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German Pages 390 Year 2014
Antonie Schmiz Transnationalität als Ressource?
Kultur und soziale Praxis
Antonie Schmiz (Dr. rer. pol.) lehrt Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht zu Migration und städtischen Entwicklungsprozessen sowie im Bereich der geographischen Entwicklungsländerforschung.
Antonie Schmiz
Transnationalität als Ressource? Netzwerke vietnamesischer Migrantinnen und Migranten zwischen Berlin und Vietnam
Das vorliegende Buch wurde im Jahr 2010 als Dissertation am Geographischen Institut der Universität Bremen vorgelegt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis
ix
Abbildungsverzeichnis
xi
Abkürzungsverzeichnis
xiii
Danksagung
xv
1 Einleitung 1.1 Forschungsstand und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsziel und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 4 7 10
2 Theoretische Grundlagen 2.1 Transnationalismus und transnationale Migration . . . . . . 2.1.1 Transnationalismus im Kontext von Nationalität und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Transnationalismus im Kontext von Inklusion und Assimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Formen und Ausprägungen des Transnationalismus 2.1.4 Transnationale soziale Räume . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Transnationalismus und UnternehmerInnentum . . . 2.1.6 Embeddedness, Netzwerke und Kapitalien . . . . . . 2.1.7 Kritik und Forschungsdesiderate . . . . . . . . . . . . 2.2 Migration und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Rücküberweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 RückkehrerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Kritik und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien . 2.3.1 Middleman Minorities . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Ethnic ownership-, ethnic enclave- und ethnic controlled economy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Nischen-, Kultur- und Reaktionsansatz . . . . . . . . 2.3.4 Interaktionsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 ›Ethnisch‹ sind immer die anderen . . . . . . . . . . 2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien . . . 2.4.1 Transkulturalität als Praxis . . . . . . . . . . . . . . .
13 14 16 17 20 22 23 27 33 36 40 43 45 48 53 54 56 58 62 65 65 v
Inhaltsverzeichnis
2.5
2.4.2 Mixed-Embeddedness-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Strategien im Kontext von MigrantInnenökonomien 2.4.4 Strukturalistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 68 72 77
3 Einordnung des Fallbeispiels 79 3.1 VietnamesInnen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.1.1 Vietnamesische VertragsarbeiterInnen in der DDR . 84 3.1.2 Situation nach der Wiedervereinigung . . . . . . . . 91 3.1.3 Aktuelle Migrationsbewegungen von VietnamesInnen 95 3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin . . . . . . . . . . . . 100 3.2.1 Geographische Verteilung und soziodemographische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.2.2 Kulturelle Hintergründe, Religion und familiäre Rollenmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.2.3 MigrantInnenvereine und -organisationen . . . . . . 109 Exkurs: Die Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors in Vietnam111 3.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4 Methodisches Vorgehen 4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Leitfadengestütztes, problemzentriertes Interview . . 4.1.2 Teilnehmende Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Feldforschung unter Bedingungen kultureller Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Eigene methodische Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Ablauf der eigenen empirischen Erhebung . . . . . . 4.2.2 Eigene Forschung unter Bedingungen kultureller Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Datenanalyse, -interpretation und Typenbildung . . 4.3 Beschreibung der Untersuchungsgruppe . . . . . . . . . . . 4.3.1 Vietnamesische GroßhändlerInnen in Berlin . . . . . 4.3.2 Vietnamesische EinzelhändlerInnen, DienstleisterInnen und Angestellte in Berlin . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 ExpertInnen in Berlin und Vietnam . . . . . . . . . . 4.3.4 UnternehmerInnen in Vietnam . . . . . . . . . . . . .
117 117 122 123 124 127 129 131 135 137 138 139 142 143 144
5 Vietnamesisches UnternehmerInnentum in Berlin 145 5.1 Die Entstehung des vietnamesischen UnternehmerInnentums145 5.2 Vietnamesische Unternehmenstypen und Angestellte in Berlin155 5.2.1 Der vietnamesische Großhandel in Berlin . . . . . . . 155 5.2.2 Der vietnamesische Einzelhandel in Berlin . . . . . . 157 vi
Inhaltsverzeichnis
5.3
5.4
5.5
5.6 5.7
5.2.3 Vietnamesische Dienstleistungsunternehmen in Berlin 159 5.2.4 VietnamesInnen als ArbeitnehmerInnen . . . . . . . 163 5.2.5 Branchenüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Betriebsstruktur und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.3.1 MitarbeiterInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.3.2 Qualifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.3.3 Gehälter und Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.3.4 Miete und andere Unkosten . . . . . . . . . . . . . . 183 5.3.5 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . 184 Zuliefer- und Absatzstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.4.1 Die Entwicklung des Import-Exportmarktes . . . . . 189 5.4.2 Ursprungsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5.4.3 Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.4.4 Formelle und informelle Handelsrouten . . . . . . . 196 5.4.5 Absatzstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.4.6 Soziale Netzwerke als Katalysatoren für Handelsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Strategien vietnamesischer UnternehmerInnen . . . . . . . . 204 5.5.1 Umgang mit Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.5.2 Verkaufsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.5.3 Strategische Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5.5.4 Informelle Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Förderung und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
6 Die Herausbildung eines transnationalen Handlungsfeldes 6.1 Die sozio-ökonomische Inklusion vietnamesischer MigrantInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Chancen und Hindernisse bei der Arbeitsmarktinklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Arbeitsmarktinklusion der zweiten vietnamesischen MigrantInnengeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Die soziale und kulturelle Inklusion der VietnamesInnen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Transnationalität vietnamesischer UnternehmerInnen . 6.2.1 Transnationale Handelsmuster . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Persönliche Beziehungen ins Herkunftsland . . . . . 6.2.3 Rücküberweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Der Rückbezug ins Herkunftsland und Rückkehrabsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235 235 235 248 256 260 262 269 272 278 283
vii
Inhaltsverzeichnis 7 Die Rolle der RückkehrerInnen und UnternehmerInnen nam Exkurs: Deutsch-vietnamesische Geschäftsbeziehungen . . 7.1 Die Arbeitsmarktreinklusion von RückkehrerInnen . 7.2 RückkehrerInnen als EntwicklungsakteurInnen . . . 7.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
in Viet285 . . . . 285 . . . . 291 . . . . 295 . . . . 301
8 Synthese: die empirischen Ergebnisse in der theoretischen Diskussion 303 8.1 Typisierung der Untersuchungsgruppe . . . . . . . . . . . . 303 8.1.1 Typ I: Transnationale AkteurInnen . . . . . . . . . . . 303 8.1.2 Typ II: Transnationale GroßhändlerInnen . . . . . . . 307 8.1.3 Typ III: Innovative Geschäftsleute . . . . . . . . . . . 310 8.1.4 Typ IV: Karriereorientierte RückkehrerInnen . . . . . 314 8.1.5 Typ V: Flexible BranchenwechslerInnen . . . . . . . . 317 8.1.6 Typ VI: Lokal verankerte Familienbetriebe . . . . . . 319 8.1.7 Merkmalsdefinitionen und tabellarische Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 8.2 Ressourcen und Möglichkeitsstrukturen vietnamesischer UnternehmerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 8.3 Strategische Nutzung der Ressourcen . . . . . . . . . . . . . 330 8.4 Migration und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 9 Fazit: Transnationalität als Ressource 343 9.1 Forschungsausblick und offene Forschungsfragen . . . . . . 346 9.2 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Literaturverzeichnis
viii
351
Tabellenverzeichnis 2.1 2.2
Übersicht zur Forschung über MigrantInnenökonomien . . Der Mixed-Embeddedness-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1
VietnamesInnen in Deutschland mit Berufsabschluss nach Altersgruppen und Geschlecht in 1000 im Jahr 2005 . . . . . VietnamesInnen in Deutschland ohne Berufsabschluss nach Altersgruppen und Geschlecht in 1000 im Jahr 2005 . . . . . Wanderungen von VietnamesInnen über die Grenzen Deutschlands im Jahr 2008 nach Altersgruppen und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 3.3
52 67 83 83 96
4.1
Transnationalität vietnamesischer GroßhändlerInnen in Berlin142
5.1
Gewerbeanmeldungen von Einzelunternehmen in Berlin 2009 nach Staatsangehörigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ausdifferenzierung der Branchen . . . . . . . . . . . . . . . . 168
5.2 6.1 6.2 8.1
Arbeitsmarktinklusion von VietnamesInnen in Deutschland nach Altersgruppen im Jahr 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Beruflicher Status von VietnamesInnen in Deutschland nach Altersgruppen und Wirtschaftszweigen im Jahr 2005 . . . . 236 Typisierung der Untersuchungsgruppe . . . . . . . . . . . . 325
ix
Abbildungsverzeichnis 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 4.1
VietnamesInnen in Deutschland nach detalliertem Migrationsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Deutsch-vietnamesisches Migrationssystem . . . . . . . . . . 81 Vietnamesische VertragsarbeiterInnen in der DDR im Anwerbezeitraum von 1980 bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . 85 VietnamesInnen in Berlin von 1995 bis 2009 . . . . . . . . . . 101 Die Verteilung der vietnamesischen Bevölkerung auf die Berliner Bezirke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Altersaufbau der Berliner Bevölkerung und der VietnamesInnen in Berlin im Jahr 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Untersuchungsgebiete der empirischen Erhebung und Referenzpunkte für vietnamesische UnternehmerInnen . . . . . 130
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Vietnamesisches Spezialitätenrestaurant . . . . . . . . . . . . 155 Dong Xuan Center Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Vietnamesischer Minimarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Branchenanteile vietnamesischer Unternehmen in Deutschland160 Werbeschilder vietnamesischer Dienstleistungsunternehmen 162 Vietnamesischer Imbiss und Fastfoodfiliale mit vietnamesischer Mitarbeiterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.7 Vietnamesisches Nagelstudio . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.8 Gewerbeanmeldungen von VietnamesInnen in Berlin 2007 nach Geschlecht und Wirtschaftszweigen . . . . . . . . . . . 170 5.9 Gewerbeabmeldungen von VietnamesInnen in Berlin 2007 nach Geschlecht und Wirtschaftszweigen . . . . . . . . . . . 171 5.10 Gewerbean- und -abmeldungen von VietnamesInnen in Berlin 2007 nach Wirtschaftszweigen . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.11 Handelsmuster vietnamesischer GroßhändlerInnen in Berlin 191 5.12 Vietnamesische Produkte: Pho und Trung Nguyen Kaffee . 194
xi
Abkürzungsverzeichnis A Abb. Abs. ADI AHK BAMF BIP BRD BRP BWL CIM DAAD DDR DED E EZ DL G GATT GCIM GO GTZ HCMC IFAD IFM IHK INGO IWF Kap. KAS KFW KMU
Angestellte Abbildung Abschnitt Ausländische Direktinvestitionen Außenhandelskammer Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bruttoinlandsprodukt Bundesrepublik Deutschland Bruttoregionalprodukt Betriebswirtschaftslehre Centrum für internationale Migration und Entwicklung Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsche Demokratische Republik Deutscher Entwicklungsdienst EinzelhändlerInnen Entwicklungszusammenarbeit DienstleisterInnen GroßhändlerInnen General Agreement on Tarifs and Trade Global Commission on International Migration Governmental Organisation Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GmbH) Ho Chi Minh City International Fund for Agricultural Development Institut für Mittelstandsforschung Industrie- und Handelskammer International Nongovernmental Organisation Internationaler Währungsfonds Kapitel Konrad-Adenauer-Stiftung Kreditanstalt für Wideraufbau Kleine und Mittelständische Unternehmen xiii
Abkürzungsverzeichnis KRS MoLISA MTO NAFTA NGO ODA QDA SAL SES SRV Tab. TSR UMF ZAV
xiv
Kreditrotationssystem Ministerium für Arbeit, Invalide und soziale Angelegenheiten Vietnam Money Transfer Operator North American Free Trade Agreement Non Governmental Organisation Official Development Aid Qualitative Data Analysis Staatssekretariat für Arbeit und Löhne Senior Experten Service Sozialistische Republik Vietnam Tabelle Transnationaler sozialer Raum Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling Zentrale Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit
Danksagung Diese Arbeit hat ihre heutige Form angenommen, da mich viele Personen in ihrem Entstehungsprozess begleitet und unterstützt haben. Danken möchte ich an erster Stelle den InterviewpartnerInnen in nah und fern, die sich die Zeit genommen haben, um ihre vielseitige Erfahrung und Expertise mit großer Offenheit mit mir zu teilen. Mein ganz herzlicher Dank gilt meiner Erstgutachterin Prof. Felicitas Hillmann, die zur Entstehung der vorliegenden Arbeit durch hilfreiche inhaltliche Anregungen und ihren unermüdlichen organisatorischen Einsatz beitrug. Ebenso gilt mein herzlicher Dank Prof. Ton van Naerssen, der sich die Zeit nahm, die Arbeit als Zweitgutachter zu beurteilen, und der vielerlei Expertise und Engagement einbrachte. Danken möchte ich ebenfalls meiner Dolmetscherin Nguyen Hong Anh, die mir mit großer Sensibilität für meinen Forschungsgegenstand nicht nur beim Dolmetschen der Interviews, sondern auch als kulturelle Mittlerin und ›Türöffnerin‹ in der vietnamesischen Gemeinschaft Berlins zur Seite stand. In der schwierigen Situation der Feldforschung in Vietnam unterstützte mich insbesondere Herr Nguyen Dac Hoan und ließ mich an seinem großen Netzwerk aus Deutschland-RückkehrerInnen teilhaben. Auch Herr Le Trang von der AHK Vietnam unterstützte mich bei der Vermittlung von GesprächspartnerInnen. Ihnen sei ebenso wie Frau Dung vom Goethe Institut in Hanoi gedankt, die mir als Dolmetscherin in Vietnam bei der Durchführung der Interviews half. Zur Verwirklichung der vorliegenden Arbeit hat die finanzielle Unterstützung der Universität Bremen und des DAAD entscheidend beigetragen. Meinen aufrichtigen Dank möchte ich an dieser Stelle diesen beiden Institutionen sowie deren zuvorkommenden MitarbeiterInnen aussprechen. Mein ganz besonderer Dank gilt Herrn Andreas Meese und meinem Bruder Peter Schmiz, die mir in der Endphase der Arbeit bei der Umsetzung der Karten, Tabellen und des Gesamtlayouts halfen und dafür jede Menge Geduld und Zeit mitbrachten. Herrn Jörg Lehmann danke ich ganz herzlich für das sorgfältige Lektorat. Lebendig wird eine wissenschaftliche Arbeit durch Karten und Fotos. Dafür sei Matthias Scheibner von der Universität Bremen und Hannes von der Fecht gedankt. Die Entstehung dieser Arbeit wurde durch Anregungen von FreundInnen, KollegInnen und Verwandten mitgetragen. Hier sei namentlich neben vielen anderen Henryk Alff, Else Engel, Julia Escher, Carolin Fischer, Roman Gihr, Hye-Young Haubner, Philipp Lorig, Nadine Reis, Robert Roth, An Lac Truong Dinh, Annette und Fritz Schorb, sowie meinen KollegInxv
Danksagung nen am Institut für Geographie der Universität Bremen herzlichst für ihre Kommentare und organisatorische Unterstützung gedankt. Zuletzt möchte ich meine große Dankbarkeit gegenüber meiner kleinen und großen Familie ausdrücken. In meiner Doktorandinnenzeit hat sie mich nicht nur durch ihre Anteilnahme und Rücksicht unterstützt, sondern auch durch viele gemeinsame Aktivitäten, Gespräche, Späße und warme Mahlzeiten nach langen Arbeitstagen aufgeheitert und gezeigt, dass es ein Leben neben dem Doktorat gibt. Antonie Schmiz Berlin, im Februar 2011
xvi
1 Einleitung Bei einem Rundgang durch die gründerzeitlichen Quartiere Berlins fallen die vielen von MigrantInnen1 unterschiedlicher Nationalitäten betriebenen Unternehmen auf. Es zeigt sich, dass vietnamesische Kleinunternehmen nicht nur in den peripheren östlichen Bezirken Berlins, sondern zunehmend in zentrumsnahen Stadtteilen durch ehemalige VertragsarbeiterInnen gegründet werden. Insbesondere mit Blumenläden, Gastronomiebetrieben, Bekleidungs- und Lebensmittelgeschäften haben sich vietnamesische MigrantInnen selbständig2 gemacht. Diese kleinen durch MigrantInnen betriebenen Unternehmen werden unter dem Begriff MigrantInnenökonomien oder »ethnische Ökonomien« zusammengefasst. Weniger auffällig sind vietnamesische Angestellte, die neben der Mitarbeit in Familienbetrieben der MigrantInnenökonomie häufig im Bereich Personaldienstleistungen angestellt sind. Vietnamesische MigrantInnen sind im Vergleich zur Hälfte der deutschen Erwerbstätigen nur zu einem Fünftel abhängig beschäftigt (vgl. Mikrozensus 2005). Zunehmende Aufmerksamkeit durch die Berliner Bevölkerung, TouristInnen und die Presse erlangen peripher gelegene vietnamesische Großhandelsbetriebe in Hohenschönhausen und Lichtenberg. Diese sind neben Handelszentren auch als soziale Treffpunkte anzusehen, an denen Informationen ausgetauscht und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden. Vorangegangen sind diesen lokalen Prozessen Veränderungen, die weitreichende Auswirkungen auf die vietnamesische VertragsarbeiterInnengruppe hatten. Der ökonomische Restrukturierungsprozess, ausgelöst durch die Ölkrise 1973, bedeutete für den Großteil der westlichen Länder einen Übergang von industriell- zu dienstleistungsgeprägten Wirtschaftsmodellen. Der Fall des ›eisernen Vorhangs‹ im Jahr 1989 führte für VietnamesInnen in der DDR zu einem tiefen Einschnitt, der eine Inklusion3 in 1 | Sofern Substantive die männliche und weibliche Form umfassen, werden sie durch ein großes »I« abgesetzt, wie z. B. MigrantInnen. In Sonderfällen werden weibliche und männliche Artikel bzw. Substantive mit einem Schrägstrich voneinander getrennt. 2 | Als beruflich Selbständige werden in der vorliegenden Arbeit Personen definiert, die alleinige oder gemeinsame EigentümerInnen eines Unternehmens sind, in dem sie arbeiten sowie mithelfende Familienangehörige. 3 | Der Begriff ›Inklusion‹ wird dem Begriff der Integration vorgezogen, da er einen weniger normativen Charakter hat. Inklusion wird hier vor allem als soziale Eingliederung von MigrantInnen verstanden, als Teilhabe an zentralen Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft, wie Bildung, Einkommen, Arbeit. Abgegrenzt wird dieser Begriff von der Assimilation, die eine kulturelle Anpassung von MigrantInnen an die Mehrheitsgesellschaft beschreibt und eine gesellschaftliche Homogenisierung zur Folge hat (vgl. Nieswand 2008: 36; Düvell 2006: 159).
1
1 Einleitung das demokratische marktwirtschaftliche Modell der BRD bedeutete. Durch die Auflösung eines Großteils ihrer Arbeitsverträge, die neue Situation der Arbeitslosigkeit und die offenen Grenzen ergaben sich für die Gruppe der ehemaligen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen sowohl neue Chancen als auch vielerlei neue Herausforderungen. Begleitet wurden die Umbrüche im späten 20. Jh. durch einen fortschreitenden Globalisierungsprozess, der neue Möglichkeiten mit sich brachte. Neuerungen im Kommunikationsund Transportsektor wirkten sich auf vielfältige Weise auf MigrantInnengemeinschaften sowie deren Verwandte im Herkunftskontext aus. Es ergaben sich neue Reise- und Handelsmöglichkeiten, aber auch neue Möglichkeiten für die Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke. Dieser Prozess ging mit einer Schließung der Grenzen für MigrantInnen einher, die auch VietnamesInnen betraf. Die Herausbildung der »Festung Europa« ist auf zunehmend restriktive Migrationspolitiken seitens europäischer Staaten zurückzuführen. Anhand des Beispiels der vietnamesischen MigrantInnen in Berlin und ihrer transnationalen Vernetzung zwischen Vietnam und Deutschland wird in der vorliegenden Arbeit dargestellt, wie MigrantInnen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten auf die genannten Umstrukturierungen reagieren. Durch diese Grundlagenforschung wird die Situation vietnamesischer MigrantInnen anhand einer qualitativen empirischen Untersuchung in Berlin und Vietnam beleuchtet und es werden Strukturen sowie Handlungsmöglichkeiten der VietnamesInnen aufgezeigt. Die Arbeit soll zu einem besseren Verständnis von MigrantInnen im Aufnahmekontext4 beitragen. MigrantInnenökonomien werden in der politischen Diskussion vier Funktionen zugeschrieben. Erstens wird ihre beschäftigungspolitische Funktion aktuell wieder in einer Debatte um die Ausbildungsmöglichkeiten in von MigrantInnen geleiteten Unternehmen diskutiert. Zweitens wird ihre gesellschaftspolitische Funktion im Hinblick auf ihr Inklusionspotential hervorgehoben. In diesem Sinne wertet die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« die berufliche Selbständigkeit von MigrantInnen als Schritt zur Inklusion, da sie zu höheren Einkommen führt als abhängige Beschäftigungsverhältnisse (vgl. Unabhängige Kommission »Zuwanderung«, Bericht 2001: 225 f.). Drittens steht ihre ökonomische Funktion mit einem Gesamtumsatz von 50 Mrd. Euro im Jahr auf Bundesebene außer Frage (vgl. Kresta 2006). In der Stadtforschung werden sie viertens anhand ihrer quartiersbelebenden Wirkung betrachtet, da sie ein multikulturelles Flair in die innerstädtischen Quartiere tragen und nicht zuletzt das Potential bergen, nachbarschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten bzw. wiederzubeleben.
4 | Unter Aufnahmekontext wird in Abgrenzung zum Herkunftskontext die postmigratorische Situation verstanden, was in der vorliegenden Arbeit Deutschland bzw. die deutsche Gesellschaft ist.
2
In der Wissenschaft wurden MigrantInnenökonomien in der Vergangenheit überwiegend aus einem akteurszentrierten Blickwinkel diskutiert, d. h. sogenannte individuelle Ressourcen5 der UnternehmerInnen standen im Fokus der Betrachtungen. Aktuell überwiegt eine Perspektive, die sowohl individuelle als auch strukturelle Bedingungen berücksichtigt. Diese neuere Forschungslinie wird in der vorliegenden Arbeit um die transnationale Perspektive erweitert, die nicht nur die Strukturen und Möglichkeiten der MigrantInnen im Aufnahmekontext, sondern ebenfalls ihre Ressourcen und Netzwerke betrachtet, über die sie durch ihren Herkunftskontext verfügen. Der Prozess der sozialen Inklusion wird maßgeblich durch die Arbeitsmarktinklusion getragen. In der vorliegenden Studie werden die Strukturen der Arbeitsmarktinklusion von VietnamesInnen in Berlin und deren soziale und ökonomische Vernetzung analysiert, die sowohl Berlin als auch Vietnam umfasst. Eine der forschungsleitenden Fragestellungen lautet, warum VietnamesInnen in Berlin nur zu einem relativ geringen Anteil in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten und sich lediglich in einer kleinen Auswahl von Branchen selbständig machen. Von besonderem Interesse sind dabei die Strategien, die sie als beruflich Selbständige anwenden. Es wird gezeigt, dass sie innerhalb ihrer Gemeinschaft in dichte, weitreichende Netzwerke inkludiert sind, die als migrantInnenspezifische Ressource betrachtet werden. Sie unterscheiden sich von anderen Einwanderungsgruppen, da es sich bei ihnen um eine relativ junge Einwanderungsgemeinschaft handelt, die sich weiterhin in dynamischen Aushandlungsprozessen mit den Strukturen der Mehrheitsgesellschaft befindet. Klassische Wanderungs- und Orientierungsmuster, die eine dauerhafte, gradlinige Inklusion der MigrantInnen im Aufnahmeland zum Ziel haben, lösen sich im Globalisierungsprozess zunehmend auf. Daher knüpft die vorliegende Arbeit an die aktuelle Debatte über das Verhältnis zwischen Assimilation/Inklusion und transnationaler Vernetzung von MigrantInnen in sogenannten transnationalen sozialen Räumen an. Seitens der Herkunftsregierungen werden MigrantInnen als wichtige EntwicklungsakteurInnen aufgefasst und nicht selten zu deren InteressenträgerInnen gemacht – sei es in Hinblick auf Investitionen oder Rücküberweisungen. In diesem Bereich spielen RückkehrerInnen6 eine tragende Rolle, die als kulturelle und ökonomische MediatorInnen im transnationalen Raum zwischen Deutschland und Vietnam agieren. Es wird gezeigt,
5 | Definition s. Tabelle 2, Abschnitt 2.4.2. 6 | Unter RückkehrerInnen, häufig auch als RückkehrmigrantInnen oder RemigrantInnen bezeichnet, werden Personen verstanden, die mit der Absicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, sich dort temporär oder längerfristig niederzulassen.
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1 Einleitung dass transnationale Aktivitäten vietnamesischer MigrantInnen Entwicklungsprozesse in Vietnam bewirken können. Klischeehafte, stigmatisierende mediale Bilder dominieren weiterhin das bruchstückhafte Wissen der Mehrheitsgesellschaft über vietnamesische MigrantInnen in Deutschland. Auch in der Wissenschaft gibt es bisher nur relativ lückenhafte Kenntnisse über die Arbeits- und Lebenssituation der vietnamesischen MigrantInnen in Deutschland. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in der DDR wurden selten in Bezug zu ihrer gegenwärtigen Situation gesetzt. Die Ansiedlung der Untersuchungsgruppe in Berlin ist vor allem auf die Einwanderung als VertragsarbeiterInnen in die DDR zurückzuführen. Diese MigrantInnengruppe lieferte einen Anreiz für den Nachzug von Familienangehörigen sowie für MigrantInnen, die auf irregulären Wegen nach Berlin kommen. Irreguläre vietnamesische MigrantInnen in Berlin haben die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, anhand unterschiedlicher Strategien eine Existenz aufzubauen oder Berlin als Übergangsstation zu nutzen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, dem/der Lesenden einen differenzierten Einblick in die vietnamesische Gemeinschaft in Berlin und deren transnationale Vernetzung zu geben und nicht zuletzt medial verbreitete Stigmata zu dekonstruieren. Mit den gewonnen Ergebnissen verfolgt die vorliegende Arbeit die Absicht, zu einer Weiterentwicklung ihr zugrundeliegender Ansätze der transnationalen Migration, des Migration-Development Nexus sowie der Arbeitsmarkteingliederung von MigrantInnen beizutragen. Einen Überblick über den Forschungsstand und eine Einordnung des Themas hinsichtlich seiner Relevanz liefert der folgende Abschnitt.
1.1 Forschungsstand und Relevanz In Berlin stellten VietnamesInnen am 31. Dezember 2009 mit 12.814 Personen die größte Gruppe asiatischer MigrantInnen dar. Diese Gruppe wächst seit 1996 relativ gleichmäßig an (vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2010 und Abs. 3.2.1). Eine Besonderheit dieser MigrantInnengruppe ist auf bundesdeutscher Ebene, dass der Anteil der Frauen am 31. Dezember 2008 mit 51,9 Prozent überwog, was sonst nur für wenige osteuropäische Staaten zutraf (vgl. Statistisches Bundesamt 2010a). In Berlin treffen das westliche Einwanderungssystem der vietnamesischen Boat People, die als Kontingentflüchtlinge in die BRD kamen und das östliche Migrationssystem, das v. a. durch die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen geprägt ist, aufeinander. Hier liegt eine spezielle Situation vor, die deutschlandweit einmalig ist: Durch die unterschiedlichen Migrationssysteme lässt sich bis heute die Aufrechterhaltung zweier separater Gemeinschaften beobachten, zwischen denen es vergleichsweise wenig 4
1.1 Forschungsstand und Relevanz Austausch gibt. Bekannt ist bisher, dass vietnamesische Boat People in den alten Bundesländern sowohl sozial als auch ökonomisch weitestgehend integriert sind (vgl. Hillmann 2005: 94). Wie aber gestaltet sich die Arbeitsmarktinklusion ehemaliger vietnamesischer VertragsarbeiterInnen aus? Vietnamesische MigrantInnen sind in verschiedenen Perioden und mit unterschiedlichen Motiven nach Deutschland eingewandert. Wesentlich ist, dass ihre Arbeitsmarktinklusion auf neuen, wesentlich flexibleren Strategien als die der traditionellen europäischen und nordafrikanischen Einwanderungsgruppen basiert (vgl. Hillmann 2005: 81). Strategien werden in der vorliegenden Arbeit als Anpassungstaktiken, z. B. in Form von hoher Flexibilität oder Netzwerk- und Ressourcennutzung begriffen (vgl. Abs. 2.4.3). Diese Definition wird verwendet, da in der vorliegenden Arbeit die soziale Einbettung ökonomischer Strategien und nicht letztere per se betrachtet werden. Die vietnamesische Gemeinschaft in Berlin ist längst sichtbar geworden. Die Eröffnung des Viethaus in der Leipziger Straße auf 8.000 m2 Fläche, realisiert mit über 10 Millionen Euro Investitionskapital, kann als Sichtbarwerden der vietnamesischen Wirtschaft und Kultur in Berlin interpretiert werden. Das Projekt wurde von der vietnamesischen Regierung unterstützt und von zwei vietnamesischen multinationalen Unternehmen finanziert. Schon in dem Finanzierungsmodell findet sich ein Hinweis auf die Bedeutung transnationaler Netzwerke innerhalb der vietnamesischen Gemeinschaft. In den neuen Räumlichkeiten der Viethaus AG ist neben einem Sen-Restaurant, einem großen Veranstaltungsraum, Geschäften, einem Wellnessbereich und einem Hotel auch die Handelsabteilung der vietnamesischen Botschaft untergebracht.7 Die vorliegende Arbeit behandelt ein Thema von hoher gesellschaftlicher Relevanz, da MigrantInnenökonomien – bei steigender Tendenz – eine große Anzahl von Arbeitsplätzen für ihre Landsleute bieten. Von ebensolch hoher gesellschaftlicher Relevanz ist die Frage, ob MigrantInnenökonomien neben der ökonomischen Inklusion auch einen Beitrag zur sozialen Inklusion von MigrantInnen liefern. Die Überprüfung des Vorhandenseins und die Analyse transnationaler Migrationsmuster und Wirtschaftsstrategien sowie die Analyse migrantischer Arbeitsmärkte liefern Grundlagen für zukünftige Arbeiten innerhalb der Migrations-, Inklusions- und Arbeits7 | Auf das erwachte Interesse an Vietnam weist ebenfalls hin: die Wiederbesetzung der W3-Professur am Seminar für Südostasienstudien der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 2009/2010, Zeitungsmeldungen über den Erfolg vietnamesischer SchülerInnen in Deutschland, deutsche Investitionsbemühungen auf dem vietnamesischen Markt, das Deutschlandjahr in Vietnam im Jahr 2010, sowie verschiedenste Kunst- und Kulturprojekte. Zu nennen wäre hier z. B. das 2010 mit vietnamesischen LaiendarstellerInnen aufgeführte Theaterstück ›Vùng Biên Giói‹ der Theatergruppe ›Rimini Projekt‹, das Ende 2010 in den Hallen des Dong Xuan Centers aufgeführte Dong Xuan Festival des HAU oder diverse Ausstellungen und Beiträge der TU-Professorin Stefanie Bürkle.
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1 Einleitung marktforschung. Darüber hinaus könnte die vorliegende Arbeit Hinweise auf den zukünftigen politischen Umgang mit MigrantInnen liefern. In der geographischen Migrationsforschung ist das Thema der transnationalen Migration bzw. der transnationalen sozialen Räume breit rezipiert worden. Vorliegende Arbeiten beschäftigen sich häufg mit einzelnen MigrantInnengruppen (vgl. u. a. Goeke 2007; Glorius 2007; Becker 2010) oder verfolgen vergleichende Ansätze (vgl. Elrick 2009). Erkenntnisse zu den Unternehmen der vietnamesischen MigrantInnen in Berlin liegen bisher nur vereinzelt in Form von Abschlussarbeiten vor (vgl. Schweizer 2004; Trong 1998). Einige Arbeiten wurden über die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in der ehemaligen DDR und die Anfänge der vietnamesischen MigrantInnenökonomie veröffentlicht (vgl. u. a. Liepe 1997; Spennemann 1997; Hirschberger 1997; Weiss 2005a und 2005b). Aufschlussreiche Ergebnisse liefern Forschungsarbeiten zu vietnamesischen MigrantInnen in den beiden deutschen Migrationssystemen aus geographischer (vgl. Hillmann 2005) und zu vietnamesischen MigrantInnen in Deutschland aus ethnologischer Perspektive (vgl. Bui 2003; Kapitel 3).8 Die oben genannten Arbeiten greifen m. E. jedoch zu kurz, da es einer differenzierteren Untersuchung des Arbeitsmarktes und der sozialen Strukturen vietnamesischer MigrantInnen bedarf. Liepe beschreibt für die Mitte der 1990er Jahre die Abhängigkeit der gesamten vietnamesischen MigrantInnenökonomie von ihrem sozialen Netzwerk, das als organisatorische Basis diente und »in dem soziale, ökonomische und nicht zuletzt regionale und lokale Bezüge zusammenfließen« (Liepe 1997: 46). Diese Erkenntnis weist auf eine Forschungslücke hin, da bisher nur von regionalen und lokalen Bezügen ausgegangen wurde. Nach einer Weiterentwicklung der vietnamesischen MigrantInnengemeinschaft stellt sich heute die Frage, welche Rolle die transnationale Vernetzung der VietnamesInnen einerseits für ihre ökonomische und soziale Inklusion in Berlin und andererseits für die Entwicklung Vietnams spielt. Hier setzt die vorliegende Arbeit durch eine transnationale Perspektive an, die sie mit Erklärungsansätzen zur sozialen und beruflichen Eingliederung von MigrantInnen verbindet. Klassische Konzepte zu MigrantInnenökonomien berücksichtigen weder die transnationale Perspektive noch neuere Erkenntnisse aus der Arbeitsmarkt- und Migrationsforschung. Daher wird die vietnamesische MigrantInnenökonomie anhand alternativer Erklärungsansätze erklärt, die von einem Wechselspiel zwischen Möglichkeiten und Ressourcen der MigrantInnen ausgehen. Für eine genauere Untersuchung bedarf es eines Perspektivenwechsels der Forschenden mit Fokus auf das deutsch-vietnamesische Handelsnetzwerk aus vietnamesischer Perspektive. 8 | Zum Thema der transnationalen Migration und Rücküberweisungen vietnamesischer MigrantInnen nach Vietnam vgl. Schmiz 2006.
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1.2 Forschungsziel und Fragestellung An diesen Forschungsstand knüpft die vorliegende Arbeit an und entwickelt daraus ihre Fragestellungen. Bislang ist unbekannt, wie sich die transnationale Arbeitsorganisation bzw. die berufliche Inklusion der VietnamesInnen ausgestalten.
1.2 Forschungsziel und Fragestellung Die vorliegende Arbeit richtet ein besonderes Augenmerk auf die sozialen und wirtschaftlichen Strategien vietnamesischer MigrantInnen in Berlin und liefert neue Erkenntnisse zu Motiven, Chancen und Defiziten ihrer Arbeitsmarktinklusion. Neu ist die Perspektive der vorliegenden Arbeit, unter der ökonomische Aktivitäten der vietnamesischen UnternehmerInnen untersucht und analysiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass eine transnationale Betrachtungsweise und eine empirische Forschung sowohl im Aufnahme- als auch im Herkunftskontext der MigrantInnen den komplexen netzwerkartigen Strukturen, auf denen die vietnamesische MigrantInnenökonomie aufbaut, eher gerecht wird als eine unilokale Untersuchung. Das Konzept der Transnationalität wird in der vorliegenden Arbeit in verschiedenen Kontexten untersucht: zum Ersten bezogen auf die ökonomische und soziale Inklusion vietnamesischer MigrantInnen im Aufnahmekontext. Zum Zweiten wird Transnationalität im Herkunftskontext im Hinblick auf den Zusammenhang von Migration und Entwicklung untersucht. Zum Dritten wird sie – vor der Annahme, dass sich transnationale Gemeinschaften und Lebensräume herausbilden – als eine eigene Analysedimension betrachtet. In theoretischer Hinsicht zielt die vorliegende Arbeit darauf ab, zu einem besseren Verständnis des migrantischen UnternehmerInnentums und der Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen in Deutschland beizutragen. Im Speziellen liefert sie Ergebnisse zu ökonomischen Strategien, Potentialen und Hindernissen von vietnamesischen Geschäftsleuten und Beschäftigten in Berlin sowie deren transnationaler Einbettung. Die Arbeit fügt sich in die aktuellen Diskurse um die Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen, transnationale Migration sowie ›Migration und Entwicklung‹9 ein. Daher lautet die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Wird Transnationalität von MigrantInnen als spezifische Ressource eingesetzt? Auf der Grundlage meines Vorwissens entwickelte ich die Hypothese, dass sich vietnamesische MigrantInnen nicht nur lokal orientieren, sondern darüber hinaus in weitreichende, Ländergrenzen überspannende Netzwerke eingebunden sind. Ferner wird die Hypothese aufgestellt, dass sie durch diese Netzwerke ihre strukturelle Benachteiligung im Aufnahmeland – u. a. bei der Arbeitsmarktinklusion – partiell kompensieren können. 9 | Zur Definition des Entwicklungsbegriffes s. Abschnitt 2.2.
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1 Einleitung Zur Beantwortung der übergeordneten Fragestellung wird zunächst eine Unterteilung des Erkenntnisinteresses der Arbeit in drei Themenkomplexe vorgenommen. Diese thematische Untergliederung findet sich in der Synthese der Arbeit in den Abschnitten 8.2–8.4 wieder. Die thematische Dreiteilung erfolgt, da Ressourcen und Möglichkeitsstrukturen10 als Ausgangssituation für eine potentielle soziale und ökonomische Inklusion von MigrantInnen gelten und daher zunächst separat analysiert werden. Aus der Nutzung von Ressourcen auf der Basis von Möglichkeitsstrukturen können sich Strategien entwickeln, denen sich der zweite Teil der Fragestellung widmet. Im dritten Teil wird der Zusammenhang von Migration und Entwicklung als Teil der Transnationalität vietnamesischer MigrantInnen aufgegriffen. I Ressourcen und Möglichkeitsstrukturen vietnamesischer UnternehmerInnen Die Ressourcen vietnamesischer MigrantInnen können nicht unabhängig von den Möglichkeitsstrukturen betrachtet werden, die u. a. aus institutionellen Rahmenbedingungen im Aufnahmekontext bestehen. Zu diesem Themenkomplex werden zwei Hypothesen aufgestellt: (1) Die Dominanz vietnamesischer MigrantInnen in der beruflichen Selbständigkeit und ihre damit einhergehende unterdurchschnittliche Repräsentation in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen kann durch eine Wechselwirkung ihrer Möglichkeiten und ihrer Ressourcen erklärt werden. (2) Die in Berlin lebenden VietnamesInnen verfügen über enge Verbindungen in ihr Herkunftsland Vietnam und ihre Ressourcen basieren auf Kenntnissen aus dem Herkunftsland und ihren sozialen Netzwerken. Aus diesen Hypothesen ergeben sich für den ersten Themenkomplex folgende Fragen: 1. Welche Möglichkeiten bietet der Berliner Arbeitsmarkt für vietnamesische MigrantInnen? 2. Über welche ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen verfügen vietnamesische MigrantInnen in Berlin? 3. In welcher Hinsicht führen eingeschränkte Möglichkeiten zu einer strukturellen Benachteiligung? 4. Wie sind die Ressourcen unter den unterschiedlichen Akteursgruppen der Einzel- und GroßhändlerInnen, DienstleisterInnen und Angestellten verteilt? II Strategische Nutzung der Ressourcen Aus der Wechselwirkung von Möglichkeiten und Ressourcen ergeben sich Strategien, die MigrantInnen durch die Nutzung ihrer Ressourcen 10 | Definition s. Tabelle 2, Abschnitt 2.4.2.
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1.2 Forschungsziel und Fragestellung entwickeln. Daher werden MigrantInnen nicht einseitig aus einer Perspektive struktureller Benachteiligung betrachtet. Ferner ist aus der Literatur bekannt, dass Strategien innerhalb von MigrantInnenökonomien nach Geschlecht strukturiert sind. Es werden daher die folgenden Hypothesen aufgestellt: (1) Auf der Grundlage ihrer gegebenen Ressourcen entwickeln vietnamesische MigrantInnen Strategien, die ihnen einen Vorteil gegenüber der Mehrheitsgesellschaft verschaffen, da sie auf transnationale Netzwerke zurückgreifen können. (2) MigrantInnen verfolgen spezifische Ansprüche und verfügen über Gestaltungspotentiale, die sie zu aktiven AkteurInnen im Migrationsprozess und im Aufnahmekontext machen. Es wird einerseits der Handel vor Ort, andererseits der Handel zwischen Vietnam und Deutschland betrachtet. (3) Nicht alle vietnamesischen MigrantInnen können als ökonomisch transnational eingestuft werden, da sie auf verschiedenen Reichweiten agieren. (4) Der hohe Frauenanteil vietnamesischer MigrantInnen und ihre überdurchschnittlich hohe Erwerbstätigkeit weist auf ein Spezifikum der vietnamesischen MigrantInnenökonomie hin. Aus den formulierten Hypothesen ergeben sich für den zweiten Themenkomplex folgende Fragen: 1. Welche Strategien zur Arbeitsmarktinklusion wenden vietnamesische MigrantInnen im Rückgriff auf ihre Ressourcen an? 2. Welche Handelsnetzwerke werden durch vietnamesische UnternehmerInnen genutzt und ausgebaut und welche Produkte werden importiert? 3. Welche Mobilitätsmuster bestehen im transnationalen Raum zwischen Deutschland und Vietnam? 4. Verfügen die untersuchten AkteurInnen über eine räumliche Definitionsmacht11 und strukturieren sie damit Stadträume? 5. Welche unterschiedlichen Handlungsspielräume nutzen vietnamesische UnternehmerInnen und Angestellte? Welche Gruppen/ Individuen sind als transnational einzustufen? 6. Gibt es Teilarbeitsmärkte oder spezifische Branchen, die geschlechtsspezifisch strukturiert sind? III Migration und Entwicklung als Teil des Transnationalen Aus bestehenden Forschungsarbeiten ist bekannt, dass sich MigrantInnen u. a. in Form von monetären und sozialen Rücküberweisungen12 in ihren Herkunftsländern engagieren. Dies sind Elemente ihrer Transnationalität. In der vorliegenden Arbeit wird daraus folgende Hypothese abgeleitet: (1) Vietnamesische Geschäftsleute und Angestellte engagieren sich in Vietnam, 11 | Vgl. Abschnitt 2.1.4. 12 | Unter sozialen Rücküberweisungen (social remittances) versteht Levitt den Austausch von Ideen, Verhaltensweisen, Identitäten und Sozialkapital zwischen Herkunfts- und Aufnahmegemeinschaften von MigrantInnen (vgl. Levitt 1996: 2 f.).
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1 Einleitung überweisen Geld an Verwandte oder transferieren Wissen nach Vietnam. (2) Die Geschichte der Ausbildungs- und Arbeitsmigration zwischen der DDR und Vietnam kann als Vorläufer aktueller Wissenstransfer-Prozesse interpretiert werden. (3) RückkehrerInnen spielen im Allgemeinen eine entscheidende Rolle im Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung. Im Speziellen stärken sie die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam, die für die vietnamesische Entwicklung von Bedeutung sind. Hier wird daher gefragt: 1. Welche Formen des Transfers finden zwischen Deutschland und Vietnam statt? 2. Auf welchen Wegen werden Ressourcen transferiert? 3. Wie sind die RückkehrerInnen in Vietnam beruflich integriert? 4. Können die Transfers in Vietnam Entwicklungsimpulse auslösen? 5. Welche Rolle spielen RückkehrerInnen für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Vietnam?
1.3 Aufbau der Arbeit Das erste Kapitel behandelt nach einer Einführung in das Thema der vorliegenden Arbeit den Forschungsstand und die Relevanz des Themas (1.2) sowie die Zielsetzung und Fragestellung der Untersuchung (1.3). Das zweite Kapitel liefert wichtige Hintergründe für die Interpretation der heutigen Arbeitsmarktinklusion der ehemaligen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen und ihrer Familienangehörigen in Deutschland. Nach einer kurzen Einordnung der Begrifflichkeiten des Forschungsfeldes wird ein historischer Abriss der Arbeitszuwanderung im Nachkriegsdeutschland bis heute gegeben. Daran schließt sich die theoretische Aufarbeitung der transnationalen Migrationsforschung an (2.1). Transnationale Migration und transnationale soziale Räume bieten eine neue Forschungsperspektive, die es ermöglicht, Migrationsgeschehen und Handlungsstrategien von MigrantInnen in ihren heutigen Mustern und Frequenzen zu betrachten. Bei der Analyse von Migrationsprozessen zwischen dem globalen Süden und Ländern des Nordens13 bleibt die Frage nicht aus, welche Folgen Migration für die Herkunftsländer der MigrantInnen hat und wie diese durch Rücküberweisungen und Rückkehrmigration beeinflusst werden. Diese Fragen greift der Diskurs um Migration und Entwicklung auf (2.2). MigrantInnenökonomien werden anhand unterschiedlicher Ansätze erklärt, wobei die neueren Ansätze auf Elemente der klassischen Ansätze 13 | Der ›globale Süden‹ bzw. Länder des Südens werden in der vorliegenden Arbeit stellvertretend für den umstrittenen Begriff der sogenannten Entwicklungsländer benutzt, denen ein strukturelles Entwicklungsdefizit vor allem im ökonomischen Bereich zugeschrieben wird (vgl. Nohlen 2000: 221 ff.; Scholz 2000). In Abgrenzung dazu werden sogenannte Industrieländer als ›Norden‹ bzw. ›globaler Norden‹ bezeichnet.
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1.3 Aufbau der Arbeit zurückgreifen. Hier werden zunächst die klassischen Ansätze beschrieben (2.3), um davon ausgehend auf neue Erklärungsmuster einzugehen (2.4), in deren Rahmen auch der für die vorliegende Arbeit zentrale Strategiebegriff ausführlich erklärt wird. Das dritte Kapitel beleuchtet die Hintergründe der vorliegenden Arbeit. Die Situation der ehemaligen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in der DDR bietet eine Erklärungsgrundlage für die heutige Situation von VietnamesInnen in Deutschland (3.1). Aktuelle Migrationsbewegungen von VietnamesInnen werden umrissen, um die Hintergründe der Situation irregulärer MigrantInnen in Berlin und der Bestrebungen Vietnams, weiterhin Arbeitskräfte ins Ausland zu entsenden, zu beleuchten. Abschnitt 3.2. liefert Daten und Fakten zur Situation vietnamesischer MigrantInnen in Berlin. Der Exkurs (Abs. 3.3) zur Entwicklung des privatwirtschaftlichen Sektors trägt zum Verständnis der Handlungsstrategien der VietnamesInnen in Berlin bei. Im ersten Teil des vierten Kapitels (4.1) wird auf die theoretischen Hintergründe der verwendeten Methoden, d. h. die Methodologie, eingegangen. Im zweiten Teil des Kapitels (4.2) wird die eigene methodische Vorgehensweise dargestellt und in Abschnitt 4.3 die Untersuchungsgruppe vorgestellt. Kapitel 5, 6 und 7 widmen sich der eigenen empirischen Untersuchung. Kapitel 5 liefert zunächst eine Darstellung der Entstehung des vietnamesischen UnternehmerInnentums (5.1) und bietet einen Überblick über die Formen der Arbeitsmarktinklusion vietnamesischer MigrantInnen und die Branchen, in denen sie beschäftigt sind (5.2). Abschnitt 5.3 liefert einen genauen Einblick ›hinter die Kulissen‹ der kleinen Betriebe, während Abschnitt 5.4 die kleinen Betriebe in einen größeren Zusammenhang stellt, indem die Handelsaktivitäten der vietnamesischen UnternehmerInnen, ihre Produkte sowie der Import-Export-Markt zwischen Deutschland und Vietnam analysiert werden. Die Strategien der Untersuchungsgruppe werden in Abschnitt 5.5 aufgezeigt. Abschnitt 5.6 widmet sich dem Förderungsund Beratungsbedarf innerhalb der vietnamesischen MigrantInnenökonomie und dessen Umsetzungsmöglichkeiten. In Kapitel 6 wird die Herausbildung eines transnationalen Handlungsfeldes nachgezeichnet. Abschnitt 6.1 widmet sich der Analyse der sozialen und ökonomischen Inklusion der Untersuchungsgruppe. In Abschnitt 6.2 wird die Transnationalität vietnamesischer UnternehmerInnen herausgearbeitet, indem die Handlungsstrategien der Akteursgruppe auf ihre Reichweiten hin unterschieden werden. Das siebte Kapitel basiert maßgeblich auf den Forschungsergebnissen der Feldphase in Vietnam und bietet zunächst in einem Exkurs einen Überblick über deutsch-vietnamesische Handelsbeziehungen. Im Abschnitt 7.1 wird der Arbeitsmarkt der Rückkehrer dargestellt, um davon ausgehend 11
1 Einleitung die Rolle der Rückkehrer als EntwicklungsakteurInnen (7.2) sowie als AkteurInnen im deutsch-vietnamesischen Migrations- und Handelssystem zu betrachten (7.3). Kapitel 8 liefert die Synthese der vorliegenden Arbeit. Es bietet zunächst eine systematische Typisierung der AkteurInnen (8.1). Dafür wurden einzelne InterviewpartnerInnen porträtiert und in Typen unterteilt, die in abstrahierten, theoretisch eingebetteten Typbeschreibungen zusammengefasst werden. In Abschnitt 8.2 werden die Möglichkeiten und Ressourcen vietnamesischer MigrantInnen in Berlin diskutiert. Wie diese auf der Basis vorhandener Strukturen und anhand ihrer individuellen Ressourcen Strategien anwenden und inwiefern sie als transnational eingestuft werden können, wird in Kapitel 8.3 herausgearbeitet. Im Abschnitt 8.4 werden die eigenen empirischen Ergebnisse in den Diskurs um Migration und Entwicklung eingebettet. Das Zwischenfazit 8.5 liefert eine Kategorisierung der Untersuchungsgruppe. In Kapitel 9 wird die Transnationalität als Ressource der vietnamesischen MigrantInnen in Berlin zusammengefasst und die Ergebnisse der Untersuchung werden als Hypothesen herausgearbeitet. Die Arbeit endet mit einem Forschungsausblick (9.1) und einer Schlussbetrachtung (9.2). Zur Beantwortung der Fragestellungen bedarf es zunächst einer Einordnung des Themas der vorliegenden Arbeit in einen theoretischkonzeptionellen Rahmen. Dieser umfasst sowohl die Forschung über internationale Arbeitsmigration mit Schwerpunkt auf die Perspektive der transnationalen Migration und sich daraus ableitende Ansätze, als auch Konzepte zur Arbeitsmarkteingliederung von MigrantInnen vor dem Hintergrund individueller Ressourcen und struktureller Gegebenheiten.
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2 Theoretische Grundlagen Migration, die durch verschiedene Ursachen bedingt ist und auf unterschiedlichen Distanzen und Zeitskalen stattfindet, ist ein bedeutendes Thema diverser Forschungsrichtungen und hat – nicht zuletzt durch Naturkatastrophen und Kriege, die große Flüchtlingsbewegungen nach sich ziehen – eine breite Öffentlichkeit erreicht. Auch aus Mikroperspektiven betrachtet spielt Migration eine bedeutende Rolle, z. B. bei Umzügen durch unterschiedliche Mietpreise auf lokalen Wohnungsmärkten, die eine selektive Mobilität bedingen (vgl. Pooley und Whyte 1991: 1). In den Sozialwissenschaften wird Migration häufig in Anlehnung an die UN definiert und bezeichnet Bewegungen von Personen und Personengruppen im Raum, die einen dauerhaften Wohnortwechsel, d. h. eine räumliche Verlagerung des ständigen Wohnsitzes für mindestens ein Jahr bedingen. Dabei wird zwischen Binnenmigration – innerhalb nationalstaatlicher Grenzen – und internationaler, grenzüberschreitender Migration unterschieden (vgl. Bähr 1983: 280; Treibel 1990: 19). Erste Ansätze, Migration zu beforschen, etablierten sich im 19. Jahrhundert, wobei es hier zunächst um eine Erfassung von Bevölkerungsströmen ging, z. B. durch Volkszählungen. Die Migrationsgesetze Ravensteins – Hypothesen, die auf empirischen Untersuchungen basieren – bildeten einen ersten Rahmen für spätere Analysen. Migrationsforschung wird seither in der Geographie, den Politikwissenschaften, der Soziologie, der Pädagogik und angrenzenden Disziplinen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erkenntnisinteressen und anhand verschiedenster Methoden durchgeführt. Hierzu gehören qualitative Interviews, standardisierte Befragungen und statistische Analysen von großen Datenbeständen (vgl. Pooley und Whyte 1991: 2). Aufgrund der enormen Komplexität der Studien im Bereich der Migrationsforschung wurde kritisiert, dass es häufig an einer theoretischen Generalisierung mangele. Zu wenige neue Ansätze und Theorien würden entwickelt und die Generierung neuer empirischer Daten häufig hinter die Aktualisierung bestehender Datensätze zurückgestellt (vgl. Pooley und Whyte 1991: 4). Hier knüpft die vorliegende Arbeit durch ihre empirische Vorgehensweise an. Anhand einer explorativen Studie wird die strategische Nutzung der Transnationalität durch vietnamesische MigrantInnen in Berlin und RückkehrerInnen in Vietnam analysiert. Mit zunehmender Abstraktion im Verlauf des Auswertungsprozesses wird eine theoretische Generalisierung der gewonnenen Ergebnisse herbeigeführt. Der Fokus des Ansatzes der internationalen Migrationssysteme, ebenfalls wegweisend für den Ansatz der transnationalen Migration, liegt auf histo13
2 Theoretische Grundlagen risch langfristig gewachsenen politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für Wanderungsprozesse (vgl. Pries 2001b: 43). Migrationsströme werden hier im Zusammenhang mit ökonomischen Strukturen und Traditionen sowie nationalen Einwanderungspolitiken analysiert (vgl. Pries 2001b: 45). Eine detaillierte Migrationsstudie erfordert die Verwendung unterschiedlicher Quellen und Methoden, die der Komplexität einer MigrantInnengemeinschaft und ihren räumlichen Handlungsmustern gerecht wird. Dies wird anhand einer multi-sited ethnography (vgl. Marcus 1995) umgesetzt, durch die MigrantInnen sowohl in ihrem Herkunfts- als auch im Aufnahmekontext durch persönliche Befragungen bzw. Beobachtungen beforscht werden können. Eine große Neuerung in der internationalen Migrationsforschung stellt die seit den 1980er Jahren erfolgte Abkehr von der Betrachtung der AkteurInnen und den von ihnen vollzogenen uni- bzw. bidirektionalen Ortswechseln hin zum Verständnis von Migration als dauerhaftem Zustand dar. Der Ansatz der transnationalen Migration greift dieses Verständnis auf und stellt die wiederkehrende, zyklische Wanderung von Personen in den Vordergrund. Hierbei aufgeworfene Fragen konzentrieren sich auf neue Qualitäten von Wanderungen und Vergemeinschaftungsformen. Daraus ergibt sich die Frage, in welchen dynamischen oder sich verfestigenden Mustern unterschiedliche Typen von MigrantInnen wandern und welche neuen, transnationalen Bezüge sich daraus ergeben (vgl. Pries 2001b: 32 ff.). Ergänzend zur Betrachtung individuellen Handelns auf der Mikroebene und der Auswertung massenstatistischer Daten auf der Makroebene, entstand v. a. in der US-amerikanischen Migrationsforschung als neue Analyseebene die Mesoebene (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992; Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1994), die ihren Fokus auf Sozialräume und Bewegungen zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion setzt und Wanderungsbewegungen als kontinuierliche soziale Prozesse versteht (vgl. Pries 2001b: 32). In Studien zu transnationaler Migration können Dynamiken innerhalb sozialer Netzwerke durch eine Verbindung der akteurszentrierten mit der strukturellen Ebene auf dieser neuen Mesoebene analysiert werden, wie z. B. informelle Organisationen und Formen des Engagements (vgl. Faist 2000: 116; Faist 2008: 19).
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration Das Thema ›Transnationalismus‹ erlebte in den letzten zehn Jahren einen großen, interdisziplinären Interessenzuwachs, der auch als transnational turn bezeichnet wird (vgl. Vertovec 2009: 1, 13). Erste Erwähnungen fand der Begriff transnationalization im Bereich der internationalen Beziehungen 14
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration (vgl. Keohane und Nye 1971; Keck und Sikkink 1998). Identifiziert und definiert wurde ›Transnationalisierung‹im Zusammenhang mit Migration anfangs durch eine Gruppe von Ethnologinnen, die diese als Prozess beschreiben, der MigrantInnen befähigt, vielseitige soziale Beziehungen zwischen ihrem Herkunfts- und Aufnahmekontext beizubehalten (vgl. Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1994: 7). Sie bezeichnen diese Prozesse als ›Transnationalisierung‹, da ein erheblicher Teil aller MigrantInnen heutzutage soziale Felder ausbildet, die geographische, kulturelle und politische Grenzen überspannen und daher als TransmigrantInnen bezeichnet wird (vgl. Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1994: 7; Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 1). Die räumliche Ebene von Kontaktnetzwerken14 transnationaler MigrantInnen (vgl. Glick Schiller 1999; Vertovec 1999: 456), die ohne selbst mobil zu sein Austauschbeziehungen pflegen, werden als ›Transnationale Felder‹ bezeichnet (Pessar und Mahler 2003: 823). Ähnlich betrachten Itzigsohn et al. (Itzigsohn et al. 1999: 317) transnationale Felder als geprägt von sozialen Interaktionen und Austauschbeziehungen, die politische und geographische Grenzen überschreiten und eine relevante Bezugsebene für MigrantInnen und ihre Herkunftsgemeinden liefern. Transnationale Kontakte sind anfangs häufig ökonomischer Natur und spannen sich zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland auf. Bei einem beachtlichen Teil transnationaler Bezüge kommen zunehmend kulturelle und politische Aspekte zum Tragen (vgl. Guarnizo und Smith 1998: 4, 24). Häufig ist eine Erweiterung bipolarer Netzwerke um Knotenpunkte in mehreren Nationalstaaten zu beobachten (vgl. Guarnizo und Smith 1998: 24; Østergaard-Nielsen 2000). Transnationale Aktivitäten und Beziehungen sind durch einen andauernden, wiederkehrenden Austausch über nationalstaatliche Grenzen hinweg bestimmt, der nicht nur durch MigrantInnen selbst, sondern auch durch Unternehmen, NGOs oder individuelle AkteurInnen getragen wird. Transnationale Aktivitäten wurden durch Innovationen im Telekommunikationsbereich unterstützt, die grenzüberschreitenden Austausch leichter, schneller und billiger machten (vgl. Vertovec 2009: 3). Die kollektiven Eigenschaften, Entwicklungen und Auswirkungen dieser Aktivitäten werden als ›Transnationalismus‹ bezeichnet. MigrantInnengemeinschaften, die in netzwerkartigen Strukturen organisiert sind, spiegeln die Ausprägungen und die Dynamik des Transnationalismus zwischen verschiedenen Lokalitäten wider (vgl. Castells 2001; Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 23). Von entscheidender Bedeutung bei der Erforschung transnationaler MigrantInnengemeinschaften sind Netzwerke, die vor allem durch neue Technologien bestimmt werden (vgl. Castells 14 | »Ein Netzwerk besteht aus mehreren untereinander verbundenen Knoten. [. . . ] Netzwerke sind offene Strukturen und in der Lage, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren [. . . ] « (Castells 2001: 528).
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2 Theoretische Grundlagen 2001; Portes 2000: 265) und selbst nicht zu neuen sozialen Beziehungen führen, jedoch vorhandene unterstützen (vgl. Vertovec 2009: 4 f.).15 MigrantInnengemeinschaften stehen in einer triadischen Beziehung zwischen ihrem Herkunftsland, dem Aufnahmeland und den global verstreuten Mitgliedern der Exilgemeinschaft. Die Transnationalismusforschung kann als Echo auf Globalisierungsprozesse verstanden werden. 2.1.1 Transnationalismus im Kontext von Nationalität und Globalisierung MigrantInnen in transnationalen Zusammenhängen verfolgen in erster Linie ökonomische Interessen, während sie vielseitige grenzüberschreitende Beziehungen familiärer, wirtschaftlicher, sozialer, organisatorischer, religiöser und politischer Art entwickeln. Diese langfristigen Engagements beruhen auf der Identifikation mit zwei oder mehr Nationalstaaten (vgl. Han 2005: 81). Oft geraten MigrantInnen in Spannungsfelder zwischen Nationalstaaten bzw. werden zu AdressatInnen politischer Forderungen des Herkunftslandes. Die Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft durch mehr als die Hälfte aller Länder weltweit unterstützt den Zugang sogenannter TransmigrantInnen zu sozialen Transferleistungen, Eigentumsrechten, zum Gesundheitssystem und Wahlrecht in verschiedenen Ländern (vgl. Vertovec 2009: 11). Demnach sind transnationale Beziehungen von MigrantInnen nicht zuletzt abhängig von Migrationspolitiken. Parallel zur Transnationalisierung erleichterten Globalisierungspro zesse 16 die wachsende Vernetzung zwischen Menschen weltweit durch Fortschritte im Transportsektor, in verschiedensten Technologien und in der Telekommunikationsbranche, wodurch es u. a. durch Faxe, Emails sowie billige Telefongespräche und Reisemöglichkeiten (vgl. Vertovec 2009: 14 f.) zu einer neuen Qualität der Vernetzung kam (vgl. Vertovec 2009: 2; Portes und Rumbaut 2001: 223). Bei Betrachtungen von Globalisierung ist die Mobilität von Kapital, Informationen und Gütern, die in der li15 | Neben den langjährig bestehenden Diaspora- und MigrantInnengemeinschaften operieren auch illegale und kriminelle soziale Netzwerke auf transnationaler Ebene, z. B. im Schmuggel von Menschen, Waffen und Drogen (vgl. Vertovec 2009: 5). 16 | Unter Globalisierung wird ein weltweit auftretender Prozess der Vernetzung in allen Bereichen verstanden, der maßgeblich durch technologischen Fortschritt und die Liberalisierung des Welthandels begünstigt wird. Scholz (Scholz 2004: 217) sieht Globalisierung als einen Prozess der Fragmentierung an, der sich in (extremem) individuellem oder lokalem/regionalem Reichtum und massenhafter flächendeckender Armut, in ökonomischer Partizipation und Ausgrenzung, in bewusster sozialer Inklusion und Exklusion sowie in Standortzugewinn und exzessiver Standortfluktuation äußert. Globalisierungskritiker betonen die weltweite Zunahme von Massenarmut, einer exzessiven Verschärfung des Wohlstandsgefälles auf nationaler und internationaler Ebene sowie einer materiellen und sozialen Ausgrenzung von immer mehr Menschen und die ökonomische Abkopplung des Südens als Ergebnis der Globalisierung (vgl. Scholz 2004: 215 f.). Für einen Überblick über die verschiedenen Diskurse zu Globalisierung siehe Wimmer (2001).
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2.1 Transnationalismus und transnationale Migration beralen kapitalistischen Weltökonomie immer weniger Restriktionen unterworfen ist, von der Wanderung von Menschen, die häufig restriktiven Einwanderungsbestimmungen unterliegen, zu unterscheiden. Während beim Warenaustausch Restriktionen abgebaut werden, wirken Einwanderungspolitiken, begründet mit der Wahrung der inneren Sicherheit und der kollektiven nationalen Identität, einer freien grenzüberschreitenden Mobilität von Menschen entgegen (vgl. Faist 2000: 15). Diese globalen Veränderungen haben einen starken Einfluss auf das Migrations- und Inklusionsverhalten von Menschen. Um die empirischen Beobachtungen der vorliegenden und ähnlicher Forschungsarbeiten erklären zu können, besteht nicht nur der Bedarf nach neuen Forschungsansätzen – in diesem Fall des Transnationalismus – sondern auch nach deren Verknüpfung mit gängigen Konzepten. Inklusions- oder Assimilierungsprozesse verlaufen nicht gradlinig, sondern werden durch soziale Netzwerke, Pendelwanderungen und transnationale MigrantInnengemeinschaften usw. beeinflusst und sind nicht als ausschließend anzusehen sind. 2.1.2 Transnationalismus im Kontext von Inklusion und Assimilation Der Ansatz der transnationalen Migration kann als Antwort auf die bis in die 1990er Jahre gängige Migrationsforschung verstanden werden, die sich vor allem auf Inklusions- und Assimilationsprozesse innerhalb von Nationalstaaten konzentrierte. Ausgehend von einer Stabilität und Dauerhaftigkeit transnationaler Felder durch ökonomische Abhängigkeiten, verwandtschaftliche Reziprozitätsbeziehungen17 und Altersabsicherung (vgl. Nieswand 2005: 47 ff.) wird rückgeschlossen, dass eine Inklusion auf nationalstaatlicher Ebene eine gleichzeitige Inklusion in transnationale soziale Felder nicht ausschließt (vgl. Nieswand 2008: 35, 38). Dies greift der ›methodologische Transnationalismus‹ auf, unter dem ein formaler analytischer Rahmen zur empirischen Beobachtung von Prozessen multipler und simultaner Inklusion, Exklusion und Nicht-Inklusion von MigrantInnen in verschiedene sozial-räumliche Kontexte und Institutionen als Alternative zur herkömmlichen nationalstaatlichen Inklusionsforschung verstanden wird (vgl. Nieswand 2008: 47 f.). Dessen Ausgangsbasis liefert der ›methodologische Nationalismus‹ – die Betrachtung von Nationalstaaten als natürlich gegebene Einheiten (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2003: 576), die von der transnationalen Migrationsforschung überwunden werden 17 | Reziprozität beschreibt ein gegenseitiges, auf gemeinsamen Normen beruhendes Vertrauen, das spezifisch oder generalisiert sein kann. Spezifische Reziprozität umfasst den direkten Austausch von Gütern oder Unterstützungsleistungen gleichen Werts. Generalisierte Reziprozität, die im Kontext der vorliegenden Arbeit aufgegriffen wird, ist eine Komponente des Sozialkapitals und bezeichnet eine andauernde Austauschbeziehung, die nie ganz ausgeglichen ist. Sie beinhaltet die Erwartung, dass ein gegenwärtig erbrachter Gefallen in der Zukunft ausgeglichen wird (vgl. Putnam 1993: 172).
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2 Theoretische Grundlagen möchte. Besonders stark marginalisierte MigrantInnen, denen gemäß der Assimilationslogik ein besonders großes Interesse an der Aufrechterhaltung von transnationalen Beziehungen unterstellt werden könnte, agieren gerade nicht in transnationalen Feldern, da ihnen die Mittel zur Generierung von Reziprozitätsansprüchen fehlen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Inklusion in nationalstaatliche Kontexte und transnationale Felder nicht als einander ausschließende Möglichkeiten zu begreifen sind (vgl. Nieswand 2005: 50, 54; Nieswand 2008; Brubaker 2001: 541; Smith 2006; Levitt und Glick Schiller 2004: 0, 12). Transnationale politische Aktivitäten werden weder überwiegend von marginalisierten oder niedrig qualifizierten MigrantInnen ausgeführt, noch verringert ihre Verweildauer im Aufnahmekontext die Einbindung in solche Tätigkeiten (vgl. Guarnizo, Portes und Haller 2003: 1238). Frühe Studien zu transnationaler Migration begriffen grenzüberschreitende Lebensformen von MigrantInnen als Alternative zur Assimilation bzw. Inklusion, während spätere Studien darin alternative Arten der Anpassung im Aufnahmeland sahen (vgl. Vertovec 2009: 77 f.). Auch die Theorie der segmentierten Assimilation legt nahe, dass die Transnationalität von MigrantInnen deren Inklusion nicht zwingend im Wege stehen muss. Diese sieht drei mögliche Wege für die sozio-ökonomische Mobilität von MigrantInnen: erstens die Aufwärtsbewegung in die weiße Mittelschicht, zweitens die Abwärtsmobilität in die weitgehend exkludierte niedrig entlohnte ArbeiterInnenklasse und drittens den Rückzug in die eigene MigrantInnengemeinschaft. In letzterer Gemeinschaft mit ihren eigenen kulturellen und ökonomischen Mustern können gruppenspezifische Ressourcen für den sozialen Aufstieg genutzt werden (vgl. u. a. Portes und Zhou 1993: 81 f.; Zhou 1997: 984). Inklusion muss demnach nicht über die lineare Aufwärtsorientierung von MigrantInnen erfolgen, sondern kann auch durch eine zunehmende soziale Distanz der MigrantInnen zur Mehrheitsgesellschaft oder durch transnationale ökonomische Aktivitäten erfolgen (vgl. Vertovec 2009: 79; Portes und Mooney 2002: 323). Als wichtiges Vehikel für eine Inklusion oder Assimilation wird häufig der Erwerb der Sprache der Aufnahmegesellschaft gesehen, der in einem engen Zusammenhang mit dem Einreisealter, aber auch der Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft bzw. überwiegend in die eigene Gemeinschaft steht. Als Folge kann eine Bilingualität, eine sprachliche Segmentierung zugunsten der Muttersprache oder der Zweitsprache oder in seltenen Fällen auch eine sprachliche Marginalität eintreten, wenn keine der beiden Sprachen auf hohem Niveau beherrscht wird (vgl. Esser 2008: 203 f.). Ein Thema, das in der Transnationalimusforschung besondere Aufmerksamkeit erfährt und in engem Zusammenhang mit Aspekten wie Assimilation und Inklusion steht, ist die Frage nach der Identität transnationaler MigrantInnen. Da diese auch im Hinblick auf die vorliegende 18
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration Untersuchungsgruppe eine tragende Rolle spielt, wird im Folgenden näher auf Identitäten eingegangen. Identitäten sind im Transnationalismus von Mehrdeutigkeit und vielfältigen Bezugsrahmen bestimmt und werden als ›hybrid‹ bezeichnet (vgl. Pries 2005: 18-19; Laaser 2008: 24). Die Ausbildung transnationaler Identitäten könnte positive Auswirkungen auf die gesellschaftliche Inklusion von MigrantInnen in Europa haben (vgl. Pries 2005: 18-19). Dieser Ansicht liegt das Argument zugrunde, dass sich traditionelle nationale und regionale Modelle von Identität und Zugehörigkeit weder in einer globalen Weltgesellschaft noch in einem postmodernen immateriellen ›Raum der Ströme‹18 auflösen, noch durch supranationale Gebilde wie die EU verdrängt werden. Vielmehr spielt die Heimat, die eng mit einer nationalen Identität zusammenhängt und auf eine vorgestellte Gemeinschaft rekurriert (vgl. Anderson 1996), weiterhin eine wichtige Rolle für TransmigrantInnen. Verflechtungsbeziehungen und Netzwerke von Menschen auf lokaler, regionaler, nationaler, globaler und transnationaler Ebene werden sich nicht gegenseitig verdrängen oder ersetzen. Vielmehr wird es zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Formen des Zusammenlebens von Menschen kommen (vgl. Pries 2005: 21). Es ist naheliegend, dass TransmigrantInnen sich bemühen, ihre soziokulturelle Identität auch im Rahmen eines transnationalen Lebens zu reproduzieren. Gleichzeitig können sie in ihre Aufnahmegesellschaft in einem Maße integriert sein, das zur Veränderung ihrer kulturellen Identität führt. Im Prozess der Identitätsbildung sind Personen nicht nur passive RezeptorInnen, sondern spielen eine aktive Rolle, u. a. indem sie in sozialen Netzwerken agieren (vgl. Madsen und van Naerssen 2003: 62). Soziale Netzwerke halten die Prinzipien einer gemeinsamen, vorgestellten Gemeinschaft aufrecht (vgl. Madsen und van Naerssen 2003: 68). In der nicht-westlichen Welt hängen Identitätsbildungsprozesse häufig mit der kolonialen Vergangenheit von Staaten und mit der Nationenbildung zusammen. Die Trennung von linguistischen, ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen durch kolonialzeitliche Grenzziehungen führt zu einer Kluft zwischen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Identität und einem indigenen Zugehörigkeitsgefühl (vgl. Madsen und van Naerssen 2003: 65). Anhand haitianischer, karibischer und philippinischer MigrantInnen in New York zeigen Glick Schiller et al. (Glick Schiller, Basch und BlancSzanton 1992) in einer der ersten Studien zu transnationaler Migration 18 | Der Begriff ›Raum der Ströme‹ wurde durch Castells geprägt. ›Raum‹ ist hier ein materielles Produkt und steht in Beziehungen zu anderen materiellen Produkten. Zu diesen Produkten zählen auch Menschen, die den Raum mit einer Form, einer Funktion und sozialem Sinn ausstatten. Als Ströme bezeichnet Castells Interaktionen physisch unverbundener Positionen von sozialen Akteuren innerhalb der verschiedenen Strukturen der Gesellschaft. Daraus ergibt sich seine Definition des Raums der Ströme als die materielle Organisation von Formen gesellschaftlicher Praxis, die eine gemeinsame Zeit haben, soweit sie durch Ströme funktionieren (vgl. Castells 2001:466 f.).
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2 Theoretische Grundlagen auf, wie komplex sich ihre Erfahrungen und Identitäten ausgestalten. Auf dieser Grundlage fordern sie einen neuen Analyserahmen, der diesen Formationen gerecht wird – eine globale Perspektive (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992). Der neue Analyserahmen soll dazu beitragen, Erfahrungen von MigrantInnen als einen Prozess zu betrachten, ihren Ursprung zu analysieren, Veränderungen wahrzunehmen und deren Einfluss auf das Herkunfts- und das Aufnahmeland herauszuarbeiten (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 19). Dafür beziehen sie globale ökonomische Prozesse und Nationalstaaten in den Analyserahmen mit ein und betrachten deren Verflechtung zu sozialen Beziehungen, politischen Aktionen, Loyalitäten, Überzeugungen und Identitäten der MigrantInnen (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 8). Sie stellen fest, dass ihre GesprächspartnerInnen in hometown associations19 organisiert und damit Teil eines sozialen Systems sind, das auf Netzwerken zwischen zwei oder mehreren Nationalstaaten basiert, während sie ihre Aktivitäten, Identitäten und Status an mehreren Orten beibehalten (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 3). Auf der Grundlage ihrer Überlegungen kommen sie zu dem Schluss, dass sich die Transnationalität von MigrantInnen durch ein Zusammenspiel von historischen Erfahrungen, strukturellen Bedingungen und den Ideologien der Aufnahme- und Herkunftsgesellschaft entwickelt (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 8). TransmigrantInnen bilden multiple Identitäten aus, die auf den Gegebenheiten der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft sowie der Mitgliedschaft in Netzwerken basieren (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 11) und zu »Spannungen zwischen Anpassung und Widerstand« führen können (Han 2005: 82). 2.1.3 Formen und Ausprägungen des Transnationalismus In der transnationalen Migrationsforschung werden mit Transnationalismus unterschiedliche Dynamiken und Strukturen in Verbindung gebracht, wie z. B. transnationalism from above, der durch das globale Kapital, global operierende Unternehmen, Medien und politische Institutionen begünstigt wird und transnationalism from below, worunter lokale Aktivitäten ›von unten‹, wie z. B. hometown associations verstanden werden (vgl. Vertovec 2009: 18; Evans 2000: 230). Das Ausmaß und die Form transnationaler Aktivitäten von MigrantInnen hängen von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen die geographische 19 | Sogenannte hometown associations, Organisationen von MigrantInnen, die sich im Aufnahmeland zusammengeschlossen haben, um ihre Herkunftskommunen zu unterstützen, erleben in der jüngeren Vergangenheit eine zahlenmäßige Zunahme. Ihre Aktivitäten umfassen z. B. die Bündelung von Rücküberweisungen für Entwicklungsprojekte ihrer Herkunftsgemeinden, unter anderem für Schulen, Krankenhäuser, Kirchen und Straßen (vgl. Vertovec 2009: 15, 111).
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2.1 Transnationalismus und transnationale Migration Distanz von Herkunfts- und Zielland, deren bi- oder multinationale Beziehungen sowie Migrationsmuster und Siedlungsprozesse (vgl. Vertovec 2009: 19). Grundsätzlich gilt, dass nicht alle MigrantInnen in transnationalen Strukturen leben, sondern dass die Transnationalität von MigrantInnen unterschiedlich stark ausgeprägt bzw. auch gar nicht vorhanden sein kann (vgl. Vertovec 2009: 13). Es kann sich bei transnationalen MigrantInnen u. a. um RückkehrerInnen, irreguläre MigrantInnen, Flüchtlinge oder Hochqualifizierte handeln (vgl. Vertovec 2009: 19). Ferner kann zwischen verschiedenen Ausmaßen der Mobilität bezüglich transnationaler Praktiken und Orientierungen unterschieden werden. Zu unterscheiden wären z. B. Personen, 1) die regelmäßig zwischen bestimmten Orten hin- und herwandern, 2) die überwiegend an einem Ort bleiben, sich aber für ihren Herkunftsort engagieren und 3) die nie migriert sind, jedoch an einem Ort leben, der durch die Aktivitäten von MigrantInnen geprägt ist (vgl. Vertovec 2009: 19). In der vorliegenden Arbeit wird in Kapitel 5-8 die erste und zweite Gruppe dieser Kategorisierung betrachtet, während die dritte Gruppe keine Berücksichtigung findet. Des Weiteren wird das Ausmaß der Transnationalität vietnamesischer UnternehmerInnen unterschieden. In Anlehnung an die von Itzigsohn und Kollegen (Itzigsohn et al. 1999) konzeptionalisierte enge (narrow) und weite (broad) Transnationalität als zwei Extreme eines Kontinuums werden verschiedene Unterkategorien gebildet. Wandert eine Person häufig im transnationalen sozialen Raum, ist sie hochgradig institutionalisiert und persönlich stark beteiligt, kann von einer engen Transnationalität gesprochen werden. Ist eine Person nur sporadisch mobil im transnationalen sozialen Raum, wenig institutionalisiert und persönlich nur gelegentlich beteiligt, während sie Herkunfts- und Aufnahmeland als Referenzpunkte beibehält, wird von einer weiten Transnationalität ausgegangen. Wichtig ist jedoch, dass auch alle vorstellbaren Mittelmaße bzw. alle möglichen Kombinationen der drei Unterscheidungsmerkmale vorkommen und daher alle Ausprägungen innerhalb des Kontinuums von eng und weit auftreten können. Sind bei einer Person mindestens zwei der drei Kriterien – Institutionalisierung, persönliche Beteiligung und Pendelfrequenz als stark ausgeprägt zu bewerten, wird bei Itzigsohn et al. von einer engen Transnationalität gesprochen (vice versa) (vgl. Itzigsohn et al. 1999: 323). Itzigsohn et al. unterteilen Transnationalität in vier Kategorien: ökonomisch, politisch, zivilgesellschaftlich und kulturell (vgl. Itzigsohn et al. (1999): 324). Diese Unterscheidung in enge und weite Transnationalität wird im späteren Verlauf der Arbeit wieder aufgegriffen (s. Kapitel 6-8). Dabei klingt an, dass die räumliche Ebene des Transnationalismus für die Erforschung von Wanderungen von Personen eine wichtige Rolle spielt.
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2 Theoretische Grundlagen 2.1.4 Transnationale soziale Räume Das Konzept der transnationalen sozialen Räume (TSR)20 wurde aus dem Ansatz der transnationalen Migration abgeleitet und ist zentral für die geographische Migrationsforschung, da die räumliche Perspektive im Mittelpunkt des Konzeptes steht. Die der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Konzeption der TSR orientiert sich an der Definition von Pries, die zunächst von Transmigration ausgeht: »Transmigration lässt sich als ein bedeutsamer werdender Idealtypus internationaler Wanderungsbewegungen verstehen, bei dem der Wechsel zwischen den Orten in verschiedenen Nationalgesellschaften keine einmalige bzw. vorübergehende Ausnahmeerscheinung, sondern wiederkehrender Bestandteil von (Über-) Lebensstrategien ist.« (vgl. Pries 2001a: 18). Bei TSR handelt es sich um räumliche Bezugssysteme von Menschen, Netzwerken und Organisationen, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten. Die neben bzw. unterhalb der Regierungsebene bestehenden Beziehungen sind gekennzeichnet durch eine hohe Dichte und Frequenz, eine gewisse Stabilität und Langlebigkeit (vgl. Faist 2000: 10; Pries 2001a: 23; Pries 2001c: 14). Als Idealtyp eines TSR gilt in der vorliegenden Arbeit ein nationale Grenzen überschreitender Raum, der sich ohne Zentrum zwischen verschiedenen Orten, Regionen oder Ländern aufspannt (vgl. Pries 2007: 12). Demnach entstehen TSR nicht auf der Grundlage herkömmlicher Ein- bzw. Auswanderung, die vorliegt, wenn anhaltende Koordinationsmechanismen für Ressourcen (z. B. Rücküberweisungen), für die Lebensweise (z. B. eine wöchentliche Korrespondenz mit dem Herkunftskontext in Form eines Anrufes, Briefes, Faxes oder einer Email) und für Interessen (berufliche Karriere oder Schulbesuch) im Aufnahmekontext zentriert sind. Auch RückkehrerInnen, bei denen eben jene Mechanismen im Herkunftskontext verankert sind, sind keine typischen AkteurInnen in TSR. Bei transnationalen MigrantInnen gibt es im Idealfall keine solche Verankerung, sondern eine ausgeglichene Orientierung zwischen Herkunfts- und Aufnahmekontext (vgl. Pries 2007: 12). Vorgestellt sind TSR als auf einer Entkoppelung von Flächenraum und sozialem Raum basierend (vgl. Pries 1997: 36), da ihnen kein klassisches Raumverständnis im Sinne des abgeschlossenen Containerraumes21 zu20 | ›Raum‹ wird hier als der vom geographischen Territorium unabhängige, über nationalstaatliche Grenzen hinausreichende Lebenskontext von TransmigrantInnen verstanden. Er umfasst also nicht nur physische Eigenschaften, sondern auch soziale und symbolische Beziehungen zwischen Personen und Kollektiven, subjektive Einstellungen, Werte und Bedeutungszuschreibungen (vgl. Faist 2000: 15). 21 | Der Begriff des Containerraums gewann durch seinen Schöpfer Albert Einstein an Bedeutung und bezeichnet einen Raum, der unabhängig von seinen Inhalten existiert (vgl. Einstein 1960) und bereits von Newton im 17. Jh. als absoluter Raum konzipiert wurde (vgl. Jammer 1960). Der Begriff wurde Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen, um neue Forschungsansätze von dieser Perspektive abzugrenzen.
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2.1 Transnationalismus und transnationale Migration grunde liegt. Ein TSR kann nicht a priori vorausgesetzt werden, sondern wird im Zusammenhang mit den Aktivitäten, die TransmigrantInnen, transnationale Organisationen und Unternehmen in diesem vorgestellten ›Dritten Raum‹ (vgl. Bhabha 2004: 53; Soja 1996: 24 ff.) ausführen, a posteriori erdacht (vgl. Han 2005: 80; Anderson 1996). Daher wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen, dass es für eine MigrantInnengemeinschaft nicht einen TSR gibt, sondern dass TSR nach Aufenthaltstatus, Geschlecht, Religion, sozialer und ökonomischer Vernetzung unterschiedlich ausgeprägt sind. Das theoretisch an Giddens und Arendt angelehnte Konzept ›Migration als räumliche Definitionsmacht‹ wird in der vorliegenden Arbeit als Ergänzung zu den TSR herangezogen. Räume und Orte werden darin durch soziale Praktiken und kulturelle Werte definiert, die sich meist räumlich überschneiden und fließende Grenzen aufweisen (vgl. Hillmann 2007: 21). Die ›Definitionsmacht‹ wird als Anspruch bzw. »[. . . ] Gestaltungspotential, das Migrationsprozesse auf den verschiedenen gesellschaftlichen und räumlichen Ebenen zu entfalten in der Lage sind [. . . ]« beschrieben (Hillmann 2007: 24).22 Für die vorliegende Arbeit wird das Konzept aufgegriffen, um die verschiedenen Akteursebenen voneinander zu trennen, ihre Reichweiten einzuordnen und ihre Aushandlungsprozesse innerhalb der eigenen Gemeinschaft, v. a. aber mit der Mehrheitsgesellschaft zu analysieren. Des Weiteren dient es dazu, ihre Gestaltungspotentiale und -möglichkeiten herauszuarbeiten. TSR werden in der vorliegenden Arbeit immer mit einem räumlichen Bezug im Sinne Pries verwendet und werden damit konzeptionell von transnationalen Feldern getrennt, die keines räumlichen Bezuges bedürfen (vgl. Abs. 2.1 und 2.1.3). Relevante AkteurInnen innerhalb transnationaler sozialer Räume sind in der vorliegenden Arbeit UnternehmerInnen. 2.1.5 Transnationalismus und UnternehmerInnentum Pendelbewegungen von MigrantInnen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern gehören zur Alltagsrealität verschiedener MigrantInnengrup22 | Das Konzept Giddens’ kann auf das Handeln von MigrantInnen übertragen werden. Dadurch, dass MigrantInnen in der Lage sind, »anders zu handeln« als AkteurInnen der Mehrheitsgesellschaft, sind sie fähig, »in die Welt einzugreifen bzw. einen solchen Eingriff zu unterlassen mit der Folge, einen spezifischen Prozess oder Zustand zu beeinflussen« (Giddens 1988: 65). Giddens verbindet seinen Machtbegriff mit anderen Machtbegriffen der Sozialwissenschaften, die wie im Falle Parsons und Foucaults Macht häufig als eine Eigenschaft der Gesellschaft bzw. der sozialen Gemeinschaft definieren (vgl. Giddens 1988: 66). Diese Verbindung der Machtbegriffe bezeichnet Giddens als »Dualität von Struktur« und stellt Macht »einerseits als das Vermögen von AkteurInnen dar, von ihnen getroffene Entscheidungen handelnd durchzusetzen, andererseits als die ›Mobilisierung von Einfluss‹, der in Institutionen eingebaut ist « (Giddens 1988). Dies bedeutet gleichermaßen, dass Struktur Handeln nicht nur einschränkt, sondern es ebenfalls ermöglicht (vgl. Giddens 1988: 78).
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2 Theoretische Grundlagen pen. Neu am gegenwärtigen Transnationalismus sind das Ausmaß, die Frequenz und die Dichte solcher Bewegungen und Kontakte und ihre sozioökonomischen Konsequenzen. Transnationale Handelstätigkeiten wurden durch neue und billigere Transportmöglichkeiten im Personen- und Güterverkehr, aber auch durch veränderte Kommunikationsmöglichkeiten erleichtert. Der wichtigste Einflussfaktor ist jedoch die Restrukturierung der Weltwirtschaft und die damit verbundene Globalisierung von Kapital und Arbeit (vgl. Zhou 2004: 11). Das transnationale UnternehmerInnentum ist eine spezielle Form transnationaler ökonomischer Aktivitäten und lässt sich klar unterscheiden vom immigrant entrepreneurship, das lediglich im Aufnahmeland betrieben wird (vgl. Guarnizo 2003: 675). Unternehmensgründungen können demnach Teil transnationaler Lebensweisen von MigrantInnen sein. Investitionsentscheidungen sind in soziale Erwartungen und Verpflichtungen eingebettet, die sich zwischen Aufenthalts- und Herkunftsort aufspannen. MigrantInnen investieren in Unternehmen in ihren Herkunftsländern z. B. im Hinblick auf die eigene Rückkehr und ein regelmäßiges Einkommen oder um ihren Verwandten anstelle von Rücküberweisungen ein Einkommen zu sichern (vgl. Guarnizo 2003: 676). Eine besondere Rolle für das transnationale UnternehmerInnentum spielen soziale Netzwerke (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 21), die auf Vertrauen und auf einem gemeinsamen moralischen, religiösen und kulturellen Hintergrund aufbauen (vgl. Abs. 2.1.6) und transnationales UnternehmerInnentum erleichtern (vgl. Guarnizo, Portes und Haller 2003: 1218). Diese Netzwerke unterscheiden sich in der Stärke der Bindungen zwischen den Mitgliedern, in ihrer Exklusivität und in ihrer Ausrichtung auf das Herkunfts- oder Aufnahmeland der Mitglieder (vgl. Gold 2001: 70 f.). Hochqualifizierte MigrantInnen kündigen gut bezahlte Arbeitsstellen, um u. a. als transnationale UnternehmerInnen ihre spezifischen Kenntnisse zweier Kulturen und ihre Netzwerke im Herkunfts- und Aufnahmeland zu nutzen. Sie richten ihre formalen Unternehmen meist stark auf das Aufnahmeland aus (vgl. Gold 2001: 66,74; Guarnizo, Sánchez und Roach 1999: 377 ff., 389). Bei gering qualifizierten MigrantInnen ist eher eine unternehmerische Ausrichtung auf das Herkunftsland zu verzeichnen. Darunter fallen Rücküberweisungen, der Erwerb von Grundstücken oder Immobilien für den Eigenbedarf oder die Gründung eines kleinen Unternehmens im Herkunftsland, das ihnen zu einem höheren sozialen Status verhilft (vgl. u. a. Diaz-Briquets und Weintraub 1991 zit. nach Zhou 2004: 12). Es wird deutlich, dass eine homogene Verteilung unternehmerischen Engagements zwischen Aufnahme- und Zielland lediglich einer Idealvorstellung transnationaler UnternehmerInnen entspricht (vgl. Abs. 8.1.1). Solche Formen von UnternehmerInnentum werden stark durch handelspolitische Rahmenbedingungen geprägt. Während in den frühen 1990er 24
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration Jahren durch NAFTA (North American Free Trade Agreement) und GATT (General Agreement on Tarifs and Trade) die globalen Kapital- und Warenströme liberalisiert wurden, unterliegen Wanderungen von Menschen weiterhin restriktiven Gesetzen. Als Folge dessen kann sich transnationales UnternehmerInnentum nicht im größeren Maßstab entwickeln bzw. ist es an den Besitz mindestens zweier Staatsbürgerschaften gebunden, um eine Reisefreiheit zu gewährleisten. Für transnationale dominikanische UnternehmerInnen mit einem hohen Institutionalisierungsgrad fanden Itzigsohn et al. (vgl. ebd. 1999) heraus, dass diese ihre Unternehmen in den USA, vielfach in New York oder in der Dominikanischen Republik führen, ohne oft hin- und herzureisen. Um häufige Reisen zu vermeiden, wird die Verwaltung des Unternehmens in einem der beiden Länder an Verwandte oder bei größeren Firmen an professionelle Manager delegiert (vgl. Itzigsohn et al. 1999: 325 f.). Darüber hinaus beobachteten Itzigsohn et al. auch informellen transnationalen Handel durch Geschäftsreisende mit einem niedrigen Institutionalisierungsgrad, die Ware zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland hin- und herbefördern, während sie selbst konstant in Reise- und Handelstätigkeiten involviert sind. Ihr Marktvorteil liegt darin, dass sie ihre Ware nicht versteuern (vgl. Itzigsohn et al. 1999: 326). In verschiedenen Studien wurde der Versuch unternommen, transnationale UnternehmerInnen zu typisieren (vgl. Zhou 2004; Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1994), wobei v. a. drei Typen für die vorliegende Arbeit theoretisch relevant sind. Ein Typ ist im Import-Export-Geschäft tätig, d. h. im Handel u. a. mit Rohmaterialien, Halbfertigprodukten und Kunsthandwerk und kann als informelle/r ›KofferkurierIn‹ oder als formelles Logistikunternehmen auftreten. Der zweite Typ betrifft Produktionsfirmen, die entweder als Einzelfirma oder Unterfirma über nationale Grenzen hinweg operieren. Der letzte Typ umfasst Mikrounternehmen von RückkehrerInnen, wie z. B. Restaurants, Videogeschäfte oder Waschsalons, die aus Ersparnissen aus dem Aufnahmeland gegründet werden. MigrantInnen schlagen eher Brücken ins Herkunftsland, die sie für ihre Handelsaktivitäten und temporären Besuche im Herkunftsland nutzen können, als sich auf eine permanente Rückkehr vorzubereiten. Im Herkunftsland kaufen sie Immobilien, eröffnen Konten und pflegen Geschäftskontakte, die ihnen neue wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen (vgl. Zhou 2004: 11; Portes und Guarnizo 1991 zit. nach Zhou 2004: 12). Transnationale UnternehmerInnen verfügen über verhältnismäßig hohe Einkommen und sind relativ häufig eingebürgert. Ferner neigen sie zu internationalen Reisen und Kontakten und sind oft in wohltätigen und politischen Organisationen und Sportvereinen tätig, die Beziehungen in ihr Herkunftsland unterhalten (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 16). Sie sind eher in dynamischen Branchen tätig als lokal agierende 25
2 Theoretische Grundlagen UnternehmerInnen, wie z. B. im Import-Export-Geschäft oder dem Management einer Firma im Herkunftsland (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 19). Geschlechtsspezifisch finden Portes et al. heraus, dass MigrantInnenunternehmen überwiegend von verheirateten, gut ausgebildeten Männern geführt werden, die über vielseitigere soziale Kontakte verfügen als LohnarbeiterInnen (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 26). Flüchtlinge oder politische MigrantInnen sind oft nur in lokalen Unternehmen aktiv und vermeiden transnationale Kontakte, wenn sie ihre Kontakte ins Herkunftsland abgebrochen haben (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 18). Diejenigen mit dem größeren individuellen Humankapital, den weitreichendsten sozialen Netzwerken und diejenigen, die kürzlich eine berufliche Abwärtsmobilität erfahren haben, tendieren am ehesten zu transnationalen ökonomischen Aktivitäten (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 21 f., 29). Die Eigenschaften transnationaler UnternehmerInnen variieren unter den verschiedenen untersuchten Nationalitäten: Nicht immer weisen transnationale UnternehmerInnen einen höheren Bildungsgrad auf und verfügen über eine größere unternehmerische Erfahrung als andere Mitglieder ihrer MigrantInnengemeinschaft (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 29). Eine zu klärende Forschungsfrage ist daher, ob Transnationalismus nur in der ersten Generation einer MigrantInnengemeinschaft auftritt oder ob er von der zweiten Generation aufgegriffen wird (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 32; vgl. Abs. 2.1.7). Guarnizo (vgl. ebd. 2003) analysiert die wirtschaftlichen Effekte, die MigrantInnen durch ihre sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen in ihr Herkunftsland erzeugen. Er geht davon aus, dass diese Einfluss auf die Entwicklung ihrer Herkunftsorte und -länder sowie makroökonomische globale Prozesse wie Finanztransfer, Handel und Kultur nehmen. Dabei bezieht er sich auf das Konzept des transnational living, das soziale, politische, ökonomische und kulturelle grenzüberschreitende Beziehungen betrachtet, die dadurch entstehen, dass MigrantInnen gewillt sind, das soziale Milieu ihres Herkunftsortes im Aufnahmeland zu reproduzieren und beizubehalten (vgl. Guarnizo 2003: 667). Es handelt sich dabei also um einen Lebensstil, der sich aus der Beziehung zwischen den Ressourcen der MigrantInnen, ihrer sozio-kulturellen Positionierung und dem historischen Kontext der Orte herausbildet, an denen sie leben (vgl. Guarnizo 2003: 670). Daher folgert Guarnizo aus verschiedenen Studien: [. . . ] transnational entrepreneurship is not just an ephemeral activity undertaken by isolated, risk-taking, individual migrants, but rather that it is a long-lasting endeavor embedded in social fields of solidarity, reciprocity, and obligation that straddle national borders (Guarnizo 2003: 677).
Transnationale UnternehmerInnen greifen in ihren ökonomischen Aktivi26
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration täten maßgeblich auf Netzwerke zurück, die nicht unabhängig von den Konzepten der Embeddedness und Kapitalien zu erklären sind. 2.1.6 Embeddedness, Netzwerke und Kapitalien Dieses Kapitel widmet sich drei Konzepten, die häufig in der Forschung über transnationale Migration angewendet werden – Embeddedness, Netzwerke und Kapitalien – und als ›ethnische‹ Ressourcen zusammengefasst werden (vgl. Light und Rosenstein 1995). Maßgeblicher Entwickler des Embeddedness-Konzeptes23 ist Karl Polanyi, dessen Kerngedanke – ökonomisches Handeln ist immer auch soziales Handeln – einen Gegengedanken zum Bild des homo oeconomicus bildet (vgl. Polanyi 1978, 1944: 75)24 . Demnach ist die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen (Polanyi 1978, 1944: 75).
Granovetter entwickelte diese Argumentation weiter und wendete sie auf soziale Netzwerke in Gesellschaften an, durch die Vertrauen generiert wird und die somit eine Grundlage für den Handel schaffen (vgl. Granovetter 1985: 482). Seine These begründet er damit, dass soziale Netzwerke den Fluss und die Qualität von Informationen bestimmen und ihre Glaubhaftigkeit begünstigen, da sich Individuen eher auf persönliche InformantInnen verlassen. Gleichzeitig üben soziale Netzwerke eine wirkungsvolle soziale Kontrolle aus und generieren ›Vertrauen‹, das einen Schlüsselbegriff der Netzwerkforschung (s. u.) darstellt (vgl. Granovetter 2005: 33). In seinem vielzitierten Aufsatz ›The Strenght of Weak Ties‹ legt Granovetter dar, dass Individuen neue Informationen eher durch lose als durch enge Bezugspersonen erhalten. Enge Bezugspersonen, wie z. B. enge FreundInnen weisen die Tendenz auf, sich in den gleichen Kreisen zu bewegen wie die AkteurInnen selbst, so dass verfügbare Informationen stark überlappen. Dagegen bewegen sich Bekannte zusätzlich in fremden Kreisen und erhalten dadurch neue Informationen (vgl. Granovetter 1973: 1371; Granovetter 2005: 34). Im Bezug auf MigrantInnen zeigt Granovetter auf, dass starke 23 | Unter Embeddedness versteht Polanyi die Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft. Er widerlegt damit die gängige Sichtweise der Liberalen wie z. B. Adam Smith, Handel werde vom Markt geleitet mit dem Ziel der Profitmaximierung. Dem homo oeconomicus stellt er den Menschen als gesellschaftliches Wesen gegenüber (vgl. Polanyi 1978, 1944: 74). Produktion und Verteilung werden durch die Prinzipien der Reziprozität und der Redistribution geregelt, wobei Institutionen wie die Familie eine große Rolle spielen (vgl. Polanyi 1978, 1944: 77). 24 | Polanyi widerspricht Smiths These, der Naturmensch habe eine Neigung zu Tausch, Handel und gewinnbringenden Betätigungen. Er begründet die Arbeitsteilung in Gesellschaften mit der natürlichen Verschiedenheit der Geschlechter, der geographischen Lage und individuellen Fähigkeiten (vgl. Polanyi 1978, 1944: 72 f.).
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2 Theoretische Grundlagen Verbindungen zu einem größeren Gruppenzusammenhalt führen, während schwache Verbindungen neue Ressourcen besser verteilen bzw. integrieren (vgl. Granovetter 1973). Globale Netzwerke, die zwischen sogenannten MigrantInnengemeinschaften, Firmen, NGOs, AkteurInnen sozialer und politischer Bewegungen und vielen mehr bestehen können, sind Kernthemen der Transnationalismusforschung. Analysen sozialer Netzwerke widmen sich u. a. ihrer Größe, Dichte, Komplexität, der Bildung netzwerkinterner Cluster, der Stärke der Beziehungen und ihrer Dauerhaftigkeit (vgl. Vertovec 2009: 34). In der vorliegenden Arbeit werden Netzwerke als mehr oder weniger homogene Sets von Bindungen zwischen drei oder mehr AkteurInnen definiert. Diese umfassen ökonomische und politische Austauschbeziehungen, aber auch Kollektive, wie Gruppen (Familien, Gemeinschaften) und (öffentliche) Organisationen. Daran angelehnt werden MigrantInnennetzwerke als Sets von interpersonalen Bindungen früherer, potentieller und aktueller MigrantInnen, Gruppen und Organisationen in den Sende- und Empfängerländern, die durch Verwandtschaft, Freundschaft oder schwächere soziale Bindungen verbunden sind, definiert (vgl. Faist 1997: 69 f.). Davon werden professionelle Netzwerke unterschieden, die in erster Linie eine ökonomische Funktion haben und u. a. HändlerInnennetzwerke umfassen. Es bleibt zu beachten, dass Netzwerke keine statischen, sondern flexible, dynamische Gebilde sind (vgl. Vertovec 2009: 35). Innerhalb transnationaler Netzwerke gewinnen neben supranationalen Institutionen bzw. Organisationen und transnationalen Unternehmen auch ›kleine‹ transnationale AkteurInnen und communities einen größeren Einfluss. Ressourcen werden nicht nur vom Aufnahmeland ins Herkunftsland, sondern innerhalb des transnationalen Netzwerkes häufig innerhalb verwandtschaftlicher Strukturen hin- und hergeschickt. Ökonomische Aktivitäten spielen hierbei eine bedeutende Rolle und wirken als Katalysatoren für politische, soziale und kulturelle transnationale Aktivitäten (vgl. Vertovec 2009: 9). Politische transnationale Aktivitäten werden meist von internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGOs) oder von MigrantInnen(gruppen) selbst gesteuert (vgl. Vertovec 2009: 10 f.). Anhand eines Netzwerkansatzes wird deutlich, wie MigrantInnen in ökonomische Nischen eintreten und sich darin etablieren (vgl. Waldinger 1994: 3; Tilly 1990). Netzwerke stellen eine wichtige Quelle von Sozialkapital dar. Daraus entstehende soziale Strukturen erleichtern Handlungen, wie z. B. die Jobsuche oder die Informationsvermittlung, insbesondere zwischen ArbeitgeberInnen und -nehmerInnen sowie zwischen Neuankömmlingen und ›Sesshaften‹. Durch die Erhöhung von Dichte und Qualität dieser Informationsflüsse können Netzwerke verstärkt zur Arbeitsvermittlung und Risikominimierung beitragen, z. B. bei der Einstellung und im Anlernprozess (vgl. Bailey und Waldinger 1991, zit. nach Waldinger 1994: 3). 28
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration Institutionelle Rahmenbedingungen, in die MigrantInnenökonomien eingebettet sind, finden im Netzwerkansatz keine Beücksichtigung. Netzwerke können gleichzeitig als Mechanismen der Inklusion als auch der Exklusion angesehen werden. Daher argumentiert Waldinger, dass die Möglichkeiten für MigrantInnennetzwerke, als Sozialkapital zu fungieren, eingeschränkt werden durch Regeln und Strukturen, die etablierte Gruppen eingeführt haben. Dass dies lange keine Beachtung fand, erklärt er durch einen methodischen Fehler, der häufig in der Migrationsforschung begangen wird (vgl. u. a. Collins 1998): Die Erforschung der Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen erfordert eine Betrachtung der Situation einheimischer UnternehmerInnen, die durch MigrantInnen ergänzt oder ersetzt werden. Die Arbeitsverhältnisse, in denen sich MigrantInnen befinden, sind im Laufe historischer Prozesse entstanden, weshalb eine Betrachtung der Genese dieser Strukturen vonnöten ist (vgl. Waldinger 1994: 4). Bezüglich der Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen sollten zudem nichtökonomische Faktoren berücksichtigt werden. Dazu zählen etwa sozio-ökonomische Ressourcen, wie ein soziales Netzwerk oder Sozialkapital (vgl. Light und Rosenstein 1995: 166). Über die engen Netzwerke innerhalb von MigrantInnengemeinschaften werden auch Informationen über die Situation im Aufnahmeland an potentielle MigrantInnen im Herkunftsland transferiert. Die o. g. Jobvermittlung an Neuankömmlinge erfolgt häufig in Milieus, in denen überwiegend MigrantInnen beschäftigt sind. Diese Prozesse führen zu einer Selbstverstärkung und einer Vergrößerung von MigrantInnengemeinschaften, die in einem späteren Schritt evtl. auch formale Institutionen wie Kirchen, UnternehmerInnenverbände und Vereine hervorbringen können. Migrationssysteme, die durch Kreislauf- oder Rückkehrmigration geprägt sind oder durch ein Übergewicht an Einzelwandernden, tendieren weniger zu einem engen Zusammenhalt innerhalb eines Netzwerkes als permanent wandernde Haushalte (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990a: 34-36). Enge Netzwerke tendieren mit zunehmender Aufenthaltsdauer von MigrantInnen im Aufnahmeland zur Auflösung, da diese immer weniger aufeinander angewiesen sind und zunehmend von Institutionen der Mehrheitsgesellschaft Gebrauch machen (vgl. Bailey 1987 und Portes 1987 zit. nach Waldinger, Aldrich und Ward 1990a: 36). Solange die Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft ökonomisch und sozial nicht vollzogen ist, stellen solche engen Netzwerke das Vertrauen bereit, das die Voraussetzung für sogenannte Kreditrotationssysteme (KRS) liefert. Im Fall der in der vorliegenden Arbeit untersuchten vietnamesischen UnternehmerInnen spielen sie eine entscheidende Rolle bei der Rekrutierung von Startkapital für Unternehmensgründungen. Aber auch Informationen über rechtliche Rahmenbedingungen, leerstehende Ladenlokale, Managementpraktiken und LieferantInnen werden innerhalb der Netzwerke ausgetauscht (vgl. 29
2 Theoretische Grundlagen Waldinger, Aldrich und Ward 1990a: 36). MitarbeiterInnen werden häufig aus dem engsten Familien- oder Verwandtschaftskreis rekrutiert, da in diesem Fall ein Grundvertrauen gegeben ist. Netzwerke innerhalb von MigrantInnengruppen sind zwar wichtige Ressourcen für Sozialkapital, erweisen sich jedoch in ihrer vertrauensbasierten, verwandtschaftlichen Form oft als weniger nützlich als losere geschäftliche Kontakte (vgl. Zhou 2004: 14; Putnam 1993 und 2000; Granovetter 1973 und 1985; Woolcock 2001). Kapitalien bieten eine Erklärungsgrundlage für die Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen, wobei vor allem das soziale Kapital im Zentrum der Forschung über MigrantInnenökonomien steht. Im Gegensatz zur rein ökonomisch ausgelegten Betrachtung von Kapitalbesitz in Form von Besitztümern, Produktionsmitteln und Geld, dem ökonomischen Kapital, erweitert Bourdieu den Kapitalbegriff auf nicht-materielle und mit der Person untrennbar verbundene Bereiche. ›Kulturelles Kapital‹ in Form von Bildungstiteln oder in inkorporierter Form eines spezifischen Geschmacks gehört ebenso dazu wie das soziale Kapital. Konkret wird zwischen drei Formen kulturellen Kapitals unterschieden: Erstens liegt es im verinnerlichten, inkorporierten Zustand, d. h. in dauerhaften Dispositionen des Organismus vor. Zweitens tritt es im objektivierten Zustand, d. h. in Form kultureller Güter wie Bilder und Bücher und drittens in institutionalisiertem Zustand in Form von Titeln auf. Die erste und letzte Form kulturellen Kapitals ist wichtig für die Erklärung von MigrantInnenökonomien und wird im Folgenden näher erklärt. »Die meisten Eigenschaften des kulturellen Kapitals lassen sich aus der Tatsache herleiten, dass es grundsätzlich körpergebunden ist und Verinnerlichung (incorporation) voraussetzt« (Bourdieu 1983: 186). Die Verinnerlichung von Bildungskapital kann demnach nicht von einer fremden Person vollzogen werden. Es kann weder durch Schenkung, Tausch, Vererbung noch durch Kauf kurzfristig weitergegeben werden, sondern muss individuell erarbeitet werden. Entscheidend ist der Seltenheitswert des jeweiligen kulturellen Kapitals. Somit schafft und verstärkt diese Kapitalform Ungleichheit im Bezug auf den Zugang zu Ressourcen (vgl. Bourdieu 1983: 189), was sich z B. in ungleichen Zugängen zu Bildung äußert. Das institutionalisierte Kulturkapital tritt in Form von Titeln und Abschlüssen auf und verleiht TrägerInnen des Titels institutionelle Anerkennung. Es setzt die Investition von Zeit und damit auch von ökonomischem Kapital voraus. Dieses wird mit der Absicht in kulturelles Kapital umgewandelt, dass der schulische Titel auf dem Arbeitsmarkt materielle und symbolische Gewinne abwirft (vgl. Bourdieu 1983: 183). Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu die Fähigkeit, Netzwerke auszubilden und soziale Kontakte auch zum ökonomischen Vorteil zu nutzen. Das soziale Kapital ist eng mit dem Embeddedness- und dem Netzwerkan30
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration satz verwoben. Da der Sozialkapitalansatz im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, wird er hier ausführlich dargestellt, wobei zu Bourdieu die Konzepte von Coleman und Putnam hinzugezogen werden. In der vorliegenden Arbeit erklärt der Sozialkapitalansatz die Arbeitsmarktinklusion der vietnamesischen MigrantInnen. Es wird davon ausgegangen, dass Netzwerke und deren inhärentes Sozialkapital als Ressourcen dienen können, die zu einem Zugang zum Arbeitsmarkt verhelfen können (vgl. Espinosa und Massey 1997: 143). Coleman erachtet die Geschlossenheit sozialer Netzwerke als wichtige Voraussetzung für deren Funktionsfähigkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die Familienstruktur, in der Normen und Werte von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden, was Coleman als intergenerationelle Geschlossenheit bezeichnet. Normen, so Coleman, verpflichten zur Reziprozität innerhalb sozialer Netzwerke und lassen sich besonders leicht innerhalb geschlossener Netzwerkstrukturen durchsetzen. In Freundeskreisen mit losen Verbindungen von Individuen, die einander teilweise nicht kennen, kann es zur Ausnutzung von Sozialkapital kommen, da Mechanismen geschlossener Netzwerke, wie effektive Sanktionen, die das Verhalten jedes Einzelnen beobachten und lenken, dort nicht greifen. Begrüßenswert sind daher geschlossene Freundeskreise, HändlerInnennetzwerke o. ä. (vgl. Coleman 2000: 23 f.). Putnam unterscheidet zwischen bonding und bridging social capital. Unter Ersterem versteht er enge, geschlossene Netzwerke unter Verwandten und FreundInnen, sowie Netzwerke innerhalb homogener sozialer Gruppen, die für alltägliche Belange eingesetzt werden können. Bridging social capital ist innerhalb offener, heterogener Netzwerke, die verschiedene Gruppen miteinander verbinden, anzutreffen und kann z. B. bei der Arbeitssuche hilfreich sein. Kapitalarme UnternehmerInnen in Ländern des Südens greifen zur Risikominimierung überwiegend auf verbindende (bonding) soziale Netzwerke zurück. Kapitalreichere UnternehmerInnen sind in überbrückende (bridging) soziale Netzwerke eingegliedert, über die sie Wissen austauschen, um ihre Produktion zu steigern (vgl. Putnam 2000: 23; Putnam 1993: 173 ff.). Ergänzend dazu benutzen Woolcock und andere den Begriff des linking social capital, der Netzwerke zwischen unterschiedlichen ökonomischen Klassen und Personen mit unterschiedlichem sozialen Status bezeichnet. Die vertikale Dimension des letzten Begriffes schließt zum Beispiel den Zugang von UnternehmerInnen zu formalen Institutionen ein (vgl. Woolcock 2001). In der vorliegenden Arbeit wird unter Sozialkapital Ressourcen verstanden, die durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Beziehungsnetzwerk von Bekannten und Verwandten mobilisierbar sind und deren Gesamtkapital dem teilnehmenden Individuum als Sicherheit dient. Der Umfang des sozialen Kapitals ist abhängig von der Größe des Bezie31
2 Theoretische Grundlagen hungsnetzwerks und dessen Gesamtkapitalverteilung. Zunächst gewinnen Individuen über Netzwerke oder Mitgliedschaften in Institutionen Sozialkapital, das sie anschließend in andere Kapitalien umwandeln können (vgl. Espinosa und Massey 1997: 142; Faist 1997: 74). Da soziales Kapital durch die Dynamik von Beziehungen instabil ist, müssen die Individuen ständige Beziehungsarbeit leisten und Zeit bzw. Geld in Interaktionen investieren, um ihre Beziehungen aufrechtzuerhalten. Beziehungsnetzwerke bringen demnach auch Verpflichtungen mit sich. »Die Profite, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben, sind zugleich Grundlage für die Solidarität, die diese Profite ermöglicht« (Bourdieu 1983: 192). Soziales Kapital basiert auf den kollektiven Erwartungen an das Verhalten von Individuen, wie gemeinsame Werte, erzwingbares Vertrauen und normative Reziprozität und kann daher auch durch Kontrolle das Verhalten von Individuen lenken (vgl. Portes 2000; Portes und Sensenbrenner 1993: 1324 f.). Indem MigrantInnen kontinuierlich ihnen eigenes politisches, soziales und ökonomisches Kapital ineinander konvertieren, halten sie sich innerhalb von transnationalen sozialen Feldern ihre Möglichkeiten offen (vgl. Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992: 12). Im Kampf um soziales Kapital muss mit drei Risiken gerechnet werden: der ›Beziehungsfalle‹, wenn der Partner bzw. die Partnerin unzuverlässig ist und keine Gegenleistungen erbringt, der ›Statusfalle‹, wenn aufgrund asymmetrischer Reziprozität der Einsatz von Leistungen höher als der Ertrag ist und der ›Freundschaftsfalle‹, wenn die Freundschaft aus ökonomischem Kalkül heraus aufrecht erhalten wird (vgl. Müller 1986: 166; Portes und Sensenbrenner 1993: 1338 f.). Das Sozialkapital umfasst die aktuellen und potentiellen Ressourcen, die ein Individuum innerhalb seines persönlichen Netzwerkes aktivieren kann. Sozialkapital ist demnach kein Eigentum eines Individuums (vgl. Bourdieu 1983: 190 f.; Vertovec 2009: 36). Das Ausmaß des Netzwerkes einer Person und der Umfang der Kapitalien der Gruppenmitglieder sind demnach ausschlaggebend für den Umfang des Sozialkapitals der Einzelnen. Es steht immer auch in Wechselwirkung mit dem kulturellen und ökonomischen Kapital. Das Gesamtkapital einer Gruppe dient dieser als Sicherheit und verleiht ihr ›Kreditwürdigkeit‹, denn Sozialkapitalbeziehungen basieren auf materiellen und symbolischen Tauschakten (vgl. Bourdieu 1983: 190 f.). Sowohl Solidarität als auch Reziprozität spielen eine große Rolle innerhalb von Netzwerken. Im Gegensatz zu ökonomischem Kapital, das leicht tauschbar und Humankapital, das begrenzt transnational tauschbar ist, findet sich Sozialkapital primär in den Bindungen zwischen Personen, ist praktisch nicht tauschbar und im Gegensatz zu ökonomischem Kapital stark territorial gebunden (vgl. Faist 1997: 75).25 Daraus folgert Faist, dass es durch 25 | Ebenfalls sind soziale Unterstützungsleistungen, die auf fokussierter und generalisierter
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2.1 Transnationalismus und transnationale Migration den schwierigen Transfer von sozialem Kapital nicht zur Kettenmigration aus bestimmten Dörfern oder Regionen kommt. Sind jedoch PioniermigrantInnen in einem Aufnahmeland ansässig, können die Kosten für den Transfer von Sozialkapital erheblich gesenkt werden (vgl. Faist 1997: 81). Soziales Kapital kann als eine Grundvoraussetzung für die Teilhabe am politischen Leben im Empfängerland als auch für eine weitere Partizipation im Sendeland angesehen werden (vgl. ebd.: 79). Massey et al. (vgl. Massey et al. 1987: 170) stellten erstmals MigrantInnennetzwerke als eine Form von Sozialkapital dar und schaffen damit die Verbindung zwischen den beiden Konzepten. Sie beschreiben, wie persönliche Kontakte zu FreundInnen, Verwandten und LandwirtInnen mexikanischen MigrantInnen einen Zugang zu Jobs, Wohnungen und finanzieller Unterstützung in den USA verschaffen. Mit einer Erweiterung des Netzwerkes steht das Sozialkapital potentiellen MigrantInnen aus der Herkunftsgemeinde zur Verfügung und senkt deren monetäre und nichtmonetäre Migrationskosten durch die Bereitstellung von Informationen. Das Konzept des Sozialkapitals liefert vielseitige Anknüpfungspunkte zur Erklärung von MigrantInnenökonomien. Netzwerke und Kapitalien liefern die theoretische Basis für ökonomische und soziale Strategien von MigrantInnen, die in Abschnitt 2.4.3 erklärt werden. Dennoch haben die in Abschnitt 2.1 und seinen Unterkapiteln dargestellten Konzepte eine breite Kritik erfahren und greifen auch im Hinblick auf die vorliegende Arbeit teilweise zu kurz. 2.1.7 Kritik und Forschungsdesiderate Begleitet wird die transnationale Migrationsforschung häufig von der Frage nach den Spezifika transnationaler Lebenswelten. Zweifel am innovativen Potential des Konzeptes transnationaler Migration werden aus verschiedenen Disziplinen laut (vgl. u. a. Bürkner 2005; Kivisto 2001; Waldinger und Fitzgerald 2004; Goeke 2007; Bommes 2002).26 Auch wenn es schon lange grenzüberschreitende Kontakte zwischen MigrantInnen gibt, verändern sich deren Qualitäten in Folge neuer technischer Möglichkeiten. Generell Reziprozität innerhalb von MigrantInnengemeinschaften basieren, Bestandteil empirischer Studien (vgl. Amelina 2009: 20). Diese soziale Unterstützung findet sich im transnationalen sozialen Raum zwischen Deutschland und der Ukraine in drei Formen wieder: Erstens von MigrantInnen an ihre Eltern der Verwandten im Herkunftskontext in Form von Altenpflege, medizinischer Versorgung und Rücküberweisungen für pensionierte Eltern. Zweitens konnte sie verschiedene Formen der sozialen Unterstützung von Eltern oder Verwandten in der Ukraine an ihre Kinder in Deutschland verzeichnen, wie die Betreuung von deren Kindern, finanzielle Unterstützung für die Ausbildung oder nichtmonetäre Unterstützung durch Beratung. Drittens beobachtete sie gegenseitige Hilfe innerhalb von MigrantInnennetzwerken in Deutschland, die Altenpflege, Kinderbetreuung, medizinische Betreuung, Sprachunterricht oder Informationsaustausch umfassten (vgl. Amelina 2009: 5). 26 | Diese Kritik wird von Vertovec reflektiert (vgl. Vertovec 2009: 13 ff.).
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2 Theoretische Grundlagen erlaubte erst die transnationale Wende, bestimmte Strukturen unter dem Blickwinkel der Transnationalität zu betrachten (vgl. Smith 2003: 725). Die Forschung begibt sich damit auf eine neue Analyseebene, die neue methodologische Herausforderungen birgt: Bietet sich ein Makro-, Meso- oder Mikrolevel an? Während Untersuchungen auf der Makroebene lediglich Aussagen zu Migrationssystemen sowie überregionalen Push- und Pullfaktoren im Herkunfts- und Aufnahmekontext treffen können, werden auf der Mikroebene einzelne AkteurInnen sowie deren individuelle Ressourcen und Möglichkeiten erfasst. Um diese AkteurInnen in einem angemessenen Zusammenhang betrachten und MigrantInnengemeinschaften, deren zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Gruppencharakteristika darstellen zu können, bietet sich daher die Mesoebene an. Bisher bleibt es schwierig, Ausprägungen von Transnationalität im Rahmen qualitativer Analysen zu messen, ohne auf rein quantitative Analyseparameter zurückzugreifen, wie die konkrete Frequenz von Pendelwanderungen oder Kommunikationen im transnationalen sozialen Raum. Eine begriffliche Schärfung kann innerhalb der transnationalen Migrationsforschung auf der Grundlage weiterer empirischer Studien vollzogen werden. Vergleichende Analysen können in diesem Sinne zu einer konzeptionellen Weiterentwicklung beitragen. So bleibt z. B. offen, wie häufig MigrantInnen grenzüberschreitenden Kontakt haben müssen, um als transnational eingestuft werden zu können oder um welche grenzüberschreitenden Tätigkeiten es sich dabei handeln muss. Die unterschiedlichen Auffassungen davon, was nun als transnational aufgefasst werden soll, bedeuten eine Herausforderung für die Forschungspraxis: Während Portes (vgl. Portes 1996) nur solche Personen als transnationale MigrantInnen bezeichnet, die zwischen ihrem Herkunftsland und dem Aufnahmeland ökonomisch aktiv sind, fassen Basch und ihre Kolleginnen (vgl. Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1994) in ihren transnationalen Feldern soziale Alltagspraktiken zusammen, die von wirtschaftlichen Möglichkeiten bis zur Identitätsfindung reichen. Für zukünftige Forschungsarbeiten könnte ein Merkmalskatalog bzgl. der Transnationalität von MigrantInnen hilfreich sein. Dieser muss die nötige Flexibilität für qualitative Forschungsarbeiten beibehalten, da es qualitative Forschungsdesigns häufig nur bedingt zulassen, starre Merkmalskataloge abzuarbeiten. In diesem Sinne müsste die Frequenz von Kontakten ins Herkunftsland, Reisen, Engagement etc., derer es bedarf, um MigrantInnen transnational nennen zu können bzw. die Qualität dieser Transaktionen klarer herausgearbeitet werden. In der empirischen Forschung häufen sich Studien, die eine Gruppe auf der Basis einer Nation untersuchen, wie z. B. die TürkInnen oder die VietnamesInnen und darüber hinaus keine Unterscheidung vornehmen. Die Forschung zu transnationalen ökonomischen Aktivitäten von MigrantInnen 34
2.1 Transnationalismus und transnationale Migration widmet sich häufig zu einseitig den Rücküberweisungen (vgl. Guarnizo 2003: 667) und steht zu oft unter dem Paradigma des methodologischen Nationalismus (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2002: 301 f.; Wimmer und Glick Schiller 2003: 576). Wie kann die Perspektive des methodologischen Nationalismus – die Annahme, dass der Nationalstaat bzw. seine Bevölkerung die natürliche politische bzw. soziale Bezugsgröße der modernen Welt darstellt – überwunden werden? Eine Antwort darauf liefert eine regionalisierte geographische Herangehensweise, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Dem sog. methodologischen Ethnizismus27 wiederum ist die Annahme immanent, bei ›ethnischen‹ Gruppen handele es sich um natürliche Einheiten (vgl. Wimmer 2008a: 973-976; Wimmer 2008b). Vielmehr müssen Analyseeinheiten anhand spezifischer Merkmale definiert werden, die charakteristisch für die jeweils betrachteten AkteurInnen sind. Auch gilt es, das Verhältnis von Assimilation bzw. Inklusion und transnationalen Verbindungen der MigrantInnen eingehender zu beforschen. Weder Assimilation noch Transnationalität sind in Reinform zu finden; vielmehr treten Mischformen auf und beeinflussen sich gegenseitig (vgl. Levitt und Glick Schiller 2004: 0, 12; Nieswand 2008). In diesem Sinne müsste auch geklärt werden, inwiefern Transnationalität eine Eigenschaft der ersten Generation einer MigrantInnengemeinschaft ist, während die zweite Generation schon eher zur Assimilation neigt, oder ob transnationale Lebensformen auch über mehrere Generationen aufrechterhalten bleiben (vgl. Levitt und Glick Schiller 2004: 4-5; Vertovec 2009: 17).28 27 | Als ›methodologischer Ethnizismus‹ wird hier eine Forschungsrichtung verstanden, die Gruppen von Menschen mit gemeinsamen Traditionen, Werten etc. durch Selbst- und Fremdzuschreibungen als gegebene Einheiten annimmt. Vereinheitlichende Annahmen von Ethnizität in Immigrationsgesellschaften können analytisch in die Irre führen und empirisch problematisch sein, »weil nicht alle Angehörigen einer bestimmten ethnischen Kategorie jene kulturell geprägten Verhaltensmuster aufweisen, die einen bestimmten Sachverhalt erklären sollen; weil sie möglicherweise keine von dichten sozialen Netzwerken zusammengehaltene ›Gemeinschaft‹ bilden,[. . . ] und weil sie möglicherweise ihrer ethnischen Herkunft völlig unterschiedliche Bedeutungen beimessen und keine gemeinsame Sicht auf die soziale Welt teilen« (Wimmer 2008b: 58). Hingewiesen sei an dieser Stelle auf Max Webers Definition einer ethnischen Gruppe von 1922: »Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ›Sippen‹ darstellen, ›ethnische‹ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht« (Weber 1972 [1922]: 237). 28 | Unterschieden wird die erste von der zweiten Generation in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Portes und Rumbaut (2001). Demnach werden unter der ersten Generation all diejenigen zusammengefasst, die in ihrem Herkunftsland geboren wurden und im Alter von über zwölf Jahren nach Deutschland einreisten. Die zweite Generation setzt sich aus Personen zusammen, die in Deutschland geboren wurden mit mindestens einem eingewanderten Elternteil und Personen, die im Alter unter zwölf Jahren nach Deutschland eingereist sind. Die Unterscheidung wird durch das Einreisealter erweitert, da die Absolvierung von Abschlüssen in Deutschland und die dadurch erweiterten Möglichkeiten von Bedeutung für die vorliegende Forschungsarbeit sind.
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2 Theoretische Grundlagen Die von verschiedenen Seiten hervorgebrachte Kritik am Konzept der transnationalen Migration lässt sich in ihren Kernpunkten wie folgt zusammenfassen: Portes et al. kritisieren im Hinblick auf die Forschung über transnationale UnternehmerInnen ähnlich wie Faist für die Forschung zu transnationaler Migration allgemein, dass sich Studien zu transnationalen UnternehmerInnen vor allem der Inklusion von MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft und der Auswirkung auf die Entwicklung im Herkunftsland widmen. Was sich über diese beiden Blickwinkel hinaus zu transnationalen Aktivitäten sagen lässt, wird häufig vernachlässigt (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 2). Guarnizo fordert, ferner zu untersuchen, von welchen Machtkonstellationen transnationale UnternehmerInnen beeinflusst werden und welche sie selbst erzeugen bzw. welche Zwänge und Möglichkeiten sie hervorrufen (vgl. Guarnizo 2003: 691). Auf diese Kritik wird in der vorliegenden Arbeit einerseits durch ihr Forschungsdesign reagiert, das als multi-sited ethnography angelegt ist und daher nicht nur MigrantInnen innerhalb der Aufnahmegesellschaft, sondern auch im Herkunftskontext betrachtet. Zum anderen werden durch das Konzept der räumlichen Definitionsmacht Machtkonstellationen innerhalb von MigrantInnengemeinschaften in der Analyse von Handlungsreichweiten29 berücksichtigt. Über den Zusammenhang von Handelsaktivitäten transnationaler UnternehmerInnen und Entwicklung ist bisher wenig bekannt, während über Rücküberweisungen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung des Herkunftslandes von MigrantInnen eine Fülle von Studien vorliegen. Im Folgenden wird auf das Thema Migration und Entwicklung eingegangen, da dieses einen großen Erklärungswert für Aktivitäten von RückkehrerInnen und MigrantInnen besitzt.
2.2 Migration und Entwicklung In den letzten Jahren wurde von verschiedenen Organisationen und WissenschaftlerInnen versucht, den Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung zu berechnen und darzustellen (vgl. Raghuram 2007: 13; Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002). Häufig ist dabei die Rede vom Migration-Development Nexus, wodurch aufgezeigt wird, dass es sich um eine beidseitige Beziehung handelt, da Migration zur Entwicklung der Herkunftsländer von MigrantInnen führen kann, während eine Entwicklung Migrationen anstoßen kann. Entsprechend sollen Ressourcen29 | Unter Handlungsreichweiten werden in der vorliegenden Arbeit die räumlichen Ausprägungen der Handlungen von AkteurInnen begriffen. Im Gegensatz zu Mobilitätsmustern kann in Anlehnung an das Konzept der transnational social fields demnach von Handlungsreichweiten auch im Hinblick auf die räumliche Ausdehnung von Einflüssen, Gestaltungspotentialen und Kontaktnetzwerken die Rede sein (vgl. Abs. 2.1.4).
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2.2 Migration und Entwicklung transfers nicht als Einbahnstraße betrachtet werden, auf der in die eine Richtung vor allem Gelder, und in die andere Richtung Arbeitskraft und Humankapital transferiert werden (vgl. Faist 2008: 13). Die Verbindung von Migration und Entwicklung wird häufig unter dem Dach der ›drei R’s‹ diskutiert – Rekrutierung, Rücküberweisungen und Rückkehr (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 14). Die Diskussion betrifft Fragen nach den MigrantInnen selbst, die Gründe für ihre Wanderung und deren Effekte auf die sozio-ökonomischen und politischen Strukturen der Herkunfts- und Aufnahmeländer (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 22). An dieser Stelle wird darauf verwiesen, dass ›Entwicklung‹ als Konzept umstritten ist und je nach wissenschaftlicher Disziplin und Ideologie unterschiedlich verstanden wird. Eine einheitliche Definition gibt es auch nicht für das Forschungsfeld ›Migration und Entwicklung‹. Es sei auf die theoretische Arbeit von de Haas et al. verwiesen, die hier nur kurz angerissen werden kann. Sie distanzieren sich von verbreiteten Definitionen des Entwicklungsbegriffes, die auf eine strukturelle Transformation auf der Makroebene von Nationalstaaten rekurrieren und das Bruttosozialprodukt als Messinstrument verwenden. Stattdessen setzen sie Entwicklung mit Migration bzw. Mobilität in Verbindung. Weltweite Migrationsprozesse sind demnach untrennbar mit der Entwicklung der Finanzmärkte, Globalisierungsprozessen sowie der sozialen, ökonomischen und demographischen Transformation der Herkunftsund Zielländer verbunden, die sich z. B. in weltweiten Industrialisierungs-, Urbanisierungs- und demographischen Transformationsprozessen äußern. Migration ist gleichzeitig eine der Ursachen und eine unter vielen Folgen von Prozessen sozialer Transformation, die (anthropogen verursachte) Entwicklung bedingen (vgl. de Haas et al. 2009: 17 ff.). Als Ursache für Migration wird einerseits die Unterentwicklung der Herkunftsländer und andererseits genau gegenteilig deren Entwicklung genannt, durch die Migrationsimpulse ausgelöst werden. In diesem Sinne müsse jeder Staat in seinem Entwicklungsprozess eine Periode der Migration durchlaufen, die auch als migration hump bezeichnet wird. Migration spielt bei der Einkommensabsicherung und -diversifizierung von Haushalten in Ländern des Südens eine bedeutende Rolle (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 23, 28). Demnach sind es auch nicht die Ärmsten der Armen, die migrieren, sondern diejenigen, die zumindest über eine geringe finanzielle und soziale Sicherheit verfügen, um die Risiken der Migration abzufedern (vgl. de Haas 2007; Martin 1993 zit. nach Raghuram 2007: 7; Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 13, 23). Der Diskurs um den Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung besteht seit ungefähr 50 Jahren und lässt sich grob in drei Abschnitte unterteilen (vgl. Faist 2008: 15). Die erste Phase in den 1960er Jahren, 37
2 Theoretische Grundlagen deren Schwerpunkt auf dem Arbeitskräftemangel im Norden und der Entwicklung des Südens lag und an die Modernisierungstheorie angelehnt werden kann, widmete sich vor allem den Rücküberweisungen und RemigrantInnen. Nach der ›Theorie des ausgewogenen Wachstums‹ wurde davon ausgegangen, dass die Abwanderung überschüssiger Arbeitskraft aus dem Süden zu einem neuen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit führen kann, wenn die ArbeiterInnen Geld zurücküberweisen, das zur Entwicklung des Südens beiträgt (vgl. Hamilton und Whalley 1984: 73 ff.; Kindleberger 1967 und Lewis 1954 zit. nach Faist 2008: 15). In der zweiten Phase, den 1970er und 80er Jahren, wurde die Abhängigkeit des Südens als strukturelle Gegebenheit betont und die Debatte unter den Stichwörtern Unterentwicklung, Armut und brain drain30 weitergeführt. In Folge der Dependencia und der Weltsystemtheorie wurde Unterentwicklung als Ursache und Folge von Migration durch die Abwanderung von Humankapital aus den Herkunftsregionen angesehen, während das Resultat in den Aufnahmeländern eine wirtschaftliche Entwicklung war (vgl. Wallerstein 1974; Martin 1991 zit. nach Faist 2008: 15 f.; Spaan, van Naerssen und Hillmann 2005: 37). Die Diskussion der MigrationsoptimistInnen versus -pessimistInnen über den Nutzen von Migration für die Herkunftsländer fand in den 1970er und 80er Jahren weiterhin unter dem Dach des Ansatzes des ausgewogenen Wachstums (balanced growth) seitens der Neoklassiker und des neuen Ansatzes der asymmetrischen Entwicklung (asymmetric development) auf Seiten der Neomarxisten statt (vgl. de Haas 2007: 23). Neoklassiker haben in ihrer positiven Sicht auf die freie Bewegung von Arbeitskraft die Auswirkungen von Rücküberweisungen wenig reflektiert und sehen MigrantInnen oft als homines oeconomici, während sie deren Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und die damit verbundene Motivation, Geld zurück zu überweisen, wenig beachten (vgl. de Haas 2007: 25). Die Konzeption der MigrantInnen als gewinnmaximierende AkteurInnen stammt aus dem Push-Pull-Ansatz und wird durch die transnationale Perspektive überwunden. In der dritten Phase, die seit den 1990er Jahren andauert und durch die Globalisierung neoliberal geprägt ist, wurde unter dem Stichwort Co-Development die Idee der kurzzeitigen Arbeitsmigration unter einem optimistischen Blickwinkel propagiert. Der Begriff Brain Circulation bezeichnet dabei einen zirkulären Prozess der Wanderung von Humankapital zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland und wurde im Zusammenhang mit dem Co-Development-Ansatz von der Weltbank und Staaten wie Frankreich, den Niederlanden und England aufgegriffen.31 Dabei wird von 30 | Brain Drain bezeichnet die Abwanderung von Hochqualifizierten (einschließlich Studierende) aus dem Süden in den Norden und impliziert negative Effekte für das Herkunftsland (vgl. u. a. Bhagwati 1977). 31 | Auch die GTZ hat das Thema Migration und Entwicklung aufgegriffen und 2004 eine
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2.2 Migration und Entwicklung einer Entwicklung des Südens durch Migration, soziale Rücküberweisungen und Humankapital ausgegangen. Aus dieser Phase stammt die Annahme, dass MigrantInnen in andauernde grenzübergreifende Aktivitäten eingebunden sind (vgl. Faist 2008: 16 f.). MigrantInnen wurden von nun an als EntwicklungsakteurInnen wahrgenommen und instrumentalisiert, da sie Zugang zu Regionen haben, die staatliche und internationale Entwicklungsprojekte nicht erreichen (vgl. Raghuram 2007: 5). Daraus entstand z. B. der französische Co-Developpement-Ansatz, der die Rückkehr von MigrantInnen vorsieht, damit sie mit französischer Finanzhilfe Unternehmen in ihren Herkunftsregionen eröffnen und der z. B. in Mali und Senegal praktiziert wurde (vgl. Raghuram 2007: 7). In diesem Sinne gewinnt auch transnationales UnternehmerInnentum zunehmend an Relevanz (vgl. Spaan, van Naerssen und Hillmann 2005: 36, 61). Die Rückkehr wird in der klassischen Migrationsforschung als das Endprodukt eines Migrationszyklus angesehen (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 15). Im Transnationalismusansatz wird Rückkehr – unter dem Stichwort der temporary return diskutiert (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 27; Faist 2008: 17) – lediglich als ein Stadium im Migrationsprozess eines Individuums betrachtet, denn es wird nicht von einem langfristigen Engagement der RemigrantInnen in ihren Herkunftsgemeinden ausgegangen. Goethe und Hillmann (2008) fassen das Engagement von MigrantInnencommunities in ihrem Herkunftsland unter dem Stichwort der diaspora option zusammen (vgl. Goethe und Hillmann 2008: 195 ff.). Dieses ist jedoch im Fall der ghanaischen MigrantInnen, die für ihre Studie interviewt wurden, wenig ausgeprägt, was sie auf deren gute Inklusion in die deutsche Gesellschaft zurückführen (vgl. Goethe und Hillmann 2008: 207 f.). Die Angst vor Migration, die u. a. auf der Angst vor dem Verlust nationaler Kulturen und einem Konkurrenzkampf um Ressourcen gründet, hat zu einer restriktiveren Migrationspolitik der nördlichen Länder geführt. Der Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung der Herkunftsländer wurde als ein möglicher Weg zur Limitierung von weiterer Migration herangezogen (vgl. Global Commission in International Migration/GCIM 2005: 31). Migrationsmanagement wird häufig mit dem Ziel betrieben, vor allem »vielversprechende« MigrantInnen, wie z. B. Hochqualifizierte, einwandern zu lassen (vgl. Raghuram 2007: 5 f.). Durch die brain drainDiskussion wurde im Norden in Erwägung gezogen, ob Migration aus ethischen Gründen zu unterbinden sei, um eine Abschöpfung des Humankapitals aus dem Süden zu vermeiden (vgl. Martin 2004 zit. nach Konferenz mit dem Titel ›Kooperation mit der Diaspora‹ veranstaltet, die die Initiative für eine Studie zur ägyptischen, afghanischen und serbischen Diaspora in Deutschland und deren Beiträge zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer lieferte (vgl. Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit/GTZ 2006).
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2 Theoretische Grundlagen Raghuram 2007: 6). Im Zusammenhang von Migration und Entwicklung stehen Rücküberweisungen als Entwicklungsinstrumente im Zentrum der Diskussion. 2.2.1 Rücküberweisungen Ein Kernthema der Debatte um Migration und Entwicklung sind Rücküberweisungen32 – das Geld, das MigrantInnen an ihre Familien und Gemeinden im Herkunftsland schicken. Diese sind eine der zentralen Ressourcen, die innerhalb transnationaler sozialer Räume transferiert werden und spielen daher eine wichtige Rolle für die vorliegende Arbeit. Bereits in den 1960er Jahren schickten GastarbeiterInnen, die ohne ihre Familien zum Arbeiten nach Deutschland kamen, rund ein Drittel ihres Lohnes an ihre Familien im Herkunftsland (vgl. Piore 1979: 55). Dieses Geld wurde von PioniermigrantInnen häufig überwiesen, um den sozialen Status der Familie in der Herkunftsgemeinde aufzuwerten. In ländlichen Gegenden wurde dieses Geld oft in den Hausbau, den Erwerb von Land oder Produktionsmitteln investiert, während es in Städten eher in die Ausbildung der Kinder oder in Unternehmen investiert wurde (vgl. Vertovec 2009: 105). Über den Bedeutungszuwachs von Rücküberweisungen – auch im Vergleich zu Entwicklungshilfegeldern (ODA) – berichtete erstmals der Global Development Finance Report 2003 der Weltbank (vgl. Weltbank 2003: 158). Hierdurch erhielten Rücküberweisungen eine breite öffentliche Aufmerksamkeit im Hinblick auf den Einfluss, den sie v. a. in Ländern des Südens haben (vgl. Raghuram 2007: 5; Guarnizo 2003: 666). Auch der Bericht der Global Commission on International Migration von 2005 proklamiert die positiven Auswirkungen der weltweiten Migration für MigrantInnen und ihre Familien sowie für Herkunfts- und Aufnahmeländer. Die Weltbank schätzt, dass die durch MigrantInnen global getätigten Rücküberweisungen im Jahr 2009 rund 316 Milliarden USD ausgemacht haben (vgl. Weltbank 2010) und die direkten Überweisungen an die Haushalte mindestens 10 Prozent der Weltbevölkerung erreicht. Überwiesen wird das Geld typischerweise in Beträgen von 100 oder 200 USD pro Transfer (vgl. International Fund for Agricultural Development/ IFAD 2009). In der überwiegenden Anzahl der Empfängerländer von Rücküberweisungen übertrifft deren Gesamtsumme die Summe der ODA. Rücküberweisungen gewinnen gleichzeitig an Bedeutung gegenüber ausländischen Direktinvestitionen (ADI) und gelangen direkter und kontinuierlicher zur Bevölkerung in den Herkunftsländern als ODA-Gelder, wo sie Multiplikatoreffekte auslösen (vgl. Thränhardt 2008: 102 f.; Gammeltoft 2003: 103; Faist 2008: 14). Sie sind zudem die 32 | Diese werden häufig als Rimessen bzw. im Englischsprachigen als Remittances bezeichnet.
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2.2 Migration und Entwicklung schnellste und dauerhafteste Devisenquelle für die Regierungen der Empfängerstaaten, da sie unabhängig sind von deren bilateralen Beziehungen mit den Sendestaaten und weitgehend unabhängig von wirtschaftlichen Rezessionen (vgl. Vertovec 1999: 452). Rücküberweisungen zählen zu den kumulativen Ursachen von Migration, denn sie können einen erheblichen Einfluss auf die Lokalökonomien der Herkunftsgemeinden haben bzw. das »Startkapital« für neue Migrationen liefern. Die aufgrund externer Finanzierungsquellen steigenden Preise für Boden, Rohstoffe und Lebenshaltungskosten sind wichtige Gründe für fortlaufende Migrationen, um den gewohnten Standard halten zu können. Durch Migrationen ergeben sich in der Ankunftsregion durch die Nachfrage nach Produkten und Kulturangeboten aus der Herkunftsgemeinde neue Beschäftigungschancen (vgl. Pries 2001b: 41). Entsprechend liegt dem von Massey geprägten Ansatz der Cumulative Causation die Annahme zugrunde, einmal initiierte Wanderungen bewirkten unabhängig von ihren Ursachen komplexe Wanderungsprozesse in den Herkunfts- und Ankunftsregionen, die wahrscheinlich zu einer Stabilisierung und Ausweitung von Migration führen (vgl. Massey et al. 1993: 451 ff.). Serviceunternehmen, die Rücküberweisungen transferieren, sind zum einen sogenannte Money Transfer Operators (MTO), wie Western Union oder MoneyGram, und zum anderen Banken. Neben den offiziellen Rücküberweisungen wird eine hohe Summe an Geldern inoffiziell, z. B. über FreundInnen und Bekannte den Verwandten in Bar mitgebracht oder über inoffizielle Systeme, wie hawala und hundi33 transferiert. Der Anteil der inoffiziellen Geldeingänge liegt in manchen afrikanischen Staaten schätzungsweise bei über 50 Prozent der Gesamtsumme an Rücküberweisungen. Der Grund für die inoffiziellen Transfers sind die oft hohen Gebühren, die für offizielle Transfers über MTO anfallen (vgl. Guarnizo 2003: 686; Vertovec 2009: 106 f.; Mohan 2002: 134 zit. nach Vertovec 2009: 106). Verschiedene Initiativen versuchen, wegen der hohen Gebühren transparentere Bedingungen auf dem Transfermarkt herzustellen (vgl. Vertovec 2009: 107). Zu nennen wäre z. B. die Initiative der GTZ, die eine kostenfrei nutzbare Website – www.geldtransFAIR.de – im Auftrag des BMZ eingerichtet hat, um Konditionen für Geldüberweisungen transparenter zu machen und deren Kosten zu senken (vgl. GTZ). In Zukunft können Rücküberweisungen über Mobilfunk wesentlich kostengünstiger als über Banken transferiert werden, wie z. B. in Kenia, wo ein solches System bereits besteht und die KundInnen lediglich ihr Mobilfunkkonto aufladen müssen und dann über eine spezielle Telefonnummer weltweit ihr Geld verschicken können (vgl. 33 | Diese Systeme spielen besonders im arabischen und im südasiatischen Raum eine große Rolle. Vertrauensbasierte Netzwerke informeller Broker begünstigen eine schnelle, günstige und globale Barauszahlung von Rücküberweisungen mit Gebühren, die ca. bei etwas mehr als einem Prozent der transferierten Summe liegen und damit weit unter formellen Anbietern (vgl. Ballard 2005: 113 f.).
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2 Theoretische Grundlagen Rice 2007 und Mason 2007 zit. nach Vertovec 2009: 108). Heute werden Rücküberweisungen von allen Typen von ArbeitsmigrantInnen u. a. über Banken, MTOs, Onlinebanking und über soziale Netzwerke transferiert. Rücküberweisungen haben sich als Ausdruck globaler sozio-kultureller Beziehungen zwischen MigrantInnen und ihren Familien und FreundInnen im Herkunftsland zu einem »flourishing global business controlled by large corporations« entwickelt (Guarnizo 2003: 689). Eine Studie der GTZ über Rücküberweisungen aus Deutschland in fünf verschiedene Länder zeigt auf, dass die Wirkung der Rücküberweisungen auf die Herkunftsländer stark von den Transferwegen abhängt. Informelle Rücküberweisungen und Bargeldtransfers können demnach »wenig zur Stärkung des Finanzsystems und zur Inklusion der Bevölkerung in ein formelles Finanzsystem im Herkunftsland der Migranten [. . . ] beitragen« (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit/GTZ 2007: 7). Es ist jedoch umstritten, ob dies eine Aufgabe ist, die durch Rücküberweisungen erfüllt werden kann oder sollte, denn bei diesen handelt es sich um private Gelder (vgl. Laaser 2008: 26), deren Nutzung in der Hand der SenderInnen und EmpfängerInnen liegt. Entscheiden sich diese für eine nachhaltige Verwendung der Gelder, sind die Auswirkungen auf die Herkunftsregionen andere als bei einer konsumtiven Nutzung, die Multiplikatoreffekte auslöst. Welche Folgewirkungen letztendlich wünschenswerter sind oder eine sozialverträglichere Entwicklung anstoßen, ist zwar Gegenstand verschiedener Studien, jedoch bisher nicht hinreichend geklärt. Das Engagement der Regierungen der Herkunftsländer, die das Interesse verfolgen, Investitionen und Initiativen der Diasporagemeinden zu lenken und zu beobachten und den Transfer von Rücküberweisungen zu erleichtern, ist weit verbreitet (vgl. Portes, Haller und Guarnizo 2001: 3 f.; Ghosh 1992: 429 f.; de Haas 2007: 1), jedoch nicht immer von Erfolg gekrönt (vgl. Sheffer 2003: 205). Smith spricht von einer Institutionalisierung der Diaspora, womit er auf die Absicht der Herkunftsregierungen anspielt, vom (potentiellen) Reichtum der MigrantInnen zu profitieren und Kontrolle über ihre zivilgesellschaftlichen Verbindungen mit den Herkunftsgemeinden zu gewinnen (vgl. Smith 1997: 207 ff.). Zur Erleichterung des Ausbaus der Finanzströme trägt auch die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft durch eine große Anzahl von Staaten bei (vgl. Vertovec 2009: 15). In der Rolle von Rücküberweisungen bzw. des transnationalen Lebensstils von MigrantInnen drückt sich ein alter ökonomischer Grundsatz aus: Die Beweglichkeit von Arbeitskraft folgt der Beweglichkeit des Kapitals (vgl. Guarnizo 2003: 688). Rücküberweisungen werden z. B. für den Lebensunterhalt, Bildung, die Sanierung von Wohnhäusern, als Startkapital für eine Unternehmensgründung, für den Kauf von Luxusgütern verwendet (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 14) oder in die Gesundheit inves42
2.2 Migration und Entwicklung tiert (vgl. Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit/GTZ 2007). Sana findet heraus, dass das Transferieren von Rücküberweisungen durch MigrantInnen eng zusammenhängt mit dem Mieten einer Wohnung, nicht vorhandener Staatsbürgerschaft und sprachlichen Mängeln – Hinweise auf mangelnde Inklusion von MigrantInnen – und dass die Höhe der Rücküberweisungen unter den gegebenen Bedingungen höher ist als bei MigrantInnen, die ein Haus und eine Staatsbürgerschaft besitzen und über gute Sprachkenntnisse verfügen (vgl. Sana 2005: 252). Sowohl Migration als auch Rücküberweisungen können als Strategien der Risikodiversifizierung interpretiert werden (vgl. Stark 1991). Nicht nur monetäre, sondern auch soziale Rücküberweisungen – Einstellungen, Werte und Ideen wie Menschenrechte, Demokratie oder Geschlechtergleichheit – sind Gegenstand aktueller Forschungen und fließen oft von Nord nach Süd (vgl. Levitt 1996 und Levitt 2001). Diese tragen neben anderen Faktoren zur Herausbildung transnationaler Gemeinschaften bei (vgl. Levitt 1996: 6). Neben Rücküberweisungen ist die Rückkehrmigration zentraler Besandteil des Diskurses um Migration und Entwicklung. 2.2.2 RückkehrerInnen Migration wurde seit den 1960er Jahren unter dem Schlagwort des brain drain mit der Folge von Entwicklungshemmnissen für die Herkunftsländer diskutiert (vgl. Laaser 2008: 3), später dann aus der Sicht der Aufnahmeländer im Hinblick auf den Gewinn von Humankapital unter dem Begriff Brain Gain besprochen. Schließlich wurde der Begriff des reverse brain drain zum Platzhalter für Wissens- und Technologietransfer, meist durch hochqualifizierte RückkehrerInnen vom Norden in den Süden (vgl. Müller 2007: 74). Neben den finanziellen Effekten von Migration auf die Herkunftsregionen kann sich diese auch als Know-how-Übertragung durch Rückwanderungen oder durch die Ausbildung von Netzwerken auswirken (vgl. Thränhardt 2008: 103; Ghosh 1992: 436). Kearney betont, dass Qualifikationen, die MigrantInnen im Aufnahmekontext erwerben, in ihrem Herkunftsland in den meisten Fällen brauchbar sind (vgl. Ghosh 1986 zit. nach Levitt 1996: 4). Durch die Möglichkeit der Rückübertragung von Fertigkeiten und Wissen kann von Entwicklungsimpulsen durch RückkehrerInnen ausgegangen werden. Die Tendenz zu unternehmerischen Aktivitäten bei RückkehrerInnen, z. B. in den Bereichen Handel, Transport, Gastronomie und Produktion wird positiv bewertet, da sie ein Potential zur Schaffung von Arbeitsplätzen birgt (vgl. Kabki et al. 2004: 92 zit. nach Laaser 2008: 20). Auch die Förderung der lokalen Produktion und des internationalen Handels und die daraus resultierende Erschließung neuer Märkte zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland durch RückkehrerInnen bergen Chancen 43
2 Theoretische Grundlagen für die Zukunft (vgl. Laaser 2008: 24). Die Rückkehrbereitschaft steht in direktem Zusammenhang mit Kontakten zu Verwandten und/oder Bekannten im Herkunftsland. Durch die Rückkehr bilden sich bei RemigrantInnen neue Lebensstile heraus, die auf ihren hybriden, transnationalen Identitäten basieren (vgl. Laaser 2008: 24; vgl. Abs. 2.1.2). Verschiedene empirische Studien haben den Beitrag zur sozioökonomischen Entwicklung der Herkunftsländer durch RückkehrerInnen – hier vor allem die Auswirkungen des Transfers finanzieller, sozialer und kultureller Kapitalien auf die Herkunftsregionen – untersucht und festgestellt, dass diese bedeutend, aber nicht immer positiv sind (vgl. Laaser 2008: 17 f.). Nyberg-Sørensen und ihre KollegInnen merken zu Rückwanderungen an, dass diese nur dann einen positiven Effekt auf die Herkunftsländer bzw. -regionen haben, wenn sich MigrantInnen für eine längere Zeit an einem Ort aufgehalten haben, wo sie Geld für Investitionen sparen konnten und evtl. Humankapital für ihre Rückkehr anreichern konnten. Waren sie dagegen als niedrig qualifizierte MigrantInnen nur für eine kurze Zeit außer Landes, ist der Entwicklungseffekt, der von ihrer Rückkehr ausgeht, eher gering (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 27, 15). Der gleichen Argumentationslinie folgend bezeichnet Ghosh die optimistische Annahme, Kenntnisse, Erfahrung und UnternehmerInnengeist der RückkehrerInnen würden die Entwicklung des Herkunftslandes bzw. der Herkunftsregion ankurbeln, als illusorisch. Denn MigrantInnen, die zu einer Rückkehr tendieren, sind oft diejenigen mit den niedrigsten Qualifikationen und dem geringsten Erfolg, während Hochqualifizierte ihren Aufenthalt im Zielland häufig auf unbestimmte Dauer ausdehnen, aber nicht zur Rückkehr tendieren (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 436). Grasmuck und Pessar gehen davon aus, dass die Bereitschaft, sich in der Herkunftsgemeinde für deren Entwicklung zu engagieren, mit einer großen Kluft zwischen dem Humankapital eines Akteurs bzw. einer Akteurin und dem Mangel an Möglichkeiten zunimmt (vgl. Grasmuck und Pessar 1991: 85 f., 129 f.). RemigrantInnen werden als aktive AkteurInnen für ein ökonomisches Wachstum in ihren Herkunftsländern gesehen (vgl. de Haas 2007: 24). Der Transfer von Human- und finanziellem Kapital im Zuge der Rückkehr wird in der Debatte um Migration und Entwicklung häufig thematisiert (vgl. de Haas 2007). Um das Potential dieses Transfers auf die lokale Entwicklung in den Herkunftsländern nutzen zu können, fordern Spaan et al. eine Unterstützung der RemigrantInnen und eine Verknüpfung von Migrations- und Entwicklungspolitiken, die auf der EU-Ebene zentral koordiniert werden sollten und eine Bündelung des Engagements von einzelnen Staaten und NGOs vorsieht (vgl. Spaan, van Naerssen und Hillmann 2005: 41 ff., 57 f.). In diesem Sinne wurden Programme zur Förderung von Netzwerken für hochqualifizierte MigrantInnen 2001 seitens 44
2.2 Migration und Entwicklung der IOM (MIDA/Migration for Development in Africa) und 1977 seitens des UNDP (TOKTEN/ Transfer of Knowledge Through Expatriate Nationals) ins Leben gerufen (vgl. Goethe und Hillmann 2008: 198 f.). Im Falle Deutschlands fördert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Programme zur Reinklusion von Fachkräften aus dem Süden. Diese werden u. a. von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV), der Arbeitsgemeinschaft Entwicklung und Fachkräfte (AGEF) und dem Centrum für Internationale Migration und Entwicklung (CIM) durchgeführt. Konkret handelt es sich dabei um die Hilfe bei der Arbeitssuche im Herkunftsland, die Vernetzung von Fachkräften und die Bezuschussung von Reisekosten, Gehältern und Ausstattungen am Arbeitsplatz (vgl. Laaser 2008: 9). Darüber hinaus bietet die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) Existenzgründungsdarlehen für Fachkräfte aus bestimmten Ländern des Südens, darunter auch Vietnam, an. So können unternehmerische Qualifikationen im Herkunftsland durch eine Existenzgründung umgesetzt werden (vgl. Laaser 2008: 11). Für RückkehrerInnenprogramme empfiehlt Ghosh deren Ausrichtung auf spezielle RückkehrerInnengruppen sowie Kooperation mit MigrantInnenvereinen, um so die Identifikation der Zielgruppe mit den Programmen zu stärken. Zudem könnten Maßnahmen zur kulturellen Wiedereingliederung, wie die Organisation von ›Probebesuchen‹ vor der Rückkehr für MigrantInnen der zweiten und dritten Generation positive Effekte erzielen (vgl. Ghosh 1992: 437 f.). Die Debatte um den Zusammenhang von Migration und Entwicklung, der sogenannte Migration-Development Nexus, birgt weiterhin Widersprüche und Forschungslücken. 2.2.3 Kritik und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten Während die positiven Auswirkungen von Rücküberweisungen auf der nationalen Ebene der Herkunftsländer kontrovers diskutiert werden (vgl. Thränhardt 2008: 105), gibt es für die regionale und lokale Ebene, d. h. für die Herkunftsgemeinden der MigrantInnen Zweifel daran, dass sie überhaupt eine Entwicklung anstoßen. Stattdessen werden die zunehmenden Disparitäten zwischen Zentrum und Peripherie, sowie zwischen Personen innerhalb einer Kommune und die ›Entwicklung der Unterentwicklung‹ durch Migration betont (vgl. de Haas 2007: 27; Widgren und Martin 2002: 222). In diesem Sinne argumentiert auch die Cumulative Causation-Theorie, dass die positiven Effekte der Migration von den negativen überlagert werden. Zudem vergrößern sich regionale Unterschiede durch die Abwanderung wertvoller Arbeitskraft und die steigende Abhängigkeit von der Außenwelt, die weitere Abwanderung zur Folge hat (vgl. Myrdal 1957 zit. nach Potter et al. 2004: 97; Massey 1990). Zu beachten 45
2 Theoretische Grundlagen bleibt hier das Ergebnis von Studien in Herkunftsgemeinden, dass MigrantInnen tendenziell eher einen Job, weiter reichende unternehmerische Fähigkeiten, eine offenere Einstellung und eine bessere Bildung haben als NichtmigrantInnen (vgl. Zachariah, Mathew und Rajan 2001). Ein weiteres Argument der Kritiker von Rücküberweisungen ist, dass in späteren Stadien eines Migrationssystems die ökonomischen Strukturen am Herkunftsort häufig schon kollabiert sind und die Gelder lediglich zur Konsumption verwendet werden (vgl. Piore 1979: 56). Zudem würden von den transferierten Geldern hauptsächlich hochwertige Waren aus dem globalen Norden gekauft (vgl. Thränhardt 2008: 105), was unter dem Stichwort der conspicuous consumption diskutiert wird (vgl. Nyberg Sørensen, van Hear und Engberg-Pedersen 2002: 14; Widgren und Martin 2002: 222 f.). Dies kann damit zusammenhängen, dass oftmals keine Möglichkeiten bestehen, Rücküberweisungen im Herkunftskontext zu investieren und sie produktiv und nachhaltig zu nutzen, da die entsprechenden Märkte nicht bestehen oder nicht zugänglich sind. Rücküberweisungen können darüber hinaus lokale Jobs und lokal erzielte Einkommen verdrängen, zu einer Inflation von Grundstücks-, Immobilien- und Nahrungsmittelpreisen beitragen, zu einer Polarisierung zwischen EmpfängerInnen und NichtempfängerInnen führen und eine allgemeine Kultur der Abhängigkeit schaffen (vgl. Vertovec 2000; Guarnizo 2003: 674). Einerseits sind die Familien der MigrantInnen abhängig von den Zahlungen, die sie neben Investitionen vor allem auch für die alltägliche Konsumption ausgeben. Andererseits sind ganze Staaten (z. B. fast alle Staaten Zentralamerikas) von Rücküberweisungen abhängig, da diese in manchen Staaten über 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmachen (vgl. Vertovec 2009: 15, 106). Von Staaten werden sie zunehmend als Garantie für ihre Kreditwürdigkeit genutzt, um Zugang zu internationalen Geldern zu erhalten (vgl. Guarnizo 2003: 672). Dass Rücküberweisungen kein Patentrezept zur Armutsbekämpfung sind, ist bereits weitgehend thematisiert worden. Sie führen häufig zu privatem Wohlstand unter öffentlichem Elend oder, anders ausgedrückt, zu neuen Häusern, die lediglich über marode Straßen zugängig sind (vgl. Widgren und Martin 2002: 223). Für eine Nutzenentfaltung über Einzelpersonen hinaus müssten überwiesene Gelder verstärkt für Infrastrukturprojekte gebündelt werden. Die Motivation seitens der SenderInnen ist dafür jedoch gering, da häufig das Vertrauen in die Regierungen und andere Koordinatoren solcher Projekte fehlt (vgl. Vertovec 2009: 109). Zudem bleibt zu beachten, dass eine Formalisierung der Rücküberweisungsströme und eine Bündelung seitens der Regierungen nicht unbedingt ihre entwicklungsfördernde Wirkung steigert. Dazu bedarf es begleitender Politiken und Programme (vgl. Ghosh 1992: 429). Es bleibt zu beachten, dass ein großer Teil der MigrantInnen mit seinen 46
2.2 Migration und Entwicklung niedrigen Löhnen gerade seinen Lebensunterhalt verdienen kann und nicht in der Lage ist, Gelder für Rücküberweisungen abzuzweigen (vgl. Levitt 1996: 4). Auch Guarnizo merkt an, dass sich die Debatte um Migration und Entwicklung zu stark um Rücküberweisungen drehe. Durch diesen einseitigen Fokus gingen makroökonomische Auswirkungen der transnationalen ökonomischen und nichtökonomischen Verbindungen von MigrantInnen unter und ihr Einfluss auf globaler Ebene würde unterschätzt. Er stellt die Frage, ob produktiv genutzte Rimessen Multiplikatoreffekte erzielen und ob diese dadurch dem ganzen Herkunftsland bzw. der gesamten Herkunftsgemeinde nutzen (vgl. ebd. Guarnizo 2003: 667, 673 f.). Als Paradoxon bezeichnet er die Tatsache, dass Rücküberweisungen und grenzüberschreitendes Engagement von MigrantInnen Möglichkeiten für eine Expansion kapitalistischer Strukturen bieten und dadurch alte Ungleichheiten reproduzieren (vgl. ebd. 2003: 690). Faist (u. a.) ruft zu Forschungsarbeiten auf, die sich mit möglichen Umverteilungsmechanismen und sozialen Politiken bezüglich der Rücküberweisungen in den Herkunftsländern beschäftigen, damit Ungleichheiten durch Rücküberweisungen stärker relativiert werden können und eine Entwicklung angestoßen werden kann (vgl. Faist 2008: 19; Martin 1991: 28). Der Einfluss nichtökonomischer Ressourcen, wie politischer Partizipation und kulturellem Austausch durch MigrantInnen auf die Entwicklung des Herkunftslandes wird zu wenig beachtet (vgl. ebd. 2003: 667). ›RückkehrerInnen als EntwicklungsakteurInnen‹ ist ein wichtiges Thema internationaler Organisationen, die auf dieser Basis für temporäre Migrationen eintreten. Die Global Commission on International Migration (GCIM) empfiehlt Kurzzeitmigration als Entwicklungsstrategie, da hier die Transfers von Kapitalien als besonders wertvoll eingeschätzt werden (vgl. Laaser 2008: 8, vgl. Abs. 2.2). Diese Empfehlung ist m. E. fragwürdig, da RückkehrerInnen als TrägerInnen von Kapital eine große Veranwortung übergeben wird, während sich der Staat aus Entwicklungsprogrammen zurückzieht. Genauso sprechen sich Spaan et al. gegen die Reduzierung des Nexus von Migration und Entwicklung auf Rückführung aus (vgl. Spaan, van Naerssen und Hillmann 2005: 37). Bestehende RückkehrerInnenprogramme sind bislang nicht ausreichend gebündelt und es fehlen Bezüge zwischen Rückkehr und Entwicklung (vgl. Goethe und Hillmann 2008: 196; Laaser 2008: 13). Zudem sind Programme oftmals ausschließlich auf Hochqualifizierte ausgerichtet, obwohl die Mehrheit der RückkehrerInnen niedrig qualifiziert ist. Innerhalb der Programme sollte ein Schwerpunkt auf Weiterbildung und Trainingsmaßnahmen gelegt werden. Die Situation in der Herkunftsgesellschaft, daraus resultierende Handlungsoptionen sowie Motivationen und Einstellungen der RemigrantInnen müssten stärker berücksichtigt werden (vgl. Laaser 2008: 15 f). Ein Transfer von Wissen ist nur dann möglich, wenn die entspre47
2 Theoretische Grundlagen chende Infrastruktur zur Implementierung des Wissens im Herkunftsland besteht. Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass die Argumentationslinie der MigrationsoptimistInnen und der -pessimistInnen in einen angemessenen theoretischen Rahmen eingebettet werden müsste, der die Heterogenität und Komplexität des Zusammenspiels zwischen Migration und Entwicklung berücksichtigt (vgl. dazu de Haas 2007: 33 ff.). Auch eine bisher fehlende, einheitliche Definition der Begriffe ›Migration‹ und ›Entwicklung‹ könnte die Debatte voranbringen. Insbesondere die Einbeziehung von Erkenntnissen aus der Entwicklungsforschung wird bei der konzeptionellen Verbindung der Themen vernachlässigt (vgl. Bröring 2009). Für zukünftige Forschungsarbeiten fordern Faist und Martin eine stärkere Berücksichtigung von hometown associations, MigrantInnenvereinen und individuellem zivilgesellschaftlichen Engagement (vgl. Faist 2008: 19, Martin 1991: 28). Für die theoretische Verortung der vorliegenden Arbeit mangelt es an Studien, die den Zusammenhang zwischen dem Handel von MigrantInnengruppen auf der Mesoebene – hier transnationalen UnternehmerInnen – und der Entwicklung ihrer Herkunftsländer herstellen. Zum Füllen dieser Lücke leistet die vorliegende Arbeit anhand der Verknüpfung zweier theoretischer Linien einen Beitrag. Sie verbindet die Theorien zu Migrationen sowie deren Einfluss auf die Entwicklung der Herkunftsländer mit der Erklärung der Arbeitsmarktintegration von MigrantInnen.
2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien Der beruflichen Selbständigkeit von MigrantInnen werden in der sozialwissenschaftlichen Forschung seit den 1970er Jahren verschiedenste Erklärungsansätze gegenübergestellt.34 In der Forschung zu MigrantInnenökonomien gibt es wiederholt Diskussionen um Begrifflichkeiten (vgl. Haberfellner et al. 2000: 12). Daher werden an dieser Stelle einige zentrale Begriffe erläutert, wobei eine gezielte Loslösung von dem negativ besetzten Begriff der ›ethnischen Ökonomie‹ erfolgt (vgl. Abs. 2.3.5). Unter MigrantInnenökonomien wird im Folgenden die selbständige Erwerbstätigkeit von Personen mit Migrationshintergrund und abhängige Beschäftigung in von Personen mit Migrationshintergrund geführten Betrieben in Deutschland und deren Folgegenerationen verstanden, die in einem spezifischen MigrantInnenmilieu verwurzelt sind (angelehnt an 34 | Hier wird eine Auswahl an Erklärungsansätzen vorgestellt, die m. E. relevant sind für die Entwicklung der Forschung über MigrantInnenökonomien bzw. die eine Erklärungskraft für das Fallbeispiel der VietnamesInnen besitzen. Es besteht jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit bzgl. dieser Auswahl.
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2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien Schuleri-Hartje, Floeting und Reimann 2005: 21). Gängige Definitionen umfassen die Prägung der KundInnenstruktur durch die eigene ›ethnische‹Gruppe (vgl. ebd; s. auch Kayser et al. 2008: 13), die m. E. nur in Sonderfällen zutrifft und daher nicht in die Definition der vorliegenden Arbeit einbezogen wird. Da diese Definition auf einem allgemeinen Niveau verbleibt und der Begriff der MigrantInnenökonomien lediglich als Überbau für eine Bandbreite von Erklärungsansätzen dient, werden in diesem Abschnitt verschiedene Konzepte zur Kategorisierung und Erklärung von MigrantInnenökonomien vorgestellt.35 Die ersten Forschungsarbeiten zu MigrantInnenökonomien stammen überwiegend aus der US-amerikanischen Soziologie und Anthropologie. Der Beginn der sozialwissenschaftlichen Forschung zu ›ethnischem‹ UnternehmerInnentum wurde häufig auf das 1972 erschienene Werk Ethnic Enterprise in America von Ivan Light zurückgeführt. Darin wird die Situation von japanischen, chinesischen und afro-amerikanischen Selbständigen auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt zwischen 1880 und 1940 beleuchtet. Zudem werden grundlegende theoretische Ideen zu späteren Konzepten eingeführt, die in der Forschung zu MigrantInnenökonomien verwendet werden. Das Resümee des Werkes ist, dass soziales Vertrauen das UnternehmerInnentum fördert. In diesem Sinne wird die Bedeutung von Kreditrotationssystemen herausgestellt, die auf der Grundlage sozialen Kapitals entstehen (vgl. Light 1972: 22). Nur ein Jahr später stellte Edna Bonacich die erste umfassende Studie zu MigrantInnenökonomien unter dem Titel A Theory of Middleman Minorities vor, in der die Strukturierung von Arbeitsmärkten durch sog. ›ethnische‹ Gruppierungen aufgeführt wird. Für die Einwanderungsgesellschaft der USA sind unterschiedliche Beispiele von middleman minorities beschrieben worden. Bonacich und Modell legen in ihrem Werk The Economic Basis of Ethnic Solidarity dar, dass es im pluralistischen Nordamerika zwischen ethnic minorities stets einen Wettbewerb um Einkommen, Mobilität, politischen Einfluss und Prestige gab. In diesem Werk tauchte zum ersten Mal der Begriff der ›ethnischen Ökonomie‹ als Überbegriff für kleine Betriebe mit wenig Kapital auf, die ohne bezahlte Angestellte und dafür mit überwiegend unbezahlter Familienarbeitskraft betrieben werden (vgl. Bonacich und Modell 1980: 43). Auf europäischer Ebene wurden MigrantInnenökonomien zuerst in Großbritannien thematisiert, wo sie als wesentlicher Bestandteil städtischer Ökonomien herausgehoben wurden. 1984 veröffentlichten Jenkins und Ward den Sammelband Ethnic Communities in Business (vgl. Jenkins 1984), in dem die Situation verschiedener Gruppen in britischen Städten erstmals systematisch aufgearbeitet wird. Von den MigrantInnenökonomien 35 | Zu den Vorläufern der MigrantInnenökonomien-Forschung siehe Light und Gold 2000: 49.
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2 Theoretische Grundlagen erhoffte man sich die Wiederbelebung der britischen Innenstädte, in denen in den 1970er Jahren zahlreiche pakistanische und indische MigrantInnen ihre kleinen Betriebe eröffneten (vgl. Oc und Tiesdell 1999, zit. nach Haberfellner et al. 2000: 11).36 Während das liberale Wirtschaftssystem Großbritanniens und vergleichsweise liberale Migrationspolitiken ein Florieren des sogenannten ethnic business zuließen, existierten in den meisten europäischen Staaten rechtliche Zugangsbarrieren. Die strengen rechtlichen Rahmenbedingungen verzögerten die Entstehung von MigrantInnenökonomien in Kontinentaleuropa. Eine Ausnahme sind die Niederlande, wo sich eine florierende MigrantInnenökonomie entwickelte (vgl. Rath und Kloosterman 2000; Kloosterman und Rath 2003; Rusinovic 2006). Seit den 1980er Jahren wurden MigrantInnenökonomien auch in Deutschland zum Gegenstand verschiedenster Forschungsrichtungen. Frühe Arbeiten thematisierten häufig das inklusionshemmende Moment dieser Form der Arbeitsmarkteingliederung von MigrantInnen (vgl. Goldberg 1996: 58 f.). In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden dann erstmals Studien veröffentlicht, die von einer vermeintlich segregierenden Wirkung der MigrantInnenökonomien Abstand nahmen (vgl. Blaschke und Ersöz 1987; Wilpert und Gitmez 1987). Pichler beschreibt die Situation der italienischen Gewerbetreibenden in Berlin. Anhand von Interviews und teilnehmender Beobachtung untersucht sie die Sektoren Gastronomie und Lebensmittelhandel, die Bauund Modebranche sowie die soziale Differenzierung der Gemeinschaft als Folge ihrer ökonomischen Selbständigkeit. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass italienische Gewerbetreibende flexibel und anpassungsfähig auf Umstrukturierungen des Marktes reagieren, neue Nischen besetzen und ihre Arbeitsorganisation umstellen. Das Personal wird hier allerdings nicht aus der Familie, sondern eher aus dem eigenen Milieu rekrutiert. Der Übergang von der Überlebensökonomie hin zu einer ›postmodernen‹ Ökonomie, so Pichler, sei nicht nur dem sozialen Wandel im Einwanderungs-, sondern auch dem des Herkunftslandes geschuldet (vgl. Pichler 1997: 106, 119). Eine Studie zur MigrantInnenökonomie in den neuen Bundesländern hat Loeffelholz vorgelegt, der den Anstieg der beruflichen Selbständigkeit von MigrantInnen von 1992 bis 1993 in Ostdeutschland als Flucht vor bzw. aus der Arbeitslosigkeit interpretiert. Theoretisch bettet er diese Argumentation in das u. a. von Light entwickelte Reaktionsmodell ein (vgl. von Loeffelholz, Gieseck und Buch 1994: 106). In der Geographie wurde das Thema u. a. von Scholz aufgegriffen, der sich mit türkischen Wirtschaftsaktivitäten in Berlin befasste (vgl. Scholz 1990). Ebenfalls erschien 1997 die Studie von Rudolph und Hillmann zu Ethnisierungsprozessen in der Nahrungsgüterindustrie in Berlin, in der aufgezeigt wurde, dass türkische Unternehmen jeweils in den Stadttei36 | Vgl. für die USA auch Davis 2001.
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2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien len konzentriert waren, in denen ein hoher Bevölkerungsanteil türkischer Abstammung wohnhaft ist (Kreuzberg, Wedding, Neukölln). Die Nähe zur eigenen Gemeinschaft wurde bewusst gewählt und 90 Prozent der Betriebe waren auf die Mitarbeit von Familienangehörigen angewiesen (vgl. Rudolph und Hillmann 1997: 100 f.). Hillmanns Studie über türkische Unternehmerinnen in Berlin (vgl. Hillmann 1998) ist eine der ersten Studien, die dezidiert den Arbeitsmarkt beruflich selbständiger Migrantinnen analysiert. In 50 Unternehmerinnen- und Beschäftigteninterviews fragt sie nach deren Beschäftigungssituation und Arbeitsorganisation. Sie zeigt u. a. eine Abkehr türkischer Unternehmerinnen von der eigenen Gemeinschaft, den Rückgang des Anteils ausländischer Frauen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und eine vergleichbar geringe Präsenz türkischer Frauen im türkischen UnternehmerInnentum auf (ebd.: 1, 42 f.). Sie bezeichnet MigrantInnenökonomien als Drehtüren zwischen dem formellen und informellen Arbeitsmarkt, die eine geschlechtsspezifische Filterung vornehmen (vgl. Hillmann 2000: 416). In der Forschung über MigrantInnenökonomien wird häufig zwischen einer optimistischen und einer pessimistischen Interpretationslinie unterschieden. Die OptimistInnen fassen MigrantInnenökonomien als Sprungbrett in den Arbeitsmarkt für neuankommende MigrantInnen auf, wobei die Solidarität innerhalb der sozialen Netzwerke vorausgesetzt wird. Die PessimistInnen stellen die ausbeuterischen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt ins Zentrum der Betrachtung und betonen die Nähe der MigrantInnenökonomie zur informellen Wirtschaft, wobei sie die Gruppensolidarität in Frage stellen (vgl. Hillmann 2000: 417; Sassen 1988; Bonacich 1988). Die vietnamesische MigrantInnenökonomie in Berlin ordnet Schweizer (Schweizer 2004) der ethnic economy nach Light und Gold zu und charakterisiert die vietnamesischen Großhandelsstrukturen als Enklavenökonomie nach Portes und Wilson (vgl. Portes und Wilson 1980). Ingesamt beziehen sich die empirischen Arbeiten in diesem Forschungsfeld weitgehend auf die im Zuge der westdeutschen GastarbeiterInnenmigration Zugewanderten in der ersten, zweiten und dritten Generation. Eine verhältnismäßig große Anzahl von Studien liegt zur türkischen MigrantInnenökonomie vor (vgl. u. a. Rudolph und Hillmann 1997; Hillmann 1998; Hillmann 2002 und 2002; Scholz 1990; Scholz 1996; Pütz 2003b; Pütz 2004). Pütz versucht, das dynamische Gründungsgeschehen und die spezifische Betriebsstruktur türkischer Unternehmen in Berlin aus einem makroanalytischen Blickwinkel zu erklären und diskutiert seine These anhand akteurs- und systemzentrierter Ansätze. Als Erklärung für das dynamische Gründungsgeschehen und die spezifische Betriebsstruktur türkischer Unternehmen in Berlin nennt er die jüngere Krise auf dem Arbeitsmarkt, verbunden mit dem Wegbrechen der Industrie in Berlin als Folge der Wiedervereinigung (vgl. Pütz 2003b: 257 f.; Rudolph und Hillmann 1997). Eine 51
2 Theoretische Grundlagen spezifische Betriebsstruktur innerhalb der MigrantInnenökonomie ergibt sich aus der Tatsache, dass BetriebsgründerInnen vornehmlich Sektoren wählen, die durch einen vergleichsweise geringen Kapitalaufwand gekennzeichnet sind und geringe Qualifikationen erfordern (vgl. Pütz 2003b: 260 f.).
Modell
Merkmale
Quelle
Methodik
Beispiele
Ethnic Economy
Selbständige, ArbeitgeberInnen, unbezahlte Familienmitglieder u. Angestellte einer ethn. Gemeinschaft
Bonacich, Modell 1980
Methodenmix: standard. Befragung u. Interviews anhand stat. Daten
Ethnic Ownership Economy Ethnic Controlled Economy
Form der ethnischen Ökonomie
Fratoe, Meeks 1986
Quantitativ: Zensusdaten
KubanerInnen/ Miami, ShanghaierInnen/ Hongkong, IranerInnen/ LA Ju/e/dInnen und KoreanerInnen/USA
Ökonom. Macht u. Arbeitsmarktdominanz durch Angestellte der gleichen ethn. Gemeinschaft im 1. Arbeitsmarkt
Light, Bonacich 1988
Quantitativ: Telefoninterviews, Auswertung Zensusdaten
KoreanerInnen/ LA, IrInnen/ NY
Räumlich geclusterte ethnische Ökonomie Analyserahmen oder konkrete Handlungspraxis im Sinne strategischer Transkulturalität
Wilson, Portes 1980, Portes, Bach 1985 Pütz 2003, 2004
Qualitative Langzeitstudie
KubanerInnen/ Miami, ItalienerInnen/ SF
Qualitative Studie
TürkInnen/ Berlin
Einbettung von UnternehmerInnen in ökon., soz. und institut. Netzwerke u. Nutzung von Ressourcen
Kloosterman, Rath, van der Leun 1999, 2001, 2003
Qualitative Studie
Islamische MetzgerInnen/ NL
Ethnic Enclave Economy Transkulturalität als Praxis
MixedEmbeddeness
Tabelle 2.1: Übersicht zur Forschung über MigrantInnenökonomien (Quellen: Light und Gold 2000: 23; Pütz 2003a; Kloosterman, van der Leun und Rath 1999; eigene Darstellung).
Die Bedeutung von MigrantInnenökonomien für den deutschen Arbeits52
2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien und Ausbildungsmarkt belegen die Zahlen aus der empirischen Studie von Kayser et al. für Berlin-Mitte: Die 272 interviewten UnternehmerInnen beschäftigen insgesamt 417 MitarbeiterInnen, darunter 27 Auszubildende und PraktikantInnen sowie 20 Prozent deutsche MitarbeiterInnen (vgl. Kayser et al. 2008: 15 f.). Verschiedene Modelle wurden seit den 1970er Jahren zur Erforschung von MigrantInnenökonomien entwickelt. Diese dienen dazu, migrantische Unternehmen kategorisieren und von anderen Unternehmensformen unterscheiden zu können (vgl. Tab. 2.1). 2.3.1 Middleman Minorities Das Konzept der middleman trading peoples wurde erstmalig von Howard Paul Becker (vgl. Becker 1956) für verschiedene MigrantInnengemeinschaften beschrieben. In den 1970er Jahren wurde dieses Konzept von Edna Bonacich aufgegriffen. Bonacich definiert middleman minorities auf Basis des gleichnamigen Konzeptes von Blalock (Blalock 1967) als unbedeutende HändlerInnen, die sich in Diasporen niederlassen und dieses HändlerInnentum im modernen Kapitalismus ungeachtet des gesteigerten Wettbewerbs fortsetzten.37 Im Gegensatz zu den meisten Minderheiten, so Bonacich, haben diese Gruppen jedoch eine mittelständische und keine niedrige Position in den jeweiligen Gesellschaften eingenommen und konzentrieren sich in bestimmten Berufen. Dabei profitieren sie als spezifische Ressource von ihrer Zwei- oder Mehrsprachigkeit, durch die sie zwischen HändlerInnen und anderen Interessensgruppen auf internationaler Ebene vermitteln können. Dieser Vorteil verliert jedoch durch die zunehmende Dominanz der englischen Sprache im globalen Warenverkehr an Bedeutung (vgl. Light 2007:3).38 »They play the role of middleman between producer and consumer, employer and employee, owner and renter, elite and masses« (Bonacich 1973: 583). Middleman minorities haben im Laufe der Zeit spezifische Ressourcen mobilisiert, die ihre Tätigkeiten förderten, wie unternehmerische Werte, Institutionen und soziale Netzwerke, durch die auch ihre Kinder einfach die HändlerInnenrollen übernehmen konnten (vgl. Light und Gold 2000: 6). Die Schwierigkeiten, die mit dem Leben in einer fremden Gesellschaft verbunden sind, bewegten middleman minorities dazu, ihre soziale Solidarität zu intensivieren, was ihre Unternehmen stärke (vgl. Bonacich 1973). Da sie in der Aufnahmegesellschaft nicht ökonomisch, aber sozial isoliert sind und sich nicht assimilieren, entwickeln sie wirtschaftliche Macht, was zu Ängsten in der Aufnahmegesellschaft 37 | Während middleman minorities früher am Beispiel der jüdischen Diaspora in Europa festgemacht wurden, waren es später ArmenierInnen in der Türkei und Übersee-ChinesInnen in Südost-Asien, die als Beispiele genannt wurden. 38 | Zu finden sind sie häufig im Handel und in der Wirtschaft, als AgentInnen, ArbeitskraftvermittlerInnen, RenteneintreiberInnen, KreditgeberInnen und MaklerInnen.
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2 Theoretische Grundlagen führt (vgl. ebd. 1973: 592). Das Fehlen familiärer Bindungen innerhalb der Aufnahmegesellschaft verleiht ihnen eine gewisse Objektivität im Marktgeschehen und schützt sie vor verwandtschaftlichen Verpflichtungen, die sich negativ auf ihr Unternehmen auswirken können (vgl. Light 2007). Middleman minority-Theorien weisen einige konzeptuelle Lücken auf, die aus dem intellektuellen Kontext herrühren, in dem sie entworfen wurden. So gehen sie davon aus, dass es in modernen Wirtschaftsnationen keinen traditionellen Kapitalismus im Sinne Sombarts und Webers mehr gebe. Durch die Dichotomie zwischen modernem und traditionellem Kapitalismus, die dem Konzept unterliegt, wird der Kapitalismus innerhalb von MigrantInnengemeinschaften in die verlorene Peripherie der Weltwirtschaft verbannt (vgl. Light und Gold 2000: 7). Hier wird vernachlässigt, dass die pluralistischen Gesellschaften Nordamerikas stets marginale Sektoren bargen, in denen ›ethnischer‹ Kapitalismus florierte. Durch seine Betonung kultureller Dispositionen im Sinne von Handelstraditionen bestimmter MigrantInnengruppen wird das Konzept solchen Gruppen nicht gerecht, die nicht in einer HändlerInnentradition zu verorten sind, sondern für die das UnternehmerInnentum in der Aufnahmegesellschaft nur ein Nebenverdienst bzw. eine neu angeeignete Wirtschaftsform darstellt. Daher ist das Konzept der middleman minorities nur partiell aussagekräftig für die hier untersuchten VietnamesInnen, die keine traditionelle HändlerInnengruppe sind. Es beinhaltet jedoch den Zwang einer MigrantInnengruppe zur beruflichen Selbständigkeit als Reaktion auf fehlende Einkommensalternativen (vgl. Light 2007: 4), der sich durchaus in der Untersuchungsgruppe wiederfindet. Zudem stellt es einen Grundpfeiler des Konzeptes der MigrantInnenökonomien dar und enthält wichtige Vorüberlegungen für spätere Modelle, denen sich der nächste Abschnitt widmet. 2.3.2 Ethnic ownership-, ethnic enclave- und ethnic controlled economy In ihrem im Jahr 2000 erschienenen Werk Ethnic Economies unterscheiden Light und Gold zwischen drei Erscheinungsformen von MigrantInnenökonomien, wobei insbesondere die ersten beiden Konzepte zur Bestimmung der Größe der jeweiligen MigrantInnenökonomie beitragen. Anhand der Konzepte können verschiedene MigrantInnenökonomien miteinander verglichen werden und Aussagen über die Arbeitsmarktinklusion unterschiedlicher Untersuchungsgruppen getroffen werden (vgl. Light und Gold 2000: 24; vgl. Tabelle 1). Eine ethnic ownership economy umfasst UnternehmerInnen und deren Aushilfen, Angestellte aus der gleichen Gruppe und unbezahlt mitarbeitende Familienmitglieder und kann in drei Sektoren eingeteilt werden – den 54
2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien formellen und informellen sowie den illegalen Sektor (vgl. Light und Gold 2000: 44).39 Entscheidend für den Charakter der ethnic ownership economy ist das Zahlenverhältnis von Angestellten zu UnternehmerInnen (vgl. ebd. 2000: 24, 30 f.). Das Konzept der ethnic enclave economy wurde in den 1980er Jahren von Wilson anhand der kubanischen Gemeinschaft in Miami entwickelt, deren UnternehmerInnen einen intensiven Handel miteinander betreiben (vgl. Wilson und Portes 1980). Es entstand aus der Denkrichtung der dualen Arbeitsmarkttheorie, die in den späten 1960er Jahren aufkam, um Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu erklären (vgl. Piore 1979).40 Erst Modell und Light entwickelten das Konzept weiter, indem sie als Hauptmerkmal heraushoben, die ethnic enclave economy unterscheide sich von der ethnic economy dadurch, dass sie eine räumliche Clusterung aufweise und dadurch einen quasi-monopolistischen ökonomischen Vorteil habe. Eine ethnic enclave economy wäre vorstellbar als ethnic business district, wie z. B. eine Chinatown. Sie weist darüber hinaus ökonomische Interdependenz, d. h. vertikale und horizontale Inklusion auf und beschäftigt Angestellte. Damit ist sie eine Sonderform der MigrantInnenökonomie und tritt weitaus seltener auf als diese (vgl. Light und Gold 2000: 15). Drittens wird hier das Konzept der ethnic controlled economy als eine Form von MigrantInnenökonomien unterschieden, das Light und Bonacich 1988 anhand der Beobachtung entwickelten, dass KoreanerInnen in Los Angeles räumlich sowohl als Angestellte als auch als beruflich Selbständige stark konzentriert sind (vgl. Light und Bonacich 1988).41 Ihre Forschungs39 | Die empirische Grundlage für das Konzept der ethnic ownership economy lieferte eine vergleichende Studie, basierend auf Zensusdaten von 1990 und angelehnt an die Methodik einer vorausgegangenen Studie von Fratoe und Meeks (vgl. ebd. 1986 in Light und Gold 2000: 31 f.). 40 | Wilson und Portes haben dieses Konzept weiterentwickelt und 1980 das Konzept der immigrant enclaves vorgestellt, mit dem sie die Anstellung von MigrantInnen in der Enklavenökonomie beschrieben. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass MigrantInnen bei ihrer Ankunft in der Regel noch über wenig Kapital verfügen und daher zunächst eine Anstellung im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt oder in der Enklavenökonomie suchen. ArbeitnehmerInnen sind nach Portes und Wilson dann der Enklavenökonomie zuzuordnen, wenn ihre ArbeitgeberInnen aus der gleichen MigrantInnengruppe stammen. In ihren Überlegungen berücksichtigten sie jedoch nicht die Selbständigen (vgl. Wilson und Portes 1980: 304 f.). Für eine Enklavenökonomie stellen Portes und Wilson die folgenden Bedingungen als notwendig heraus: die Präsenz von MigrantInnen mit ausreichendem Kapital und unternehmerischen Kenntnissen und die ständige Erneuerung der Arbeitskraft durch anhaltende Migration (vgl. ebd. 1980: 314). Auch wenn Portes und Wilson noch nicht mit dem Begriff des sozialen Kapitals operierten, beschrieben sie für die KubanerInnen in Miami schon MigrantInnennetzwerke, gegenseitiges Vertrauen und eine gemeinsame Sprache als vorteilhaft. Durch die duale Arbeitsmarkttheorie können die empirischen Arbeiten von Portes und Wilson allerdings nicht vollständig erklärt werden (vgl. ebd. 1980: 314). 41 | Ein großer Teil der Unternehmen beschäftigt keine Angestellten. In 56,8 Prozent der koreanischen Unternehmen sind Mitglieder der Kernfamilie oder Verwandte angestellt. Circa ein Drittel der Unternehmen beschäftigt unbezahlte Aushilfen, was einen Hinweis auf ein
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2 Theoretische Grundlagen arbeiten ergaben, dass eine ethnic controlled economy auftritt, wenn über soziale Netzwerke im generellen Arbeitsmarkt eine Clusterung nach MigrantInnengruppen entsteht (vgl. ebd.: 178 f., 204). Dies ist bedingt durch Nepotismus, d. h. der Bevorzugung der eigenen sozialen Gruppe bei der Rekrutierung von KollegInnen, NachfolgerInnen etc. Es handelt sich bei diesem Konzept nicht um eine Erklärung von Mechanismen innerhalb von MigrantInnenbetrieben, sondern um Mechanismen im ersten Arbeitsmarkt bzw. unter Angestellten, d. h. ihre UnternehmensleiterInnen, Vorgesetzen o. ä. müssen keinen Migrationshintergrund haben. In neueren Studien zu MigrantInnenökonomien wird häufig auf den Nischen-, den Kultur- und den Reaktionsansatz zurückgegriffen, die Erklärungen zur beruflichen Selbständigkeit von MigrantInnen liefern. 2.3.3 Nischen-, Kultur- und Reaktionsansatz MigrantInnen sind oft in bestimmten Industrien oder Berufen beschäftigt, die sie als Nische nutzen. In der Nische decken EinwandererInnen zunächst ausschließlich die Bedürfnisse der eigenen MigrantInnengruppe, d. h. sie handeln mit sogenannten ›ethnischen‹ Produkten. Zur Gründung von Betrieben in solchen Nischen kommt es, wenn die Gruppengröße und ihr Bedarf an spezifischen Produkt und Dienstleistungen einen bestimmten Schwellenwert überschreiten. Diese Art von Betrieben, z. B. Spezialitätengeschäfte oder spezialisierte Reisebüros, stehen zunächst nicht in Konkurrenz zu Betrieben der Mehrheitsgesellschaft, können sich jedoch zu KonkurrentInnen anderer Betriebe der MigrantInnengruppe entwickeln.42 Mit der Etablierung einer MigrantInnengruppe im Ankunftskontext diversifiziert sich auch die Nischenökonomie und es entstehen z. B. Verlage, Fernsehsender etc. (vgl. Schuleri-Hartje, Floeting und Reimann 2005: 24f.). Die Voraussetzung für eine Nischenökonomie ist eine Enklave, also eine räumliche Konzentration einer MigrantInnengruppe mit spezifischen Konsumbedürfnissen (vgl. Barth 1969). Diese Konsumbedürfnisse können nicht durch das einheimische Warenangebot gedeckt werden und bieten daher eine Chance für UnternehmensgründerInnen innerhalb dieser Gruppe, die über spezifische Kenntnisse aus dem Heimatland verfügen. Um ein enges soziales Gefüge liefert (vgl. Light und Bonacich 1988: 179). Angestellte werden schlecht bezahlt, mussten lange Arbeitstage in Kauf nehmen und auch die UnternehmenseignerInnen hatten geringe Einnahmen (vgl. ebd: 176). Ende der 1970er Jahre waren Einzelhandelsbetriebe die verbreiteteste Unternehmensform unter koreanischen MigrantInnen in Los Angeles. In dieser Zeit kam es zu einer Suburbanisierung der koreanischen Ökonomie, was sich nachteilig auf die Unternehmen in Koreatown auswirkte, die Vorteile aus ihrer räumlichen Clusterung zogen (vgl. ebd.: 225 f.). Ein weiteres Beispiel für eine ethnic controlled economy ist die hohe Konzentration von AfroamerikanerInnen in der Stadtverwaltung New Yorks (vgl. Light und Gold 2000: 21 f.). 42 | Zu den anfangs angebotenen Produkten zählen häufig Zeitungen, Tonträger, Videos, Bücher, Kleidung und Schmuck.
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2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien Fortbestehen bzw. ein Wachstum nach der Gründungsphase gewährleisten zu können, muss eine Orientierung auf Kunden außerhalb der eigenen MigrantInnengruppe erfolgen. Kommt es nicht zu dieser Ausbauphase über die eigene Enklave hinaus, kann es zu verschiedenen Problemen kommen: Die Nische bietet nur für eine begrenzte Zahl von Unternehmen Platz, da lokal agglomerierte MigrantInnengruppen häufig nur über eine geringe Kaufkraft verfügen und auch zahlenmäßig begrenzt sind (vgl. Haberfellner et al. 2000: 24). Der Nischenansatz wird kritisch beurteilt, da er individuelle Motive der MigrantInnen vernachlässigt, wie z. B. das Streben nach höherem Einkommen oder höherem sozialen Status (vgl. Schuleri-Hartje, Floeting und Reimann 2005: 25). Hierzu merken Mars und Ward an, dass die Existenz einer Konsumentengruppe der gleichen Herkunft zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für erfolgreiche Geschäftsgründungen von MigrantInnen ist (vgl. Mars und Ward 1984: 14 ff). Zudem erklärt der Nischenansatz lediglich Existenzgründungen der ersten EinwanderInnengeneration. Der Kulturansatz wertet die kulturellen Hintergründe aus den Herkunftsländern der MigrantInnen, wie eine Tradition des UnternehmerInnentums, das Herkunftsmilieu etc. als Einflüsse für die Aufnahme selbständiger Tätigkeiten im Ankunftskontext. Tatsächlich lag die Selbständigenquote Ende der 1990er Jahre in einigen südeuropäischen Ländern (Griechenland und Türkei über 30 Prozent, Italien 25 Prozent) wesentlich höher als in Deutschland (10 Prozent), womit die überdurchschnittlich hohen Selbständigenquoten dieser MigrantInnengruppen in Deutschland erklärt werden könnte (vgl. Schuleri-Hartje, Floeting und Reimann 2005: 25). Auch wenn der Kulturansatz eine wichtige Perspektive für die Erforschung von MigrantInnenökonomien geliefert hat, weist er deutliche Erklärungsmängel auf. Es ist möglich, dass sich kulturelle Spezifika auf Unternehmensgründungen auswirken. Jedoch kann dies nicht die einzige Erklärung für Unternehmensgründungen von MigrantInnen sein, sondern muss mit den anderen Ansätzen kombiniert werden. Der Kulturansatz birgt die Gefahr, kulturalistische und ethnisierende Denkmuster unreflektiert aufzugreifen, was zu Stereotypen und Rassismen führen könne (vgl. Light 1987). In diesem Sinne argumentieren Oswald und Häußermann: Doch da, wo Qualifikationen aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten entwertet werden, mutiert die hochkontingente Besetzung von ›Nischen‹ zur ethnischen Offenbarung: die ›Neigung‹ der Vietnamesen zum Zigarettenschmuggel, der Italiener zum Pizzabacken, der Pakistani zum Rosenverkauf oder der Türken zum Obst- und Gemüsehandel – wie die früher ›übliche‹ weil notgedrungene Symbiose von Juden mit dem Geldverleih und von Zigeunern mit dem Kesselflicken (Oswald und Häußermann 1997: 24).
Portes und Rumbaut kritisieren am Kulturansatz, dass dieser immer nur post factum die Selbständigkeit von MigrantInnen beschreiben kann. Er 57
2 Theoretische Grundlagen tritt in Kraft, wenn eine Gruppe eine bemerkenswerte Selbständigenrate erreicht hat, hat aber keine Prognosefunktion und kann damit auch nicht – wie häufig in der Literatur zu finden – als Kulturmodell bezeichnet werden. Darüber hinaus unterscheiden sich nationale und religiöse Hintergründe unternehmerisch orientierter Gruppen, was hierin nicht berücksichtigt wird. Sie kritisieren ferner, dass unterschiedliche Selbständigkeitsraten innerhalb von Gruppen mit dem gleichen kulturellen Hintergrund in den USA übergangen werden. Im Umkehrschluss weisen ähnliche Selbständigkeitsraten nicht auf einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund hin, sodass der Ansatz letztendlich keine Erklärungskraft besitzt (vgl. Portes und Rumbaut 2006: 85 f.). Gleichzeitig – so Portes und Rumbaut – kann eine hohe Gründungsbereitschaft bei Gruppen ohne kulturelle Tradition als UnternehmerInnen nicht hieraus erklärt werden. Auch der Einfluss politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen findet eine mangelnde Berücksichtigung (vgl. Rath 2000). Dieser wird jedoch im nachfolgend vorgestellten Reaktionsansatz aufgegriffen. Der Reaktionsansatz erklärt die berufliche Selbständigkeit unter MigrantInnen als Reaktion auf ihre verhältnismäßig schlechten Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt, die durch blockierte Mobilität oder Diskriminierung bedingt sein können (vgl. Schuleri-Hartje, Floeting und Reimann 2005: 26).43 So kann das Wegbrechen von Arbeitsplätzen für gering qualifizierte ArbeiterInnen mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel im Deutschland der 1970er und 1980er Jahre und ihre zunehmend schwierige Arbeitsmarktsituation durch überdurchschnittlich hohe Selbständigkeitsquoten erklärt werden. Der Reaktionsansatz stellt individuelle Motive der UnternehmerInnen in den Vordergrund der Betrachtung und kann daher auch Gründungen der zweiten MigrantInnengeneration erklären. Eine Verbindung der drei vorausgehend erklärten Ansätze strebt der Interaktionsansatz an, der die Defizite der Ansätze durch ihre Kombination überwindet. Da er für die vietnamesische MigrantInnenökonomie eine gute Erklärungsgrundlage bietet, wird er im Folgenden ausführlich dargestellt. 2.3.4 Interaktionsansatz Der Interaktionsansatz erklärt die berufliche Selbständigkeit unter MigrantInnen als Wechselwirkung zwischen deren Zugang zum Arbeitsmarkt 43 | Die schwierige Arbeitsmarktsituation für MigrantInnen wurde von verschiedenen Autoren statistisch belegt. So zeigt u. a. Hillmann, dass der Anteil der Ausländer an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 1990 abgenommen hat, während sich ihr Anteil an den Arbeitslosen erhöht hat. Arbeitslose Ausländer sind zudem jünger und niedriger qualifiziert als deutsche Stellenbewerber (vgl. Hillmann 2001: 195). Der Anteil arbeitsloser Ausländer ist in Deutschland nahezu doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung (vgl. Goethe und Hillmann 2008: 2).
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2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien und dem Streben nach einem höheren sozio-ökonomischen Status durch das Ausführen einer selbständigen Arbeit. Der empirisch feststellbare unterschiedliche Zugang von MigrantInnengruppen zu unternehmerischer Selbständigkeit und ihre unterschiedlichen Erfolgsraten werden im Interaktionsansatz mit einem Modell erklärt, das sowohl die Rahmenbedingungen der Aufnahmegesellschaft als auch die Möglichkeiten der MigrantInnen berücksichtigt. Können MigrantInnen die erforderlichen Ressourcen einbringen, um diese Möglichkeiten zu nutzen, kommt es hier zu einer positiven Wechselwirkung. Durch die Wahrnehmung dieser Opportunitäten mittels Inanspruchnahme von Ressourcen innerhalb von MigrantInnennetzwerken kommt es zur Ausbildung einer MigrantInnenökonomie (vgl. Haberfellner et al. 2000: 26 f.). Die erste Dimension des Modells betrifft mögliche Rahmenbedingungen in der Aufnahmegesellschaft, die in modernen Industriegesellschaften jedoch kontinuierlichen Veränderungen unterliegen. Bleiben MigrantInnenunternehmen lediglich auf ihr eigenes Klientel ausgerichtet, bedeutet dies eine erhebliche Beschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und eine Konzentration von ZuwandererInnen in Kleinunternehmen bestimmter Branchen. Ein vernichtender Wettbewerb, hohe Schließungsraten und niedrige Umsätze sind mögliche negative Folgen. Der Erfolg migrantischer UnternehmerInnen hängt davon ab, ob es ihnen gelingt, über den migrantischen Markt hinaus KundInnen der Mehrheitsgesellschaft zu gewinnen und ob es eine Nachfrage nach ihren Dienstleistungen oder Produkten gibt. MigrantInnen ist es in den meisten westlichen Ökonomien möglich, eine Marktnische zu finden, die über die eigene Gemeinschaft hinausgeht, denn Massenproduktion und -absatz sind nicht überall möglich. Insbesondere die dicht bebauten Innenstädte, in denen MigrantInnen häufig leben, sind prädestiniert für kleinere Unternehmenstypen mit direktem KundInnenzugang. Hier können MigrantInnenunternehmen in urbanen Nachbarschaften eine wichtige Funktion einnehmen. Dieser Trend ist auch in deutschen Großstädten zu beobachten (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 21 ff.). Der Zugang zum Markt wird häufig von UnternehmerInnen der Mehrheitsgesellschaft kontrolliert, was für migrantische UnternehmerInnen einen Platzierungskampf bedeutet. MigrantInnengruppen sind sozialem Druck in ihrer Umwelt ausgeliefert, der sie zu bestimmten Entscheidungen drängt. Gleichzeitig sind MigrantInnen häufig mit niedrigeren Löhnen zufrieden als UnternehmerInnen der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Light 1984 zit. nach Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 33). Möglichkeitsstrukturen und Ressourcen sind durch eine Reihe von ineinandergreifenden ökonomischen, sozialen und psychologischen Faktoren bestimmt. MigrantInnengruppen unterscheiden sich nach ihrer Migrationsart, in ihren Motiven für die Migration und ihrer sozio-kulturellen 59
2 Theoretische Grundlagen Zusammensetzung. Durch die Mobilisierung spezifischer Ressourcen als Strategie von Mitgliedern einer MigrantInnengruppe ist es ihnen möglich, ein Unternehmen zu gründen und weiterzuführen. Häufig decken MigrantInnengruppen in der Anfangsphase die Bedürfnisse ihrer eigenen Gruppe ab, da sie deren Konsumgewohnheiten, Produkte und spezifische Dienstleistungen am besten kennen. Der Verkauf dieser Produkte setzt einen direkten Kontakt ins Herkunftsland sowie ein spezifisches Wissen über die Produkte, Kaufgewohnheiten und Präferenzen der eigenen MigrantInnengruppe voraus. Dieses Wissen teilen UnternehmerInnen der Mehrheitsgesellschaft nicht und können damit vorerst nicht zu KonkurrentInnen werden (vgl. Nischenmodell, Abs. 2.3.3). Dienstleistungen und Geschäfte innerhalb einer MigrantInnengruppe basieren häufig auf Vertrauen, welches gegenüber formalen Prozeduren bevorzugt wird. Neuankommende MigrantInnen bewegen sich häufig innerhalb ihrer MigrantInnengruppe und nehmen bevorzugt deren Service in Anspruch (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 21 ff.). Es gibt drei Möglichkeiten der Unternehmensexpansion: erstens die Hinzunahme eines weiteren Geschäftszweigs auf der Basis vorhandener Voraussetzungen, wie z. B. eine Dienstleistung. Zweitens kann eine horizontale Expansion und damit einhergehende Vergrößerung der economies of scale zur Senkung der relativen externen Kosten führen. Dafür bedarf es allerdings einer ausreichenden Nachfrage. Eine dritte Möglichkeit ist die vertikale Expansion, d. h. MigrantInnenunternehmen können z. B. vom Einzel- über den Großhandel zum Import-Export-Geschäft oder sogar zur Produktion übergehen (vgl. Mars und Ward 1984: 15 f.). Etabierungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt werden durch verschiedene Hindernisse blockiert, wie mangelnde Sprachkenntnisse, unzureichende Qualifikation, Alter und Diskriminierung. Gleichzeitig kann diese blocked mobility für MigrantInnen ein starker Antrieb zur Aufnahme von Geschäftstätigkeiten sein (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 32; Mars und Ward 1984: 17-18). Da den meisten MigrantInnen der Zugang zu Jobs mit hohen Stundenlöhnen verwehrt bleibt, ist die Ausbeutung der eigenen Arbeitskraft und die Inkaufnahme eines großen Risikos eine Möglichkeit, beispielsweise mit einem kleinen Geschäft einen möglichst hohen Umsatz zu erzielen. Die sich daraus ergebenden Arbeitszeiten, die häufig auch Abende und Wochenenden einbeziehen, halten die Unternehmen auf Kosten des Soziallebens und familiärer Verpflichtungen am Laufen. Das Sozialleben ist somit häufig zwangsläufig in ein ausgedehntes UnternehmerInnendasein eingebettet (vgl. Mars und Ward 1984: 17-18). Zur Beschreibung einer Gruppe gehören immer auch ihre Voraussetzungen vor der Migration, wie z. B. das Ausbildungssystem im Herkunftsland sowie der Ausbildungsstand der Mehrheit der Gruppe (vgl. Goldberg 1996). In diesem Sinne stellten Mars und Ward in den 1980er Jahren in Groß60
2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien britannien fest, dass die meisten Branchen, in denen sich MigrantInnen ansiedeln, eine Ausbildung erfordern, die häufig schon vor der Wanderung erworben wurde (vgl. ebd.: 17). Auch Sprachkenntnisse, Unternehmenserfahrung und Verwandtschaftsnetzwerke sind relevante Faktoren. Bei Neuankömmlingen, die in MigrantInnenökonomien Arbeit finden, ist das unternehmerische Vorwissen häufig irrelevant, da sie schnell in einem training-on-the-job für einfache Tätigkeiten angelernt werden. Schon die Migrationsbereitschaft und der Migrationsprozess können als Selektion angesehen werden, durch die sich möglicherweise eher risikofreudige, motivierte und anpassungsfähige Individuen herauskristallisieren, die gegenüber heimischen UnternehmerInnen durch diese Fähigkeiten Nachteile kompensieren können (vgl. Cheswick 1978, zit. nach Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 33). Auch psychologische Faktoren spielen eine Rolle für die Entscheidung zur beruflichen Selbständigkeit. Während ehemals das Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit (vgl. Mills 1958 in Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 32) als Beweggrund herangezogen wurde, stehen heute gruppendynamische Prozesse im Vordergrund der Argumentation. Doch diese Überlegungen gehen von einer individuellen Entscheidung zur Aufnahme einer Geschäftstätigkeit aus und erklären die unterschiedlichen Selbständigenraten von MigrantInnengruppen nur zum Teil (vgl. Auster/Aldrich 1984, zit. nach Haberfellner et al. 2000: 31). Der Interaktionsansatz erklärt dagegen die Entstehung eines migrantischen UnternehmerInnentums als eine interaktive Folge der Wahrnehmung von Möglichkeiten durch die Mobilisierung von Ressourcen im Rahmen migrantischer Netzwerke (vgl. Haberfellner et al. 2000: 27). Die Mobilisierung von Ressourcen hängt ganz entscheidend mit der eigenen gruppenspezifischen Identität zusammen. ›Ethnisch‹ im Hinblick auf UnternehmerInnentum sind hier lediglich die Beziehungen und Interaktionsmuster innerhalb einer Personengruppe des gleichen nationalen Hintergrundes. Ihre Sozialstrukturen umfassen demnach Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzwerke, die für den Zusammenhalt der Gruppe sorgen (vgl. Zimmer und Aldrich 1987 in Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 34) und die Interaktion innerhalb ihrer Netzwerke im Arbeits- und Wohnungsmarktbereich und im zivilgesellschaftlichen Bereich. ›Ethnizität‹ wird demnach als Selbstidentifikation mit einer bestimmten MigrantInnengruppe verstanden und ist eine mögliche Folge o. g. Interaktionsprozesse. Die Selbstidentifikation einer Gruppe verstärkt sich durch positive Folgen der Gruppendynamik, wie z. B. erfolgreiche Arbeits- oder Wohnungsvermittlungen innerhalb eines Netzwerkes (vgl. Abs. 2.1.6). Bonacich hat gezeigt, dass MigrantInnen, die ihren Aufenthalt im Aufnahmeland als temporär ansehen, besonders gewillt sind, unternehmerisch tätig zu werden, da sie häufig ein konkretes Ziel für ihren Aufenthalt im Auge haben (vgl. Bonacich 1973). Entscheidend ist nun, wie diese verschiedenen Charakteristika miteinan61
2 Theoretische Grundlagen der und mit den lokalen Möglichkeitsstrukturen interagieren (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 41). Strategien resultieren aus der Anpassung von UnternehmerInnen an die ihnen verfügbaren Ressourcen (vgl. Abs. 2.4.3). Die obigen Ausführungen zum Interaktionsansatz haben gezeigt, wie sich migrantische UnternehmerInnen entsprechend der Möglichkeitsstrukturen der Aufnahmegesellschaft und ihrer eigenen Voraussetzungen in einem Kräftefeld bewegen, das ihren unternehmerischen Erfolg mitbestimmt. Light und Gold (2000) haben in die Diskussion um den Interaktionsansatz eingebracht, dass es notwendig sei herauszufinden, wie Variationen und Veränderungen von Angebot und Nachfrage UnternehmerInnentum beeinflussen. Demnach hängt der unternehmerische Erfolg davon ab, inwiefern ihr Angebot die Nachfrage eines spezifischen Marktes decken kann. Sie treten für Forschungsarbeiten ein, die unterschiedliche Gruppen und unterschiedliche Märkte bzw. Umgebungen berücksichtigen (vgl. ebd.: 16 ff.).44 Schmidt fasst zusammen, es sei »gerade die Orientierung an der Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage, die der AutorInnengruppe den Vorwurf eingetragen hat, ein allzu ›gefälliges Bild‹ des migrantischen UnternehmerInnentums gezeichnet zu haben« (ebd. 2000: 340). Haberfellner wendet ein, dass es sich bei diesem Ansatz eher um ein Klassifikationsschema als um einen Erklärungsansatz handelt (ebd. in Schmidt 2000: 340). In ihrer Studie zu asiatischen und britischen UnternehmerInnen in drei englischen Städten stellten Aldrich et al. fest, dass externe Faktoren über interne Charakteristika dominieren: »The opportunity structure of the receiving society outweights any cultural predisposition towards entrepreneurship« (Aldrich, Jones und McEvoy 1984: 205). An dieser Feststellung kritisieren Light und Gold, dass hier o. g. stetige Veränderungen auf der Angebots- und Nachfrageseite nicht berücksichtigt wurden (vgl. Light und Gold 2000: 17). Einer vergleichenden Kritik der vorangegangenen Ansätze widmet sich der anschließende Abschnitt. 2.3.5 ›Ethnisch‹ sind immer die anderen Ende der 1990er Jahre wurde erstmals Kritik an den vorgestellten Ansätzen laut. Es wurden verschiedene neue Ansätze zur Erklärung der beruflichen Selbständigkeit von MigrantInnen entworfen, die ineinandergreifen und häufig auf die gleichen Begriffe zurückgehen (vgl. Abs. 6.2). Sie unterscheiden sich vor allem in der Einschätzung der Ursachen für migrantisches UnternehmerInnentum. Die Frage, warum sich MigrantInnen selbständig 44 | Als Beispiel wäre hier die Studie von Light und Rosenstein Race, Ethnicity, and Entrepreneurship in Urban America zu nennen, in der sie fünf Kategorien von MigrantInnengruppen in 226 Metropolregionen untersuchten und belegen konnten, dass die unterschiedlichen Gruppen in den einzelnen Regionen über einen unterschiedlichen Marktzugang verfügen.
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2.3 Klassische Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien machen, wurde durch die Frage ergänzt, wie sich MigrantInnen auf städtischen Arbeitsmärkten etablieren. Konzeptionellen Überlegungen zu MigrantInnenökonomien liegen häufig Vorstellungen von einem Neben- oder Miteinander von Kulturen als klar abgrenzbare, homogene Einheiten zugrunde (vgl. u. a. Pütz 2004: 10). Pütz kritisiert diese ›ethnischen‹ Zuschreibungen, die das Konzept der ›ethnischen Ökonomie‹ und der Kulturansatz bergen (ebd.: 2004). Dieser Kritik wurde mit dem Modell der Transkulturalität als Praxis45 begegnet, das Ethnizität nicht mehr als Kategorie verwendet, die einer MigrantInnengruppe übergestülpt wird (vgl. Pütz 2003b; Pütz 2003a; Pütz 2004). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ›Ethnie‹ nicht im Sinne einer a priori bestehenden Kategorie verwendet. Dadurch wird der Reproduktion ›ethnischer‹ Zuschreibungen und Stigmata – der sogenannten Ethnisierungsfalle – vorgebeugt. Die Analyse von ›ethnischen‹ Zuschreibungsprozessen – ethnic boundary making – dient der Dekonstruktion von ›ethnischen‹ Grenzziehungen (vgl. Pütz 2004: 34 ff.; Wimmer 2008a; Wimmer 2008b; Wimmer 2008c). MigrantInnengruppen werden in Abgrenzung zur bounded entity als offene Einheiten betrachtet, die sich mit anderen MigrantInnengruppen vermischen und überschneiden (vgl. Wimmer 2008a: 973; vgl. Abs. 2.1.7).46 Timm kritisiert am Terminus ›ethnische Ökonomie‹ sowohl die darin enthaltene Vorstellung einer Trennung von Kultur und Ökonomie, als auch seinen statischen Charakter, da diese Trennung nicht hinterfragt wird und als Idealzustand bzw. geltende Praxis hingenommen wird (vgl. Timm 2000: 363 f.). ›Ethnisch‹ sind demnach ›Koreaner in Los Angeles‹ oder ›Türken in Westberlin‹, die kleine Geschäfte betreiben, nicht aber französische Ökobauern oder Softwarefirmen deutscher Informatikstudierender in Einwanderungsgesellschaften (vgl. Boissevain et al. 1990; vgl. Schmidt 2000: 340). Diese Perspektive beinhaltet die Vorstellung von einer vorkapitalistischen Gegenwelt, die nach grundsätzlich anderen Prinzipien funktioniert als die Mehrheitsgesellschaft. Es wird davon ausgegangen, dass Tradition und ländliche Herkunft das wirtschaftliche Handeln prägen. Um eine solche Betrachtung von MigrantInnenökonomien zu vermeiden, fordert Timm die Einbeziehung von Bourdieus Theorie der Kapitalien in die Analyse von MigrantInnenökonomien. Kapital sei in all seinen Erscheinungsformen zu berücksichtigen (vgl. Timm 2000: 364 f.). Bei der Betrachtung migrantischen UnternehmerInnentums durch die Bourdieu’sche Brille sei Kultur keine a priori bestehende, Unterschiede schaffende Kate45 | Das Konzept der Transkulturalität geht auf Welsch zurück, der von einer Hybridisierung der Kulturen durch global veränderte Bedingungen ausgeht. Der freie Verkehr von Personen, Waren und Informationen verflechtet einstmals ›isolierte‹ Kulturen zu einem weitläufigen Netzwerk (vgl. Kapitel 2.1.2). 46 | In Reaktion auf die Kritik von Wimmer (2008b: 58) und Timm (2000: 364) wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff der ›MigrantInnengruppe‹ bzw. ›MigrantInnenökonomie‹ dem Begriff der ›Ethnie‹ bzw. ›ethnischen Ökonomie‹ vorgezogen.
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2 Theoretische Grundlagen gorie mehr. Stattdessen lässt sich die ›Ethnizität‹ einer Gesellschaft oder Ökonomie jetzt in Kapitalsorten aufteilen und diese in ein Verhältnis zueinander setzen, sodass sie a posteriori zum Ergebnis einer Analyse wird (vgl. ebd.: 370). Schmidt betont, dass Ethnizität keine »im Handgepäck der Einwanderer mitgebrachte Ressource [ist], sondern ihre Bedeutung oftmals erst durch die Marginalisierung im Einwanderungsland erhielt« (ebd. Schmidt 2000: 358). MigrantInnengemeinschaften, die hier auch imaginierte Gemeinschaften47 genannt werden, sind weder statisch noch homogen. Vorgestellt sind sie, weil ihre Mitglieder die meisten anderen Mitglieder »niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (Anderson 1996: 15). Vielmehr weisen sie unscharfe Ränder, Veränderungen und Brüche auf und sind in Untergruppen unterteilt (vgl. ebd.). Die Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnengruppen muss jedoch immer im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftspolitischer Deregulierung erodiert das Vollzeitarbeitsverhältnis auch dort zunehmend48 und unbezahlte Überstunden werden in immer mehr Bereichen die Regel. Zudem bildete sich in diesem Zuge ein ›neues Prekariat‹ von FreiberuflerInnen und Teilzeitbeschäftigten heraus. Lange Arbeitstage bei schlechter Bezahlung gibt es nicht nur in MigrantInnenökonomien.49 Insgesamt herrscht Einigkeit darüber, dass MigrantInnen als beruflich Selbständige bzw. als Angestellte in
47 | Der Begriff der imaginierten Gemeinschaften geht auf Benedict Andersons Konzept der imagined communities zurück. Als Nation definiert Anderson »eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän« (Anderson 1996: 15). Diese wird als begrenzt vorgestellt, da sie mit einer bestimmten Anzahl von Menschen in genau bestimmten, variablen Grenzen lebt. Souverän wird sie vorgestellt, da sie im Zeitalter von Revolution und Aufklärung Eingang fand in das Denken der Menschen. Die Nation wird als Gemeinschaft vorgestellt, da sie »unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ›kameradschaftlicher‹ Verbund von Gleichen verstanden wird«. Anderson bezeichnet alle Gemeinschaften, die größer sind als die Dorfgemeinschaften mit ihren Face-to-face-Kontakten als vorgestellte Gemeinschaften (vgl. ebd.: 16-17). 48 | Die Vollzeitarbeit geht in Deutschland nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit zugunsten der Teilzeitarbeit zurück. Während es im Juni 1999 noch 23,8 Millionen Vollzeitjobs gab, waren es im März 2009 nur noch 22,2 Millionen. Gleichzeitig nahm die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Teilzeitstellen von 3,7 auf 5,1 Millionen zu, was einer Zunahme von 36 Prozent entspricht (vgl. SZ o. N. 2009: 1, 17). 49 | In diesem Zusammenhang sind Liberalisierungspolitiken zu nennen, die sowohl Ladenöffnungszeiten als auch Löhne deregulieren und die Situation von MigrantInnenökonomien als Reaktion auf den Konkurrenzdruck in Richtung Selbstausbeutung lenken (vgl. Barrett, Jones und McEvoy 2001). Selbst bei hochqualifizierten und tarifvertraglich abgesicherten Tätigkeiten liegt etwa einer Studie der IG Metall zufolge die Differenz zwischen tariflicher und tatsächlicher wöchentlicher Arbeitszeit bei acht Stunden. Die Autoren der Studie berichten zudem, dass Angestellte bedingt durch die zunehmende Gruppenarbeit und die damit starke wechselseitige Abhängigkeit ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie keine Überstunden arbeiten (vgl. IG Metall, Wittel 1996 und Peters 1999 in Timm 2000: 373 f.).
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2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien der MigrantInnenökonomie in den meisten Fällen höhere Einkommen50 erzielen können als in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen auf dem ersten Arbeitsmarkt (vgl. Light und Gold 2000: 59 ff.). Ausbeutung von Arbeitskraft auf der Grundlage persönlicher Beziehungen ist demnach keine Erscheinung, die »MigrantInnen in die kapitalistische Produktion hineintragen oder in Auseinandersetzung mit ihr entwickeln«, sondern es handelt sich hier um eine wesentliche »Stütze der postfordistischen Regulation kapitalistischer Produktion« (Timm 2000: 374). Des Weiteren stellt Schmidt für die Gründungsphase von Kleinunternehmen heraus, dass nicht nur UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund Schwierigkeiten haben, Kredite von Banken zu erhalten. Auch ein Großteil einheimischer KleinunternehmerInnen ist auf Bürgschaften und Geldmittel aus dem Familien- und Freundeskreis angewiesen. Die Betonung der Nutzung sozialer Netzwerke für Preisabsprachen, wie sie bei Light bzgl. der Koreaner in Los Angeles’ Getränkemarkt vorkommen (ebd. 1987 zit. nach Schmidt 2000: 350), ist auch kein Alleinstellungsmerkmal von MigrantInnenökonomien. Auch im deutschen Baugewerbe werden immer wieder Kartelle gebildet (vgl. Schmidt 2000: 352). Kurzum werden in der Forschung über MigrantInnenökonomien, so die Kritik von Timm und Schmidt, Missstände herausgehoben, die besser in einem gesamtgesellschaftlichen bzw. -wirtschaftlichen Kontext diskutiert werden sollten. Zhou kritisiert im US-amerikanischen Kontext, dass MigrantInnenökonomien häufig nur auf ihre ökonomische Inklusion hin untersucht werden. Aspekte der sozialen Inklusion, wie Statusgewinn, die Vorbildfunktion für andere Gruppenmitglieder und die Festigung lokaler und internationaler sozialer Netzwerke finden zwar Erwähnung in einigen Studien, sind aber nicht fundiert untersucht worden (vgl. Zhou 2004: 15). Die vorausgegangene Kritik wird in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt, indem verstärkt auf neuere Ansätze im Forschungsfeld der MigrantInnenökonomien zurückgegriffen wird, die oben genannte Kritiken teilweise aufgegriffen und ältere Ansätze weiterentwickelt haben.
2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien 2.4.1 Transkulturalität als Praxis Das Konzept der ›Transkulturalität als Praxis‹, wie es von Pütz vorgestellt wurde, geht auf den Philosophen Wolfgang Welsch zurück, der traditionelle Kulturkonzeptionen ablehnt. Dem klassischen Kulturbegriff, so Welsch, fehlten elementare Differenzierungsmöglichkeiten, beispielsweise nach regional, sozial und funktional unterschiedlichen Kulturen. Er verurteilt 50 | Zu den methodischen Schwierigkeiten bei der Erfassung von Einkommen innerhalb von MigrantInnenökonomien s. Light und Gold 2000: 60 f.
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2 Theoretische Grundlagen ihn als kulturrassistisch, da er eine Unterteilung anhand des Merkmals ›Ethnie‹ vornehme (vgl. Abs. 2.3.5). Auch das Interkulturalitäts- oder das Multikulturalismuskonzept hält er für separatistisch und führt daher den Begriff der Transkulturalität ein, mit dem er aufzeigen will, dass neue Kultur- und Lebensformen durch alte Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen, sodass es zu einer Hybridisierung der Kulturen kommt (vgl. Welsch 1992: 5 ff.; Welsch 1999: 199). Vor dem Hintergrund verschiedener Globalisierungsdebatten geht er davon aus, dass »territorial verortbare homogene Kulturen aufgrund vielfältiger Verflechtungszusammenhänge nicht mehr angenommen werden könnten [. . . ]. Transkulturalität impliziert [. . . ] die Aufhebung der Kongruenz von Territorium und Kultur [. . . ]« (vgl. Welsch zit. nach Pütz 2004: 26). Kultur wird hier als kollektiv geteiltes, nicht aber an ein definierbares Kollektiv gebundenes, vielfach differenziertes und konstruiertes Deutungsschema verstanden, durch das sich AkteurInnen sinnhaft die Welt erschließen und erschaffen. Damit ist Kultur eine notwendige Voraussetzung jeglichen sozialen, und somit auch unternehmerischen Handelns (vgl. Pütz 2004: 30). ›Strategische Transkulturalität‹, wie sie oft im Zusammenhang mit unternehmerischem Handeln genannt wird, muss somit als Kompetenz angesehen werden, »mehr oder weniger souverän in unterschiedlichen Diskursfeldern absichtsvoll zu operieren« (Schiffauer 1997, zit. nach Pütz 2004: 31). Pütz kommt in seiner Studie über türkische UnternehmerInnen in Berlin zu dem Ergebnis, dass 58 Prozent der UnternehmerInnen für die Betriebsgründung Kapital aus der Familie in Anspruch genommen haben. Das soziale Kapital, das in diesem Fall aktiviert wurde, beruht auf der Zugehörigkeit zu einem geschlossenen Netzwerk, ist aber nicht an die Erwartung einer materiellen Gegenleistung geknüpft. Dieser Ressourcentransfer basiert auf einem moralischen Imperativ (ebd. 2004: 219). Dagegen ergibt sich das Sozialkapital in offenen Netzwerkstrukturen aus der Position eines Akteurs/einer Akteurin in einem größeren Netzwerk (vgl. Pütz 2004: 215 f.). Pütz stellt heraus, dass Beratungsleistungen in der türkischen Gemeinschaft überwiegend im weiteren Freundeskreis akquiriert werden, jedoch weder mittels professioneller kostenpflichtiger Beratungseinrichtungen noch über öffentliche Angebote (ebd.: 219). Die Perspektive der ›Transkulturalität als Praxis‹ teilt die Kritik an essentialistischen Kulturvorstellungen, während sie einen sensiblen Umgang mit alltäglichen und machtvollen, z. B. ethnisierenden Grenzziehungen findet (vgl. Pütz 2004: 28). Sie kann als Analyserahmen, aber auch als konkrete Handlungspraxis von Subjekten begriffen werden. Die Kritik aus den klassischen Erklärungsansätzen für MigrantInnenökonomien greift ebenfalls der Mixed-Embeddedness-Ansatz auf und entwirft auf deren Basis einen vielschichtigen Analyserahmen.
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2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien 2.4.2 Mixed-Embeddedness-Ansatz In ihrem Mixed-Embeddedness-Ansatz verbinden Kloosterman und Rath (vgl. Kloosterman, van der Leun und Rath 1999; Kloosterman und Rath 2003; Rath 2000; Rath und Kloosterman 2000; Rath 2002) zur Erklärung beruflicher Selbständigkeit bei MigrantInnen die Möglichkeitsstrukturen mit den individuellen Ressourcen von MigrantInnen und entwickeln damit den Interaktionsansatz weiter (vgl. Abs. 2.3.4). Die UnternehmerInnenrate innerhalb einer MigrantInnengruppe ist demnach vom Zusammenspiel sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Charakteristika und der Möglichkeitsstruktur abhängig. Unter Möglichkeitsstrukturen wird der institutionelle Rahmen zusammengefasst, z. B. die technologische Entwicklung, die Produktionsfaktoren, die Nachfrage und rechtliche Rahmenbedingungen (vgl. Tabelle 2; Kloosterman, van der Leun und Rath 1999: 3). Kategorien
Merkmale
Gruppencharakteristika (individuelle Ressourcen) Möglichkeitsstrukturen (institutionelle Rahmenbedingungen)
Sozialkapital (Netzwerke, Vertrauen) Humankapital (Qualifikationen) ökonomisches Kapital technologische Entwicklung, Produktionsfaktoren Rechtliche Rahmenbedingungen Marktbedingungen, Nachfrage Wohlfahrtssystem, Wohnungsmarktpolitik UnternehmerInnenverbände
Tabelle 2.2: Der Mixed-Embeddedness-Ansatz (Quelle: Kloosterman, van der Leun und Rath 1999; eigener Entwurf). Individuelle bzw. kollektive Ressourcen umfassen hingegen Qualifikationen, Netzwerke und ökonomisches Kapital. Über die soziale Einbettung individueller AkteurInnen hinaus wird der weitere gesellschaftliche Zusammenhang berücksichtigt, der ausschlaggebend ist für die Unternehmensgründung durch MigrantInnen. Zurückgehend auf Überlegungen Esping-Andersens, wie verschiedene institutionelle Rahmenbedingungen postindustrielle UnternehmerInnenkarrieren beeinflussen können, beschreiben sie unterschiedliche institutionelle Ausgangsbedingungen verschiedener UnternehmerInnenlaufbahnen. Dabei stellen Kloosterman et al. die Frage, ob berufliche Selbständigkeit unter MigrantInnen als ein Erklimmen der sozialen Leiter oder als eine Sackgasse interpretiert werden muss. Die Beantwortung dieser Frage hängt, so ihr Resümee, vom spezifischen Fallbeispiel ab (vgl. Kloosterman, van der Leun und Rath 1999: 2). 67
2 Theoretische Grundlagen Im Mixed-Embeddedness-Ansatz spielen Marktbedingungen eine besondere Rolle. Obwohl von Unternehmensgründungen häufig pauschal auf Sektoren mit niedrigen Eintrittsbarrieren, wie z. B. ein niedriges erforderliches Startkapital und geringe Qualifikationen geschlossen wird, entscheiden die Marktbedingungen über die Bereiche, in denen Unternehmensgründungen stattfinden (vgl. Kloosterman, van der Leun und Rath 1999: 8). Marktbedingungen sind wiederum eingebettet in institutionelle Rahmenbedingungen, wie u. a. das Wohlfahrtssystem, die Marktorganisation und die Wohnungsmarktpolitik, die ausschlaggebend ist für die räumliche Verteilung von MigrantInnen. Für Geschäftsgründungen gibt es für sie zwei mögliche Motive – eine Nachfrage nach speziellen Gütern aus den Herkunftsländern der MigrantInnen oder die Übernahme von Geschäften der Mehrheitsgesellschaft durch MigrantInnen, wenn diese Nachbarschaften verlässt, in denen die MigrantInnenzahlen steigen. Sie stellen fest, dass Gründungen in Kontinentaleuropa vor allem im Großhandel, Einzelhandel und in der Gastronomie zu verzeichnen sind. In diesen Branchen herrscht häufig ein existenzbedrohender Wettbewerb. Konkurrenz wird überwiegend über den Preis, kaum aber über Qualität ausgeübt. Eine wichtige Überlebensstrategie ist daher die Einsparung von Kosten, insbesondere von Löhnen. Diese Strategie ist innerhalb der gesetzlichen Richtlinien nur bedingt anwendbar. Werden diese allerdings überschritten, indem Steuern oder Sozialabgaben nicht bezahlt werden, gesetzliche Mindestlöhne unterschritten werden oder Arbeitszeitregelungen nicht eingehalten werden, tritt hier ein großer Handlungsspielraum für UnternehmerInnen auf (vgl. Kloosterman, van der Leun und Rath 1999: 9 f.). Hier kommen seitens der UnternehmerInnen Ressourcen wie Sozialkapital ins Spiel. Über ihre verwandtschaftlichen Netzwerke haben sie flexiblen Zugang zu Informationen, Kapital und Arbeitskraft zu relativ niedrigen Kosten, was ihnen einen klaren Wettbewerbsvorteil verschafft (vgl. ebd.: 10). 2.4.3 Strategien im Kontext von MigrantInnenökonomien Einer Darstellung typischer Strategien innerhalb von MigrantInnenökonomien geht an dieser Stelle die Einführung des Strategiebegriffes voraus. In der vorliegenden Arbeit werden sowohl Strategien von AkteurInnen, als auch Strukturen, in denen sie sich bewegen, wie z. B. gesetzliche Rahmenbedingungen, analysiert. Strukturen stehen grundsätzlich den individuellen Ressourcen vietnamesischer MigrantInnen gegenüber, während die Analyse der Strategien vietnamesischer UnternehmerInnen eine Überwindung der Dichotomie von Strukturalismus und Akteurszentrierung erlaubt (vgl. Giddens 1979: 49 ff., 95). Das Verhältnis von Strategie und Handlung bzw. von Strategien und Rationalitäten ist in der Soziologie Teil eines theo68
2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien retischen Diskurses. Einigkeit besteht innerhalb dieses Diskurses darin, dass Strategien rationale Entscheidungen zugrunde liegen müssen und dass sie im gewohnten sozialen Umfeld angewendet werden (vgl. Crow 1989: 2). Damit unterscheiden sie sich sowohl von Taktiken, als auch von sozialen Strukturen (vgl. ebd.: 19). Nach Wood und Kelly sind Strategien verständlich, zusammenhängend, langfristig angelegt und werden bewusst angewendet (vgl. Wood und Kelly 1982: 84). Eine Strategie ist durch alternative Handlungsoptionen definiert (vgl. Crow 1989: 3). Da der Strategiebegriff eine Wahlmöglichkeit beinhaltet, wirft er Fragen nach Machtverteilungen auf. Macht drückt sich im Kontext von arbeitsmarktrelevanten Strategien z. B. bei der Rekrutierung von MitarbeiterInnen über das familiäre Netzwerk aus (vgl. Grieco 1987 zit. nach Crow 1989: 4). Strategien werden jedoch nicht nur von dominanten Gruppen oder AkteurInnen, sondern als Reaktion darauf auch von dominierten AkteurInnen entwickelt und angewendet (vgl. Crow 1989: 4). Auch Interaktion spielt eine Rolle bei der Eingrenzung des Begriffes der Strategie und ist bei der Analyse von MigrantInnenökonomien von Interesse. Im Kontext von kleinen Familienunternehmen spricht Redclift von Überlebensstrategien. Diese unterscheiden sich in Strategien, die zum Erhalt der Rollen sozialer AkteurInnen in ökonomischen Krisen beitragen und solche, die ihrem Überleben als Individuen gelten. Auch wenn es zu einem Wechsel der sozialen Rollen von Individuen kommt, beispielsweise von UnternehmerInnen zu Arbeitslosen, behalten Individuen häufig die gleichen Strategien bei. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Überleben nicht immer strategisch gehandhabt wird, da in existenzgefährdenden Situationen oft nicht strategisch, sondern kurzfristig gehandelt wird. Demnach lassen strukturelle Beschränkungen oft keine Wahlmöglichkeiten zu (vgl. Redclift 1986: 219). Kleine Unternehmen agieren häufig in unkalkulierbaren Umgebungen und ihre Überlebensstrategien dienen der Risikominimierung (vgl. Crow 1989: 6). Jenkins benutzt den Begriff ›Überlebensstrategie‹ im Hinblick auf MigrantInnenökonomien und definiert diese als Strategie, die angewendet wird, um in der mehrheitsgesellschaftlich dominierten Ökonomie bestehen zu können (vgl. Jenkins 1984: 231). Diese Strategien bewirken nicht nur das Überleben eines Unternehmens, sondern sichern im weiteren Sinne die Reproduktion gesellschaftlich marginalisierter Gruppen (vgl. Crow 1989: 6). Neben diesen Ausführungen zum Begriff der Strategie in unterschiedlichen Kontexten existieren ebenfalls Überlegungen, die aus der Forschung über MigrantInnenökonomien stammen. Waldinger et al. verstehen unter Strategien die Anpassung von UnternehmerInnen an die verfügbaren Ressourcen ihrer Gruppe (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 46). Strategien, so führen Boissevain et al. weiter aus, entstehen durch die Interaktion von Gruppencharakteristika und Möglichkeitsstrukturen (vgl. 69
2 Theoretische Grundlagen Boissevain et al. 1990: 131). Ressourcen innerhalb von MigrantInnengemeinschaften bezeichnen Light und Bonacich als sozio-kulturelle Besonderheiten einer Gruppe, von denen UnternehmerInnen profitieren können sowie deren Möglichkeit, über ihr Netzwerk Ressourcen zu mobilisieren (vgl. Light und Bonacich 1988: 178). Obwohl unterschiedliche Gruppen verschiedene Hintergründe haben, tauchen in ihren Strategien Parallelen auf. Somit ergeben sich kollektive Unternehmensstrategien, die nicht zentral koordiniert sind, sondern auf gemeinsamen Ressourcen basieren (vgl. Boissevain et al. 1990: 133). Familien entwickeln Strategien nicht nur zur Einkommensmaximierung, sondern auch zur Risikominimierung auf Haushaltsebene. Selten werden Entscheidungen individuell von einzelnen AkteurInnen getroffen, sondern meist kollektiv durch Haushalte (vgl. Massey 1990: 9). Diese Risikominimierung wird v. a. über das ständige Anwachsen von MigrantInnennetzwerken erreicht, die neben einer Diversifizierung der Risiken auch zu einer Kostenminimierung für alle Mitglieder des Netzwerkes führt (vgl. ebd.: 10). Kosten können z. B. als zeitliche Ressourcen bei der Arbeitssuche eingespart werden. Diese Erkenntnisse können auf MigrantInnenökonomien übertragen werden, die überwiegend in Form von Familienunternehmen organisiert sind. Elwert et al. beschreiben ebenfalls kollektive Handlungsstrategien für den Herkunftskontext auf Haushaltsebene, die auf MigrantInnen im Aufnahmekontext übertragen werden können. Dafür greifen MigrantInnen auf die wechselnde Verbindung ökonomischer Aktivitäten und auf sichernde Netzwerke zurück (vgl. Elwert, Evers und Wilkens 1983: 284). Diese Absicherung durch verschiedene ökonomische Aktivitäten innerhalb eines Haushaltes skizzieren Boissevain et al. anhand der türkischen Ökonomie in Berlin (s. u.). Märkte, in denen die möglichen Gewinnspannen gering sind, werden durch MigrantInnen unter Ausbeutung der Familienarbeitskraft gewinnbringend eingenommen. Diese Strategie wird häufig mit extrem langen Öffnungs- und Arbeitszeiten kombiniert, was die MigrantInnenökonomie zu einem gegenüber heimischen Betrieben durchaus wettbewerbsfähigen Wirtschaftszweig macht. Instabile und unsichere Branchen wie die Textilindustrie oder das Baugewerbe sind durch niedrige Zugangsbarrieren gekennzeichnet und können als Kleinbetriebe durch MigrantInnen gewinnbringend bewirtschaftet werden (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 26 f.). Strategien im Kontext von MigrantInnenökonomien werden als Antwort auf sieben Herausforderungen entwickelt, denen UnternehmerInnen bei der Betriebsgründung und -führung begegnen (vgl. Boissevain et al. 1990: 132 ff.; Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 46 f.). Erstens werden erforderliche Informationen zur Unternehmensgrün70
2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien dung und -führung über das persönliche Netzwerk innerhalb der eigenen MigrantInnengemeinschaft bezogen. Die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung einer MigrantInnengemeinschaft hängen von ihrer Größe und Verweildauer im Aufnahmeland ab (vgl. Boissevain et al. 1990: 136). Zweitens erfolgt die Beschaffung des Kapitals für die Unternehmensgründung oder -expansion aus persönlichen Ersparnissen oder über sogenannte Kreditrotationssysteme51 innerhalb der MigrantInnengemeinschaft. Selten werden Kredite bei Banken aufgenommen und nur äußerst selten bringen MigrantInnen bereits bei ihrer Migration Kapital mit (vgl. Boissevain et al. 1990: 137). UnternehmerInnen sind in der Lage, selbst eine hohe Summe an Startkapital anzusparen, indem sie als Angestellte Überstunden – teilweise in verschiedenen Jobs – arbeiten und so einen Zusatzverdienst erwirtschaften (vgl. ebd.: 138). Drittens erwerben Mitglieder der MigrantInnengemeinschaft Kenntnisse und Berufspraxis für die Unternehmensführung innerhalb der MigrantInnenökonomie (vgl. Boissevain et al. 1990: 133 f.). Die Reziprozität, die durch die Rekrutierung über das soziale Netzwerk entsteht, mindert die Gefahr der Kündigung seitens der MitarbeiterInnen und führt somit zu einer größeren Anstrengung des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin, MitarbeiterInnen gut auszubilden. Obwohl innerhalb der Nische der MigrantInnenökonomien gute Aufstiegsmöglichkeiten bestehen, gibt es wenige Möglichkeiten, vom migrantischen in den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln, da es in ersterem weder ausreichende Arbeitsmarktinformationen noch eine ›strukturierte Karriereleiter‹ gibt (vgl. ebd.: 140). Durch die geringen Betriebsgrößen haben MitarbeiterInnen Einblick in alle Arbeitsbereiche, was ihnen als Angestellte großer Firmen in der Regel verwehrt bleibt. Mit diesem Wissen sind sie gut vorbereitet für den Schritt in die eigene berufliche Selbständigkeit. Daher sind MigrantInnenökonomien als Vehikel für Wissenstransfers und Unternehmensgründungen zu verstehen (vgl. ebd.: 140 f.). Viertens erfolgt eine strategische Rekrutierung von effizienter, vertrauenswürdiger und billiger Arbeitskraft, die teilweise nicht entlohnt wird. Die Bereitschaft von Familienmitgliedern zu langen Arbeitstagen und ihre hohe Loyalität führt bei UnternehmerInnen zu einer großen Verantwortung für ihre Angestellten, auch wenn es häufig zur Ausbeutung kommt (vgl. Boissevain et al. 1990: 143). Fünftens müssen UnternehmerInnen in MigrantInnenökonomien KundInnen- und Zulieferkontakte knüpfen. Eine KundInnenbindung wird in Kleinstunternehmen durch Kredite, kurze Gespräche und andere Extraleistungen erzielt, die sich nachteilig auf die Unternehmen auswirken 51 | Zum wechselseitigen Leihen von Startkapital für Unternehmensgründungen über soziale Netzwerke innerhalb von MigrantInnenökonomien vgl. Light 1972: 22. Zu Kreditrotationssystemen s. auch Geertz 1962 und Putnam 1993: 167 ff.
71
2 Theoretische Grundlagen können (vgl. Boissevain et al. 1990: 144 f.). Daher sind Geschäfte, die außerhalb von residentiellen Agglomerationen einer MigrantInnengemeinschaft angesiedelt sind, häufig erfolgreicher (vgl. ebd.: 146). Sechstens müssen UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund Strategien zum Umgang mit Konkurrenz entwickeln, denn ähnliche Qualifikationen der MigrantInnen führen zu ähnlichen Unternehmen und Zukunftsplänen (vgl. Boissevain et al. 1990: 146). Selbstausbeutung durch längere Arbeitszeiten, lange Ladenöffnungszeiten, Zustelldienste und günstige Kreditkonditionen für die Kundschaft können Folgen großer Konkurrenz sein. Eine Unternehmenserweiterung durch die Eröffnung von Filialen, Produktions- oder Großhandelsbetrieben und Mitgliedschaft in einer UnternehmerInnenvereinigung sind weitere Strategien im Umgang mit Konkurrenz (vgl. ebd.: 145 ff.). Durch den Austausch über Preise, Kosten, KundInnen und neue Gesetze kann eine gegenseitige Ruinierung verhindert werden (vgl. ebd.: 150). Siebtens sind MigrantInnenunternehmen häufig Kontrollen durch Behörden ausgeliefert. Grund dafür ist ihr schlechter Zugang zu Informationen über Gesetze und Regulierungen, was die Zahlung von Bußgeldern zur Folge haben kann. Um dies zu vermeiden, werden nicht selten Bestechungsgelder gezahlt, gesetzliche Schlupflöcher genutzt oder Proteste organisiert (vgl. Waldinger, Aldrich und Ward 1990b: 46 f.; Boissevain et al. 1990: 151 ff.). Die dargelegten Ansätze zur Erklärung von MigrantInnenökonomien orientieren sich grundlegend, wenn auch unterschiedlich stark an Arbeitsmarktstrukturen der Aufnahmegesellschaft. Inklusion wird im Folgenden zunächst in sozialer Hinsicht und davon ausgehend am Beispiel des deutschen Arbeitsmarktes dargestellt. 2.4.4 Strukturalistische Ansätze In Deutschland wurde unter Inklusion lange Zeit nur die strukturelle oder systemische Inklusion begriffen, d. h. die Inklusion in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem. Heute wird von einer Mehrdimensionalität des Begriffes ausgegangen. Neben der strukturellen Inklusion können die politisch-rechtliche Inklusion (aufenthaltsrechtlicher Status bzw. Einbürgerung, Wahlrecht), die kulturelle oder identifikatorische Inklusion (Sprache, Werte, Lebensstile) und die soziale Inklusion (Netzwerke, Beziehungen) unterschieden werden (vgl. Schuleri-Hartje, Floeting und Reimann 2005: 15). Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der Arbeitsmarktinklusion, die eng mit den anderen Dimensionen der Inklusion zusammenhängt. Inklusion bezieht sich jedoch nicht immer auf zugewanderte Gruppen oder Personen. Häußermann und Siebel (2004) thematisieren, dass sich auch Teile der Aufnahmegesellschaft mit Inklusionsproblemen konfrontiert 72
2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien sehen. Insbesondere innerhalb von Großstädten kommt es zur Exklusion einzelner Personengruppen, worunter der Ausschluss aus einem System oder Teilsystem, wie hier der Gesellschaft, verstanden wird (vgl. Kronauer 2002). Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es Exklusionsmechanismen, die von formalen Kriterien bis hin zu Diskriminierungen reichen können. Im Fokus der Stadtpolitik und der sozialwissenschaftlichen Forschung standen lange Jahre die Anpassungsleistungen von MigrantInnen. Die dazu unter dem Stichwort Assimilation bestehenden sozialökologischen Ansätze der Chicagoer Schule um Burgess und Park (vgl. Burgess und Park 1921) wurden später erweitert durch Gordons Stufenmodell (vgl. Gordon 1964), den systemtheoretischen Ansatz von Hoffmann-Nowotny (vgl. HoffmannNowotny 1973), sowie durch das handlungstheoretische Modell von Esser (vgl. Esser 1980; Esser 2003). Insbesondere an Esser, der MigrantInnen die Assimilation (Angleichung an die Aufnahmegesellschaft) und die Segmentation (Abspaltung, Rückzug in die eigene MigrantInnengemeinschaft) als mögliche Handlungsalternativen zuspricht, wurde aus weiten Teilen der Inklusionsforschung Kritik laut (vgl. u. a. Greshoff 2006). Den Prozess der Assimilation beschreibt er als stufenweise verlaufenden Einschluss von Personen in die Aufnahmegesellschaft bei gleichzeitigem Ausschluss aus der MigrantInnengemeinschaft. Das Modell enthält keine normativen Vorgaben in Form von Handlungsanweisungen, d. h. die Assimilation in die Gesellschaft wird von Esser nicht als der ›Königsweg‹ propagiert, sondern lediglich als »deutlichster Trend der intergenerationellen Inklusion« bewertet (Greshoff 2006: 25). Die soziale Inklusion wird in der vorliegenden Arbeit in engem Zusammenhang mit der Arbeitsmarktinklusion betrachtet. Die Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen wird häufig auf der Basis der dualen Arbeitsmarkttheorie diskutiert (vgl. Piore 1979: 35 ff.). Die Dualität des Arbeitsmarktes wird dabei als »fundamental dichotomy between the jobs of migrants and the jobs of natives« angesehen (Piore 1979: 35). Die duale Arbeitsmarkttheorie geht von einer Teilung in einen stabilen primären Arbeitsmarkt mit hohen Löhnen, guten Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen aus, während diese Charakteristika auf dem zweiten Arbeitsmarkt nicht gegeben bzw. gegenteilig sind. Der zweite Arbeitsmarkt ist durch die Unsicherheit seiner Jobs geprägt, die häufig von MigrantInnen ausgeführt werden (vgl. ebd.: 39). Gleichzeitig sichert er die Jobs der Mehrheitsgesellschaft (vgl. ebd.: 40). Der grundlegende Unterschied zwischen Kapital- und ArbeitskrafteignerInnen liegt darin, dass erstere in kapitalistischen Systemen den Produktions- und Arbeitsprozess organisieren und kontrollieren, während letztere saisonale Nachfragespitzen kompensieren. »In this sense, the most basic dualism in the economy is between capital and labor« (Piore 1979: 36 f.). Die Trennung zwischen erstem und zweitem Arbeitsmarkt verläuft allerdings auch anhand von Qualifikationen (vgl. ebd.: 37 f.). Die Theorie des dualen Arbeitsmarktes liefert eine Erklärung 73
2 Theoretische Grundlagen dafür, warum das Interesse am Zuzug von MigrantInnen seitens des globalen Nordens gegeben ist. Denn anders als durch Migration lassen sich unsichere, schlecht bezahlte Jobs, für die niedrige Qualifikationen ausreichen, die aber nötig sind, um eine Wirtschaft aufrecht zu erhalten, oftmals nicht besetzen (vgl. ebd.: 41 f.). Nach der dualen Arbeitsmarkttheorie sind zwei Eigenschaften von Arbeitsmärkten in den Aufnahmeländern von MigrantInnen ausschlaggebend: Die Struktur und dabei vor allem die Nachfrage nach gering qualifizierter und ungelernter Arbeitskraft sowie das Ausmaß der Flexibilität und damit die Offenheit gegenüber MigrantInnen. Auch das generelle Wirtschaftsklima spielt für MigrantInnen eine große Rolle, da sie von Rezessionen besonders betroffen sind (vgl. Kogan 2007: 49 f.). Die erhöhte Sensibilität des Arbeitsmarktes für MigrantInnen gegenüber konjunkturellen Schwankungen wirkt sich besonders auf die migrantischen Beschäftigungsquoten aus (vgl. Jones 1993). Die Theorie des dualen Arbeitsmarktes wurde bisher nur von wenigen Autoren auf die Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen angewendet (vgl. Granato 2003; Portes und Wilson 1980; Portes und Bach 1985; DeFreitas 1988). Die Teilung des Arbeitsmarktes wird von Massey et al. als strukturell und demnach unvermeidbar beschrieben (vgl. Massey et al. 1993: 440 ff.). Portes und Wilson (Portes und Wilson 1980: 300) argumentieren, dass Humankapital und Arbeitserfahrung von MigrantInnen unbedeutend sind, da Arbeitskraft auf dem zweiten Arbeitsmarkt nicht anhand von Qualifikation, sondern aufgrund ihres verwundbaren Status rekrutiert wird. Allerdings funktionieren kapitalintensive Arbeitsmärkte nicht nur anhand von Profitmaximierung, sondern auch institutionelle Rahmenbedingungen spielen eine große Rolle. Unternehmen investieren in die Aus- und Weiterbildung ihrer Arbeitskräfte, insbesondere im Falle anspruchsvoller Tätigkeitsbereiche. Kündigungen können für den/die ArbeitgeberIn teuer werden, da in den Arbeitskräften ein großes Kapital steckt. Im Gegensatz dazu sind ArbeiterInnen in arbeitsintensiven Bereichen mit niedrigen Qualifikationen leichter austauschbar (vgl. Kogan 2007: 15). In diesen niedrig entlohnten Jobs mit unregelmäßigen Arbeitszeiten und schlechten Arbeitsbedingungen mit geringen Aufstiegsmöglichkeiten sind häufig MigrantInnen beschäftigt (vgl. ebd.: 16). Einwanderungspolitiken (vgl. Borjas und Tienda 1993) und Arbeitsmarktpolitiken (vgl. Piore 1979; Castles und Kosack 1985; Sassen 1988; Sassen 1991) spielen eine große Rolle im Eingliederungsprozess von MigrantInnen in den Arbeitsmarkt und sind ausschlaggebend für dessen Verlauf. Die oben genannten Studien untersuchen allerdings jeweils nur einen der beiden Faktoren und es fehlt eine Untersuchung, in der beide Faktoren miteinander verbunden werden (vgl. Kogan 2007: 21). Portes et al. (vgl. Portes und Manning 1986; Portes und Böröcz 1989; Portes und Rumbaut 74
2.4 Neue Erklärungsansätze für MigrantInnenökonomien 2001) zählen zu den beiden oben genannten Faktoren die bereits bestehenden Charakteristika der jeweiligen MigrantInnengemeinschaft hinzu und betonen deren Interaktion (vgl. Kogan 2007: 22). Andere AutorInnen bringen Faktoren wie das Bildungssystem, den Wohlfahrtsstaat und den Markt in ihre Analysen mit ein (vgl. Reitz 1998; Freeman und Ögelman 2000). Alle angeführten AutorInnen sind sich darin einig, dass sowohl die politischen Rahmenbedingungen als auch die Arbeitsmarktbedingungen eine entscheidende Rolle spielen. Kogan verwendet als Analysefaktoren die Einwanderungspolitik, die Arbeitsmarktstruktur und -regulierung sowie das Wohlfahrtssystem. Sie kommt zu dem Schluss, dass diese innerhalb der europäischen Staaten stark variieren. Der Prozess der Arbeitssuche läuft für MigrantInnen in mehreren Hinsichten spezifisch ab. Eine Arbeitssuche verursacht auf der einen Seite Kosten und beinhaltet eine Unsicherheitsvariable bezüglich des Erfolges auf der anderen Seite. Sobald der Nutzen einer gegebenen Alternative einen bestimmten Grenzwert, d. h. einen Schwellenlohn, überschreitet, stellen potentielle ArbeitnehmerInnen ihre Arbeitssuche ein. Hieraus kann abgeleitet werden, dass MigrantInnen vermutlich höhere Suchkosten aufwenden müssen, da ihnen spezifisches Wissen und Sozialkapital für die Arbeitssuche fehlen. Gründe dafür sind erstens, dass ihnen möglicherweise weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um die Phase der Arbeitslosigkeit und der Jobsuche zu überstehen (vgl. Kogan 2007: 12). Zweitens gibt es die Möglichkeit, dass MigrantInnen Diskriminierungen bei der Jobsuche befürchten, unabhängig davon, ob diese tatsächlich bestehen. Als Diskriminierung sind Benachteiligungen einzelner ArbeitnehmerInnen gegenüber anderen ArbeitnehmerInnen mit gleicher Qualifikation zu verstehen, die häufig vom Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin ausgehen (vgl. ebd.: 12). Diskriminierungen werden u. a. durch einen Wettbewerbsmangel auf der Nachfrageseite nach Arbeit erklärt (vgl. ebd.: 11). Drittens könnte der Nutzen einer weitergehenden Jobsuche von MigrantInnen geringer eingestuft werden, sodass MigrantInnen früher aufhören, nach besseren Jobalternativen zu suchen als Jobsuchende ohne Migrationshintergrund (vgl. ebd.: 13). Arbeitsschutzregelungen sind ein wichtiges Element von Arbeitsmarktpolitiken und umfassen u. a. Anstellungs- und Kündigungsgesetze, die ArbeitnehmerInnen einen größeren Schutz gewähren sollen (vgl. Kogan 2007: 60). Nach Untersuchungen der OECD (OECD 1999) und EspingAnderson (Esping-Anderson 1999; Esping-Anderson 2000) führen strengere Arbeitsschutzgesetze zu einer weiteren Kluft zwischen Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt, da sowohl rezessionsbedingte Kündigungen als auch konjunkturbedingte Anstellungen mit rigideren Gesetzen verringert werden. Kogan fasst aus den Ergebnissen unterschiedlicher Studien zusammen, dass MigrantInnen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bei 75
2 Theoretische Grundlagen gleichen Voraussetzungen bezüglich Alter, Familienstand und Humankapital weniger gewillt sind, auf soziale Transferleistungen zurückzugreifen als NichtmigrantInnen (vgl. Kogan 2007: 65). Portes und Rumbaut fanden für die Arbeitsmarktinklusion von MigrantInnen in den USA heraus, dass UnternehmerInnenraten zwischen verschiedenen Gruppen stark variieren und dass Gruppen, die am häufigsten selbständig sind, am häufigsten Angestellte beschäftigen (vgl. Portes und Rumbaut 2006: 83 f.). Zur Erklärung dient das Kulturmodell, nach dem der kulturelle Hang zur Selbständigkeit ausschlaggebend ist für die unterschiedlichen Selbständigkeitsraten. Niedrige Bildung wird in dieser Studie nicht als ausschlaggebend für die Selbständigkeitsraten von MigrantInnengruppen herausgestellt (vgl. ebd.: 88). Für MigrantInnen im Aufnahmekontext liefern Politiken der Regierung, die Beschaffenheit des Arbeitsmarktes und die Eigenschaften ihrer eigenen MigrantInnengruppe die wichtigsten Zusammenhänge (vgl. ebd.: 92 f.). Eine entscheidende Fähigkeit von MigrantInnen liegt darin, mit der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt umzugehen. Mangelnder Zugang zu Ressourcen und Informationen macht MigrantInnen besonders anfällig für Diskriminierungen (vgl. ebd.: 94). Diskriminierungen und Probleme beim Einstieg in den Arbeitsmarkt können durch eine MigrantInnengruppe am Ankunftsort abgefedert werden. Netzwerke liefern die entscheidenden Informationen über freie Stellen und Kredite bzw. Unterstützung für Unternehmensgründungen (vgl. ebd.: 95; vgl. Abs. 2.4.3). MigrantInnengemeinschaften unterscheiden sich in mehreren Dimensionen, doch für ihre sozio-ökonomische Etablierung ist ausschlaggebend, ob sie überwiegend aus ArbeiterInnen oder Fachleuten und UnternehmerInnen bestehen. MigrantInnengruppen üben jedoch auch sozialen Druck auf Individuen aus, z. B. auf neuankommende hoch motivierte und begabte MigrantInnen, die nicht erfolgreicher sein sollten als ältere MigrantInnen. Dieser Druck kann dazu führen, dass eine MigrantInnengemeinschaft bzgl. Lohnhöhe und Beschäftigungsarten keine Weiterentwicklung erfährt und bestimmte Individuen im Verhältnis zu ihrem Humankapital unterdurchschnittlich entlohnt werden (vgl. Portes und Rumbaut 2006: 95 f.). Staatliche Politiken variieren von einer extrem starken bis schwachen Regulierung des Marktzugangs von MigrantInnen. Auch die Förderung von MigrantInnenökonomien durch staatliche Programme variiert stark innerhalb westlicher Sozialstaaten. In Deutschland ist es MigrantInnen grundsätzlich nur mit einer Niederlassungserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung mit Sondererlaubnis52 gestattet, ein Unternehmen zu 52 | Einem/r AusländerIn kann eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erteilt werden, wenn ein übergeordnetes wirtschaftliches Interesse oder ein besonderes regionales Bedürfnis besteht, die Tätigkeit positive Auswirkungen auf die Wirtschaft erwarten lässt und die Finanzierung der Umsetzung durch Eigenkapital oder durch
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2.5 Zwischenfazit gründen. Bundesweite Programme, die speziell beruflich selbständige MigrantInnen fördern, gibt es nur wenige. Ihnen bleibt also hauptsächlich die Unterstützung durch gesamtgesellschaftlich ausgerichtete ExistenzgründerInnenprogramme, zu denen ihnen u. a. durch sprachliche, Informationsoder konzeptionelle Defizite in der Unternehmensplanung häufig der Zugang verwehrt bleibt.53
2.5 Zwischenfazit Obwohl nicht alle transnationalen Aktivitäten positive Auswirkungen auf die soziale Mobilität von MigrantInnengruppen im Aufnahmekontext haben, stellen sie doch neue Möglichkeiten dar. Durch die Aufnahme transnationaler Aktivitäten kann eine strukturelle Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes umgangen werden und es können alternative Strategien jenseits der nationalstaatlichen Grenzen gefunden werden. Eine transnationale Ausrichtung kann MigrantInnenökonomien zu einer horizontalen und vertikalen Inklusion verhelfen und diese konkurrenzund entwicklungsfähiger machen. Die vorliegende Studie betrachtet auf der einen Seite VietnamesInnen in Berlin und deren Arbeitmarktinklusion, Vernetzung und soziale Einbettung und auf der anderen Seite transnationale Aktivitäten im Bereich des Handels im Hinblick auf Rücküberweisungen und RückkehrerInnen. Dadurch leistet sie einen Beitrag zur Diskussion um den Zusammenhang von Migration und Entwicklung. Da RückkehrerInnen grenzübergreifende Beziehungen nur in den seltensten Fällen abbrechen, ist eine Analyse von Rückkehr und Entwicklung nur mit einem transnationalen Ansatz sinnvoll (vgl. Faist 2007: 11). Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies, dass Rückkehr nicht als ›Endstation einer Migrationskarriere‹, sondern als ein Abschnitt im Leben von MigrantInnen betrachtet wird, der durchaus reversibel ist.
eine Kreditzusage gesichert ist. In der Regel wird AusländerInnen eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis bei einer Investition von mindestens 1 Mio. Euro und der Schaffung von mindestens 10 Arbeitsplätzen (§ 21 AufenthG) erteilt (Industrie- und Handelskammer 2008 »Ausländerrecht III- Selbständigkeit von Ausländern«, S. 1). 53 | Für eine genaue Darstellung von Fördermöglichkeiten von MigrantInnen in Deutschland vgl. Goethe und Hillmann 2008.
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3 Einordnung des Fallbeispiels Das folgende Kapitel liefert Hintergrundinformationen zur Migration von VietnamesInnen nach Deutschland und zu VietnamesInnen in Deutschland. Es beginnt mit einer kurzen Darstellung des Status quo, der dem/der Lesenden die quantitativen Ausmaße des Themas näherbringt. Ein historischer Abriss beschreibt die Umstände, unter denen VietnamesInnen in die DDR eingewandert sind und dort gearbeitet und gelebt haben, da diese prägend waren für die Nachwendezeit. Darüber hinaus legten sie den Grundstein für die heutigen sozialen und ökonomischen Strukturen vietnamesischer MigrantInnen in Berlin. Der Transformationsphase von 1990 bis 1997, der Zeit der »Ungewissheit« für die vietnamesische Gemeinschaft in Deutschland, ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Anschließend werden kurz aktuelle Migrationsmuster von VietnamesInnen dargestellt. Im zweiten Teil des Kapitels richtet sich der Fokus auf die demographische Struktur und geographische Verteilung der VietnamesInnen in Berlin. Auch kulturelle Hintergründe und das familiäre Zusammenleben haben einen Einfluss auf die in den Interviews betrachteten Aspekte und werden in Abschnitt 3.2.2 eingeführt. MigrantInnenvereine und -organisationen sind wichtige Institutionen innerhalb der vietnamesischen Gemeinschaft und ihre LeiterInnen Teil der Untersuchungsgruppe, so dass ihnen ein eigener Abschnitt (3.2.3) gewidmet wird. Abschnitt 3.3 liefert einen Exkurs mit Hintergrundinformationen zur Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors in Vietnam, der ebenfalls einen Einblick in die soziale und politische Situation in Vietnam erlaubt. Dieser Abschnitt bietet eine Hilfestellung, die Strukturen und Handlungsweisen der VietnamesInnen in Deutschland einzuordnen und auch die Ursachen für die in dieser Arbeit behandelte Migration und Remigration zu erkennen. Er zeigt auf, warum in der Interpretation von MigrantInnenökonomien keine vorschnellen, kulturalistischen Erklärungen getroffen werden sollen.54
54 | Da kulturalistische Zuschreibungen in der vorliegenden Arbeit vermieden werden, ist die Einordnung des Forschungsgegenstandes anhand des Herkunftskontextes unbedeutend für die vorliegende Analyse. Soziodemographischen und ökonomischen Überblicksdaten wird daher kein eigenes Kapitel gewidmet – auch, da diese in einem dynamischen Land wie Vietnam ständigen Veränderungen unterliegen. Verwiesen sei an dieser Stelle auf das umfangreiche, fortlaufend durch Vietnamexperten aktualisierte LI-Portal von InWent (http://liportal.inwent.org/vietnam.html/) und das General Statistics Office of Vietnam (http://www.gso.gov.vn/default_en.aspx?tabid=467&idmid=3&ItemID=7352).
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3 Einordnung des Fallbeispiels
57%
17%
27 000 Personen mit Migrationserfahrung und deutscher Staatsbürgerschaft 20 600 Personen ohne eigene Migrationserfahrung mit vietnamesischer Staatsbürgerschaft 71 200 Personen mit eigener Migrationserfahrung mit vietnamesischer Staatsbürgerschaft 4 900 Personen ohne Angabe
22% 4%
Abbildung 3.1: VietnamesInnen in Deutschland nach detailliertem Migrationsstatus im Jahr 2005 (Quelle: Mikrozensus 2005; eigene Darstellung).
3.1 VietnamesInnen in Deutschland Heute leben in Deutschland ca. 83.000 VietnamesInnen sowie weitere 38.000 Personen mit vietnamesischem Migrationshintergrund, wobei es seit 2002 jährlich zwischen 1000 und 1500 Einbürgerungen gab (vgl. Statistisches Bundesamt 2009a). Nach Angaben des Mikrozensus sind unter den 123.700 im Jahr 2005 in Deutschland lebenden Personen mit vietnamesischem Migrationshintergrund 27.000 Eingebürgerte mit Migrationserfahrung, 20.600 Personen ohne eigene Migrationserfahrung mit vietnamesischer Staatsbürgerschaft und 71.200 VietnamesInnen der ersten Generation, die ebenfalls nicht eingebürgert sind. Über Einbürgerungen in der zweiten Generation liegen keine Daten vor (vgl. Abb. 3.1). Die Geschichte der Migration von Vietnam in die DDR begann mit den ›MoritzburgerInnen‹55 , einer Gruppe von 348 SchülerInnen. Folgend auf die ›MoritzburgerInnen‹ kamen im Rahmen der Aktion ›Solidarität hilft siegen‹ vor allem in den 1960er und 70er Jahren vietnamesische Studierende,
55 | Bei den ›MoritzburgerInnen‹ handelte es sich um eine Gruppe von Kindern im Alter von 10-14 Jahren, die 1955 und ’56 in Moritzburg bei Dresden im Rahmen einer Solidaritätsaktion zur schulischen und beruflichen Ausbildung aufgenommen wurden. Viele der ›MoritzburgerInnen‹ absolvierten nach der Schule eine Ausbildung oder ein Studium in der DDR und kehrten erst als Erwachsene nach Vietnam zurück (vgl. Weiss 2005a: 25). Ihre Gruppe bildet in Vietnam weiterhin einen sehr starken Zusammenhalt und befindet sich in hohen beruflichen und sozialen Positionen (vgl. z. B. UnternehmerInnen V22, 23, 24, 25). Für weiterführende Informationen über die ›MoritzburgerInnen‹ vgl. Freytag 1998.
80
3.1 VietnamesInnen in Deutschland
Abbildung 3.2: Deutsch-vietnamesisches Migrationssystem (Konzept: Antonie Schmiz; Kartographie: Matthias Scheibner). SchülerInnen, Auszubildende und PraktikantInnen in die DDR.56 Seitens der DDR galt sowohl die Qualifizierung von VietnamesInnen als auch die Aufnahme vietnamesischer Arbeitskräfte als Hilfe für das ›sozialistische Bruderland‹ (vgl. Weiss 2005a: 25, Schmiz 2006: 28; s. auch Ausbildungsabkommen 1980). Fast alle SchülerInnen und Studierende sind nach der Ausbildungszeit nach Vietnam zurückgekehrt (vgl. Weiss 2005a: 25). Bei der größten Gruppe von VietnamesInnen in Deutschland handelt es sich um die WerkvertragsarbeitnehmerInnen, i. F. kurz als VertragsarbeiterInnen bezeichnet, die seit 1980 seitens der DDR zum Arbeiten rekrutiert wurden und zu einem erheblichen Anteil in Deutschland blieben. Während in den Osten Deutschlands überwiegend NordvietnamesInnen einwanderten, bildeten die SüdvietnamesInnen den größten Anteil der nach Westdeutschland eingewanderten VietnamesInnen. Nach Westdeutschland kamen seit den 1960er Jahren vietnamesische Studierende. Seit 1978 wanderte die überwiegende Anzahl der VietnamesInnen als politische Flüchtlinge zu, so genannte Boat People, die vor Ho Chi Minh und der seit 1975 das wiedervereinigte Vietnam regierenden kommunistischen Partei 56 | Genaue Zahlen über die Zuwanderung aus Vietnam zu Qualifizierungszwecken liegen nicht vor. Insgesamt sind ca. 42.000 ausländische Studierende bis 1988 in die DDR gekommen. Es werden 2.639 vietnamesische PraktikantInnen, die in der Zeit von 1966 bis ’72 geschult wurden sowie 9.400 vietnamesische Auszubildende von 1973 bis 1981 genannt (vgl. Elsner und Elsner 1992: 16-18). Eine andere Quelle geht von 50.000 vietnamesischen Studierenden aus, die in der DDR studiert haben (vgl. Waldherr 2004).
81
3 Einordnung des Fallbeispiels flohen (vgl. EV3; vgl. Abb. 3.2). Die 33.000 vor der Wiedervereinigung in Westdeutschland lebenden VietnamesInnen wurden zuerst auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention und seit 1979 im Rahmen der Familienzusammenführung aufgenommen. Sie waren überwiegend HändlerInnen mit chinesischem Hintergrund und BeamtInnen der südvietnamesischen Regierung. Nach ihrer Ankunft in Deutschland erhielten sie finanzielle Unterstützungsleistungen, konnten an Sprachkursen teilnehmen und bekamen Eingliederungshilfen, wodurch sie sich relativ schnell in den Arbeitsmarkt, v. a. in die Metallindustrie, und auch in die westdeutsche Gesellschaft eingliedern konnten. Ein weiterer Grund für ihre schnellere Inklusion war, dass sie als politische Flüchtlinge nicht damit rechneten, nach Vietnam zurückkehren zu können, sodass sie eine größere Bereitschaft zur Inklusion zeigten (vgl. Hillmann 2005: 86).57 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 verdoppelte sich die Zahl der VietnamesInnen in der bundesdeutschen Statistik zwischen 1991 und 1994 von 46.000 auf 97.000.58 Seit 1990 wanderten vor allem Familienangehörige der ehemaligen VertragsarbeiterInnen und der Boat People im Zuge der Familienzusammenführung von Vietnam ins wiedervereinigte Deutschland ein. AsylbewerberInnen sind ebenfalls eine Gruppe, die fortlaufend zu geringen Zahlen in Deutschland ankommt und zu einem immer geringeren Teil Asyl gewährt bekommt.59 An dieser Stelle wird ein kurzer Überblick über die Bildungsabschlüsse der VietnamesInnen in Deutschland sowie über ihre berufliche Inklusion gegeben. VietnamesInnen verfügen in Deutschland über relativ niedrige Bildungsabschlüsse (vgl. Tab. 3.1).60 Liegt eine Berufsausbildung mit Ab57 | Thränhardt bezeichnet Vietnam als besonders interessantes Beispiel, »wo die ehemaligen DDR- VertragsarbeiterInnen mit bundesdeutscher Unterstützung wirtschaftliche Dynamik ausgelöst haben, gleichzeitig aber Migrationsketten entstanden sind, die zu Studienzwecken und mit wirtschaftlichen Zielen weiter nach Deutschland drängen« (vgl. Thränhardt 2008: 119). 58 | In den fünf folgenden Jahren verschwanden allerdings wieder 10.000 VietnamesInnen aus den Statistiken. Diese enorme Veränderung in den Statistiken ist nicht eindeutig zu erklären. Die VietnamesInnen könnten nach dem Verlust ihres legalen Status illegal in Deutschland geblieben sein oder von einem der Reinklusionsprogramme Gebrauch gemacht haben und nach Vietnam zurückgekehrt sein. Eine dritte Möglichkeit ist das Verschwinden aus den Statistiken durch Einbürgerung (vgl. Hillmann 2005: 84). 59 | Im ersten Halbjahr 2009 wurden 763 Asylerstanträge von VietnamesInnen in Deutschland gestellt, was 5,1 Prozent der Anträge, die aus allen Herkunftsländern in diesem Zeitraum in Deutschland gestellt wurden, ausmacht (vgl. BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchlinge) 2009). Vietnam ist damit seit 1999 unter den 10 zugangsstärksten Herkunftsländern von Asylsuchenden und liegt mit 0,1 Prozent Anerkennungen bzw. 0,3 Prozent Gewährungen von Flüchtlingsschutz an dritter Stelle der positiven Entscheidungen in Deutschland (vgl. BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchlinge) 2008). 60 | Für höhere Bildungsabschlüsse (berufsqualifizierender Abschluss, Meister/Techniker/ Fachschule, Fachhochschule und Universität), die Kategorie ›Anlern-/Berufspraktikum/Berufsvorbereitungsjahr‹, die Altersgruppen der 55- unter 65-jährigen sowie der über 65-jährigen gab es keine Nennungen und sie wurden der Übersichtlichkeit halber aus der Tabelle herausgelassen.
82
3.1 VietnamesInnen in Deutschland schluss bereits vor, so handelt es sich dabei um eine Lehre o. ä. Es fällt auf, dass vor allem vietnamesische Frauen selten über einen Bildungsabschluss verfügen (vgl. Tab.3.2). Von den 123.700 betrachteten Personen verfügen nur 34 Prozent über einen beruflichen Bildungsabschluss. Hinzu kommen 21,2 Prozent der zu gleichen Teilen männlichen und weiblichen VietnamesInnen in Deutschland, die sich 2005 in der Ausbildung befanden (vgl. Abs. 6.1.1). Alter
alle < 25 25 - 35 35 - 45 45 - 55 25 - 65
gesamt
Mit beruflichem Abschluss davon Lehre m w m w
42,2
25,1
17,1
16,5
11
6,9 19,7 11,4 40,4
11,4 7,2 24,3
8,2
8,3
5,7
16,1
15,9
10,6
Tabelle 3.1: VietnamesInnen in Deutschland mit Berufsabschluss nach Altersgruppen und Geschlecht in 1000 im Jahr 2005 (Quelle: Mikrozensus 2005; eigene Darstellung).
Alter
Ohne beruflichen Abschluss Davon: in Ausbildung
Davon: ohne Abschluss
81,5 38,4
m 35,3 19,6
w 46,2 18,8
m 22,2 6,4
w 33 5,6
23,9
7,1
16,8
7,1
16,8
41,5
15
26,5
15
26,5
gesamt
alle < 25 25 - 35 35 - 45 45 - 55 25 - 65
m 13,1 13,1
w 13,2 13,2
Tabelle 3.2: VietnamesInnen in Deutschland ohne Berufsabschluss nach Altersgruppen und Geschlecht in 1000 im Jahr 2005 (Quelle: Mikrozensus 2005; eigene Darstellung).
Unter den VietnamesInnen in Deutschland befanden sich im Jahr 2005 54 Prozent Erwerbspersonen, von denen 81 Prozent erwerbstätig waren. Diese lassen sich weiterhin aufteilen in 29 Prozent Selbständige, 24 Prozent Angestellte und 41 Prozent ArbeiterInnen (vgl. Abs. 6.1.1). 83
3 Einordnung des Fallbeispiels Im Folgenden wird auf die Gruppe der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen näher eingegangen, da diese und ihre Familien die größte Gruppe der in Berlin lebenden vietnamesischen Bevölkerung und einen erheblichen Teil der Untersuchungsgruppe der vorliegenden Arbeit ausmachen. 3.1.1 Vietnamesische VertragsarbeiterInnen in der DDR Die Anwerbung der insgesamt ca. 70.000 VietnamesInnen seitens der DDR begann im Jahr 1980 und unterlag dem ›bilateralen Regierungsabkommen über die zeitweilige Beschäftigung und Qualifizierung vietnamesischer Werktätiger in Betrieben der DDR‹ (i. F. Regierungsabkommen 1980) vom 11. April 1980. Bevollmächtigte für die Durchführung des Abkommens waren auf Seiten der DDR das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne (im Folgenden SAL) und auf vietnamesischer Seite das Ministerium für Arbeit. Damit war Vietnam das sechste Land, mit dem die DDR ein binationales Arbeitsprogramm vereinbarte (vgl. Spennemann 1997: 9). Die Situation im Anwerbeland war zu dieser Zeit durch einen Arbeitskräftemangel in der Industrie geprägt. Insbesondere in bestimmten Berufen und in Betrieben mit Mehrschichtsystem sollten ausländische Arbeitskräfte den Produktionszuwachs absichern. Seitens Vietnams ist die Motivation für die Entsendung der Fachkräfte vor allem auf die wirtschaftliche Lage nach dem Ende des 2. Indochinakrieges (1975) zurückzuführen, die durch eine hohe Arbeitslosigkeit geprägt war und nicht zuletzt durch Massenentlassungen von SoldatInnen zustande kam (s. u.).61 Neben der Entlastung des Arbeitsmarktes war eine Qualifizierung im Beruf, aber auch das Erlernen einer Fremdsprache, organisatorischer Kompetenzen und das Kennenlernen vermeintlich »europäischer Mentalitäten, Denk- und Arbeitsweisen« Teil der Motivation der vietnamesischen Seite (vgl. Raendchen 2000: 6). Die Anwerbung erfolgte im Wesentlichen in zwei Rekrutierungsperioden von 1980 bis ’84 und 1987 bis ’89, wobei für die erste Periode lediglich von 8.840 rekrutierten vietnamesischen Arbeitskräften gesprochen wird (vgl. Riedel zit. nach Weiss 2005a: 26). Auf der Grundlage des bilateralen Abkommens zwischen Vietnam und der ehemaligen DDR wurden FacharbeiterInnen mit langjähriger Berufserfahrung, IngenieurInnen und Werktätige mit einer abgeschlossenen FacharbeiterInnenausbildung im Rotationssystem angeworben und beschäftigt (vgl. Regierungsabkommen 1980: 1, 4). Eine Stelle wurde durch vietnamesische VertragsarbeiterInnen zunächst für vier Jahre mit der Option auf eine Verkürzung besetzt (vgl. ebd.: 2). Diese mussten nach Ablauf des Vertrages nach Vietnam zurückkehren und wurden ersetzt, sodass die Arbeitskräfte fortlaufend 61 | Auch ein ehemaliger Vertragsarbeiter berichtet, dass VietnamesInnen, die als VertragsarbeiterInnen in der DDR waren, häufig vorher SoldatInnen im Krieg waren und daher schlecht ausgebildet seien (vgl. UV6).
84
3.1 VietnamesInnen in Deutschland 60000 50000
Arbeitskräftesaldo Neuanwerbungen
Anzahl
40000 30000
20000 10000 0 1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
Abbildung 3.3: Vietnamesische VertragsarbeiterInnen in der DDR im Anwerbezeitraum von 1980 bis 1990 (Quelle: Staatssekretariat für Arbeit und Löhne zit. nach Spennemann 1997: 10; eigene Darstellung). rotierten. Die DDR sah darin eine Möglichkeit zur Produktionssteigerung. Sie begründete die Anwerbung der ArbeiterInnen gleichzeitig mit der solidarischen Unterstützung des ›kommunistischen Bruderlandes‹ in Form einer Entwicklungshilfe durch die Qualifizierung der ArbeiterInnen. Etwa 75 Prozent der ArbeiterInnen durchliefen in der ersten Anwerbeperiode tatsächlich eine berufliche Qualifizierung während ihres Arbeitseinsatzes und den im Abkommen vorgesehenen 200-stündigen Deutschkurs in den Betrieben (vgl. ebd.: 10). Die zweite Anwerbeperiode unterlag dem ›Änderungs- und Ergänzungsprotokoll‹ vom 26. Januar 1987, das eine Verlängerungsoption des Arbeitseinsatzes um ein weiteres Jahr vorsah. In den Jahren 1987 und 1988 erreichte die Anwerbung seitens der DDR ihren Höhepunkt, als 20.446 bzw. 30.552 vietnamesische Arbeitskräfte in die DDR aufgenommen wurden (vgl. Abb. 3.3).62 Auch im Jahr 1989 begannen noch 8.688 VietnamesInnen ihren Arbeitseinsatz in der DDR (vgl. Riedel in Weiss 2005a: 26; Spennemann 1997: 10).63 Eine Qualifizierung durchliefen in der zweiten Anwerbeperiode 62 | In Abbildung 3.3 sind die anreisenden VertragsarbeiterInnen und das Saldo der vietnamesischen Werktätigen, d. h. ihre kumulierte Anzahl, unter Hinzurechnung der übernommenen Facharbeiter, die in der DDR ihre Berufsausbildung abschlossen hatten unter Abzug der ausgereisten Werktätigen angeführt (vgl. Spennemann 1997: 10). 63 | Aus verschiedenen Quellen (vgl. Spennemann 1997; Raendchen 2000; Mac Con Uladh 2005; Weiss 2005a) liegen unterschiedliche Zahlen vor. Daraus ergibt sich eine leichte Abweichung zu den kumulierten Zahlen aus 3.3. Warum die Entsendung vietnamesischer Arbeitskräfte in den späten 1980er Jahren so enorm anstieg, ist nicht geklärt, da der Verbleib sämtlicher betreffender Originaldokumente nicht bekannt ist (vgl. Raendchen 2000: 7). Es ließe
85
3 Einordnung des Fallbeispiels bedingt durch steigende Anwerbezahlen zur Produktionsintensivierung der DDR weitaus weniger VertragsarbeiterInnen (vgl. Hillmann 2005: 87; Weiss 2005a: 26 und 2008: 145) als – im Titel des Abkommens festgehalten – vorgesehen (vgl. Regierungsabkommen 1980: 1, 3). 85 Prozent der Arbeitskräfte, die seit 1987 angeworben wurden, arbeiteten fast ohne Ausbildung in der Industrie (vgl. Weiss 2005a: 26). Oftmals wurde in der zweiten Anwerbeperiode nur eine Ausbildungszeit von ein- bis zweimonatigen Sprachkursen eingehalten, die zu einer Kenntnis einzelner Vokabeln und gebräuchlicher Redewendungen verhalfen. Die Konsequenz davon war eine Abhängigkeit der VertragsarbeiterInnen von DolmetscherInnen, die mitunter deutlich zur Einschränkung ihrer Privatsphäre beitrug. DolmetscherInnen unterlagen keiner Schweigepflicht und konnten damit persönliche Geheimnisse wie Diagnosen von Arztbesuchen, z. B. Schwangerschaften, an die zuständigen GruppenleiterInnen weitergeben (vgl. Raendchen 2000: 15 f.).64 Die in Vietnam von staatlichen Organisationen ausgesuchten ArbeiterInnen unterlagen in der DDR der Obhut ihrer ArbeitgeberInnen. Bei wiederholten Verstößen gegen die Vertragsbestimmungen, Unfällen, länger andauernder Krankheit oder Schwangerschaft mussten die VertragsarbeiterInnen unverzüglich in ihr Herkunftsland zurückkehren. Schon damals spielten informelle Netzwerke eine große Rolle, die zum Tragen kamen, wenn es darum ging, sich den rigiden Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen, denn eine Selbstorganisation war für die VertragsarbeiterInnen streng untersagt (vgl. Weiss 2008: 146 f., Schwangerschaftsvereinbarung 1987: 1 f.). Ein Arbeitsaufenthalt im Ausland war – bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit in Vietnam zu Beginn der 1980er Jahre – ein erstrebenswertes Ziel und es wurden häufig Beziehungen ausgespielt oder Bestechungsversuche unternommen, um dieses zu erreichen (s. u.). Die zentrale Motivation für die Arbeitsmigration war die Sicherung des Lebensunterhaltes der Großfamilie, die in Vietnam zurückbleiben würde. Mit dem wirtschaftlichen
sich argumentieren, dass die dauerhafte Ansiedlung vietnamesischer VertragsarbeiterInnen in der DDR bzw. in Deutschland hinsichtlich des in Regierungskreisen absehbaren Endes der DDR von vietnamesischer Seite beabsichtigt war. Auf diese Weise konnte der Transfer von materiellen und finanziellen Rücküberweisungen dauerhaft aufrechterhalten werden. Um weiterhin von den transferierten Gütern und Geldern profitieren zu können, wurde auch nach 1990 der Familiennachzug restriktiv behandelt, denn es konnte davon ausgegangen werden, dass Unterstützungsleistungen vor allem dort auftraten, wo Familien getrennt lebten (vgl. Raendchen 2000: 9, 26). 64 | Vietnamesische GruppenleiterInnen waren die zentralen Vermittlungspersonen zwischen Betrieben und VertragsarbeiterInnen. Ihnen kamen eine politisch-erzieherische und eine kontrollierende Funktion für 50-100 VertragsarbeiterInnen zu. Sie wurden von der vietnamesischen Seite ernannt und waren gegenüber der Botschaft und den Bezirksbeauftragten rechenschaftspflichtig (vgl. Gruppenleiterordnung 1987: 1 ff.; Raendchen 2000: 99).
86
3.1 VietnamesInnen in Deutschland Reformprogramm Doi Moi65 war seit Mitte der 1980er Jahre auch das Ansparen eines Startkapitals für die Gründung eines eigenen Unternehmens nach der Rückkehr nach Vietnam ein Motiv der Bewerber (vgl. Raendchen 2000: 6). Wie ein Experte berichtet, war bereits das Rekrutierungssystem der VertragsarbeiterInnen in Vietnam elitär angelegt. Damit ein/e VietnamesIn als VertragsarbeiterIn in die DDR migrieren konnte, musste oft das ganze Dorf Gelder sammeln, um die Unkosten zu decken, die nicht komplett durch das SAL getragen wurden (vgl. EB9, Unternehmer)66 . Die Qualifikationen der VertragsarbeiterInnen variierten vor ihrer Ausreise stark, sodass Unqualifizierte über FacharbeiterInnen bis zu Promovierten einreisten (vgl. Raendchen 2000: 5; s. u.). Auch der Experte B9 berichtet über das Rekrutierungssystem: Nicht jeder wurde genommen und dann hier hergeschickt. Das war auch schon eine bestimmte Schicht gewesen, die die Ausbildung hier bekommen hat. Ich meine, es gab ja auch Etliche, die hier studiert haben. Die anderen haben einen Beruf hier bekommen. [...] Die schon älter waren sind hier hergekommen und hier direkt als Arbeiter gearbeitet haben und schon eine Ausbildung hatten. (EB9, Unternehmer)
Die Auswahl der VertragsarbeiterInnen erfolgte unter anderem anhand ihrer Mitgliedschaft in der KPV bzw. des Kommunistischen Jugendverbandes Vietnams, denn es sollte ein »hoher Grad gesellschaftlicher Organisiertheit« gewährleistet sein (Raendchen 2000: 5). So waren von 10.789 vietnamesischen Arbeitskräften, die Anfang 1988 in die DDR einreisten, 2.453 Personen Mitglied der KPV und 6.112 Personen Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes (vgl. Raendchen 2000: 26). Insbesondere Anfang der 1980er Jahre wurden bevorzugt regimenahe VietnamesInnen für den Arbeitseinsatz im Ausland rekrutiert, wie ehemalige SoldatInnen, junge Soldaten-Witwen und Nachkommen ehemaliger WiderstandskämpferInnen. Ende der 1980er Jahre bot das Rekrutierungssystem vermehrt Chancen für andere Berufssparten, sodass VertreterInnen fast aller Schichten in die DDR kamen. Ein großer Teil von ihnen stammte aus dem Hochschul-, Bildungs- und Kulturbereich, da in diesem Bereich in Vietnam zu dieser Zeit ein Arbeitskräfteüberschuss herrschte. Nicht selten besaßen diese Personen akademische Abschlüsse oder waren sogar promoviert (vgl. ebd.: 5). 65 | Bei Doi Moi (›Erneuerung‹) handelte es sich um ein 1986 in Vietnam eingeführtes wirtschaftliches Reformprogramm, durch das eine Öffnung der Wirtschaft nach außen angestrebt wurde und das erste Schritte zur Gleichstellung privater und staatlicher Firmen beabsichtigte. Ziel war die verstärkte Förderung kleiner Wirtschaftsinitiativen, wie Einzel- oder Familienunternehmen, was durch eine gesetzliche Begrenzung der Angestelltenzahl pro Betrieb umgesetzt wurde, um dem »Wiedererstarken kapitalistischer Strukturen« entgegenzuwirken (Raendchen 2000: 9; vgl. Abs. 3.3). 66 | InterviewpartnerInnen werden im Text mit folgenden Abkürzungen zitiert: G= Großhandel, E= Einzelhandel, DL= Dienstleistungsunternehmen, EB= ExpertIn Berlin, EV= ExpertIn Vietnam, UV= UnternehmerIn Vietnam. Die ExpertInnen werden nach ihrer Tätigkeit in NGOs, in der Politik und als UnternehmerInnen unterteilt.
87
3 Einordnung des Fallbeispiels Ein ehemaliger Vertragsarbeiter berichtet, dass er nur als Vertragsarbeiter genommen wurde, da sein Vater beim Handelsministerium arbeitete und über gute Kontakte verfügte. Er kam als ungelernte Arbeitskraft in eine Gießerei in Torgelow, wo er zunächst einen dreimonatigen Deutschkurs erhielt und danach einen technischen Lehrgang. Anschließend arbeitete er in dem Unternehmen am Fließband. Er war zu diesem Zeitpunkt erst 23 Jahre alt, was sein Glück war, denn für seine älteren Kollegen war es wesentlich schwieriger, Deutsch zu lernen (vgl. UV11).67 Die geographische Verteilung der VietnamesInnen innerhalb der DDR erfolgte weitgehend nach der Verteilung der Produktionsstätten der Industrie. Dementsprechend lebten VertragsarbeiterInnen häufig in Chemnitz, Dresden, Ostberlin, Leipzig, Cottbus und Erfurt (vgl. Hillmann 2005: 89). Ihre Unterbringung lag in der Verantwortung der Unternehmen, bei denen sie beschäftigt waren und erfolgte zu höchstens vier Personen pro Wohnraum in Wohnheimen, getrennt von der einheimischen Bevölkerung. Die 5 m2 Wohnfläche, die den ArbeitsmigrantInnen für eine monatliche Miete von maximal 30 DDR-Mark zustand (vgl. Regierungsabkommen 1980: 9), wurden häufig unterschritten. Die Haltung der DDR-Bürger gegenüber den VertragsarbeiterInnen wird unterschiedlich wiedergegeben. Einerseits wird von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt berichtet, die mit der weit verbreiteten Einstellung begründet wurden, VietnamesInnen kauften den DDR-BürgerInnen Nahrungsmittel und Konsumgüter weg, um diese nach Vietnam zu schicken (vgl. Weiss 2008: 148 f.; s. u.). Die Konsistenz dieses Vorurteils widerlegt Raendchen damit, die versendeten Waren gehörten überwiegend nicht zu den in der DDR knappen Warengruppen (vgl. Raendchen 2000: 23). Das Ministerium für Staatssicherheit hielt den abweichenden Lebensstil, ihr Delinquenzverhalten und ihre negative Einstellung zur Arbeit als Ursache für die Vorbehalte der DDR-Bevölkerung (vgl. Weiss 2008: 148 f.). Diese Begründung scheint inkonsistent, da vor der Wende nur wenige Straftaten vietnamesischer VertragsarbeiterInnen registriert wurden. Erst die Auflösung ihrer Verträge führte bei einem Teil dieser Gruppe zu temporären illegalen Handelstätigkeiten und damit zu einer Verschlechterung ihres Ansehens (vgl. Raendchen 2000: 23). Positive oder neutrale Haltungen gegenüber AusländerInnen waren vor der Wende grundsätzlich wesentlich verbreiteter als nach 1989 (vgl. Raendchen 2000: 20). In den späten 1980er Jahren kam es vereinzelt zu Ehen und eheähnlichen Partnerschaften zwischen VietnamesInnen und DDR-BürgerInnen (vgl. ebd.: 19).68 Fälle von AusländerInnenfeindlichkeit 67 | Das Niveau in seinem Deutschkurs war nicht besonders hoch, das Vokabular allgemein und nicht nur auf seine Arbeit zugeschnitten. Gelernt hat er aus dem Lehrbuch ‹Guten Tag, Kollege‹, Deutschlehrbuch für Ausländer (vgl. UV11). 68 | Nach einer Befragung des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik unter
88
3.1 VietnamesInnen in Deutschland wurden im Sozialismus jedoch der Öffentlichkeit vorenthalten. Eine ablehnende Haltung gegenüber AusländerInnen war nicht mit dem Dogma des ›proletarischen Internationalismus‹ zu vereinen und offene AusländerInnenfeindlichkeit wurde streng geahndet und bestraft (vgl. ebd.: 20 f.). Ihre Akzeptanz hätte sich durch intensive Handelsaktivitäten, die eine Isolation in den Wohnheimen überwunden und zu einem intensiven Austausch mit der DDR-Bevölkerung beitrugen, erhöhen können, da sie eine Erweiterung der verfügbaren Warengruppen zur Folge hatte (vgl. Raendchen 2000: 22). Mit der Erfahrung aus den Familienbetrieben, in denen einige VertragsarbeiterInnen vor ihrem Arbeitsaufenthalt in der DDR in Vietnam mitarbeiteten, entwickelten sie in den Wohnheimen kleine Unternehmen. Die in der Textilindustrie beschäftigten ArbeiterInnen begannen mit der Anfertigung eigener Kollektionen jenseits des Arbeitsplatzes und besetzten damit eine ökonomische Nische, indem sie u. a. amerikanische Markenjeans imitierten, die in der DDR nicht erhältlich waren (vgl. Weiss 2005b: 83 ff.). Diese Parallelökonomie wurde vom Ministerium für Staatssicherheit geduldet, da durch die Heimproduktion der VietnamesInnen wichtige Konsumgüter in den Umlauf gebracht wurden und es keinerlei rechtliche Handhabe gab, solange die außerbetrieblichen Produktions- und Handelstätigkeiten keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsbereitschaft der VertragsarbeiterInnen in den Betrieben hatte (vgl. Raendchen 2000: 23). Es gibt jedoch auch Quellen, die auf eine nachlassende Arbeitsbereitschaft der VertragsarbeiterInnen in den Betrieben hinweisen (vgl. Weiss 2008: 147; Hillmann 2005: 90). Seit 1989 setzte das SAL durch, dass die ArbeiterInnenwohnheime nicht länger als Produktions- und Lagerstätten genutzt wurden (vgl. Raendchen 2000: 23). Bedingt durch das temporär angelegte Rotationssystem gaben die VietnamesInnen die enge Bindung zu ihren Verwandten in Vietnam nie ganz auf, sondern blieben in Kontakt und schickten diesen regelmäßig Waren und Geld aus der DDR. Vietnamesische VertragsarbeiterInnen erhielten in der DDR monatlich den gesetzlichen Mindestlohn von 400 DDR-Mark (vgl. Spennemann 1997: 11). Im Abkommen zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam (im Folgenden SRV) ist zudem die Auszahlung einer Trennungsentschädigung von 4 DDR-Mark pro Tag und eines Kindergeldes für die zurückgelassenen Familienangehörigen geregelt (vgl. Regierungsabkommen 1980: 6 f.; Spennemann 1997: 10 ff.; Raendchen 2000: 10, 41). Die Überweisung von 12 Prozent ihres Einkommens an die vietnamesische Regierung war für die VertragsarbeiterInnen obligatorisch. Mit dem Geld sollten Infrastrukturprojekte in Vietnam finanziert werden. Maximal durften sie 60 Prozent ihres monatlichen Nettoeinkommens, das ehemaligen DDR-BürgerInnen von 1990 lag Vietnam auf einer Sympathieliste an erster Stelle unter allen außereuropäischen Ländern (vgl. Raendchen 2000: 21).
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3 Einordnung des Fallbeispiels 350 DDR-Mark überstieg, nach Vietnam transferieren (vgl. Mac Con Uladh 2005: 54; Weiss 2005a: 26). Schon bald kam es zu einem starken inflationsbedingten Geldwertverlust bei den Rücküberweisungen, sodass die VertragsarbeiterInnen zur Sendung von Waren übergingen. Die von der DDR-Regierung vorgeschriebenen Waren-Kontingente wurden voll ausgeschöpft.69 Von den Erlösen aus ihrer ›Parallelökonomie‹ kauften sie weitere Waren für die Versendung an ihre Familien in Vietnam. Zu den beliebtesten Warensendungen gehörten Nähmaschinen, Fahrräder, Mopeds und Zucker (vgl. Hillmann 2005: 88). Die Relevanz dieser Warenausfuhren drückt sich in folgendem Zitat des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR von 1989 aus: Schon mehrmals betonten Regierungsvertreter der SRV in bilateralen Gesprächen mit der DDR, dass der Einsatz vietnamesischer Werktätiger in der DDR ›eine strategische Linie der Außenwirtschaft bilde, deren Effekte es zu erhöhen‹ gilt. Die Ausfuhr von Konsumgütern in die Heimat wird als der wichtigste Auftrag ihrer Werktätigen in der DDR gesehen (Weiss 2005a: 27).
Zusätzlich zahlte die DDR pauschal pro Kopf Sozialversicherungsbeiträge von 180 Mark pro Jahr an Vietnam. Nach Berechnungen von Huong erhielt Vietnam durch diesen Sozialversicherungsbeitrag und die Abführung von 12 Prozent des Lohnes in den letzten Anwerbejahren Einnahmen von 200 Millionen DDR-Mark jährlich (vgl. Huong, zit. nach Weiss 2005a: 26). Für VietnamesInnen in der DDR, deren Aufenthalt von vorne herein temporär angelegt war, konnte die Inklusion in die DDR-Gesellschaft nicht das Ziel sein und wurde, wie bereits erwähnt, seitens der DDR-Regierung bewusst unterbunden.70 Instrumente zur Erreichung dieser Absichten waren die separierte Unterbringung in Wohnheimen, die Vernachlässigung der Vermittlung der deutschen Sprache sowie eine rigide Einhaltung des Rotationssystems. In den oben genannten Quellen und auch in den Interviews wird überwiegend über Motive, Rekrutierungsmuster und Vertragsbedingungen bezüglich der Arbeitsaufenthalte in der DDR gesprochen. Dass es durch die Auswanderung von jungen ArbeiterInnen, die nicht selten eine hohe Vorbildung genossen, zu einem Verlust von Humankapital – dem sogenannten brain drain (vgl. Abs. 2.2) – kam, wurde nicht erwähnt. Vor allem in der ersten Rekrutierungsphase von 1980 bis ’84, in der überwiegend 69 | Es durfte zwölfmal im Jahr ein Warenpaket im Wert von maximal 100 DDR-Mark, sechsmal jährlich eine Postsendung ohne Wertbegrenzung und am Ende des Aufenthaltes Gegenstände in einer Holzkiste von zwei Kubikmetern nach Vietnam transferiert werden (vgl. Weiss 2005a: 27). 70 | Raendchen (Raendchen 2000: 20) erwähnt in diesem Zusammenhang, dass Inklusion in der DDR anders definiert wurde als in modernen, demokratischen Gesellschaften (vgl. Kapitel 2.1.2). In erster Linie wurde darunter eine formale Inklusion, wie eine politische Anpassung, eine kritiklose Einhaltung jeglicher Regelungen und Bestimmungen sowie eine Unterordnung gegenüber Aweisungen von Autoritäten verstanden.
90
3.1 VietnamesInnen in Deutschland qualifizierte FacharbeiterInnen angeworben wurden, war dies für Vietnam ein Verlust von Humankapital. Aber auch mit der Arbeitsmigration von AkademikerInnen Ende der 1980er Jahre ging Vietnam Humankapital verloren. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es sich um ein Arbeitsprogramm im Rotationsprinzip handelte und Vietnam sich davon einen zeitnahen brain gain (vgl. Abs. 2.2.2) erhoffte. Dass nur ein geringer großer Teil der VertragsarbeiterInnen mit ihrem in der DDR angereicherten Wissen nach der Wiedervereinigung Deutschlands zurückkehrte, war damals nicht abzusehen. Welche Folgen die Wiedervereinigung für die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen hatte und wie sie mit diesen umgingen, wird im nächsten Abschnitt dargestellt. 3.1.2 Situation nach der Wiedervereinigung Anfang 1990 kam es – geltendem Recht zuwider – zu den ersten fristlosen Kündigungen von Arbeitsverträgen der VertragsarbeiterInnen (vgl. Hirschberger 1997: 21). Am 13. Juni 1990 wurde die ›Verordnung über die Veränderung von Arbeitsrechtsverhältnissen ausländischer Bürger, die aufgrund von Regierungsabkommen in der DDR beschäftigt oder qualifiziert werden‹ auf der Basis zwischenstaatlicher Verhandlungen erlassen. Auf dieser Grundlage konnten die Betriebe mit der Zustimmung des SAL die Arbeitsverträge mit den VertragsarbeiterInnen unter Angabe von rechtlichen Gründen kündigen. Damit veränderte sich die Situation der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen grundlegend. Ein Anteil von rund 70 Prozent der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen wurde auf diese Weise arbeitslos und verblieb in einem rechtlich ungeklärten Raum. Sie erhielten lediglich eine befristete Aufenthaltsbewilligung für die Zeit des ursprünglich vereinbarten Arbeitsvertrages (vgl. Weiss 2005a: 27; Hirschberger 1997: 30). Nur diejenigen, die mit DDR-BürgerInnen verheiratet waren oder sich schon länger als acht Jahre in der DDR aufhielten, bekamen eine Aufenthaltsberechtigung (vgl. Aufenthalteverordnung 1990: § 11). In ihrer prekären finanziellen Situation griffen ehemalige VertragsarbeiterInnen oftmals auf eine Kombination aus verschiedenen Jobs und staatlichen Unterstützungsleistungen zurück (vgl. Hillmann 2005: 91; Liepe 1997: 44 f.). Ein kleiner Teil der ehemaligen VertragsarbeiterInnen versuchte aufgrund der Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland in die alten Bundesländer überzusiedeln, wo die ehemaligen VertragsarbeiterInnen jedoch nicht auf soziale Netzwerke zurückgreifen konnten. Da sie zu DDR-Zeiten vom SAL und den Betrieben ›verwaltet‹ wurden, hatten sie keinerlei Erfahrungen mit der institutionellen Infrastruktur des vereinten Deutschlands. Die für sie unbekannte Administration in den alten Bundesländern sowie die neue Situation der freien Marktwirtschaft in Verbindung mit ihren 91
3 Einordnung des Fallbeispiels marginalen Deutschkenntnissen führten zu Problemen bei der sozialen und beruflichen Inklusion. Als Antwort auf die prekäre Situation der ehemaligen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen war es ein Anliegen der Regierung Kohls, den vietnamesischen MigrantInnen Anreize zu verschaffen, in ihre Heimat zurückzukehren. 1990 wurde der erste wenig erfolgreiche Entwurf eines Reintegrationsabkommens mit der Regierung Vietnams erarbeitet, der Ausgleichszahlungen für den vietnamesischen Staat zwecks der Rückführung seiner Staatsbürger vorsah. Die Zahlungen entfalteten jedoch nicht die gewünschte Wirkung, da der vietnamesische Staat seine Bürger nicht zurückführen wollte. Oft wurden diese unmittelbar nach ihrer Ankunft in Hanoi mit dem nächsten Flug nach Deutschland zurückgeführt. Ein Einlenken des vietnamesischen Staates erfolgte erst auf eine außenpolitische Maßnahme hin – der Einfrierung der gesamten sogenannten Entwicklungshilfegelder (ODA) von Deutschland an Vietnam (vgl. EV3). In der »Verordnung über finanzielle Leistungen bei vorzeitiger Beendigung der Beschäftigung ausländischer Bürger in Unternehmen der DDR« (i. F. Verordnung) vom 18. Juli 1990 war die Fortzahlung von 70 Prozent des bisherigen Nettolohnes an vorzeitig entlassene VertragsarbeiterInnen durch das Unternehmen bis zur Ausreise, mindestens jedoch für drei Monate festgehalten. Zudem wurde darin die Unterbringung im Wohnheim, die freiwillige Ausreise ins Herkunftsland sowie eine einmalige Unterstützung der VertragsarbeiterInnen in Höhe von 3.000 DM und einem freien Rückflug durch die Unternehmen gesetzlich geregelt (vgl. Leistungsverordnung 1990: 813). Nach Schätzungen verließen 19.500 VietnamesInnen – ca. ein Drittel der VertragsarbeiterInnen, die sich vor den Wende in der DDR aufhielten – die Bundesrepublik im Rahmen der staatlichen Rückkehrprogramme in den 1990er Jahren (vgl. Hirschberger 1997: 23). Die Summe von 3.000 DM bedeutete für VietnamesInnen einen großen finanziellen Anreiz, da sie nicht wussten, was sie in ihrem Herkunftsland erwarten würde. In Vietnam mussten sie verschiedene bürokratische Hürden überwinden, um sich ökonomisch etablieren zu können. Nach Angaben des Ministeriums für Arbeit, Kriegsversehrte und Sozialwesen (heute: Invalide und Soziales/ MoLISA) der SRV kehrten bis 1995 45.000 bis 50.00071 vietnamesische 71 | Auch hier weichen die Zahlen unterschiedlicher Quellen allerdings sehr stark voneinander ab. Hirschberger (1997) beziffert die Zahl der Rückkehrer, die mit Hilfe der staatlichen Rückkehrprogramme nach Vietnam zurückkehrten auf 19.500, während Wolf (vgl. Wolf 2007) von 34.000 und Hüwelmeier von 40.000 spricht (vgl. Hüwelmeier 2010: 133). Vietnam (MoLISA) beruft sich auf Zahlen von insgesamt 45.000-50.000 RückkehrerInnen aus der DDR, ungeachtet der staatlichen Programme. Ein Experte (V3) berichtete, dass die Rückkehrprämie von 3.000 DM oftmals nach Ankunft in Vietnam abkassiert wurde und die RückkehrerInnen unmittelbar nach ihrer Ankunft mit dem nächsten Flugzeug nach Deutschland zurückgeschickt wurden. Vietnam hatte kein Interesse an der Aufnahme seiner BürgerInnen, da sie erstens ca. 1.000 DM pro Person und Jahr an ihre Familien nach Vietnam überwiesen und zweitens soeben den Zusammenbruch eines sozialistischen Staates erlebt hatten. Drittens kam hin-
92
3.1 VietnamesInnen in Deutschland VertragsarbeiterInnen in ihre Heimat zurück (vgl. ebd. zit. nach Weiss 2008: 153). Ein Großteil der ehemaligen VertragsarbeiterInnen wollte jedoch – oft aus politischen Gründen – nicht nach Vietnam zurückkehren. Die schätzungsweise 8-12.000 zwischen 1990 und 1993 in der BRD gestellten Asylanträge72 wurden nahezu vollständig abgelehnt und die meisten von ihnen erhielten eine Duldung.73 Nach 1993 erhielten lediglich diejenigen VietnamesInnen einen legalen Status, die ein gesichertes Einkommen für sich selbst und für ihre Familien nachweisen konnten (vgl. Hirschberger 1997: 33). Als Reaktion auf den mangelnden Erfolg der Rückführung durch einen finanziellen Anreiz in der ersten Hälfte der 1990er Jahren wurde am 21. Juli 1995 das »Abkommen über die Rückübernahme von vietnamesischen Staatsangehörigen« (i. F. Rückübernahmeabkommen) und ein zugehöriges Durchführungsprotokoll zwischen der BRD und der SRV verabschiedet. Darin verpflichtet sich die SRV, »vietnamesische Staatsangehörige, die keinen gültigen Aufenthaltstitel für die BRD haben, [...] zurückzunehmen«, auch wenn die Rückführung gegen deren Willen geschieht (Rückübernahmeabkommen 1995: 2). Das Abkommen regelt die rasche Rückführung von StraftäterInnen und einer Straftat Beschuldigten. 40.000 nach deutschen Angaben bereits ausreisepflichtige VietnamesInnen werden – so ist es im Rückübernahmeabkommen festgehalten – bis zum Jahr 2000 zurückgeführt. Die Rückführung sollte 1995 mit 2.500 Personen beginnen und jährlich aufgestockt werden (1996: 5.000, 1997: 6.000 und 1998: 6.500 Personen), so dass bis Ende 1998 20.000 Personen zurückgeführt würden (vgl. Rückübernahmeabkommen 1995: 3). Konnte die vietnamesische Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen weder durch geeignete Ausweise noch durch eine Anhörung nachgewiesen werden, wurden diese Personen nach Deutschland zurückgeführt (vgl. ebd.: 5).74 Im Zuge dieses Abkommens
zu, dass ein Teil der VietnamesInnen, die nach 1995 zurückgeführt wurden, in Deutschland straffällig geworden waren (vgl. Wolf 2007: 9). 72 | Diese wurden sowohl durch ehemalige VertragsarbeiterInnen in der DDR als auch durch vietnamesische VertragsarbeiterInnen aus Russland, Tschechien und anderen osteuropäischen Ländern gestellt, die wegen Stigmatisierungen und mangelnden wirtschaftlichen Möglichkeiten im wiedervereinigten Deutschland Asyl suchten (vgl. Hüwelmeier 2010: 133). 73 | Nach § 60a Abs. 1 AufenthG handelt es sich bei einer Duldung um eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung für bestimmte Ausländergruppen für längstens sechs Monate aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland durch die oberste Landesbehörde. Nach Ablauf der sechs Monate kann angeordnet werden, dass für bestimmte Ausländergruppen Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden. So sieht § 60a Abs. 2 AufenthG vor, dass nur dann eine Duldung erteilt wird, wenn die Abschiebung unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (vgl. BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchlinge) 2005: 18 f.). 74 | Für die Mitführung von Bargeld und persönlichem Vermögen werden im Durchführungsprotokoll des Rückübernahmeabkommens (vgl. ebd.: 4) günstige Bedingungen festgeschrieben.
93
3 Einordnung des Fallbeispiels kehrten zwischen 1995 und 2000 nur ca. ein Viertel der vereinbarten 40.000 VietnamesInnen in ihr Herkunftsland zurück (vgl. Wolf 2007: 9). Zur rechtlichen Situation äußert sich eine Expertin für die vietnamesische Gemeinschaft in Berlin folgendermaßen: Bis 1995 war nicht klar, ob die Vietnamesen bleiben dürfen oder nicht. D. h. Integration war nicht erwünscht im offiziell politischen Sprachgebrauch. 1997 gab es dann die Anerkennung sämtlicher Aufenthaltszeiten auch in der DDR und die Vietnamesen hatten die Möglichkeit, umzusteigen in unbefristete Aufenthalte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stadt geteilt für Vietnamesen. Im Pass stand drin ›selbständige und vergleichbare unselbständige Tätigkeiten nicht gestattet außer im Beitrittsgebiet‹. D. h. die Mauer bestand für Vietnamesen noch bis 1997. (EB1, NGO)75
Die ökonomische Reinklusion in Vietnam war durch das »Abkommen zwischen der BRD und der SRV über Finanzierungshilfen zur Existenzgründung und beruflichen Eingliederung von Fachkräften der SRV« (i. F. Existenzgründungsabkommen) vom 9. Juni 1992 geregelt. Ziel des Abkommens war die Förderung insbesondere der Gründung kleiner und mittlerer privater Unternehmen, der raschen beruflichen Eingliederung von RückkehrerInnen, der Übernahme von Führungs- und Ausbildungsaufgaben durch RückkehrerInnen oder der Inklusion in Arbeitsverhältnisse. Dafür wurden zinsgünstige Darlehen und Existenzgründungszuschüsse gewährt (vgl. Existenzgründungsabkommen 1992: 2 f.). Auf dessen Basis wurden des Weiteren Hilfsleistungen in Form von Lehrgängen und ExistenzgründerInnenseminaren, die durch die BRD mit insgesamt zehn und durch die SRV mit einer Million DM finanziert wurden, programmatisch unterstützt (vgl. ebd.: 3). Durchgeführt wurde das Reintegrationsabkommen durch die Deutsche Ausgleichsbank und die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) auf deutscher Seite sowie das MoLISA auf vietnamesischer Seite (vgl. Existenzgründungsabkommen 1992: 5). Ehemalige vietnamesische VertragsarbeiterInnen und deren Familiennachzug versuchten nach der Wiedervereinigung in Deutschland schnelles Geld zu verdienen, da ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt war und sie somit eine hohe Risikobereitschaft verzeichneten. Dies führte u. a. zu illegalen Handelstätigkeiten.76 Durch diesen Handel, der in mafiösen Strukturen organisiert ist und gelegentlich Gewaltverbrechen nach sich zieht, hat sich das Image der VietnamesInnen verschlechtert (vgl. EV3, Hillmann 2005: 91 f.). Vor allem die Arbeitslosigkeit wurde in der vietnamesischen Gemeinschaft Berlins zu einem zunehmenden Problem. Im Jahr 2000 waren mehr 75 | Einige Zitate in diesem Kapitel sind dem Interview mit einer Expertin einer deutschvietnamesischen NGO in Berlin entnommen, das am 26. Januar 2006 stattfand (zitiert nach Schmiz 2006). 76 | Für nähere Informationen zum Zigarettenhandel s. Liepe 1997: 46 ff.
94
3.1 VietnamesInnen in Deutschland als 1000 VietnamesInnen arbeitslos gemeldet, unter ihnen 43 Prozent Frauen. Die überwiegend zwischen 30 und 40 Jahre alten arbeitslosen VietnamesInnen hatten zu 80 Prozent eine Berufsausbildung, einige hatten eine Qualifizierung auf dem zweiten Bildungsweg erwerben können und wenige verfügten über einen akademischen Abschluss. Etwa 10 Prozent der vietnamesischen MigrantInnen in Berlin waren im Jahr 2000 auf staatliche Sozialleistungen angewiesen (vgl. Mai 2005).77 Obwohl die Mehrzahl der 172 im Rahmen einer 1997 durchgeführten Studie interviewten vietnamesischen MigrantInnen in Berlin, Brandenburg und Sachsen verschuldet war, konnten diese Teile ihrer Einkünfte für die Unterstützung ihrer Verwandten in Vietnam abzweigen. Die meisten von ihnen arbeiteten 12-14 Stunden am Tag ohne Urlaubsunterbrechungen. Für einen großen Teil der VietnamesInnen wurde die Selbständigkeit zur einzigen Überlebenschance und gleichzeitig zur Ursache für eine ökonomische und soziale Marginalisierung (vgl. Trong 1998, zit. nach Hillmann 2005: 93). Auf die Arbeitsmarktinklusion der VietnamesInnen wird in Kapitel 6 der vorliegenden Dissertation im Detail eingegangen. Vorerst wird der folgende Abschnitt einen Überblick über aktuelle Migrationsbewegungen von VietnamesInnen geben, um die Relevanz der sozialen Netzwerke und des Knotenpunkts Berlin zu verdeutlichen. 3.1.3 Aktuelle Migrationsbewegungen von VietnamesInnen Die vietnamesische Gemeinschaft in Berlin und den neuen Bundesländern ist trotz gleichzeitiger Abwanderungen weiterhin ein wichtiger Anziehungspunkt für vietnamesische MigrantInnen, während die alten Bundesländer v. a. für vietnamesische Studierende als Migrationsziel eine Rolle spielen. Berlin kann durch seine weitverzweigten vietnamesischen Netzwerke als Transitstation von MigrantInnen auf der Weiterreise nach Großbritannien interpretiert werden. In Großbritannien sind sie innerhalb des formellen Sektors in der Gastronomie und im informellen Sektor in kleinen Produktionsbetrieben für Textilien oder als GärtnerInnen auf illegal betriebenen Cannabisplantagen gefragt (vgl. EB9, EB5, G1, EV1; Mai 2010).78 Hier werden transnationale Migrationsmuster deutlich, die auf vietnamesischen Netzwerken basieren. 77 | Gesicherte Zahlen liegen hier nicht vor. Es lassen sich lediglich Angaben zu den Leistungen an vietnamesische AsylbewerberInnen machen, die in Berlin 2008 von 972 Personen bezogen wurden, was einem Anteil von 7,7 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung in Berlin entspricht (vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2009a). 78 | Nähere Informationen zum Thema des Cannabisanbaus durch VietnamesInnen, der in nahezu allen Aufnahmeländern vietnamesischer MigrantInnen zu verzeichnen ist, vgl. u. a. für Deutschland (vgl. Leipzigseiten 2008), Großbritannien (Daily Mail 2010) und die USA (Seattle Times 2007). Die Besetzung dieses neuen Feldes ist m. E. eine Reaktion auf die große Konkurrenz und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf das traditionelle Kleingewerbe.
95
3 Einordnung des Fallbeispiels Alter Zuzüge
Wanderungen Fortzüge insgesamt
Wanderungssaldo m w
< 18 18-25 25-50 50-65 > 65
590 1284 2000 122 49
261 1049 2550 317 136
329 235 -550 -195 -87
188 -43 -728 -134 -80
141 278 178 -61 -59
gesamt
4045
4313
-268
-727
477
Tabelle 3.3: Wanderungen von VietnamesInnen über die Grenzen Deutschlands im Jahr 2008 nach Altersgruppen und Geschlecht (Quelle: Statistisches Bundesamt 2010; eigene Darstellung). Im Jahr 2008 konnte ein negatives Außenwanderungssaldo für VietnamesInnen in Deutschland verzeichnet werden (vgl. Tab. 3.3). Besonders auffällig war das stark negative Außenwanderungssaldo der Altersgruppe der 25-50-jährigen von -550, das durch rückkehrende Studierende und Promovierte zustande kommt. Auch die 50-65-jährigen sowie die über 65-jährigen weisen ein negatives Außenwanderungssaldo auf, was auf eine mögliche Ruhestands-Rückkehrmigration von VietnamesInnen hinweist (vgl. Abs. 6.2.4). Geschlechtsspezifisch war das Wanderungssaldo unter Vietnamesen lediglich in der Altersgruppe der unter 18-jährigen leicht positiv – in den restlichen Altersgruppen jedoch negativ, was auf eine Weiterreise hinweisen könnte. Bei Vietnamesinnen bis einschließlich der 25-50-jährigen waren die Außenwanderungssaldi hingegen positiv. Auffällig ist ebenfalls der starke Überhang von weiblichen Zuwanderinnen in den jüngeren Altersgruppen. Dies könnte u. a. auf die hohen Zahlen eingeschleuster Vietnamesinnen hindeuten, die entweder als Schwangere oder mit Hilfe einer Zweckehe eine Aufenthaltsberechtigung bekommen (vgl. Mai 2010a; s. u.). Nach Einschätzung des Experten B5 ist der häufigste Migrationsweg zwischen Vietnam und Deutschland, wie von fast allen anderen Staaten auch, der Zugang durch Familienzusammenführung, d. h. Ehegatten-, Kinder- und Elternnachzug zu hier lebenden minderjährigen deutschen Kindern. Der zweite legale Zugang ist die Migration zum Zwecke des Studiums. Migration mit dem Zuwanderungszweck ›Arbeit‹ ist quantitativ kaum bemerkenswert, so der Experte (vgl. EB5). Zu Arbeitszwecken schult und entsendet Vietnam als armutsreduzierende Strategie Arbeitskräfte unter anderem nach Malaysia, wohin im Jahr 2008 26.000 vietnamesische Arbeitskräfte entsendet wurden, sowie Taiwan (23.000), die Demokratische Republik Korea (12.000) und Japan (6.000; vgl. Dang et al. 2010: 13). Als beliebteste Zielländer beherbergen 96
3.1 VietnamesInnen in Deutschland die USA, Taiwan, die Republik Korea, Malaysia und Russland 60 Prozent aller vietnamesischen MigrantInnen (vgl. ebd.: 14). In Europa leben VietnamesInnen v. a. in Russland, Polen und Tschechien, sowie Ungarn und Rumänien, wo es vietnamesische UnternehmerInnennetzwerke gibt. Die Gefahr der Ausbeutung durch human trafficking ist für Vietnam ein sensibles Thema. Ohne Arbeitsvertrag gelangen VietnamesInnen v. a. über Heiratsverträge und Schmuggel ins Ausland, während die Vulnerabilität vor allem bei Migrantinnen hoch ist, die häufig einer körperlichen Ausbeutung unterliegen. Nach Taiwan wurden im Jahr 2003 65.000 und damit doppelt so viele vietnamesische Heiratsmigrantinnen wie Arbeitsmigrantinnen in den Bereich domestic services vermittelt (vgl. Dang et al. 2010: 14). Für die Zukunft ist der südkoreanische Arbeitsmarkt wegen seiner hohen Löhne interessant (vgl. EV12, IO). Es gibt im Falle Vietnams ausgeprägte genderspezifische Arbeitsmärkte im asiatischen Raum und im mittleren Osten, jedoch nicht in Übersee. Für MigrantInnen gibt es derzeit verschiedene Einreisemöglichkeiten nach Deutschland, wie z. B. als SpezialitätenköchInnen. Vietnamesische GastronomInnen müssen dafür nachweisen,79 dass das gesuchte Personal in Deutschland nicht zur Verfügung steht und können auf diesem Weg Verwandte nach Deutschland einladen: Dann holen die sich also praktisch ihre Tante, Onkel, Cousin, Cousine und blablabla nach Deutschland und lassen die da arbeiten. Und da können sie legal natürlich arbeiten wenn sie eine Aufenthaltserlaubnis haben durch die berühmte Einladung als Spezialitätenkoch. Kennen sie vielleicht auch – man hat nach dem deutschen Ausländerrecht die Möglichkeit, wenn Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, dann hat man die Möglichkeit einen Antrag zu stellen und z. B. Spezialitätenköche einzuladen. Da hat die Ausländerbehörde natürlich Ermessensspielraum weil die Erteilung solcher Visa nur – sie können natürlich schlecht argumentieren, dass in Deutschland irgendeiner, eine Langnase, jemand ist, der super vietnamesisch kochen kann und der Spezialist ist. Das nutzen sie also und darüber werden viele reingeholt. (EV3)
Dies ist allerdings an eine mindestens zweijährige Ausbildung bzw. sechsjährige Berufserfahrung der angeworbenen Person und daran gebunden, dass das Restaurant, in dem die Person angestellt wird, auch tatsächlich auf die Küche des Landes spezialisiert ist, dessen Staatsangehörigkeit die Person hat (vgl. Anwerbestoppausnahme-Verordnung 1990: § 4, Abs. 4; Bundesanstalt für Arbeit 2003). Diese gesetzliche Regelung könnte ebenfalls Einfluss auf den Umbau von durch VietnamesInnen betriebenen Asia-Restaurants in vietnamesische Spezialitätenrestaurants gehabt haben, da auf diese Weise Familienangehörige nach Deutschland geholt werden können. Es liegt demnach nahe, dass es sich bei dem »Outen« in der Ga79 | Zu rechtlichen Regulierungen im Hinblick auf Einwanderung und beruflicher Selbständigkeit vgl. Kapitel 5.3.5 der vorliegenden Arbeit.
97
3 Einordnung des Fallbeispiels stronomie um eine Migrationsstrategie handelt, die zur ›Ethnisierung‹der MigrantInnengruppe beiträgt (vgl. Kap. 5.2.3 und 8.3). Auch Bildung ist weiterhin ein wichtiger Einreisegrund für VietnamesInnen. Zum Studium kommen VietnamesInnen weiterhin nach Deutschland, da Deutschland über weitreichende Studienmöglichkeiten und moderne Forschungseinrichtungen verfügt und in Deutschland bisher selten Studiengebühren gezahlt werden müssen. Daher ist das Studium in Deutschland im internationalen Vergleich, z. B. zu den USA oder Großbritannien günstig, u. a. weil die Universitätsabschlüsse durch die Einführung von Bachelorund Masterstudiengängen im Zuge des Bologna-Prozesses international anerkannt werden. Vor der Wende erhielten VietnamesInnen auf der Basis eines Bildungsabkommens zwischen der DDR und Vietnam Stipendien. Seit 1990 wird ein beachtlicher Anteil der jungen VietnamesInnen, die in Deutschland studieren, entweder von ihren Firmen oder von ihrer Familie finanziert. Einige erhalten Stipendien über den DAAD, InWent und die Begabtenförderungswerke. Mehr als 50 Prozent der vietnamesischen Studierenden finanzieren ihr Studium im Ausland privat, wobei die Hauptzielländer für vietnamesische Studierende Australien und China sind (vgl. EV9, Unternehmer; vgl. auch Dang et al. 2010: 13). Nach Aussage des DAAD erhalten nur zehn Prozent aller VietnamesInnen, die ein Studium in Deutschland aufnehmen, ein Stipendium. Immer mehr vietnamesische Mittelschichtskinder aus zahlungskräftigen Familien werden für ihr Studium nach Deutschland geschickt (vgl. DAAD 2007). Darüber hinaus gibt es die irreguläre Migration, die häufig mit dem Ziel verfolgt wird, ein erfolgreiches Asylverfahren zu bekommen. Engel zeigt auf, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF)80 nur in den seltensten Fällen aus politischen Gründen ankommen. Vielmehr schicken vietnamesische Mittelschichtsfamilien ihre Kinder aus ökonomischen Gründen im Sinne einer Familienstrategie nach Berlin (vgl. Engel 2006: 38 f.). Auch der Zugang zu besseren Bildungsinstitutionen in Deutschland könnte ein Grund für die Einreise Minderjähriger sein (vgl. ebd.: 40 f.). Irreguläre Zuwanderung geschieht auch in der Hoffnung, langfristig in Deutschland Fuß zu fassen und ein Aufenthaltsrecht zu bekommen (vgl. EB5). Ein beliebter Weg der irregulären Migration führt über den Landweg, neben Ungarn, Tschechien und Polen zurzeit über Spanien, da dies ein EU-Drittland ist, für das VietnamesInnen ein Visum bekommen können. Die kostengünstigste Route über Russland birgt die Hürde der Schengener Außengrenze. Erst in den EU-Ländern bestehen soziale Netzwerke und die Möglichkeit auf soziale Unterstützungsleistungen, wenn sie keine Arbeit finden (vgl. EV3). Die auf diesem Wege einreisenden MigrantInnen sind 80 | Genaue Zahlen über den Anteil vietnamesischer UMF an allen UMF in Berlin liegen nicht vor. Im Jahr 2005 waren die von Berliner Jugendämtern betreuten UMF zu ca. 75 Prozent vietnamesischer Nationalität (vgl. Engel 2006:43).
98
3.1 VietnamesInnen in Deutschland gut informiert und haben in der Regel schon vor ihrer Einreise ausreichende Informationen darüber, wohin sie in Deutschland gehen wollen. Berlin birgt als beliebtes Ziel irregulärer MigrantInnen ein großes vietnamesisches Netzwerk. Irreguläre MigrantInnen81 werden nach ihrer Ankunft in Wohnungen von VietnamesInnen untergebracht, die zu diesem Netzwerk gehörten und unauffällig lebten, so ein Experte (vgl. EB5). Eine neue Strategie vietnamesischer Migrantinnen stellt die Aussetzung der Abschiebung mit dem Ziel der Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung für sich und in der Regel neugeborene Kinder dar, die de facto vietnamesische Väter haben, jedoch über die Anerkennung von Vaterschaften durch deutsche Männer einen legalen Aufenthaltsstatus erlangen.82 Die meisten von ihnen nehmen ein informelles Beschäftigungsverhältnis in vietnamesischen Unternehmen oder in der beruflichen Selbständigkeit auf, wie z. B. im Zigarettenhandel. Der Arbeitsdruck auf diese Personen ist extrem hoch, da sie in der Regel Schulden gemacht haben, um nach Europa gelangen zu können. Diese Schulden müssen sie abbezahlen und arbeiten dafür zu einem »unvertretbar« (EB5) niedrigen Lohn. Danach planen viele von ihnen Geld zu sparen, um dieses nach Hause zu schicken (vgl. EB5, Politik; Mai 2010a). Eine Expertin ist der Meinung, dass junge VietnamesInnen Vietnam aus ökonomischen Gründen verlassen (vgl. EB10, NGO). In Vietnam ist die Arbeitslosigkeit nach Meinung der Expertin hoch, während sie offiziell nur bei 1,9 Prozent liegt. Bei den 15-19-jährigen liegt sie offiziell bei 11 Prozent (vgl. Dang 2003: 138), was ein Grund für den großen Anteil unter25-jähriger unter den neuankommenden VietnamesInnen in Deutschland sein könnte (vgl. Tab. 3). Arbeitslose VietnamesInnen versuchen in Vietnam mit kleinen Arbeiten zu überleben, oder sie bekommen Hilfe von ihren Familien (vgl. EB10, NGO). Ein staatliches Arbeitslosengeld gibt es nicht. Familien können jedoch auf Hilfe vom Staat zurückgreifen, wenn sie unter einer bestimmten Armutsgrenze eingeordnet werden und über ein sogenanntes poverty certificate verfügen.83 Durch Doi Moi (vgl. Abs. 3.1.1) und die Reisefreiheit, über die ehemalige VertragsarbeiterInnen erst seit 1997 mit dem Inkrafttreten der Bleiberechtsregelung verfügen, haben sich die transnationalen Netzwerke zwischen VietnamesInnen in Deutschland und Vietnam ausgeweitet und intensiviert (vgl. Weiss 2005a: 29 und 81 | Der aktuelle Preis für eine Einschleusung nach Deutschland liegt nach polizeilichen Schätzungen bei 7.000- 10.000 Euro (vgl. Mai 2010a). 82 | Zum Thema Scheinvaterschaften, die in Berlin am häufigsten in den Bezirken MarzahnHellersdorf, Lichtenberg und Neukölln registriert werden, vgl. u. a. RBB/ Rundfunk BerlinBrandenburg 2010; Mai 2010b; Strauss 2010. 83 | Für Hanoi wurde im Jahr 2009 die Armutsgrenze, die nach Provinzen bzw. urbanem/ ruralem Kontext variiert und Berechnungsgrundlage für das poverty certificate ist, für Durchschnittsmonatseinkommen unter 500.000 VND (ca. 30 USD) festgelegt (vgl. Oxfam and Action Aid Vietnam 2009: 67).
99
3 Einordnung des Fallbeispiels 2008: 155). Zudem werden die Chancen, die in deutsch-vietnamesischen Wirtschaftskooperationen liegen, stärker genutzt. Dazu tragen auch die sozialen Netzwerke der ehemaligen VertragsarbeiterInnen bei, die sich bis heute auf Vietnam ausdehnen und somit tragfähige Handelsbeziehungen ermöglichen (vgl. Dao 2005: 123). Diese Netzwerke blieben nach der Wende erhalten und dienen heute vietnamesischen und deutschen UnternehmerInnen als Basis für den Aufbau deutsch-vietnamesischer Wirtschaftsbeziehungen. Eine tragende Rolle spielen hier auch die RückkehrerInnen (vgl. Weiss 2005a: 29). Nachdem nun Gründe und Dynamiken aktueller Migrationen von VietnamesInnen auf globaler und bundesdeutscher Ebene dargelegt wurden, widmet sich der folgende Abschnitt den vietnamesischen MigrantInnen in Berlin.
3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin Die besondere Situation der vietnamesischen Gemeinschaft in Deutschland wird am Beispiel Berlins erkennbar. Trotz der zwei Dekaden, die seit der Wiedervereinigung vergangen sind, ist die vietnamesische Gemeinschaft Berlins in die zwei Subsysteme der Boat People und der ehemaligen VertragsarbeiterInnen gespalten und es gibt wenig Austausch zwischen ihnen – nicht zuletzt begründet durch politische Differenzen, wie z. B. ihre unterschiedlichen Einstellungen zur vietnamesischen Regierung. Die Mauer existiert bislang in ihren Köpfen, berichtet eine Expertin im Interview (vgl. EB1, NGO). Eine andere weitverbreitete Interpretation für das Nebeneinander der beiden Gemeinschaften ist der Vorwurf der Boat People gegenüber den VertragsarbeiterInnen, sowie deren Familiennachzug, den Irregulären und AsylbewerberInnen, diese schädigten den Ruf aller VietnamesInnen in Berlin durch den illegalen Zigarettenhandel (vgl. Schmiz 2006: 31). Diese beiden communities prägen heute die räumliche Verteilung und die soziodemographische Struktur der VietnamesInnen in Berlin. 3.2.1 Geographische Verteilung und soziodemographische Struktur Die Nachwendezeit bedeutete für VietnamesInnen in Berlin eine Übergangsphase, die durch Probleme, Unsicherheiten und neue Regelungen geprägt war. In dieser Zeit griffen sie auf soziale Netzwerke zurück, in denen sich emotionale und kulturelle Nähe vereinten, was sich auf der räumlichen Ebene in einem Zusammenrücken der Gemeinschaft innerhalb kleiner Wohngebiete ausdrückte (vgl. Weiss 2008: 153). Werden die MigrantInnenstatistiken der Bezirke Ostberlins betrachtet, fallen die VietnamesInnen als größte nichteuropäische Bevölkerungsgruppe auf, deren Größe leicht zunimmt (vgl. Abbildung 3.4). Obwohl am 100
3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin
14 000
12 165
12 494
12 814
11 767
2003
11 298
2002
10 858
8 903
10 425
1997
9 914
1996
8 368
1995
4 000
7 855
7 137
6 000
7 036
8 000
9 466
10 000
7 167
Anzahl
12 000
2007
2008
2009
2 000
1998
1999
2000
2001
2004
2005
2006
Abbildung 3.4: VietnamesInnen in Berlin von 1995 bis 2009, jeweils zum 31. Dezember (Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2010a; eigene Darstellung). 31.12.2009 in Berlin 12.81484 VietnamesInnen (Amt für Statistik BerlinBrandenburg 2010) mit legalem Status lebten, rücken diese erst in der jüngeren Vergangenheit ins Licht der Öffentlichkeit, während sie in einigen Bezirken, v. a. im Westen Berlins, bisher stark unterrepräsentiert sind (vgl. Hillmann 2005: 81). Polizeiliche Schätzungen zur Anzahl der VietnamesInnen in Berlin belaufen sich auf das zwei- bis dreifache der legal in der Stadt lebenden VietnamesInnen. 1996 lebten 70 Prozent der Berliner VietnamesInnen im Ostteil der Stadt, 2009 waren es rund 80 Prozent (vgl. Hillmann 2005: 94; vgl. Abbildung 3.5). Die höchste Konzentration von VietnamesInnen fand sich 2009 mit 2292 Personen in Lichtenberg (vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2010), wo sie überwiegend in Großwohnsiedlungen sozialistischen Stils zur Miete wohnen. Ein Experte aus der vietnamesischen Gemeinschaft in den neuen Bundesländern berichtet von seiner eigenen Studie zur Umzugsdynamik der VietnamesInnen, dass diese sich vor allem in die Ostberliner Großwohnsiedlungen einmieteten, da dort Wohnungen mit Balkon günstig zu mieten seien. Balkone seien das Hauptkriterium für ihre Selektion, da hier Satellitenschüsseln angebracht werden könnten, über die vietnamesisches Fernsehen empfangen werden könne (vgl. EV1). Die meisten VietnamesInnen leben und arbeiten in prekären Umständen, denn ihre Wohnungen sind oft klein für die Anzahl der dort lebenden 84 | Zu berücksichtigen ist, dass eingebürgerte VietnamesInnen aus dieser Statistik herausfallen. In Berlin wurden im Jahr 2008 196 VietnamesInnen eingebürgert, wovon 44 Prozent männlich waren (vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2009: 12).
101
3 Einordnung des Fallbeispiels
Abbildung 3.5: Die Verteilung der vietnamesischen Bevölkerung auf die Berliner Bezirke am 31. Dezember 2009 (Quelle: Amt für
Statistik Berlin-Brandenburg 2010; Konzept: Antonie Schmiz; Kartographie: Matthias Scheibner).
Personen85 und ihre Arbeitsstellen temporär bzw. sie sind in der beruf85 | Gesicherte Zahlen liegen für Berlin nicht vor. Es können jedoch aus der Situation in Brandenburg Rückschlüsse auf die Situation in Berlin gezogen werden. Vietnamesische Familien, die zu Arbeits- oder Ausbildungszwecken in die DDR eingereist sind, haben in Brandenburg einer durch die Integrationsbeauftragte und das Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie durchgeführten Studie zufolge zu 90 Prozent Kinder und leben zu 70 Prozent mit zwei Kindern in einem Vierpersonenhaushalt. 83 Prozent der befragten Personen leben in einer Ehe oder eingetragenen Partnerschaft (vgl. Mäker 2008: 11). Den Anteil von Ehen zweier vietnamesischer EhepartnerInnen unter VietnamesInnen in Berlin schätzt ein Experte auf 95 Prozent, was er mit dem engen familiären Zusammenhalt der VietnamesInnen begründet. Schon vietnamesische Kinder hätten häufiger vietnamesische als andere FreundInnen. Unter VietnamesInnen sei es unter den geschätzten verbleibenden 5 Prozent jedoch üblicher als Frau einen deutschen Mann zu heiraten als umgekehrt (vgl. EB9, Unternehmer). Der Trend, dass vietnamesische Frauen häufiger als vietnamesische Männer bezahlte Eheschließungen mit deutschen Männern eingehen, kann als Migrationsstrategie interpretiert werden (vgl. Abs. 3.1.3).
102
3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin 85 und mehr 75-85 65-75 55-65
Alter [Jahre]
45-55 35-45 25-35
Anteil der Gesamtbevölkerung
20-25
Anteil der vietnamesischen Bevölkerung
15-20 10-15 5-10 0-5
30
20
Frauen
10
0
10
20
30
Männer
Abbildung 3.6: Altersaufbau der Berliner Bevölkerung und der VietnamesInnen in Berlin am 31.12.2008 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a; eigene Darstellung). lichen Selbständigkeit stetig von der Schließung ihres Betriebes wegen ausbleibender Umsätze bedroht. VietnamesInnen in Berlin leben bevorzugt in Bezirken mit einer hohen Dichte an vietnamesischen MigrantInnen und der damit einhergehenden Infrastruktur, d. h. oft in den Ostberliner Bezirken (vgl. Abs. 3.2.1). Damit sind sie nicht nur ökonomisch und sozial, sondern auch räumlich exkludiert (vgl. Hillmann 2005: 94, 98). Bei der relativ jungen MigrantInnengruppe der VietnamesInnen in Berlin sind die drei Altersgruppen der 25 bis unter 35-jährigen, der 35- unter 45-jährigen und der 45- unter 55-jährigen mit insgesamt 61 Prozent am stärksten vertreten. Die am zweitstärksten vertretene Gruppe sind die 0 bis unter 25-jährigen mit 35 Prozent. In den Gruppen der über 55-jährigen sind VietnamsInnen lediglich mit 5 Prozent vertreten, während diese Gruppe in der gesamtberliner Bevölkerung 31 Prozent ausmachen. Das niedrige Durchschnittsalter vietnamesischer MigrantInnen in Berlin ist auf ihre junge Migrationsgeschichte und das junge Anwerbealter zurückzuführen. Das Geschlechterverhältnis ist mit einem Anteil von 51 Prozent Frauen relativ ausgeglichen, wie aus der obigen Graphik deutlich wird. Während die größte Gruppe männlicher vietnamesischer MigrantInnen in Berlin zwischen 45 und 55 Jahre alt ist, sind die Frauen am häufigsten zwischen 35 und 45 Jahre alt, da Frauen überwiegend jung rekrutiert wurden bzw. als Familiennachzug der Vertragsarbeiter der nächsthöheren Altersgruppe 103
3 Einordnung des Fallbeispiels nach Deutschland kamen (vgl. Statistisches Bundesamt 2009; vgl. Abb. 3.6). Die demographische Verteilung der VietnamesInnen in Berlin ist auf die relativ kurze Rekrutierungsdauer zu DDR-Zeiten zurückzuführen. VertragsarbeiterInnen, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre rekrutiert wurden und überwiegend als FacharbeiterInnen in die DDR kamen, gehören jetzt der Gruppe der 45- bis 65-jährigen an. Personen, die in den späten 1980er Jahren rekrutiert wurden, waren überwiegend noch sehr jung und niedrig qualifiziert, sodass sie der Gruppe der heute 35-45-jährigen angehören. Die unteren Altersgruppen der bis zu 35-jährigen sind zum Großteil der zweiten Generation zuzurechnen, die teilweise als Familiennachzug nach Deutschland kamen. Teile der jüngeren Kohorten zwischen 20 und 35 Jahre gehören zu den BildungsmigrantInnen. Die Jahrgänge ab 1990 wurden überwiegend in Deutschland geboren.86 Kulturelle Hintergründe der vietnamesischen Gesellschaft spiegeln sich in der vietnamesischen Gemeinschaft in Berlin wider und haben weitreichenden Einfluss auf ihre sozialen Handlungsweisen und Strategien. 3.2.2 Kulturelle Hintergründe, Religion und familiäre Rollenmuster Vietnamesische MigrantInnen weisen, wie in den vorangegangenen Abschnitten aufgezeigt, in mehreren Hinsichten heterogene Strukturen auf. Nicht zuletzt unterscheidet sich die Gemeinschaft der Boat People von den ehemaligen VertragsarbeiterInnen im Hinblick auf ihre kulturellen Hintergründe und religiöse Orientierung. Boat People, die zur Gruppe der ›ethnischen‹ Chinesen gehören, waren Anhänger des buddhistischen und christlichen, v. a. katholischen Glaubens (vgl. Hüwelmeier 2010: 134). Religiöse Praktiken der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen, wie der Ahnenkult, waren in den VertragsarbeiterInnenwohnheimen der DDR verboten und buddhistische Pagoden existierten zu diesem Zeitpunkt nicht (vgl. ebd.). Diese im sozialistischen Vietnam als überflüssig und abergläubisch abgetanen religiösen Praktiken spielten für vietnamesische VertragsarbeiterInnen in der DDR eine untergeordnete Rolle (vgl. Endres 2010: 118). Ihr nach der Wiedervereinigung Deutschlands neu erwecktes Interesse äußerte sich in Altären, die sie in ihren Wohnungen und Geschäften aufstellten, neu gegründeten buddhistischen Tempeln und Konvertierungen zum Christentum. Insbesondere die Ahnenverehrung fand durch die neue Mobilität im transnationalen Raum der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen Ende der 1990er Jahre eine Wiederbelebung, da sie von ihren Heimatbesuchen Requisiten für ihre Altäre mitbringen und der Ahnen grenzüberschreitend gedenken konnten (vgl. Hüwelmeier 2010: 134). Als verbindendes religiöses Moment kann für die Gemeinschaften der Boat People und der ehemaligen 86 | Leichte Unterschiede in den Gruppengrößen waren aufgrund der Gruppierung in der Datengrundlage nicht zu vermeiden.
104
3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin Vertragsarbeiter die Pfingstbewegung angesehen werden, die einen Weg in den Kapitalismus und etablierte Gesellschaften aufzeigt und durch ihre vereinende Mission eine transnationale und transpolitische Dimension aufweist (vgl. ebd.: 135). Die heutige Prägung der vietnamesischen Kultur und Erziehung ist maßgeblich auf den Konfuzianismus zurückzuführen. Dieser beabsichtigt die Wiederherstellung einer sozialen Ordnung auf der Basis von zwischenmenschlichen Beziehungen. Moralisches Handeln mit Rücksicht auf Andere und sich selbst in einer streng hierarchisch geordneten Gesellschaft, die überwiegend auf Erziehung und Selbstdisziplin basiert – auch als ›Mitmenschlichkeit‹ bezeichnet – waren demnach Grundpfeiler des Verhaltenskodexes (vgl. Rydstrøm und Drummond 2004: 8; Haberman 2008: 23, 28, 31; Schmidt 2005: 136, 138 f.). Die Verhaltensmaximen werden durch fünf reziproke Beziehungen gekennzeichnet: Güte des Herrschers Loyalität des Untertan, Liebe des Vaters - Pietät des Sohnes, Wohlwollen des Älteren - Ehrfurcht des Jüngeren, Gerechtigkeit des Mannes - Gehorsam der Frau, Treue des Freundes - Treue des Freundes (vgl. Lulei 2001). Freundschaftliche Beziehungen unterscheiden sich deutlich von innerfamiliären Beziehungen, denn die hierarchische Gliederung der vietnamesischen Familie spielt eine Rolle in der täglichen familiären Kommunikation. Demnach gab es nur unter FreundInnen die Pflicht zur Reziprozität auf einer Ebene, die frei von Hierarchien war. Auch Vertrauen, das später wieder aufgegriffen wird, bildet im Konfuzianismus eine Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft, denn ohne direkte Verbindung zwischen Wort und Tat verliert eine Gesellschaft ihren Halt (vgl. Haberman 2008: 27). Dabei bietet die Familie die wichtigste soziale Struktur in der vietnamesischen Gesellschaft und bildet das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens (vgl. Dalton und Ong 2001: 4). Ein Beispiel einer Kommunikation zwischen vietnamesischen Eltern und Kindern liefert ein Experte: Also das heißt z. B. ich darf nicht meinen Vater anschreien. Wenn ich so sage: ›Vater, was hast Du da gemacht, Du hast alles verkehrt gemacht‹, bekomme ich eine Ohrfeige. Wenn ich aber sage: ›Vater, das hast Du gut gemacht, aber so könntest Du das noch besser machen‹, dann kann man das so sagen. (EV4)
Reziprozität innerhalb vietnamesischer Netzwerke lässt sich neben freundschaftlichen und familiären auch in geschäftlichen Beziehungen wiederfinden. Hilfe wird nur innerhalb enger Beziehungen angeboten. Diese bestehen überwiegend innerhalb der Kernfamilien, teilweise auch im Rahmen der Großfamilie bzw. der weiteren Verwandtschaft. Unter Bekannten innerhalb der vietnamesischen Gemeinschaft sind Hilfsleistungen eher selten, können aber vorkommen, wenn sich diese z. B. mit einem gemeinsamen Herkunftsort identifizieren: 105
3 Einordnung des Fallbeispiels Sie helfen sich was Familie ist untereinander, vielleicht noch ein Bekannter aus der Stadt oder aus dem Dorf aber da schon weniger. Also eigentlich sind die vietnamesischen Händler untereinander Konkurrenten. (EB1, NGO)
Für eine Einordnung der Vertrauenswürdigkeit von GeschäftspartnerInnen ist es üblich, sich über Dritte Informationen einzuholen: Bevor man einem Unternehmen einen Auftrag gibt, dann hat man normalerweise schon eine private Beziehung mit dieser Firma. Sonst kann man sehr schwer eine Firma einschätzen, ob sie auch vertrauenswürdig ist, ob sie fähig ist usw. Dann sollte man vorher so mit anderen Informationskanäle benutzen, privat oder Bekannte und was die Leute schon für Erfahrungen mit dieser Firma haben usw. Man muss sich vorher erkundigen, ja. (UV11)
Die konfuzianische Orientierung der vietnamesischen MigrantInnen äußert sich u. a. in der hohen Wertschätzung der Bildung, die als zentrales Gut für einen sozialen oder beruflichen Aufstieg gilt (vgl. Haberman 2008: 24, 30). Die zentrale Stellung der Bildung mündet jedoch häufig in einen Leistungsdruck, der von Eltern auf ihre Kinder ausgeübt wird und in der vorliegenden Arbeit von besonderer Bedeutung ist, da er sich auf die berufliche Zukunft der zweiten Generation vietnamesischer MigrantInnen auswirkt (vgl. Hentschel zit. nach Müller 2006). Dennoch können Reziprozität und Bildungsorientierung nicht nur kulturell erklärt werden. Neu wahrgenommene Chancen im Aufnahmekontext und ein großer Erfolgsdruck, um den Strukturen der beruflichen Selbständigkeit zu entkommen, sind andere mögliche Erklärungen für die Leistungsorientierung der vietnamesischen SchülerInnen und Studierenden.87 Religion spielt für die vorliegende Arbeit eine Rolle, da religiöse Ansichten durch die Globalisierung und Ausbildung transnationaler Netzwerke nicht mehr lediglich lokal, sondern auch global verbreitet werden können. Gleichzeitig verändern die neuen transnationalen Kontexte religiöse Praktiken, während Religion zu einem wichtigen Bindeglied der Exilgemeinschaften wird (vgl. Hüwelmeier und Krause 2010: 1). In religiöser Hinsicht wird die vietnamesische Gesellschaft stark durch die buddhistische Religion und den Ahnenkult geprägt, während Cao Dai und Christentum ebenfalls eine Rolle spielen. Nur ein Teil der VietnamesInnen sind BuddhistInnen, sodass es in Berlin auch nur wenige buddhistische Pagoden oder Tempel gibt. Als Teil der vietnamesischen Kultur wird die Ahnenverehrung vor allem zu Hause praktiziert. Dort wird ein kleiner Ahnenaltar mit Fotos der eigenen 87 | Es sei an dieser Stelle vor kulturalistischen Erklärungen gewarnt, die auftauchen, wenn eine MigrantInnengruppe als natürliche Einheit angesehen wird, indem ihre Lebensweise und ihre Handlungen aus ihrer Kultur heraus erklärt werden, während der Aufnahmekontext vernachlässigt wird. Um die Bildungserfolge, Orientierungen und Familienstrukturen näher erklären zu können, müssten soziodemographische Daten herangezogen werden und eine soziale Differenzierung innerhalb der Gruppe der VietnamesInnen vorgenommen werden (vgl. Kapitel 2.1.7).
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3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin Vorfahren aufgestellt, denen zu Todes- oder an Feiertagen Opfergaben, wie z. B. Obst, Geld und Räucherstäbchen dargereicht werden.88 [...] Es gibt Tempel, also was wir Pagode nennen oder Pagode, weil wir hier nicht die Möglichkeit haben, eine Pagode zu bauen. Religion ist eigentlich eine persönliche Sache. Sie wird in der Familie zu Hause praktiziert. In jeder Familie gibt es einen Altar. Und was wir praktizieren ist mehr der Ahnenkult. Der Ahnenkult ist für die Ahnen, wie der Name sagt. Jede Familie hat einen Altar und am Todestag oder an Feierlichkeiten werden Opfer gebracht für die Ahnen. Buddha ist so geehrt als Meister, der uns die Moral beibringt. Er wird geehrt wie alle guten Menschen, die was in der Gesellschaft vollbracht haben. Ja, und Buddha gehört dazu. (EB10, NGO)
Die Ahnenverehrung gleicht eher einer Ethik als einer Religion und gründet auf dem Respekt gegenüber den Vorfahren über den Tod hinaus. Sie kann durch das Sprichwort, »man solle sich der Quelle erinnern, wenn man aus dem Fluss trinkt«, beschrieben werden (vgl. Lauser 2008: 158). Auch an Tet (Tet Nguyên Dán), dem vietnamesischen Neujahrsfest, werden die Ahnen herbeigerufen, es wird gemeinsam mit ihnen gefeiert und vor dem Ahnenaltar gespeist. Das Familienfest gilt als »das Fest der allumfassenden Erneuerung und Vereinigung« (Lauser 2008: 148, Hervorhebung im Original) und ist für AuslandsvietnamesInnen das wichtigste Fest im Jahr. Ein großer Teil der AuslandsvietnamesInnen fährt zu Tet nach Vietnam, um dort im Kreise der Großfamilie zu feiern. Damit ist es ein wichtiger Teil der transnationalen Mobilität.89 Die Regierung Vietnams ermutigt ihre Landleute in Übersee zur »Heimkehrbewegung zurück zu den Ursprüngen« und propagiert die Ahnenverehrung seit 2004 explizit (vgl. Lauser 2008: 164). Diese Politik der offenen Tür wurde im Zuge von Doi Moi (vgl. Abs. 3.1.1) auf dem 6. Parteitag 1986 beschlossen und trägt gemeinsam mit verschiedenen politischen Initiativen zur Reinklusion der AuslandsvietnamesInnen und, im Sinne von Basch et al. (vgl. Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1994; vgl. Abs. 2.1.4), zu einer »deterritorialisierten Nationenbildung« bei (vgl. Lauser 2008: 163, 165 f.). Damit werde – so Lauser (2008: 162) – die Mobilität und Zirkulation »in einer Erfahrung von Nation und Transnation normalisiert«. Übersee-VietnamesInnen erleben demnach im Modell des ›Gehens und Rückkehrens‹ (di-ve) während ihrer Migration eine nationale Zugehörigkeit, deren Ziel die Rückkehr ist. Der vietnamesischen Frau kommt in der Arbeitssituation im Aufnahmekontext keine Sonderrolle zu (vgl. Schmiz 2010). Dies begründet sich aus der Rolle der Frau in Vietnam, die dort genau wie hier den verschiedensten, auch zum Teil körperlich anstrengenden Arbeiten nachgeht. Eine Expertin bemerkt im Interview, dass es unter VietnamesInnen keine Geschlechter88 | Für weiterführende Informationen zum Thema Ahnenverehrung und Religion s. Lauser 2008, Hüwelmeier 2010. 89 | Das vietnamesische Außenministerium bezifferte die Zahl der zu Tet aus aller Welt heimkehrenden VietnamesInnen 2008 auf 500.000 (vgl. ebd.: 148).
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3 Einordnung des Fallbeispiels trennung gäbe und dass die vietnamesische Gesellschaft solche Strukturen nicht kenne (vgl. EB10, NGO). Die Meinung dieser Expertin ist diskussionswürdig und kann m. E. nicht für das gesamte gesellschaftliche Leben geltend gemacht werden. Anders scheint diesen Sachverhalt ebenfalls manch vietnamesische Frau in Berlin zu sehen, wo sich vietnamesische Frauen neuerdings eigenständig organisieren. Im März 2007 hat sich ein Frauenclub von 60- 80 Vietnamesinnen gegründet, die gemeinsam patriarchalische Strukturen abschaffen wollen und für mehr Unabhängigkeit vietnamesischer Frauen in Berlin und Vietnam eintreten. Sie wollen die starren Familienstrukturen aufbrechen, die in Vietnam bislang vorherrschen und kämpfen auf transnationaler Basis für die Akzeptanz neuer Familienmodelle (vgl. EB4, Politik). Die zweite Generation der VietnamesInnen hat sich wegen ihrer fundierten Deutschkenntnisse wesentlich besser in die deutsche Gesellschaft integrieren können als die Generation ihrer Eltern. Dies hängt nicht zuletzt mit der frühen Sozialisation in deutschen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen zusammen.90 Die Kinder der [vietnamesischen; Anm. A. S.] DDR-Vertragsarbeiter haben im Durchschnitt bessere Zeugnisse als deutsche Schüler und machen auch höhere Schulabschlüsse (Weiss zit. nach Müller 2006).
Konflikte entstehen weniger zwischen vietnamesischen und deutschen Jugendlichen als intergenerationell, d. h. in den vietnamesischen Familien, denn die patriarchalische Familienstruktur und die kindliche Ehrfurcht werden in den vietnamesischen Familien in Berlin meist nicht mehr so umgesetzt, wie sie im traditionellen Konfuzianismus praktiziert werden. So sei als Kehrseite der guten Schulerfolge der Leistungsdruck zu sehen, der von den Eltern auf die Kinder ausgeübt wird (vgl. Spiewak 2009). Konfliktpotential birgt auch die teilweise eingeschränkte Bereitschaft bzw. Möglichkeit der jüngeren Generation, die Sprache ihrer Eltern zu erlernen (vgl. Hillmann 2005: 96). Leistungsorientierte vietnamesische SchülerInnen, die trotz ihres Erfolges im Bildungssystem eine Ausgrenzung erfahren und sich nicht als gleichberechtigt gegenüber ihren deutschen MitschülerInnen erleben, zweifeln häufig an einer beruflichen Zukunft in Deutschland (vgl. Dao 2005: 124 f.). Intergenerationelle Konflikte gehen mit langen Arbeitszeiten der vietnamesischen Eltern einher, die sich häufig auf die Wochenenden ausdehnen und Möglichkeiten für einen sozialen Austausch dezimieren. Dies ist nicht zuletzt mit dem hohen finanziellen Druck zu begründen, der auf den Eltern lastet: 90 | Vietnamesische unter Dreijährige weisen in Tageseinrichtungen überdurchschnittliche Betreuungsquoten auf, die in Brandenburg beispielsweise bei 78 Prozent liegen (vgl. Mäker 2008: 15) im Vergleich zu allen unter Dreijährigen Brandenburgs (48 Prozent) und der BRD (20 Prozent)(vgl. Statistisches Bundesamt 2009).
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3.2 Vietnamesische MigrantInnen in Berlin Es gibt viele Frauen und Männer, die nur arbeiten und dabei alles andere vernachlässigen oder vergessen. (EB6, NGO)
Neben dem familiären Zusammenhalt und der Bildungsorientierung hat auch die zivilgesellschaftliche Organisation von VietnamesInnen einen Einfluss auf deren Arbeitsmarktinklusion. Es muss jedoch festgehalten werden, dass sich die meisten der traditionellen kulturellen Muster im Aufnahmekontext stark aufgelöst haben, was nicht zuletzt den der vietnamesischen und deutschen Gesellschaft zugrundeliegenden politischen Systemen des Kommunismus und der Mehrparteiendemokratie geschuldet ist. 3.2.3 MigrantInnenvereine und -organisationen In Berlin gibt es verschiedene vietnamesische Vereine, die teilweise in der Gemeinschaft der Boat People (z. B. ›Vietnamhaus e. V. ‹ in Kreuzberg), aber überwiegend in Ostberlin in der Gemeinschaft der NordvietnamesInnen, insbesondere der ehemaligen VertragsarbeiterInnen zu verorten sind (z. B. ›Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg e. V. ‹). Zwischen den Vereinen gibt es wenig Kooperation, da diese unterschiedliche Interessen verfolgen und teilweise miteinander konkurrieren (vgl. EB7, NGO). Eher scheint der Wettbewerb bzw. die Nähe zur vietnamesischen Botschaft strukturierendes Element in der Vereinslandschaft zu sein: Ich merke bloß, dass die Verbände untereinander oder die Mitglieder in den Verbänden einen ziemlichen Wettbewerb betreiben. (EB8, Unternehmer)
Die Trennung der Berliner VietnamesInnen in zwei Hauptgruppen spiegelt sich in ihrer Selbstorganisation wider. Neben den Belangen der Boat People einerseits und der VertragsarbeiterInnen und Irregulären andererseits setzen sich die Vereine beider Gruppen für die Belange von AsylbewerberInnen und Flüchtlingen ein. Die MigrantInnenselbsthilfeorganisationen haben sich in der Zeit der unsicheren aufenthaltsrechtlichen Lage der VietnamesInnen nach der Wende und als Reaktion auf ausländerfeindliche Übergriffe herausgebildet, die in den 1990er Jahren stark zunahmen (vgl. Weiss 2008: 153). Sie werden überwiegend von VietnamesInnen und in Ausnahmefällen von Deutschen geleitet, wie z. B. der Verein ›Reistrommel e. V.‹ in Berlin-Hohenschönhausen, der ebenfalls einen Schwerpunkt auf Sprach-, Inklusions- und kulturelle Förderung auch von Kindern und Jugendlichen legt. Die Vermittlung zwischen den verschiedenen vietnamesischen Gemeinschaften in Berlin haben sich manche Vereine zum Ziel gesetzt (vgl. EB3, Politik). Bisher fehlt ein vietnamesischer Dachverband in Deutschland (vgl. EB8, Unternehmer), der die unterschiedlichen o. g. Ziele bündeln bzw. koordinieren könnte. Hillmann beziffert die Vereine 109
3 Einordnung des Fallbeispiels und Institutionen, die sich in Berlin auf VietnamesInnen konzentrieren, auf ungefähr 20 (vgl. Hillmann 2005: 94). Insgesamt sind wenige VietnamesInnen in Vereinen organisiert, was auf das Nichtvorhandensein eines Vereinswesens in Vietnam zurückgeführt werden könnte (vgl. EB5, EB6, EB10). In Vietnam gibt es kein Vereinsgesetz, das dem deutschen nahe kommt. Vereinsgründungen müssen von der Regierung genehmigt werden und es bedarf dafür guter Beziehungen (vgl. EV10, Forschung). Damit hängt auch das Misstrauen der VietnamesInnen gegenüber Vereinen und Verbänden zusammen. Sie beraten sich überwiegend informell, d. h. außerhalb von Vereinsstrukturen (vgl. EB10, NGO). Für vietnamesische Vereine heißt dies konkret, dass sie bei vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen jedoch eine große Anzahl von ›Assoziierten‹ haben, die an kulturellen und sonstigen Veranstaltungen teilnehmen: Die Zahl [der Mitlieder, Anm. A. S.] ist äußerst gering, äußerst gering. Die Vietnamesen sind nicht gewöhnt, sich in Vereinen zu organisieren. Sie sind durchaus gerne bei losen Veranstaltungen dabei – kulturellen, sportlichen und so. Und auch [zur] Freizeitgestaltung sind sie gerne zusammen, sehr, sehr gerne zusammen. Aber das im Rahmen von einem festen, von einem starren Verein, in ihren Augen starren Verein, das sind sie nicht gewöhnt. In Vietnam sind sie das nicht gewöhnt. [...] Ich bin mir ganz sicher, wenn sie jetzt zu den Vereinen gehen und die Statistik holen, offiziell sind ganz wenige Mitglieder. Was aber nicht heißt, dass wenige Leute dort hingehen. Aber offiziell Mitglieder sind sicher eine sehr geringe Zahl. (EB5, Politik)
Erfahrungen des Leiters eines vietnamesischen Vereins gleichen den Einschätzungen des Experten: Also bei uns offiziell sind wir nur 50 Leute als Mitglieder. Aber da kommen zum Gesellschaftsleben hin und wieder mehrere Hundert. Die einen mit Kindern, die anderen mit Fußball, die anderen mit Kochen, die anderen mit Chinesisch lernen sozusagen. Also verschiedene, die nicht offiziell hier als Mitglieder geführt sind [...]. (EB6, NGO)
Eine Expertin betont die rege Anteilnahme von Deutschen aus der Umgebung der vietnamesischen Begegnungszentren an deren Veranstaltungen: Das sieht jetzt so aus, dass das ein richtig gut laufendes Begegnungszentrum ist. Und wenn die Vietnamesen etwas veranstalten, dann kommen ganz viele Deutsche aus der Umgebung. Für die ist das vollkommen selbstverständlich, dass die da hinkommen. (EB4, Politik)
Der ›Verein vietnamesischer Unternehmer in Deutschland e. V. ‹ besteht erst seit wenigen Jahren und hatte Mitte 2007 ca. 15 Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet. Seit Mitte 2007 bringt er monatlich das Journal ›Doanh nghiep Viet-Dúc‹ heraus, das neben Testfragen aus dem Einbürgerungstest und anderen praktischen Hinweisen Informationen über die Wirtschaftsentwicklung in Vietnam, in Deutschland und auf globaler Ebene übermittelt (vgl. EB9, Unternehmer; Vietnam-Infothek 2009). So heißt es in der Zielsetzung des Journals: 110
Exkurs: Die Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors in Vietnam Das Journal ist nicht nur ein Nachrichtenüberbringer, sondern gibt den vietnamesischen Unternehmern und Lesern auch die Möglichkeit, sich bei vielen Problemen hinsichtlich der Gesetzgebung, der Steuerfragen, der Entwicklung der neuen Geschäftsideen, der Existenzgründung etc. beraten zu lassen.[...] Der zweisprachige Teil (DeutschVietnamesisch) des Journals dient dazu, den deutschen Lesern bestimmte Informationen über die Wirtschaftsentwicklung in Vietnam sowie die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern Vietnam und Deutschland zu übermitteln. (Vietnam-Infothek 2009, 20.7.)
Ein Mitarbeiter einer NGO führt an, dass vietnamesische Eltern aufgrund ihres erheblichen Arbeitsumfangs keine Zeit haben, ihren Kindern Lesen und Schreiben auf Vietnamesisch beizubringen. Daher beherrschen VietnamesInnen der zweiten und dritten Generation ihre Muttersprache oftmals nicht mehr in Schriftform. In diese Lücke ist sein Verein eingesprungen und bietet Vietnamesischunterricht für vietnamesische Kinder an. Der Andrang für die Kurse, die am Wochenende stattfinden, ist enorm groß (vgl. EB6, NGO). Im Folgenden wird ein Exkurs zur Entwicklung des privatwirtschaftlichen Sektors in Vietnam geliefert. Dieser liefert die Grundlage für den Argumentationsgang der vorliegenden Arbeit, der sich bei der Analyse der Arbeitsmarktinklusion und des hohen Anteils vietnamesischer Selbständiger in Berlin von kulturalistischen Erklärungsmustern verabschiedet.
Exkurs: Die Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors in Vietnam Der transnationale Handel, der zwischen Vietnam und VietnamesInnen in Übersee stattfindet, stellt bezogen auf die vietnamesische Geschichte keine Neuheit dar. Bereits im 16. Jahrhundert gab es einen regen Warenaustausch zwischen VietnamesInnen und Europäern. Handelskontore, die von EngländerInnen und NiederländerInnen im späten 17. Jahrhundert in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi aufgebaut wurden, scheiterten, da die VietnamesInnen den ausländischen HandelspartnerInnen rigide Handelsbeschränkungen auferlegten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde unter französischer Besatzung der Handel wieder aufgenommen (vgl. Waibel 2002: 70). Nach dem ersten Weltkrieg wurde Indochina unter französischer Herrschaft zu einer Exportökonomie ausgebaut, mit Kautschuk, Bergbauprodukten und Reis als Hauptexportprodukten. Nur im kleinen Umfang errichtete die französische Besatzungsmacht Betriebe der verarbeitenden Industrie, die v. a. Nahrungsmittel, Textilien, Papier, Zement und Ziegelsteine für den regionalen Bedarf herstellten (vgl. Waibel 2002: 97). Der 1889 von den Franzosen in der Altstadt Hanois errichtete Dong Xuan Markt nimmt bis heute die Funktion eines Großhandelszentrums ein, in dem
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3 Einordnung des Fallbeispiels Produkte aus dem ganzen Land umgeschlagen und an EinzelhändlerInnen weiterverkauft werden (vgl. Turner 2009: 1209).91 1954 wurde 70-80 Prozent der Reisversorgung des damals 400.000 Einwohner umfassenden Hanois über Saigon abgewickelt, so dass zu dieser Zeit jede zweite Familie ihr Einkommen aus dem Handel bezog (vgl. Turley 1975: 373; Turner 2009: 1210). Von 1954 bis 1956 war der private Handel weitgehend toleriert, da er als geeignetes Instrument zur Reduktion der Massenarbeitslosigkeit nach dem Krieg angesehen wurde (vgl. Turley 1975). Mitte der 1950er Jahre wurde mit den ersten Maßnahmen zur Verstaatlichung des Handels begonnen, die ab 1958 rigoros umgesetzt wurden (vgl. Waibel 2002: 122; Turner 2009: 1211). Ehemals selbständige HandwerkerInnen und Einzel- und GroßhändlerInnen mussten sich bis 1959 oftmals Kooperativen anschließen bzw. wurden Angestellte in staatlichen Handelsunternehmen. Es gelang der Regierung jedoch nicht, privatwirtschaftliche Aktivitäten vollständig zu unterdrücken und bis 1974 stieg der verbliebene Anteil des Privathandels von 15 Prozent wieder auf 28 Prozent an (vgl. Waibel 2002: 122 f.; Turner 2009: 1204). Nachdem Hanoi zum Ende des 2. Indochinakrieges hin 1973 einen großen Bevölkerungszustrom erlebte und die staatlichen Handelsunternehmen keine ausreichende Versorgung der Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleisten konnten, nahm der Privathandel wieder zu und es bildete sich ein von den staatlichen Behörden tolerierter informeller Sektor zur Versorgung der Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Produkten heraus (vgl. Waibel 2002: 109, 123 f.). Auch der überwiegend privatwirtschaftliche Handwerkssektor, der maßgeblich zum Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Stadt beitrug, wurde von der Regierung toleriert (vgl. Turner 2009: 1212). Die Wiedervereinigung Vietnams und die zunächst informelle Handelsaufnahme mit Ho Chi Minh Stadt (i. F. HCMC) 1976 führten ebenfalls zur Wiederbelebung des privaten Sektors. Wichtigste Handelsgüter in Hanoi waren von 1976 bis 1986 Konsumgüter aus HCMC, Fertigwaren, die von VietnamesInnen aus den sozialistischen Bruderländern in die Heimat zurückgeschickt wurden und Schmuggelwaren aus China. 1979 wurde das Bestehen verschiedener Wirtschaftszweige offiziell anerkannt und damit die Schattenwirtschaft nachträglich legalisiert. Dennoch spielte der Privathandel in Hanoi weiterhin eine untergeordnete Rolle (vgl. Waibel 2002: 109, 123 f.; Turner 2009: 1213). In dieser Zeit spielten soziale Netzwerke eine entscheidende Rolle für die Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern (vgl. ebd.: 1213). Die Wirtschaftskrise der Jahre 1978-81 zwang VietnamesInnen häufig zur Aufnahme einer Zweitbeschäftigung, was privaten Handels- und informellen Dienstleistungsaktivitäten zum Aufschwung verhalf. Schon zu dieser 91 | Dieser Markt steht dem im Berliner Bezirk Lichtenberg gelegenen Dong Xuan-Markt mit seinem Namen Pate.
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Exkurs: Die Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors in Vietnam Zeit wurden die knappen Löhne von Staatsangestellten durch informelle Nebentätigkeiten aufgestockt, ohne die in den frühen 1980er Jahren eine wirtschaftliche Existenz undenkbar war (vgl. Shaplen 1986: 80). Der Einzelhandel wurde angesichts der herrschenden Armut als Überlebensstrategie betrieben (vgl. Shaplen 1986: 80, Waibel 2002: 154). Mitte der 1980er Jahre spielte sich schätzungsweise 55 Prozent des Einzel- und 50 Prozent des Großhandels landesweit jenseits der staatlichen Kontrollen ab (vgl. ebd.: 126). Dies konnten auch rigorose staatliche Eingriffe zur Schließung illegaler Märkte an den Handelsknotenpunkten nicht unterbinden (vgl. ebd.: 128 f.). 1986 führte Vietnam auf dem 6. Parteitag der Kommunistischen Partei den wirtschaftlichen Reformkurs Doi Moi (wörtlich: Erneuerung, vgl. Abs. 3.1.1) ein, der die Planwirtschaft durch eine Marktwirtschaft mit sozialistischer Prägung ablöste (vgl. Neubert und Roeckel 2008: 8). Damit war eine Dekollektivierung, eine Öffnung der Wirtschaft für Außenhandel und ausländische Investitionen und die Wiedereinführung von Privatbesitz innerhalb einer multisektoralen Wirtschaft verbunden (vgl. Turner und Nguyen 2005: 1693). Mit Doi Moi setze ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 7-8 Prozent des BIP und ein Anwachsen des Exportes um über 20 Prozent jährlich ein, das bis zur Wirtschaftskrise im Jahr 2008 anhielt (vgl. Neubert und Roeckel 2008: 8). Die damit verbundenen Reformen erlaubten 1988 zum ersten Mal das Anstellen von MitarbeiterInnen in privaten Unternehmen. Die Kehrseite der wirtschaftlichen Öffnung stellte eine Zunahme der Arbeitslosigkeit dar (vgl. Turner und Nguyen 2005: 1693), die 2008 bei 4,65 Prozent lag (vgl. General Statistics Office of Vietnam 2010a). Darauf wurde mit einem raschen Anstieg von der Hanoier Altstadt ausgehender privater Geschäfts- und insbesondere Handelstätigkeiten im informellen und formellen Sektor reagiert (vgl. Waibel 2002: 133), die seit 1992 2,5 Mio. registrierte Familienunternehmen umfasst (vgl. Neubert und Roeckel 2008: 8). Schätzungsweise 70 Prozent der Personen, die aus den staatlichen Betrieben freigesetzt wurden, gründeten kleine private Unternehmen oder wurden in solchen angestellt (vgl. Le und Rondinelli 1993: 9, zit. nach Turner 2009: 1214). Der private Sektor bot 1991 bereits 31 Prozent der Erwerbstätigen ein Auskommen (vgl. General Statistics Office 1993 zit. nach Forbes und Le 1996: 89). Für den Wiederaufbau der Privatwirtschaft wurden Kontakte aus vorangegangenen Angestelltenverhältnissen und Know-how genutzt, das innerhalb der Familien weitergegeben wurde. Human- und Sozialkapital waren in dieser Zeit unentbehrlich (vgl. Turner und Nguyen 2005; Turner 2009: 1214 f.). Die Privatwirtschaft umfasste in den 1990er Jahren Handel und Dienstleistungen, Werkstätten und kleine Fertigungsbetriebe in den Erdgeschossen der Wohnhäuser sowie das fliegende HändlerInnentum in den Straßen, 113
3 Einordnung des Fallbeispiels welches sich auf den Handel mit Obst, Brot, Gemüse und Blumen konzentrierte (vgl. Waibel 2002: 138). Die AkteurInnen des informellen Sektors, des fliegenden HändlerInnentums, sind meistens Frauen, die ihren Wohnsitz in den ländlichen Gebieten rund um Hanoi oder in den slumähnlichen Siedlungen entlang des Roten Flusses haben (vgl. ebd.: 138; Jensen und Peppard jr. 2003: 72). Die StraßenhändlerInnen haben einen niedrigen sozialen Status und können aufgrund ihrer geringen Qualifikation nicht am formalen Arbeitsmarkt partizipieren (vgl. Jensen und Peppard jr. 2003: 72). Die Handelstätigkeit führen sie meistens ergänzend zu ihrer Arbeit in der Landwirtschaft aus, deren Erzeugnisse sie in Hanoi verkaufen, und sind damit in zwei verschiedene Arbeitsmärkte integriert. Jensen und Peppard konnten in ihrer Studie, in der 379 StraßenhändlerInnen befragt wurden, jedoch keinen Hinweis darauf finden, dass der informelle Sektor als Vehikel für einen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt genutzt wurde. Im Fall der StraßenhändlerInnen wird der informelle Handelssektor zu einem essentiellen Zusatzeinkommen für Familien im ländlichen Vietnam, da ihr durchschnittliches jährliches Einkommen nur 265 USD beträgt (vgl. ebd.: 73- 80). Bereits im konfuzianisch geprägten Vietnam und vor allem im sozialistischen System waren UnternehmerInnen am unteren Ende der sozialen Pyramide angesiedelt, da sie als betrügerisch galten. Diese Einstellung hat sich im gesellschaftlichen Denken Vietnams bis heute gehalten, auch wenn sie seit Doi Moi nicht mehr der staatlichen Politik entspricht (vgl. Duong 2002 zit. nach Turner und Nguyen 2005: 1699; Viet Nam Net 2008). Während im sekundären Sektor staatliche Unternehmen überwogen, waren ca. zwei Drittel der Betriebe des tertiären Sektors in Hanoi Ende der 1990er dem privaten Sektor zuzurechnen. Davon sind 60 Prozent dem Handel zuzuschreiben, der überwiegend durch Individual- und Familienunternehmen getragen wird und zu 59 Prozent des Bruttoregionalproduktes Hanois beiträgt. Gehandelt wird vor allem mit Lebensmitteln, Haushaltswaren und Bekleidung. Ca. 25 Prozent der Erwerbstätigen in diesem Bereich betreiben Garküchen, Restaurants und Cafés (vgl. Waibel 2002: 165).92 Seit 1995/96 war es vietnamesischen Unternehmen erlaubt, am internationalen Import-Exportmarkt teilzunehmen (vgl. Neubert und Roeckel 2008: 8). Zwischen 1999 und 2001 wurden zahlreiche neue Gesetze erlassen, die kleinen und mittelständischen Unternehmen eine sektorale Freiheit erlauben und zum Abbau bürokratischer Hürden beitrugen. Diese Gesetze hatten 150.000 neue Unternehmensgründungen zur Folge, die innerhalb von fünf Jahren zwei Millionen neue Arbeitsstellen schufen (vgl. Neubert und Roeckel 2008: 8 f.; Turner und Nguyen 2005: 1698). 2008 92 | Statistische Angaben sind im Bereich des Privatsektors mit Vorsicht zu genießen, da der informelle Handel nicht miterfasst wird, jedoch einen großen Anteil ausmacht (vgl. Waibel 2002: 165).
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Exkurs: Die Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors in Vietnam waren es lediglich neun Prozent aller Personen, die im staatlichen Sektor arbeiteten, während 87 Prozent im nichtstaatlichen und 4 Prozent in ausländischen Unternehmen arbeiteten (vgl. General Statistics Office of Vietnam 2010b). In einer Studie über junge vietnamesische UnternehmerInnen untersuchen Turner und Nguyen die Rolle von bonding, bridging und linking Sozialkapital (vgl. Abs. 2.1.6). Da die Ergebnisse der Studie Parallelen zu den vietnamesischen UnternehmerInnen in Berlin aufweisen, wird diese hier näher dargestellt. Berufliche Selbständigkeit ist in Vietnam bis heute ein neues Konzept und eine Praxis, die erst durch die open-door-Politik (chính sách mo cua) verbreitet wurde. UnternehmerInnentum wird von der vietnamesischen Regierung mit dem Slogan prosperous people, strong nation (dân giàu nuóc manh) propagiert. Hinter dem Slogan steckt die Aussage, jede/r könne durch individuellen Reichtum zum Wohlstand der Nation beitragen (vgl. Turner und Nguyen 2005: 1699). Der UnternehmerInnengeist junger Menschen – vor allem in den städtischen Agglomerationsräumen – in Vietnam trägt entscheidend zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei (vgl. ebd.: 1694). Für den Aufbau ihrer Unternehmen greifen junge UnternehmerInnen massiv auf soziale Netzwerke zurück, während keine/r der Befragten Mitglied in einem UnternehmerInnenverband oder Freizeitverein war. Die beiden Forscherinnen porträtieren Fälle von jungen UnternehmerInnen in Hanoi und kommen zu dem Schluss, dass junge UnternehmerInnen vor allem auf bonding Sozialkapital zurückgreifen, indem sie Familienmitglieder als MitarbeiterInnen rekrutieren und das Kapital für die Unternehmensgründung bzw. -expansion innerhalb des engsten sozialen Netzwerkes leihen. Diese horizontalen Strukturen werden durch die beschränkten Möglichkeiten gestärkt, ökonomisches Kapital über formelle Kanäle – Kredite von Banken – zu erhalten. Dass die Familie der Dreh- und Angelpunkt für soziale und ökonomische Aktivitäten in Vietnam bleibt und Vertrauen nur unter einer begrenzten Anzahl von Bezugspersonen besteht, spiegelt sich in dem vietnamesischen Sprichwort: »Ein Tropfen Blut ist mehr wert als ein Teich voll Wasser« (Giot máu dào hon ao nuóc lã, vgl. ebd.: 1704) wider. Die sich daraus ergebenden engen Bindungen, die Putnam als bonding social capital bezeichnet, können durch eine erwartete Reziprozität negative Konsequenzen haben, z. B. wenn ein Zwang besteht, Familienmitglieder trotz unzureichender Qualifikationen als MitarbeiterInnen einzustellen. Nur ein Unternehmer griff in Form von Mikrokrediten aus dem weiteren Bekanntenkreis auf das sogenannte bridging Sozialkapital zurück, das ihm Zugang zu einem größeren Netzwerk verschaffte. Der Rückgriff auf bridging und linking Sozialkapital ist in Vietnam bislang wenig entwickelt und birgt Potentiale für eine Inklusion der UnternehmerInnen in vertikale soziale Netzwerke (vgl. ebd.). Fukuyama fasst die Wechselwirkung der drei Kapitalien in dem Sinne zusammen, dass die 115
3 Einordnung des Fallbeispiels Stärke familiärer Netzwerke die Verbindungen von nichtverwandten Individuen schwäche (vgl. Fukuyama 1996: 56). Diese Nutzung der Kapitalien und auch die Inklusion der VietnamesInnen in den privatwirtschaftlichen Sektor spielen eine wichtige Rolle für die Erklärung ihrer Handlungsstrategien im Aufnahmekontext (vgl. Kapitel 5 und 8).
3.3 Zwischenfazit Im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird deutlich, dass VietnamesInnen in unterschiedlichen Kontexten nach Deutschland migrierten und sich in vier Untergruppen untergliedern lassen – Boat People, VertragsarbeiterInnen, Studierende und Irreguläre. Es wurde erstens gezeigt, dass diese drei Gruppen in Deutschland in unterschiedliche Arbeitsmärkte integriert sind. Netzwerke nach Vietnam sind vor allem bei den ehemaligen VertragsarbeiterInnen stark ausgeprägt, was auf das Rotationssystem der Arbeitskräfteanwerbung seitens der DDR zurückzuführen ist. Vietnamesische VertragsarbeiterInnen stellen in Berlin eine besonders große MigrantInnengruppe dar und es lag eine spezielle Ausgangssituation bezüglich ihrer Arbeitsmarktinklusion vor, da sie mit dem Ende der DDR zum größten Teil aus ihren Arbeitsverträgen entlassen wurden und mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus in der beruflichen Selbständigkeit Fuß zu fassen versuchten. Zweitens wurde deutlich, dass sich kulturelle Spezifika, wie die Rolle der Bildung, der Frau sowie der Arbeit stark auf das Zusammenleben vietnamesischer Familien und deren soziale und berufliche Inklusion im Aufnahmekontext auswirken. Auch ist die geringe Organisation der VietnamesInnen in Vereinen und Verbänden eine Wechselwirkung aus ihrer vietnamesischen Herkunft und ihren Problemen, sich mit ihren begrenzten Deutschkenntnissen im Aufnahmekontext zu organisieren. Die Aussage einer Expertin, es sei eine Zunahme der Vernetzung und Organisation unter den vietnamesischen UnternehmerInnen zu verzeichnen (vgl. EB3, Politik), untermauert eine der zentralen Hypothesen der vorliegenden Arbeit. Ich erweitere diese Hypothese mit der Annahme, dass ökonomisches Handeln bei vietnamesischen MigrantInnen in soziale Netzwerke eingebettet ist (vgl. Abs. 8.2 und 8.3). Drittens verdeutlicht das Kapitel die Rolle des privatwirtschaftlichen Sektors in Vietnam. Obwohl dieser eine zunehmend wichtige Rolle für den vietnamesischen Arbeitsmarkt einnimmt, hat er sich größtenteils erst nach der Anwerbung der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen herausgebildet.Dieser zentrale Aspekt wird in Kapitel 8 wieder aufgegriffen. Zunächst wird die methodische Einbettung der vorliegenden Arbeit dargestellt.
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4 Methodisches Vorgehen Das Methodenkapitel der vorliegenden Arbeit ist in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil (Abs. 4.1-4.1.6) wird die Theorie der verwendeten Methoden dargestellt und Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden diskutiert. Dafür wird neben verschiedenen anderen sowohl auf die Standardwerke der sozialwissenschaftlichen Methodenforschung (vgl. Lamnek 2005; Flick, von Kardorff und Steinke 2004) zurückgegriffen, als auch auf anthropogeographische Methodenliteratur (Reuber und Pfaffenbach 2005; Meier Kruker und Rauh 2005), da diese eine geographische methodische Vorgehensweise besonders gut wiedergibt. Im zweiten Teil (4.2) wird die eigene methodische Vorgehensweise beschrieben und begründet, warum die gewählten Methoden angewendet wurden.
4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung Die systematische Gewinnung und intersubjektive Nachvollziehbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse ist eine Gemeinsamkeit der quantitativen und qualitativen Sozialforschung. Was sie jedoch unterscheidet, ist die Annahme qualitativer Sozialforschung, dass wissenschaftliche Erkenntnis und Alltagserkenntnis den gleichen Prinzipien unterliegen. Die Repräsentativität ist hier weniger bedeutsam, da sich das Forschungsinteresse weniger auf die zahlenmäßige Verteilung bestimmter Merkmale als auf die Erkenntnis typischer Zusammenhänge richtet, durch deren Abstraktion das Wesentliche herausgearbeitet wird (vgl. Lamnek 2005: 183). Die statistisch abzusichernde Repräsentativität wird in der qualitativen Sozialforschung vom Begriff des Typischen abgelöst, d. h. die rekonstruierten Deutungsund Handlungsmuster sind typisch für die Gruppe der Untersuchten (vgl. ebd.: 185). Die qualitative Sozialforschung verfolgt den Anspruch, die Alltagswirklichkeit des Untersuchungsobjektes in dessen eigenen Kategorien durch den/die Forschende/n zu beschreiben und die Ergebnisse intersubjektiv nachvollziehbar, d. h. überprüfbar darzulegen, so dass sie beliebig reproduzierbar sind (vgl. ebd.: 275, 329). Durch eine exemplarische Verallgemeinerung wird in der qualitativen Sozialforschung generalisiert, wobei das Exemplar als Teil einer Einheit – pars pro toto – betrachtet wird, so dass die Generalisierbarkeit über Fallbeispiele hinaus gegeben ist. Der Forschung liegt dabei immer eine theoretisch-systematische Auswahl zugrunde (vgl. ebd.: 186). Eine bestmögliche Vergleichbarkeit wird durch 117
4 Methodisches Vorgehen die Standardisierung von methodischen Abläufen wie Beobachtungsrastern, Interviewleitfäden und Interpretationsschemata erreicht (vgl. Meier Kruker und Rauh 2005: 33). Weitere wichtige Bedingungen der qualitativen Sozialforschung umfassen die Vertrautheit des/der Forschers/in mit dem Forschungsgegenstand, eine vergleichsweise geringe Fallzahl und die Bezugnahme auf den Lebenskontext der Untersuchten (vgl. Lamnek 2005: 186). Barton und Lazarsfeld (1979) liefern einen frühen Beitrag zur systematisierten empirischen Sozialforschung, indem sie die praktischen Arbeitsschritte bis hin zur Analyse erklären und damit offenlegen. Qualitative Forschung bleibt für sie allerdings lediglich explorativen bzw. jenen Bereichen vorbehalten, die quantitativen Methoden nicht zugänglich sind (vgl. ebd. zit. nach Lamnek 2005: 94). Ihre konkreten Anweisungen beinhalten u. a. die Erstellung deskriptiver Systeme aus qualitativen Beobachtungen. Diese Beschreibungen können z. B. als Typologien verfasst werden (vgl. Barton und Lazarsfeld zit. nach Lamnek 2005: 95). In der deutschsprachigen Geographie werden qualitative Methoden seit den 1980er Jahren diskutiert, obwohl auch frühe Forschungsarbeiten, wie z. B. die 200 Jahre alten Reiseberichte Alexander von Humboldts auf qualitativen Methoden – Beobachtungen oder Gesprächen mit ExpertInnen und Laien – basieren (vgl. Meier Kruker und Rauh 2005: 19). In den 1960er und 70er Jahren erlebte die Geographie einen Umbruch von einer traditionellen Landschafts- und Länderkunde mit erheblichem Theoriedefizit hin zu einer Wissenschaft mit einer umfassenden theoretischen Fundierung, die sich stärker gesellschaftspolitisch relevanten Fragestellungen widmete. Nach dem Vorbild der angelsächsischen Geographie wurden durch die deutschsprachige Geographie mit der Einführung von Computern zunächst die ›quantitative Revolution‹ mit ihren Methoden und Modellen und später auch qualitative Methoden und kritische Ansätze übernommen (vgl. ebd.: 20). Dieser methodologische Wandel stand in der Tradition des kritischen Rationalismus (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 109). In der Umbruchszeit zwischen der quantitativen und der qualitativen Ära wurden Methoden wie die mental map oder die kognitive Karte entwickelt (vgl. Meier Kruker und Rauh 2005: 21; 70).93 Die erste qualitative Arbeit in der deutschsprachigen geographischen Migrationsforschung lieferte Hillmann im Jahr 1996 zu Migrationsstrategien von philippinischen, peruanischen und somalischen Frauen nach Europa (vgl. Hillmann 1996). Radikalere Kritik an der quantitativen Methodik kam aus der politischen, neo-marxistischen (vgl. z. B. Harvey 1973) und der feministischen Geographie (vgl. u. a. Wastl-Walter 1985; McDowell 2003; Fleischmann und Meyer-Hanschen 2005). Bemängelt wurde die scheinbare Objektivi93 | Dabei wurden Befragte aufgefordert, räumliches Wissen und räumliche Präferenzen als Karten zu zeichnen (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 21, 70).
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4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung tät von Sachzusammenhängen, ohne zu berücksichtigen, dass diese als gesellschaftliche Konstruktionen entstanden sind und als solche in ihren spezifischen Kontexten und Interessenzusammenhängen zu analysieren und zu hinterfragen sind. Machtverhältnisse sollten stärker berücksichtigt und Diskurse dekonstruiert werden (vgl. Meier Kruker und Rauh 2005: 21). In der humanistisch-hermeneutisch orientierten Kritik wurde angestrebt, Menschen als Handelnde mit verschiedenen kulturellen Hintergründen in ihrem Verhältnis zur Umwelt und Gesellschaft zu verstehen. 1981 forderte Eugen Wirth eine Sozialgeographie auf der Basis moderner Handlungstheorien, nach denen Individuen erst durch ihr Handeln eine Bedeutung erhalten. Schließlich wurde durch die Arbeiten von Wolfgang Hartke und Benno Werlen der Grundstein für eine stärker sozialwissenschaftlich orientierte Geographie gelegt. Die Methodendiskussion blieb in der Geographie bis in die späten 1980er Jahre allerdings nebensächlich (vgl. Wirth 1981, 1987, 1995 in Meier Kruker und Rauh 2005: ww23). Heute stehen qualitative sozialgeographische Studien häufig in der Tradition des sozialen Konstruktivismus, der zwar anerkennt, dass es eine objektive Realität gibt, diese aber nicht als erfahrbar und daher für den sozialen Alltag der Menschen als unerheblich ansieht. Sie widmen sich daher der Rolle von sozialen Konstruktionen als Strukturierungsprinzipien der Gesellschaft (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 31). Qualitative Verfahren gehen demnach davon aus, dass eine objektive Realität weder untersucht werden kann noch sollte, da die für das Alltagshandeln und die Struktur der Gesellschaft relevante soziale und räumliche Welt ohnehin aus sozialen Konstruktionen besteht (vgl. ebd.: 34). »Da die Menschen in ihrer Gesellschaft nur auf der Grundlage sozialer Konstruktionen handeln, müssen inhaltlich wie methodisch genau diese sozialen Konstruktionen, Regionalisierungen und Repräsentationen ins Zentrum der Untersuchung rücken« (Reuber und Pfaffenbach 2005: 32). In der qualitativen Humangeographie bzw. nach dem interpretativen Paradigma94 geht es demnach darum, verschiedene Konstruktionen oder Vorstellungen miteinander zu vergleichen und nach den sozialen Konventionalisierungen, die Wahrnehmung und Wissen im Alltag beeinflussen, zu fragen (vgl. Flick 2000 zit. nach Reuber und Pfaffenbach 2005: 110). »An den unterschiedlichen Bedeutungen, die Menschen Gegenständen, Ereignissen und Erfahrungen beimessen, an ihren subjektiven Interpretationen setzt sozialwissenschaftliche, anthropogeographische Forschung an« (Reuber und Pfaffenbach 2005: 113). Ziel ist es also, die sozialräumliche Welt aus dem Blickwinkel der beteiligten Menschen zu rekonstruieren (vgl. ebd.: 114). Das Problem bei dieser rekonstruktiven Vorgehensweise ist, dass Beweggründe des 94 | Dem qualitativen Paradigma liegt die Annahme zugrunde, »dass alle Interaktion ein interpretativer Prozess ist, in dem die Handelnden sich aufeinander beziehen durch sinngebende Deutungen dessen, was der andere tut oder tun könnte« (Matthes 1976: 201).
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4 Methodisches Vorgehen Handelnden erkenntnistheoretisch nicht erschlossen werden können, d. h. es bleibt immer ein ›blinder Fleck‹, der nicht einmal durch Interviews geschlossen werden kann, sondern Interpretationsspielräume offen lässt. Die Rekonstruktion der Handlungen von AkteurInnen bleibt somit immer auch eine subjektive Darstellung des Betrachters (vgl. ebd.: 116). Die Grenze der Möglichkeiten qualitativer Migrationsforschung liegt darin, dass Studien oft einen kleinen Zuschnitt haben und es nicht möglich ist, Migrationserscheinungen mit einer qualitativen Methode über einen größeren Zeitraum zu erforschen, mehrere MigrantInnengemeinschaften miteinander zu vergleichen oder anderweitig in einen größeren Zusammenhang herzustellen. Sie muss sich daher mit der Kritik auseinandersetzen, zu kleinteilig zu sein und sich zu stark mit Einzelschicksalen zu befassen (vgl. Pooley und Whyte 1991: 5). Seit den 1980er Jahren ist der Paradigmenstreit zwischen der qualitativen und quantitativen Sozialforschung neu entflammt, wobei erstere oft als beliebig abgetan wird, während sich letztere an der Vorstellung von exakter und objektiver Messung orientiert. Da kein Verfahren von sich behaupten kann, wissenschaftlicher zu sein als das andere, plädieren Bammé und Martens (vgl. Bammé und Martens 1985) für eine sinnvolle Verknüpfung beider Verfahren, wie sie die Methodentriangulation – auch Methodenmix genannt – umsetzt. Darunter wird im Allgemeinen die Verbindung von qualitativen und quantitativen Forschungsmethodologien beim Studium desselben Forschungsgegenstandes verstanden (vgl. Flick 2004: 313; Denzin 1978). Denzin, der Begründer der Methodentriangulation, schreibt dazu: »Zusammengefasst beinhaltet methodologische Triangulation einen komplexen Prozess des Gegeneinander-Ausspielens jeder Methode gegen die andere, um die Validität von Feldforschungen zu maximieren« (Denzin 1978: 304). Diese wird inzwischen auch als Strategie, Erkenntnisse durch die Gewinnung weiterer Erkenntnisse abzusichern, angesehen (vgl. Flick 2004: 311). Es ist demnach davon auszugehen, dass mehrere unabhängige Methoden in ihrer gemeinsamen Anwendung weniger Verzerrungspotential bieten und Schwächen gegenseitig ausgleichen können. Die Methodentriangulation kann zu differenzierteren praktischen und theoretischen Erkenntnissen führen als eine einzelne Methode (vgl. Lamnek 2005: 279). Eine Triangulation qualitativer Methoden kann gegenüber einer einzeln angewendeten quantitativen Methode allerdings den Nachteil haben, dass die Überprüfung der gewonnenen Forschungsergebnisse wesentlich aufwendiger ist (vgl. Lamnek 2005: 291). Die vorliegende Arbeit orientiert sich überwiegend an qualitativen Methoden, wobei die Prinzipien der Grounded Theory als Leitlinie dienen. Bei der Grounded Theory handelt es sich nicht um ein vorgeschriebenes Regelwerk für den Forschungsablauf, sondern um Vorschläge, die dem konkreten Forschungskontext, dem persönlichen Arbeitsrhythmus und der 120
4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung persönlichen Erfahrung des/der Forschenden anzupassen sind. Dennoch liegt der von Glaser und Strauss 1967 entwickelten Grounded Theory kein völlig freies Methodenverständnis zugrunde (vgl. Strübing 2004: 17). Die Vorschläge von Glaser und Strauss richten sich gegen einen logischdeduktiven, hypothesengenerierenden Forschungsstil, da dieser nicht auf das Generieren, sondern lediglich auf das Überprüfen von Theorien anhand empirischer Wirklichkeiten ausgerichtet ist. Stattdessen steht die Entdeckung neuer Konzepte und Hypothesen während des Forschungsprozesses im Mittelpunkt (vgl. Glaser und Strauss 2007: 1 f.). Die in der Soziologie beheimatete Grounded Theory eignet sich auch für empirische geographische Forschungen. Sie ist auf ein enges Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie ausgerichtet und kann als Methode der vergleichenden Analyse verstanden werden (vgl. Glaser und Strauss 2007: 1, 21 ff.). Wird die häufig bemängelte Empirielastigkeit geographischer Arbeiten (vgl. Hard 2003: 315 ff; Wirths 2001: 28 ff.) betrachtet, erscheint die Verwendung der Grounded Theory im Rahmen der vorliegenden Arbeit als besonders geeignet, da sie zu neuen Theorien hinleitet. Die Erhebung und Analyse der Daten erfolgte nach der pragmatisch orientierten, von Anselm Strauss und Juliet Corbin weiterentwickelten Grounded Theory, die an der Verifikation der gewonnen Theorien als integralem Bestandteil des Grounded Theory-Verfahrens festhält (vgl. Strübing 2004: 72). Die Auswahl der zu erhebenden Daten erfolgte in der vorliegenden Arbeit gegenstandsorientiert anhand des theoretical sampling, was bedeutet, dass die Fragestellung den jeweiligen Stand der Theoriebildung im Forschungsprozess aufgreift (vgl. Strübing 2004: 29 f.). Diese Flexibilität im Forschungsdesign ist besonders wichtig für qualitative Arbeiten (vgl. Glaser und Strauss 2007: 242). Der Forschungsprozess wird nicht in eine Sequenz einzelner Schritte eingeteilt, sondern geht von vornherein von einer zeitlichen Parallelität und einer wechselseitigen funktionalen Abhängigkeit von Datenerhebung, -analyse und -interpretation aus (vgl. Strübing 2004: 14). Diese zeitliche Parallelität beinhaltet auch die Möglichkeit, einen bei der Auswertung auffallenden Datenmangel durch weitere ergänzende Erhebungen zu auszugleichen und diese in die Auswertung mit einzubeziehen. Die Fälle werden nach den von ihnen erwarteten Informationen ausgesucht. Sie können gezielt so gewählt werden, dass sie Lücken schließen, Neues aufzeigen oder den bestehenden Ergebnissen widersprechen. Neue Fälle werden so lange in die Untersuchung miteinbezogen, bis sie nicht mehr zu neuen Ergebnissen führen, d. h. bis eine ›theoretische Sättigung‹ eintritt (vgl. Meier Kruker und Rauh 2005: 55). Bei der Erhebung der empirischen Daten steht das Prinzip der Offenheit im Vordergrund. Dieses Prinzip umfasst sowohl die offene, aufgeschlossene Haltung gegenüber InterviewpartnerInnen als auch die Vermeidung von Suggestivfragen. Auch hier wurde auf die von Strauss und Corbin (ebd. 121
4 Methodisches Vorgehen Strauss und Corbin 1996: 31 ff.) erweiterte Aufforderung, theoretisches und alltägliches Wissen »kreativ und phantasievoll« in den Forschungsprozess einzubinden, zurückgegriffen. Die erhobenen Daten wurden im Sinne der Grounded Theory codiert. Das Codieren umfasst den Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material und setzt einen interpretativen Zugang zu dem gewonnenen Datenmaterial voraus. Es dient als Schritt der Kontrolle und Systematisierung in der Theoriegenese. Zu verwendende Codes wurden aus der Analyse der eigenen Daten entwickelt (vgl. Glaser und Strauss 2007: 201; Strübing 2004: 19). Hier kommt der große Vorteil der Grounded Theory zur Geltung, der die Aufnahme neuer zentraler, im Forschungsprozess auftretender Erkenntnisse in die Kernkategorien erlaubt (vgl. Böhm 2004: 482). Durch die stete Rückkehr zu den Daten soll mit minimalem Aufwand an Datenerhebung ein Maximum an Datenanalyse und folgender Theoriebildung erreicht werden (vgl. Hildenbrand 2004: 41 f.). 4.1.1 Leitfadengestütztes, problemzentriertes Interview In der vorliegenden Arbeit werden die Vorteile des leitfadengestützten mit dem problemzentrierten Interview verbunden. Im leitfadengestützten Interview gleicht die Interviewsituation einer offenen Gesprächsführung, da die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt wird (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 343). Durch den Interviewleitfaden ist die Vergleichbarkeit der Interviewaussagen gegeben. Um verzerrende Prädeterminationen und Suggestionen zu vermeiden ist es von Vorteil, wenn sich der Forschende in den Interviews zurückhält (vgl. Lamnek 2005: 350) und den Leitfaden als flexibles Instrument in der Interviewführung nutzt. Die Formulierung des Fragetextes ist im leitfadengestützten Interview nicht vorher festgelegt. Vielmehr muss der Forscher die Frageformulierung dem jeweils in der Befragungssituation verwendeten Sprachcode anpassen, wobei er sich auf den stichpunktartig verfassten Leitfaden stützt. Auch die Reihenfolge der Fragen ist nicht vorab festgelegt, sondern ergibt sich aus dem Gesprächsverlauf (vgl. ebd.: 352). Korrekturen, Widersprüchlichkeiten und Redundanzen werden im Verlauf des Gesprächs aufgeklärt und in die Interpretation aufgenommen (vgl. Witzel 2000: 2 f., 5). Im gesamten Forschungsverlauf sind Änderungen im Leitfaden möglich, wenn sich erst im Laufe der Interviews herausstellt, dass wichtige Aspekte im Leitfaden fehlen oder irrelevante Aspekte vorhanden sind und weggelassen werden können. Das Verändern des Leitfadens kann mit der Prozesshaftigkeit qualitativer Forschung begründet werden (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 137).
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4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung Es ist wichtig, die Interviews aufzuzeichnen und anschließend zu transkribieren, um Informationsverlusten vorzubeugen. Vor- und Nachgespräche werden in einem Postskriptum festgehalten (vgl. Witzel 2000: 4). Bei Leitfadeninterviews ist es besonders wichtig, dass sie nur von Personen durchgeführt werden, die mit der Theorie und den Fragestellungen des Forschungsprojektes vertraut sind.95 Das problemzentrierte Interview lehnt sich an das theoriegenerierende Verfahren der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1998) an (vgl. Witzel 2000: 2). Die Befragten werden dabei als ExpertInnen ihrer Orientierungen und Meinungen begriffen (vgl. ebd.: 4). Durch ein vorangegangenes Literaturstudium, eine Begehung des Forschungsfeldes etc. werden Informationen gesammelt, die für den vorliegenden Problembereich relevant sind. Diese werden zu einem theoretischen Konzept verdichtet, d. h. ein theoretisch-wissenschaftliches Vorverständnis ist bereits vor der Interviewphase gegeben und kann durch Interviews laufend modifiziert und geprüft werden (vgl. Lamnek 2005: 363 f., 368). 4.1.2 Teilnehmende Beobachtung Die teilnehmende Beobachtung wird seit langer Zeit in der Ethnologie und der Kulturanthropologie angewendet und kann als ›methodisch kontrolliertes Fremdverstehen‹ bezeichnet werden. Ihre Zielsetzung ist die Rekonstruktion von Erklärungen, Handlungsgründen und -absichten durch kommunikative Interaktion mit den Handelnden (vgl. Lamnek 2005: 547). Die natürliche Lebenswelt der Untersuchungspersonen soll durch die Teilnahme des/der Sozialforschers/in am Alltagsleben der zu untersuchenden Personen und Gruppen und durch genaue Beobachtung, z. B. von deren Interaktionsmustern und Wertvorstellungen, in Erfahrung gebracht und für die wissenschaftliche Auswertung dokumentiert werden (vgl. Lamnek 2005: 548 f.). Der große Vorteil der teilnehmenden Beobachtung ist, dass sie in der natürlichen Lebenswelt der Beobachteten eingesetzt wird und damit ein realistisches Bild der Wirklichkeit widerspiegelt. Ihre Stärke ist, dass sie dort eingesetzt werden kann, wo es sich um schwer zugängliche Felder oder relatives Neuland handelt (vgl. Lamnek 2005: 552). Die qualitative, unstrukturierte teilnehmende Beobachtung bietet einen leichten Einstieg ins Forschungsfeld. Durch ihren explorativen Charakter dient sie der Kategorien- und Hypothesenbildung im Prozess der Datenerhebung sowie der Theorieentwicklung und -prüfung (vgl. Girtler 1984). Trotz ei95 | Sie müssen in der Lage sein einzuschätzen, wann es inhaltlich angemessen ist, vom Leitfaden abzuweichen, intensiver nachzufragen oder dem Befragten breitere Artikulationschancen einzuräumen (vgl. Hopf 2004: 358). Problematisch ist dabei, dass es neben der inhaltlich-theoretischen Kompetenz keine präzisen Anforderungen an die Qualifikation von Befragenden in qualitativen Interviews gibt. Vielmehr wird die Fähigkeit, qualitative Interviews durchzuführen als Qualifikation von SozialforscherInnen vorausgesetzt (vgl. ebd.: 357).
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4 Methodisches Vorgehen ner gedanklichen Vorstrukturierung fällt der Forschungsprozess variabel, flexibel und explorativ aus (vgl. Lamnek 2005: 571, 548). Ein allgemeines Problem bei der teilnehmenden Beobachtung stellt das Dilemma zwischen Identifikation mit dem Forschungsfeld und der angemessenen Distanz dar, wobei das Dominieren der Identifikation eher dem qualitativen Paradigma entspricht (vgl. ebd.: 637 f.). Fügt sich der/die Forschende in die Rolle des/der Beobachters/in als Teilnehmer, wird das Risiko des going native vermindert, d. h. es wird vermieden, in das beobachtete Feld sozialisiert zu werden (vgl. ebd.: 577). Die Schwierigkeit der Methode des Beobachtens ist ihre untrennbare Verschränkung mit dem Sinnverstehen (vgl. Lamnek 2005: 551), und das gewonnene Wissen muss durch Kontrollen gesichert werden (vgl. ebd.: 550). Mit zunehmender Vertrautheit mit dem Forschungsgegenstand nimmt die Aufmerksamkeit und Zuverlässigkeit des Beobachters ab und bestimmte Vorgänge können als selbstverständlich hingenommen und übersehen werden, da sie schon zu vertraut sind, was als selektive Perzeption bezeichnet wird (vgl. ebd.: 557). Eine besondere Herausforderung stellen bei der teilnehmenden Beobachtung Aufzeichnung und Auswertung dar. Aufzeichnungen sind häufig bereits Interpretationen des Beobachteten und keine sachlichen Aufzeichnungen, was ein Problem für die Auswertung darstellt, da sich auch dort eher naive anekdotische Verhaltensbeschreibungen als sachliche Feststellungen wiederfinden (vgl. Lamnek 2005: 568). Auch für die geographische Forschung stellt sie eine angemessene Erhebungsmethode dar, die jedoch in empirischen Untersuchungen deutlich unterrepräsentiert ist (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 123). Für die geographische Migrationsforschung von nicht unerheblichem Nachteil ist allerdings die der teilnehmenden Beobachtung genuine lokalräumliche Begrenzung. Daher bietet sie sich nur an, wenn überschaubare, kleinere Gruppen beforscht werden, deren Reichweite auf lokal abgrenzbare Räume reduziert ist (vgl. Lamnek 2005: 553) bzw. die Fragestellung einen räumlich überschaubaren Rahmen hat. Auch wenn die teilnehmende Beobachtung eine besonders geeignete Methode zur Generierung eines Zugangs zum Feld darstellt, kommen bei der Forschung mit MigrantInnen und in Ländern des Südens Besonderheiten im Forschungsprozess hinzu. 4.1.3 Feldforschung unter Bedingungen kultureller Fremdheit Der Feldzugang stellt eine besondere Herausforderung in der empirischen Sozialforschung dar – besonders dann, wenn es sich um Forschungen im Ausland oder mit MigrantInnen handelt. Ein möglicher methodischer
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4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung Einstieg ins Feld96 ist das Schneeballverfahren. Dabei handelt es sich um eine systematische Herangehensweise an das Untersuchungsfeld, die in der qualitativen Sozialforschung Anwendung findet. Es eignet sich besonders dort, wo sich der Feldzugang als schwierig erweist. Häufig kann durch einen gatekeeper (vgl. Lamnek 2005: 607) der Zugang zum Feld geebnet werden.97 Beim Schneeballverfahren wird zunächst anhand verschiedener Kriterien eine Population festgelegt. Aus dieser werden nach dem Zufallsprinzip (random sample) beliebig viele Individuen ausgesucht (stage 0), die jeweils eine festgelegte Anzahl weiterer AnsprechpartnerInnen der festgelegten Population empfehlen. Diese empfohlenen Personen, die nicht in der Zufallsauswahl waren, formen die erste Stufe (stage 1). Durch diese Personen der ersten Stufe wird eine festgelegte Anzahl weiterer Kontakte vermittelt, die dann die zweite Stufe (stage 2) bilden. Die Methode kann beliebig weitergeführt werden und ermöglicht nach der dritten Stufe (stage 3) einen annähernden Überblick über eine bestimmte Untersuchungsgruppe (vgl. Goodman 1961: 148 ff.). Die Anwendung des Schneeballverfahrens ist aufwendig und zeitintensiv, da durch den Forscher immer wieder anhand von Selektionsgesprächen überprüft werden muss, ob die empfohlenen GesprächspartnerInnen zur vorher festgelegten Population gehören und somit dem Forschungsinteresse entsprechen. In der sozialgeographischen Auslandsforschung sind, anders als in der Ethnologie, in der oft ein langer Forschungsaufenthalt propagiert wird, mehrere kürzere Aufenthalte üblich, durch die Entwicklungen und Prozesse über einen längeren Zeitraum dargestellt werden können. Ergebnisse können in den Zeiten zwischen den Forschungsaufenthalten ausgewertet, reflektiert und in das Erkenntnisinteresse folgender Feldforschungen eingearbeitet werden. Die Kehrseite mehrerer kürzerer Aufenthalte ist, dass der Forscher den Zugang zum Feld mehrmals gewinnen muss und daher ein Fremdkörper bleibt (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 121). Eine Besonderheit in der Feldforschung mit MigrantInnen und im Ausland stellen die Kommunikationsschwierigkeiten dar, denen mit einem/r DolmetscherIn begegnet werden kann. Leitfadengestützte Interviews werden dieser speziellen Gesprächssituation am ehesten gerecht, da sie in einzelnen Segmenten übersetzt werden können, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen. Eine Herausforderung für den Dolmetscher stellt dar, nicht nur wörtlich, sondern immer auch ›kulturell‹ zu übersetzen, um Missverständnisse zu vermeiden (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2006; EV4, For96 | Das Feld wird nach Lewin als »eine Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig begriffen werden«, definiert (vgl. Lewin 1963: 273, zit. nach Lamnek 2005: 584). 97 | Als gatekeeper wird eine Schlüsselperson verstanden, die einen guten Zugang zur beforschten Population hat und dem/der Forschenden die »Türen zum Feld öffnen« kann (Merkens 2004: 288).
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4 Methodisches Vorgehen schung). Auch die Person des Dolmetschers spielt eine Rolle, da sie im Forschungsprozess eine repräsentative Funktion einnimmt. Vor allem bei der Forschung in Ländern des Südens sind Merkmale wie Alter, Geschlecht, Religion und sozialer Hintergrund zu bedenken. Auch die Einstellung von DolmetscherInnen gegenüber dem Forschungsgegenstand und den InterviewpartnerInnen wirkt sich auf die Interviewführung und die Ergebnisse aus. Daher ist es wichtig, DolmetscherInnen sorgfältig auszuwählen und mit ihnen ausreichend über das Forschungsvorhaben zu kommunizieren, insbesondere über die Methodologie qualitativer Interviews. Ein grundlegendes Verständnis der Landessprache seitens des/der Forschenden ist dabei hilfreich, um die Qualität der Übersetzung zu prüfen und Auslassungen identifizieren zu können (vgl. Lloyd, Miller und Scott 2004: 8 f.). Die Forschung in fremden Ländern, so auch in Ländern des Südens, stellt hohe Ansprüche an die interkulturelle Kompetenz des/der Forschenden. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass Feldforschung im Ausland reibungslos verläuft. Höhen und Tiefen, sowie eine gewisse ›Unordnung‹ trotz gut organisiertem Forschungsprozess sind nicht zu vermeiden: Discussions of fieldwork which represent the process as a straightforward movement that originates from precise research questions, passing through an easy data and information collection stage before being finalised in an empirically and conceptually neat article or thesis do not accurately portray the complexities and ambiguities associated with fieldwork (Lloyd, Miller und Scott 2004: 2).
Kulturelle Spezifika müssen im Forschungsprozess berücksichtigt werden und sozialen Interaktionsmustern Folge geleistet werden, möchte der/die Forschende keine kulturellen Missverständnisse erzeugen. Dazu gehört eine der Forschung vorangehende Beschäftigung mit den landes- bzw. kulturspezifischen Sitten und Umgangsformen, wie der Anrede, dem persönlichen Auftreten, dem Kommunikationsstil und dem allgemeinen Verhalten sowie dem Einleiten in die Interviewsituation. Bei Interviews mit MigrantInnen oder im Ausland bleibt zu berücksichtigen, dass die Bereinigung von Satzbaufehlern und die Glättung des Stils oder eine Übersetzung ins Deutsche bei der Transkription der Interviews bereits eine Interpretation des Forschers sind, sodass die Gefahr besteht, den Sinn der Aussage misszuverstehen (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 158). Bei der Feldforschung in Ländern des Südens stellt die Rekrutierung von InterviewpartnerInnen eine besondere Herausforderung dar. Die Kommunikation kann hierbei durch die Sprache, aber auch durch den Zugang zu Kommunikationsmedien wie Telefon und Internet eingeschränkt sein. Ebenfalls kann es logistische Schwierigkeiten bei der Erreichbarkeit der InterviewpartnerInnen geben. Hierbei bedarf es einer guten Organisation. In bestimmten Fällen müssen wissenschaftliche Untersuchungen von offizieller Seite aus genehmigt werden. Dabei kann es je nach Sensibili126
4.1 Methodologische Perspektiven auf die empirische Sozialforschung tät des Forschungsgegenstandes zu Problemen kommen. Diese können z. B. auftreten, wenn politisch benachteiligte Gruppen wie Minderheiten oder Interessenkonflikte beforscht werden oder andere sensible Themen u. a. im Bereich Gesundheit, Landnutzung, Vertreibung, Umsiedlung und Migration. Häufig werden von Forschenden Erfolge oder Lösungen für die Entwicklung des Landes erwartet, die von kleinen Forschungsprojekten nicht geliefert werden können. Dies steht im Gegensatz zu den Möglichkeiten, die z. B. eine Qualifizierungsarbeit mit ihren knappen personellen und zeitlichen Ressourcen bietet (vgl. Lloyd, Miller und Scott 2004: 6). In solchen Fällen ist die eigene Positionierung gegenüber dem Forschungsgegenstand wichtig. Auch eine wiederholte Reflektion der Beobachtungen und Forschungsergebnisse sowie das Verhältnis von Feldforschung zu Wissensproduktion sind insbesondere beim Forschen in fremden Kulturen wichtig (vgl. Reid-Henry zit. nach Lloyd, Miller und Scott 2004: 2). Es bleibt zu berücksichtigen, dass die Aussagen von Interviewpersonen, insbesondere dann, wenn sie sich in offiziellen Positionen befinden, eher den angestrebten Zustand (de jure) wiedergeben als den tatsächlich alltäglich praktizierten (de facto) (vgl. Lloyd, Miller und Scott 2004: 11 f.). 4.1.4 Typenbildung Eine systematische und transparente Typenbildung ist möglich, indem die Forschungsergebnisse anhand von Merkmalen in Typen oder Gruppen aufgeteilt werden. Die Typen sollen intern möglichst homogen sein, was als ›interne Homogenität‹ auf der Ebene des Typus bezeichnet wird und sich von den anderen Typen möglichst stark abgrenzen, sodass eine ›externe Heterogenität‹ auf der Ebene der Typologie gegeben ist. Bei einem Typus handelt es sich um eine Unterkategorie einer Typologie, die sich durch gemeinsame Eigenschaften und eine Kombination von Merkmalen auszeichnet, zwischen denen empirische Regelmäßigkeiten (Kausaladäquanz) und inhaltliche Sinnzusammenhänge (Sinnadäquanz) bestehen (vgl. Kluge 2000: [1-2]). Der ›Kontrast in der Gemeinsamkeit‹ ist das zugrundeliegende Prinzip bei der Erarbeitung einzelner Typiken und liefert die Struktur, durch die eine Typologie zusammengehalten wird (vgl. Bohnsack 2004: 383). Eine Typologie entsteht demnach aus verschiedenen Kombinationen von Merkmalen bzw. Vergleichsdimensionen und ihren Ausprägungen. Wird dieser Merkmalsraum anhand von Mehrfeldertafeln dargestellt, erhält man einen Überblick über alle theoretisch denkbaren Kombinationsmöglichkeiten. In der Praxis werden jedoch meist einzelne Felder des Merkmalsraums zusammengefasst (›typologische Operation der Reduktion‹), da nicht alle Kombinationsmöglichkeiten in der Realität existieren (vgl. Kluge 2000: [3]). 127
4 Methodisches Vorgehen Im Prozess der empirisch begründeten Typenbildung werden im Laufe des Auswertungsprozesses Merkmale bzw. Vergleichsdimensionen anhand des Datenmaterials sowie des theoretischen Vorwissens erarbeitet (Stufe 1) (vgl. Kluge 2000: [7]). Anschließend können die Fälle anhand der definierten Vergleichsdimensionen und ihrer Ausprägungen gruppiert und die gewonnenen Gruppen hinsichtlich empirischer Regelmäßigkeiten, d. h. ihrer internen Homogenität verglichen werden (Stufe 2), denn auf der ›Ebene des Typus‹ müssen sich die Fälle weitgehend ähneln (vgl. ebd.: [8]). Darüber hinaus müssen die Gruppen auf der ›Ebene der Typologie‹ untereinander verglichen werden, um eine ausreichende externe Heterogenität gewährleisten zu können (vgl. ebd.: [8]). Die Sinnzusammenhänge, die den empirisch vorgefundenen Gruppen bzw. Merkmalskombinationen zugrunde liegen, müssen analysiert werden (Stufe 3), um von einer deskriptiven auf eine explizierende Ebene zu gelangen. Dieser Schritt entspricht in der Regel einer Reduktion des Merkmalsraums bzw. der Gruppen auf wenige Typen, kann aber auch zu neuen Merkmalen führen (Stufe 1), sodass die vorangegangenen Schritte (Stufe 2 und 3) wiederholt werden müssen (vgl. ebd.: [9]). Anhand ihrer Merkmalskombinationen und der inhaltlichen Sinnzusammenhänge werden die Gruppen abschließend ausführlich charakterisiert. Es wird angegeben, anhand welcher Kriterien die Typen charakterisiert werden, d. h. ob letztendlich Proto-, Ideal-, Real- oder Extremtypen98 konstruiert wurden (Stufe 4) (vgl. Kluge 2000: [12]). Auswertungsmethoden und -techniken variieren im Typenbildungsprozess. Die Fälle können u. a. mit dem ›Konzept des Merkmalsraums‹ (nach Barton 1955 und Lazarsfeld 1937), durch eine ›fallvergleichende Kontrastierung‹ (nach Gerhardt 1986, 1991a und b) oder durch den Einsatz rechnergestützter Gruppierungsverfahren wie der Clusteranalyse (nach Kuckartz 1988, 1995, 1996) gruppiert werden (vgl. ebd. in Kluge 2000: [13]). Das Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung weist eine große Offenheit und Flexibilität auf, die dem qualitativen Forschungsprozess zugute kommt. Angepasst an das Datenmaterial und die Forschungsfrage kann jede Stufe anhand verschiedener Auswertungsmethoden erarbeitet werden. So empfiehlt es sich z. B. bei ExpertInneninterviews, einzelne Teilaspekte herauszugreifen, um diese gezielt analysieren zu können (vgl. Kluge 2000: [14]). Typen geben der Hypothesenbildung eine Richtung, indem sie den Untersuchungsgegenstand überschaubar machen und dessen Charakteristika hervorheben, sodass zentrale Gemeinsamkeiten und bedeutsame Unterschiede im Datenmaterial deutlich werden (vgl. Lamnek 2005: 230). Die Typenbildung trägt zur Hypothesengenerierung bei und schafft somit eine Grundlage für die Theoriebildung (vgl. Lamnek 2005: 234). 98 | Eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Typen bietet Lamnek 2005: 231f.
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4.2 Eigene methodische Vorgehensweise Entscheidend für eine gute Typologie sind nach Wimmer die folgenden Kriterien: • sie muss verständlich und umfassend sein, d. h. jeder empirische Fall sollte einem Typ zugeordnet werden können • alle denkbaren Möglichkeiten sollten abgedeckt werden • sie sollte kohärent sein, d. h. alle Typen sollten anhand spezifischer Merkmale gebildet werden bzw. einen »gemeinsamen Nenner« haben • sie sollte »theoretisch relevant« sein, d. h. zu weiteren Überlegungen anregen (vgl. Wimmer 2008c: 1029).
4.2 Eigene methodische Vorgehensweise Die Verwendung quantitativer Methoden steht zu Beginn der Untersuchung im Vordergrund und dient der Regionalisierung der vietnamesischen Gemeinschaft und der Abgrenzung des Untersuchungsgebietes. In einer Aggregatdatenanalyse wurden Arbeitsmarktdaten betrachtet und miteinander verglichen. Dafür wurden Literatur und Daten der einschlägigen statistischen Ämter, der Industrie- und Handelskammern und des Mikrozensus herangezogen, um einen groben Überblick über die quantitativen Ausmaße des Forschungsthemas zu erhalten. Eine besondere Schwierigkeit im Forschungsfeld stellte der Zugang zu offiziellen statistischen Daten dar. In der Migrationsforschung ist immer das Problem gegeben, dass die amtliche deutsche Statistik Daten zu MigrantInnen nur nach Staatsbürgerschaft erhebt. Demnach entspricht die Zahl der VietnamesInnen in Berlin nicht der tatsächlichen Anzahl vietnamesischer MigrantInnen in Berlin, sondern denen mit vietnamesischer Staatsbürgerschaft. Eingebürgerte VietnamesInnen und Schulabschlüsse von VietnamesInnen in Deutschland tauchen somit nicht in den amtlichen Statistiken, sondern lediglich in Sonderauswertungen des Mikrozensus auf.99 Da jedoch insgesamt nur wenige Daten zum vietnamesischen UnternehmerInnentum zugänglich sind, wurde auf ein exploratives, qualitatives Forschungsdesign zurückgegriffen, indem die eigene Erhebung im Mittelpunkt stand. Ziel kann nicht die Erstellung einer repräsentativen Erhebung 99 | Eine Ausnahme stellen Sonderauswertungen des Mikrozensus dar, der migrantInnenspezifische Daten auch anhand ihrer Herkunft erhebt. Durch die thematische Anlehnung der vorliegenden Arbeit an das von der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Felicitas Hillmann an der Universität Bremen durchgeführte DFG-Projekt »Migration und Entwicklung: Regionalisierung und Entstehung (geschlechtsspezifischer) transnationaler Arbeitswelten bei MigrantInnen aus Entwicklungsländern in Deutschland« (Laufzeit 2007-2009) war es möglich, auf diese Sonderauswertungen zurückzugreifen.
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4 Methodisches Vorgehen sein, denn die Fragestellung verlangt ein flexibles und ergebnisoffenes Vorgehen, um die im Forschungsfeld beobachteten und erfahrenen Gegebenheiten intersubjektiv nachvollziehbar darzustellen. Daher wird zum Verstehen und zur tieferen Analyse des Forschungsfeldes eine qualitative Erhebung durchgeführt, die den größten Teil der Arbeit ausmacht. Berlin wurde als Untersuchungsort ausgewählt, da es den höchsten Anteil an vietnamesischen MigrantInnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung unter allen deutschen Bundesländern aufweist (s. Abb. 4.1). Die Auswahl des Forschungsfeldes erfolgte anhand der Aktionsmuster vietnamesischer MigrantInnen. Für die Erforschung der Arbeitsmarktinklusion und die transnationale Vernetzung der Untersuchungsgruppe wurde im weiteren Forschungsverlauf vor allem auf qualitative Methoden rekurriert, womit transnationale Migrationsmuster, Strategien der Arbeitsmarktinklusion und die Rolle der RückkehrerInnen im deutsch-vietnamesischen Migrationssystem erfasst werden konnten.
Abbildung 4.1: Untersuchungsgebiete der empirischen Erhebung und Referenzpunkte für vietnamesische UnternehmerInnen (Entwurf: Antonie Schmiz; Kartographie: Matthias Scheibner). Als Emigrationszentrum vietnamesischer MigrantInnen nach Berlin und in die neuen Bundesländer wurde Vietnam, hier v. a. Hanoi als Erhebungsort in die empirische Untersuchung aufgenommen (s. Abb. 4.1). Sowohl durch verwandtschaftliche Netzwerke als auch als Regierungshauptstadt 130
4.2 Eigene methodische Vorgehensweise und infrastruktureller Knotenpunkt im Migrationsgeschehen spielt Hanoi eine übergeordnete Rolle für die transnationalen Beziehungen vietnamesischer MigrantInnen zwischen Berlin und Vietnam. Der größte Teil der vietnamesischen MigrantInnen in Berlin stammt aus Nordvietnam, das schon vor Kriegsende 1975 sozialistisch geprägt war und ein brüderliches Verhältnis zur DDR hatte. Um den engen Rückbezug der vietnamesischen MigrantInnen in ihr Herkunftsland und die strategische Nutzung ihrer Transnationalität für ihre ökonomische und soziale Inklusion erfassen zu können, ist eine multisited ethnography, also eine Untersuchung an verschiedenen Orten notwendig (vgl. Marcus 1995; vgl. Abs. 4.2.2). Dabei wird der methodologische Ethnizismus, also die vorschnelle Annahme, bei sogenannten ›ethnischen‹ Gruppen handele es sich um natürliche Einheiten (vgl. Vertovec 2009: 21 f., Wimmer 2008a: 973-976;Wimmer 2008b; Wimmer und Glick Schiller 2003: 576), vermieden (vgl. Abs. 2.1.7). Analyseeinheiten werden stattdessen an akteursrelevanten Analysemerkmalen festgemacht, wie z. B. die Gruppe der in Berlin lebenden, unternehmerisch tätigen VietnamesInnen und deren Angestellte. Die große Diversität innerhalb der Gruppe der VietnamesInnen wird nicht zuletzt durch ihre verschiedenen Aufenthaltstitel deutlich, die einer vorschnellen Zusammenfassung der Gruppe als natürliche Einheit widerspricht. 4.2.1 Ablauf der eigenen empirischen Erhebung In Berlin und Vietnam wurden zwischen Juli 2007 und November 2008 insgesamt 91 leitfadengestützte und problemzentrierte ExpertInnen- und UnternehmerInneninterviews durchgeführt. Die Interviews bestanden ausschließlich aus offenen Fragen, was einem qualitativen Paradigma entspricht (vgl. Lamnek 2005: 346). Sie wurden alle durch mich selbst erhoben, ungefähr zur Hälfte durch Dolmetscherinnen übersetzt und bis auf wenige Ausnahmen mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Da die UnternehmerInnen in Berlin überwiegend ohne vorherige Terminabsprache in ihrer Arbeitszeit interviewt wurden, fielen die Interviews vielfach kurz aus (15-40 Minuten). Die Interviews wurden hin und wieder durch den KundInnenverkehr unterbrochen, sodass die Gefahr bestand, dass der Erzählfluss abreißen könnte.100 Die ExpertInnengespräche fanden mit vorheriger Terminabsprache statt. Die Zeitspanne reichte von 30 bis 160 Minuten mit einem Mittelwert von ca. einer Stunde. Die eigene Erhebung gliedert sich in vier Phasen, die im Folgenden einzeln dargestellt werden. Die erste empirische Arbeitsphase erfolgte in Form einer explorativen teilnehmenden Beobachtung im vietnamesischen 100 | Diese suboptimalen Umstände sind dem Forschungsgegenstand geschuldet, denn die geringe Bereitschaft der UnternehmerInnen, alternativ nach einem 12 bis 14-stündigen Arbeitstag oder am Wochenende, das die meisten vietnamesischen UnternehmerInnen ebenfalls durcharbeiten, Interviews zu geben, erklärt sich aus deren Arbeitssituation.
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4 Methodisches Vorgehen Einzelhandel Berlins. Der Feldzugang für die teilnehmende Beobachtung in Form einer täglichen, einstündigen Beobachtungsreihe über vier Wochen wurde spontan und ohne Mittelsperson erreicht. Die Beobachtungsphase fand im Juni/ Juli 2007 in einem vietnamesischen Minimarkt statt. Diese wurde als geeignete Methode sondiert, um einen ersten Überblick über das Forschungsfeld zu erhalten. Sie basierte auf einem niedrigen Teilnahmegrad der Forschenden in Form einer »methodisch kontrollierten Rollenübernahme« (vgl. Lamnek. 2005: 580). Arten der Teilnahme waren leichte Hilfsarbeiten (z. B. Einräumen von Warenlieferungen) sowie Kommunikation mit den Beobachteten. Es wurde eine offene Form der Beobachtung gewählt, d. h. das Forschungsumfeld war über den Zweck meiner Anwesenheit informiert (vgl. Lamnek 2005: 560). Die meiste Zeit der Beobachtung wurde in der Nähe des Ladentisches unter Beobachtung des Geschehens verbracht. Beobachtet wurden der KundInnenverkehr und der Betrieb des vietnamesischen Minimarktes, die Warenanlieferung und die Kommunikation mit den KundInnen. Ein besonderes Augenmerk galt der Sondierung der KundInnen, ihres Einkaufsverhaltens und ihrer Kommunikation mit dem/der LadenbesitzerIn. Es wurde die Höhe des Umsatzes beobachtet und darauf geachtet, welche informellen Praktiken zum Einsatz kamen. Auf einen neutralen Umgang wurde trotz eines herzlichen Verhältnisses zu dem/der LadenbesitzerIn geachtet, um ein going native und eine selektive Perzeption zu vermeiden. Das aus der teilnehmenden Beobachtung gewonnene Wissen wurde durch ein Interview untermauert (vgl. Lamnek 2005: 550). Ein großer Vorteil der teilnehmenden Beobachtung ist, dass ihr Einsatz unabhängig von der Fähigkeit oder Bereitschaft der Untersuchungspersonen ist, ihr Verhalten zu beschreiben, was im Falle der VietnamesInnen unter dem Blickpunkt der durch verschiedene Sprachen eingeschränkten Kommunikation einen entscheidenden Vorteil darstellte (vgl. Lamnek 2005: 553). Aufgezeichnet wurde im Anschluss an die Beobachtung, um durch das Aufzeichnen die Beobachtung nicht zu unterbrechen und ein sensibles Verhältnis zum Forschungsfeld zu wahren. In der zweiten Phase der empirischen Erhebung wurden im Zeitraum von Juli 2007 bis Februar 2008 mittels leitfadengestützter Interviews insgesamt 15 Personen, darunter vier ExpertInnen, eine vietnamesische Unternehmerin und zehn vietnamesische GroßhändlerInnen in Berlin und Brandenburg befragt. Den Kontakt zu den Groß- und EinzelhändlerInnen erleichterte die vietnamesische Dolmetscherin durch einen schnellen Zugang zu ihren Landsleuten. Die in dieser Phase gewonnenen Ergebnisse lieferten die Grundlage für die beiden weiteren Forschungsphasen in Vietnam und Berlin. Die dritte Phase, eine dreimonatige Feldforschung in Vietnam, fand im Zeitraum von März bis Mai 2008 statt. Eine Feldforschung in Vietnam wurde durchgeführt, um den transnationalen Raum, in dem vietnamesische 132
4.2 Eigene methodische Vorgehensweise MigrantInnen leben und arbeiten, sowie die Handelsabläufe in diesem Raum empirisch erfassen zu können. Angelehnt an George Marcus wurde den Regeln einer multi-sited ethnography für transnationale Studien (follow the people, follow the thing/commodity chain, follow the life/biography) nachgekommen (vgl. Marcus 1995; Mazzucato 2008; Pries 2007; Amelina 2008). Überwiegend in Hanoi und HCMC wurden 17 ExpertInnen- und 29 UnternehmerInneninterviews durchgeführt. Die leitfadengestützten Interviews mit ExpertInnen und UnternehmerInnen dauerten bis zu 120 Minuten, meistens jedoch ca. 45 Minuten. Für die Forschung in Vietnam erwies sich der Feldeinstieg als schwierig. Dieser wurde von Berlin aus vorbereitet, um den auf drei Monate angesetzten Forschungsaufenthalt in Vietnam effizient nutzen zu können. Mit der Unterstützung einer bekannten Mittelsperson wurde nach dem Schneeballverfahren gearbeitet (snowball-sampling; vgl. Abs. 4.1.4).101 Diese Person empfahl einige AnsprechpartnerInnen in Hanoi, die mit UnternehmerInnen mit transnationalen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Vietnam und ExpertInnen im Bereich deutsch-vietnamesischer Beziehungen in Kontakt stehen, die weitere Kontakte vermitteln konnten. Durch dieses mehrstufige Verfahren, das vor der Feldforschung in Vietnam initiiert und vor Ort fortgesetzt wurde, konnte eine große Anzahl relevanter InterviewpartnerInnen erreicht werden. Dass die für das vorliegende Forschungsvorhaben relevanten ExpertInnen weitgehend erreicht wurden, macht nicht zuletzt die theoretische Sättigung deutlich, denn als nach der zweiten bis dritten Stufe von Empfehlungen nach dem Schneeballverfahren die gleichen Personen wiederkehrend empfohlen wurden, konnte das Verfahren abgeschlossen werden (vgl. Abs. 4.1.1). Der Personenkreis, der durch das Schneeballverfahren erreicht wurde, wurde anhand verschiedener Kriterien durch Einstiegsgespräche selektiert (theoretical sampling; vgl. Abs. 4.1.1). ExpertInnen sollten über Kenntnisse der deutsch-vietnamesischen Handelsbeziehungen oder des vietnamesischen UnternehmerInnentums in Berlin und Ostdeutschland verfügen. Einige ExpertInnen aus der Wissenschaft konnten Informationen zum vietnamesischen Migrationssystem, zu Wissenstransfers und den rechtlichen Hintergründen der VertragsarbeiterInnen liefern. Die UnternehmerInnen in Vietnam sollten Handelskontakte nach Deutschland pflegen bzw. in der Aufbauphase entsprechender Kontakte sein und regelmäßig nach Deutschland exportieren. Die vierte Forschungsphase (Juni 2008 bis Mai 2010) diente der Vertie101 | Neben dem fachlichen musste auch der formelle Zugang zum Feld gesichert werden. Dieser wurde durch eine offizielle Einladung des Institute of Vietnamese Studies and Development Sciences der Vietnam National University, auf deren Basis ein Forschungsvisum beantragt wurde, gewährleistet. Mit Hilfe der offiziellen Einladung wurde der Zugang zu einigen Interviewpartnern gesichert, wie z. B. zu einem Mitarbeiter des Ministeriums für Industrie und Handel sowie zu Experten an den Universitäten. Die anderen Interviews in Hanoi konnten ohne offizielle Forschungserlaubnis durchgeführt werden.
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4 Methodisches Vorgehen fung und Überprüfung der bisher gewonnenen Ergebnisse. In dieser Phase wurden 25 Interviews mit VertreterInnen des vietnamesischen Einzel- und Großhandels in Berlin durchgeführt, die durch sechs problemzentrierte ExpertInneninterviews mit VertreterInnen aus der Politik, aus vietnamesischen Vereinen und Unternehmen ergänzt wurden. Für einen gemeinsamen Interviewleitfaden war die Gruppe der UnternehmerInnen zu heterogen. Daher gab es im Fall der UnternehmerInneninterviews zwei Fragebögen - einen für UnternehmerInnen in Vietnam und einen für Groß- und EinzelhändlerInnen in Berlin (s. Appendix I102 ). Der Interviewleitfaden für die Einzel- und GroßhändlerInnen in Berlin umfasste Fragen der Motivation der UnternehmerInnen zur Selbständigkeit, zur Förderung und Unterstützung bei der Gründung, zu Problemen, zur Erfahrung, zur Standortwahl, zu MitarbeiterInnen, zum Ein- und Verkauf, zu Produkten, zu KundInnen, zum Tagesablauf und zur Konkurrenz. Des Weiteren wurde zu Mitgliedschaften in Vereinen oder Organisationen, der Beziehung der Befragten zu Vietnam, ihren transnationalen Tätigkeiten, wie z. B. Rücküberweisungen und zur Qualifikation und beruflichen Laufbahn gefragt. Zum Schluss wurden persönliche Daten und die Migrationsgeschichte behandelt. Der Schwerpunkt im Leitfaden für die GroßhändlerInnen wurde neben den für die EinzelhändlerInnen angeführten Fragen auf die Organisation des Importes und auf HändlerInnennetzwerke gesetzt. Der UnternehmerInnenfragebogen in Vietnam war – soweit auf Deutsch durchgeführt – stärker erzählgenerierend konzipiert, da die UnternehmerInnen durch die Terminabsprache mehr Zeit zur Verfügung hatten als in Berlin. Es wurde zunächst um eine Beschreibung des Unternehmens gebeten. Im Anschluss wurden Nachfragen zur beruflichen Laufbahn, der Familienmitarbeit, der Vernetzung mit anderen Unternehmen, nationalen und internationalen Import-Export-Beziehungen, dem Tagesablauf und zur Qualifikation gestellt. Die problemzentrierten ExpertInnengespräche waren auf deren jeweilige Arbeitsgebiete abgestimmt. Durch ein vorangegangenes Literaturstudium, eine Begehung des Forschungsfeldes etc. wurden Informationen gesammelt, die für den vorliegenden Problembereich relevant waren und diese wurden zu einem theoretischen Konzept verdichtet, aus dem der Leitfaden entwickelt wurde. Die Leitfäden umfassten Fragen zu Einschätzungen des vietnamesischen UnternehmerInnentums in Berlin, nach Chancen und Problemen bei der Arbeitsmarktinklusion, nach Beratungs- und Förderangeboten für beruflich selbständige MigrantInnen bzw. für die Unternehmensgründung und dem Bedarf seitens der VietnamesInnen. Zudem wurde nach unternehmerischen Strategien, Einschätzungen zu Migran102 | Der Appendix steht Ihnen auf der Autorinnen-Website von Transcript zur Einsicht zur Verfügung: http://www.transcript-verlag.de/ts1765/ts1765.php
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4.2 Eigene methodische Vorgehensweise tInnennetzwerken und dem Umfang von Rücküberweisungen und Wissenstransfers gefragt. Interviews wurden durchgeführt, bis keine neuen Inhalte mehr erfahren bzw. keine neuen Typen mehr gefunden werden konnten. Auf der Basis der gewonnenen Daten konnten erste Hypothesen aufgestellt und Kategorien für den Auswertungsprozess gebildet werden. Eine Leitlinie für die vorliegende Forschung bot die Grounded Theory. Es wurde zumindest in Vietnam nicht streng grounded gearbeitet, da sich wiederkehrende Nacherhebungen im Forschungsverlauf für eine multisited ethnography nicht anboten. Dennoch wurden in Berlin Nacherhebungen mit ExpertInnen und UnternehmerInnen durchgeführt und der Grundgedanke des induktiven Forschens übernommen. Alle Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Beim Transkribieren wurden Satzbaufehler teilweise bereinigt und der Stil geglättet (vgl. Mayring 1996 zit. nach Reuber und Pfaffenbach 2005: 155), wodurch die Lesbarkeit erheblich verbessert wurde. Vor- und Nachgespräche wurden in einem Postskriptum festgehalten und anschließend digitalisiert (vgl. Witzel 2000: 4). Durch die leitfadengestützte Interviewführung war die Vergleichbarkeit der Interviewaussagen hoch und es konnten Hypothesen generiert werden. Es wurde darauf geachtet, verzerrende Prädeterminationen und Suggestionen zu vermeiden, indem sich die Forschende in den Interviews zurückhielt (vgl. Lamnek 2005: 350). Der Leitfaden wurde als flexibles Instrument in der Interviewführung genutzt, wobei die Reihenfolge der Fragen verändert wurde und die Fragen teilweise erzählgenerierend gestellt wurden, wenn der Gesprächsverlauf dies erlaubte bzw. erforderte. Geprägt war die Feldforschung von Herausforderungen bei der Kommunikation durch die unterschiedliche Sprache und den unterschiedlichen kulturellen Hintergrund der Fragenden und Befragten, die durch die Anwendung der theoretischen Vorüberlegungen bewältigt werden konnten. 4.2.2 Eigene Forschung unter Bedingungen kultureller Fremdheit Eine Besonderheit in der Feldforschung mit vietnamesischen UnternehmerInnen stellten die Kommunikationsschwierigkeiten dar. Nicht nur in Vietnam, sondern auch in Berlin war für die Interviewführung häufig eine Dolmetscherin notwendig. Ausnahmen stellten wenige vietnamesische Groß- und EinzelhändlerInnen in Berlin mit teils akademischem Hintergrund bzw. aus der zweiten Generation dar, mit denen die Interviews teilweise oder ganz in deutscher Sprache durchgeführt wurden. Auch in Vietnam wurden einige UnternehmerInnen und ExpertInnen interviewt, die längere Zeit in Deutschland gelebt hatten und über ausreichende Deutschkenntnisse verfügten. Insgesamt acht Interviews wurden in englischer Sprache durchgeführt. Vor dem Hintergrund dieser speziellen Gesprächssi135
4 Methodisches Vorgehen tuation wurden die gedolmetschten Interviews leitfadengestützt und nicht erzählgenerierend durchgeführt, da die Gefahr bestand, dass der Erzählfluss durch die Übersetzungspassagen immer wieder unterbrochen worden wäre. In diesem Fall bot sich ein leitfadengestützter Interviewstil an. Durch die Übersetzung sind einige der später im Text auftauchenden Zitate keine wörtlichen, sondern lediglich sinngemäße Aussagen der Befragten. Dass es von vietnamesischer Seite aus bisher keine Forschungen über die Netzwerke und transnationale Migration der ehemaligen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen gibt, liegt sicherlich auch in der mangelnden Tradition sozialwissenschaftlicher Forschung in Vietnam begründet.103 Es sind jedoch in neuester Zeit vermehrt qualitative Forschungsströme zu beobachten, die sich nicht zuletzt durch die Neueröffnung einer Universität für Sozialwissenschaften (Vietnamese Academy of Social Sciences) und eines nichtstaatlichen Forschungsinstitutes für Entwicklungsforschung, das auch Migrationsforschung betreibt (Institute for Social Development Studies), Raum verschaffen. An diesen Instituten werden v. a. vietnamesische Binnenmigration sowie Migrationen im asiatischen Raum betrachtet. Das Verständnis für mein Erkenntnisinteresse wurde durch den Mangel einer qualitativen Forschungstradition und damit verbundenen Erwartungen der ExpertInnen und anderer Personen, die den Forschungsprozess in Vietnam begleiteten, erschwert.104 103 | Sozialwissenschaftliche Forschung in Vietnam steht unter sozialistischem Einfluss und war lange Zeit wenig offen für neue Ideen. Viele der älteren vietnamesischen WissenschaftlerInnen erhielten ihre Ausbildung in den 1950er und 60er Jahren und in einer zweiten Welle nach 1975 in der UdSSR, Osteuropa, in der DDR oder in China. Erst mit dem Nachwachsen einer jüngeren ForscherInnengeneration seit den 1990er Jahren, die entweder in Nordostasien, Europa oder in Nordamerika ausgebildet wurde, erhielten neue Ideen und Praktiken Einzug in die Sozialforschung Vietnams. Auch heute noch sind die Forschungsgegenstände der Sozialwissenschaften, wie soziale Fragen und politische Debatten, in Vietnam der Sozialistischen Partei vorbehalten und unterliegen häufig einem positivistischen Paradigma unter Verwendung quantitativer Methoden. Hinzu kommt, dass traditionelles, informelles Wissen wenig wertgeschätzt wird im Gegensatz zu formaler Bildung und daher keinen Eingang in den Forschungsprozess findet. Qualitative Methoden wie die teilnehmende Beobachtung und unstrukturierte Interviews werden derzeit erst von der angewandten Sozialforschung entdeckt, was nicht zuletzt auf die enge Zusammenarbeit mit internationalen Forschenden zurückzuführen ist (vgl. Lloyd, Miller und Scott 2004: 5). Ausländische sozialwissenschaftliche Feldforschung unterliegt strikten Richtlinien und Prozeduren (vgl. ebd.: 3). Die Einholung von Forschungserlaubnissen kann zu einer schwierigen Aufgabe werden. Insbesondere bei der Feldforschung im ruralen Kontext und in sensiblen Themenfeldern können Forschungsaufenthalte verweigert werden und der Zugang zum Feld dadurch insgesamt verhindert werden (vgl. ebd.: 20). Im schlechtesten Fall muss die Fragestellung und die Vorgehensweise durch die ForscherIn modifiziert werden. 104 | Daher wurden mir hin und wieder eine Analyse deutsch-vietnamesischer Handelsbeziehungen und des vietnamesischen Außenhandels auf der Makroebene nahegelegt, anstelle der von mir angestrebten Einbettung dieser Beziehungen in persönliche Netzwerke auf Akteursebene. Erwartungen der GesprächspartnerInnen, z. B. der UnternehmerInnen in Vietnam, die sich durch die wissenschaftliche Erfassung ihrer Situation eine zeitnahe Verbesserung erhoffen, konnte ich nicht nachkommen. Möglich ist jedoch eine langfristige Verbesserung ihrer Situation durch die Analyse ihrer Situation.
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4.2 Eigene methodische Vorgehensweise Bei den eigenen Interviews in Vietnam wurde dem vietnamesischen Höflichkeitsverständnis entsprechend stets ein persönliches Vorgespräch vorangestellt, bevor das Gespräch auf das eigene Vorhaben gelenkt wurde und dieses kurz dargestellt wurde. Auch wenn die eigene Forschung – anders als im folgenden Zitat – überwiegend in den beiden Großstädten Hanoi und HCMC stattfand, variierte die Gesprächsatmosphäre (und damit auch das angebotene Getränk) je nach Grad der Formalität der Zusammenkunft. Die Orte, an denen Interviews durchgeführt wurden, variierten zwischen klimatisierten Büros oder Cafés und Produktionsstätten im Umland von Hanoi, an die sich Fabrikbesichtigungen anschlossen. Einen guten Eindruck zur Feldforschung in Vietnam bietet folgende Darstellung aus einem Aufsatz über humangeographische Feldforschung in Vietnam: The research spaces I engaged with varied considerably encompassing a diverse range of social actors and arenas of power. The diverse range of places included impromptu discussions with farmers conducted in the shade of coconut trees and bamboo overlooking rice paddy fields (whilst drinking fresh coconut juice), to the more formal, by-appointment, interviews with local and provincial officials carried out under the whirr of ceiling fans (politely sipping bitter green tea poured from the seemingly bottomless Chinese teapot and thermos ensemble), to the air-conditioned ›comfort‹ of the restricted access offices of development professionals (of course, drinking that global beverage of choice: Nescafe instant coffee) (Lloyd, Miller und Scott 2004: 8).
Ausschlaggebend für die Gesprächsatmosphäre war auch die Routine der befragten Person im Umgang mit internationalen ForscherInnen. 4.2.3 Datenanalyse, -interpretation und Typenbildung Bei der Sichtung des vollständig und wörtlich transkribierten Interviewmaterials wurden parallel zum Lesen Kategorien zur Auswertung gebildet, die zu weiteren Subkategorien führte und der Verschlüsselung der Interviews dienten. Wie es u. a. das Prinzip des theoretischen Codierens der Grounded Theory vorschlägt, wurden für alle Interviews Codes erstellt, die sich unmittelbar auf die Daten beziehen (vgl. Böhm 2004: 477). Die Interviews wurden in vier Gruppen aufgeteilt, denen ein unterschiedliches Codesystem unterlegt wurde: UnternehmerInneninterviews in Berlin, ExpertInneninterviews in Berlin, ExpertInneninterviews in Vietnam sowie UnternehmerInneninterviews in Vietnam. Parallel dazu wurden ebenfalls im qualitativen Datenanalyse-Programm (QDA) Memos geschrieben, die Auffälligkeiten im Datenmaterial festhalten. Vorgenommen wurde in einem ersten Schritt eine strukturierende Inhaltsanalyse, bei der entlang verschiedener Codes bestimmte Aspekte aus dem Material herausgefiltert wurden (vgl. Mayring 2004: 473).105 Durch einen fortschreitenden Abstraktionsprozess konnten auf diese Weise neue 105 | Die qualitative Inhaltsanalyse, die durchaus eine Alternative zur Typenbildung in der Analyse qualitativer Daten bietet, wurde in der vorliegenden Arbeit nicht bis zum Schluss
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4 Methodisches Vorgehen Hypothesen entwickelt werden (vgl. Böhm 2004: 483). Des Weiteren konnten Textstellen, die sich auf das gleiche Thema beziehen, nebeneinandergestellt, vergleichend analysiert und leichter wiedergefunden werden, indem ein entsprechender Code oder ein Stichwort eingegeben wurden (retrievalFunktion) (vgl. Kelle 2004: 491). Dies half bei der empirisch begründeten Typenbildung (vgl. ebd.: 493), deren Ziel es ist, UnternehmerInnen in Typen einzuteilen und die gewonnenen Ergebnisse anhand verschiedener o. g. Konzepte zu erklären. Die Bildung und Darstellung von Typen eignet sich für die vorliegende Arbeit, da somit Einzelfälle nach ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten geordnet und gruppiert werden können. Dadurch wird ihre Komplexität reduziert und der/die Lesende erhält einen besseren Überblick über den Gegenstandsbereich der Arbeit (vgl. Kluge 1999: 23). Die Typenbildung wurde darüber hinaus gewählt, da sie eine Verallgemeinerung der Daten anstrebt, jedoch gleichzeitig durch die ausführliche Charakterisierung der Typen fallspezifische Aussagen im Kontext zulässt. In der vorliegenden Arbeit werden aus dem empirischen Material Prototypen gebildet, die anschauliche Musterbeispiele liefern (vgl. Lamnek 2005: 231). In Anlehnung an Wimmer wurde darauf geachtet, dass jeder empirische Fall einem Typen zugeordnet werden kann und alle denkbaren Möglichkeiten abgedeckt werden. Indem alle Typen anhand spezifischer, theoretisch relevanter Merkmale (ihrem transnationalen Engagement, ihrer Handlungsreichweite, ihrer Vernetzung, ihrer Qualifikation, etc.) gebildet werden, ist eine Kohärenz innerhalb der Typisierung gegeben (vgl. Wimmer 2008c: 1029).
4.3 Beschreibung der Untersuchungsgruppe Um eine Vorstellung von den Gruppen zu erhalten, mit deren Mitgliedern insgesamt 91 Interviews – davon 30 mit Frauen – durchgeführt wurden, wird im Folgenden kurz auf die einzelnen Gruppen und deren sozioökonomische und demographische Merkmale eingegangen. Die Einteilung der Befragten erfolgte anhand theoretischer Vorüberlegungen bezüglich ihrer Handlungsreichweiten. Es wurden insgesamt 35 vietnamesische UnternehmerInnen in Berlin und 28 UnternehmerInnen in Vietnam interviewt (vgl. Kapitel 7). Zusätzlich wurden elf ExpertInnen in Berlin und 17 ExpertInnen in Vietnam interviewt. Die Aussagen aus den Interviews haben einen exemplarischen Charakter und stellen Tendenzen und Trends dar. ausgeführt, da diese eine starke Standardisierung anstrebt, indem sie im letzten Auswertungsschritt die Auszählung von Häufigkeiten anstelle einer Interpretation beabsichtigt und somit eine stark quantitative Kehrtwende einschlägt (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005: 173 ff.). Eingeschränkt brauchbar ist die qualitative Inhaltsanalyse zudem, wenn Studien – wie im vorliegenden Fall – einen explorativen Charakter haben (vgl. Mayring 2004: 474).
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4.3 Beschreibung der Untersuchungsgruppe Sie lassen keine Verallgemeinerungen zu, da es sich um eine qualitative Erhebung handelt. Erhoben wurden die Interviews in Berlin vorwiegend mit ehemaligen VertragsarbeiterInnen und deren nachgezogenen Familien als auch mit Personen, die als Boat People, zum Studium, als Flüchtlinge oder Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind. Eine anfangs angestrebte ausschließliche Konzentration auf die Gruppe der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen erwies sich inhaltlich nicht als sinnvoll und empirisch als unpraktikabel. Aktuell besteht in den Betrieben und auch in den sozialen Netzwerken eine Mischung der unterschiedlichen Generationen vietnamesischer MigrantInnen sowie der ehemaligen VertragsarbeiterInnen und ihres Familiennachzugs. Auch Personen mit Flüchtlingsstatus, die über Osteuropa nach Deutschland kamen, wurden bei Interviews in vietnamesischen Restaurants angetroffen und konnten zum Erkenntnisinteresse der Arbeit beitragen. Im Laufe der Forschungsarbeiten wurde festgestellt, dass durch eine Mischung der Untersuchungsgruppe aus allen Zuwanderungsgruppen der VietnamesInnen vielseitigere und umfangreichere Ergebnisse erzielt werden konnten, da dadurch z. B. Rückschlüsse vom Aufenthaltsstatus auf die Arbeitsmarktinklusion, verfügbare Ressourcen oder die Transnationalität der Befragten gezogen werden konnten. Die Diversität der Gruppe verlangt eine genauere Betrachtung der interviewten Teilgruppen. 4.3.1 Vietnamesische GroßhändlerInnen in Berlin Von den 15 interviewten GroßhändlerInnen106 sind sechs weiblich und neun männlich. Sechs sind verheiratet, zwei getrennt lebend bzw. geschieden, einer ledig, einer in Partnerschaft lebend und fünf machten keine Angabe. Elf der GroßhändlerInnen haben Kinder, drei machen keine Angabe und einer ist kinderlos. Die GroßhändlerInnen sind zwischen 28 und 51 Jahre alt, bei einem Durchschnittsalter von 44 Jahren. Der Großteil von ihnen, 60 Prozent, ist zwischen 40 und 50 Jahre alt, was der am stärksten vertretenen Altersgruppe der ehemaligen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen entspricht (vgl. Abs. 3.1.3). Bezüglich der Ausbildung und der Berufserfahrung ist festzuhalten, dass 40 Prozent der 15 GroßhändlerInnen als VertragsarbeiterInnen in die DDR kamen. Einer kam zur Berufsausbildung in die DDR und die restlichen kamen überwiegend im Rahmen der Familienzusammenführung. Es liegt nahe, dass einige auf irregulärem Weg oder als Touristen einreisten, die sich
106 | S. Appendix für eine tabellarische Übersicht über die Untersuchungsgruppen. Der Appendix steht Ihnen auf der Autorinnen-Website von Transcript zur Einsicht zur Verfügung: http://www.transcript-verlag.de/ts1765/ts1765.php.
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4 Methodisches Vorgehen als sogenannte Overstayer107 langfristig niederließen, da diese Angaben zu ihrer Einreise ablehnten. Die berufliche Qualifikation variiert in dieser Gruppe stark und reichte von Bauingenieur, Chemikerin, Modedesigner (FH) hin zu Grundschullehrerin für Chemie, Journalist, Schlosser, Koch, Pilot (Armee). Fünf der GroßhändlerInnen haben eine Berufsausbildung abgeschlossen, vier verfügen über einen akademischen Abschluss und eine ist Studienabbrecherin. Fünf weitere InterviewpartnerInnen machten keine Angaben zu ihrer Ausbildung. Zur Diversität der GroßhändlerInnen bemerkt ein Experte: [. . . ] der eine hat seinen Doktor gemacht, die anderen haben viel studiert. Die Jüngeren haben schon eine abgeschlossene Ausbildung, weil sie auch eine Berufsausbildung oder zumindest eine Schulausbildung [. . . ] und haben sich auf den Handel verlegt. (EB9, Unternehmer).
Die Verweildauer der befragten GroßhändlerInnen in Deutschland liegt zwischen einem und 26 Jahren mit einem Durchschnitt von 17,4 Jahren. Die ehemaligen VertragsarbeiterInnen unter ihnen leben alle seit über 20 Jahren in Deutschland. Die interviewten Großhändler lebten durchschnittlich bereits seit 18 Jahren in Deutschland bzw. in der DDR, während die Aufenthaltsdauer der befragten Großhändlerinnen durchschnittlich lediglich 16,5 Jahre betrug. Ihre kürzere durchschnittliche Verweildauer hängt damit zusammen, dass die weiblichen Befragten häufiger im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland kamen, während die männlichen Befragten häufiger bereits als Vertragsarbeiter in die DDR kamen. Die Dauer der Berufserfahrung als Selbständige korreliert in fast allen Fällen positiv mit der Verweildauer in Deutschland. Wenige haben über einen längeren Zeitraum als Angestellte gearbeitet. Der Großteil fing bereits Anfang der 1990er Jahre in der beruflichen Selbständigkeit mit einem Marktstand an und hat sein Unternehmen zum Großhandel ausgebaut. In Anlehnung an Itzigsohn et al. (Itzigsohn et al. 1999) werden die GroßhändlerInnen in ein Raster eingeordnet (vgl. Tab. 4.1), aus dem der Grad (eng + und sehr eng ++, weit – und sehr weit – –) und die Ausprägung (ökonomisch, sozial) ihrer Transnationalität hervorgehen. Die Einordnung erfolgt anhand ihrer Pendelfrequenz, ihres persönlichen Engagements und ihres Institutionalisierungsgrades (vgl. Abs. 2.1.3).
107 | Overstayer sind Personen, die meist mit einem Touristenvisum einreisen und nach dessen Ablauf ohne gültige Aufenthaltspapiere im Aufnahmeland bleiben und somit in die Informalität absteigen.
140
4.3 Beschreibung der Untersuchungsgruppe Groß- Branche händlerInnen (G)
Produktionsort der Produkte
Einkaufsort Absatz der Produkte/ der Herkunft Produkte KundInnen
Transnationalität
ökon. sozial BRD/ v. a. VietnamesInnen, Polen, Schweden, Dänemark, Norwegen BRD/ v. a. VietnamesInnen, Russland, Polen, China
++
–
––
-/-
Italien, BRD
BRD,/ v. a. VietnamesInnen
–
++
BRD
BRD/ v. a. VietnamesInnen BRD/ v. a. VietnamesInnen
––
–
–
-/-
G1
Textilien
China, SRV, Polen, Ungarn, Türkei
China, SRV, Polen, Ungarn, Türkei
G2
Schuhe
Hamburg
G3
Kunstblumen
G4
Textilien
G5
Textilien
G6
G10
Geschenkartikel, Kunsthandwerk Floristenbedarf Tüten, DVDs, Telefonkarten Nagelstudiobedarf Schuhe
Türkei, Spanien, China, Polen, BRD Hongkong, China, SRV Polen, SRV Tschechien, SRV, Türkei, China China, SRV
G11
Keramik
G7 G8
G9
Tschechien
China, SRV
BRD/ v. a. VietnamesInnen
++
+
China, SRV SRV
China, SRV SRV
BRD/ v. a. VietnamesInnen BRD/ v. a. VietnamesInnen
++
+
++
++
USA, SRV, China China
USA, SRV, China
BRD/ v. a. VietnamesInnen
++
++
Polen, Tschechien, BRD Polen, SRV, BRD
BRD/ v. a. VietnamesInnen
+
-/-
BRD
–
–
Polen, SRV
141
4 Methodisches Vorgehen Groß- Branche händlerInnen (G)
Produktionsort der Produkte
Einkaufsort Absatz der Produkte/ der Herkunft Produkte KundInnen
G12
Textilien
G13
Textilien
Europa, Paris, SRV, China, BRD Türkei, SRV
G14
Geschenkartikel
Europa, Paris, SRV, China Türkei, SRV, China China, Türkei, SRV
G15
Lebensmittel
SRV
-/-
BRD
Transnationalität
BRD
ökon. sozial +
SRV
–
+
BRD/ v. a. VietnamesInnen, auch Deutsche, InderInnen, PakistanerInnen -/-
––
––
-/-
+ 108
Tabelle 4.1: Transnationalität vietnamesischer GroßhändlerInnen in Berlin (Quelle: eigene Erhebung; eigene Darstellung).
4.3.2 Vietnamesische EinzelhändlerInnen, DienstleisterInnen und Angestellte in Berlin Die 19 interviewten EinzelhändlerInnen, DienstleisterInnen und Angestellten unterscheiden sich grundsätzlich von der Gruppe der GroßhändlerInnen. Faktoren, die sich bei EinzelhändlerInnen und DienstleisterInnen ähneln, betreffen das ökonomische Risiko, die Handlungsreichweite, das Einkaufsverhalten, die Aufenthaltsdauer in Deutschland, die Ladengröße und Gründungsmotive. Das Durchschnittsalter der vier interviewten DienstleistungsunternehmerInnen (davon 50 Prozent Frauen) liegt bei 40,5 Jahren und unterscheidet sich von dem der neun interviewten EinzelhändlerInnen (davon 78 Prozent Frauen), das bei 45,2 Jahren liegt (darunter zwei ohne Angabe). Zusammengefasst hat die Gruppe der EinzelhändlerInnen und DienstleisterInnen 108 | Der Grad der Transnationalität vietnamesischer GroßhändlerInnen in Berlin wurde anhand der Reichweite ihrer Handelskontakte, der Frequenz ihrer Heimatbesuche und ihres transnationalen Engagements, das nicht mit Reisetätigkeiten verbunden sein muss, gemessen. Geschäftsreisen und Handelskontakte (Kategorie ›ökonomisch‹) bzw. private Besuche und persönliches Engagement (Kategorie ›sozial‹)/Jahr = >1= sehr eng (++); =1= eng (+);