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German Pages 266 Year 2015
Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.) Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens
2009-09-08 15-17-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4220316567318|(S.
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Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.)
Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens Transcultural Perspectives on Cultures of Learning
2009-09-08 15-17-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4220316567318|(S.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Yi-Chun Tsai und Ming-Lieh Wu: »Im Dialog«, 2008 Lektorat & Satz: Jens Schimmelpenning Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1056-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt Conte nts
Einleitung − Kultur als offenes Konzept aus erwachsenenpädagogischer Perspektive Introduction − Culture as an open Concept from the Perspective of Adult Education
7
WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK Konstruktivistische Lernkulturen Constructivist Learning Cultures
25
ROLF ARNOLD/MARKUS LERMEN Organisationstheoretische Überlegungen zur Lernkultur − Der übersehene institutionelle/organisatorische Faktor im Lernkulturdiskurs Learning Culture from the Perspective of Organizational Theory − The neglected institutional/organizational Aspect of Learning Culture Discourse
49
WILTRUD GIESEKE Die Bildung erwachsener Subjektivität − Zur Gouvernementalität der Erwachsenenbildung Educating Adult Subjectivity – On Governmentality in the Field of Adult Education
87
HERMANN J. FORNECK Exploration on Models of the Learning Society − Perspectives of Lifelong Learning for All Modelle der Lerngesellschaft − Lebenslanges Lernen für Alle
MING-LIEH WU
103
Kulturelle Aspekte von Lernkulturen in transnationalen Unternehmen unter Globalisierungsbedingungen Cultural Aspects of Learning Cultures in Transnational Enterprises with special Consideration of Globalization
119
STEFFI ROBAK Creating an organizational Learning Culture − The Perspective of Workplace Learning Gestaltung organisationaler Lernkulturen − Lernen am Arbeitsplatz
151
AI-TZU LI Diskurse über Lernkulturen in der Erwachsenenbildung und ihr Beitrag zur transkulturellen Bildungszusammenarbeit Discourses on Learning Cultures in Adult Education and their Contribution to Transcultural Educational Cooperation
169
MARION FLEIGE Cultivating the Culture of Museum Volunteer Learning − The Approach of Communities of Practice »Communities of Practice« als Ansatz für die Gestaltung kulturellen Lernens im Museum
189
YI-CHUN TSAI Der Audioguide als Element der Lernkultur im Museum − Untersuchungen zum intendierten Hörer The Audioguide as an Element of Learning Culture in the Museum – Investigating Purported Listeners
215
BARBARA EGGERT Transformation of Learning Culture in the Digital Age − The Impact of Web 2.0 in Online Learning Environment Die Transformation von Lernkulturen im digitalen Zeitalter − Web 2.0 als Element zur Gestaltung von Lernumgebungen
243
HORNG-JI LAI Autorenverzeichnis List of Contributors
261
Einleitung – Kultur als offenes Konzept aus erw achsenenpädagogischer Perspektive WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK Von Lernkulturen wird im pädagogischen Diskurs selten aus einer phänomenologisch betrachtenden Perspektive gesprochen, eher aus der Perspektive der Konstruktion einer Reform, einer Veränderung, einer Implementierung. Bisherige Lernkulturen erscheinen dann als Gegenpol, als das zu Verändernde, sich nicht Anbietende, Überholte und das Lernen Behindernde. Unabhängig davon, dass dieses richtig sein mag und wahrscheinlich auch ist, bleibt als Forschungsfrage interessant, wie sich Lernkulturen konstituieren, wie sie sich herausbilden und was alles unter Lernkulturen gefasst wird. Damit eröffnet sich ein breites Feld der Betrachtung, da sich Lebenslanges Lernen/Weiterbildung/Erwachsenenbildung unter sehr unterschiedlichen Kontextbedingungen konstituiert. Immer aber ist es bedeutsam, dass die Gesellschaft dem Subjekt Bildungsspielräume und Zeit gewährt. Beigeordnete Bildung bekommt dabei einen zunehmend wichtigen Stellenwert. Sie erwächst rhizomartig durch ausgreifende Suchbewegungen (Tietgens 1996) und wird für Verbände, Unternehmen, staatliche Institutionen und Organisationen anderer Art bedeutsam (Gieseke 2005). Es bilden sich dabei spezifische Umgangsformen, Kompetenzprofile und Wissensanforderungen heraus. Dabei ist im Sinne von Beigeordneter Bildung von besonderem Interesse, welche Strukturleistungen und Praxisformen sich verbandsbezogen durchsetzen. Sie bieten sehr selten Übergänge zum schulischen Lernen. Schon ohne Untersuchungen kann man konstatieren, wie Weinberg (1999) es auch tut, dass es selbst in der Weiterbildung nicht nur eine Lernkultur gibt, sondern sich verschiedene Lernkulturen herausbilden. Man kann eine Pluralität von Lernkulturen unterstellen, die sich in intermediären Räumen durchsetzt. Wir wissen damit aber noch nicht viel, nur so viel: Lernkulturen haben etwas mit Organisationen, mit Subjekten und handelnden Akteuren, mit der Entwicklung professioneller Konzepte zu tun. In der Regel ist die jeweilige Lernkultur 7
WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK
in die Geschichte einer Organisation eingelassen, auch wenn die jeweilige Weiterbildung modernisiert ist. Lernkulturen von Organisationen treffen im Weiteren auf Sozialisationserfahrungen der Subjekte in den Schulen, in den Ausbildungsstätten und in den Universitäten. Diese weisen im Unterschied zur Weiterbildung durchstrukturierte Formen, Anforderungen und Kommunikationsformen mit überall ähnlichen Zielen und festgeschriebenen Curricula auf. Davon unterscheidet sich lebensbegleitendes Lernen grundlegend. Kultur wirkt in diesem Zusammenhang im weiteren Sinne auf Lernkulturen ein; z.B. als Zeitgeist, durch neue Steuerungssysteme und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen.
Transkulturalität als philosophisches Konzept für d i e B e t r a c h t u n g vo n L e r n k u l t u r e n Bezugnehmend auf die postmoderne Philosophie von Welsch, die das ästhetische Denken und dabei die Wahrnehmung vor dem Doppel von Ästhetik und Anästhetik in den Vordergrund stellt, ist Pluralität konstitutiv für die Entwicklung ausdifferenzierter Lebensformen und Praktiken. Lebenslanges Lernen benötigt diese kulturelle Pluralität vor dem Hintergrund von Bedarfen und Bedürfnissen in der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund internationaler Unternehmen, die in den jeweiligen Ländern auf andere Mentalitäten, Arbeitsstile und Lernhaltungen treffen, interessiert, ob es Prozesse der Angleichung, Vereinheitlichung oder Vermischung gibt, die zu hybriden Lernkulturen führen. Auch dabei interessieren die Prozesse selbst – mit ihnen werden die zugrundeliegenden Konstruktionsmuster nachvollziehbar. In den Unternehmen der einzelnen Länder sind kulturelle Differenzen in den Kommunikations- und Arbeitsstilen ein großer Bereich für Schulungen. Unklar ist allerdings, ob diese nicht auch Gegenläufigkeiten und Differenzkonstruktionen unterstützen. Die Kulturalität betrieblichen Handelns manifestiert sich besonders im Verkauf von Produkten, dazu gehört auch die Weiterbildung. Diese Weiterbildung in Form von Beigeordneter Bildung mit ihren organisational oder vernetzt angedockten Bildungs- und Kompetenzzentren wird wahrgenommen, systematisch beobachtet, designt, reflektiert und wieder freigegeben im Prozess. Ästhetisches Denken ist dabei wirksam. Welsch betrachtet dieses ästhetische Denken als eine Abkehr von logozentrischem Denken, angestoßen durch eine veränderte Wirklichkeit. »Heutige Wirklichkeit ist bereits wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über Prozesse medialer Wahrnehmung konstituiert« (Welsch 1998: 57). Ästhetisches Denken lebt von Wahrnehmungen, das Fiktionale alles Wirklichen nimmt nach Welsch zu, die meisten Individuen sind medial sozialisiert und die dort einsozialisierten Grundbilder leben weiter. Für Welsch erleben wir in diesem Sinne einen Wirklichkeitswandel, der nicht an Ländergrenzen Halt macht. Insbesondere 8
EINLEITUNG
interessiert sich Welsch für die neue sinnhaft-imaginative Welterschließung, die immer auch eine Inszenierung ist. Man kann diese – auch wenn der Begriff unbeliebt ist – als Didaktisierung beschreiben. Ästhetisches Denken ermöglicht eine Vielfalt an Zugängen zur Wirklichkeit, die jeweils von den durchbrechenden Wahrnehmungsperspektiven aus sichtbar werden. Dieses Denken darf nicht mit Intuition und Empfindung verwechselt werden, auch wenn gewusst wird, dass nicht alles Wahrnehmbare bis zuletzt kommuniziert wird. Ästhetisches Denken geht nach Welsch von Beobachtungen oder Wahrnehmungen aus. Diese weiten sich zu einem Grundbild aus, es folgt das experimentelle Durchspielen, der Nukleus imaginativer Prozesse, als Ausgangspunkt für eine Sinnvermutung, die reflexiv geprüft wird, um dann zur Konsolidierung der erhärteten Wahrnehmung zu kommen (vgl. Welsch 1998: 51). Er bezieht sich dabei auf ein interessantes Beispiel von Sloterdijk: »Ich gehe von einer Beschreibung bei Peter Sloterdijk aus. Er hat einmal von der Einweihungszeremonie des Münchener Kulturzentrums am Gasteig gesprochen und ist dabei von einer Detailbeobachtung zu einer Gesamtdeutung unseres gegenwärtigen Sozial- und Weltzustands vorgedrungen. Die Ausgangsszene ist die folgende: Eine Trachtenkapelle zieht ins Foyer ein, spielt festliche Weisen und setzt dieses Spiel eine Rolltreppe hochfahrend fort, schwenkt oben zur abwärtsfahrenden Rolltreppe um, fährt diese – immer noch spielend – herunter, begibt sich wieder zur ersten Rolltreppe, fährt hoch, und so weiter und so fort: Festmusik auf einem perpetuum mobile als symbolischer Ausdruck unserer Kultur. Sloterdijk hat darin zunächst einmal eine bildhafte Realisation des Posthistoire-Theorems gesehen: Wir stehen heute auf dem endlos rollenden Förderband eines autonom und unbeeinflußbar gewordenen industriell-technischen Komplexes, und jede unserer Bewegungen ist Bewegung auf diesem Boden. Das gilt gerade auch von unseren kulturellen Inszenierungen: Alles ist Theater auf einer Bühne, deren Konstruktion und Bewegungsgesetze unserem Einfluß entzogen sind. Schon diese Sloterdijksche Wahrnehmung der konkreten Situation ist charakteristisch für den Prozeßmodus ästhetischen Denkens: Die Wahrnehmungsgehalte der Situation werden forciert, werden ausgereizt und zugespitzt, und dabei ergibt sich: die Einzelsituation vermag in der Tat symbolisch für die Gesamtsituation zu stehen. Aus einer einzelnen Beobachtung geht ein Bild der Welt hervor.« (Ebd.: 49/50)
Das Beispiel von Sloterdijk beschreibt ein lokales Ritual. Ihn interessiert aus postmoderner Perspektive die Koexistenz, das Nebeneinander, das Vermischen von kulturellen Praktiken, die für ihn »eine Folge der inneren Differenzierungen und Komplexität der modernen Kulturen« sind (Welsch 1996: 275). Danach lösen sich die Kulturen auf, vermischen sich und finden sich in neuen hybriden Konstrukten wieder. Welsch sagt, alle Kulturen sind zu »Binnengestalten oder Trabanten« (Ebd.: 276) geworden. Auf die Subjekte bezogen haben wir es mit einem fragmentierten Selbst zu tun, wobei die modernen Le9
WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK
bensläufe eine Wanderung durch verschiedene Lebenswelten, neue Identitäten darstellen, das Eintreten in neue Milieus und neue Beobachtungsformen nicht zuletzt auch durch erweitertes Lebenslanges Lernen und permanentes Umorientieren geschieht. Dabei kommt hinzu, dass ein fragmentiertes Subjekt, bedingt durch die eigene Pluralität, insgesamt offener ist, d.h. offener für Lernen, für Inszenierungen aber auch für ein neues Marketing. Welsch geht bei seiner Diagnose der Transkulturalität davon aus, dass die kulturellen Determinanten von der Makro- bis zur Mikrostruktur der Gesellschaft davon betroffen sind. Für sein transkulturelles Konzept findet er Unterstützung bei Wittgenstein, der davon ausgeht, wo eine geteilte Lebenspraxis ist, ist eine Anforderung miteinander auszukommen. Dabei spielt die Interaktion, weniger das Verstehen eine Rolle. Dafür gibt es nach diesen Autoren immer eine Chance, zurechtzukommen. Separatistisches Denken wird dem, was sich als Wirklichkeit zeigt, so gesehen nicht mehr gerecht. Grundmuster dieses beobachtenden, wahrnehmenden reflektierenden Denkens bei Welsch ist dabei das Zusammenspiel von Anästhetik und Ästhetik. Diese wenngleich komplexe Relationalität ist der Schlüssel für das Verständnis von Wahrnehmungsprozessen und ihre Reflexion. Ein Denken, das sich der Zeit stellt, kann nicht über Phänomene hinwegsehen, wie z.B. Unübersichtlichkeiten und Ambivalenzen, sondern hat nach Welsch mit Denkfiguren des Umschlags, der Verflechtung und der Divergenz zu operieren. Anästhetik kommt danach aus dem Inneren der Ästhetik, sie ist Ausdruck des »Unempfindlich-Seins«. In jeder Wahrnehmung drückt sich erst einmal das »Unempfindlich-Sein«, gegenüber anderen Betrachtungen aus, es negiert die Sicht anderer. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich ansieht, welche Grundbilder z.B. zum Geschlechterverhältnis oder zu Lernorganisationen sich verinnerlicht haben, dass sie die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie Welsch sagt, durchherrschen. Solche Bilder sind Fallen, sie wirken anästhetisch und können nur durch die Rekonstruktion von Bildern, wobei dieses kein leichter Prozess ist, neu wahrgenommen und reflektiert werden, also einer ästhetischen Betrachtung zugeführt werden. Die Sicht der Vielfalt, der Pluralität gelingt, in dem dieses Doppelverhältnis von Anästhetik und Ästhetik durchdacht wird. Von der Seite einer konsumierten ästhetisierenden Praxis geht es dagegen darum, auf Divergenz, Heterogenität zu setzen, um Vielfalt wiederum sichtbar zu machen. Gerade die Analyse von Lernkulturen in internationalen Institutionen und Unternehmen und heterogenen Kontexten fordert zu neuen Betrachtungen der Lerninszenierungen und Lernformen heraus. Die Verbindungen zwischen Kulturen lassen sich auf verschiedenen Ebenen herstellen, der Ebene von Diskursen (z.B. Menschenrechte), der Ebene von 10
EINLEITUNG
Lebensformen, Populärkulturen, Hochkulturen sowie der kulturellen Praktiken. In der Konsequenz sind die Trennungen zwischen Eigenem und Fremdem nicht mehr aufrechtzuerhalten, Mehrfachzugehörigkeiten haben Auswirkungen auf Identitätsentwicklungen. Folgende Prämissen können als Begründungen für Transkulturalität zusammengefasst werden: 1. Prozesse der Transkulturalisierung lassen sich historisch belegen. Evidente Sedimente finden sich in der Kunst- und Kulturgeschichte. 2. Die Konzeptualisierung von Kulturbegriffen hat Einfluss auf das Kulturleben. 3. Transkulturalität ist eine Konzeptualisierung von Kultur, die Anschlüsse und Übergänge herstellen will. 4. Die Konzeptualisierung von Transkulturalität bringt besonders die Anforderung an Individuen zum Vorschein, die transkulturelle Binnenverfassung von Gesellschaft sowie die wechselseitige Durchdringung von Eigenem und Fremdem zu akzeptieren. 5. Dieser psychoanalytisch belegte Auftrag ist ein zentraler Übergang zu Bildung und führt auf das ursprüngliche Problem der Akzeptanz von Eigenem und Fremdem in sich selbst zurück. 6. Da gegenwärtig besonders Lebensformen und Praktiken akzentuiert werden, weil es vordergründig ist, miteinander zurechtzukommen, ist es sinnvoll, pragmatische Gemeinsamkeiten und Verbindungen herzustellen, um Kultur für weitere Integrationsschritte zu öffnen. So gesehen will Transkulturalität die durch Postmoderne und ästhetisches Denken vorbereitete radikale Pluralität konzeptionell flankieren und vorbereiten.
Lernkulturen, Praktiken und t r a n s k u l t u r e l l e Au s l e g u n g e n Ungelöst bleibt die Anforderung, Gesellschaft und Kultur durch Lernkulturen der Kontinuität und Selbstverständlichkeit des Lebenslangen Lernens zuzuführen. Hierfür ist ein verändertes Verständnis des Zusammenhangs von Gesellschaft, Kultur, Bildung, Lernkultur, Kompetenzen und Subjekt notwendig, das hier nur in Ansätzen skizziert werden kann. Wir greifen dafür auf die Theorie sozialer Praktiken nach Reckwitz (2003, 2004) zurück. Soziale Praktiken werden als Zentrum des Sozialen gesetzt. Um soziale Praktiken als kleinste Einheit von Gesellschaft und Kultur zu begreifen, hat Reckwitz im Zuge eines cultural turn in den Sozialwissenschaften den Zwischenschritt vorgenommen, prägende Gesellschaftstheorien unter dem Fokus einer praxeo11
WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK
logischen Perspektive zu einer Praxistheorie zusammenzuführen, die den Stellenwert des praktischen Wissens als besonders bedeutsam platziert. Der menschliche Körper, materiale Artefakte sowie der vorbewusste Routinecharakter der Verwendung von symbolischen Ordnungen, die Kultur ausmachen, werden stärker ins Zentrum gerückt. Ziel ist es, von Regeln und Normen, die weitestgehend als bestimmend für Handlungskoordination und Handlungsregelungen gehalten wurden, abzurücken. Phänomene von Kultur, gerade im Zuge der kulturellen Globalisierung, werden dann nicht mehr als ein durch eben diese Werte und Normen geteiltes kollektives Symbolsystem betrachtet. Der Ort des Sozialen wird in den sozialen Praktiken verortet. Da diese Gesellschaft und Kultur gestalten, sind sie gleichsam als Kern und im erweiterten Sinne als Motor von Kultur zu betrachten. »Der ›Ort‹ des Sozialen ist damit nicht der (kollektive) ›Geist‹ und auch nicht ein Konglomerat von Texten und Symbolen (erst recht nicht ein Konsens von Normen), sondern es sind die sozialen Praktiken, verstanden als Know How-abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen. Aus praxeologischer Perspektive geht es [...] darum, dass sich die soziale Welt aus sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verflochtenen Praktiken (im Plural) zusammensetzt: Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken der Partnerschaft, Praktiken der Verhandlungen, Praktiken des Selbst etc.« (Reckwitz 2003: 289)
Die Nähe zu Foucaults Praktikenbegriff ist hier deutlich zu spüren. Im Gegensatz zu individuellem Handeln erhalten Praktiken die Eigenschaft überindividuell zu sein, d.h. sie folgen einem praktischen Wissen, das unabhängig von Individuen vorhanden ist. Praktiken fließen in die Kultur ein, reproduzieren sie und produzieren sie mit. Sie sind nicht beliebig durch Einzelinterventionen zu verändern. Sie haben damit auch einen kollektiven Charakter, der über ein praktisches Können abgesichert und hergestellt ist. Der Handlungsbegriff ist nicht aufgelöst, vielmehr findet er sich als eine Ausformung einer Praktik wieder. So gesehen können Wissensformen und Lernformen als gestaltete Elemente der Ausformung einer Praktik zur Konzipierung von Lernkulturen betrachtet werden. Soziale Praktiken weisen eine bestimmte Materialität auf: Sie bilden die kleinsten Einheiten des Sozialen, werden routinisiert und schließen sich zu einem Komplex regelmäßiger Verhaltensweisen und praktischen Verstehens zusammen, sodass eine gewisse materiale Struktur entsteht, die unabhängig vom Subjekt eine Gültigkeit hat (Reckwitz 2003). Die Art und Weise, eine 12
EINLEITUNG
Lernumgebung zu erstellen, wäre in diesem Sinne z.B. ein Praktikenkomplex zur Realisierung eines Angebotes entsprechend einer organisationsspezifischen Lernkultur. Die durch soziale Praktiken entstehenden Dinge besitzen ein bestimmtes Maß an Materialität. Soziale Praktiken formen Artefakte und Artefakte wiederum sind die Voraussetzung zur Entstehung von sozialen Praktiken. Ein Gebäude, ein Seminarraum sind Artefakte, die auf eine bestimmte soziale Praktik zurückzuführen sind. Ein eingängigeres Beispiel ist der angeführte Buchdruck, er hat das gesamte Leseverhalten verändert. Es interessieren nicht die individuelle Auslegung oder die Nutzung des Buchdrucks, sondern warum er übergreifend betrachtet für die Akteure Sinn macht. Auf Lernkulturen übertragen interessiert es, welche materialen Strukturen Lernkulturen ausbilden und welche Praktiken und Praktikenkomplexe Lernkulturen auffüllen, institutionalisieren, routinisieren und strukturieren. Aus der Perspektive von Institutionalisierungsprozessen werden Lernkulturen zu gesellschaftlich geteilter sozialer Praxis und damit zu einem Bestandteil von Lernkultur, wenn das Wissen und die Praktiken überindividuellen Charakter angenommen haben. Wissen und Praktiken haben sich dann miteinander verbunden und können im Handeln reproduziert werden und sich in Artefakten (z.B. einem Angebot, einem Programm oder einer neuen Institutionalform von Weiterbildung) niederschlagen. Die Praktiken sind durchzogen von einem bestimmten kulturellen Code, der die Existenz in Zeit und Raum sichert. Für Lernkulturen kann als ein Code der Stellenwert des Selbstgesteuerten Lernens im letzten Jahrzehnt konstatiert werden. Dieser hat Praktikenkomplexe und Praktiken mitgeformt. Hier könnte auch gezeigt werden, dass normative Diskurse an dieser Stelle schnell Zugriff auf Praktiken erhalten haben, der für die Nutzer angenommene Nutzen konnte jedoch nicht für alle Adressaten nachgewiesen werden. Die Routinisierung der Praktiken wird aufgehoben, wenn etwas misslingt oder neu interpretiert werden muss. Soziale Praktiken haben dann die Form abstrakter möglicher Aktivitätspotentiale, die individuell auszuformen sind. Auch wenn wir die Subjektpositionierung von Reckwitz nicht teilen – er versteht darunter die »praxeologische[n] Struktur des Subjektes als ein lose gekoppeltes Bündel von Wissensformen« (Ebd.: 295) – verweist diese neue Auslegung der Verhältnisbestimmung von Subjekt und Kultur darauf, dass eine übersubjektive Struktur von Praktiken unabhängig von einzelnen Subjekten entstehen und diese gesellschaftsstrukturierende Ausprägungen haben kann. Diese wiederum können sich für eine bestimmte Zeit – auch unabhängig von Willen und Nutzen für die Subjekte – halten, sie werden vom kulturellen Code getragen. Das Subjekt wird hier als struktureller Träger von Wissen betrachtet, als Individuum aber aufgelöst und den Praktiken angegliedert. Das Subjekt existiert dann als verkodeter Träger von Kultur, es existiert aber 13
WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK
für die Analyse von Kultur nur als Teil der Praktiken. Wie die von Reckwitz vorgelegten Analysen zeigen, erweist sich dieser Zugang für das Verstehen der Entwicklung von Kultur als fruchtbar (Reckwitz 2006). Auch für den Diskurs des Lebenslangen Lernens und Lernkulturen eröffnet dieser Zugang neue Analysemöglichkeiten. Die Wechselwirkung allerdings zwischen Gestaltung und Nutzung von Lernkulturen durch die Individuen – wir gehen davon aus, dass sich nur in diesem Wechselverhältnis eine Lernkultur etabliert - sind nur über die Erschließung des Wissens und die zugrunde liegenden Praktiken der Gestaltung zu ermitteln. Ein Analyseansatz dafür liegt mit dem Strukturraster zur Erschließung von Lernkulturen vor (siehe den Beitrag von Wiltrud Gieseke in diesem Band). Auf unser hier vorliegendes Buchprojekt bezogen gehen wir von Prozessen der Transkulturalisierung, d.h. der differentiellen Ausbreitung in Bezug auf den Stellenwert des Lebenslangen Lernens aus und nutzen Transkulturalität als kulturellen Code für die Zusammenarbeit und die analytische und empirische Bearbeitung des Gegenstandes. Unser Band geht von der Prämisse aus, dass Lebenslanges Lernen im Zusammenhang mit Weiterbildung einen vernetzten Diskurs darstellt, der eigene Auslegungen, aber auch Vermischungen und Überschneidungen in Europa und auch in Asien, speziell in Taiwan findet. Für eine detaillierte Auswertung des Diskurses zum Lebenslangen Lernen und der Rezeption in Taiwan siehe Wu (2000). Transkulturalität realisiert sich im Zusammenhang unserer Zusammenarbeit mit der National Chung Cheng Universität in Chia-Yi (Taiwan) auf verschiedenen Ebenen: 1. Als philosophische Beschreibung folgen wir Welsch darin, dass es kulturelle Annäherungen, Verbindungen und Vermischungen gibt, die nicht unter der Dominanzperspektive einer Nationalkultur betrachtet werden können. Unser Interesse ist das wechselseitige Verstehen von Auslegungen von Lebenslangem Lernen und der Entwicklung von Lernkulturen in Deutschland und Taiwan. 2. Wissenschaftstheoretisch haben wir gemeinsam eine Definition von Lernkulturen erarbeitet, die aber unterschiedlich interpretiert werden kann. Unter Lernkulturen verstehen wir komplexe Strukturen, Orte, Räume, Bedingungen, Atmosphären und Arrangements, die Wissen für die verschiedenen Lehr-Lernsituationen umsetzen. Sie werden durch professionelles Handeln auf den Ebenen Bildungsmanagement, Programmplanung sowie Lehr-Lernarrangements gestaltet und entfalten sich im Lern- und Arbeitshandeln. Als ortbezogene Lernräume sind sie Ausdruck einer gestalteten und gewachsenen Wirklichkeit des Lehrens und Lernens und entfalten sich durch die Lernaktivitäten der Beschäftigten (Gieseke/Robak/Fleige 14
EINLEITUNG
2006, siehe Gieseke in diesem Band). Die Phasen der gemeinsamen Erarbeitung eines begrifflichen Verständnisses als auch der Austausch von Positionen und ihren Deutungen sowie der Interpretation von Forschungsergebnissen zeigen, dass die Haltung wechselseitiger Anerkennung und die pragmatische Abarbeitung an einem gemeinsamen Gegenstand eine grundlegende Voraussetzung der wechselseitigen Deutungserweiterung und damit der Vernetzung ist. Einen wichtigen Stellenwert der gemeinsamen Projektarbeit nahm das Erarbeiten von Interviewleitfäden und das gemeinsame Führen von Interviews in taiwanesischen Unternehmen ein. Uns geht es weiterhin darum, die unterschiedlichen Zugänge und Forschungsergebnisse über Lernkulturen darzustellen, zu beschreiben, nach Übergängen, Schnittstellen, Unterschieden zu suchen, diese aber keiner vergleichenden Bewertung zu unterziehen. Fragen des Kulturtransfers interessieren nur insofern, als nach der wechselseitigen Ausbreitung und institutionellen Ausformung von Lebenslangem Lernen gefragt wird. 3. Wir nehmen in Bezug auf den Gegenstand der Entwicklung von Lernkulturen eine spezifische Haltung ein, die sich erwachsenenpädagogisch begründet. Wir gehen davon aus, dass sich Lernkulturen nur in institutionellen Gestaltungszusammenhängen so entwickeln können, dass sie verantwortungsvoll Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen können. Wenn gesellschaftliche Entwicklung im Kern kulturelle Reproduktion ist, dann hat das Weiterbildungssystem dabei eine Kernaufgabe, die sich in der Konzeptualisierung von Lernkulturen, die institionalformspezifisch und organisationsspezifisch angelegt werden, zeigt. Es kann nicht von einem wildwüchsigen gesellschaftlichen Lernhabitus ausgegangen werden, der sich allein durch Selbstentwicklungsprozesse der Individuen realisieren lässt. Die Balancierung des Verhältnisses von informellen und organisierten Lernsettings und die Einschätzung darüber, ist in den Auslegungen wiederum an den Diskurs über Lebenslanges Lernen in Deutschland, Europa und Taiwan rückgebunden. Lernkulturen lassen sich weder auf deutscher, europäischer noch auf globaler Ebene normativ verordnen. Sie fügen sich in die jeweiligen systemischen Gegebenheiten ein, folgen den institutionellen Ausformungen und dem Spektrum an Lernformen, die sich aus dem Lernverhalten heraus entwickeln. 4. Auf der Ebene des Diskurses nehmen wir den Diskurs in Taiwan als auch in Deutschland in unterschiedlichen Theoriebezügen auf und lassen die differenten Ausdeutungen zu. In Deutschland bewegt sich der Diskurs z.B. zwischen den theoretischen Bezügen des Konstruktivismus (Rolf Arnold und Markus Lermen), der Subjektplatzierung (Hermann Forneck), und der Rolle von Institutionen (Wiltrud Gieseke). In Taiwan sucht der Diskurs zurzeit einen Ort in den Interpretationen des Zusammenhangs von Gesellschaft und Lebenslangem Lernen (Ming-Lieh Wu). 15
WILTRUD GIESEKE/STEFFI ROBAK
5. Der Diskurs wird unterschiedlichen Praktiken des Belegs unterzogen: Normative Setzungen, hermeneutische Interpretation sowie empirische Belege werden herangezogen, um die Lernkulturauslegungen breit auszuführen. 6. Dabei folgen wir einem erweiterten Institutionenbegriff, der sowohl klassische Institutionalisierungsformen als auch Beigeordnete Bildung aufgreift. 7. Es werden vor dem Hintergrund des Diskurses unterschiedliche Akzentsetzungen der Vorstellungen über »gelungene Lernkulturen« herangezogen. Die Positionen am Lehrstuhl Erwachsenenpädagogik der HumboldtUniversität Berlin gehen von der Prämisse differentieller Institutionalisierungsformen von Lernkulturen aus (Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Marion Fleige). Wichtige Diskurse sind die konstruktivistische Fundierung (Arnold/Lermen) sowie die gouvernementalitätstheoretische Auslegung (Forneck). Im taiwanesischen Diskurs interessiert besonders, wie Lebenslanges Lernen als soziales Engagement gesellschaftlich initiiert in institutioneller Anbindung unterstützt werden kann (Ming-Lieh Wu). Informelles Lernen, sei es in institutionalisierten Lernzusammenhängen in Organisationen (Ai-Tzu Li) oder im World-Wide-Web (Horng-Ji Lai), wird dafür als besonders wichtig erachtet. Im Unternehmen kann informelles Lernen kritisch auslotend als ein Bestandteil von Lernkultur verstanden werden (Steffi Robak) oder als eine tragende Säule im Kontext organisationalen Lernens verortet sein (Ai-Tzu Li). Beigeordnete Bildung bekommt sowohl in Deutschland als auch in Taiwan einen zunehmend größeren Stellenwert (hier aufgenommen am Beispiel Lernen im Museum). In Taiwan interessieren besonders Lernmöglichkeiten im Zusammenhang ehrenamtlichen Engagements, da dies, auch aus einer Defizitdiagnose heraus, gesellschaftlich eine größere Aufmerksamkeit erfährt (Yi-Chun Tsai). Für den hiesigen Diskurs interessieren z.B. neue alternative begleitende Inszenierungsformen des Lernens für die Besucher (Barbara Eggert).
Zu den einzelnen Beiträgen Rolf Arnold und Markus Lermen erarbeiten in ihren fundierten Begründungen eine konstruktivistische Vorstellung von Lernkulturen, in der das LehrLernverhältnis im Mittelpunkt steht. Es ist bestimmt von der theoretischen Prämisse, dass Lernen selbstgesteuert stattfindet, autopoietisch geschlossen ist und das Lehren nicht wirkungssicher ist. Man kann Lernen nur ermöglichen. Pluralität der Lernformen, Partizipationskultur, Abwendung hin zur Kompetenzentwicklung mit Eigenverantwortung sind Stichworte dieses Ansatzes. Dabei wird die Lernkultur als im Wandlungsprozess befindlich gesehen, wo16
EINLEITUNG
bei Anstöße aus einem alternativen Kulturansatz und einer oppositionellen Lernkultur kommen. Eine technologisch-instrumentelle Lernkultur erhält keine Unterstützung. Der Beitrag von Wiltrud Gieseke entwickelt und erläutert einen spezifischen Zugriff zur Analyse von Lernkulturen. Dieser ist einem ausdifferenzierten Institutionalgefüge des Weiterbildungssystems verpflichtet und betrachtet Organisationen in verschiedenen Ausformungen als zentralen Ort der Gestaltung und Entfaltung von Lernkulturen. Die Faktoren Institution und Organisation wirken als ein eigener theoriefundierender Zugriff auf die Entwicklung eines Lernkulturansatzes. Alle organisationstheoretischen Bezüge verweisen auf dichte Einschreibungen von Lernkulturen in Weiterbildungsorganisationen. Die Auswertung jüngerer Organisationstheorien (Systemtheorie, NeoInstitutionalismus, Theorie der Strukturierung) legen Stärken und Grenzen offen im Hinblick auf Gestaltungsmaxime und -räume für institutionelle Zusammenhänge von Lernkulturen. Die leitende Prämisse ist, dass Lernkulturen für Individuen in verschiedenen Lebensphasen und Zusammenhängen Lernmöglichkeiten vorhalten. Die Lernkulturanalyse in Perspektivverschränkung gibt Auskunft über die Vielfalt an Lernmöglichkeiten, die Relationierung von Wissensniveaus und Lernformen zwischen organisationsbezogener Aufstiegsförderung, professioneller Lernorganisation, Selbststeuerung und arbeitsintegriertem Lernen. Wiltrud Gieseke beschreibt damit einen komplex angelegten Analysezugriff auf Lernkulturen, der institutionalformübergreifend eingesetzt werden kann und neue Forschungsräume eröffnet. Hermann Forneck geht, die Foucaultsche Gouvermentalitätsthese nutzend, auf das Verhältnis von Macht und Freiheit ein, wobei er die Macht als konstitutiv für jede Subjektkonstitution ansieht. Am Beispiel des Neoliberalismus und des ihn unbeabsichtigt stützenden Konstruktivismus geht er dem Spannungsverhältnis von Freiwilligkeit und Zwang im Subjektivierungsprozess nach. Die Neugewichtung von Freiheit als künstlich arrangierte Freiheit und Lernen als Selbstökonomisierung wird herausgearbeitet. Erwachsenenbildung/neue Lernkulturen erscheinen als Moment erwachsenenbildnerischer Rationalität, der Prozess der Transformation wird dabei nicht analysiert und der Funktionalisierung der Widerstände wird nicht nachgegangen. ›Erwachsenenbildungslernen‹ wird bei Forneck nicht als Ort subjektiver Freiheit, sondern als ›Praxis unserer Freiheit‹ gesehen. Ming-Lieh Wu geht davon aus, dass Lernkultur eng mit der Entwicklung einer Lerngesellschaft verbunden ist. Diese bildet die Grundlage, um Lebenslanges Lernen für alle Mitglieder einer Gesellschaft einzulösen. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in Taiwan möchte er eine Lernge17
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sellschaftsbewegung anstoßen, die das Recht auf Lebenslanges Lernen fördert und einfordert. Diese Bewegung konzipiert er als eine soziale Bewegung, die sich im Kern für gleiche Chancen und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Es werden verschiedene Modelle der Lerngesellschaft analysiert und auf Möglichkeiten der Konzipierung für Taiwan geprüft. Ming-Lieh Wu entwickelt ein eigenes Modell reflexive learning society, das er für geeignet hält um eine Lerngesellschaft in Taiwan zu implementieren. Dabei spielen Kernwerte eine zentrale Rolle (social integration, social cohesion, social solidarity). Steffi Robak arbeitet den Begriff Lernkultur in Bezug auf Unternehmen aus und zeichnet die habituellen Wirkungen eingeübten Lernverhaltens nach. Die Reichweiten und die Nutzungsformen informellen, systematischen Lernens, Coaching etc. sind in ihrer Relevanz für bestimmte Lernkulturen, wie sie sich in Unternehmen entfalten, einzuordnen. In den Lernkulturen sind ebenso hierarchie- und milieubezogene Antworten enthalten. Historische Einblicke verdeutlichen, dass erst komplexe Lernkulturen individuelle Weiterentwicklung ermöglichen. Ebenso werden die Beziehungen von Raum, Ort und Atmosphäre für die Lernkultur neu thematisiert. Für die international operierenden Unternehmen fragt sie danach, wie Unternehmungs- und Lernkulturen miteinander zusammenhängen. Die kulturtheoretische Diskussion zur Transkultur, Transdifferenz und Hybridität ist auf ihre Erklärungskraft hinsichtlich der gegenwärtigen Entwicklungen zu hinterfragen. Der Beitrag von Ai-Tzu Li erkennt informelles Lernen als eine starke, wenn nicht die stärkste Lernform, mit deren Hilfe eine lernende Organisation im Unternehmen zu realisieren ist. Die Bezugsgröße für eine organisationale Lernkultur ist eine organisationale Kultur die besonders auf Kernelemente abhebt, die für Arbeiten als zentral betrachtet werden: Glaube, Werte, Annahmen, Haltung und Normen. Eine Lernkultur schließt daran an. Einen wichtigen theoretischen Bezug im taiwanesischen Diskurs stellt situiertes Lernen in Communities of Practice dar. Untersucht werden Bezüge zwischen beiläufigem Lernen, informellem Lernen und formalem Lernen. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei das informelle Lernen. Am Beispiel der Analyse einer organisationalen Lernkultur im taiwanesischen Großunternehmen STAR zeigt sie, dass die Möglichkeiten des Lernens aber besonders von den gestalteten Strukturen abhängen, die an die Wertschätzung des Lernens durch das Unternehmensmanagement angeschlossen sind. Marion Fleige beschäftigt sich damit, wie die sogenannte »neue Lernkultur« implementiert und wissenschaftlich begleitet wird. Sie fragt sich, ob Lernkulturen gesteuert werden können und in welche Richtung gegenwärtige Steuerungen mit welchen Wirkungen in europäischen Kontexten laufen. Eine kul18
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tur- und bildungswissenschaftliche Betrachtung verweist auf die Herausforderungen an eine Lernkultur in Erwachsenenbildungseinrichtungen, wenn Erwachsenenbildung weiterhin emanzipatorischen Charakter haben will, gerade im Rahmen transkultureller Diskurse. Yi-Chun Tsai bezieht den Ansatz Communities of Practice auf die Freiwilligenarbeit im Museum und interessiert sich für die Lernprozesse, die sich als kulturelle Praktiken im Zuge der kreativen Aneignung von Artefakten in der Kulturellen Bildung am Beispiel von Projekten des Fine Arts Museum Taipei rekonstruieren lassen. Der Beitrag führt in die spezifische Verfasstheit der Ehrenamtlichen Arbeit in Taiwan ein und platziert diese als einen wichtigen Zugang für neue gesellschaftliche Impulse. Die Betonung des informellen Lernens auch in diesem Beitrag führt zu der Annahme, dass dessen Stellenwert in Taiwan an eine andere Geschichte der Lernkulturen im Bildungssystem angeschlossen ist. So wird bewusst für weniger Didaktisierung von Lernprozessen plädiert. Das freiwillige und interaktive Moment des Lernens spielt eine außerordentlich wichtige Rolle. Barbara Eggert stellt historisch ableitend den Bildungsauftrag der Museen dar und beschreibt neue Entwicklungen in ihnen, mit denen die Implementierung einer spezifischen Lernkultur aufgezeigt werden kann. Die Sicht auf Museen als Sammlungsstätte oder als Bildungsinstitution verdeulicht eine interessante Diskussion, die jetzt in vielen Organisationen hinsichtlich künftiger Beigeordneter Bildung stattfindet. An den Umgang mit neuen Führungsformen wird technische und interpretative Kompetenz gekoppelt. So finden sich neue Formen der Führung wie z.B. der Audioguide. Durch diesen gelingt es, technische und interpretative Kompetenzen zu koppeln und den Besucher die Aneignung des curricular durchstrukturierten Wissens selbst steuern zu lassen. Besonders interessant ist die Entwicklung des rezeptiven Wissens, welches durch die Schulung der Wahrnehmung in der Führung entwickelt wird. Explizit werden zwei Konzeptionen für Audioführungen vorgestellt. Webbasierte Lernmöglichkeiten spielen auch in Taiwan eine wichtige Rolle. Sie realisieren sich, wie der Beitrag von Horng-Ji Lai zeigt, in neuen, sich ständig verändernden Web 2.0-basierten Umgebungen. Es werden vier verschiedene Plattformen vorgestellt und diskutiert, die in Bildungseinrichtungen in Taiwan eingesetzt werden. Hervorzuheben ist das Programm Second Life, das sich großer Beliebtheit erfreut. Der Autor stellt die zu entwickelnden Fähigkeiten dar und betrachtet auch die notwendige Betreuungsarbeit. Interessant wird es hier sein zukünftig mehr über die Einbindungsmöglichkeiten in Präsenzlernen zu erfahren. 19
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Transkulturalität im bisherigen e r z i e h u n g sw i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s k u r s – Ein kurzer Einblick Die erziehungswissenschaftliche Rezeption des Transkulturalitätskonzeptes war bislang eher vorsichtig und scheint bereits abgeschlossen, bevor das Konzept überhaupt vollständig durchdrungen wurde. Zum jetzigen Zeitpunkt markiert die Auseinandersetzung mit Transkulturalität eine Verabschiedung »interkultureller« Betrachtungsweisen, in denen geschlossene Kulturen als Erklärungsgrundlage für Begegnungen herangezogen wurden. Als in Teilen obsolet betrachtet man Vorstellungen geschlossener Interkulturen, was im bildungswissenschaftlichen Diskurs Fragen eröffnet hat, die sich mit der Veränderung von Identitätsbildungsprozessen, mit Konsequenzen von Mehrfachzugehörigkeiten, der Herstellung von Kulturalität durch Alterität sowie von Veränderungen kulturbildender Bereiche und Systeme, z.B. des Bildungssystems, durch Prozesse des Kulturtransfers beschäftigen. Separat davon findet das Konzept in angrenzenden Bereichen, wie z.B. der Medizin- und Pflegepädagogik, eigene Auslegungen, die kulturelle Vielfalt in Pflegeprozesse integrieren wollen (Uzarewics 2003). Im Zusammenhang des Fremdsprachenlernens in Schule werden Auslegungen transkultureller Öffnung in Lernprozessen erarbeitet (Fäcke 2006). Dass dem Konstrukt der Transkulturalität eine gewisse Ambivalenz entgegengebracht wird, ist daran zu sehen, dass im pädagogischen Bereich der Diskurs zögerlich aufgegriffen wird und bislang nur auf einige Bände verwiesen werden kann, die grundsätzliche Auseinandersetzungen vornehmen oder einzelne Aspekte fokussieren. Besonders die interkulturelle Pädagogik prüft, ob Transkulturalität neue Erkenntnisse verspricht, wie der Band »Transkulturalität und Pädagogik«, der sich der Verhältnisbestimmung zuwendet (Göhlich/Liebau/Leonhard/Zirfas 2006). Der Bezugspunkt dieser Betrachtungen bleibt in der Konsequenz das Schulsystem bzw. die Schule als Organisation, so dass nur wenige Anschlüsse für Erwachsenenpädagogik sichtbar werden. Der Umgang mit dem Konzept ist ambivalent und heterogen und wird erst in Teilen im Ansatz als etwas Neues wahrgenommen: Bildungstheoretische Wurzeln werden nachgezeichnet, dadurch werden bekannte Anschlüsse hergestellt, die dem Konzept der Transkulturalität selbst in der Konsequenz die Fremde nehmen. Weiterhin wird der Begriff in Frage gestellt, weil das Paradigma der Interkulturalität und die bestehenden Problemlagen, mit denen sich interkulturelle Pädagogik beschäftigt hat, nicht aufgelöst werden konnten. Es werden aber auch Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten des veränderten Umgangs mit Fremdheit aufgegriffen und normativ entfaltet. Die Auseinandersetzung bewegt sich
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zwischen normativer Auslotung und bildungstheoretischer Interpretation bzw. Reinterpretation. So fassen Zirfas, Göhlich und Liebau die Ergebnisse des Bandes folgendermaßen zusammen: Der Begriff der Transkulturalität zeigt zu allererst an, dass eine veränderte kulturelle Situation vorliegt und dieser mit einem neuen Begriff begegnet wird. »Transkulturalität verweist aber sehr kleinteilig auf kulturelle Mischformen, soziale Hybridformen, Entwicklungen, Überschneidungen, vor allem performative Handlungsvollzüge und Ausdruckformen« (Zirfas/Göhlich/Liebau 2008: 186ff). Als solches benötigt das Konzept vor allem eine analytische ethnographische Erforschung, die auf begrenzte Phänomene fokussiert ist (z.B. Migrationsbiographien, biographische Sprachprobleme, Erforschung mimetischer Prozesse wie die Veränderung von Lebensstilen, die Erforschung von Identitäts- und Zugehörigkeitsmustern) (Ebd.: 192). Ein relationales Verhältnis besteht zwischen Transkulturalität und der Bestimmung pädagogischer Ziele. Transkulturalität muss sich von diesen abgrenzen und ist gleichzeitig auf pädagogische Zielsetzungen rückzubeziehen. An dieses Verhältnis heftet sich eine spezifische Subjektbetrachtung. Die Autoren gelangen zu folgendem Fazit, »das seit der Aufklärung zugrunde liegende Konzept des autonomen, handlungsfähigen, mit sich identischen Subjekts muss relativiert und subjektiviert werden« (Ebd.). Hier kündigt sich das reflexive, vielleicht auch fragmentierte Subjekt an: Es ginge zukünftig um eine kulturell-ästhetische Wahrnehmungsschulung als detaillierte Erfassung und Beurteilung differenzierter kultureller Wirklichkeit, Einübung ritueller und performativer Praktiken sowie kultureller Handlungs- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten (Ebd.: 193). Pädagogik erhält hier die Aufgabe Identitätsbildung zu unterstützen, an der Transformation von Identität zu arbeiten und an der Transformation von Kultur mitzuwirken (Zirfas/Göhlich/Liebau 2008: 22). Ein besonders interessanter Einzelaspekt ist die Ausbildung transkultureller Identitätsformen, d.h. die Fähigkeit, sich verschiedenen Kontexten zugehörig zu fühlen oder sich in mehrere Bereiche und kulturelle Settings integrieren zu können (Datta 2005; Hauenschild/Wulfmeyer 2005; Sievers 2005). Im Fokus stehen Jugendliche mit Migrationshintergrund und die Frage, wie eine erfolgreiche Integration zu unterstützen ist und welche Faktoren zu einer erfolgreichen Integration führen. Wichtig ist hier sicherlich, dass diese Ansätze von dem Standpunkt abrücken, dass eine vollständige Anpassung an das Gastland erreicht werden muss. Hier sind die Arbeiten von Mecherill (2003, 2004) zu nennen. Weitere interessante Anschlüsse in der Schnittstelle gender- und bildungshistorischen Studien liegen vor, wie z.B. der Band »Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven« (Gippert/Götte/Kleinau 2008), worin die Aspekte der Vernetzung und kulturellen Durchmischung um die 21
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Rolle des Genderaspektes in Prozessen des Kulturtransfers erweitert werden. Begegnungen mit dem Fremden, Ansätze des (Bildungs-)Systemtransfers sowie individuelle Bedingungen, gesellschaftspolitische Prozesse und Prozesse der Vermittlung und Aneignung von Kultur sowie damit verbundene Identitätsbildungsprozesse werden an Beispielen herausgearbeitet, die sich auf das 19. Jahrhundert beziehen. Querverbindungen in die Genderforschung (Mae/ Saal 2007) sollen dem Transkulturalitätskonzept den Aspekt der Macht an die Seite stellen, diesem Anspruch folgt der Intersektionalitätsbegriff, der Geschlecht als Kategorie mit anderen Differenzkonstruktionen in Beziehung setzt (Gippert/Götte/Kleinau 2008: 14). Eine frühe Rezeption von Transkulturalität und bislang die einzige im Bereich der Erwachsenenpädagogik ist die Dissertationsstudie von Cornelia Muth (1998). Die Arbeit kann als metatheoretische Betrachtung einer gegenwartsbezogenen Auseinandersetzung mit der Rolle und Aufgabe von Erwachsenenbildung in der »Risikogesellschaft« angesehen werden. Muth verschränkt den Begriff der Transkulturalität mit der dialogischen Position Martin Bubers und erarbeitet Begründungslinien für Übergangsfähigkeiten und die damit einhergehenden Anforderungen an pädagogisches Personal. Der theoretische Zugang operiert bereits mit den Anforderungen des Kulturtransfers durch die Ausdifferenzierung von Lebensformen. Die vorgestellten Arbeiten verweisen auf anstehende Veränderungen, sind Zustandsbeschreibungen, die neue Forderungen an Prozesse und Konstitutionsbedingungen des Lebenslangen Lernens formulieren, weil sich die Individuen und die Gesellschaften im Wandel befinden. Bislang erklären sie noch wenig und belegen noch weniger empirisch. Lernkulturen stehen vor der Situation, für diese Prozesse Lebenslangen Lernens mantelförmige Fundamente anzubieten.
Literatur Datta, Asit (Hg.) (2005): Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion, Frankfurt a.M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation. Datta, Asit (2005): »Kulturelle Identität in der Migration«. In: Datta, Asit (Hg.), Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion, Frankfurt a.M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, S. 69-82. Fäcke, Christiane (2006): Transkulturalität und fremdsprachliche Literatur. Eine empirische Studie zu mentalen Prozessen von primär mono- oder bikulturell sozialisierten Jugendlichen, Frankfurt a.M.: Lang.
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Gieseke, Wiltrud et al. (Hg.) (2005): Kulturelle Erwachsenenbildung in Deutschland – Exemplarische Analyse Berlin/Brandenburg, Münster u.a.: Waxmann. Gippert, Wolfgang/Götte, Petra/Kleinau, Elke (Hg.) (2008): Transkulturalität: Gender- und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld: transcript. Gippert, Wolfgang/Götte, Petra/Kleinau, Elke (2008): »Transkulturalität: Gender- und bildungshistorische Perspektiven. Zur Einführung in den Band«. In: Dies. (Hg.), Transkulturalität: Gender- und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 9-26. Hauenschild, Katrin/Wulfmeyer, Meike (2005): »Transkulturelle Identitätsbildung – ein Forschungsprojekt«. In: Datta, Asit (Hg.), Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion, Frankfurt a.M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation, S. 183-202. Mae, Michiko/Saal, Britta (Hg.) (2007): Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Mecheril, Paul (2003): Prekäre Verhältnisse: Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-) Zugehörigkeit, Münster: Waxmann. Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim/ Basel: Beltz. Muth, Cornelia (1998): Erwachsenenbildung als transkulturelle Dialogik, Schwalbach/Ts: Wochenschau-Verlag. Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive«. In: Zeitschrift für Soziologie 4, S. 282-301. Reckwitz, Andreas (2004): »Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm«. In: Jäger, Friedrich/Rüsen, Jörn (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Band III: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 1-20. Seitz, Klaus (2005): »Verhängnisvolle Mythen«. In: Datta, Asit (Hg.), Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion, Frankfurt a.M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation, S. 5168. Sievers, Isabel M. (2005): »Eine transkulturelle Perspektive in der Migrationsforschung«. In: Datta, Asit (Hg.), Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion, Frankfurt a.M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation, S. 165-182. Tietgens, Hans (1986): Erwachsenenbildung als Suchbewegung. Annäherungen an eine Wissenschaft von der Erwachsenenbildung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt-Verlag.
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Uzarewicz, Charlotte (2003): »Überlegungen zur Entwicklung transkultureller Kompetenz in der Altenpflege«. In: Friebe, Jens/Zalucki, Michaela (Hg.), Interkulturelle Bildung in der Pflege, Bielefeld: Bertelsmann, S. 29-46. Weinberg, Johannes: »Lernkultur – Begriff, Geschichte, Perspektiven«. In: Kompetenzentwicklung ’99. Aspekte einer neuen Lernkultur. Argumente, Erfahrungen, Konsequenzen, hg. von der Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung, Münster u.a.: Waxmann, S. 81-143. Welsch, Wolfgang (1988a): »Einleitung«. In: Ders. (Hg.), Wege aus der Postmoderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: Verlagsgesellschaft mbH, S. 1-46. Welsch, Wolfgang (1988b): Postmoderne. Pluralität als ethischer und politischer Wert, Köln: Wirtschaftsverlag Bachem. Welsch, Wolfgang (1996): Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart: Reclam. Welsch, Wolfgang (1998): Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam. Welsch, Wolfgang (2004): »Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften«. In: Allolio-Näcke, Lars et al. (Hg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a.M.: Campus, S. 314-341. Wu, Ming-Lieh (2000): Auf dem Weg zur Lerngesellschaft. Eine vergleichende Studie über Deutschland und Taiwan in den 90er Jahren, Berlin: Köster.
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Konstruktivistische Lernkulturen ROLF ARNOLD/MARKUS LERMEN Mit dem Titel »Konstruktivistische Lernkulturen« werden zwei Themenbereiche angesprochen, welche die bildungswissenschaftliche Diskussion in den letzten Jahren maßgeblich geprägt haben. Lernkulturen und ein Wandel derselben haben nicht zuletzt aufgrund der Veröffentlichungen von Bruno Krapf (1997) sowie des vor genau zehn Jahren erschienenen Bandes »Wandel der Lernkulturen« (Arnold/Schüßler 1998) Eingang in den pädagogischen Diskurs erhalten. Neu belebt wurde und wird die Debatte um die Ausgestaltung des Bildungssystems durch die vielfachen Reformbemühungen im Anschluss an den »PISA-Schock«. Unabhängig von der Skepsis gegenüber internationalen Vergleichsstudien und den initiierten Reformen darf es der PISA-Studie als großer Verdienst angerechnet werden, dass sie die Diskussion um Qualität nicht allein in der Schulbildung nach einem Stillstand der Debatte in den 1980er und 1990er Jahren neu belebt hat. Der Wandel der Lernkulturen ist dabei ein zentraler Bestandteil, die erkenntnistheoretische Position des Konstruktivismus ein weiterer. Auch hier lässt sich seit Mitte der 1990er Jahren in Deutschland eine Trendwende erkennen: Systemisch-konstruktivistische Positionen avancieren zum dominierenden Paradigma aktueller lehr- und lerntheoretischer Betrachtungen, welche sich beispielsweise auch im Bereich des Medieneinsatzes oder hinsichtlich der Gestaltung von Lernarrangements widerspiegeln (vgl. Reinmann/Mandl 2006). Ingesamt weisen die beiden Konzepte darauf hin, dass ein »Neu-Denken« des Lehrens und Lernens sowie des Verhältnisses zwischen Lehren und Lernen in den verschieden Bildungsbereichen in Mode gekommen ist – »Bildung neu denken!« ist daher der passende Titel der Denkschrift der Vereinigung Bayerischer Arbeitgeberverbände, an der u.a. Dieter Lenzen mitgewirkt hat (vgl. vbw 2003). Im Folgenden sollen zunächst grundlegende Aspekte der beiden Termini »Konstruktivismus« und »Lernkultur« vorgestellt werden, bevor in einer Synopse eine gemeinsame Betrachtungsweise aufgezeigt werden soll.
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ROLF ARNOLD/MARKUS LERMEN
De nken un d Le rn en k onst ruk t i vi st is ch n eu d enke n Der erkenntnistheoretischen Position des Konstruktivismus wird in den letzten Jahren eine zunehmend dominante Rolle in der lehr- und lerntheoretischen Debatte sowie in der Diskussion um didaktische Modelle zugesprochen (vgl. zusammenfassend Terhart 2005). Im Vergleich zu vorherigen Auffassungen – z.B. behavioristischen Ansichten – beinhalten die Postulate der konstruktivistischen Position grundlegend andere Ansichten zum Lehren und Lernen, so dass vielfach die Rede von einem Paradigmenwechsel im Bildungsbereich ist. Dieser Wechsel betrifft alle Ebenen des Bildungssystems, angefangen vom Elementarbereich bis hin zu den verschiedenen Varianten des quartären Bereichs. Die erkenntnistheoretische Basis »konstruktivistischer Lerntheorien«1, in deren Fokus die Eigenkonstruktivität der Wirklichkeit steht, bildet die These, dass kognitive Systeme in sich geschlossene autopoietische (selbstorganisierte) Systeme sind, welche sich selbstreferentiell aufeinander beziehen. Diese These, inspiriert u.a. durch die Ausarbeitungen der beiden chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela, wird durch die Ergebnisse der neurobiologischen Forschung und deren Fortschritte in den letzten Jahren zunehmend bestätigt. Aus dieser grundlegenden Annahme ergibt sich, dass Lernen bzw. »Vermittlung« nicht als Prozesse verstanden werden können, in welchen Informationen »von außen nach innen transportiert werden können«, sondern dass es sich bei ihnen vielmehr um Prozesse »der Restrukturierung innerhalb eines geschlossenen Systems« (Luhmann 1987: 60) handelt. Lehrende können demzufolge Wissensbestände oder Kompetenzen bei den Teilnehmenden entsprechender Veranstaltungsangebote nicht erzeugen, sondern lediglich Restrukturierungs- oder Aneignungsprozesse anregen, ermöglichen und begleiten (vgl. Arnold 1996). In diesem Sinne stellt Horst Siebert als einen Kernpunkt einer konstruktivistisch ausgerichteten Lehr-LernKonzeption fest: »Es kann nicht von außen gesteuert oder determiniert, sondern allenfalls angeregt und ›perturbiert‹ (gestört) werden. Auch der Zuhörer eines Vortrages bildet das Gehörte nicht – wie ein Tonbandgerät – ab, sondern der Vortrag löst eigene Gedanken, Assoziationen, Emotionen aus, aber auch Überlegungen, die mit dem Vortrag nur lose gekoppelt sind.« (Siebert 2001: 195)
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Die lernpsychologischen Vorstellungen beziehen sich zudem auf neuere Systemtheorien, welche die Selbstorganisation des Lebendigen herausstellen. Systemtheoretische und konstruktivistische Ansätze unterscheiden sich zwar, weisen allerdings erhebliche Überschneidungen auf, so dass im Folgenden von einem einheitlichen Begriffsverständnis bzw. Paradigma ausgegangen wird (vgl. Arnold/Siebert 2005).
KONSTRUKTIVISTISCHE LERNKULTUREN
Im Gegensatz zu vorherigen lehr- und lerntheoretischen Vorstellungen wird Lernen somit nicht länger als technologisch-instrumentell erzeugbar angesehen. Der Fokus liegt vielmehr auf der Berücksichtigung der komplexen Bezüge zwischen biologischen Gegebenheiten, soziokultureller Eingebundenheit sowie emotionalen und motivationalen Vorgängen, womit Lernen im Rahmen einer solch mehrperspektivischen Betrachtung mehr und mehr als »Wissenskonstruktion« betrachtet wird (vgl. Reinmann/Mandl 2006). Als einer der Begründer eines radikalen Konstruktivismus hat Ernst von Glasersfeld die pädagogisch relevanten Grundeinsichten des konstruktivistischen Denkens in folgenden drei Punkten zusammengefasst: • »Da Wissen nur in der Erfahrungswelt geprüft werden kann, lässt sich seine Brauchbarkeit (›Viabilität‹) ermitteln, nicht aber seine Wahrheit im ontologischen Sinn, der den meisten Philosophen vorschwebt. • Wenn sich eine Handlungs- oder Denkweise unter bestimmten Umständen als brauchbar erweist, so heißt das nicht, dass sie die einzig mögliche ist. • Aus der konstruktivistischen Perspektive ist es eine Illusion, dass Sprache an und für sich die Fähigkeit habe, Begriffe und somit Wissen von einer Person zu einer anderen zu übermitteln« (von Glasersfeld 1995: 8) Von Glasersfeld verweist damit auf zwei zentrale Aspekte einer konstruktivistischen Auffassung: Zum einen auf die Kontingenz (Zufälligkeit bzw. Spezifität) pädagogischer Wirksamkeit sowie zum anderen auf die notwendige begriffliche Konstruktionsleistung des Subjektes im Lernprozess. Dadurch wird deutlich, dass das Lernen jedes einzelnen Lernenden – des lernenden Subjekts – sich notwendigerweise eigenaktiv und eigensinnig bzw. selbst reguliert vollzieht. Aus dieser Betrachtung ergeben sich verschiedene Bedingungen, welche im Hinblick auf ein nachhaltiges Lernen in einem konstruktivistischen Lernarrangement angestrebt werden sollten. Nach der Arbeitsgruppe um Heinz Mandl an der Ludwig-Maximilians-Universität München wird Lernen in diesem Zusammenhang als ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer und sozialer Prozess angesehen (vgl. Reinmann/Mandl 2006). Diese fünf Aspekte nachhaltigen Lernens lassen sich um den Einbezug emotionaler Faktoren erweitern: »Beim Lernen haben sowohl leistungsbezogene als auch soziale Emotionen einen starken Einfluss. Insbesondere im Hinblick auf die Motivation für das Lernen ist die emotionale Komponente wesentlich« (Ebd.: 638). Mit dem Einbezug der Emotionen in die lehr- und lerntheoretische Betrachtung zeigt sich ein weiterer Abgrenzungspunkt konstruktivistischer Vorstellungen gegenüber traditionellen Lerntheorien und Didaktik-Modellen. Bei letzteren wird dem Zusammenhang zwischen Emotionen und Lernen bzw. der Bedeutung von Emotionen für den Lernprozess keine oder lediglich eine geringe Bedeutung zugemessen. Entsprechend kann von den »vergessenen Ge27
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fühle[n] in der (Erwachsenen-)Pädagogik« (Arnold/Holzapfel 2008) gesprochen werden. Wie bereits dargestellt, kann Lernen aus konstruktivistischer Sicht nicht von den Lehrenden erzeugt werden, sondern lediglich durch »Perturbationen« (vgl. Arnold/Siebert 1995: 115ff) angeregt werden. Unter Perturbationen werden als relevant wahrgenommene »Störungen« der Mensch-Umwelt-Beziehungen verstanden, denen auch Differenzwahrnehmungen und Selbstbeobachtungen zugerechnet werden. Die Aufgabe von Lehrenden besteht dementsprechend in der Gestaltung von Situationen, welche den Lernenden viable »Rekonstruktionen« der Lebenswelt ermöglichen (»Ermöglichungsdidaktik«). Die eigentliche Verantwortung für den Lernprozess obliegt somit den Lernenden, wie Horst Siebert ausführt: »Wenn wir das Prinzip der Selbstorganisation des Lernprozesses ernst nehmen, hat das weitreichende Konsequenzen für die Theorie und Praxis der Lehre. […] Auf ein Schlagwort reduziert: Die ›Belehrungsdidaktik‹ wird durch eine ›Animationsdidaktik‹ ersetzt. Lehrende können Deutungsangebote machen. Ob eine Information bedeutungsvoll ist, hängt von lebensgeschichtlichen Erfahrungen ab und muss deshalb von jedem/r selbst entschieden werden.« (Siebert 2002: 28)
Vor dem Hintergrund dieser Auffassungen hat aus konstruktivistischer Sicht eine Abwendung von didaktischen Vermittlungsillusionen zu erfolgen. Im Hinblick auf die Umsetzung lässt sich u.a. die Konzeption der Ermöglichungsdidaktik (vgl. Arnold 1996; Arnold/Gómez Tutor 2007) als eine potentielle Realisierung der systemisch-konstruktivistischen Prinzipien verstehen, welche sich deutlich von erzeugungsdidaktischen Vorgängerkonzeptionen abgrenzt. Wesentliche Bausteine einer Ermöglichungsdidaktik sind die Offenheit und der Facettenreichtum von Lernarrangements, die bevorzugte Anwendung von Lerner- bzw. Aktivitätsmethoden, die bewusste und gezielte Förderung der Selbsterschließungskompetenzen bei den Lernenden und die Reduzierung sowie Lebendigkeit der nach wie vor einzusetzenden Lehr-Inputs. Für Lehrende ergibt sich dadurch die Aufgabe, sowohl »mit dem Lehren aufzuhören« als auch gleichzeitig die »Kunst des Lehrens«. Eine grundlegende Konsequenz des Konstruktivismus liegt demnach darin, mit dem herkömmlichen »Vermittlungslehren« aufhören, um mit einem »Verknüpfungslehren« und »situativem Lehrhandeln« überhaupt beginnen zu können (Arnold 2008: 51): »In den Kognitionswissenschaften wird Unterricht heute nicht als eine ausschließliche Aktivität des Lehrers, sondern des Lernenden begriffen. Der Lernende benötigt eine komplexe, differenzierte ›Lernumgebung‹, die ihn zum Lernen herausfordert. Diese komplexe ›Irritation‹ führt zu einer kognitiven Ausdifferenzierung des Gehirns. Es kommt also darauf an, eine Lernumwelt so zu gestalten, dass sie zum Lernen veranlasst.« (vbw 2003: 87) 28
KONSTRUKTIVISTISCHE LERNKULTUREN
Die zunehmende Etablierung systemisch-konstruktivistischer Lerntheorien steht in Verbindung mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, vor allem den Ergebnissen der neueren Gehirnforschung. Aus diesen Ergebnissen lassen sich Belege dafür ableiten, dass der Aufbau von Wissen und Kompetenzen individuelle Leistungen des Subjektes sind und in der Autonomie des Subjektes verbleiben. Dementsprechend steht die Subjektabhängigkeit des Erkennens im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Position des Konstruktivismus. Insbesondere vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Wandels zur Postmoderne impliziert dies auch die Abkehr von einem einheitlichen und verbindlichen Welt- und Menschenbild: »Die parallele Erkenntnis, daß es keine absolute und endgültige Wahrheit gibt, stellt der Radikale Konstruktivismus dar. Auch er konstituiert eine postmoderne offene Lernkultur, in der jeder Lernende seine Welt individuell konstruiert, deren Brauchbarkeit in der Interaktion mit anderen Individuen und Gruppen abgesichert wird.« (Kösel 1997: 344)
Zusammenfassend lässt sich die konstruktivistische Position dahingehend beschreiben, dass die jeweilige Sicht der »Wirklichkeit« das Produkt bzw. die »Konstruktion« des individuellen kognitiven Systems ist, dessen Abläufe »selbstorganisiert« (autopoietisch) funktionieren. Dies impliziert, dass das kognitive System nicht im Sinne eines mechanistischen Verständnisses gezielt von außen beeinflusst werden kann. Externe Pertubationen können zwar Veränderungen auslösen, doch sie sind weder vom Ablauf noch vom Ergebnis her unmittelbar vorhersagbar, sondern zufällig (kontingent). Dementsprechend sollte der didaktische Fokus viel stärker auf das Lernen bzw. die Aneignung (vgl. Kade/Nittel/Seitter 2007) ausgerichtet werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Lernenden angemessene Unterstützungsangebote zur Verfügung gestellt werden sollten. Lehren gestaltet sich – konstruktivistisch gesehen – entsprechend als eine Balance von Instruktion und Konstruktion – zwei Gegenpole, welche sich nicht ausschließen, sondern miteinander vereinbaren lassen (vgl. Reinmann/Mandl 2006).
Lernkultur Mit dem Begriff der »Lernkultur« wird zunächst einmal der ganzheitliche Bezug auf die Besonderheiten des Lernens und dessen gesellschaftlicher Organisation in den Blick gerückt. Dieses Verständnis umfasst die grundlegenden normativen Orientierungen, Rollenmuster und Verhaltensweisen, welche in einer Gesellschaft enkulturiert werden. Die vorherrschende Kultur beeinflusst alle Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft ebenso wie die curricularen und bildungstheoretischen Bestimmungen. Die Betrachtung der Lernkultur als 29
ROLF ARNOLD/MARKUS LERMEN
»die Summe der überlieferten und verinnerlichten ›Selbstverständlichkeiten‹ des Umgangs mit Lehren und Lernen« (Arnold/Gómez Tutor 2007: 90) ist immer von den jeweils vorhandenen gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig: »Eine kulturelle Tradition basiert auf den Verhaltensweisen, die in der Geschichte eines sozialen Systems selbstverständlich, regelmäßig und annehmbar geworden sind« (Kösel 1997: 339f) Der zugrunde liegende Kulturbegriff bezieht sich – im Gegensatz zur Natur – auf die vom Menschen selbst gestaltete Welt und umfasst alle Lebensformen, Wertvorstellungen und (künstlichen) Lebensbedingungen einer – historisch und/oder regional begrenzten – Gesellschaft (vgl. Kleber/Stein 2001). In Analogie zur Betrachtung eines sozialen Systems lässt sich vom Lern- oder Schulsystem ableiten, dass in einem solchen System über die Zeit hinweg bestimmte kulturelle Muster ausgeprägt werden – allein, um den Erhalt des Systems zu gewährleisten: »Kulturelle Tradition stabilisiert Gruppen und erzeugt Regelmäßigkeiten.« (Kösel 1997: 339). Dementsprechend lassen sich beispielsweise unterschiedliche »Schulkulturen« differenzieren, welche sich durch verschiedene Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, Ansichten und Rituale voneinander unterscheiden und sich durch die innewohnenden Lehr-, Lern- sowie Kooperations- und Kommunikationsprozesse immer wieder neu konstituieren (vgl. Arnold/Schüßler 1998). Obwohl Lernkulturen stark von schulischen Lernmustern geprägt sind, darf Lernkultur bzw. Lehrkultur nicht per se mit dem schulischen Bildungssystem gleichgesetzt werden – letzteres ist lediglich ein wichtiger Bestandteil der vorherrschenden Lernkultur (vgl. Krapf 1997). Die Vorstellung einer Lernkultur umfasst damit »neben rituellen Handlungen insbesondere auch die Art und Weise der Zeitstrukturierung, die Gestaltung des Ausbildungsmilieus, die Handhabung von Zeremonien und die Beurteilung von Leistungen« (Kösel 1997: 340). Lernkulturelle Vorstellungen beinhalten des Weiteren grundlegende normative Orientierungen, Rollenmuster und Verhaltensweisen, welche eine fraglose Orientierung »in den Netzen der Lebenswelt« (Geertz) sowie im gesellschaftlichen Umfeld ermöglichen (vgl. Arnold 1999). Klare, transparent strukturierte Lernkulturen bieten den darin lebenden Menschen damit auch notwendige Orientierungen sowie Stabilisierungen und liefern so einen Baustein für ein erfolgreiches Lernen (vgl. Kösel 1997). Die (bestehende) Lernkultur einer Gesellschaft konstituiert sich aus den Handlungen und Deutungen der beteiligten Personen, die sich dieser konstituierenden Funktion zumeist nicht bewusst sind. Aus diesem Grund kann ein Wandel der Lernprozesse nur dann stattfinden, wenn sich die Deutungsmuster der in ihr lebenden Menschen verändern (vgl. Arnold/Schüßler 1998). Kösel (1997: 337) unterscheidet zwischen verschiedenen Ebenen, welche die Lernund Schulkultur auf institutioneller Ebene konstituieren (vgl. Abb. 1): Auf der einen Seite gibt es die »Ebene der überkommenen Lern- und Schulkultur« 30
KONSTRUKTIVISTISCHE LERNKULTUREN
(Ebd.) mit ihren jeweiligen Werten, Normen, Methoden usw. (residual culture) und auf der anderen Seite die sich neu konstituierende Lernkultur (emergent culture), welche sich wiederum in eine alternative und eine oppositionelle Kultur differenzieren lässt. Beide Ebenen beinhalten einen von der vorherrschenden Kultur abweichenden Stil, doch während alternative Kulturansätze von der vorherrschenden Kultur geduldet werden, zielen Ansätze der oppositionellen Lernkultur auf die Veränderung der gesamten Gesellschaft (Ebd.). Abb. 1:
Unterschiedliche Lernkulturauffassungen
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