarrativen, ambivalenten und (alb-)traumähnlichen Charakter der Erzählung. Viskningar och rop Wie bereits erwähnt, kommt in Viskningar och rop keine originalkomponierte Musik vor. Nichtsdestotrotz ist auch hier die Musik der Erzählung angepasst und fügt ihr darüber hinaus eine aufschlussreiche Ebene hinzu. Dass Bergman für seine intermediale Anwendung von Filmmusik bekannt ist, belegt die Sequenz, in der Agnes an der weißen Rose riecht, bevor sie den Erinnerungen an ihre Mutter verfällt: in dem Moment, in dem sie die Rose an ihre Nase führt, erreicht die Musik ihren Höhepunkt. Chopins melancholische Mazurka in A-Moll fasst Agnes‹ Sehnsucht nach der Liebe der Mutter zusammen und scheint ihr gleichzeitig Trost zu spenden. Die Musik geht auch im flash-back weiter: man sieht Agnes‹ Mutter, die gedankenverloren durch den Park spaziert. Als Agnes von der Tante und der laterna magica erzählt, ist keine Musik zu hören, doch setzt sie wieder ein, als man die kleine Agnes sieht, die ihre Mutter hinter dem Vorhang beobachtet. Die Mutter ruft Agnes zu sich und, als diese den Blick senkt, streckt sie ihre Hand nach dem Gesicht des Mädchens aus und hebt dessen Kinn. Dann folgt eine kurze Pause in der Musik, die dann wieder einsetzt, als Agnes, die die Traurigkeit der Mutter erkennt, tröstend die Hand an deren Wange hält. Die Musik folgt hier der Bewegung ihrer Hand, langsam und sehnsüchtig. Auch am Ende des Films spiegelt der Höhepunkt der Musik den narrativen Höhepunkt der Sequenz wider, als Anna Agnes‹ Tagebuch öffnet. Doch als Agnes die letzten Worte ausspricht, »Nun, für einige Minuten, darf ich das Gefühl der völligen Zufriedenheit verspüren«, kurz bevor der Titel »Und so schweigen die Schreie und das Flüstern« eingeblendet wird, verstummt auch die Musik, um den bedeutenden Worten Platz zu machen. Die Sarabande aus der Cellosuite n°5 in C-Moll von Johann Sebastian Bach ist eine tiefe, warme und erhabene Musik für ein Instrument und verkörpert somit die Gemeinschaft der Seelen. Bei der Sarabande handelt es sich um einen langsamen, gravitätischen Schreittanz aus dem 17. Jahrhundert, was in der Sequenz, in der Maria und Karin einander berühren, durch die langsamen Schwenks zwischen den beiden Gesichtern vermittelt wird. Auch in der Sequenz, in der Agnes in Annas Schoß

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ruht, hebt der warme Klang des einsamen Cellos das starke, tiefe Band zwischen den beiden Frauen hervor. Ansonsten herrschen im Film das Schweigen, die Stille, das Flüstern und die Schreie vor. Die Musik hat hier also, aufgrund ihres sparsamen Einsatzes, eine besondere Bedeutung und Aussagekraft. Smultronstället In Smultronstället dominiert das bereits erwähnte Leitmotiv der wilden Erdbeeren. Es spiegelt Isaks Empfindungen und Gefühlszustände wider, ebenso wie die gesamte Erzählung von Isak erzählt und fokalisiert wird. Das Leitmotiv kommt nur ein einziges Mal in Dur vor – als Isak in seiner Erinnerung auf seine Jugendliebe Sara trifft, und zwar noch bevor diese durch ihren Kuss mit Isaks Bruder ihre Unschuld verliert. Ansonsten drückt die Melodie Isaks Wehmut und Sentimentalismus in Bezug auf seine Kindheit aus, wird jedoch je nach Kontext von unterschiedlichen Instrumenten gespielt. Als das Leitmotiv zum ersten Mal (nach dem Vorspann) zu hören ist (als Isak und Marianne zum Sommerhaus gelangen), wird es von einem Cello in Begleitung von einer melancholisch klingenden Klarinette gespielt. Später, als Isak von seiner Kindheit zu erzählen beginnt, übernimmt die Geige die Führung der Melodie. Als die drei jungen Anhalter Isak gegen Ende des Films den Blumenstrauß überreichen, ertönt das Leitmotiv in einer gekürzten Fassung und von nur einem Cello gespielt, was Isaks Einsamkeit in diesem Moment ausdrückt. Auch während der Zeremonie ist das Leitmotiv nur in der Celloversion zu hören, während es von zwei Celli gespielt wird, als Isak beim Mittagessen über dem See den Psalm vorträgt – es sind auch vorwiegend zwei Personen, Isak und Marianne, die diese Zeilen rezitieren. Die interessanteste Version des Leitmotivs ist jedoch in Isaks zweitem Traum zu hören, nachdem Sara ihm den Spiegel vorgehalten hat. Als sie meint, sie müsse ihn nun verlassen, um sich um Sigbritts Baby zu kümmern, und davonläuft, setzen Streichtremoli ein, die lauter werden, während das Kreischen der Vögel und das Schreien des Babys zu hören sind. Die Musik folgt nun Saras Bewegung: als sie den Hügel hinunterläuft und einen kleinen Sprung nach unten macht, wird dies musikalisch in fallende Pizzicati-Akkorde übersetzt (ein Beispiel für das ansonsten äußerst sparsam verwendete mickey-mousing), und als sie das Baby aus der Wiege hebt, erreichen die aufsteigenden Streichtremoli ihren Höhepunkt und werden vorübergehend von Klarinetten- und Xylofontönen abgelöst. Das Interessante an den Streichtremoli ist, dass sie das Leitmotiv der wilden Erdbeeren spielen und aufsteigende und fallende chromatische Leitern beschreiben: als Sara zu Sigbritts Baby spricht und ihm sagt, es solle keine Angst haben, gehen die Streicher in Halbtonschritten mit

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der Melodie nach unten. Auch als sie meint, dass niemand ihm etwas antun wird, beschreiben Pizzicati (vom Klang einer Flöte begleitet) eine fallende, chromatische Bewegung. Die Verwendung von chromatischen Leitern wurde bereits im Barock zur Symbolisierung des Bösen, Unheil Verkündenden eingesetzt und ist ein beliebtes Stilmittel in der Filmmusik. Die Musik ist hier also deutlich an das Bild angepasst: die bedrohlichen, unheimlichen Töne unterstreichen das Abbild von kargen, spitzen Ästen und schwarzen Vogelschwärmen, die über einen von Wolken bedeckten Himmel kreisen. Da es sich hier um Isaks Albtraum handelt, sind sowohl die Bilder als auch die Musik mit ihren chromatischen Leitern seinen Ängsten zuzuschreiben. Los amantes del círculo polar In Los amantes del círculo polar ist die Musik insgesamt sehr atmosphärisch und der plastischen Schönheit der Bilder angepasst. Wie bereits erwähnt, steht sie vor allem in Verbindung mit den zwei Hauptfiguren Ana und Otto. Die Nuancen von Iglesias‹ Musik geben ihr Schweigen, ihre Verschlossenheit und ihre ganz persönliche Sprache wider. Besonders das Leitmotiv, das von der tiefen Flöte gespielt und mit dem Polarkreis assoziiert wird, vermittelt das Magische dieser Beziehung und setzt dort ein, wo Worte überflüssig sind, was besonders deutlich wird, als sich Otto und Ana zum ersten Mal küssen, oder als die beiden zum ersten Mal Sex miteinander haben. Die Musik ist geheimnisvoll und ruhig und hebt die Sinnlichkeit der in Blau gehaltenen Bilder hervor. Die Musik ist auch meist in Moll komponiert und Ausdruck für die grundsätzlich melancholische Stimmung des Films. Die vorherrschenden Instrumente sind Streicher (Geige, Viola und Cello), aber auch Klavier, Klarinette und Xylofon kommen vermehrt vor, wobei die Streicher oft für das Tragische, das Klavier für das Bewegte, die Klarinette für das Schicksalhafte (beispielsweise im ersten Leitmotiv, das gleich zu Beginn des Films Anas Todessequenz und ihr Warten auf den Zufall ihres Lebens am Ende begleitet) und das Xylofon für das Unheimliche stehen. Auch hier ist die Musik oft sehr genau dem Ablauf der Bilder angepasst, zum Beispiel in der Sequenz, in der Otto in Anas Bett einschläft und sie am Morgen von Anas Mutter aus dem Schlaf gerissen werden: die stürmische Musik setzt mit den Streichern ein, als der Wind von hinten auf Anas Haar bläst. In dem Moment, in dem sie sich umdreht und sieht, wie Otto durch das Fenster in sein Zimmer springt, folgt das Klavier. Als Ana ihre Mutter fragt, ob sie bereits unters Bett gesehen habe, und sich diese daraufhin dem Zimmer nähert, wird die Musik langsamer, bis sie in tiefen Klaviertönen fast stehen bleibt. Als Anas Mutter Otto tatsächlich unterm Bett entdeckt und ausruft »Otto, es ist acht Uhr!« be-

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ginnt die bewegte Musik von Neuem, während Anas Stimme im voiceover erzählt, dass sie Sex nie so intensiv erlebt habe wie in diesen Zeiten. Eine der dramatischsten Sequenzen ist jene, in der Otto seine tote Mutter in der Küche entdeckt. Die Musik beginnt, als Otto fragend die seltsame Luft riecht und eine Fliege sieht. Die Streicher setzen ein und spielen tiefe, langsame Akkorde, von einer lauernden Bassstimme eines Synthesizers begleitet. Neben der Musik sind während dieser Sequenz auch das Summen der Fliege, das Säuseln des Windes und das Klappern der Türen zu hören. Als Otto nach seiner Mutter ruft, ertönen Xylofonklänge, und als er die Küchentür einen Spalt öffnet und auf dem Tisch das bereits verwelkte Gemüse entdeckt, sorgen vereinzelte Klavierdissonanzen für eine unheimliche Stimmung (dieselbe Tonkombination von Xylofon und Klavierdissonanzen war bereits in der Sequenz, in der sich Otto daran erinnert, wie ihnen bei einem Ausflug einmal das Benzin ausgegangen ist, zu hören). Als Otto an der Tür stehen bleibt und sich umdreht, spielt ein Cello das Leitmotiv, das auch die Sequenz, in der Otto seine weinende Mutter hört, begleitet hat. Die Spannung in der Musik steigt, während sich Otto auf die Küchentür zubewegt, flaut, als wolle sie nochmals Luft holen, etwas ab, und steigt wieder an, als Otto die Türe aufstößt. Die Musik endet laut und dissonant mit der Aufnahme vom Kopf der Mutter, der regungslos auf dem Tisch liegt. Auch die Sequenz, in der Otto sich, nach dem Tod seiner Mutter und von Schuldgefühlen geplagt, in dem gemieteten Zimmer gegen die Wände wirft, wird narrativ durch die Musik verstärkt. Die Kamera gibt teilweise Ottos subjektiven Blickpunkt wider, während die wirre, dissonante und bewegte Musik der tiefen Streicher sein Seelenleben vermittelt. Lucía y el sexo Genauso wie sich die Handlung von Lucía y el sexo an zwei Orten abspielt – in der Stadt und auf der Insel – kann man auch die Musik in zwei verschiedene Arten einteilen: einerseits melodische Walzer für die Begegnungen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Hauptfiguren, andererseits atmosphärische Synthesizermusik für die Welt rund um die Insel. Synthesizermusik wird aber auch in den Sequenzen angewandt, in denen es um die dunkle, verbotene Seite der Sexualität und um Lorenzos düstere Fiktion geht, und um Spannung zu erzeugen. Als Lucía zu Beginn des Films nach Hause läuft, weisen wirre Klaviertöne und dissonante, hohe Violaklänge darauf hin, dass Lorenzo etwas zugestoßen ist. Tiefe, zitternde Synthesizerklänge im Hintergrund schaffen zusätzlich Spannung. Als Lucía auf das offene Fenster zugeht und hinaussieht, als vermute sie, dass Lorenzo hinausgesprungen ist, kommen zum Synthesizer noch in Halbtönen aufsteigende Klaviertremoli hinzu. Die zu Beginn der

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Sequenz zu hörenden wirren Klaviertöne erklingen wieder, als sie erneut durch die Straßen Madrids läuft, diesmal in Richtung Bahnhof, und die Aufnahme von der im Zug sitzenden Lucía wird erneut vom leidenden Klang der einsamen Viola begleitet, während die Klaviertremoli im Hintergrund die verbleibende Aufregung der vorhergehenden Sequenz signalisieren. Diese Sequenzen – Lucías Heimweg, das Vorfinden von Lorenzos Nachricht, der Anruf der Polizei, ihr Fortlaufen und die Zugfahrt – werden durchwegs, wie eine ständig drohende Gefahr, von den im Hintergrund hörbaren, tiefen Synthesizerklängen untermalt. Sobald sie sich jedoch auf dem Boot befindet, das sie auf die Insel bringt, verstummt die Musik, und es ist nur mehr noch das Rauschen des Wassers zu hören. Die Musik, die dem Handlungsort Madrid zuzuordnen ist, ertönt daraufhin nur dann, wenn sich dies aus dem Zusammenhang mit der Vergangenheit ergibt. Die Musik, die für die Sequenzen auf der Insel eingesetzt wird, wird ebenfalls durch einen Synthesizer erzeugt und ist als atmosphärisch und geheimnisvoll zu bezeichnen. Teilweise erinnnert sie an die Unterwasserwelt des Meeres oder an Wallaute. Als Lucía auf ihrem Motorrad die Insel erkundet und dabei auf einen Leuchtturm zufährt, schwebt die Musik im Hintergrund, während bereits das Atmen die darauf folgende Sequenz, in der sich Lorenzo und Elena im Wasser lieben, ankündigt. Sie schafft, gemeinsam mit dem stark überbelichteten, weiß-bläulichen Bild und der leichten Zeitverzögerung, in der aus Lucías Perspektive gefilmt wird, eine traumähnliche, unwirkliche Atmosphäre. Alle Sequenzen, die von dieser atmosphärischen Synthesizermusik untermalt werden, spielen also auf der Insel oder stehen zumindest mit ihr in Verbindung. Ansonsten ist auch hier die Musik oft bis ins Detail an das Bild angepasst. Als Elena nach ihrer Liebesnacht mit Lorenzo einen Schwangerschaftstest durchführt, rinnt eine Träne ihre Wange hinunter, was in einer Detailaufnahme gezeigt wird. Genau in diesem Moment machen die Klaviertöne, die Lorenzos und Elenas walzerartiges Leitmotiv spielen, eine Abwärtsbewegung, die mit der Bewegung der rollenden Träne synchronisiert zu sein scheint. Eine ähnliche Aufnahme folgt in einer späteren Sequenz, in der Belén im Krankenhaus mit Elena telefoniert und ebenfalls eine Träne in einer Detailaufnahme ihre Wange herabrollt. Wieder steigen die Klaviertöne synchron mit der Bewegung der Träne die Tonleiter hinab, um dann wieder einen Ton zu steigen, als Carlos die Träne mit dem Finger auffängt. In einer anderen Sequenz, in der ebenfalls dieses Leitmotiv ertönt, nämlich als Lorenzo Elena zum ersten Mal schreibt und sie sich im Bildschirm spiegeln, erreicht die von der Viola gespielte Melodie ihren höchsten Ton, als Lorenzo Elena von hinten zu küssen beginnt. Danach steigt die Melodie die Tonleiter wieder herab,

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bis die Musik in dem Moment verstummt, in dem Lucía nach Hause kommt und dadurch die sich anbahnende Romantik zwischen den beiden zunichte gemacht wird. Auch beim ersten Treffen zwischen Lucía und Lorenzo, bei dem sie ihm ihre Liebe gesteht, ist die Musik dem Dialog angepasst. Als sie sagt »Daher habe ich mich dazu entschlossen…«, erklingen ein paar verwegen klingende Klarinettentöne, die den Takt des Walzers ankündigen sowie Lucías zögerndes, nervöses Vorantasten vermitteln. Sobald sie Lorenzo erklärt hat, dass sie in ihn verliebt ist und mit ihm leben möchte, atmet sie erleichtert auf, während eine Viola die Melodie des Walzers zu spielen beginnt. Als Lorenzo, der gerührt und aus der Fassung geraten nach Worten sucht, sich fragend nach Pepe umdreht und dabei einen Blick auf den Fernseher wirft, hört die Musik kurz auf und beginnt von Neuem mit der Oboe, als Lorenzo sich wieder Lucía zuwendet und nervös die Zigarettenpackung öffnet. In Folge wechseln sich Oboe, Viola, Flöte und Klarinette ab, begleitet von den tiefen Klängen des Fagotts. Die Musik wird dann wieder langsamer, als Lorenzo Lucía fragt, ob sie sich sonst noch etwas wünsche, wobei die Viola wie ein Fragezeichen einen hohen Ton anspielt, und gewinnt an neuem Schwung, als Lucía meint, dass sie sich erwarte, dass sich Lorenzo nach einer gewissen Zeit auch in sie verliebt. Die Musik verstummt nochmals, als Lorenzo aufsteht, sich zu Lucía begibt und sagt »Das habe ich soeben«, und setzt kurz darauf mit der Flöte wieder ein, um die beiden aus der Bar zu begleiten. Eine ähnliche Anwendung der Musik findet sich in jener Sequenz, in der Lucía und Lorenzo zum ersten Mal Sex haben. In dem Moment, in dem in einer Detailaufnahme gezeigt wird, wie Lucía ihre Brust an Lorenzos Mund hebt, ertönen sanfte Harfenklänge, die den darauf folgenden Walzer einleiten. In diesem leichten, hellen Walzer wechseln sich dann spielerisch Viola, Flöte, Klarinette und Fagott ab und übernehmen Teile der Melodie. Der Rhythmus der Melodie ist dem Rhythmus der Bewegungen der beiden Liebenden angepasst. Als der Walzer zum zweiten Mal ertönt (als die beiden Fotos voneinander machen), wird ein kurzes Vorspiel von Harfenarpeggi begleitet, was die Leichtigkeit und das Verspielte und Zauberhafte der Sequenz nochmals verstärkt hervorhebt. Les Roseaux sauvages In Les Roseaux sauvages zieht sich als extradiegetische Musik das Adagio für Streicher von Samuel Barber durch die gesamte Erzählung hindurch. Dieses Adagio ist, wie der Name bereits sagt, langsam und traurig. Die tiefen Streicherklänge (vor allem der Celli) verleihen der Tragik rund um den Algerienkrieg und der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit

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der Jugendlichen zusätzlich an Tiefe. Diese traurige, extradiegetisch verwendete Musik wird durch die diegetischen, heiteren Lieder der 60er Jahre kontrastiert. Außer dem Adagio für Streicher kommt nur wenig extradiegetische Musik vor. Eine Stelle ist jedoch auffallend: als Henris Aufmerksamkeit auf den Fernseher in der Schule gelenkt wird, von dem die Nachrichten über die Niederlage der OAS in Alger ausgestrahlt werden, ertönen Paukenschläge und hohe, wirre Klänge einer Piccolaflöte. Die Musik hört zwischendurch auf, als Henri sich die Nachrichten anhört, setzt dann aber wieder ein, als die Kamera auf ein Fenster zoomt, durch das Henri und Monsieur Morelli zu sehen sind. Die dissonanten Klänge der beiden Instrumente machen deutlich, wie sehr die Nachrichten und die gesamte Situation in Algerien Henri durcheinander bringen und beschäftigen. Alice et Martin In Alice et Martin kommen, ähnlich wie in Les Roseaux sauvages, vor allem das Leitmotiv und diegetische Musik vor. Zwei Stellen wären hier im Rahmen der kommentierenden Funktionen von Filmmusik hervorzuheben. Als Martin zu Beginn des Films durch das Torgatter läuft und der Zwischentitel 10 ans plus tard (10 Jahre später) erscheint, sind vier dramatische, markante Streichakkorde (darunter ein dissonanter) mit längeren dazwischenliegenden Pausen zu hören. Dem/der ZuschauerIn wird dadurch signalisiert, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein muss. Würden diese vier Streichakkorde diese Sequenz nicht begleiten, so wäre nicht verständlich, dass Martin hier nicht bloß unter Zeitdruck steht, sondern regelrecht auf der Flucht ist. Durch die Begleitung der Musik wird klar, dass es sich hier um einen unwiderruflichen Einschnitt in Martins Leben handelt.

Die Musik als Signal für Traum und Suggestion Die vorhergehenden Kapitel sollten aufzeigen, inwiefern die Musik explizit oder implizit das Bild begleitet und unterstützt und wie sie die Gefühle der Figuren vermitteln kann. In manchen Fällen wird durch die Musik auch deutlich gemacht, dass es sich rein um die subjektive Gefühls- oder Traumwelt einer Figur handelt. Ma saison préféree Das beste Beispiel für eine innere, auditive Fokalisierung ist in Ma saison préférée zu finden, nämlich in der Sequenz, in der Antoine in der Bar sitzt. Die Bar ist voll von Menschen, im Hintergrund ist Lärm und lautes

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Gerede zu hören. Plötzlich wird die Aufmerksamkeit der Gäste von einer Frau geweckt, die alleine an einem Tisch sitzt und ein Lied zu singen beginnt – das Lied la la la von Ingrid Caven (von der Sängerin selbst interpretiert). Die Kamera bewegt sich langsam auf ihr Gesicht zu. Als sie die zweite Strophe mit den Worten »Die Zeit wird vergehen… Alles wird ausgelöscht… Ich werde nicht mehr hier sein« anstimmt, bewegt sie sich schließlich langsam in Richtung Ausgang, wobei diese Bilder in Zeitlupe gezeigt und die Hintergrundgeräusche ausgeblendet werden. Auf der Tonspur ist für einen kurzen Moment nur mehr ihre Stimme zu hören. Antoine, der an der Bar sitzt, sieht ihr nach und blickt dann gedankenversunken vor sich hin. Als er plötzlich den Kopf hebt, als wäre er aus einem Traum erwacht, sind mit einem Mal die Hintergrundgeräusche wieder hörbar. Er fragt den Mann neben sich, wie spät es ist. In dem Moment, als er aus dem Lokal zu laufen beginnt, sind Glockenschläge zu hören. In der folgenden Sequenz sieht man Antoine von der Seite über eine Brücke laufen, während auf der Tonspur dieselbe Melodie, die die Frau zuvor gesungen hat, von Glockenschlägen gespielt wird. Diesmal ist es die Tonspur, die scheinbar in Zeitlupe abgespielt wird, während die Bilder in normaler Geschwindigkeit ablaufen. Die Melodie der Glockenschläge klingt verzerrt und abgehackt, als würde sie Antoines Atem beim Laufen wiedergeben. Die Art, wie der Ton technisch bearbeitet wurde, lässt daraus schließen, dass es sich hier um Antoines subjektive Wahrnehmung handelt. Sobald Antoine die Brücke überquert hat und jemanden nach der Uhrzeit fragt, erhält der Ton den üblichen Klang und die normale Geschwindigkeit wieder. Auch die Tatsache, dass auf diese Sequenz das mentale Bild folgt, in dem Antoine seine Schwester tot auf der Straße liegen sieht, führt zur Annahme, dass diese Glockenschläge Antoines Angst, zu spät zu kommen, vermitteln. Alice et Martin In Alice et Martin kommt eine ähnliche Anwendung von Filmmusik vor wie die oben beschriebene in Ma saison préférée: in einer Sequenz, in der Martin wie üblich nachts im Meer baden geht, wird der Wellengang des Meeres in Zeitlupe gezeigt. Im Hintergrund ertönt eine atmosphärische Musik, die aber aufgrund des Meerrauschens kaum zu hören ist. Die Musik wird, genauso wie das Bild, in Zeitlupe wiedergegeben, was aber erst in dem Moment wirklich wahrnehmbar wird, als das Bild wieder in der normalen Geschwindigkeit gezeigt und der Ton dementsprechend verzerrt wird, als würde er beschleunigt werden. Die atmosphärische Musik und ihre Geschwindigkeitsveränderung tragen also dazu bei, dass die in Zeitlupe ablaufenden Bilder des bläulich schimmernden Meeres einen traumähnlichen Anschein erhalten. Aus dem Kontext heraus könn-

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te man deuten, dass es sich hier um Martins subjektive Wahrnehmung handelt und dass er ins Meer eintaucht um zu vergessen, dass ihn jedoch die Wirklichkeit immer wieder einholt, was durch den Wechsel von der Zeitlupe auf die normale Geschwindigkeit sowohl auf der Bild- als auch auf der Tonebene vermittelt wird. Los amantes del círculo polar In Los amantes del círculo polar wird jegliche Musik mehr oder weniger subjektiv angewandt, da sie sich zum Großteil auf Anas und Ottos subjektive Wahrnehmung bezieht. Ein Beispiel dafür wäre die bereits erwähnte Sequenz, in der sich Otto den Kopf an den Wänden anschlägt, um sich von seinen Schuldgefühlen zu befreien. Hier wird subjektive Kamera mit subjektiven Tönen verbunden. Auch die von der tiefen Flöte gespielte, leitmotivisch verwendete Melodie drückt Anas und Ottos Gefühle aus – beispielsweise in der Sequenz, in der Otto und Ana sich zum ersten Mal küssen und Ana ihr Ohr an Ottos Herz legt und dessen Schlag hört. Das Herzklopfen ist für den/die ZuschauerIn hörbar, obwohl es sich hier um Anas subjektive Wahrnehmung handelt. Auch am Ende des Films sind subjektive Töne zu hören, diesmal durch Ottos Wahrnehmung gefiltert: Otto kniet vor der toten Ana, im Hintergrund ist noch das finnische Lied Sinitaivas zu hören, das Otto bereits im Auto auf der Fahrt nach Rovaniemi begleitet hat. Das Lied klingt ab, als Otto die Augen schließt, was bildlich durch eine Schwarzblende vermittelt wird. In diesem Moment erklingen Streicher und Klavierarpeggi, die eine zyklische Bewegung beschreiben. Nach dem Abklingen der Klaviertöne sind nur mehr noch die Streicher zu hören, aber auch diese verstummen bald, um dem Säuseln des Windes Platz zu machen, das alleine das Spiegelbild von Ottos bestürztem Gesicht in Anas Augen begleitet. Die dramatischen, aufwirbelnden Klavierarpeggi, die ertönen, als Otto die Augen schließt, führen den/die ZuschauerIn mit Hilfe der Schwarzblende direkt in Ottos Seelenleben und drücken seine Verzweiflung und Bestürzung aus. Smultronstället Da der Großteil der Erzählung in Smultronstället aus Isaks (Alb- bzw. Tag-)Träumen besteht, ist auch die Musik dementsprechend subjektiv und soll Isaks Unbewusstes spiegeln. So wird der Albtraum zu Beginn des Filmes von einer unheimlichen Musik begleitet, die Isaks Angst und Unruhe ausdrückt. Der Albtraum wird durch eine Großaufnahme von Isaks Gesicht und seinem voice-over angekündigt, ebenso wie durch Streichtremoli, die das Leitmotiv der wilden Erdbeeren andeuten. Der eigentliche Albraum wird durch Harfenarpeggi eingeleitet, darauf folgen

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einige unheimliche Vibrafonklänge. Dann ist längere Zeit keine Musik zu hören, nur Isaks Herzklopfen, als er die Uhr ohne Zeiger entdeckt, seine Schritte und schließlich eine Kirchturmglocke, die zu läuten beginnt, als der Mann ohne Gesicht vor Isaks Augen umfällt. Auch die Kutsche wird durch den Klang der Hufen hörbar, ebenso wie ihr Prall gegen die Laterne und das Knarren, bevor der Sarg ihrem Inneren entgleitet. Die Musik setzt mit den Streichern in dem Moment wieder ein, als Isak sich dem Sarg nähert. Tiefe Harfenarpeggi erklingen, als sich die Hand des Toten im Sarg zu bewegen beginnt. Während diese Hand nach Isak greift, sich der Tote als Isaks Ebenbild herausstellt und dieser den lebendigen Isak in den Sarg zu ziehen versucht, sind dissonante Streicherklänge, tiefe Harfenarpeggi und Trommelschläge zu hören, die immer lauter werden, bis Isak schließlich aus seinem Albtraum erwacht. Die Musik wird hier also als Spannungselement verwendet, während ihre Abwesenheit die Verlassenheit des Stadtteiles, in dem sich Isak verirrt hat, sowie Isaks eigene Einsamkeit ausdrückt. Eine ähnliche Musik ertönt, als Isak seine Mutter besucht und diese ihm eine Taschenuhr zeigt, die sie einem ihrer Enkel zum Geburtstag schenken möchte. In dem Moment, als sie die Uhr hervorholt, sind Paukenschläge zu hören, die wie Herzschläge klingen. Als sie meint, dass sie Zweifel habe, die Uhr zu verschenken, da diese keine Zeiger mehr hat, dreht Isak den Kopf zur Uhr, was von Harfenarpeggi und unheimlichen, bewegten Streichern begleitet wird. Er blickt die Uhr nachdenklich und bestürzt an, während vereinzelte Harfenklänge ertönen, die Isaks Nachdenklichkeit vermitteln. Die Kamera zeigt Isaks besorgtes Gesicht und zoomt dann, von raschen Schlägen auf eine metallene Tellerscheibe und lauter werdenden Paukenschlägen begleitet, in einer subjektiven Aufnahme auf die Uhr. In diesen Sequenzen, die mit Isaks Albträumen zu tun haben, werden also vor allem Paukenschläge, Streichertremoli und Harfenarpeggi angewandt, um Isaks Angst zu vermitteln und Spannung aufzubauen. Harfenarpeggi deuten aber auch in den helleren Sequenzen, in denen Isak Tagträumen nachhängt, auf einen Übergang zwischen Wirklichkeit und Traum hin. Als Isak sich vor dem Sommerhaus befindet und in Erinnerungen schwelgt, verwandelt sich in seiner Fantasie das Haus der Gegenwart in jenes seiner Kindheitserinnerungen. Gleich danach setzen Streichtremoli ein, die einen Höhepunkt in der Erzählung ankündigen. Als die Kamera auf Isaks Gesicht zoomt, ertönen einzelne Harfenklänge, und als sein Gesicht vom Bild eines im Wind raschelnden Baumes überblendet wird, sind kurz danach Paukenschläge und Harfenarpeggi zu hören, die auch die Überblendung auf eine dunkle Gewitterwolke begleiten. Dabei klingen die Paukenschläge wie der durch die Wolke hervorgerufene Groll des Donners. Schließlich wird auch dieses Bild vom jenem der

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wilden Erdbeeren überblendet, und die Erzählung befindet sich nun gänzlich in Isaks Jugend. Die Harfe wird auch am Schluss als Auslöser für die Erinnerung und den Traum eingesetzt: als Isak im voice-over erklärt, dass er sich am Ende eines schwierigen Tages oft die Bilder aus der Kindheit ins Gedächtnis ruft, und sein Gesicht in Großaufnahme zu sehen ist, erklingen hohe Harfenarpeggi, die den Übergang zu den Traumbildern signalisieren. Während Sara Isak zu seinen Eltern führt, sind mehrere beruhigende Harfenarpeggi in Dur zu hören, ebenso wie am Schluss des Films, als man Isaks zufriedenes Gesicht sieht. In diesen Harfenklängen ist keine Wehmut mehr spürbar, sondern nur noch Isaks Glückseligkeit und sein Einklang mit sich und seiner Vergangenheit. Zusammen mit dem einzigen Mal, an dem das Leitmotiv in Dur ertönt (als Isak in seiner Erinnerung Sara sieht, die noch unschuldig wilde Erdbeeren pflückt), ist dies die einzige Stelle, an der eine Musik in Dur zu hören ist. Nachdem Isak sein Leben in den verschiedenen Alb- und Tagträumen rekapituliert und seine Fehler eingesehen hat, kann er wieder leichten Herzens in seine Jugend zurückkehren, wo er Sara und seine Eltern trifft. Seine heile Welt ist somit wiederhergestellt. All dies wird durch die hellen Harfenklänge verdeutlicht. Persona Da in Persona die Erzählung ebenfalls zum Großteil aus Traumsequenzen besteht, die jedoch nur schwer von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind, ist es auch schwierig, die Musik einer rein subjektiven Wahrnehmung zuzuschreiben. Die Musik vermittelt vielmehr eine allgemein lauernde Gefahr und eine albtraumähnliche Stimmung. Als Alma nach ihrem Streit mit Elisabet draußen auf dem Felsen sitzt, während Elisabet im Haus umhergeht, wird jedoch durch die Musik deren Nervosität spürbar. Zu Beginn der Sequenz wird eine Nahaufnahme von Alma von Xylofon- und Streichklängen und einem Ton eines tiefen Blasinstrumentes (Bassklarinette oder Fagott) begleitet. Dann sieht man Elisabet nervös im Haus herumirren und eine Zigarette rauchen, was von Paukenschlägen und Streichtremoli untermalt wird. Als sie sich an den Tisch setzt und die Lampe beobachtet, erklingen Streichglissandi und eine Flöte, die kurz die Töne anspielen, die auch in der Sequenz, in der sich Elisabet Alma von hinten nähert, zu hören sind. Danach folgt ein kurzer chromatischer Abschnitt der Flöte, als sich Elisabet vor dem Haus befindet, und aufheulende Celloklänge, als sie wieder hineingeht. Paukenschläge begleiten sie schließlich, als sie in ihr Zimmer geht. Da meist Elisabet zu sehen ist, und nur selten Alma, die die ganze Zeit über bewegungslos auf dem Felsen sitzt, ist anzunehmen, dass diese unruhige Musik mehr Elisabets als Almas Gefühlszustand widerspiegelt, zumal sich die darauf folgende

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Sequenz ausschließlich auf Elisabet konzentriert. Auch das von der Flöte und den Streichern kurz angespielte Leitmotiv scheint die Erinnerung in ihr an die (geträumte) Annäherung zwischen den beiden Frauen zu symbolisieren. Abschließend kann man zur Anwendung der Musik in den Filmen von Bergman, Téchiné und Medem sagen, dass sich hier wohl die größten Unterschiede zwischen den drei Regisseuren erkennen lassen. Wie wir gesehen haben, setzt Bergman Musik sehr sparsam und punktuell ein, wobei er die Bewegung der Musik oft bis ins Detail an die Bewegung des Bildes anpasst. Auch die Tatsache, dass die Musik in seinen Filmen häufig »das Wort ergreift«, dass er mit Vorliebe klassische Musik verwendet und musikalische Strukturen auf seine Erzählungen überträgt, unterscheidet ihn von den zwei übrigen Regisseuren. Téchiné verwendet in den hier analysierten Filmen Musik ebenfalls sehr sparsam, wobei vor allem Lieder aus der Unterhaltungsmusik die Funktion übernehmen, das soziale und kulturelle Umfeld der Figuren zu untermalen. Betrachtet man jedoch seine übrigen Filme, so kann man feststellen, dass die meist von Philippe Sarde komponierte Musik symphonische und leitmotivische Züge aufweist, wie dies der Fall von Alberto Iglesias‹ Musik in den Filmen von Julio Medem (und auch Pedro Almodóvar) ist. Hier trägt die Musik vor allem dazu bei, sowohl Verbindungen zwischen den Figuren und Erzählsträngen zu schaffen, als auch ihre Unterschiede aufzuzeigen. Iglesias‹ gefühlsbetonte Musik unterstreicht außerdem Medems ausdrucksstarke Bildsprache. Was alle drei Regisseure jedoch eint, ist der rote Faden, der sich durch ihre Verwendung von Musik zieht: sowohl Medem als auch Téchiné arbeiten stets mit demselben Komponisten, was bewirkt, dass Regisseur und Komponist ein bereits aufeinander abgestimmtes Tandem bilden, das gezielt daran arbeiten kann, eine Art filmischen Mikrokosmos zu schaffen, der die einzelnen Filme miteinander verbindet. Auch Bergman arbeitete anfangs fast ausschließlich mit Erik Nordgren zusammen, und obwohl diese enge Zusammenarbeit in Bergmans späteren Filmen ein Ende fand, so verweist auch Bergmans Vorliebe für stets dieselben Komponisten auf Kontinuität hin. Bei allen drei Regisseuren ist Filmmusik also weitaus mehr als nur Begleitung, denn sie stellt ein wichtiges Element innerhalb der Erzählung dar, ohne welches vieles unklar oder im Verborgenen bliebe.

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SCHLUSSWORT Betrachtet man nun abschließend nochmals Bergman, Téchiné und Medem im Vergleich, so ergeben sich verschiedene Schnittstellen zwischen diesen drei Regisseuren, an denen Ähnlichkeiten sichtbar werden. Manchmal lassen sich Parallelen nur zwischen zwei von ihnen feststellen, doch das, was die drei am stärksten eint, ist die Faszination für das Einfließen einer Traumwelt in das Alltägliche, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Wirklichkeit, Traum und Fiktion und das Aufbrechen starrer Zeitstrukturen. Im Kapitel »Zeit-Bilder« wird ersichtlich, dass bei allen drei Regisseuren der Begriff der Zeit zentral ist und dass sie sich von einer starren Auffassung der Zeit distanzieren und somit unkonventionelle Ezählformen dem flash-back oder anderen konventionellen Mitteln als Ausdruck der Vergangenheit vorziehen. Die Anknüpfung an die Theorien von Gilles Deleuze und dessen Idee einer zyklischen Zeit hat sich hier als besonders ergiebig erwiesen. Im Kapitel »Beziehungs-Bilder« wird deutlich, inwiefern sich die Regisseure der Bildkomposition bedienen, um Beziehungskonstellationen, vor allem was die Familien- und Generationsproblematik und die Geschlechterbeziehungen betrifft, darzustellen. In Anlehnung an die Problematisierung von Identität in u.a. den Cultural Studies wird im Kapitel »Identitäts-Bilder« aufgezeigt, dass die drei Filmemacher ähnliche Standpunkte hinsichtlich fließender Identitätsformationen vertreten, wobei das Motiv des Spiegel bevorzugt als Symbol für die Identitätssuche eingesetzt wird. Anhand einer teilweise manifesten selbstreflexiven Erzähltechnik kann man auch ihr Streben ablesen, mit den Konventionen der klassischen Filmerzählung zu brechen und mit dem Publikum in einen imaginären »Dialog« zu treten, durch den sie zu einer kritischeren Haltung gegenüber der fiktiven Welt der Filmerzählung auffordern. Alle drei Regisseure können somit als Filmautoren angesehen werden, die sich auf sehr persönliche Weise Themen wie der Identitätsformation innerhalb einer gegebenen Gesellschaft und Kultur und der Beziehung sowohl zwischen den Menschen als auch zwischen dem Mensch und seiner Vergangenheit und seinem Unbewussten nähern. Die Darstellung des Menschen im Konflikt mit seiner Umwelt und seinen eigenen (Alb-)Träumen, Ängsten und Erinnerungen steht im Zentrum ihrer Erzählungen, wobei die an vielen Stellen sichtbare Enunziation 221

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das Einbinden des Regisseurs sowie des Publikums in die Filmerzählung ermöglicht und den Rahmen der metaphysischen Fragen außerhalb der Grenzen der Fiktion verlegt. Besondere Bedeutung wird schließlich dem Traum beigemessen, da sich dieser als das stärkste Bindeglied zwischen den drei Regisseuren herauskristallisierte. Dies erklärt sich nicht zuletzt durch das Erbe des Surrealismus, das mehr oder weniger den Nährboden für alle drei in Bezug auf ihre Traumästhetik darstellt. Natürlich können diese Ähnlichkeiten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass jeder dieser drei Filmautoren über eine ihm eigene, unverkennbare Filmsprache verfügt, die nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass jeder von ihnen – laut eigener Angaben – seine eigenen Träume, Gefühle und Bilder im Film verarbeitet, die wiederum durch ihre jeweilige Generation und Herkunft bestimmt sind. So setzt sich Medem beispielsweise zumindest in seinen ersten Filmen mit der baskischen Identität auseinander, während sich Bergman verstärkt mit Religion und Téchiné, der Tradition der Nouvelle Vague folgend, mit dem Kino selbst beschäftigen. Auch können die Wesensmerkmale dieser Regisseure nicht außerhalb des Kontexts allgemeiner Entwicklungen im europäischen Kino gesehen werden. Strömungen wie der Surrealismus, der bereits in den 20er und 30er Jahren dem Film eine andere Rolle als die des Unterhaltungsmediums zugewiesen und sich intensiv mit Traum als Flucht vor Autorität auseinandergesetzt hat, haben den europäischen Film derart mitgeprägt, dass einzelne Regisseure nicht unabhängig von ihnen analysiert werden können. Ein Vergleich dreier Regisseure, die unterschiedlichen Kulturen und Generationen entstammen, kann daher deshalb besonders interessant sein, da durch sie die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Strömungen und Regisseuren und somit Veränderungen in der Welt des Films analysiert werden können. Es sind eben diese Wechselwirkungen und gegenseitigen Beeinflussungen, die ständig zu Erneuerungen des Films führen. Die Tatsache, dass sich trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft zahlreiche Parallelen zwischen den drei Regisseuren aufzeigen lassen, macht deutlich, wie groß der Einfluss verschiedener Strömungen wie der Surrealismus oder die Nouvelle Vague bis heute noch sind und wie sehr die Sprache des Films in der Lage ist, zeitliche, nationale und kulturelle Grenzen zu überschreiten. Dass der Film nicht nur das Individuum mit seinen existenziellen Fragen spiegelt, sondern auch Gesellschaft und Kultur als ganze, und somit Aufschluss über Entwicklungen auch außerhalb des filmischen Diskurses geben kann, dafür stehen die Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem.

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Filmographie Smultronstället (Wilde Erdbeeren, 1957) Drehbuch/Regie: Ingmar Bergman. Produzent: Svensk Filmindustri. Kamera: Gunnar Fischer. Musik: Erik Nordgren. Montage: Oscar Rosander. Darsteller: Victor Sjöström (Isak Borg), Bibi Andersson (Sara), Ingrid Thulin (Marianne), Gunnar Björnstrand (Evald), Folke Sundquist (Anders), Björn Bjelvenstam (Viktor), Naima Wifstrand (Isaks Mutter), Jullan Kindahl (Gouvernante Agda), Gunnar Sjöberg (Herr Alman), Gunnel Broström (Frau Alman), Gertrud Fridh (Isaks Frau Karin), Åke Fridell (Karins Liebhaber), Max von Sydow (Åkerman) u.a. Persona (Persona, 1966) Drehbuch/Regie: Ingmar Bergman. Produzent: Svensk Filmindustri. Kamera: Sven Nykvist. Musik: Lars Johan Werle. Montage: Ulla Ryghe. Darsteller: Bibi Andersson (Alma), Liv Ullmann (Elisabet Vogler), Margaretha Krook (Ärztin), Gunnar Björnstrand (Herr Vogler), Jörgen Lindström (Elisabets Sohn). Viskningar och rop (Schreie und Flüstern, 1973) Drehbuch/Regie: Ingmar Bergman. Produzent: Cinematograph in Zusammenarbeit mit Svensk Filmindustri. Kamera: Sven Nykvist. Musik: Chopin, Bach. Montage: Siv Lundgren. Darsteller: Harriet Andersson

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LITERATUR

(Agnes), Kari Sylwan (Anna), Ingrid Thulin (Karin), Liv Ullmann (Maria), Erland Josephson (Arzt), Henning Moritzen (Joakim), Georg Åhlin (Fredrik), Andres Ek (Pastor Isak) u.a. Ma saison préférée (Meine liebste Jahreszeit, 1993) Drehbuch: André Téchiné, Pascal Bonitzer. Regie: André Téchiné. Produzent: Alain Sarde. Kamera: Thierry Arbogast a.f.c. Musik: Philippe Sarde. Montage: Martine Giordano. Darsteller: Catherine Deneuve (Emilie), Daniel Auteuil (Antoine), Marthe Villalonga (Mutter), JeanPierre Bouvier (Bruno), Chiara Mastroianni (Anne), Carmen Chaplin (Khadija), Anthony Prada (Lucien), Michèle Moretti (Direktorin Altenheim), Jacques Nolot (Mann am Friedhof). Les Roseaux sauvages (Wilde Herzen, 1994) Drehbuch: André Téchiné, Gilles Taurand, Olivier Massart. Regie: André Téchiné. Produzent: Alain Sarde, Georges Benayoun. Kamera: Jeanne Lapoirie. Montage: Martine Giordano. Darsteller: Élodie Bouchez (Maïté), Gaël Morel (François), Stéphane Rideau (Serge Bartolo), Frédéric Gorny (Henri Mariani), Michèle Moretti (Madame Alvarez), Jacques Nolot (Monsieur Morelli), Eric Kreikenmayer (Pierre Bartolo), Michel Ruhl (Monsieur Cassagne). Alice et Martin (Alice und Martin, 1997) Drehbuch: André Techiné, Gilles Taurand, Olivier Assayas. Regie: André Téchiné. Produzent: Alain Sarde. Kamera: Caroline Champetier. Musik: Philippe Sarde. Montage: Martine Giordano. Darsteller: Juliette Binoche (Alice), Alexis Loret (Martin Sauvagnac), Mathieu Amalric (Benjamin Sauvagnac), Carmen Maura (Martins Mutter), Jean-Pierre Lorit (Frédéric Sauvagnac), Marthe Villalonga (Lucie Sauvagnac), Roschdy Zem (Robert), Pierre Maguelon (Victor Sauvagnac), Eric Kreikenmayer (François Sauvagnac), Jeremy Kreikenmayer (Martin als Kind). Los amantes del círculo polar (Die Liebenden des Polarkreises, 1998) Drehbuch/Regie: Julio Medem. Produzent: Fernando Bovaira, Enrique López Lavigne. Kamera: Gonzalo Berridi. Musik: Alberto Iglesias. Montage: Iván Aledo. Darsteller: Fele Martínez (Otto), Nawja Nimri (Ana), Nancho Novo (Álvaro), Maru Valdivieso (Olga), Peru Medem (Otto als Kind), Sara Valiente (Ana als Kind), Victor Hugo Oliveira (Otto als Jugendlicher), Kristel Díaz (Ana als Jugendliche), Beate Jensen (Ottos Mutter) u.a.

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TRAUMREISENDE

Lucía y el sexo (Lucía und der Sex, 2001) Drehbuch/Regie: Julio Medem. Produzent: Fernando Bovaira, Enrique López Lavigne. Kamera: Kiko de la Rica. Musik: Alberto Iglesias. Montage: Iván Aledo. Darsteller: Paz Vega (Lucía), Tristán Ulloa (Lorenzo), Nawja Nimri (Elena), Daniel Freire (Antonio/Carlos), Elena Anaya (Belén), Javier Cámara (Pepe), Silvia Llanos (Luna) u.a.

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»Film« bei transcript Alexander Böhnke Paratexte des Films Über die Grenzen des filmischen Universums Juni 2007, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-607-6

Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne Juni 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-667-0

Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium Mai 2007, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-563-5

Sandra Strigl Traumreisende Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem Mai 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-659-5

Klaus Kohlmann Der computeranimierte Spielfilm Forschungen zur Inszenierung und Klassifizierung des 3-D-Computer-Trickfilms Februar 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-635-9

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen (2., überarbeitete Auflage) Februar 2007, 478 Seiten, kart., ca. 250 Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-728-8

Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm 2006, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-552-9

Christian Wenger Jenseits der Sterne Gemeinschaft und Identität in Fankulturen. Zur Konstitution des Star Trek-Fandoms 2006, 406 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-600-7

Markus Fellner psycho movie Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm 2006, 424 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-471-3

Achim Geisenhanslüke, Christian Steltz (Hg.) Unfinished Business Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften 2006, 188 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-437-9

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»Film« bei transcript Volker Pantenburg Film als Theorie Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard 2006, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-440-9

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-342-6

Andreas Jahn-Sudmann Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit

2006, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-401-0

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2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-279-5

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-183-5

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-269-6

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»Film« bei transcript Andreas Becker Perspektiven einer anderen Natur Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung 2004, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-239-9

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-181-1

Kerstin Kratochwill, Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge 2004, 196 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-180-4

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